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German Pages 383 [384] Year 2011
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart, Gangolf Hübinger
Band 126
Anonymität und Autorschaft Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit
Herausgegeben von Stephan Pabst
De Gruyter
Gedruckt mit Hilfe der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln, und der Ludwig Sievers Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung über Wesen und Bedeutung der Freien Berufe, Berlin.
ISBN 978-3-11-023771-9 e-ISBN 978-3-11-023772-6 ISSN 0174-4410 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Anonymität und Autorschaft : zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit / edited by Stephan Pabst. p. cm. -- (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 126) Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-023771-9 (alk. paper) 1. Anonymous writings. 2. Authorship. 3. German literature--History and criticism. I. Pabst, Stephan. PN171.A6A56 2011 809--dc22 2011013266
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort
Der vorliegende Band Anonymität und Autorschaft ist das Ergebnis einer Tagung, die im April 2009 in Weimar stattfand und von der Fritz Thyssen Stiftung unterstützt wurde. Noch einmal sei an dieser Stelle ganz herzlich den Teilnehmern gedankt, die über die Grenzen sehr unterschiedlicher Disziplinen hinweg mal ins informierende, mal ins kritische Gespräch miteinander getreten sind. Wichtige Anregungen für die Diskussion gingen dabei von den Moderatoren Dr. Mark-Georg Dehrmann, Prof. Jens Haustein, Prof. Diethelm Klippel und Prof. Carsten Zelle aus. Christoph Pflaumbaum und Moritz Gause gilt mein großer Dank für die Hilfe bei der Korrektur der Beiträge. Weimar, den 3. Januar 2011
Stephan Pabst
Inhaltsverzeichnis
Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stephan Pabst Anonymität und Autorschaft. Ein Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Fasbender Non sit tibi cura quis dicat, sed quid dicatur. Kleine Gebrauchsgeschichte eines Seneca-Zitates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Harald Haferland Wer oder was trägt einen Namen? Zur Anonymität in der Vormoderne und in der deutschen Literatur des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Cordula Kropik Formen der Anonymität in mittelhochdeutscher Liedüberlieferung . . . . . . . . . . . . .
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Nicola Kaminski Gottsched/in oder Umwege weiblicher Autorschaft: Die Vernünftigen Tadlerinnen – Die Pietisterey im Fischbein-Rocke; Oder die Doctormäßige Frau – Herr Witzling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian Senkel Vom Nennen Gottes und der anonymen Autorschaft. Mit zunehmender Rücksicht auf Klopstock, Hamann und Herder . . . . . . . . . . . . . . 129 Martin Dönike Anonymität als Medium inszenierter Öffentlichkeit: Das Beispiel Winckelmann . . 151 Stephan Pabst Schamlose Beobachtung. Über den Zusammenhang von Beobachtung und Anonymität in Lavaters Geheimem Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Hannes Fricke Ein früher Literaturskandal. Über Goethes zuerst anonym und ohne dessen Wissen veröffentlichtes Gedicht »Prometheus« und den Stolz des Autors . . . . . . . . 205
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Inhaltsverzeichnis
Claus-Dieter Osthövener Anonyme Theologie von Toland bis Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Stefan Matuschek Dichtender Nationalgeist. Vom Spiel zum Ernst literarischer Anonymität . . . . . . . 235 Hans-Peter Haferkamp Anonymitätsstrategien juristischer Autoren im Vormärz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Martin Otto Von Urheberrollen und Nebenluftausgaben. Eine rechtshistorische Annäherung an die anonyme Autorschaft in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Dirk Oschmann Anonymität als Symptom in der Literatur der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . 289 Heinrich Kirschbaum »Allein der Name bleibet uns…«: Osip Mandel’štams Anonymitäten . . . . . . . . . . . 307 Anja Oesterhelt »Verfasser unbekannt«? Der Mythos der Anonymität und Heinrich Heines Loreley. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Gunda Dreyer Anonymität und Autorschaft heute – Aktuelle Probleme anonymer Publikationen im Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
Stephan Pabst
Anonymität und Autorschaft. Ein Problemaufriss
I.
Dialektik anonymer und onymer Autorschaft
Wir sind daran gewöhnt, Texte in dem Wissen zu lesen, wer sie geschrieben hat. Wenigstens gilt das für die Literaturgeschichte der Neuzeit. Mit dieser Lektürevoraussetzung verbindet sich eine ganze Reihe hermeneutisch entscheidender Annahmen, selbst dann, wenn nur ein sehr schwaches Konzept von Autorschaft vorausgesetzt wird. Das Wissen vom Autor definiert den Bereich der Texte, die er gelesen und der anderen Autoren, die er gekannt haben kann. Er bestimmt die historischen Ereignisse, deren Zeuge er gewesen sein und den Personenkreis, den er adressiert haben kann. Er erlaubt uns, Verbindungen zwischen unterschiedlichen Texten unter der Voraussetzung herzustellen, dass sie von einem Autor stammen. Wenngleich in diesen Daten nicht das Bewusstsein und die Intentionen eines Autors stecken, sie markieren doch den Horizont, in dem Texte gelesen werden können. Der Autor definiert nicht die Bedeutung, aber er konstelliert doch die Annahmen, die herangezogen werden können, um historische Bedeutungen zu (re)konstruieren. Der Zugang zum Text wird nach wie vor durch die Idee des Autors im Sinne einer solchen Schaltstelle unterschiedlicher Wissensvoraussetzungen reguliert. Und der Name des Autors ist bis heute eine der wichtigsten Markierungen dieser Schaltstelle. Der Name des Autors ist eines der wichtigsten Zeichen, mit denen es uns möglich wird, ein bestimmtes Wissen auf einen Text zu beziehen.1 Unter diesen Voraussetzungen war beinahe in Vergessenheit geraten, dass auch die Literaturgeschichte der Neuzeit eine nicht geringe Zahl von Texten verzeichnet, die anonym publiziert worden sind, die also den hermeneutischen Rückgriff auf den Autor verweigern. Vor allem das 18. Jahrhundert war ein Höhepunkt in der Geschichte anonymer
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Überlegungen dazu, was passiert, wenn uns dieses Wissen entzogen wird – also unter der Bedingung der Anonymität, stellt Susan Lanser in Bezug auf das Geschlecht des/r Autor(in)s eines weitgehend unbekannten und bis heute anonymen Textes des 18. Jahrhunderts an. Ausgehend von dem Befund, dass die Zuschreibungsversuche der Forschung, die mal einen weiblichen, mal einen männlichen Autor ermittelt, jeweils tautologischen Übertragungen textimmanenter Lektüren auf die empirische Autorinstanz entspringen, argumentiert sie für eine strikte Trennung von impliziter und empirischer Autorschaft und erkennt gerade in dieser Entkopplung das spezifische Leistungsvermögen der Anonymität. Implizit richtet sich dieses Argument auch gegen Foucault, der ja gerade der spezifischen Funktionalität des Autornamens den Effekt einer Aufspaltung der Autoridentität zuschrieb. Vgl. Susan S. Lanser, »The Author’s Queer Clothes. Anonymity and Sex(uality), and ›The Travels and Adventures of Mademoiselle Richilieu‹«, in: The Faces of Anonymity. Anonymous and Pseudonymous Publication from the Sixteenth to the Twentieth Century, hg. v. Robert J. Griffin, New York 2003, S. 81–102.
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Literatur. Aber auch im 19. und 20. Jahrhundert erscheinen noch literaturgeschichtlich bedeutsame Texte anonym. Die Gelehrtenrepublik, Die Leiden des jungen Werthers, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Briefe eines Verstorbenen, Über die Sprache, Frankenstein or The modern Prometheus, Les Caves du Vatican, 150000000, Ginster etwa sind Texte unterschiedlichster Gattungen, die anonym publiziert worden sind.2 In einem bemerkenswerten Missverhältnis stehen das literaturwissenschaftliche Interesse an diesen Texten und die Vernachlässigung ihrer anonymen Erscheinungssituation.3 Lediglich die angelsächsische Forschung begann in den letzten Jahren, sich für die Geschichte der Anonymität zu interessieren,4 wenngleich es zwei französische Autoren sind, die hierfür das Stichwort gaben, in historischer Hinsicht Foucault und in systematischer Genette. Es gibt unterschiedliche Gründe dafür, warum die Geschichte der anonymen Literatur bis heute nicht geschrieben wurde.5 Zwei scheinen sich unmittelbar aus dem Gegenstand zu ergeben. Zum einen setzt Anonymität gerade durch die partielle Entkoppelung von Text und Kontext ihrer Erforschung gewissermaßen einen natürlichen Widerstand entgegen. Mit dem Wissen um den Autor entfällt auch ein Teil der sozialgeschichtlichen Grundlage der Forschung, das Wissen um den Stand, das Geschlecht etc. des Autors.
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Auf die Fülle anonymer Publikationen des 17. und 18. Jahrhunderts von durchaus bedeutenden Autoren weist etwa Raabe hin, wenngleich seine Erklärung einer performativen Aufwertung des Wortes gegenüber dem Verfasser etwas pauschal ausfällt. Vgl. Paul Raabe, »Pseudonyme und anonyme Schriften im 17. und 18. Jahrhundert«, in: Der Zensur zum Trotz. Das gefesselte Wort und die Freiheit in Europa, hg. v. Paul Raabe [Ausstellungskatalog], Wolfenbüttel 1991, S. 53–66, hier S. 55. Zur Kritik des editionsphilologischen Umgangs mit Anonymität und dessen hermeneutischen Voraussetzungen vgl. Marcy L. North, The Anonymous Renaissance. Cultures of Discretion in Tudor-Stuart England, Chicago 2003, S. 8f., passim. Vgl. Robert J. Griffin, »Anonymity and Authorship«, in: New Literary History 30/1999, S. 877– 895; ders. (Hg.), The Faces of Anonymity. Anonymous and Pseudonymous Publication from the Sixteenth to the Twentieth Century, New York 2003; New Literary History 33/2002, H. 2 [Themenheft: Anonymity]; North 2003 (wie Anm. 3). Die erste epochenübergreifende Monographie zum Thema hat jüngst John Mullan vorgelegt: John Mullan, Anonymity. A Secret History of English Literature, London 2007. Symptomatisch für die Erforschung bzw. Nicht-Erforschung der Anonymität durch die germanistische Literaturwissenschaft ist der Umstand, dass das DFGSymposion »Autorschaft« 2001 zwar einen eigenen Themenschwerpunkt »Kultur der Anonymität« vorgesehen hatte (vgl. Heinrich Detering, »Vorbemerkung«, in: Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001, hg. v. Heinrich Detering, Stuttgart/Weimar 2002, S. IX– XVI, hier S. XIII), aber keine Themenvorschläge der Teilnehmer zu diesem Schwerpunkt eingingen (vgl. Ernst Osterkamp, »Einführung«, in: ebd., S. 177–180, hier S. 177f.). John Mullan hat zwar recht mit der Behauptung, dass man eine Geschichte der Anonymität im strengen Sinne nicht schreiben könne, weil die Motive, mit denen anonym publiziert wurde, extrem variabel sind (vgl. Mullan 2007, wie Anm. 4, S. 286), allerdings ist das kein Problem speziell der Anonymität, sondern einfach eine Reflexion auf die historische Inkohärenz von Gegenständen und Sachverhalten, die jeden starken Begriff von Geschichte problematisch werden lässt. Eine schwache Geschichte der Anonymität im Sinne einer relativ kontinuierlichen Verknüpfung bestimmter Phänomene ließe sich von der Anonymität sehr wohl erzählen, zumal dann, wenn man sie, wie es hier vorgeschlagen wird, aus einer Dialektik anonymer und onymer Autorschaft heraus denkt und nicht einfach als fehlenden Namen.
Anonymität und Autorschaft
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Zum anderen scheint Anonymität eben ein bloßes Nicht-Wissen zu sein. Und von dem, was man nicht weiß, entsteht leicht der Eindruck, als wisse man es immer in derselben Weise nicht und als gäbe es auch gar nichts zu wissen. Die Geschichte der Anonymität wäre aus dieser Perspektive also nur die ihres Endes in der Nennung des Namens. Darüber hinaus lassen sich aber die theoretischen Einstellungen benennen, die zu einer gänzlichen Vernachlässigung des Anonymitätsproblems geführt haben. Erstens geht man in der Regel davon aus, dass der Name des Autors erst mit der Herausbildung einer Autorfunktion bedeutsam wird und dass sich diese Funktion eben erst im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts herausgebildet hat, so dass sich vereinfachend sagen lässt, Anonymität ist das beherrschende Prinzip der alten, Onymität hingegen das der neueren Literatur. Am folgenreichsten hat Michel Foucault diese These vertreten,6 allerdings ist sie über unterschiedliche theoretische Positionen hinweg relativ konstant und gehört zu den Begründungsfiguren moderner Philologien seit der Romantik. Über den Unterschied zwischen ›Natur- und Kunstpoesie‹ schreibt bereits Jacob Grimm an Achim von Arnim: »die Volkspoesie tritt aus dem Gemüth des Ganzen hervor; was ich unter Kunstpoesie meine, aus dem des Einzelnen. Darum nennt die neue Poesie ihre Dichter, die alte weiß keine zu nennen«.7 Während ältere Epochen der Literaturgeschichte eine »Tendenz zur Anonymität« aufwiesen, schreibt Boris Tomaševskij, hätten sich »in der Epoche des individuellen Schaffens, in der Epoche, die den Subjektivismus in der künstlerischen Konstruktion kultivierte, [...] Name und Person des Autors nach vorn« geschoben.8 Ähnlich lässt sich Viktor Šklovskij über »sogenannte Volksdichtung« vernehmen, die er als »anonyme[s], nicht bewußt-persönliche[s] Schaffen«9 betrachtet. Für Walter Benjamin ist die ›Namenlosigkeit des Erzählers‹ – und damit ist bei ihm der Autor gemeint – geradezu eine Bedingung der Möglichkeit des Erzählens, weil die moderne Individualität die Gemeinschaft zwischen Autor und Leser zerbricht, in der die Kompetenz des Erzählens einst ihren Grund hatte.10 Virginia Woolf beschwört in ihrem unvollendeten Essay Anon Anonymität als poetischen Stand der Unschuld, in dem die Vögel die ersten Sänger waren, denen die singenden Menschen folgten und in dem das Drama noch der Gemeinschaft des Autors mit seinem Publikum entspringt, Literatur also noch jene kollektiven Empfindungen ausdrückt, die dem Bewusstsein als principium individuationis vorausliegen. Es sei schließlich der Buchdruck, der ihrem heimlichen Helden der englischen Literaturgeschichte im 16. Jahrhundert den Garaus macht.11 Relativ kontinuierlich
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Michel Foucault, »Was ist ein Autor?«, in: ders.: Dits et Ecrits/Schriften, Bd. 1, hg. v. Daniel Defert/Francois Ewald, Frankfurt a. M. 2001, S. 1003–1041, bes. S. 1016f. Jacob Grimm an Achim von Arnim am 20. Mai 1811, in: Achim von Arnim und die ihm nahe standen, Bd. 3, hg. v. Reinhold Steig, Stuttgart 1904, S. 116. Boris Tomaševskij, »Literatur und Biographie«, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. v. Fotis Jannidis u. a., Stuttgart 2000, S. 49–61, hier S. 50f. Viktor Šklovskij, Theorie der Prosa, Frankfurt a. M. 1984, S. 72. Walter Benjamin, »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schwepphäuser, Bd. II.2, Frankfurt a. M. 1977, S. 438–465, hier S. 440. Virginia Woolf, »Anon«, in: Silver, Brenda: ›Anon‹ and ›The Reader‹: Virginia Woolf’s Last Essays, in: Twentieth Century Literature 25/1979, S. 356–441, S. 380–398.
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ist also schon vor Foucault die These vertreten worden, der Name des Autors scheide die alte und die neue Literatur voneinander, ganz gleich, ob dieser Befund nun geschichtsphilosophisch verklärt wurde wie bei den Brüdern Grimm und Benjamin oder nicht und welcher Grund für diesen Bruch jeweils angegeben wurde. Weil also Anonymität lediglich eine Erscheinung älterer Literaturen zu sein schien, interessierte man sich zweitens für die Anonymität moderner Literatur nur in den Fällen, in denen es darum ging, das Geheimnis einer zumeist prominenten Autorschaft zu lüften. Nicht zufällig sind die meisten Publikationen, die sich mit Anonymität befassen, Anonymen- und Pseudonymen-Lexika.12 Der Nutzen dieser bibliographischen Arbeit ist unbestreitbar. Jeder Benutzer einer Bibliothek weiß sie zu schätzen. Allerdings müssen ihre Kosten bedacht werden. Im Grunde wird mit der bloßen Ermittlung des Autors strukturell eher ein kriminalistisches Interesse als ein historisches oder hermeneutisches befriedigt: Man will wissen, wer es war.13 Der ›paratextuelle Gewaltstreich‹14 einer
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Um nur einige, seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland erschienene Beispiele zu nennen: Vincentius Placcius, Theatrum anonymorum et pseudonymorum, Hamburg 1708; Peter Dahlmann, Schauplatz der Masquirten und Demasquirten Gelehrten bey ihren verdeckten und nunmehro entdeckten Schriften, Leipzig 1710; Johann Christoph Mylius, Bibliotheca Anonymorum et Pseudonymorum detectorum, Hamburg 1740; Johann Samuel Ersch, Verzeichnis aller anonymischen Schriften und Aufsätze in der vierten Ausgabe des gelehrten Teutschlands, Lemgo 1788; Johann Georg Meusel, Das gelehrte Teutschland oder Lexicon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller [was die anonym publizierenden soweit bekannt einschließt], Lemgo 1796 ff.; Michael Holzmann/Hanns Bohatta, Deutsches Anonymen-Lexikon 1501–1850, 7 Bde, Weimar 1902–1928. Sicher sind die Motive, solche Lexika zu erstellen, historisch jeweils zu unterscheiden. Für das 17. Jahrhundert konnte Martin Mulsow zeigen, dass es sich teilweise um ein rhetorisches Spiel der Ver- und Enthüllung handelte, teilweise aber auch quasi-polizeiliche Intentionen der Aufdeckung von Betrug und Häresie verfolgt wurden. Tatsächlich konnte die Aufdeckung einer Autorschaft ja unmittelbare juristische Konsequenzen haben. Mulsow nimmt auch eine Absicht der Deautorisierung durch Aufdeckung an, was aber vor allem die Pseudonyme betrifft. Vgl. Martin Mulsow, »De-Autorisierung. Die Entstehung von Anonymen- und Pseudonymenlexika im 17. Jahrhundert«, in: Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität, hg. v. Wulf Oesterreicher u. a., Münster 2003, S. 219–232. Im Gegensatz zu diesen frühen Anonymenlexika verfolgen etwa Holzmann/Bohatta sicher ein rein bibliographisches Interesse. »[L]ibrarians, book collectors and literary men« benennt das Dictionary of Anonymous and Pseudonymous English Literature (Samuel Halkett/John Laing), new and enlarged Edition by James Kennedy/W. A. Smith/A. F. Johnson, Bd. 1, London 1926, S. VII. Aus diesem Grund sind die methodischen Übergänge zwischen der Feststellung Shakespeares als Autor der Funeral Elegy und derjenigen Theodor J. Kaczinskys als Autor der Briefe des Unabombers fließend, wie das Beispiel des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Don Forster zeigt, der seine Methodik zunächst an Shakespeare schärfte, bevor er vom FBI als ›forensicher Philologe‹ um Mithilfe im Fall des Unabombers gebeten wurde. Vgl. Don Forster, Author Unknown. On trail of anonymous, New York 2000. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M. 1989, S. 49. Dieser Gewaltstreich besteht in der unreflektierten Modifikation historischer Verstehensbedingungen eines Textes. Dass diese Modifikation unter Umständen ins Material selbst eingreift, stellt Ehrlicher in einem Aufsatz über die ›Entdeckung‹ des Autors des 1554 anonym erschienenen Vida de Lazarillo de Tormes dar, über dessen Identität man in Spanien lange gerätselt hatte. Die ›Entdeckung‹ der spanischen Hispanistin Rosa Navarro Durán beruht auf der Annahme, dass ein
Anonymität und Autorschaft
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nachträglichen Aufdeckung der Autorschaft suggeriert immer, Anonymität sei lediglich der Kontingenz der Überlieferung geschuldet und verdeckt so, dass sie häufig den Absichten des Autors oder Herausgebers, der Normalität eines bestimmten Kommunikationssystems oder bestimmten Gattungskonventionen geschuldet ist. Sie war insofern immanenter Bestandteil literarischer Strategien und kann historisch verstanden werden. Indem man die Autorschaft rekonstruierte, stellte man bestimmte hermeneutische Bedingungen her, die nicht unbedingt diejenigen sind, die historisch vorauszusetzen waren, und die unter Umständen bis heute wichtige Dimensionen des Textes verdecken.15 Im besten Fall reagiert man damit einfach darauf, dass die historischen Umstände, die einen Autor zur Verheimlichung seiner Autorschaft bewogen haben, hinfällig geworden sind. Unter Umständen wendet man sich damit aber geradezu gegen bestimmte literarische Programmatiken, Schreibweisen oder Strategien der Rezeptionssteuerung, von denen die Anonymität gar nicht abgelöst werden kann. Denn wenn Anonymität als bewusste Entkoppelung von Text und Kontextwissen verstanden wird, dann heißt das erstens, dass durch die Anonymität bewusst Rezeptionsweisen verschoben werden und dass die Antizipation dieser Rezeptionsweisen zweitens Auswirkungen auf die Entstehung von Texten hat. Der einfachste, rein strategisch motivierte Fall ist der, in dem der Text manipuliert wird, um die Anonymität des Autors sicher zu stellen. Identifikation ist ja nicht nur durch den Namen möglich, sondern durch Umstände des Erscheinens (Verleger, Ort, Jahr),16 was gegebenenfalls die Manipulation anderer paratextueller Elemente notwendig macht oder sogar Eingriffe in den Text erfordert, um die im Text enthaltenen Spuren des Autors (Namen anderer Personen, Zeit- und Ortsangaben etc.) zu unterdrücken. Überdies werden bestimmte Aussagen auf Grund ihrer politischen Brisanz oder ihrer Intimität erst unter der Bedingung der Anonymität möglich. Anonymität kann aber auch den Modus ändern, in dem ein Text gelesen wird. Im Falle eines Titels wie The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe of York [...]. Written by Himself dient die Anonymität des Textes auch der Fiktionsbeglaubigung, insofern durch das Fehlen
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logischer Bruch der Adressierung in der Vorrede des Textes nur durch das Fehlen eines Blattes in sämtlichen überlieferten Fassungen des Werks zu erklären sei. Die Autorin modifiziert also den Materialbestand, um ihre Autorschaftsthese durchführen zu können. Ehrlicher liest das zum einen als Symptom einer anhaltenden Ideologie der Autorschaft und als Teil einer bestimmten Wissenschaftspolitik, die die ›Entdeckerin‹ in eigener Sache betreibt, indem sie Expertin für just den Autor ist – Alfonso de Valdés –, dessen Werk sie durch ihre ›Entdeckung‹ um einen Text erweitert hat. Vgl. Hanno Ehrlicher, »Das aufgegebene Anonymat. Kritische Anmerkungen zu einer philologischen Kanonrevision aus aktuellem Anlass«, in: Philologie im Netz 46/2008, H. 1, S. 1–13. Zur Differenz etwa zwischen der Opakheit der klandestinen radikalaufklärerischen Literatur des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, die vornehmlich anonym und pseudonym erschienen ist, und der Transparenz der historischen Zusammenhänge, die sich aus einer nachträglichen Rekonstruktion der Autorschaften ergibt, vgl. Martin Mulsow, Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720, Hamburg 2002, S. 34. Einen Eindruck von der Fülle der Texte vom 17. bis ins 19. Jahrhundert, die nicht nur anonym, sondern zusätzlich mit fehlenden bzw. gefälschten Druckorten oder Jahreszahlen erscheinen, vermittelt Emil Weller, Die falschen und fingierten Druckorte, 2 Bde., Leipzig 1864.
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einer Autornennung Robinson Crusoe an die Stelle des Autors tritt und der Text damit zu einem autobiographischen wird, also von einer fi ktionalen in eine faktuale Gattung rutscht. Ein strukturell ähnlicher Fall in der deutschen Literaturgeschichte ist Tiecks anonym erschienener Peter Lebrecht.17 Andere Korrelationen zwischen Anonymität, Schreib- und Rezeptionsweise sind sicher denkbar. Die meisten davon werden durch eine Rekonstruktion der Autorschaft verdeckt, die meint, einfach einen historischen Mangel zu beheben. Anonymität aber stellt eine Aussage darüber dar, was wie unter welchen rechtlichen, ökonomischen und diskursiven Bedingungen gesagt beziehungsweise nicht gesagt werden konnte. Diese Aussage muss mitgelesen werden. Diesem Fetischismus der Autorschaft ist vor allem der Poststrukturalismus entgegengetreten, indem er die Relevanz des Autors für den Text prinzipiell bestritt und diesen Widerspruch polemisch in der Formel vom ›Tod des Autors‹ (Barthes) zuspitzte. Die Rede von der Anonymität des Textes lag nun auf der Hand: »les citations dont est fait un texte sont anonymes«.18 Nur oberflächlich mag es überraschen, dass auch aus dieser Perspektive die wirkliche Anonymität, also das Fehlen eines Verfassernamens vor oder in einem Text, kein Interesse erregen konnte. Denn am ›toten Autor‹ lässt sich gar nicht mehr sinnvoll zwischen Anonymität und Onymität unterscheiden. In der Nacht des Poststrukturalismus waren gewissermaßen alle Autoren grau, das heißt anonym.19 Die implizit generalisierte Anonymität aber beschreibt den Fall moderner Anonymität gerade nicht, weil dieser nur im Bezug auf die moderne Praxis der Namensnennung gedacht werden kann, eine Unterscheidung zwischen Onymität und Anonymität also zwingend einfordert. Die Unfähigkeit, mit dem Problem der Anonymität umzugehen, zeigt sich an dem Widerspruch, der in der Rede von ihr steckt. Anonymität setzt ja zunächst einmal voraus, dass es jemanden gibt, dessen Name nicht bekannt ist. Die Unterscheidung zwischen Anonymität und Onymität funktioniert einfach nur unter der Voraussetzung der Autorschaft. Von Anonymität ist, wie Harald Haferland in diesem Band sagt, nur unter der Bedingung sinnvoll zu reden, dass sie einen ›markierten Fall‹ darstellt und den stellt sie nur dar, wenn sie vom erwartbaren Fall namentlicher Autorschaft abgegrenzt werden kann. Freilich hat die radikale Skepsis am Konzept der Autorschaft erstens eine katalytische Funktion für die Problematisierung scheinbar marginaler Fälle zweifelhafter
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Der Fall ist insofern interessant und eigentlich komplizierter, als es sich um einen Fall von Anonymität handelt, in dem der Leser von der Anonymität nichts weiß. Er muss in der autobiographischen Referenz, die der Text nahe legt, den Namen des Helden des Textes gleichzeitig für den des Autors halten. Damit glaubt er an einen falschen Namen. Allerdings ist damit auch nicht der Begriff des Pseudonyms erfüllt, weil das ja hieße, dass sich eine wirkliche Person mit einem falschen Namen bezeichnet. Das ist hier nicht der Fall, weil es den Träger des Namens nicht gibt. Der Name bezeichnet den Autor also gar nicht, nur dass das der Leser nicht weiß. Roland Barthes, »De l’oeuvre au texte«, in: Revue d’Esthetique 24/1971, S. 225–232, hier S. 229. Es ist deshalb eine Aussage über die Theorie und kein kontingentes Versäumnis, dass die Tel Quel-Gruppe zur »Praxis der Anonymität« nie vorgedrungen ist. Pilippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, Frankfurt a. M. 1994, S. 37.
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oder verdeckter Autorschaft wie der Herausgeberschaft,20 des Plagiats21 oder eben der Anonymität. In dem Moment, in dem originelle Autorschaft als produktionsästhetische Voraussetzung ebenso wenig einleuchtet wie die Voraussetzung nicht-individueller Instanzen der Textgenese, werden diese Fälle als der publizistische Ort erkennbar, an dem die Spannung zwischen origineller und nicht-individueller Textgenese ausgetragen wird. Und zweitens kann, wie John Mullan anmerkt, die Texttheorie eines Roland Barthes etwa trotz ihrer historischen Blindheit als Anregung dafür aufgegriffen werden, wie man Texte liest, ohne sie primär auf ihren Autor zu beziehen.22 Während die Hypertrophie der Autorschaft und die Leugnung der Autorschaft gar keinen sinnvollen Umgang mit der Frage der Anonymität haben können, weil sie die erste nicht zu denken und die zweite nicht vom Fall der Onymität zu unterscheiden vermag, gibt allein die Position, die hier im Wissen um die Verkürzung als diejenige Foucaults bezeichnet werden soll, eine Antwort auf die Frage nach der Anonymität. Allerdings besteht diese Antwort in einer radikalen historischen Auslagerung des Problems. Mit Foucault lassen sich eigentlich schon die zahlreichen Fälle anonymer Literatur des 18. Jahrhunderts nicht mehr befriedigend erklären.23 Das hängt damit zusammen, dass er drei binäre Unterscheidungen zur Deckung zu bringen versucht, diejenige von alter und neuer Literatur, von Literatur ohne und mit Autorfunktion und von Anonymität und Onymität. Die Symmetrie der ersten und zweiten Unterscheidung ist problematisch, weil durchaus nicht klar ist, ab wann von der Entstehung einer Autorfunktion gesprochen werden kann. Verdankt sie sich der genieästhetischen Aufwertung des Autors, seiner rechtlich-ökonomischen Institutionalisierung im Urheberrecht, den juristischen Erfordernissen persönlicher Haftung oder konstituiert sie sich im Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit oder in dem von der Schriftlichkeit zum Buchdruck, weil erst durch diese beiden mediengeschichtlichen Ereignisse die Differenz zwischen Text und (abwesendem) Urheber entsteht, die die Markierung der Autorschaft notwendig macht?24 Je nachdem, welches Ereignis man als entscheidend betrachtet, schwankt die Entstehung der Autorfunktion unter Umständen um mehrere Jahrhunderte.25 Die Sym-
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Uwe Wirth, Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800, München 2008. Philipp Theisohn, Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte, Stuttgart 2009. Mullan 2007 (wie Anm. 4), S. 297. Zur Kritik der historischen Thesen Foucaults über die Anonymität vgl. Griffin 1999 (wie Anm. 4), S. 877f. Aleida und Jan Assmann etwa vertreten die These, dass der Autorname ein Effekt der Schriftlichkeit sei. Vgl. Aleida und Jan Assmann, Schrift und Gedächtnis, in: dies., Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation I, München 1993, S. 265–284, S. 276. Mündlichkeit/Schriftlichkeit veranschlagt Ernst Hellgardt als entscheidendes Datum für die Anonymität: Ernst Hellgardt, Anonymität und Autornamen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der deutschen Literatur des elften und zwölften Jahrhunderts. Mit Vorbemerkungen zu einigen Autornamen der altenglischen Dichtung, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. v. Elizabeth Andersen/Jens Haustein/Anne Simon/Peter Strohschneider, Tübingen 1998, S. 64–72, bes. S. 49f. Chartier hat sich dafür ausgesprochen, sich von einer monokausalen, in der Regel mit der Entstehungsgeschichte des modernen Urheberrechts einsetzenden Erklärung der Autorfunktion zu
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metrie der zweiten und dritten Unterscheidung hingegen suggeriert, dass Anonymität ein eindeutiges Zeichen dafür sei, dass sich eine Autorfunktion noch nicht ausgebildet habe. Dagegen sprechen zwei Beobachtungen. Der Begriff der ›markierten Fiktionalität‹ verweist auf eine Dialektik des Autornamens. Sie besteht darin, dass von Anonymität sinnvoll nur die Rede sein kann, wenn es die Erwartung, ein Autor möge seinen Namen nennen, mithin eine Autorfunktion gibt. Nur wenn Namentlichkeit die Regel oder wenigstens erwartbar ist, gewinnt Anonymität einen semantischen Wert und wird erklärungsbedürftig. Anonymität und Onymität wären dann nicht als sukzessive, sondern als historisch gleichzeitige Ereignisse zu betrachten, sofern beide gleichermaßen erst im Rekurs auf die Funktion des Autors beschreibbar werden. Man könnte das am Begriff der ›Entanonymisierung‹ verdeutlichen, dessen sich Christian Senkel in diesem Band bedient. Jeder Name muss auch als Vorgang der ›Entanonymisierung‹ gelesen werden, verweist also immer auf seinen Ursprung aus der Anonymität. Zweitens motiviert Foucault anonyme Publikationen (zu) einfach. Nicht jeder Fall von Anonymität ist einer, in dem der Name nicht für überlieferungswürdig befunden wurde, weshalb Anonymität auf eine nicht oder nur schwach ausgebildete Autorfunktion verweist. Zwischen der Intention eines Autors und der Anonymität seines Textes gibt es aber unterschiedliche Distanzen, und für jeden dieser unterschiedlichen Fälle wäre die Frage nach der Korrelation zwischen Anonymität und Autorfunktion anders zu stellen. Ein Autor kann sich entscheiden anonym oder onym zu publizieren, ein Herausgeber kann den Text eines Autors anonym oder onym publizieren oder ein Text kann auf Grund kontingenter Umstände der Überlieferung anonym erscheinen etc. Selbst wenn man also an der Periodisierung in der Geschichte der Anonymität festhalten wollte, müsste man deren Beschreibung doch modifizieren. Sie verläuft nicht von der Anonymität zur Onymität, sondern von der fehlenden zur etablierten Autorfunktion, die die Unterscheidung zwischen Onymität und Anonymität eigentlich erst hervorbringt. Es ist kein Zufall, dass in dem Moment, in dem Namentlichkeit zum Normalfall wird, Anonymität programmatische Bedeutung gewinnt. Offenkundig gibt es auch im und nach dem 18. Jahrhundert nicht nur eine ganze Reihe anonym erscheinender Texte, häufig wird diese Anonymität auch mit starken Begründungen versehen und geradezu als Bedingung der Möglichkeit von Autorschaft betrachtet. Die Unterscheidung zwischen anonymer älterer und onymer neuerer Literatur stammt aus der Zeit, die Foucault als die der entstehenden Autorfunktion beschreibt. Sie ist, so kann man vermuten, selbst Teil dieser Entstehungsgeschichte. Es muss also angenommen werden, dass Anonymität als Gegenteil namentlicher Autorschaft konstitutiver Bestandteil jenes Differenzierungs-
verabschieden, und zugleich deutlich gemacht, dass sich die Entstehung der Autorfunktion als langwieriger und indifferenter Prozess darstellt, wenn man unterschiedliche – ökonomische, juristische, ideengeschichtliche, drucktechnische oder bibliographische – Bedingungen von Autorschaft in Rechnung stellt. Vgl. Roger Chartier, Figures of the Author, in: ders., The Order of Books. Readers, Authors and Libraries in Europe between the Fourteenth and Eighteenth Centuries, Cambridge 1994, S. 25–59.
Anonymität und Autorschaft
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prozesses ist und bleibt, der den modernen Autor hervorbringt: »Nor is anon dead in ourselves«26 schreibt noch Virginia Woolf. Die Sukzession von Anonymität und Onymität wird aufgehoben zugunsten ihrer Gleichzeitigkeit, aus der heraus Anonymität allein sinnvoll zu denken ist.27 Die Frage für die ältere Literatur wäre dann, ob Anonymität hier ein bedeutungsloser Fall ist, oder ob auch hier, wenngleich in anderer Weise, von einer Gleichzeitigkeit und Dialektik von Onymität und Anonymität ausgegangen werden muss, wenigstens für bestimmte Gattungen. Die Meinungen darüber gehen, wie die altgermanistischen Beiträge in diesem Band (Kropik, Haferland) zeigen, auseinander. Eine Aufstellung von Hellgardt aber legt nahe, dass die Verteilungskurve anonymer und onymer Literatur keineswegs die Annahme einer einfachen Entwicklung von der anonymen zur onymen Literatur rechtfertigt.28 Von den ca. 90 überlieferten Texten der deutschen Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts sind zwar nur 20 Autoren bekannt. Da aber ein großer Teil fragmentarisch überliefert ist, also ohne Anfang und Ende – die Textteile, in denen im Mittelalter für gewöhnlich die Verfassernamen genannt werden –, sind es von den 90 wiederum nur etwa 30 Texte, von denen sicher gesagt werden kann, dass sie wirklich anonym sind.29
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Woolf 1979 (wie Anm. 11), S. 424. Das ist der historische Grund dessen, was Griffin als Forschungsprogramm der Anonymität formuliert: »some historical understanding of anonymous publication must be integral to our understanding of authorship during the rise of the professional author« (Griffin 1999, wie Anm. 4, S. 891). Zu ergänzen wäre, dass das Verständnis von Anonymität über die unmittelbare Gründungsphase moderner Autorschaft hinaus immanenter Bestandteil des Verständnisses von Autorschaft bleibt. In diesem Sinne kann man Zelle verstehen, der nicht allein das Desiderat einer Geschichte der Anonymität benennt, sondern zugleich auf die Komplementarität von Autorschaft und Anonymität hinweist: »Zum auktorialen Diskurs gehört der anonyme als sein anderes hinzu«. Carsten Zelle, »Auf dem Spielfeld der Autorschaft. Der Schriftsteller des 18. Jahrhunderts im Kräftefeld von Rhetorik, Medienentwicklung und Literatursystem«, in: Spielräume des auktorialen Diskurses, hg. v. Klaus Städke/Ralph Kray, Berlin 2003, S. 1–37, hier S. 32. Ins Bild dieser Gleichzeitigkeit von Onymität und Anonymität ließe sich dann auch Britta Herrmanns Beobachtung einfügen, dass mit der Ausbildung ›starker‹ Modelle der Autorschaft seit dem 18. Jahrhundert die Reflexion auf ›schwache‹ Autorschaft kontinuierlich einhergeht. Vgl. »»So könnte dies ja am Ende ohne mein Wissen und Glauben Poesie sein?« – Über ›schwache‹ und ›starke‹ Autorschaften«, in: Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001, hg. v. Heinrich Detering, Stuttgart/Weimar 2002, S. 479–500. Für Anregungen und Kritik in diesem Punkt danke ich meiner Kollegin Cordula Kropik. Hellgardt 1998 (wie Anm. 24), S. 52ff. Auch diese Aufstellung hat freilich ihre Haken, wie Hellgardt selbst deutlich macht, indem innerhalb der Gruppe von Werken, die mit Autornamen überliefert sind, zwischen Selbst- und Fremdnennung zu unterscheiden ist, wobei im Fall der Fremdnennung das Werk eigentlich anonym bleibt. Vgl. Ebd., S. 61.
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II.
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Funktionen der Anonymität
So wie der Name des Autors ein Medium der Verknüpfung unterschiedlicher Texte, Wissenshorizonte oder sozialer Konstellationen ist, so resultieren die verschiedenen Funktionen der Anonymität daraus, diese Zusammenhänge zu kappen oder doch wenigstens ihren Nachvollzug für den Leser zu erschweren. Bei weitem nicht die einzige, aber die offenkundigste und historisch bedeutendste Funktion der Anonymität, die auf dieser Dekontextualisierung des Textes beruht, ist der Schutz des Autors vor persönlichen oder staatlichen Übergriffen, die sein – in der Regel kritischer – Text nach sich ziehen könnte. Historisch hatte diese Funktion ihre größte Bedeutung für die Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts.30 Bereits die Reichsabschiede des 16. Jahrhunderts hatten ›Schmähschriften‹, die gegen eine der beiden Konfessionen gerichtet waren, unter Strafe gestellt, wenngleich diese Gesetzgebung einseitig zugunsten des katholischen Glaubens ausgeübt wurde. Später wurden diese Verbote auf religionskritische Schriften aller Art ausgedehnt. Um ihre Einhaltung sicherzustellen, verfügte schon der Reichsabschied von Augsburg (1530), dass nur solche Schriften zum Druck privilegiert werden durften, die den Namen des Druckers, des Druckortes und das Erscheinungsjahr nennen.31 Der Reichsabschied von Speyer (1570) dehnte diese Auflagen auf den Namen des Autors aus.32 Diese Reichsabschiede waren im Prinzip bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts in Kraft und wurden im Laufe der Zeit auch auf solche Schriften ausgedehnt, die sich gegen sogenannte »Staats-Sachen«33 richteten. Da sie in den deutschen Staaten sehr unterschiedlich gehandhabt wurden und der Buchhandel seinen Schwerpunkt auf die Leipziger Buchmesse verlegte, die von der kaiserlichen Bücherkommission nicht beaufsichtigt wurde, entstanden für Autoren und Verleger Ausweichmöglichkeiten, die die Geltung der Reichsabschiede in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusehends schwächten.34
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Vgl. Mulsow 2003 (wie Anm. 12), S. 219. Über die brutalen Strafen, die den Autor, den Drucker oder den Verleger einer religions- oder staatskritischen Schrift im 16. und 17. Jahrhundert in England erwarten konnten und die daraus resultierende Motivation zur Anonymität vgl. Mullan 2007 (wie Anm. 4), S. 138ff. Reichsabschied von Augsburg 1530, in: Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Welche von Zeiten Kayser Conrads des II. bis jetzo, auf den Teutschen Reichstagen abgefasset worden, sammt den wichtigsten Reichs-Schlüssen, so auf dem noch fürwährenden Reichstage zur Richtigkeit gekommen sind. In Vier Theilen, Zweyter Theil, Frankfurt a. M. 1747, S. 314. Ähnliche Gesetze wurden etwa zeitgleich in England durch Henry VIII erlassen. Vgl. Mullan 2007 (wie Anm. 4), S. 143. Vgl. Abschied des Reichstages zu Speyer 1570, § 156, in: ebd., Dritter Theil, Frankfurt a. M. 1747, S. 308. Kayserliches Commissions-Decret, 6. September 1715, in: ebd., Vierter Theil, S. 337. Zur Geschichte der den Buchdruck betreffenden Reichsgesetze im Allgemeinen Ulrich Eisenhardt, Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1496–1806). Ein Beitrag zur Geschichte der Bücher- und Pressezensur, Karlsruhe 1970. Vgl. auch Dieter Breuer, Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland, Heidelberg 1982, S. 86–92, und Bodo Plachta, Damnatur, Toleratur, Admittitur. Studien und Dokumente zur literarischen Zensur im 18. Jahrhundert, Tübingen 1994, S. 11–32.
Anonymität und Autorschaft
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Diese Reichsgesetzgebung verdeutlicht ex negativo die Bedeutung der Anonymität als historische Bedingung der Möglichkeit von Kritik. Kritik wird möglich, weil sich ihr Autor durch die Anonymität vor rechtlicher Verfolgung schützen kann. Das gilt unter anderen rechtlichen und politischen Voraussetzungen auch in anderen Staaten Europas. Spinozas Tractatus theologico-politicus, um nur ein, für die gesamte europäische Aufklärung entscheidendes Beispiel zu nennen, erscheint anonym,35 zielt aber pragmatisch darauf, andere Bedingungen der öffentlichen Rede herzustellen. Statt des Autornamens liest man auf dem Titelblatt: »Tractatus theologico-politicus. Continens Dissertationes aliquot, Quibus ostenditur Libertatem Philosophandi non tantum salve Pieteta, & Reipublicae Pace posse concedi: sed eandem nisi cum Pace Reipublicae, ipsaque Pietate tolli non posse.« Der Text arbeitet mithin an der Denk- und Publikationsfreiheit, auf die er selbst noch nicht zurückgreifen kann, weshalb er anonym erscheint. Würde man Kritik als einen zulässigen Vorgang betrachten, wäre es nicht mehr nötig, anonym zu sprechen. Insofern geht es Spinoza darum, mit der anonymen Rede den Grund der Anonymität zu tilgen und namentlich auftreten zu können. Ähnlich argumentiert der englische Deist John Toland, wie Claus-Dieter Osthövener in diesem Band zeigt. Noch Lessing wird Fragmente aus Reimarus’ Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes als ›Fragmente eines Ungenannten‹ publizieren, um den guten Namen und die Familie des inzwischen verstorbenen Autors zu schützen und gleichzeitig als Herausgeber hinter der Anonymität des Autors in Deckung zu gehen. Diese Schutzfunktion der Anonymität wurde im 18. Jahrhundert auf das Gebiet der literarischen Kritik ausgedehnt. Der Kritiker musste als Rezensent zwar nicht unbedingt vor rechtlicher Verfolgung bewahrt werden, aber vor der Missgunst oder gar der Rache des rezensierten Autors.36 Mit diesem Schutz verfolgte man das Ziel, die Kritik von persönlichen Rücksichten zu befreien, um so ihre Rückhaltlosigkeit in der Sache sicherzustellen. Nur derjenige, so das Argument, äußert seine Meinung frei und uneingeschränkt, der durch seine Anonymität ausschließt, dass ihn Reaktionen auf seine Rezension persönlich treffen könnten. Freilich entsteht dann ein anderes Machtgefüge als im Fall der religiösen oder politischen Kritik. Während der anonyme Kritiker im ersten Fall mit seiner Anonymität die Gewalt eines übermächtigen institutionellen Gegners neutralisiert – in anderen historischen Zusammenhängen spricht Gunda Dreyer in diesem Band von einem ›Machtausgleich‹ –, entstehen im zweiten Fall asymmetrische Machtverhältnisse, weil der Kritiker seine Kritik zu adressieren und ihre Folgen zu kalkulieren vermag, während er dem Autor die Möglichkeit einer ebenso gezielten Reaktion entzieht. Und während der Autor einen Namen zu verlieren hat, spricht der Anonymus
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Zur Druckgeschichte des Tractatus und den Gründen für die Anonymität vgl. Fritz Bamberger, Spinoza and Anti-Spinoza Literature. The Printed Literature of Spinozism 1665–1832, Cincinatti 2003. Zum seinerseits klandestinen und vornehmlich anonymen Verbreitungszusammenhang Spinozas innerhalb der deutschen Radikalaufklärung vgl. Mulsow 2002 (wie Anm. 15), passim. Für England spricht Mullan davon, dass der Schutz des Autors vor staatlicher Verfolgung am Ende des 18. Jahrhunderts an Relevanz einbüßt und es stattdessen vor allem um den Schutz vor persönlichen Anfeindungen geht. Vgl. Mullan 2007 (wie Anm. 4), S. 176ff. Zur Anonymität von Rezensenten bis ins 20. Jahrhundert vgl. ebd. S. 177 und S. 181–216.
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buchstäblich ohne Rücksicht auf Verluste, unter Umständen eben auch gezielt, um einem Autor zu schaden, wie Hans-Peter Haferkamp in diesem Band zeigt. Freiheit, Verantwortungslosigkeit oder regelrechter Missbrauch der Anonymität lassen sich also nicht immer klar voneinander unterscheiden, was natürlich jeweils polemische Möglichkeiten eröffnet. Was die Freiheit der Kritik ermöglichen soll, kann als Verantwortungslosigkeit angegriffen werden, umgekehrt kann man sich als Anonymus der Verantwortung für jeden noch so unverschämten Angriff auf bestimmte Personen entziehen und das auch noch mit der Freiheit der Kritik entschuldigen. Die moralische Zweischneidigkeit der Sache verdeutlicht Schopenhauers Urteil über sie: Vor allen Dingen daher müßte jenes Schild aller litterarischen Unredlichkeit, die Anonymität, dabei wegfallen. In Litteraturzeitungen hat zu ihrer Einführung der Vorwand gedient, daß sie den redlichen Recensenten, den Warner des Publikums, schützen sollte gegen den Groll des Autors und seiner Gönner. Allein, gegen Einen Fall dieser Art, werden hundert seyn, wo sie bloß dient, Den, der was er sagt nicht vertreten kann, aller Verantwortlichkeit zu entziehen, oder wohl gar, die Schande Dessen zu verhüllen, der feil und niederträchtig genug ist, für ein Trinkgeld vom Verleger, ein schlechtes Buch dem Publiko anzupreisen.37
Gerade weil der anonyme Autor für seinen Text nicht verantwortlich gemacht werden könne, befördere die Anonymität sogar die Lüge und diskurspolitische Intrige, also das Gegenteil dessen, was sich die Aufklärung von ihr versprach. Von einer Schutzfunktion ließe sich in gewisser Weise auch da sprechen, wo durch die Entkoppelung von Text und Autor im Verschweigen des Autornamens eine gewisse Diskretion gewahrt werden soll. So veröffentlicht Johann Caspar Lavater sein Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst anonym, weil ansonsten die Intimität der Selbstbeobachtung durch die Öffentlichkeit seiner Person untergraben werden würde. Diese Spannung zwischen Intimität und Öffentlichkeit ist wohl auch der Grund dafür, warum sich vor allem für die autobiographische Literatur des 19. Jahrhunderts eine solche Fülle anonymer Publikationen nachweisen lässt,38 sei es, weil man die Privatsphäre schützen, sei es, weil man durch die Anonymität eine besondere Intimität der Mitteilung unterstreichen wollte. Noch der jüngere Fall der Aufzeichnungen einer Anonyma aus dem besetzten Berlin im Frühjahr und Frühsommer 1945, der unter anderem die Darstellung der eigenen Vergewaltigung beinhaltet, wird vom Herausgeber Hans Magnus Enzensberger mit der Diskretion gegenüber der Autorin begründet und gegenüber der Süddeutschen Zeitung, die den Namen aufdeckte, scharf verteidigt. Der intime Text, so argumentiert man sowohl im Fall Lavaters als auch in dem der Anonyma, hat exemplarischen Wert und sollte deshalb öffentlich werden. Dieser Text würde aber gar nicht entstehen oder nicht öffentlich gemacht werden, wenn man ihn einer bestimmten Person zuschreiben könnte.
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Arthur Schopenhauer, »Ueber Schriftstellerei und Stil«, in: ders., Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften II, Zürich 1988, S. 445–479, S. 452f. Hänsel hat in seiner Bibliographie 2358 Titel nachgewiesen. Markus Hänsel, Die anonym erschienen autobiographischen Schriften des neunzehnten Jahrhunderts. Bibliographie, München u. a. 1986.
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Neben dieser je unterschiedlich auszulegenden Schutzfunktion hat Anonymität jedoch auch andere Funktionen, etwa die strategischer Rezeptionssteuerung. Die Anonymität eines Textes setzt in der Regel Spekulationen über seinen Autor in Gang. Das gilt vor allem für bestimmte Textgattungen. Während Gebrauchsanweisungen, Nachrichten oder Schulbücher ohne markierte Autorfunktion auskommen und deshalb die Frage nach dem Autor auch nicht auf sich ziehen, stellt sich diese Frage im Fall von literarischen Texten, philosophischen Traktaten oder eher subjektiv ausgerichteten Zeitungsbeiträgen. Die Spekulationen über den Autor verlaufen aber nicht vollkommen beliebig. Sie können je nach Kontext und Thema eines Textes antizipiert und deshalb teilweise strategisch gesteuert werden. Mit einem solchen Fall befasst sich in diesem Band Martin Dönike: 1755 publiziert ein gänzlich unbekannter Autor die Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke. Sie werden ausgesprochen positiv aufgenommen, weshalb der Autor auch unter den zeitgenössischen Autoritäten auf dem Gebiet der Altertumskunde vermutet wird. Man verfällt unter anderem auf Christian Ludwig von Hagedorn. Nicht zuletzt diese Spekulation begründet die Autorität des Textes, die dann auf ihren Autor – Winckelmann – zurückfällt. Nicht viel anders verhält es sich mit Fichtes Versuch einer Kritik aller Offenbarung, wenngleich die Anonymität hier auf den Verleger zurückgeht, der sich davon wohl versprach, man möge über die Autorschaft Kants spekulieren, dem die Schrift gedanklich und sprachlich nahe stand und von dem sie auch empfohlen worden war.39 Das verlegerisch-ökonomische Kalkül geht auf, der Rezensent der Allgemeinen Literatur-Zeitung, der auflagenstärksten deutschen Rezensionszeitschrift der 1790er Jahre, benennt Kant als »unsterbliche[n] Verfasser«40 und steht mit dieser Vermutung nicht allein.41 Zwar klärt Kant das Missverständnis schon wenige Wochen später auf, aber die bloße Unterstellung der Kantischen Autorschaft nobiliterte Fichtes Text.42
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Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Reinhard Lauth/Hans Jacob, Bd. I.1. Werke 1791–1794, Stuttgart/Bad Cannstatt 1964, S. 10. Die Herausgeber weisen freilich auch daraufhin, dass der Verleger Gottfried Leberecht Hartung selbst ein bloßes Versehen für den fehlenden Autornamen angibt (vgl. ebd.). Natürlich lässt sich gerade im Fall der Anonymität ihr Effekt nicht immer auf eine faktische Intention zurückrechnen. Bestimmte Wirkungen legen Rückschlüsse auf bestimmte Absichten lediglich nahe. Allgemeine Literatur-Zeitung Nr. 190/1792, S. 146. Auch Reinhold, Baggesen und Jean Paul gehören zu denen, die Kant als Autor vermuten. Vgl. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen, 1. Bd.: 1762–1798, hg. v. Erich Fuchs, Stuttgart/ Bad Cannstatt 1978, S. 35, 37 und 44. Das Bemerkenswerte an dieser strategischen Anonymität ist, dass die Steuerung der Spekulation über zwei Anonymitäten und Anonymitätsbegründungen hinweg funktioniert: Der Verleger nennt Fichte nicht, weil sich die Spekulation über die Kantische Autorschaft auf den Verkauf der Schrift günstiger auswirkt als der zu diesem Zeitpunkt vollkommen unbekannte Autorname Fichtes. Die Leser hingegen müssen, um Kants Autorschaft unterstellen zu können, auch dessen Anonymität erklären und tun es mit dem religionskritischen Inhalt der Schrift, der Kant vor dem Zugriff der Zensurbehörden habe zurückschrecken lassen (Fichte 1964, wie Anm. 39, S. 10). Die Schutzfunktion wird hier also strategisch gedeutet. Die Aufwertung eines Buches durch die Spekulation über seine Autorschaft gab es als Phänomen natürlich schon früher, wenngleich sie zuvor vielleicht nicht bewusst als Werbung für ein Buch eingesetzt wurde. Relativ bekannt ist etwa der Fall der angeblich aus dem Mittelalter stammenden religionskritischen Schrift De tribus
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Der Fall der Winckelmannschen Gedanken über die Nachahmung enthüllt zugleich eine andere Art der Rezeptionssteuerung durch Anonymität. Während in höfischen Kreisen die Autorschaft Winckelmanns bekannt war, wusste die literarische Öffentlichkeit um den Namen des Autors tatsächlich nicht und je nach Wissensstand wurde der Text unterschiedlich gelesen. Indem also der Name in dem einen Fall lanciert und im anderen verschwiegen wird, kann ein und derselbe Text unterschiedlich adressiert und die Adressierung qua Name als exklusivere markiert werden. Ein ähnliches Phänomen der doppelten Adressierung beobachtet Nicola Kaminski in diesem Band am Beispiel der Gottschedin. In der Regel geht dabei die Unterscheidung der Adressaten mit einer Hierarchisierung einher. Die aristokratische Publikationskultur des 16. und 17. Jahrhunderts in England beruhte auf einer solchen doppelten Adressierung.43 Während Manuskripte im Wissen um den Autor in kleinen Kreisen zirkulierten, gingen sie für die große Öffentlichkeit anonym in den Druck, nicht allein um den Namen zu verschweigen, sondern auch, um den Vorbehalt gegenüber dem sozialen Prestige der Literatur zum Ausdruck zu bringen, wobei das Anrüchige nicht im Schreiben selbst oder im Gegenstand der Schrift, sondern in seiner kommerziellen Verbreitung bestand.44 George Puttenham beschreibt die Situation in seiner 1589 erschienen Schrift The Arte of English Poesie: Now also of such among the Nobilitie or gentrie as be very well seene in many laudable sciences, and especially in making or Poesie, it is so come to passe that they haue no courage to write and if they haue, yet are they loath to be knowen of their skill. So as I know very notable Gentlemen in the court that haue written commendably and supressed it agayne, or els suffred it to be publisht without their owne names it: as i fit were a discredit for a Gentleman, to seeme learned, and to shew him selfe amorous of any good Art.45
Diese Abstufung zwischen dem namentlich weitergereichten Manuskript und dem anonym publizierten muss freilich nicht im Sinne einer ständischen Stufung genutzt werden. Sie kann auch dazu dienen, unterschiedliche Grade der Intimität zu markieren, wie im Fall Johann Caspar Lavaters, der bestimmte Texte nur in einem kleinen Kreis Vertrauter als Manuskript unter seinem Namen zirkulieren lässt, während sie anonym gedruckt werden, weil die Intimität der Texte eigentlich keine große Öffentlichkeit ver-
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impostoribus, deren Existenz zwar gar nicht sicher überliefert ist, die aber nicht zuletzt aufgrund der Autorschaft, die dem Buch zugeschrieben wurde, einiges Aufsehen erregt. Boccaccio, Pietro Aretino, Rabelais, Giordano Bruno und Campanella gehören zu den Autoren, über die man nachgedacht hat. Vgl. Winfried Schröder, Einleitung, in: Anonymous/[Johann Joachim Müller], De imposturis religionum (De tribus impostoribus)/[Von den Betrügereyen der Religion], hg. v. Winfried Schröder, Stuttgart/Bad Cannstatt 1999, S. 12f. Vgl. Alvin Kernan, Printing Technology, Letters & Samuel Johnson, Princeton 1987, S. 42, 64. Kernan stellt die Ablösung der aristokratischen literarischen Kommunikation mit zirkulierenden Manuskripten durch den Buchdruck als dominierendes Prinzip der literarischen Kommunikation dar und kommt dabei gelegentlich auf den Umgang mit der Anonymität zu sprechen. Vgl. J. W. Saunders, »The Stigma of Print. A Note on the Social Bases of Tudor Poetry«, in: Essays in Criticism 1/1951, S. 139–164 und North 2003 (wie Anm. 3), S. 159–210. [George Puttenham], The Arte of English Poesie [1589], London 1869, S. 37. Puttenham verbindet sein Plädoyer für das Ansehen der Poesie denn auch mit einem Votum für die Nennung des Autors. Vgl. zu Puttenham Mullan 2007 (wie Anm. 4), S. 47.
Anonymität und Autorschaft
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trägt. Selbst wenn diese Grenzen selten ganz dicht gehalten werden können, lassen sie doch auch nach Bekanntwerden der Autorschaft die Hierarchien der Adressierung erkennen. In Georges Blättern für die Kunst dürfte die Anonymität vieler Beiträge vor allem die Funktion gehabt haben, den Zusammenhalt einer bestimmten Gruppe nach innen zu stärken und gleichzeitig nach außen deren Exklusivität und deren Vorbehalte gegenüber der literarischen Öffentlichkeit publizistisch in Szene zu setzen. Schon diese wenigen Funktionsbestimmungen der Anonymität zeigen, dass Anonymität nicht unbedingt das Zeichen einer fehlenden Autorfunktion ist. Vielmehr werden bestimmte Formen von Autorschaft nur unter der Bedingung von Anonymität möglich. Spinoza spricht als Kritiker anonym, um zukünftig nicht mehr anonym sprechen zu müssen. Lavater bleibt anonym, weil andernfalls sein intimer Text nicht öffentlich werden könnte, Winckelmann und Fichte machen sich einen Namen als Autor, indem durch die Anonymität die Spekulation über einen anderen Autor in Gang gesetzt wird. Die These allerdings, dass speziell weibliche Autorschaft durch die Anonymität erst möglich geworden sei,46 wie immer wieder vermutet wurde, scheint einer genaueren historischen Untersuchung nicht standzuhalten.47 Für England vorliegende Statistiken zeigen, dass
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Diese These hat im Rahmen des sonst schwach ausgeprägten Interesses an anonymer Literatur eine verhältnismäßig rege Forschungstätigkeit nach sich gezogen. Der größte Teil dieser Arbeiten leidet aber daran, dass sie die Anonymität schreibender Frauen zur Anonymität schreibender Männer nicht oder nur marginal ins Verhältnis setzt. Vgl. zu diesem Einwand Anne Green, Privileged Anonymity. The Writings of Madame de Lafayette, Oxford 1997, S. 2. Allein die Arbeit von Feldman bildet hier eine Ausnahme und kommt just zu dem Ergebnis, dass es eine spezifisch weibliche Anonymität gar nicht gebe. Vgl. Barbara Hahn, Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, Frankfurt a. M. 1991; Susanne Kord, Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft 1700–1900, Stuttgart/Weimar 1996; Paula R. Feldman, »Women Poets and Anonymity in the Romantic Era«, in: New Literary History 33/2002, H. 2, S. 279–289; Margaret J. M. Ezell, »›By a Lady‹. The Mask of the Feminine in Restoration, Early Eighteenth-Century Print Culture«, in: Griffin 2003 (wie Anm. 4), S. 63–79; Marcy L. North 2003 (wie Anm. 3), S. 211–256; Alexis Easley, First-Person Anonymous. Women Writers and Victorian Print Media, 1830–1870, Aldershot 2004. Feldman spricht geradezu vom »myth of female anonymity« (Feldman 2002, wie Anm. 47, S. 284). Das Stichwort für diese Mythenbildung, scheint mir, hat Virginia Woolf gegeben: »Anon, who wrote so many poems without singing them, was often a woman. It was a woman Edward Fitzgerald, I think, suggested who made the ballads and the folk-songs, crooning them to her children, beguiling her spinning with them, or the length of the winter’s night.« (Virginia Woolf, A Room für One’s Own, London u. a. 1977, S. 48). Woolf deutet zunächst die These, dass Balladen und Volkslieder anonym entstanden, aber vor allem durch Frauen überliefert worden seien, um in die These von der weiblichen Autorschaft. Sie trägt gewissermaßen in die (wirkliche oder fingierte) Anonymität der ›Volksliteratur‹ einen weiblichen Autor ein. Für die Zeit zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert gibt sie dann einen sozialpsychologischen Grund für die anhaltende Anonymität weiblicher Autoren an: »It was the relic of the sense of chastity that dictated anonymity to women even so late as the nineteenth century« (ebd., S. 49). Woolf markiert in ihrem Essay immer wieder den spekulativen Charakter dieser Überlegungen. Von der Forschung aber ist er im Sinne einer Beschreibung der Geschichte der Anonymität bereitwillig aufgegriffen worden. Einen anderen Vorschlag, Geschlecht und Namentlichkeit zu korrelieren, hat Jacobs unterbreitet. Er beobachtet, dass in der populären Romanproduktion für Leihbibliotheken im England des 18. Jahrhunderts besonders stark anonyme und weibliche Autoren vertreten sind.
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zwischen 1770 und 1830 der prozentuale Anteil anonym schreibender Frauen an der gesamten poetischen Produktion von Frauen dem der anonym schreibenden Männer am Gesamt schreibender Männer gleicht, was bedeutet, dass die Gründe der Anonymität kaum geschlechtsspezifisch waren.48 Die Funktionen des Schutzes des Autors, die hier in unterschiedlichen Formen vorgestellt wurden, können fließend in eine andere Funktion übergehen, etwa in die der Täuschung. Natürlich leistet die Anonymität auch Textfälschungen oder Manipulationen Vorschub. Insofern über den Autor Text und Kontext miteinander verkoppelt werden und der Wahrheitsgehalt von Texten durch sein Verhältnis zum Kontext überprüft werden kann, erschwert man die Überprüfbarkeit eines Textes, indem man Text und Kontext entkoppelt. Das gilt natürlich in besonderer Weise für Texte, die einen stark personenbezogenen Wahrheitsanspruch erheben, das heißt die irgendeine Art von Zeugenschaft für sich in Anspruch nehmen. Als 2003 die Aufzeichnungen der Anonyma – Eine Frau in Berlin – im Eichborn-Verlag erschienen, meldete die Süddeutsche Zeitung Zweifel an der Authentizität des Textes an. Er sei von einer »Aura der Ungewissheit«49 umgeben. Weitere Recherchen zur Autorschaft ergaben Anhaltspunkte für berechtigte Zweifel an der authentischen Textüberlieferung des Tagebuchs. Dabei war es gerade die Anonymität, die die ›Aura der Ungewissheit‹ erzeugte: »Wir wissen nicht, wer es geschrieben hat, wir dürfen es nie erfahren und sollen doch glauben, dass es sich um ein authentisches Zeugnis handelt«.50 Der kritische Leser lässt sich also vom Diskretionsargument nicht
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Es sind deshalb nicht unbedingt die anonymen Autoren weiblich. Weibliche und/oder anonyme Autoren befinden sich einfach in derselben Situation. Der Bedarf an populärer Literatur lässt die Verleger verstärkt auf Werke unbekannter, beim Publikum noch nicht eingeführter Autoren zurückgreifen. Edward Jacobs, »Anonymous Signatures. Circulating Libraries, Conventionality, and the Production of Gothic Romances«, in: ELH 62/1995, S. 603–629. Auch Ezell hinterfragt die These, Frauen schrieben anonym, weil Frauen als Autoren nicht anerkannt waren, kritisch, indem sie daran erinnert, dass sich im 18. und 19. Jahrhundert immer wieder Autorinnen mit der Formel »By a Lady« anonymisierten, neben dem sozialen Status also gerade das Geschlecht kenntlich machten (vgl. Ezell 2003, wie Anm. 46, v.a. S. 179). Zudem wurde die Formel häufig auch von Männern gewählt, um, wie James Raven vermutet, die Kritik milde zu stimmen, oder um intimere Kenntnisse höfischer oder privater Verhältnisse zu suggerieren, wie Mullan 2007 (wie Anm. 4), S. 127f ausführt. Zur Verwendung dieser Formel vgl. James Raven, »The Anonymous Novel in Britain and Ireland, 1750–1830«, in: The Faces of Anonymity. Anonymous and Pseudonymous Publication from the Sixteenth to the Twentieth Century, hg. v. Robert J. Griffin, New York 2003, S. 145. Vgl. Vgl. Lee Erickson, »›Unboastful Bard‹. Originally Anonymous Englisch Romantic Poetry Book Publication, 1770–1835«, in: New Literary History, 33/2002, H. 2, S. 250. Die Zahlen, die Raven für den englischen Roman vorlegt, besagen, dass bereits ab den 1780er Jahren die Zahl der Frauen, die sich als Autor eines Romans zu erkennen geben, über der der Männer liegt. Vgl. Raven 2003 (wie Anm. 47), S. 162f. Feldman nennt vier Gründe, die alle vier auch für männliche Autoren nachgewiesen werden können: ›controversial or satirical subject matter, audience, a publishing ploy, collaborative authorship‹. Vgl. Feldman 2002 (wie Anm. 46), S. 286f. Jens Bisky, »Kleine Fußnote zum Untergang des Abendlandes. Im Frühjahr der Befreiung: Das Berliner Tagebuch einer Unbekannten erzählt von Hunger und Vergewaltigung«, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 131, 10. Juni 2003. Ders., »Wenn Jungen Weltgeschichte spielen, haben Mädchen stumme Rollen. Wer war die
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vollständig beruhigen, weil er weiß, dass ihm mit der Anonymität auch die Möglichkeit der Authentizitätsprüfung systematisch entzogen wird, und dieser Entzug erregt seine Skepsis. Schließlich ist die Täuschungsmöglichkeit, die sich aus der Anonymität ergibt, historisch auch immer wieder in Anspruch genommen worden, wie der Fall des Tagebuch[s] eines halbwüchsigen Mädchens belegt, das 1919 als Quellendokument der Psychoanalyse anonym erschien, von dem sich aber herausstellte, dass es sich um eine Fälschung der Analytikerin Hermine Hug-Hellmuth handelte.51 Anonymität, soviel führt die Debatte vor Augen, ist ein wirksames Instrument der Täuschung und zieht deshalb mit einer gewissen Notwendigkeit den Verdacht der Manipulation auf sich, ganz gleich, ob er letztlich zutrifft oder nicht. In Bezug auf den autobiographischen Text ergibt sich der Verdacht strukturell aus der Anonymität, insofern der ›autobiographische Pakt‹ (Lejeune) wesentlich über die Namensidentität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist hergestellt wird. Der Name des Autors zeigt an, dass mit dem Protagonisten im Text auf eine wirkliche Person Bezug genommen wird. Durch die Aussparung des Namens wird der Pakt nur unvollständig geschlossen, da sich die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist nun nicht mehr überprüfen lässt.52 Der anonyme autobiographische Text schützt also unter Umständen die Schutzfunktion nur vor, um eigentlich eine Täuschungsabsicht mit den Mitteln der Anonymität ins Werk zu setzen. Das ist ein Spiel, das natürlich mit jeder Begründung der Anonymität gespielt werden kann. Da Anonymität immer auch die Möglichkeit der Täuschung einschließt, kann jede Begründung der Anonymität auch so gelesen werden, als würde sie lediglich die Täuschungsabsicht verschleiern. Täuschung durch Anonymität kann aber auch auf einem ganz anderen Aspekt von Anonymität beruhen. Die bislang erörterten Fälle wirklicher oder nur vermuteter Täuschung resultieren ja aus einem prinzipiell gegenüber der Anonymität bestehenden Täuschungsverdacht. Allerdings gibt es auch eine Art der beglaubigenden Anonymi-
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Anonyma in Berlin? Frauen, Fakten und Fiktionen – Anmerkungen zu einem großen Bucherfolg dieses Sommers«, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 220, 24. September 2003. Eine kurze Darstellung des Falles gibt Isabell Koch, »Skandal um eine Mädchenseele. H. HugHellmuth und das Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens«, in: absolut privat!? Vom Tagebuch zum Weblog, hg. v. Helmut Gold/Christiane Holm/Eva Bös/Tine Nowak, Bonn 2008 (=Kataloge der Museumsstiftung Post und Telekommunikation; 26), S. 150–153. Selbst wenn jedes einzelne Wort tatsächlich in den wenigen Monaten nach Beendigung des Krieges niedergeschrieben wurde, verdeutlicht die Enthüllung der Autorschaft doch auch, in welchem Ausmaß sich unsere Einstellung zum Text durch dieses Wissen ändert und wie sie durch die Anonymität über das Diskretionsargument hinaus möglicherweise bewusst gesteuert wird. Cerams Behauptung, die Autorin hätte aus biographischen Gründen gar keine Gelegenheit gehabt, sich näher mit den Nationalsozialisten einzulassen (C. W. Ceram, Nachwort, in: Anonyma. Eine Frau in Berlin, S. 286), wird durch die nun bekannt gewordene Geschichte der Autorin wenigstens in Frage gestellt, was wiederum Spielräume für Spekulationen über eine politische Intention ihrer Aufzeichnungen und deren Publikationen öffnet. Auch der schon vom Titel annoncierte exemplarische Status – ›Eine Frau‹ – wird mit der Benennung eines konkreten Individuums unterlaufen. Alle diese Fragen, Spekulationen, Einschränkungen sind nicht zwingend, aber sie werden möglich erst durch das Wissen um die Autorin und enthüllen so mögliche Motive ihrer Anonymisierung, die über das Diskretionsargument hinausgehen.
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tät, die darauf beruht, dass eine ganze Reihe informierender Gattungen wie Lexikonoder bestimmte Zeitungsartikel anonym erscheinen und Anonymität hier als Zeichen ihres metaindividuellen Ursprungs gedeutet wird, dem die Objektivität der Information entspringt. Natürlich kann gerade das zum Element einer Täuschung werden, wie der sozialdemokratische Politiker und Publizist Adolf Braun 1918 in seinem Aufsatz Die Anonymität in der Presse an politischen Parteien und Wirtschaftsunternehmen beobachtet, die Beiträge in Zeitungen anonym lancieren und so ihre Interessen als Standpunkt einer unabhängigen Redaktion erscheinen lassen.53 Dieses Täuschungspotential, das auf einem impliziten Beglaubigungseffekt beruht, den Anonymität in bestimmten Erscheinungskontexten hat, dürfte in diversen Internet-Informationsportalen längst wieder eine bedeutende Rolle spielen. Der dieser Täuschungsabsicht zu Grunde liegende Beglaubigungseffekt kann natürlich auch als Funktion der Anonymität beschrieben werden. Anonymität autorisiert, insofern sie als Signatur des Kollektivs gelesen wird. Es können sich erstens wirklich mehrere Urheber hinter einem Text verbergen, ein einzelner Autor kann zweitens als Repräsentant einer bestimmten Institution, einer Zeitung, einer Behörde oder eines Staates auftreten, ein Autor kann drittens als repräsentativer Vertreter einer bestimmten sozial, politisch oder ideologisch definierten Gruppe sprechen, Julius Langbehn etwa als ›Deutscher‹ in seiner nationalistischen Kulturkritik Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen oder Martin Crugot als Christ in seiner Erbauungsschrift Der Christ in der Einsamkeit, die beide anonym erschienen. Anonymität autorisiert, legitimiert oder repräsentiert in diesen Fällen. Jedenfalls gewinnt die Rede durch die Anonymität einen gewissen paradigmatischen Charakter.
III. Programmatiken der Anonymität Diese Funktionen der Anonymität beruhen durchweg darauf, dass man den Autor eines Textes gar nicht kennt, zeitweise nicht kennt oder dass ihn nur eine bestimmte Gruppe von Lesern kennt, während ihn eine andere nicht kennt. Es geht also darum, dass ein Autor nicht oder nur auf eine bestimmte Weise, zu einem bestimmten Zeitpunkt und von einer bestimmten Gruppe von Lesern mit seinem Text in Verbindung gebracht werden möchte. Es gibt andere Fälle von Anonymität, in denen der paratextuellen Anonymität zum Trotz jedermann wusste, wer sich als Autor hinter dem Text verbarg.54 Wielands Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva erschien anonym, wurde aber im Verlags-
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Adolf Braun, Die Anonymität in der Presse, Berlin 1918, S. 19. Die Unterscheidung zwischen paratextueller (der Autor nennt sich nicht auf dem Titelblatt) und epistemischer Anonymität (man weiß wirklich nicht, wer der Autor ist) reklamiert vollkommen zu Recht Spoerhase. Vgl. Carlos Spoerhase, »Die romantische Lese-Szene: Das Leihbibliotheksbuch als ›Technologie‹ der Anonymisierung in E.T.A. Hoffmanns ›Des Vetters Eckfenster‹«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83/2009, H. 4, S. 577–596.
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katalog unter Wielands Namen angekündigt.55 Auch Klopstocks Oden wurden anonym publiziert, obgleich die Spatzen die Autorschaft von den Dächern pfiffen und mit ihnen Werther und Lotte in Goethes Roman, die sich nach einem Frühlingsgewitter gemeinsam auf den Namen des Autors der Frühlingsfeyer besinnen – »Klopstock!«.56 Diese Fälle paratextueller Anonymität bei gleichzeitig bestehendem und nicht einmal besonders exklusivem Wissen vom Namen des Autors sind unterschiedlich zu erklären. Im Fall Wielands ließe sich einfach über unterschiedliche Intentionen spekulieren, die der Autor und der Verleger verfolgten.57 Nicht selten wich deren Umgang mit dem Autornamen voneinander ab. Auch E.T.A. Hoffmann möchte bei seiner ersten Publikation – den Fantasiestücken – lieber anonym bleiben, während ihn sein Verleger Kunz als Autor öffentlich nennen möchte.58 In diesen Fällen ist die Differenz zwischen paratextueller und epistemischer Anonymität auf zwei unterschiedliche Intentionen zurückzuführen. Allerdings kann die Differenz auch der Intention einer Person entspringen, wie es bei Klopstock der Fall zu sein scheint. In diesem Fall geht es wohl eher um die Performanz der Anonymität. Sie vollzieht dann die Vorbehalte, die gegenüber einer Gattung bestehen, oder die Demut des Autors vor dem Gegenstand seiner Rede (vgl. dazu Senkel in diesem Band). Es gibt also auch eine Anonymität, die primär dazu dient, etwas darzustellen. Diese performative Anonymität kann sich mit der wirklichen Anonymität des Autors decken, unter Umständen ist es aber auch zweitrangig oder irrelevant, ob man den Autor kennt oder nicht. Im Folgenden soll es um einige programmatische Gründe für diese eher performative Anonymität gehen. Die programmatische Aufwertung der Anonymität in der Aufklärung hängt systematisch von der rechtlichen Position der Anonymität in den Reichsgesetzen ab. Die Reichsgesetze stellen vor allem religions- und staatskritische Bücher unter Strafe und versuchen die Anonymisierung ihrer Autoren zu unterbinden. Das heißt im Umkehrschluss, dass vor allem religions- und staatskritische Autoren Grund haben, sich zu anonymisieren, so dass Anonymität als Hinweis auf den Inhalt eines Buches gelesen werden kann. So empfiehlt Johann Balthasar Schupp im seinerseits anonymen Ineptus religiosus (1652) Anonymität als Hinweis auf die Relevanz eines Buches:
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Vgl. Hans Radspieler (Hg.), Christoph Martin Wieland 1733–1813. Leben und Wirken in Oberschwaben. Katalog, Weißenhorn 1983, S. 117. Auch ein Separatdruck des Biribinker-Märchens aus dem Don Sylvio wird vom Verleger, der dadurch den Absatz positiv zu beeinflussen hofft, mit dem Namen Wielands herausgegeben: Die Geschichte des Biribinkers. Ein comischer Roman, aus den Schriften des berühmten Herrn Wielands gezogen. Ulm, A.F. Bartholomäi 1769. Ich danke Peter Haischer für diese Hinweise. Johann Wolfgang Goethe, »Die Leiden des jungen Werthers«, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hg. v. Karl Richter u. a. Bd. 1.2. Der junge Goethe 1757–1775, hg. v. Gerhard Sauder, München 1987, S. 215. Hilfreich ist hier die systematische Unterscheidung von Marcy L. North zwischen »authored and less author-centered anonymities«, also zwischen der vom Autor und der von anderen Personen wie Drucker, Verleger, Herausgeber etc. verfügten Anonymität. North 2003 (wie Anm. 3), S. 14. Vgl. Stephan Pabst, »Hoffmann macht sich einen Namen. Zur Konstitutionsgeschichte eines Autornamens«, in: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, hg. v. Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser, erscheint Heidelberg 2011, S. 175–198.
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Stephan Pabst Endlich [...] halte besonders diejenigen für auserlesene Bücher, welche ohne Namen des Verfassers herauskommen, und auch keinen Ort des Drucks angeben, es müßte denn etwa eine Stadt in Utopien seyn. Nimm sie als für dich vom Himmel gefallen. In solchen Büchern wirst du Schätze antreffen, denn die Wahrheit liegt im dunkeln. Oft verbirgt sich unter dem schmutzigen Kleid Wissenschaft. Und es kommt nicht darauf an, wer etwas sagt oder schreibt, sondern was und wie er schreibt. Diese Bücher kommen von geistreichen und Wahrheit liebenden Männern, die weder Ruhm noch Lohn von ihnen erhoffen. Die Welt ist sehr undankbar, daß sie dergleichen Schriften verbieten, oder sie nicht frey verkaufen lassen will. Schon aus diesem einen Umstand ist zu sehen, wie wenig Wahrheit diese Welt ertragen kann. Schlimmer aber als papistische Tyrannei ist es, in einer freien Republik den Druck und Verkauf von Büchern zu verbieten. Sonderbar die Geduld unserer Zeit, die solches gleichmütig ertragen kann.59
Die Anonymität der Aufklärung ist mithin thematisch nicht vollkommen neutral, sondern geht eine Verbindung mit religions- und staatskritischen Themen ein. Das führt etwa bei Christian Thomasius (vgl. Osthövener in diesem Band) dazu, dass er nicht anonym schreibt, weil der anonyme Text allein auf Grund seiner Anonymität einer bestimmten Gruppe von Texten und Meinungen zugerechnet werden würde. Die programmatische Ausdeutung der Anonymität als Sprecherposition des Kritikers beruht auf dieser rechtlich motivierten Amalgamierung von Anonymität und Kritik. Eine offensive programmatische Deutung im Sinne der Aufklärung erfährt die Anonymität allerdings erst in dem Moment, in dem die Reichsgesetze an Bedeutung verlieren. Die Reichsgesetze, die Anonymität unter Strafe stellten, hatten zwar bis ins 19. Jahrhundert hinein Bestand, wurden aber schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum noch angewandt. Damit verliert auch die Schutzfunktion der Anonymität an Bedeutung. Seitdem wird auch von Juristen über eine Legalisierung der Anonymität als Liberalisierung der Öffentlichkeit nachgedacht. Das öffentliche Leben habe, so schreibt Adolph Dieterich Weber in seinem Hauptwerk Über Injurien- und Schmähschriften, von der Kritik, die unter der Bedingung der Anonymität möglich wurde, in hohem Maße profitiert.60 Zwar glaubt auch Weber, dass der Inhalt mancher Bücher strafrechtlich verfolgt werden könne und solle, doch berechtige dies nicht dazu, Anonymität selbst prophylaktisch unter Strafe zu stellen. Die Nennung des Autors könne erst erwirkt werden, wenn die Strafbarkeit des Inhalts einer Schrift gerichtlich festgestellt worden sei.61 Sicher ist Webers Position eine besonders liberale und nicht die einzige, die um 1800 vertreten wurde.62 Aber sie macht doch deutlich, dass mit der Liberalisierung der Öffentlichkeit Anonymität eine ihrer wichtigsten Funktionen verliert, die des Schutzes des Autors vor rechtlicher Verfolgung. Schon innerhalb der Aufklärung selbst, die eine ihrer strukturellen Voraussetzungen in der Schutzfunktion der Anonymität hat, beginnt sich die Schutzfunktion der Anony-
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Zit. nach Mulsow 2002 (wie Anm. 15), S. 372. Vgl. Adolph Dieterich Weber, Über Injurien und Schmähschriften, Bd. 3, Leipzig 1811 [zuerst 1793], S. 73ff. Vgl. ebd., S. 80ff. Weber selbst etwa reagiert in seiner Schrift auf Judas Thaddäus Zauner, der dafür plädiert hatte, dass generelle Verbot der Anonymität, wie es die Reichsgesetze vorsahen, aufrecht zu erhalten. Vgl. ebd., S. 76ff.
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mität mit ihrer Programmatik zu überlagern. Oder anders: Die institutionelle und rechtliche Vorgeschichte verdichtet sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer aufklärerischen Programmatik der Anonymität.63 Für Lessing bedeutet die Namenlosigkeit die Egalität der Stimmen in der literarischen Öffentlichkeit und der Geltung des besseren Arguments ohne Ansehen der Person: »Der ungenannte Kunstrichter will nichts als eine Stimme aus dem Publico sein [...]. Aber der Kunstrichter, der sich nennet, will nicht eine Stimme des Publici sein, sondern will das Publicum stimmen.«64 Die Praxis der Anonymität in den literaturkritischen Zeitschriften beruft sich auf diesen Satz Lessings.65 Ähnlich argumentiert Wieland im Teutschen Merkur. Er geht von der Einheit und Allgemeinheit der Vernunft aus, an der jeder Mensch im Prinzip in derselben Weise partizipieren kann. Es gebe, so meint er, schlechterdings »nur Eine Stimme« der Vernunft: Der »nahmenloseste Erdensohn hat, wenn er etwas kluges zu sagen hat, die seinige so gut als der Präsident einer Akademie«.66 Der Schutz des Autors, die dadurch ermöglichte Freiheit der Meinungsäußerung, die wirkliche Egalisierung hierarchischer Differenzen zwischen den Diskursteilnehmern und die performative Egalität als moralpolitisches Programm gehen in diesen Argumentationen eine Verbindung miteinander ein.67 Im Grunde reinterpretieren diese Programmatiken eine strategische Bedingung der Kritik als Allgemeingültigkeit der Vernunft. Freilich deckt sich hier die Programmatik der Anonymität noch mit der wirklichen Anonymität der Autoren, die in der Regel niemand außer den Herausgebern der Zeitschriften kennt. Diese Verbindung zwischen Vernunft, Kritik und Anonymität wird am Ende des 18. Jahrhunderts immer problematischer. Erstens erweist sich das Publikum, als dessen Teil sich der Kritiker verstehen möchte, als ausgesprochen heterogenes, das nur zu einem Teil jene Fähigkeit zum kritischen Räsonnement besitzt, das ihm die Aufklärung als ganzem unterstellte. Zweitens gewinnt die Anonymität der Kritik in der literarischen Öffentlichkeit der Printmedien ihrerseits eine Autorität, die der ursprünglich autoritätskritischen Intention der Anonymität diametral entgegensteht. Drittens wird mehr und mehr die Universalität der Vernunft in Zweifel gezogen, hinter die der aufgeklärte Kritiker mit dem Verschweigen seines Namens zurückzutreten meinte.68
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Vgl. Stephan Pabst, »Der anonyme Rezensent und das hypothetische Publikum. Zum Öffentlichkeitsverständnis der Allgemeinen Literatur-Zeitung«, in: Organisation der Kritik. Die Allgemeine Literatur-Zeitung in Jena, hg. v. Stefan Matuschek, Heidelberg 2004, S. 23–54. Lessing, »Briefe antiquarischen Inhalts«, in: ders., Werke Bd. 5.2, hg. v. Wilfried Barner, Frankfurt a. M. 1990, S. 577. Vgl. Allgemeine Literatur-Zeitung Nr. 345/1798, S. 404. Christoph Martin Wieland, »Vorrede des Herausgebers«, in: Der Teutsche Merkur, 1. Bd., 1. Heft, Weimar 1773, S. 14f. Die vier »Paradigmen« der Anonymität, die Zelle für das 18. Jahrhundert benennt – den Schutz des Autors, die Nivellierung sozialer Hierarchien, die Ermöglichung autoritätsloser Kommunikation und die Ermöglichung offener Kritik –, beleuchten alle aus unterschiedlichen Perspektiven den Zusammenhang zwischen dem persönlichen Schutz und Kritik. Vgl. Zelle (wie Anm. 27), S. 22. Vgl. Pabst 2004 (wie Anm. 63).
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Mit dieser Kritik der aufgeklärten Anonymität kommt aber die Geschichte der programmatischen Anonymität nicht an ihr Ende, sondern erfährt eine romantische Umdeutung. Sie wurde nun als Signatur volkstümlicher und mythologischer Literaturen gelesen, wie Stefan Matuschek in diesem Band zeigt. Diese Umdeutung hatte sich bei Herder angekündigt. Als Literaturkritiker hatte er noch an der aufgeklärten Anonymität der Kritik partizipiert. Schon in seinem Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker gibt er dem Thema der Anonymität eine andere Wendung, indem er die Genese authentischer Literatur einem volkstümlichen Überlieferungszusammenhang zuschreibt. Bei der Beglaubigung dieser kollektiven Autorschaft spielt die Anonymität eine wichtige Rolle. Was anonym ist, kann keinen individuellen Autor haben. Goethes Heidenröslein wird deshalb anonym in den Briefwechsel aufgenommen und als altes deutsches Kinderlied ausgegeben.69 Auch Arnim und Brentano werden in ihrer Sammlung Des Knaben Wunderhorn gelegentlich da, wo der Autor eines Textes eigentlich bekannt ist, die Quelle anonymisieren. Durch die Anonymisierung werden die Texte Teil eines volkstümlichen Überlieferungszusammenhangs, dem später die Brüder Grimm eine gottgleiche Autorität zusprechen werden. Gerade die subjektive Unverfügbarkeit des mythischen Stoffes verbürgt seine intersubjektive Geltung. Anonymität wird als Zeichen einer nichtentfremdeten Vergangenheit und als Gegenentwurf zu einer fragmentierten Gegenwart des Individuums gelesen. Der Name des Autors wird zum Zeichen der Entfremdung. Auf dieser romantischen Programmatik der Anonymität beruht nicht zuletzt die Plausibilität, die lange Zeit das Gerücht genoss, Heines Loreley sei im Dritten Reich kulturpolitisch bewusst anonymisiert worden und habe in Schulbücher und Anthologien nur noch mit dem Zusatz ›Verfasser unbekannt‹ Eingang gefunden. Anja Oesterhelt kann in diesem Band auf der bislang breitesten Quellengrundlage zeigen, dass dieses Gerücht falsch ist. Weil man die vermeinte Anonymisierung aber als perverse Sanktionierung des Heine-Textes als Volkspoesie im Sinne der Romantik deutete, schien das Gerücht jahrzehntelang einer historischen Überprüfung nicht zu bedürfen. Das Gegenstück dieser Programmatik des Volkstümlichen und Mythischen ist der Anonymisierungseffekt, den die gleichzeitig sich vollziehende kommerzielle Popularisierung von Literatur hat. Die Formel ›vom Verfasser des‹,70 die seit den 1790er Jahren an Popularität gewinnt und die unter Auslassung des Autornamens ein Buch durch den Verweis auf einen vorausliegenden Verkaufserfolg bewirbt, ist nicht allein als Übergangsphänomen einer Literatur mit schwacher zu einer Literatur mit starker Autorfunktion zu betrachten, sondern ein Zeichen für die eingeschränkte Werbefunktion des Autornamens, der im Zweifelsfall durch wirksamere Aufmerksamkeitssignale ersetzt werden kann und so einem sekundären Anonymisierungseffekt des Marktes unterliegt.
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Johann Gottfried Herder, »Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker«, in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 2. Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, hg. v. Gunter E. Grimm, Frankfurt a. M. 1993, S. 484f. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die Quelle des Liedes aus Paul von der Aelsts Liederbuch anonym ist, sind die Anteile Herders und Goethes an der Entstehung dieses ›Volksliedes‹ so groß, dass bei der Unterdrückung der Autornamen eine argumentative Funktion vermutet werden muss. Vgl. Genette 1989 (wie Anm. 14), S. 48. Pabst 2011 (wie Anm. 58).
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Eine dritte Form der programmatischen Anonymität geht aus der Erfahrung des Menschen in der Masse hervor. Seit 1900 explodiert die Zahl der Titel, in denen der, die oder das ›Namenlose‹ eine Rolle spielt. Dass die Masse in den Städten, den Fabriken, den Kriegen und den Lagern das Individuum verbraucht, ist eine spezifisch moderne Erfahrung und zunächst ein Thema moderner Literatur.71 Diese Massen-Anonymität schlägt auf das Prinzip der Autorschaft durch, wie Dirk Oschmann und Heinrich Kirschbaum in diesem Band zeigen. Drei Beispiele sollen hier genügen: In Analogie zu dieser Anonymität der Moderne diskutiert Adolf Braun die Anonymität des Journalisten in den Zeitungen, wobei er sich darüber im Klaren ist, dass Anonymität ein kontinuierliches Phänomen der Presse seit dem frühen 19. Jahrhundert ist, die aber einem Funktions- und Bedeutungswandel unterliegt – vom Schutz des Autors zur Kollektivierung der Autorschaft.72 Ebenso wie die Helden in den Kriegen und die Produzenten unserer Gebrauchsgüter in den Fabriken anonymisiert werden, so der Journalist in der Zeitung. Auch er lebt im Zeitalter der Kollektive, und auch in seinem Produkt verwirklichen sich die Bedingungen seiner Produktion – Masse, Information, Geschwindigkeit, Format, kollektive Autorschaft –, weniger sein persönlicher Gestaltungswille. Als Gegenbild entwirft Braun den Schriftsteller, der mit der Originalität seiner Produktion auch das Recht auf den Namen wahre. Ein Blick auf die Literatur selbst aber zeigt, dass auch deren Namentlichkeit von den Kollektivierungsprozessen angegriffen wurde. Eines der eindrücklichsten Zeichen für die mit der modernen Massenerfahrung einhergehenden Veränderungen von Wahrnehmungs- und Repräsentationsformen ist die Errichtung der ersten Grabmäler des unbekannten Soldaten in London und Paris. Als Ossip Mandelstam 1937 seine Verse vom unbekannten Soldaten schreibt, ist dieses Grabmal bereits über den Weltkrieg hinaus zum Symbol massenhafter Vernichtung geworden, deren Zeuge und deren Opfer Mandelstam unter Stalin wurde. In Mandelstams Gedicht spricht das Individuum als vernichtetes. Die Auslöschung wird zur paradoxen Beglaubigung des Textes: »Dieser Luftstrom, er soll es bezeugen,/ Dieses Herz, und der weit reicht – sein Stoß:/ In den Erdbunkern schlingst sie aufs neue,/ Jene See, ist ein Stoff, fensterlos«.73 Ganz anders deutet Wladimir Majakowski die Anonymisierung des Individuums durch die Masse. Weil er Masse in der Logik der marxistischen Klassenlehre als revolutionäre Kraft auffasst, hat die Anonymität des Einzelnen für ihn durchaus eine positive Bedeutung als Ermächtigung einer Klasse. Sein Poem 150 000 000 erscheint anonym, weil sein Autor als Vertreter einer revolutionären Klasse und als Medium der Geschichte selbst zu sprechen meint: »Hundert und fünfzig Millionen: so heißt der Meister dieses Poems./ [...]/ Hundert und fünfzig Millionen sind Herren meines Lippen-Signalsystems.«74 In beiden
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Zur Anonymität als städtischer Erfahrung und zur literarischen Thematisierung dieser Anonymität seit dem frühen 19. Jahrhundert Anne Ferry, »Anonymity: The Literary History of a Word«, in: New Literary History 33/2002, H. 2, S. 199ff. Braun 1918 (wie Anm. 53), S. 36. Ossip Mandelstam, Die Woronescher Hefte. Letzte Gedichte 1935–1937, hg. v. Ralph Dutli, Zürich 1996, S. 166. Wladimir Majakowskij, »150 000 000«, in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 3. Poeme, hg. v. Leonhard Kossuth, Frankfurt a. M. 1980, S. 119.
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Fällen geht es nicht um die tatsächliche Geheimhaltung des Namens – Majakowski ist bei Erscheinen seines Poems als Autor längst in aller Munde –, sondern um die Anonymisierung als Form der Beglaubigung. Die Vernichtung des Autors bewahrheitet den Text. Der Zusammenhang zwischen Anonymität und Autorschaft reißt also im 20. Jahrhundert nicht ab, wenngleich immer weniger Texte tatsächlich anonym erscheinen.75 Er wird fast ausschließlich auf dem Gebiet der Programmatik hergestellt. Für Edward Morgan Forster etwa steht die Signatur des Autors im Widerspruch zur Sache der Literatur als solcher. Sie erhebt keinen Anspruch auf Wahrheit, bedarf also auch keiner Instanz, die für den Wahrheitsgehalt einer Aussage haftbar gemacht werden könnte, und sie etabliert eine ›Welt‹, die im Lektürevorgang aufhört, die Welt des Autors zu sein und stattdessen zur Welt des Lesers wird.76 Das hindert freilich Forster ebenso wenig, seinen Essay Anonymity und seine Romane unter seinem Namen erscheinen zu lassen, wie Samuel Beckett oder Nathalie Sarraute, die über das Ende des Individuums in der Moderne schreiben und ihren Romanen Titel wie L’Innomable oder Portait d’un Inconnu geben, während ihr eigener Name von der Auslöschung des Individuums scheinbar unberührt bleibt. Auch Wolfgang Hilbig klagt unter seinem Namen über die Unfähigkeit zur Anonymität. So wie Forster die Emanzipation des Textes von der Welt des Autors einer überpersönlichen Qualität zuschreibt, an der Autor und Leser gleichermaßen teilhaben, vertritt Hilbig die romantische Auffassung, dass Literatur nur eine Bearbeitung transindividueller Stoffe und dass der Ursprung dieser Stoffe nicht mehr zu benennen sei. Die Stoffe sind die »anonymen Mythen«,77 die gewährleisten, dass Verständigung in der Literatur und über sie möglich bleibt. Moderne Literatur scheint das Problem der Anonymität als ihr schlechtes Gewissen mitzuführen, als Gegenteil der Konstitution individueller Autorschaft. Dieses schlechte Gewissen rührt aus dem Wissen um den kulturindustriellen Fetischismus des schöpferischen Individuums, von dem der Autor profitiert, obwohl er um seine Fragwürdigkeit weiß. Es rührt aus dem Schuldgefühl einem Material gegenüber – den Formen, den Stoffen, der Sprache –, die der Autor nicht gemacht hat und die doch sein Sprechen bestimmen und ermöglichen. Es rührt aus der im Namen des Autors verleugneten Hoffnung, Literatur könnte mehr aussagen als das Individuum. Es rührt aus einer Exklusivität, die sich in ihrer Widersprüchlichkeit zur Vermassung des Menschen empfindet.78 »Machen wir uns nichts vor«, schreibt Hilbig, »der Vorrang, den Autornamen vor den Texten ge-
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Es liegen kaum Statistiken zum Thema vor. Lee Erickson hat einige Zahlen für England vorgelegt, die besagen, dass in den 1770er Jahren noch sechzig Prozent aller poetischen Bücher anonym erscheinen, in den 1830er Jahren hingegen nur noch fünfundzwanzig Prozent. Vgl. Erickson 2002 (wie Anm. 48), S. 269ff. Edward Morgan Forster, Anonymity. An Enquiry, London 1925, S. 14f. Wolfgang Hilbig, »Unfähigkeit zur Anonymität. Rede zum Brüder-Grimm-Preis 1983«, in: ders., Materialien zu Leben und Werk, hg. v. Uwe Wittstock, Frankfurt a. M. 1994, S. 26–29, S. 28. Der Individualismus moderner Autoren, befindet Henry Seidel Canby, sei eine bewusste Abgrenzung von der »deadly anonymity of modern life«. Henry Seidel Canby, »Anon is Dead«, in: The American Mercury 8/1926, S. 79–84, hier S. 80.
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wonnen haben, ist mit einem Preis in der Eigenschaft bezahlt, die ich den dialogischen Charakter der Sprache nennen möchte.«79 Der immer offenkundiger klaffende Widerspruch zwischen programmatischer Anonymität und faktischer Onymität ist dabei auch ein Effekt der juristisch-ökonomischen Fundierung des Autors im Urheberrecht im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Verhältnis, das ein Autor als rechtlicher Eigentümer und amtlich verbürgter Urheber zu seinem Text einnimmt, entspricht nicht unbedingt seiner Idee von Autorschaft, wie vor allem die zuletzt genannten Beispiele aus dem 20. Jahrhundert zeigen. Ökonomisch ist es für ihn gleichwohl sinnvoll, am rechtlichen Begriff des Autors festzuhalten, und der ist eben wesentlich mit seinem Namen verbunden. Diese Verankerung des Autors im Urheberrecht stellt die entscheidende juristische Zäsur in der jüngeren Geschichte der Anonymität dar. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war Anonymität vor allem ein strafrechtliches Problem. Der Anonymus stand unter dem prinzipiellen Verdacht, seine Anonymität für rechtswidrige Äußerungen zu nutzen, weshalb Anonymität selbst bereits als Straftatbestand galt, unabhängig davon, ob Anonymität im Einzelnen dann auch immer geahndet worden ist. Mit der Liberalisierung der Öffentlichkeit wurde Anonymität als Straftatbestand hinfällig. Heute wird es ausdrücklich jedem Autor freigestellt, ob er sein Werk onym, pseudonym oder anonym erscheinen lässt.80 Durch die Entstehung des Urheberrechts aber stellt sich Anonymität eher als rechtlich-ökonomisches Problem. Für literarische Werke galten Schutzfristen, die den Autor oder nach dessen Tod seine Rechtsnachfolger als Eigentümer schützten. Galt diese Schutzfrist aber auch für einen anonymen Autor? Und wenn ja, konnte der Autor seine Rechte reklamieren, ohne dass er sich dabei öffentlich als Autor zu erkennen gab? Wo sich diese Fragen nicht von selbst beantworteten, weil sich die Mehrzahl der Autoren auf Grund der sozialen Aufwertung, die der Status des Autors inzwischen erfahren hatte, oder der steigenden Bedeutung des Namens als Werbemittel81 selbst nannten, wurde diese Frage durch die Schaffung einer Urheberrolle beantwortet, deren Geschichte Martin Otto in diesem Band ausführlich darstellt. Hier konnte sich jeder anonyme Autor eintragen lassen, sodass auch auf seine Werke die üblichen Schutzfristen angewendet werden konnten. Ein solches Register besteht bis heute beim Deutschen Patent- und Markenamt. Da die Urheberrolle aber relativ leicht auch für Dritte zugänglich war, kam der Eintrag freilich nur für Autoren in Frage, die ihre Anonymität nicht unbedingt wahren mussten. Wer also zwingend anonym bleiben musste oder wollte, musste auf den urheberrechtlichen Schutz seiner Werke ganz oder teilweise verzichten.82 Das modelliert natürlich
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Hilbig 1994 (wie Anm. 77), S. 26. Vgl. Artur-Axel Wandtke/Winfried Bullinger, Praxiskommentar zum Urheberrecht, München 2002, S. 622 und Thomas Dreier/Gernot Schulze, Urheberrechtsgesetz, Urheberrechtswahrnehmungsgesetz, Kunsturhebergesetz, München 2004, S. 835. Eine unmittelbare Korrelation zwischen den Gesetzen des Marktes und der Namentlichkeit der Bücher stellte Erickson für den englischen Buchmarkt um 1775 fest. Das heißt je teurer die Bücher, umso seltener werden die Fälle anonymer Publikationen. Vgl. Erickson 2002 (wie Anm. 48), S. 275. Der Urheberrechtskommentar von Marwitz/Mähring aus dem Jahr 1929 etwa erklärt die geringe
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das Profil der Gründe, aus denen jemand anonym schreibt. Er tut es nur dann, wenn die Argumente für die Anonymität diejenigen für den urheberrechtlichen Schutz überwiegen oder wenn der Text unter urheberrechtlichen Gesichtspunkten irrelevant ist. Der strafrechtliche Grund für die Anonymität wird also zunehmend hinfällig, während ein Urheberrecht entsteht, das in vollem Umfang nur angewendet werden kann, wenn der Name des Autors in der einen oder anderen Form bekannt ist. In dem einen Fall entfällt ein Grund für die Anonymität, in dem anderen Fall kommt ein Grund für die Nennung des Namens hinzu. Das sind die rechtlichen Gründe, die daran mitgewirkt haben, dass Anonymität in den letzten 200 Jahren immer seltener geworden ist.
IV.
Anonymität und multiple Autorschaft
Die genannten Fälle programmatischer Anonymität weisen eine Gemeinsamkeit auf: Immer wird Anonymität mit einem Wahrheitsanspruch verbunden, der sich dadurch erfüllen soll, dass das Individuum und mit ihm sein Name in einem metaphysischen, mythischen oder sozialen Allgemeinen auf- bzw. untergeht. Selbst die Vernichtung des Individuums in der Moderne wird in der Teilhabe des Autors zum Wahrheitsgeschehen. In die Leerstelle des Autornamens werden transindividuelle Instanzen der Autorschaft projiziert, die einem Text in ganz anderer Weise Autorität verleihen, als es bloße individuelle Autorschaft vermochte. Diese Transzendenz der Autorschaft ist zwar ein Ergebnis bestimmter Deutungen von Anonymität, diese verweisen aber auf ein entscheidendes strukturelles Moment der Anonymität. Anonymität ist nicht nur der Fall, in dem man den Autor nicht kennt, sondern der Fall, in dem viele Autoren denkbar sind. Das ist nicht nur ein Unterschied in der Formulierung. Im ersten Fall setzt man eine Person als Autor, die man nicht kennt, im zweiten Fall wird personale Identität hypothetisch aufgespalten. Die Aufspaltung personaler Identität, die als Möglichkeit in der Anonymität immer mitgedacht werden kann, bestimmt die Strategien, Effekte und Deutungen der Anonymität wesentlich.83 Für gewöhnlich denken wir den Autor als eine Person. Das gilt auch dann, wenn er pseudonym publiziert oder nur die Initiale eines Namens preisgibt, weshalb auch das
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Eintragszahl in der Urheberrolle damit: »Wer sein Werk ohne seinen wirklichen Namen erscheinen läßt, wird in der Regel nicht wollen, daß er gemäß § 57 öffentlich bekannt gemacht wird.« § 57 gestattete jedermann die Einsicht in die Urheberrolle. Bruno Marwitz/Philipp Möhring, Das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst in Deutschland. Kommentar zum Reichsgesetz vom 19. Juni 1901/22. Mai 1910 und den internationalen Verträgen Deutschlands, Berlin 1929, S. 312. So wird es, wie Lanser zeigt, unter Umständen unmöglich, den Autor einem Geschlecht zuzuordnen. Das Changieren des Textes zwischen diesen beiden im Bezug auf den empirischen Autor nie gegebenen Möglichkeiten muss unter Umständen als spezifische Qualität des Textes ernst genommen und darf nicht zu Gunsten einer der beiden Möglichkeiten aufgelöst werden. Vgl. Lanser 2003 (wie Anm. 1), S. 99f.
Anonymität und Autorschaft
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geltende Urheberrecht das Pseudonym dem »wahren Urheberzeichen«84 gleichstellt. Ein Name mag falsch oder unvollständig sein, er suggeriert doch die Existenz einer mit sich selbst über unterschiedliche Autorschaften hinweg identischen Person. So unterzeichnete die Allgemeine Deutsche Bibliothek ihre Rezensionen mit Kürzeln, »damit der Leser wissen könne, ob zwey Recensionen, die er vergleichen will, von demselben Manne sind oder nicht«.85 Selbst wenn man nicht weiß, welche Person sich hinter einem Kürzel verbirgt, so erzeugt die Identität des Namenszeichens über unterschiedliche Texte hinweg, doch so etwas wie eine Verpflichtung des Autors zu sich selbst. Sogar in den vielen Fällen, in denen die Initiale nicht dem Namen entsprechen und sich von Publikation zu Publikation ändern, entsteht doch der Anschein einer solchen Selbstverpflichtung. Der Name lässt uns die Idee eines persönlichen Urhebers auf den Text anwenden.86 Diese Möglichkeit wird uns durch die Anonymität ganz oder teilweise entzogen. Hinter dem anonymen Text können sich immer mehrere (wirkliche oder mögliche) Autoren verbergen. Die hermeneutische Bedingung des anonymen Textes ist nicht der eine Autor, den man nicht kennt, sondern der transindividuelle Autor, zu dem sich entweder tatsächlich mehrere Autoren zusammengeschlossen haben, den ein Autor vortäuscht oder zu dem die Spekulation über mehrere mögliche Autorschaften im Kopf des Lesers gerinnt. Diese Aufhebung individueller zu transindividueller Autorschaft durch die Anonymität lässt sich etwa an den Effekten beobachten, die Anonymität historisch hervorbrachte oder wenigstens daran, wie diese Effekte beschrieben wurden. Komische Qua-
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Urheberrecht. Kommentar zum Urheberrechtsgesetz und zum Urheberrechtswahrnehmungsgesetz, begründet v. Friedrich Karl Fromm/Wilhelm Nordmann, Stuttgart u. a. 1986, S. 122. Allgemeine Deutsche Bibliothek, Vorbericht, 1. Bd., 1. St. 1765, S. IV. »Das Pseudonym ist ein Autorname«, wie Lejeune prägnant formuliert. Lejeune 1994 (wie Anm.19), S. 25. Die systematische Schwäche der Überlegungen Griffins besteht darin, dass er zwischen Pseudonymität und Anonymität nicht unterscheidet. Diese Nichtunterscheidung ist der Effekt einer bloß negativen Auffassung von Anonymität und Pseudonymität. Als anonym betrachtet er »any publication that does not give reference to the legal name« (Griffin 1999, wie Anm. 4, S. 879f. und Griffin, Introduction, in: Griffin 2003, wie Anm. 4, S. 1f.). Auch Mullan (2007, wie Anm. 4, S. 41ff., v.a. S. 77ff.) orientiert sich an der Praxis der Anonymen- und Pseudonymenlexika und behandelt beide als kategorial gleichwertige Fälle: Wir wissen eben in beiden Fällen den richtigen Namen nicht. Während wir aber im Fall des Pseudonyms den falschen Namen entweder für den richtigen oder doch wenigstens für den falschen Namen einer Person halten, spekulieren wir im Fall der Anonymität über unterschiedliche Urheber. Im ersten Fall wird also der Schein der Person beibehalten, im zweiten Fall bewusst oder unbewusst aufgehoben. Im Bezug auf diese Aufhebung unterscheidet sich Anonymität kategorial von Pseudonymität. Trotz der berechtigten Kritik Griffins an Foucault ist es deshalb keineswegs so, dass die verbreitete Verwendung von Pseudonymen im 19. Jahrhundert (vgl. Griffin 1999, wie Anm. 4, S. 880) gegen Foucaults These vom Ende der Anonymität in der Entstehung der Autorfunktion spräche, denn das Pseudonym, so ließe sich sagen, bedient ja zunächst einmal die Erwartung eines Autors, setzt also die Autorfunktion voraus. Diese Gleichbehandlung von Anonymität und Pseudonymität bezieht ihre Plausibilität nicht aus dem hermeneutischen, sondern aus dem bibliographischen Umgang mit Anonymität. Für die Anonymen- und Pseudonymenlexika seit Barbiers Dictionnaire des ouvrages anonymes et pseudonymes (1822) war es natürlich sinnvoll, beides zusammen zu behandeln.
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litäten hat diese Aufhebung in Jean Pauls Roman Siebenkäs, der sie sich im Kopf des schrulligen Schulrats Stiefel vollziehen lässt: [D]ie einzige Stimme eines Rezensenten wurde ihm vom Echo im gelehrten Gerichtshof allzeit zu 1000 Stimmen vervielfältigt; und aus einem rezensierenden Kopfe wurden in seiner Täuschung mehre lernäische, wie man sonst glaubte, daß der Teufel den Kopf des armen Sünders mit Scheinköpfen einfasse, damit der Scharfrichter fehlerhaft köpfe. Die Namenlosigkeit verleihet dem Urteil eines Einzelwesens das Gewicht eines Kollegiums; man schreibe aber den Namen darunter und setze »Kandidat XYZ« statt »Neue allgemeine deutsche Bibliothek« so hat man die gelehrte Anzeige des Kandidaten zu sehr geschwächt.87
Dramatisch vollzieht sich dieser Effekt für Rousseau. Er verzweifelt in den letzten Jahren seines Lebens nicht allein an der Kritik, die er mit dem Émile, dem Contrat social und den Lettres de la Montagne auf sich zog, sondern an der Anonymität, mit der die Angriffe gegen ihn geführt werden: Ici commence l’oeuvre de tenebres dans lequel depuis huit ans je me trouve enseveli, sans que, de quelque façon que je m’y sois pu prendre il m’ait été possible d’en percer l’effrayante obscurité. Dans l’abyme de maux où je sius submegré, je sens les atteintes des coups qui me sont portés, j’en apperçois l’instrument immédiat, mais je ne puis voir ni la main qui le dirige, ni les moyens qu’elle met en oeuvre.88
Die Anonymität entzieht ihm die Möglichkeit, seine Verteidigung zu adressieren, Freundschaften werden fragwürdig, Feindschaften werden diffus, die Koordinaten der Öffentlichkeit werden ausradiert. Rousseaus Paranoia mag pathologische Züge annehmen, aber sie hat ihren publikationsstrategischen Grund unter anderem in der Anonymität. Der anonyme Gegner wird in seiner Ungreifbarkeit unangreifbar und in seiner Unangreifbarkeit übermächtig. Die Paranoia des Lesers ist die Kehrseite der Allmacht des anonymen Kritikers. Die Autorität der anonymen Rede entspringt nicht ihrer Wahrheit, sondern diesen Effekten.89 Der Theologe und Publizist Johann Christoph Greiling, der sich in seinen Schriften immer wieder mit der Verfassung der literarischen Öffentlichkeit auseinandergesetzt hatte, benennt diese Effekte 1798 also durchaus treffend, wenn er die Autorität des Anonymus mit der Autorität Gottes vergleicht. Er spreche, »als wäre seine Stimme eine Stimme vom Himmel«.90 Diesen Anschein einer göttlichen Autorität gewinnt der anonyme Kritiker, weil in Zeiten des Buchdrucks auch das Publikum anonym geworden ist, so dass sich die Anonymität des Kritikers mit der des Publikums gewissermaßen amalgamiert. Daraus resultiert Rousseaus Eindruck, das Publikum habe
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Jean Paul, »Siebenkäs«, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. N. Miller/W. Schmidt-Biggemann, Bd. 1.2, München/Wien 1987, S. 84. Jean-Jacques Rousseau, »Les Confessions«, in: ders., Oeuvres complètes I: Les Confessions, Autres Textes autobiographiques. Édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Paris 1959, S. 598. Zu diesem Autoritätseffekt des anonymen Textes vgl. Mark Napierala, Archive der Kritik. Die Allgemeine Literatur-Zeitung und das Athenaeum, Heidelberg 2007, S. 97–113. Johann Christoph Greiling, »Über BücherCensur«, in: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, Zehnter Band, Erstes Heft , Jena/Leipzig 1798, S. 1–60, S. 59.
Anonymität und Autorschaft
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sich mit seinen Kritikern verschworen: »et les auters de ma ruine ont trouvé l’art inconvencable de rendre le public complice de leur complot sans qu’il s’en doute lui-même et sans qu’il en apperçoive l’effet.«91 Die göttliche Stimme, zu der die vielen möglichen Autoren gerinnen, ist die Stimme der Öffentlichkeit selbst. Natürlich muss dieser Effekt der Anonymität nicht einfach erlitten, der Autoritätseffekt der Anonymität kann auch ganz bewusst eingesetzt werden. Dass er eingesetzt wurde, zeigt die Geschichte der Publizistik: Ende des 19. Jahrhunderts entbrennt in England noch einmal eine Diskussion über die Anonymität von Zeitungsbeiträgen vornehmlich von politischen Leitartikeln.92 Oberflächlich geht es in dieser Debatte noch einmal um das aufklärerische Problem der Anonymität als Bedingung der Möglichkeit der freien Rede. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich, dass die exemplarischen Meinungen, die Tighe Hopkins in seinem Aufsatz Anonymity? zusammengetragen hat, nur noch beiläufig mit Begriffen wie Wahrheit, Vernunft oder Freiheit argumentieren. Es geht ganz eindeutig um die »authority«93 und die »power«,94 die vom anonymen Artikel ausgeht. Indem sich Hopkins über die vollkommene Entkopplung der Wahrheitsfrage von der Frage der Autorität mokiert, beschreibt er die Mechanismen, die zu diesem Autoritätsgewinn durch Anonymität führen. Die anonyme Rede habe nämlich keine Gewalt und keine Autorität »in itself«,95 sondern lediglich eine »ficticious authority«,96 die der Vielzahl möglicher Autoren entspringt. Sie resultiert nicht, wie viele der Stimmen behaupten, die Hopkins zitiert, einer »collective opinion«,97 die das Phänomen der Multiplikation als Tatsache eines intersubjektiven Abwägungsprozesses vorstellt. Hopkins beschreibt mithin eine Praxis, in der ganz bewusst Anonymität eingesetzt wird, um die Autorität des Kollektivsubjekts Zeitung im Kampf um die Meinungshoheit zu sichern. Diesen machtpolitischen Gebrauch der Anonymität als Deliberationsprozess zu deuten, stellt für Hopkins nur noch eine Blauäugigkeit oder eine Lüge dar. Adolf Braun zählt es ganz unumwunden zu den Vorzügen der Anonymität, dass eine politische Äußerung anonym eine ganz andere Autorität genieße, als wenn man sie irgendeinem »Meier, Müller, Lehmann oder Kohn«98 zuschreiben könne. Diese Pluralität der Autoren, die durch die Anonymität zum Kollektivsubjekt der Zeitung verschmelzen, lässt sich natürlich auch simulieren. Georg Forster etwa schreibt die Beiträge für seine Neue Mainzer Zeitung allein und anonym. Damit überspielt er nicht nur den Mangel an Mitarbeitern, die er seiner Frau Therese gegenüber auf zwölf beziffert, sondern verleiht zusätzlich der eigenen Stimme das Gewicht einer öffentlichen
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Rousseau 1959 (wie Anm. 88), S. 598. Auf diese Debatte verweist Mark DaRosa, der sie als Hintergrund einer Lektüre für Henry James’ Erzählung Death of a Lion verwendet. Vgl. Marc DaRosa, »Henry James, Anonymity and the Press: Journalistic Modernity and the Decline of the Author«, in: Modern Fiction Studies 43/1997, S. 826–859. Tighe Hopkins, Anonymity?, in: The New Review I.6/1889, S. 513–531, hier S. 518. Ebd., S. 515. Ebd., S. 522 Ebd., S. 526 Ebd. Braun 1918 (wie Anm. 53), S. 34.
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Stimme, die sich aus einer Mehrzahl von Einzelstimmen konstituiert, erstens als revolutionäre Stimme des Volkes, zweitens als Stimme Europas, die aus Straßbourg, Paris, London, Rom, Wien etc. spricht. Natürlich können diese multiplen Autorschaften entschlüsselt werden. Aber das geschieht erstens immer nachträglich und stellt insofern keine Aussage über die Wirkung des Textes, ja sie stellt noch nicht einmal eine Aussage über die Entstehung des Textes dar. Der Autor des Textes antizipiert ja die Differenz, die in der Rezeption zwischen anonymen und onymen Texten besteht, das heißt er schreibt unter Umständen anders je nach anonymer oder nicht-anonymer Erscheinungssituation seines Textes. Das kann zwar heißen, dass er genau das sagt, was er sagen möchte, weil er anonym schreibt, dass also gerade der anonyme Text dem Autor in besonderer Weise entspricht. Bei Literatur, die irgendeine kritische Absicht verfolgt, ist das sicher besonders häufig der Fall. Das kann aber auch heißen, dass ein Autor überhaupt nicht seinen und den von ihm existierenden Vorstellungen entspricht, eben weil mit dem Namen auch der Selbstverpflichtungscharakter des Namens entfällt, der, wie gesagt, auch beim Pseudonym noch teilweise erhalten bleibt. Das heißt, der Name macht mich als Person kenntlich, die über unterschiedliche Situationen und Texte hinweg mit sich identisch ist. Diese Erwartung von Identität bindet mich, sie ist genau genommen von meiner Identität nicht zu trennen. Es gibt Identität nur, indem es solche Erwartungen gibt. Sicher gilt das für unterschiedliche Textgattungen in unterschiedlicher Weise, für Rezensionen und Rezensenten sicher anders als für Romane und Romanciers, weil hier der Wechsel von Identitäten anders lizenziert ist. Prinzipiell aber hebt Anonymität den Selbstverpflichtungscharakter des Namens auf und das heißt eben nicht nur, dass mich andere nicht mehr auf meine Person verpflichten können, sei es rechtlich, sei es persönlich, sondern auch, dass ich mich nicht mehr zu mir selbst verpflichtet fühlen muss und Argumente vertreten und in Formen sprechen kann, die derart widersprüchlich sind, dass sie im Konzept der Person auch nicht miteinander zu vereinen wären.99 Das wäre der strukturelle Grund dafür, warum gegen die anonymen Kritiker immer wieder der Vorwurf der Verantwortungslosigkeit100 erhoben wurde. Natürlich ist diese Verantwortungslosigkeit nicht zwingend, aber durch die Anonymität jederzeit möglich. Diese Vervielfältigung der Autorschaft hat auch den Effekt, dass sich Texteinheiten anders, eben nicht im Rekurs auf den Autor konstituieren. So setzt etwa Salomon Geßner Johann Jakob Bodmers Inkel und Yariko fort und dichtet der Bodmerschen Variante ein Happy End an. Nur unter der Bedingung der Anonymität beider Texte kann das Ganze als ein Werk rezipiert werden, das sich durch den thematischen und narrativen Zusammenhang konstituiert. Ähnlich ließe sich im Falle von Des Knaben Wunderhorn argumentieren. Der größte Teil der dort publizierten Texte wurde anonym überliefert. Allerdings haben Arnim und Brentano teilweise so massiv in die Texte eingegriffen, dass eine Anzeige dieser Koautorschaft nahegelegen hätte und etwa von Jacob Grimm auch eingefordert wurde. Allerdings hat das Vorgehen Arnims und Brentanos den Vor-
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Vgl. zu diesem Problem Griffin 1999 (wie Anm. 4), S. 890. Vgl. Schopenhauer 1988 (wie Anm. 37), S. 453.
Anonymität und Autorschaft
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teil, dass sie die Texte durch die Anonymität offen halten für künftige Bearbeitungen. So wie der anonym überlieferte Text disponibel war für die Bearbeitung durch die Herausgeber, so bleibt der Text für künftige Veränderungen nur disponibel durch seine Anonymität. Die ausgewiesene Autorschaft schließt den Text, indem sie ihn als geistiges Eigentum markiert. Anonymität hingegen kann auch als Bedingung für Transformationen angesehen werden, denen ein Text durch unterschiedliche Autoren unterliegt. Und in der Perspektive Arnims und Brentanos wird ein Text allein dadurch am Leben erhalten, dass man ihn qua Anonymität in einen Prozess möglicher Veränderungen stellt. Wenn die programmatischen Deutungen der Anonymität also sämtlich darauf abheben, dass die Anonymität multiple Autorschaft gewissermaßen zu einem kollektiven Autorsubjekt zusammenfügt, sei es das des Volks, der Vernunft, der Öffentlichkeit etc., dann können sie sich darauf berufen, dass in der Tat Anonymität das Konzept der Person sowohl in den Produktions- als auch in den Rezeptionsbedingungen auseinandertreibt.
V.
Anonymität und Autorschaft als methodisches Problem
Über das Verhältnis von Anonymität und Autorschaft war bisher in einem historischen und systematischen Sinn die Rede. Es stellt sich aber auch als methodisches Problem, das hier abschließend wenigstens skizziert werden soll. Einerseits kann das Projekt einer Rekonstruktion der Anonymität als historischer Erscheinungssituation von Texten nur sinnvoll betrieben werden, wenn man abrückt von einer in der Kategorie des Autors zentrierten Literaturgeschichte. Denn wenn man den Autor nicht kennt, soll man ihn nicht oder erst später oder nicht jeder kennen oder man soll, falls man ihn doch kennt, von seiner individuellen Autorschaft abstrahieren. Andererseits steht man mit diesem Ansatz quer zur radikalen Kritik der Autorschaft, denn wenn man Anonymität als historisches Phänomen denken will, dann setzt das die Kategorie des Autors voraus.101 Das gilt zunächst in einem systematischen Sinn. Anonymität wird überhaupt erst zum signifikanten Fall vor dem Hintergrund der Erwartung von Autorschaft. Das gilt zweitens in einem historischen und einem daraus sich ergebenden methodischen Sinn. Wenn es so ist, dass Anonymität erst signifikant ist unter der Bedingung einer immerhin erwartbaren Anzeige der Autorschaft, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass Äußerungen über den Fall der Anonymität auch erst in dem Moment vorliegen, in dem die Angabe des Autors sinnvoll erwartet werden kann. Damit hängt ein zweites, methodisches Problem zusammen. Die Rekonstruktion der Anonymität als historische Erscheinungssituation von Texten richtet sich gegen eine rein autorzentrierte Literaturgeschichte, greift aber methodisch auf den Autor zurück. Sie fragt, warum Lessing, Klopstock, Goethe, Brentano, Jochmann oder Kracauer anonym publiziert haben, erforscht dies unter dem Namen der Autoren und greift dazu auf die vorausgegangene Erforschung der Namen zurück. Dieser Band macht
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Marcy L. North formuliert das methodische Problem: »How does one begin to discuss the motivations and meanings of anonymity without resorting to the recovered author’s name and to that author’s historical circumstances as starting point?« North 2003 (wie Anm. 3), S. 32f.
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da keine Ausnahme: Gottschedin, Klopstock, Winckelmann, Hamann, Herder, Lavater, Goethe, Kracauer, Mandelstam etc. Das muss noch nicht einmal heißen, dass man Anonymität aus einer bestimmten Autorintention heraus erklärt, das heißt unter Umständen nur, dass man sich bei der Erklärung der Anonymität eben genau auf die Eingrenzung des historischen Materials bezieht, die vom Namen des Autors geleistet wird: die und die Werke, die und die Kontexte etc. Dieses methodische Problem lässt sich nicht lösen. Es ist in gewisser Weise einfach Ausdruck der Tatsache, dass man den eigenen historischen Standort (unvollständig) reflektieren, aber nicht hintergehen kann. Und hinter das Bewusstsein vom Autor wird man in absehbarer Zeit nicht zurückkommen. Aber man kann sich des methodischen Problems bewusst sein und das heißt erstens, dass man den Rückgriff auf den Autor als pragmatisch und nicht hermeneutisch zwingend auffasst. Und das heißt zweitens, dass man andere Faktoren als Gründe der Anonymität und als Heuristik ihrer Erforschung stärker in Rechnung stellt. Was sich etwa kontinuierlich in den Arbeiten dieses Bandes zeigt, sie mögen es nun ausdrücklich reflektieren oder nicht, ist, dass bei der Beschäftigung mit der Anonymität scheinbar zwangsläufig gattungs- oder medienpragmatische Fragen in den Vordergrund treten: Übersetzung, Rezension, Tagebuch, Zeitung etc. Im Grunde lernen hier die Philologien der neueren etwas von den Philologien der älteren Literatur. Da deren Wissen vom Autor ohnehin immer schon ausgesprochen begrenzt war, ist die Frage der Anonymität oft gattungsbezogen diskutiert worden. Dass einige biblische Texte anonym sind und andere nicht, versucht Kurt Aland aus den Gesetzen der Gattung zu erklären.102 Otto Höfler hält die Anonymität mittelalterlicher Epik und die Namentlichkeit für gattungskonventionell.103 Auch Cordula Kropik argumentiert in ihrem Beitrag über die mittelalterliche Lieddichtung gattungsbezogen. Gattung darf dabei natürlich nicht nur die poetische Konvention meinen, sondern diese insofern, als sich in ihr ein bestimmter sozialer, kultureller, medialer und diskursiver Zusammenhang sedimentiert. Dass dieser Ansatz auch für die Erforschung der Anonymität seit dem 18. Jahrhundert sinnvoll ist, zeigen Beobachtungen Ericksons für die englische Literatur. Das unterschiedliche Ansehen, das Lyrik und Prosa im 18. Jahrhundert genossen, scheint sich statistisch nachvollziehbar auf die Entscheidung auszuwirken, ob ein Autor anonym oder onym publiziert.104 In Deutschland ist bei einer Abnahme anonymer Publikationen im 19. Jahrhundert die Fülle anonymer autobiographischer Publikationen auffällig. Edward Morgan Forster diskutiert die Frage der Anonymität im Horizont der Differenz zwischen Literatur und Presse. Innerhalb des Problems publizistischer Anonymität denkt Tighe Hopkins speziell über die Anonymität von Leitartikeln nach.
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Kurt Aland, »The Problem of Anonymity and Pseudonymity in Christian Literature in the First Two Centuries«, in: Journal of Theological Studies 12/1961, S. 39–49. Otto Höfler, »Anonymität in der Heldendichtung«, in: Deutsche Vierteljahresschrift 29/1955, S. 167–213. Erickson 2002 (wie Anm. 48), S. 248. Auch die Statistiken James Ravens im Bezug auf den englischen Roman vor und nach 1800 sind gattungsspezifisch und sprechen dafür, dass Romane in besonders hohem Maß anonym publiziert worden sind. Vgl. Raven 2003 (wie Anm. 47), S. 162ff.
Anonymität und Autorschaft
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Die bloße Aufzählung der Gattungen, die neben Romanen, Gedichten oder Dramen bei einer solchen Verschiebung hin zu gattungspragmatischen Fragen in den Fokus geraten – Übersetzung, Kommentar, Rezension, Tagebuch, (sogenannte) Volkslieder, Leitartikel –, macht deutlich, dass auch die Frage nach der Anonymität wie so viele andere literaturwissenschaftliche Fragen der letzten dreißig Jahre die Bestimmung des Literarischen modifiziert, indem sie dessen Territorium neu vermisst und seine Grenzen als Zonen des Übergangs behandelt. Gerade an einem Autor wie Goethe, durch den wie durch kaum einen anderen die moderne Kategorie des ›Autors‹ in Deutschland begründet wurde, lässt sich das gut zeigen. Die Rezensionen der Frankfurter Gelehrten Anzeigen werden seinem Werk ebenso zugerechnet wie das Heidenröslein, der Prometheus und Die Leiden des jungen Werthers. Alle Werke sind anonym erschienen, alle aus anderen Gründen. Mal mehr, mal weniger muss das auf eine Entscheidung des Autors zurückgeführt werden. Die Anonymität der Rezensionen lässt sich wohl rein gattungskonventionell erklären, während die Anonymität des Werther sicher nur zum Teil aus dem Missverhältnis zwischen verhältnismäßig geringem Ansehen des Romans und den bürgerlichen Karriereansprüchen seines Autors erklärt werden kann. Mit den Rezensionen stellt sich aber die Frage, inwiefern sie dem Werk eines Autors zugerechnet werden können, wenn ihre Entstehungs- und Lektürebedingungen sie eher dem Kollektivsubjekt Zeitung zuschreiben. Im Fall des Heidenrösleins liegt ein interessanter Fall gattungsbezogener Anonymität vor, weil es eine inszenierte Gattungsbezogenheit ist. Herder anonymisiert es bei der Veröffentlichung in seinem Auszug aus einem Briefwechsel über die Lieder alter Völker und Ossian, weil im Bezug auf die ›wirklichen‹ Volkslieder Anonymität geradezu als Authentizitätsindiz der volkstümlichen Überlieferung gilt. Goethe hat das Lied zwar 1789 in seine Schriften aufgenommen, aber die Grenzen der Autorschaft werden hier vom holpernden Liebesliedchen in Paul von der Aelsts Sammlung über Herders Bearbeitung im Silbernen Buch bis zu Goethes Gedicht über eine gewaltsame Defloration fließend. Dieses gattungsbezogene Verständnis von Anonymität soll nicht besagen, dass Anonymität einfach durch die Gattungskonvention begründet werden kann. Es gibt eine ganze Reihe anderer rechtshistorischer (Straf- und Eigentumsrecht), medialer (Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Druck) und diskursiver (Literatur, Wissenschaft) Faktoren, die darüber entscheiden, ob ein Text anonym erscheint oder nicht. Oft aber sedimentieren sich diese historischen Faktoren in der Gattungskonvention. Es handelt sich bei der gattungsbezogenen Reflexion über Anonymität also lediglich um eine Heuristik. Die Gattungskonvention kann als Schnittstelle dieser unterschiedlichen Faktoren aufgefasst werden, die zugleich den anonymen vom onymen Text scheidet. Derselbe Name, der vor einem Roman genannt wird, bleibt unter Umständen vor einem Zeitungsartikel ungenannt. Natürlich setzt sich der Name des Autors, wenn er einmal etabliert ist, über die Gattungsdifferenzen hinweg. Das ändert aber nichts daran, dass man sich diesen Namen als Autor auch nur in bestimmten Gattungen machen kann. Wie auch immer man aber das Problem des Zusammenhangs von Anonymität und Autorschaft methodisch profiliert: Jeglicher Zugriff unterliegt bis heute der Einschränkung fehlender statistischer Erhebungen. Wieviele Autoren welchen Geschlechts welche Texte welcher Gattungs- und welcher diskursiven Zugehörigkeit publizierten, ist
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bis heute ebenso unklar wie das Aufkommen anonymer Publikationen im Verhältnis zur jeweiligen historischen Gesamtmenge des Publizierten. Vor dem Hintergrund der Wahrscheinlichkeit bzw. Unwahrscheinlichkeit einer anonymen Publikation würde die Anonymität eines einzelnen Textes ein schärferes Profil gewinnen. Diese Arbeit steht aus. Sie war von dem vorliegenden Band nicht zu leisten.
Christoph Fasbender
Non sit tibi cura quis dicat, sed quid dicatur Kleine Gebrauchsgeschichte eines Seneca-Zitates
Beim Schreiben seiner moralischen Episteln an den jungen Lucilius hatte Seneca es sich zur Angewohnheit gemacht, dem Zögling am Briefschluss denkwürdige Sentenzen als Zugabe (peculium) zu verabreichen.1 In der conclusio des das erste Buch abschließenden Briefes Nr. 12 reflektiert er diesen liebgewordenen Usus. Er lässt Lucilius argwöhnen, diesmal werde er, was das peculium angehe, wohl leer ausgehen. Seneca scherzt: Noli timere: aliquid secum fert, um dann – ohne Nennung der Autorität – zu zitieren: »Malum est in necessitate uiuere: sed in necessitate uiuere necessitas nulla est.« Natürlich ist Lucilius gebildet genug, um sogleich den Urheber der Sentenz zu erkennen. Und natürlich empört er sich deswegen nach Kräften: Epicurus, inquis, dixit. Quid tibi cum alieno? Doch der Alte erwidert, er werde sogar fortfahren, Lucilius den Epikur nahezulegen, ut isti, qui in uerba iurant nec quid dicatur aestimant, sed a quo, sciant, quae optima sunt, esse communia. Diejenigen, die nicht auf das Gesagte hören, sondern allein auf den achten, der es ausspricht, sollten den Grundsatz »optima communia sunt« beherzigen: dass die besten Güter – voran natürlich die geistigen – Gemeinschaftseigentum seien. Seneca legitimiert damit die epikureische Sentenz vom Malum der Bedürftigkeit, in der zu leben es keine Notwendigkeit gebe, über eine weitere Sentenz, deren geistiger Urheber – nun erwartungsgemäß – ungenannt bleibt. Mit ihr vermag er eine über langwierigen Schulstreitigkeiten zwischen Epikureern und Stoikern errichtete Rezeptionsbarriere, mit der er sorgsam kalkuliert, kurzerhand umzustürzen.2 Dass die »optima« »communia« sind, stellt sie in einen Diskurs ohne Autor.
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Ich zitiere: L. Annaeus Seneca, Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch. III: An Lucilius. Briefe 1–69. Lateinischer Text von Francois Préchac, hg. v. Manfred Rosenbach, Darmstadt 1974. – Bei den folgenden Überlegungen handelt es sich um meine Antrittsvorlesung, gehalten am 3. 2. 2010 vor der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz. Ich danke dem Herausgeber des vorliegenden Bandes herzlich für die Möglichkeit, meine Stimme nachträglich ins Gespräch einbringen zu dürfen. Senecas Epikur-Empfehlung wird explizit vom Philosophen in Abälards ›Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum‹ thematisiert. Er beruft sich auf ein der Philosophie Epikurs angemessenes Verständnis der voluptas (hedoné), das spätere Generationen zu dessen Ungunsten simplifiziert hätten (hg. v. Hans-Wolfgang Krautz, Frankfurt a. M. 1995, S. 128 par.). Kronzeuge eines korrekten Verstehens sei Seneca, »jener größte Erbauer der Moral und [...] einer äußerst enthaltsamen Lebensführung«.
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Christoph Fasbender
1. Das Werk des wohlhabenden römischen Rhetors und stoischen Philosophen Lucius Annaeus Seneca, der sich 65 n.Chr. auf Drängen Kaiser Neros in der Badewanne die Pulsadern aufschnitt, hat die Rezeptionsbarriere, die den Heiden und Selbstmörder vom christlichen Mittelalter zu trennen vermocht hätte, offenbar nehmen können. Seneca wurde, obwohl er kein Schulautor war, »durch das ganze Mittelalter hoch geschätzt«,3 und etliche seiner Sentenzen gehörten, stets explizit als sein geistiges Eigentum ausgewiesen, zum Gemeinschaftseigentum der Gebildeten. Im Zuge christlicher Rezeption erlebte insbesondere die Sentenz aus Brief I/12, dass es nicht wichtig sei, wer spreche, sondern vielmehr darauf ankomme, was gesagt werde, ihre notwendige Transformierung. Dass der Heide Seneca den Christen etwas zu sagen habe, wird bereits auf spätantikem Schlachtfeld ausgemacht, gilt im Mittelalter unwidersprochen fort und wird erst, kaum zufällig, von den Humanisten (gleichsam mit dem Textmarker) problematisiert. So konnte etwa der Basler Homiletiker Johann Ulrich Surgant seinem ›Manuale curatorum‹,4 einem Handbuch für den durchschnittlichen Pfarrer um 1500, ganz ungezwungen eine Sentenz aus einem Lucilius-Brief einfügen (dicit Seneca in epistola quadam ad Lucillum discipulum). Als der prominente Straßburger Domprediger und Humanist Johann Geiler von Kaysersberg kurz darauf Surgants ›Manuale‹ für seine Predigten nutzte, fühlte er sich freilich genötigt, das Seneca-Zitat als Seneca-Zitat eigens zu legitimieren: Sunder auch der frumm heid Seneca, der da spricht ein ryhlich wort das auch nit zu verachten wer gesprochen von einem christenen lerer. Es sol gefallen (spricht er zuo seinem schuoler Lucillo) einem mönschen alles das da gott gefalt, des halben allein das es gott gefallet. Das ist ein mercklicher spruch von einem der ein heid vnd nit Christen waß (BB 1r).5
Herbert Kraume merkte hierzu (in gut humanistischer Tradition) an: Während die eigentliche Aussage Senecas für so deutlich befunden wird, daß sie keiner weiteren Erklärung bedarf, wird das Außergewöhnliche des Zitats, ein heidnischer Philosoph als Lehrer der Christen, gleich dreimal herausgestellt und legitimiert. Zunächst erhält Seneca sein Epitheton
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Peter Ochsenbein, »der wise heidenische meister Seneca sprichet. Seneca-Dicta in der deutschen Literatur des Spätmittelalters«, in: Florilegien – Kompilationen – Kollektionen. Literarische Formen des Mittelalters, hg. v. Kaspar Elm, Wiesbaden 2000 (=Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 15), S. 25–37, hier S. 25; vgl. Nikolaus Henkel, »Seneca d. J., Lucius Annaeus«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon [im Folgenden: VL], Bd. 8, Berlin/New York 1992, Sp. 1080–1099. ›Manuale‹, Consideratio 18 (›Regulae vulgarisandi‹), f. 40r–42r; Text nach Dorothea Roth, Die mittelalterliche Predigttheorie und das Manuale Curatorum des Johann Ulrich Surgant, Basel 1956 (=Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 58), S. 176f.; Herbert Kraume, Die GersonÜbersetzungen Geilers von Kaysersberg. Studien zur deutschsprachigen Gerson-Rezeption, München 1980 (=MTU 71), bes. S. 194–223; Franz Josef Worstbrock, »Surgant, Johann Ulrich«, in: VL (wie Anm. 3), Bd. 9 (1995), Sp. 544–547. Ähnliche Seneca-Dicta bei Ochsenbein 2000 (wie Anm. 3), S. 36f.
Non sit tibi cura quis dicat, sed quid dicitur
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der frumm heid, dann wird seine Sentenz mit der eines christlichen Autors gleichgestellt. Der Gegensatz wird schließlich durch den Zusatz ein heid nochmals deutlich herausgestellt.6
Wäre da nicht die Quellenangabe ›Lucilius-Brief‹, man bezweifelte zunächst, dass die Sentenz, dem Menschen solle alles gefallen, weil es Gott gefalle, von Seneca stammte. Da sie gut stoisch ist, erübrigen sich freilich die Bedenken. Aussagen wie diese machten den frummen heiden Seneca zum christlichen Stichwortgeber. Im 4. Jahrhundert kamen Briefe auf, die Seneca mit dem Apostel Paulus getauscht haben soll und deren Ziel es offenbar war, »die Nähe der Stoa zu Grundanschauungen der christlichen Lehre zu dokumentieren und die Beschäftigung mit ›heidnischer‹ Literatur zu rechtfertigen«.7 Als Grundlage dieser Beschäftigung war das Gesamtwerk im Prinzip verfügbar. Zweifelnden Interessenten half der Paulus-Briefwechsel, dessen Echtheit erst vom Seneca-Herausgeber Erasmus von Rotterdam bestritten wurde, halfen aber vor allem die zahlreichen Sentenzen-Kompilationen wie die ›Proverbia Senecae‹, ›De verborum copia‹, die ›Monita‹, ›De paupertate‹ oder ›De mundi gubernatione‹,8 aus denen wiederum Streugut in Florilegien, Catenen und Dicta-Kataloge abgezweigt wurde. Mehr und mehr vermischte sich Authentisches mit Zugeschriebenem, trübten die Quellen, aus denen zitiert wurde, im Tradierungsprozess bis zum Versickern ein.9 Eines der wichtigsten Werke, das die Akzeptanz Senecas im christlichen Mittelalter forcierte, wurde indes – und hier windet sich unsere Spirale ein weiteres Mal – eine Schrift, die gar nicht von Seneca stammte: die ›Formulae honestae vitae‹ des Bischofs Martin von Braga (ca. 515–580), ein anhand der vier Haupttugenden prudentia, magnanimitas, continentia und iustitia strukturiertes Bekehrungsschreiben an Miro, den König der arianischen Sueben.10 Martin schrieb darin sein Vorbild Seneca so gründlich aus, dass die kleine Schrift – meist unter dem Titel ›De quattuor virtutibus cardinalibus‹ – vom 10. Jahrhundert bis hin zu Petrarca11 als Werk des Römers galt. Mit der Gedankenwelt Senecas, die in Martins Arrangement »eine praktikable, prägnant formulierte Alltagsethik«12 belebte, verbreitete der Bischof auch die im Lucilius-Brief gefundene Sentenz über die Urheberschaft der »optima communia«: Non te moveat, heißt es da, dicentis auctoritas, nec quis, sed quid dicat intendito.13 Eine apriorische auctoritas des Sprechers möge das Gegenüber nicht bekümmern: Nicht wer spreche, sondern was ge-
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Kraume 1980 (wie Anm. 4), S. 211. Henkel 1992 (wie Anm. 3), Sp. 1084. Übersicht bei Henkel 1992 (wie Anm. 3), Sp. 1083–1087. Vgl. Ochsenbein 2000 (wie Anm. 3), S. 27. Eine sehr vorläufige Überlieferungsübersicht der Seneca-Dicta ebd., S. 30f. Leider wird in Ochsenbeins Präsentation nicht ersichtlich, ob und in welchem Umfang Quellenangaben zu den Dicta überliefert werden. Bei den inhaltlichen Schwerpunkten (S. 33–37) wird erwartungsgemäß rasch deutlich, dass Seneca nicht nach seinem eigenen Gewicht, sondern nach den Interessenschwerpunkten eines christlichen Publikums exzerpiert wurde. Insofern liefern die Dicta überwiegend das, was auch andere Autoren des Mittelalters zu Armut, Geiz, Tod und Sünde geliefert hätten. Martini Episcopi Bracarensis Opera omnia, hg. v. Claude W. Barlow, New Haven 1950. Seniles II, 4; vgl. Henkel 1992 (wie Anm. 3), Sp. 1084. Henkel 1992 (wie Anm. 3), Sp. 1084. Barlow 1950 (wie Anm. 10), S. 240, 49f.
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sagt werde, sei von Belang. Das heißt umgekehrt, dass sich die auctoritas des Sprechers ausschließlich über den Inhalt des Gesagten konstituiert. Da beide Aussagen – Lucilius-Brief und Pseudo-Seneca – in der Substanz deckungsgleich sind, soll es im Folgenden keine Rolle spielen, auf welchen verschlungenen Pfaden sie sich durchs Mittelalter geschlagen haben. Wir haben es ja mit einem bald zum Topos14 verkürzten Dictum zu tun, für das »Entstehungsort und Wanderwege« zu ermitteln15 ohnehin ein zu weitläufiges Unternehmen sein dürfte, müsste man doch nicht allein Autoren und Werke, sondern im Prinzip auch die Textfestigkeit im Überlieferungsvorgang überprüfen. So ist das Folgende als Gebrauchsgeschichte angelegt, die in Querschnitten spezifische Funktionalisierungen der Seneca-Sentenz aufzeigt. Beginnen möchte ich, an ältere Überlegungen16 anknüpfend, mit ihrer Indienstnahme im pastoralen Diskurs.
2. Die Frage nach der Autorität desjenigen, der Gottes Wort verkündet, stellte sich mit dem Ableben Jesu bereits in den frühesten Gemeinden. Vielleicht sprach hier der Älteste, dort der erste, der das Evangelium in sein Haus aufgenommen hatte, vielleicht herrschte anderswo ein Pluralismus der Geistbegabten. Früh schon lassen sich zwei Traditionen ausmachen, die das Predigtamt heilsgeschichtlich zu legitimieren suchen: eine, die es an den Gottessohn selbst bindet, und eine, die es über das Pfingstwunder auf die Jünger übergehen lässt. Eine Theologisierung der Predigt implizierte das nicht. Wer das Wort verkündigte, spendete noch kein Sakrament. Wir begegnen Ansätzen zu einer solchen Überhöhung der Wortverkündigung erst bei Theologen des 14. Jahrhunderts, die für die Predigt zwischen einer causa efficiens principalis (Gott) und einer causa efficiens instrumentalis (dem Prediger) unterscheiden. Faktisch bleibt bis dahin die Verkündigung Dienst zunächst außerordentlicher, später dann ordinierter Männer, die sich ganz überwiegend in der Nachfolge der Jünger verstanden. Freilich galt auch für sie, dass sie, wie es Gregor der Große in seiner ›Regula pastoralis‹ formulierte, auf dem Berg Zion standen: herausgehoben aus der Gemeinschaft, zu Gott auf-, zu den Menschen herabblickend, verpflichtet zu besonderer pietas, die erst den Samen des Wortes auf fruchtbaren Boden fallen lasse. Vita und doctrina des Predigers müssen übereinstimmen, soll die Predigt erfolgreich sein: Fecit quod monuit, ostendit quod jussit.17 So verkünden es,
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Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 79f. Stefan Goldmann, »Zur Herkunft des Topos-Begriffs von Ernst Robert Curtius«, in: Euphorion, 90/1996, S. 136. Christoph Fasbender, »Worte und Werke. Stationen und Funktionen eines Toposgeflechtes in der Predigtliteratur des Mittelalters«, in: Predigt im Kontext. Internationale Fachtagung an der Freien Universität Berlin im Dezember 1996, hg. v. Volker Mertens/Hans-Jochen Schiewer, Berlin/ New York 2011 [im Druck]. Homilie auf den zweiten Sonntag nach Ostern (Sp. 1127 C).
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wie selbstverständlich, die Synoden des Frühmittelalters, und so lehren es auch in der Folgezeit die Homiletiker und Praktiker. Einer der prominentesten Predigtlehrer des 12. Jahrhunderts ist Alanus ab Insulis. Auch er erhebt die Kongruenz-Forderung an den Prediger im herkömmlichen Sinne.18 Auf einem homiletischen Nebenschauplatz führt er freilich das (hier unmarkierte) Seneca-Dictum ein. Der lauschenden Gemeinde empfiehlt Alanus für den Fall, dass ein Prediger im eitlen Streben nach Beifall (applausus) das Wesentliche vernachlässige: considerare non debent quis loquatur, sed quid. Hier beschwichtigt der Homiletiker das Kirchenvolk und es ist nicht zu übersehen, dass die Sentenz im Begriff ist, sich aus dem homiletischen Diskurs in den seelsorgerlichen herauszuschreiben. Eine offensive Nutzung ist dagegen erstmals im ausgehenden 12. Jahrhundert bei einem Weltkleriker, dem Priester Konrad, zu beobachten, der in einer Predigt (nach Rupert von Deutz) die Pfarrgeistlichen mit den Chariatiden eines Taufbeckens vergleicht.19 Es handelt sich um Ochsen, deren Häupter unter dem Beckenrand hervorlugen, während ihre zaegel verborgen bleiben. Dies bedeute, dass die Gläubigen ihren Predigern ins Gesicht sehen und sich durch die Qualität ihrer Unterweisung erbauen lassen sollten. Auf die Werke der Prediger sollten sie dagegen nicht achten – ein Zusatz, den der Priester Konrad hier gegen seine Vorlage einbrachte.20 Konrad ist freilich nicht der einzige Fall, bei dem eine jüngere Quelle den Topos von der Inkongruenz von Worten und Werken des Geistlichen gegen die Vorlage einführt. Ähnliches findet sich auch in den ›Leipziger Predigten‹, deren Verfasser nicht müde wird, den hohen Wert auch eines nach zweifelhaften Grundsätzen lebenden und handelnden Pfarrers zu betonen, indem er ihn etwa vergleicht mit der Kerze, die nützliches Licht spende, oder mit der Glocke, die zum heilsbringenden Kirchgang lade. In den ›Leipziger Predigten‹ finden wir zugleich den ersten Einsatz des Boten-Topos: der unture und der bose bote bringet eteswanne als gute botschaft als der gute. man ensol den botin niht an sehn sunder der in da sendet.21 Im Bild wandelt sich der Prediger zu einem Medium dessen, der in da sendet, assoziiert sich der Wortverkündigung die Sakramentsspendung. Damit ist der entscheidende Schritt zur Entkoppelung der moralischen und rhetorischen Autorität des Sprechers getan. Die ›St. Georgener Predigten‹ bringen es auf den Punkt: swie unsuber er [der Priester] ist mit den súnden an sinem leben, so ist aber sin ampt schön und luter und raine.22 Der pastorale Diskurs war also offen für die Seneca-Sentenz. Sie leistete Entlastung, wo eine als beengend, letzten Endes als hinderlich empfundene Verquickung von Person
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›Summa de arte predicatoria‹, Sp. 114 A. Volker Mertens, Das Predigtbuch des Priesters Konrad. Überlieferung, Gestalt, Gehalt und Texte, München 1971 (=MTU 33), S. 124, Z. 10–19; Regina D. Schiewer, Die deutsche Predigt um 1200. Ein Handbuch, Berlin/New York 2008, S. 29. Vgl. Mertens 1971 (wie Anm. 19), S. 139, Anm. 54. Auch an anderer Stelle bringt Konrad in ähnlicher Absicht zusätzliches Material. Vgl. hierzu Schiewer 2008 (wie Anm. 19), S. 118. Anton Emanuel Schönbach, Altdeutsche Predigten, Bd. 1, Graz 1886, S. 243, 25ff. Karl Rieder, Der sogenannte St. Georgener Prediger aus der Freiburger und der Karlsruher Handschrift, Berlin 1908 (=DTM 10), S. 7.
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und Amt, von Lebenswandel und Lehre den Geistlichen in Bedrängnis – und die Gemeinde in (spät-donatistische) Heilsungewissheit – brachte. Sie lenkte ab von dem, der da sprach, und half, den Fokus auf das Gesagte zu richten. So konnte sie auch eingesetzt werden in Fällen, in denen jemand Interesse daran hatte, geistige Urheberschaft ganz zu verschleiern. Hans-Jochen Schiewer fand die Sentenz in dieser Funktion unter der Schaffhausener Handschrift der ›Schwarzwälder Predigten‹: Non sit, heißt es da im Kolophon, tibi cura quis dicat, sed quid dicatur.23 Zunächst hielt er das »für eine Verlegenheit angesichts anonymer Überlieferung«24. Das wäre freilich insofern bemerkenswert, als sich ja der weitaus größte Teil mittelalterlicher Predigtüberlieferung in der Anonymität vollzog, Anonymität geradezu als Signum der Gattung ›Musterpredigt‹ gegolten haben dürfte und nur bei wenigen Ausnahmen, wie zur Bestätigung, das Gegenteil einer marktschreierischen Onymisierung zu beobachten ist.25 Im Vergleich mit der durch eine Freiburger Handschrift repräsentierten Ausgangsfassung gelangte Schiewer jedoch zu der Überzeugung, die Anonymität der Sammlung sei »gewollt, nicht nachträglich hergestellt.«26 Offenbar stellte die hier vorliegende Fassung eine Art autorisierter Revision der Ausgangsfassung dar: die Verfasser, von Schiewer vorgestellt als franziskanisches Kollektiv, hatten die Predigten im zweiten Anlauf radikal gekürzt, dabei jedoch mit etlichen Zusätzen der Ausgangsfassung versehen. Die ›gewollte‹ Anonymität der Predigten wäre, Schiewer zufolge, als Absicherung eines franziskanischen Beitrags zum städtischen Gemeinwohl zu verstehen. Die Redaktoren wollten ihrem nützlichen Werk nicht dadurch, dass sie es als franziskanisch auswiesen, eine Rezeptionsbarriere errichten.27 In der absichtsvollen Anonymisierung der Sammlung läge demnach eine höchst uneigennützige Präventivmaßnahme vor, die das quid dicatur gleichsam vor dem quis dicat schützte.
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Vgl. Hans-Jochen Schiewer, »Eine Sammlung von Sonn- und Festtagspredigten des Schwarzwälder Predigers in der Stadtbibliothek Schaffhausen«, in: Schaffhauser Beiträge zur Geschichte, 62/1985, S. 15–30; ders., »Et non sit tibi cura quis dicat sed quid dicatur. Entstehung und Rezeption der Predigtcorpora des sog. Schwarzwälder Predigers«, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven, hg. v. Volker Mertens/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1992, S. 31–53. Schiewer 1992 (wie Anm. 23), S. 46. »Onymisierung« hier im Anschluss an Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M. 2001, S. 43–45. Sie ist auffällig insbesondere in der Berthold von Regensburg zugeschobenen Predigtliteratur, wo der Name »Berthold« gleichsam als Gattungsindikator fungiert; vgl. Dagmar Neuendorff, »Bruoder Berthold sprichet – aber spricht er wirklich?«, in: Neuphilologische Mitteilungen, 2000, S. 301–312. Schiewer 1992 (wie Anm. 23), S. 46. Zusammenfassend Hans-Jochen Schiewer, ›Die Schwarzwälder Predigten‹. Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Sonntags- und Heiligenpredigten. Mit einer Musteredition, Tübingen 1996 (=MTU 105), S. 328–334.
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3. Den mit Abstand ergiebigsten Fundort für den Einsatz der Seneca-Sentenz im Autorschaft-Anonymitäts-Diskurs stellen Einleitungen und Prologe dar. Hier, am Anfang, war der Ort, an dem Autorschaft gesichert oder bestritten und Anonymität entschuldigt, gegebenenfalls aber auch verteidigt werden konnte. Nicht so häufig, aber doch auch gut vertreten, sind Epiloge, Nachworte und Schreiber-Kolophone. Ich greife hier zunächst noch, den Fall der ›Schwarzwälder Predigten‹ ins Grundsätzliche der geistlichen Prosa ziehend, ein Beispiel für offenbar absichtsvolle Anonymität heraus. Wir finden sie in immerhin 72 von 75 Handschriften des überaus erfolgreichen volkssprachigen ›Büchleins von der Liebhabung Gottes‹, als deren Verfasser nur drei Textzeugen den Wiener Burgpfarrer Thomas Peuntner (gest. 1439) nominierten.28 Die Textgeschichte des Werkes, von dem wenigstens zwei Fassungen zu unterscheiden sind, ist erwartungsgemäß kompliziert. Eine Ahnung davon gibt der Umstand, dass sich vor immerhin 30 ausgewählten Handschriften beider Fassungen der Brief eines ungenannten Kartäusermönchs an einen Bruder Konrad findet, in dem das Büchlein mit warmen Worten beworben wird.29 Dass ein anonymer Kartäuser, einem Lektor vergleichbar, einem Opusculum beim Eintreten in die Welt spätmittelalterlicher Frömmigkeit paratextuell den Weg bahnt, ist durchaus kein Einzelfall. Das späte Mittelalter kannte viele »anonyme Kartäuser«, die durch ihre geistliche Strenge als fromme Lektoren über jeden Verdacht erhaben schienen und die durch ihr Inkognito zugleich der Humilitätsforderung ihres Ordens entsprachen. Ja, die Lektüreempfehlung eines Kartäusers konnte geradezu eine Überlebensversicherung für einen verfasserlos umhertreibenden geistlichen Text werden.30 Als die ›Liebhabung‹ dann nach 1477 in mehreren Druckauflagen eine zunehmend anonymere Öffentlichkeit antizipierte, wurde ab der zweiten Auflage31 erwartungsgemäß der beglaubigende Brief mit abgedruckt. Doch auch das reichte manchem nicht mehr. Die im Grundsätzlichen veränderte Rezeptionssituation forderte einen Leser des Druckes zum Einsatz der Seneca-Sentenz heraus. Handschriftlich setzte er seinem Exemplar der ›Liebhabung‹ hinzu: Et quamvis ignoratur eius compositor, credamus tamen
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Vgl. Bernhard Schnell, Thomas Peuntner ›Büchlein von der Liebhabung Gottes‹. Edition und Untersuchungen, München 1984 (=MTU 81), S. 11f.; ders., »Peuntner, Thomas«, in: VL (wie Anm. 3), Bd. 7 (1989), Sp. 537–544, bes. Sp. 540; Burghart Wachinger, »Autorschaft und Überlieferung«, in: Autorentypen, hg. von Walter Haug u. Burghart Wachinger, Tübingen 1991 (=Fortuna vitrea 6), S. 1–28, bes. S. 3f. Wachinger hält die anonyme Überlieferung des ›Büchleins‹ für unbeabsichtigt. Das ist ganz unwahrscheinlich. Auch der vergleichbare deutsche Traktat ›Erchantnuzz der sund‹ des Wiener Theologen Heinrichs von Langenstein ist in den meisten Handschriften (über 70) anonym überliefert. Vgl. Schnell 1984 (wie Anm. 28), S. 46–49. Vgl. Christoph Fasbender, »Die deutsche Philologie und das Erbe der Kartäuser«, in: Das Erbe der Kartäuser, hg. von Jürg Ganz/Margit Früh, Salzburg 2000 (=Analecta Cartusiana 160), S. 134–144, hier S. 140f. Die erste Auflage stammt aus der Offizin Konrad Fyners, der 1477/78 von Graf Eberhard im Bart nach Urach geholt wurde und exklusiv im Umfeld und mit Unterstützung der frommen Brüder vom gemeinsamen Leben druckte.
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verbis Senece dicentis: Non quis sed quid dicat attende.32 Man sollte das »credamus« nicht überbewerten. Eine unüberhörbar apologetische Tendenz hat die Sentenz gleichwohl. Am Übergang von der geistlichen Prosa zur Wissensliteratur, der ich mich im Folgenden zuwenden möchte, steht das in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstandene ›Elucidarium‹ des Honorius von Autun. »Es behandelt im ersten Buch Gott, die Erschaffung von Engeln und Menschen, ersten und zweiten Sündenfall, Inkarnation und Erlösung, im zweiten den Menschen zwischen Gut und Böse sowie die Sakramente der Kirche, im dritten die Eschatologie.«33 Obwohl Honorius gewiss über 25 echte Werke verfasste, die ein glücklich überkommenes Schriftenverzeichnis fixiert hat, wissen wir so gut wie gar nichts über ihn. Vielleicht war er Schottenmönch an St. Jakob in Regensburg. Auf seine Anonymität jedenfalls legte er großen Wert und auch im Prolog zum ›Elucidarium‹ beharrte er darauf, ungenannt zu bleiben. Die Rezeption des ›Elucidarium‹ in der Volkssprache kennt zwei Phasen: eine erste im ausgehenden 12. Jahrhundert, wo außer einer Übersetzung noch der frei schaltende ›Lucidarius‹ am Welfenhof entstand, und eine zweite im 15. Jahrhundert, aus der wenigstens drei Übertragungen vorliegen. Besondere Aufmerksamkeit verdient in unserem Zusammenhang die vollständige Fassung im Cgm 224 der Bayerischen Staatsbibliothek. Der Übersetzer, unzufrieden mit Honorius’ Beharren auf Anonymität, »führt zur Rechtfertigung dieses Verhaltens eine weitere Autorität an«: Es sprichet ein heiliger maister Ysiderus: Enruech wir, wer ein dingk sprech, sunder merck wir, was er sprech, das ett guett sey. Davon enruech wir, wie der maister ditz puechlein haisse, schreib er vns ett, das guet sey (Cgm 224, Bl. 2r).34 Das Seneca-Dictum segelt hier, des Honorius’ Anonymität legitimierend, unter der Flagge des christlichen Bischofs Isidor von Sevilla: eines hailigen meisters, wie ausdrücklich betont wird. Wahrscheinlich hat der Übersetzer nach einer Sammlung gearbeitet, die unter ihrem Incipit ›Isidorus spricht‹ u. a. neun SenecaSentenzen bietet.35 Seine irrtümliche Zuschreibung verifiziert das Zitierte.
4. Mit der kosmologischen Heilslehre des Honorius befanden wir uns bereits an der Schwelle zur Wissensliteratur im engeren Sinne und damit am Portal von Schule und Universität als den beiden Horten des vormodernen Wissenssystems, in denen es von Anfang an auf die Gärtner – besser vielleicht: die Pelzer – des Wissens ankam. Im Grunde formierte sich der abendländische Kanon bereits im augusteischen Zeitalter, als
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Hermann Maschek, »Der Verfasser des Büchleins von der Liebhabung Gottes«, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen, 53/1936, S. 361–368, hier S. 368 (wie Anm. 2). Hartmut Freytag, »Honorius«, in: VL (wie Anm. 3), Bd. 4 (1983), Sp. 122–132, hier Sp. 124. Dagmar Gottschall, Das ›Elucidarium‹ des Honorius Augustodunensis. Untersuchungen zu seiner Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte im deutschsprachigen Raum mit Ausgabe der niederdeutschen Übersetzung, Tübingen 1992 (=TTG 33), S. 113. Vgl. Ochsenbein 2000 (wie Anm. 3), S. 31.
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Vergil und Ovid, noch lebend, Gegenstand des Schulunterrichts waren. (Sie sind es, mit Abstrichen gewiss, bis heute geblieben). Kanonbildung ist das Merkmal des vormodernen Wissenssystems schlechthin. Spätestens im 14. Jahrhundert hatte man als eiserne Wissensration die ›Auctores octo‹ beisammen, die allein im 15. Jahrhundert europaweit mindestens 25 Druckausgaben erlebten.36 Eine seit den frühen Vergil-Kommentaren gepflegte Tradition der ›Accessus ad auctores‹ riss bis ins Spätmittelalter nicht ab. ›Accessus‹ wurden kommentarbedürftigen Werken vorgeschaltet. An einer Reihe von Punkten (circumstantiae, causae) handelte man alles Wesentliche ab: Autor, Datierung, Entstehungsumstände, Nutzanwendung.37 Tapfer hielt man auch dort, wo man es besser hätte wissen können, Autoren wie Äsop und Cato hoch. Ein schönes Beispiel für das Ringen mit unfreiwilliger und nicht akzeptierter Anonymität ist die Einleitung des Dresdener Rhetorik-Lehrers Nikolaus von Dybin in seinen Kommentar (Ende des 14. Jahrhunderts) zum ›Laborintus‹ Eberhards des Deutschen (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts).38 Der Titel des Lehrgedichts geht auf den labor zurück, nicht, wie bereits früh glossiert und von hämischen Humanisten dankbar aufgenommen wurde, auf das Labyrinth. Im narrativen Rahmen zu den etwa tausend Versen schildert Eberhard das unglückliche Los des Schulmeisters, das ihm als solches bereits im Mutterleib die Natura ankündigt, dem Kleinkind die bekümmerte Fortuna bestätigt und dem unterwiesenen Schützling die Poesis abschließend nochmals vor Augen hält. Im Kern bietet der ›Laborintus‹ dann eine versifizierte Ars grammatica in der Nachfolge des Matthäus von Vendôme und Galfrieds ›Poetria nova‹. An der Vorrede Nikolaus’ von Dybin zu diesem Schulbuch-Klassiker lässt sich nebenher auch die bereits angedeutete Überlieferungsproblematik verdeutlichen, ist doch der Textkörper, wie bei einem im Gebrauch befindlichen Schultext gar nicht anders zu erwarten, in der Überlieferung teils zerfasert, teils zerstückelt, teils regelrecht filetiert worden. Der moderne Herausgeber hat sich in Anbetracht der nicht restlos geklärten Authentizitätsfrage39 dazu entschieden, vier divergierende Fassungen abzudrucken. Die Länge der einzelnen Fassungen variiert beträchtlich, sodass eine rasche Orientierung nicht leicht möglich ist. Es steht indes fest, dass das entsprechende Zitat jeweils gegen Ende der Einleitung im Zusammenhang der causae und dabei zunächst der Frage nach der causa efficiens, also dem Autor des zu kommentierenden Werkes, erscheint.40 Man-
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Dazu Nikolaus Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1988 (=MTU 90), S. 9f. Vgl. Almut Suerbaum, »Accessus ad auctores: Autorkonzeptionen in mittelalterlichen Kommentartexten«, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. v. Elizabeth Andersen u. a., Tübingen 1998, S. 29–37. Vgl. Franz Josef Worstbrock, »Eberhard der Deutsche«, in: VL (wie Anm. 3), Bd. 2 (1980), Sp. 273–276. Hans Szklenar, Magister Nicolaus de Dybin. Vorstudien zu einer Edition seiner Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Rhetorik im späteren Mittelalter, München 1981 (=MTU 65): »zur Zeit ist die Frage, was wirklich Dybinisch ist, wo die Bearbeiter gekürzt oder erweitert haben und inwieweit unterschiedliche Fassungen bereits Dybin selbst zum Urheber haben, noch nicht zu beantworten.« (S. 246) Ich zitiere die etwas beschwerlich wiederzugebende Zählung des Herausgebers ausschließlich
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che behaupteten, die causa efficiens sei ein Magister Ebidus, Rektor an einer Schule in Bithinia gewesen.41 Der Redaktor einer Prager Handschrift (Archiv Prazského Hradu, O 43 [aus dem Metropolitankapitel]) fügt dem hinzu: de causa tamen efficiente non est multum curandum teste seneca: »Non quis dicat, sed quid dicatur attendendum est.« (Szklenar, S. 254 [48–55]). In etwa denselben Wortlaut bietet auch eine Danziger Handschrift (S. 262 [4–8]). Ein Augsburger Codex (Staats- und Stadtbibliothek, 2° Cod. 214) weist den ›Laborinthus‹ dagegen unter Berufung auf Senecas »sententia« »Non te moueat dicentis autoritas, sed quid dicatur, attende!« einem Pariser Magister und Rektor in Bremen zu (S. 265 [39–42]). Eine Grazer Handschrift kennt beide möglichen Zuschreibungen.42 In einer weiteren Prager Überlieferung (Národni knihovna ýeské Republiky, XII B 12) fehlte der Seneca-Nachweis zunächst und wurde erst später auf Höhe des Satzes sed quidquid sit, de isto non est advertendum am Rand nachgetragen (S. 256 [8–8a]). Die überlieferungsimmanenten Divergenzen betreffen im vorliegenden Fall ausschließlich den Wortlaut der Passage. In der Augsburger Handschrift dürfte das ausdrücklich als Sentenz gekennzeichnete Zitat Eigenleistung des Bearbeiters sein, enthält der wohl in den 1460er Jahren im frühhumanistischen Universitätsmilieu43 entstandene Sammelband doch außer dem ›Laborintus‹ noch Martins von Braga ›De quattuor virtutibus cardinalibus‹.44 Die Textform entspricht hier beinahe wörtlich der des mitüberlieferten Seneca-Textes. Das spätere Hinzusetzen in der Prager Handschrift lässt sich am bequemsten durch nachträgliche Kollationierung erklären. Die Funktion des Zitates im Kontext der Einleitung in ein anonym oder unter verschiedenen Namen tradiertes Werk ist in allen Fällen identisch. Da der (in der Überlieferung seinerseits meist ungenannte45) Kommentator Nikolaus vorgibt, mit einem Bedürfnis seiner Leser nach dem Namen der kommentierten Autorität (Eberhard) zu rechnen, dem er nicht nachkommen könne, zieht er sich auf die durch den Rezipienten selbst zu überprüfende Qualität des Werkes zurück: Sie sei wichtiger als die Person der causa efficiens. Dass er mit dieser Unterstellung nicht ganz falsch lag, zeigt sich im Grunde an der Augsburger Handschrift, deren Redaktor seinem Publikum zwar keinen Namen anbieten konnte, aber doch immerhin das Prädikat eines Pariser Studienabschlusses und Bremen statt Bithynien (recte: Béthune) aufbot. Letzten Endes scheint damit ausgerechnet im Schulbuchbetrieb, der nicht erst seit gestern kaum mehr als Kompilationen feilbietet, ein Onymitätszwang bestanden zu haben: eine notwendige Absicherung der
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der rascheren Orientierung wegen nach der Seitenzahl seiner Edition und der Zeilenzahl der abgedruckten Handschriftenseite bzw. -spalte. Bereits im Mittelalter wurden Eberhard der Deutsche und Ebrard von Béthune, der Verfasser des ›Graecismus‹, verwechselt; vgl. Worstbrock 1980 (wie Anm. 38), Sp. 273. Szklenar 1981 (wie Anm. 39), S. 85. Darauf deuten die den Band einleitenden ›Institutiones oratoriae‹ des spanischen Wanderhumanisten Jacobus Publicius. Vgl. die Nachweise bei Szklenar 1981 (wie Anm. 39), S. 89f. Von den elf bei Szklenar 1981 (wie Anm. 39) aufgeführten Hss. (S. 89–99) nennt nur ein Drittel den Verfasser des Kommentars.
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dargereichten Lehre durch die Dignität eines nominierbaren Lehrers. Bis ins Zeitalter des Humanismus schleppten so die kanonisierten Lehrwerke des Elementarunterrichts Verfassernamen als Synonyme für bewährte Tradition mit sich – oder die Kommentatoren bemühten sich, sofern nichts Altbewährtes zu bekommen war, um neues Bewährtes. Erst mit dem Scheitern ihrer Bemühungen kam Seneca ins Spiel.
5. Die Polyfunktionalität der Sentenz zeigt sich auch in meinem nächsten Beispiel. Es handelt sich dabei um einen interessanten Fund, den der Basler Kollege Wolfram SchneiderLastin vor ein paar Jahren präsentierte: die Entdeckung der ersten deutschen Übersetzung des von Christine de Pizan 1410 verfassten ›Livre des fais d’armes et de chevalerie‹ (ein ›bch von dem vechten und von der ritterschafft‹).46 Christine hatte den ›Livre‹ dem jungen Dauphin, Louis de Guyenne, gewidmet, »dessen militärische Kenntnisse und Fähigkeiten damit gefördert werden sollten. [...] In den ersten acht Kapiteln des ersten Buches setzt sich Christine mit dem Konzept des gerechten Krieges auseinander. Im zweiten Buch erörtert sie Belagerungstechniken, die im Mittelalter besonders wichtig sind: Sowohl die Vorbereitungen auf den Sturmangriff, wie auch die Verteidigung von Burg und Stadt werden erläutert.«47
Das vierte Buch befasst sich mit dem Kriegsrecht, wofür Christine zusätzlich Honoré Bouvets ›Arbre des batailles‹ konsultiert. Christine war 1410 bereits eine routinierte politische Schriftstellerin. Um 1400 hatte sie den ›Sendbrief Othéas an Hector‹, »a ›little Bible of the Knighthood‹«,48 verfasst; 1405 folgte die Lebensbeschreibung Karls V., 1406/07 der ›Livre du corps du policie‹, eine Staatslehre als Fürstenspiegel, aus deren zweitem Buch sie dann 1410 ihr ›Buch vom Waffenhandwerk‹ ableitete. Obwohl die Verfasserin also seit geraumer Zeit Themen aus der Lebenswelt des französischen Adels traktierte, rechnete sie gerade im Prolog zum ›Waffenhandwerk‹ mit Vorbehalten ihrer männlichen Leser. Dem aller höchest und edelst ampt der ritterschafft empfiehlt sie, das si nit fúr úbel haben, das ich frow mich beladen hab ze sagende von semlicher materýen, sunder das si nachuolgende syend der lere des meisters Seneck, der da spricht: ›Nitt enacht, was man seitt, sunder merck, welle gte wortt sind.‹
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Wolfram Schneider-Lastin, »Christine de Pizan deutsch (Handschriftenfunde zur Literatur des Mittelalters 122)«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 125/1996, S. 187–201; mit nhd. Übersetzung: ders., »Christine de Pizan, Prolog zum Livre des fais d’armes et de chevalerie in einer deutschen Übersetzung des 15. Jahrhunderts«, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung, 2/1997, S. 317–323. Vgl. jetzt Elisabeth Schreiner, »Christine de Pizan als Vermittlerin von Wissen und Wissenschaft«, in: Künstler – Dichter – Gelehrte, hg. v. Ulrich Müller/Werner Wunderlich, Konstanz 2005 (=Mittelalter Mythen 4), S. 269–286. Schreiner 2005 (wie Anm. 46), S. 277f. Nachweis der Quelle bei Schreiner 2005 (wie Anm. 46), S. 276.
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Der Herausgeber merkt zur Stelle kritisch an: »statt was man muss es heißen: wer. Fehler schon in der frz. Vorlage, vgl. den korrekten Text in Paris BN 603« usf.49 Der Kommentar, für den offenbar weitere Handschriften und Textausgaben verglichen wurden, ist ausgesprochen hilfreich. Allerdings deutet er selbst auf seine Grenzen, wenn angemerkt wird, dass auch die englische Übertragung des Fecht- und Waffenbuches, die der Drucker, Verleger und Übersetzer William Caxton vornahm, denselben »Fehler« aufweist: retche the not what they saye / soo that the wordes be good.50 Schneider-Lastins Rekurs auf eine gemeinsame, mutmaßlich korrupte Quelle51 mag den Seneca-Philologen zufriedenstellen; mich überzeugt er indes nicht so recht. Hätten nicht alle beteiligten Bearbeiter – der Schreiber der französischen Handschrift, der Berufsliterat Caxton, der alemannische Übersetzer sowie die jeweiligen Vermittler, also mindestens fünf Personen – das vermeintlich beschädigte Zitat an exponierter Stelle leicht bessern können? Wohl, doch hätte es ihnen zunächst anstößig erscheinen müssen, was offenbar nicht der Fall war. Der Text ist vielmehr auch ohne Besserung sinnvoll. Wenn ich ihn recht verstehe, empfiehlt der Geschäftsmann Caxton seinen Lesern, nicht auf diejenigen zu hören, die das Werk kritisieren (what they saye), sondern allein auf den vorliegenden Text zu sehen. Das Interesse, üble Nachrede abzufangen, dürfte unmittelbar auf die Verfasserin zurückgehen; spricht Christine doch von sich selbst als einer fatalen Frau, die nicht mit Kunkel, Garn oder andern husheblichen sachen umgehe (Z. 29), sondern mit Dingen, die das edelst ampt der ritterschafft antreffen. Diejenigen, die das kühne Vorhaben oder das fertige Werk kritisieren, erscheinen demgegenüber in der alemannischen Übersetzung noch weiter entpersonalisiert (man). Man könnte daher vielleicht die Indienstnahme des Topos für ein ganz anderes Thema argwöhnen. Womöglich werden die Rezipienten dazu aufgefordert, nicht auf den Wortlaut der Übersetzung zu achten (was man seitt), sondern allein auf die korrekt wiedergegebenen Inhalte (merck, welle gte wortt sind). Also: »Achte nicht auf den Buchstaben, sondern erfasse die Substanz des Gesagten.« Träfe diese Lesart zu, indizierte der Übersetzer hier demnach außer seiner Bescheidenheit die Vertrautheit mit grundsätzlichen Problemen seines Handwerkes: etwa, dass es im Dienst bestimmter Vermittlungsabsichten erforderlich sein kann, nicht »Wort aus Wort«, sondern »Sinn aus Sinn« zu übertragen, und das ist bei einem Fachbuch auch nur sinnvoll, wiewohl der meister Seneck das so nie gesagt hat.
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50 51
Schneider-Lastin 1996 (wie Anm. 46), S. 200 Anm. e. Schreiner 2005 (wie Anm. 46), S. 279 zitiert den Abschnitt aus Schneider-Lastin 1997 (wie Anm. 46), ohne auf die Korrektur einzugehen. The book of fayttes of armes and of chyualrye, translated by William Caxton, hg. v. A. T. P. Byles, London 1932 (=Early English Society, Old Series 189), S. 7, 17f. Schneider-Lastin 1996 (wie Anm. 46), S. 195 Anm. 27.
Non sit tibi cura quis dicat, sed quid dicitur
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6. »N’importe, qui parle« – damit stieß, es ist noch gar nicht so lange her, ein Exponent der Postmoderne eine leidenschaftlich geführte Debatte in den Philologien an, der sich, wen wundert’s, die überlieferungsgeschädigten Mittelalter-Philologien mit besonderem Enthusiasmus hingaben. N’importe, qui parle? Bereits Seneca hat das dem Lucilius ins Stammbuch geschrieben, aber er meinte: Wenn das, was gesagt wird, richtig ist, dann toleriere, wenn es von einem Andersdenkenden stammt. Die mittelalterlichen Prediger des Gotteswortes versuchten, sich mit diesem Dictum der menschenunmöglichen Kongruenz-Forderung der lauernden Gemeinde zu entwinden, die Schul- und Hochschulmeister verbargen mit der Phrase gegenüber den Studenten großartig ihre Unwissenheit angesichts anonymer Überlieferung, und die Fachschriftstellerin schob damit falsche Erwartungen an ihre Kompetenz in ›Männersachen‹ beiseite. Ihnen allen war gemein, dass sie die Verkündigung über den Verkündigenden, die Botschaft über den Boten stellten. Das ist, wenn man es etwas grundsätzlicher fassen möchte, ein Paradigma abendländischer Welterfassung. Unsere rationalistische Kultur hat es mit einem kategorischen Imperativ versehen: Sieh hinweg über den fehlbaren Mittler, prüfe allein das Vermittelte! Eine Forderung, die im dualistischen Kosmos des Mittelalters irgendwann an ihre Grenzen stoßen musste: in dem Moment nämlich, in dem der Leibhaftige selbst seine Stimme erhebt. Darf man auf den Teufel hören, wenn er dem Menschen etwas Richtiges, etwas Nützliches zu raten scheint? Eingangs des 15. Jahrhunderts hatte der Heidelberger Theologe Nikolaus Magni von Jauer (gest. 1435)52 einen Traktat über die Superstitionen verfasst, der weitgehend auf Thomas von Aquin gründete. Das Werk erfreute sich wohl auch deswegen großer Beliebtheit (man geht von über 120 Handschriften aus53), weil er im zweiten Teil eine breite Palette möglicher abergläubischer Handlungen anführte. (Sie nützte natürlich vor allem den Pfarrgeistlichen). Dem Verfasser ging es freilich, wie bereits angedeutet, um etwas anderes. »Der Traktat verfolgt zwei Hauptfragen: die erste, ob es dem Teufel möglich sei, durch Täuschungen in die Seele des Menschen Gutes oder Böses zu bringen; die zweite, ob es dem Menschen erlaubt sei, im Falle des Guten die Dienste anzunehmen«.54 Magni schaltet seiner Deduktion einen Überblick über die Argumentationsmöglichkeiten vor. Für eine positive Beantwortung der zweiten Frage führt er Folgendes an: Pro secunda parte quaestionis arguetur: Quia a quacumque dicitur semper est recipiendum et eo quis uti possit ad bonum suum, quia ›non est curandum‹, secundum Senecam, ›quis dicit, sed
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53 54
Vgl. Jaroslav Kadlec, »Nikolaus von Jauer«, in: VL (wie Anm. 3), Bd. 6 (1987), Sp. 1078–1081; grundlegend noch immer: Adolph Franz, Der Magister Nikolaus Magni de Jawor. Ein Beitrag zur Literatur- und Gelehrtengeschichte des 14. und 15. Jahrhunderts, Freiburg 1898. Frank Fürbeth, Johannes Hartlieb. Untersuchungen zu Leben und Werk, Tübingen 1992 (=Hermaea 64), S. 101. Fürbeth (wie Anm. 53), S. 101.
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Christoph Fasbender quid dicatur‹: ergo, si dyabolus dicat verum noster hoc alicui ministrando ipse uti possit eius ministerio ymmo et eius auxilio.55 »Zum zweiten Teil der Quaestio ist so zu argumentieren: Weil, wie es immer gesagt wird, von überall das anzunehmen ist, was zum Guten gebraucht werden kann, nach Seneca: ›Nicht wer etwas sagt, sondern was gesagt wird‹, können wir folglich, wenn der Teufel uns wahrhaftig seinen Dienst anbietet, seine Hilfe und seinen Dienst annehmen.«56
In der tatsächlichen Abhandlung der zweiten, noch einmal dreigeteilten Quaestio, wird Magni dann erwartungsgemäß gegen die Indienstnahme des Bösen argumentieren. Aus drei Gründen wird sie abgelehnt: »Gottes wegen, weil die Verehrung Gottes dies nicht zulässt, des Menschen wegen, der sich damit in Sünde und Unglauben begibt, und der Dämonen wegen, die nie Gutes, sondern immer nur Böses beabsichtigen.«57 Als der Münchener Arzt und Diplomat Johannes Hartlieb 1455/56 im Auftrag des Markgrafen Johanns des Alchimisten von Brandenburg-Kulmbach sein ›Buch aller verbotenen kunst‹58 abfasste, folgte er Nikolaus Magni bis ins Detail.59 Auch Hartlieb führt das Dictum Senecas, den er als Seneca der hochgelert anpreist, zunächst als Argument für teuflische Dienste ins Feld. In kernigem Bayrisch: ›acht nit, wer redt, merck nur, was man redt‹. Ob nu der tuiffel etwas riett, das güt bedeütet, warvmb solt man jm nit volgen? (6,4) Natürlich argumentiert auch Hartlieb gegen die Indienstnahme Satans, der die Menschen intellektuell schlichtweg aussteche: wann wie wol der mensch gutz verstätt, so ist doch der tuiffel so tusentlistig, das er kain sach tut, dann dem menschen läg vnd strick zu setzen etc. (6,17).60 So markiert der Teufel, markiert die christliche Dämonologie gleichsam die Reichweite der Seneca-Sentenz.
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Fürbeth (wie Anm. 53), S. 102. Ich habe den Text zum besseren Verständnis geringfügig interpungiert. Übersetzung: Fürbeth (wie Anm. 53), S. 103. Fürbeth (wie Anm. 53), S. 105. Vgl. Klaus Grubmüller, »Hartlieb, Johannes«, in: VL (wie Anm. 3), Bd. 3 (1981), Sp. 480–496, bes. Sp. 488f. Hartliebs Abhängigkeit wurde erst durch Fürbeth (wie Anm. 53) aufgedeckt. Fürbeth (wie Anm. 53), S. 115.
Harald Haferland
Wer oder was trägt einen Namen? Zur Anonymität in der Vormoderne und in der deutschen Literatur des Mittelalters
1.
Namen, Wissen und Diskurse
Ich beginne meine Überlegungen mit einigen sehr allgemeinen Gesichtspunkten und der Frage, wer oder was überhaupt einen Namen trägt – ›Name‹ im Sinne von Eigennamen verstanden: die uns vertrauten Menschen unserer Umgebung natürlich, mit denen wir tagtäglich umgehen; dann solche Personen, die wir nicht persönlich kennen, auf die andere, die sie kennen, sich aber uns gegenüber beziehen wollen, und umgekehrt. Schließlich aber noch Personen, die keiner mehr kennt oder noch kennen kann. Hier liegt ein systematischer Sprung vor. Wenn es nämlich zunächst solche Menschen gibt, die in den Wissensraum persönlichen Kennens gehören und die letztlich im (gegebenenfalls verlängerten) autobiographischen Gedächtnis unterkommen, dann gibt es auch noch Menschen, die über ihren bloßen Namen einem Wissensraum anderer Art zugehören: dem des semantischen Gedächtnisses. Zu diesem gehört nach einer vielleicht etwas schematischen Einteilung der Gedächtnispsychologie unser gesamtes Sachwissen über die Welt.1 Ein besonderer Teil dieses Wissens besteht darin, dass sich an Namen auf je schon im Alltag eingeübte Weise Wissen über Personen anlagert, die keiner mehr kennt; und zwar in der Form, dass dieser oder jener etwas in vorbildlicher Weise oder auch zum ersten Mal getan oder herausgefunden hat. Das Wissen haftet, weil es am Namen haftet. Wenn man hier schon von Diskursen sprechen will, dann sind diese namenzentriert, und die Namen markieren diskursive Gravitationszentren. Ich möchte dies so beschreiben, dass hierbei eine Rumpfstruktur autobiographisch zu gewinnenden Wissens in unser Sachwissen über die Welt hineinragt. Was trägt sonst noch Namen? Örtlichkeiten natürlich, also Quellen, Flüsse, Bergzüge, Wälder, Fluren, Ortschaften usw. Dann auch Gebäude und Straßen. In einer logischen Theorie der Namen wird man die Bezeichnungen von Zeiträumen oder -punkten als Namen auffassen müssen: Dann wäre ›der 23. April 2009‹ ein Name. Dann würde man auch die Bezeichnungen historischer Ereignisse (›die Französische Revolution‹) als Namen verstehen, obwohl sie sprachlich anders funktionieren als übliche Eigennamen. Mit den Namen von Personen aber (wer will, mag noch Haustiere hinzunehmen) und Lokalitäten kommt man im Rahmen der Verständigung innerhalb einer lokalen Kultur, die jenen systematischen Sprung aus dem Raum persönlichen Kennens heraus noch kaum bemüht, ziemlich weit. Hier kennt man, was Namen hat, aus der eigenen Anschauung. Wenn aber der Wissensraum des semantischen Gedächtnisses expandiert
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Endel Tulving, Elements of Episodic Memory, Oxford/New York 1983, S. 28f.
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Harald Haferland
– jenseits also einer lokalen Kultur bzw. über ihren Gesichtskreis hinaus –, installieren sich assoziative Netzwerke über dem schon im Alltag eingeübten Namengebrauch und Namen bekommen eine neue Funktion. An ihnen haftet Wissen, Vorbildwissen zuerst und zuletzt Sachwissen. Rudolf Srámek hat in einem sehr allgemeinen Sinn zwei Sprachbereiche unterschieden: den appellativen und den proprialen.2 Im Zuge der sprachlichen Bildung von Eigennamen im proprialen Bereich findet vielfach ein Zufluss aus dem appellativen Bereich statt (man kennt das von Indianernamen: ›Der mit dem Wolf tanzt‹; allerdings können auch Eigennamen wieder appellativisiert werden: vgl. ›Das ist ein Don Juan‹). Im proprialen Bereich unterscheidet Srámek Bionyma (Eigennamen für Lebewesen), Geonyma (Eigennamen für Örtlichkeiten) und Chrematonyma (Eigennamen für Erzeugnisse, ȤȡȒȝĮIJĮ). Im Rahmen einer Wissenslogik wären den Chrematonyma Chrononyma voranzustellen, die Srámek gar nicht vorsieht, weil sie – wie gesagt – sprachlich anders funktionieren, aus Datierungen oder Beschreibungen bestehen und damit dem appellativen Bereich zugehören. Auf der Seite der onymischen Entitäten/Objekte – der Lebewesen, Lokalitäten und Erzeugnisse also, die im proprialen Bereich benannt erscheinen – kommen im Verlauf der Kulturgeschichte einerseits neue Objekte hinzu, die Eigennamen verliehen bekommen – es entsteht z. B. überhaupt erst der eigene Objektbereich der Erzeugnisse; andererseits ändert sich die Funktion von Namen grundlegend, wenn der Bereich des semantischen Wissens expandiert und Namen hierbei nur mehr assoziative Netze herzustellen helfen und irgendwann in dieser Funktion ganz ausfallen. Interessant ist die Verleihung von Namen an Erzeugnisse: Faustkeilen wird man keinen Namen gegeben haben, kaum ein Schiff verlässt die Werft aber ohne Namen, es wird meist getauft. Autos wiederum pflegt man – im Gegensatz zu ICEs und Flugzeugen – nur selten einen Namen zu geben, auch Bussen nicht; es scheint dafür einer noch größeren Insassenzahl oder eines höheren unterstellten Fahrtrisikos zu bedürfen. Interessanterweise gibt es bei Chrematonyma auch einen eigenartigen Rück- und Überlauf aus dem proprialen in den appellativen Bereich. Produkte tragen oft als Artnamen verwendete Eigennamen (›ein Mercedes‹, ›ein Duden‹ usw.). Ich greife so weit aus, weil auch Texte zu den Erzeugnissen gehören und weil sie Eigennamen tragen, die sich oft mit Autornamen assoziativ verbinden: Bei Der Zauberberg oder Dr. Faustus denkt man an Thomas Mann, wohl auch umgekehrt. Wobei die Eigennamen von Texten einer sehr besonderen Ableitung bedürfen; man bekommt ihre schriftliche Verwendung meist auch nur geregelt, wenn man graphische Hervorhebungen einsetzt (Dr. Faustus ist ja eben nicht Dr. Faustus, sondern der so benannte Text). In unser Sachwissen über die Welt gehen Träger von Eigennamen – von den eigenen Ahnen abgesehen – als Heroen ein, als Helden, Heilige, Religionsstifter, Philosophen, Wissenschaftler, Erfinder, Entdecker und Künstler, vielleicht muss man auch Politiker und andere mehr berücksichtigen. Sie verantworten Taten, Lebensformen, Erklärungen,
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Rudolf Srámek, »Eigennamen im Rahmen einer Kommunikations- und Handlungstheorie«, in: Namenforschung/Name Studies/Les noms propres. Ein internationales Handbuch zur Onomastik, hg. v. Ernst Eichler u. a., Berlin/New York 1995, 1. Teilband, S. 380–383.
Wer oder was trägt einen Namen?
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Gedanken (meist in Textform), Erfindungen, Entdeckungen, Kunstwerke sowie politisches Handeln und gar Kriege. Das kulturelle Gedächtnis und Wissen heftet hieran ihren Namen, und dies ist eine Form der kulturellen Gedächtnisökonomie und der Verankerung von Diskursen. Schon bei Hyginus heißt es dafür lapidar: ›XY tat (fand, erfand usw.) zu m ersten Ma l [...]‹,3 und das in einer langen Reihe von Namensnennungen. Die Form ist viel älter und überaus verbreitet: Die Gedächtnis- oder Merkdichtung besteht in vielen Kulturen einfach aus metrisch gebundenen Namenreihen, man denke etwa an den Schiffskatalog der Ilias – im Germanischen hatte man dafür die sogenannten thulur.4 Eine Parallel- und Vorform ist sicher die Ahnenreihe. Ich erlaube mir diese lange Einleitung, um zu verdeutlichen, dass es überhaupt keinen Weg zurück hinter die Zentrierung des kulturellen Gedächtnisses in Namen gibt. Denn es steht ursprünglich nicht nur das kulturelle Gedächtnis, sondern zuletzt auch die Geschichte der Ausbildung moderner Individualität und Freiheit dahinter. Auch wenn einer mal ein Klosettbecken ins Museum gestellt oder das Alphabet von hinten gedichtet hat (»z y x / w v u« usw.) und das nach landläufiger Ansicht keine Kunst ist, sind Marcel Duchamp und Kurt Schwitters Kulturheroen der Moderne, weil sie zum ersten Mal – sie waren so frei – ›Kunst‹ aus ›keiner Kunst‹ gemacht haben. Ich ziele damit auf die emphatische Konfusion in der Argumentation von Roland Barthes zum ›Tod des Autors‹.5 Auch das Aufkommen ästhetisch-mechanischer Verfahren etwa des Schreibens (écriture automatique), die individuelles Schöpfertum ad absurdum führen und zum Verschwinden bringen, hat es nicht vermocht, die daran noch haftenden Namen zum Verschwinden zu bringen.6 Vielmehr verschwinden sie selbst wieder, wenn der Autorname ausfällt und sie auch nicht mehr zum ersten Mal praktiziert werden. Zu dominant ist die Rolle des Autors/Künstlers in der Moderne und die Funktion seines Namens, als dass dieser sich vergessen machen könnte/ließe. Vom Verschwinden des Autors/Künstlers bzw. seines Namens kann deshalb überhaupt keine Rede sein, sondern bereits für die gesamte Geschichte der literarischen Überlieferung viel eher von einer Bedrohtheit des Texts/Werks, zu verschwinden, wenn sich kein Name damit verbindet. Ulrich von Wilamowitz hat vom horror vacui in der antiken Überlieferungsgeschichte gesprochen, wenn sich kein Autorname zu einem Text anführen ließ. Götterlieder mussten dann von Homer stammen (von dem sie gar nicht stammen, ja selbst die Zuschreibung der Ilias verdankt sich schon dem horror vacui), Fabeln von Äsop, medizinische Schriften von Hippokrates usw. – und dies noch, längst
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6
Hyginus, Fabulae, hg. v. Herbert J. Rose, Leiden 21963, Abschnitt 274, S. 166f. (primus (a, um): zu Erfindern) Jan de Vries, Altnordische Literaturgeschichte, 2 Bde., Berlin 21962–67, s. Reg. unter thula. Roland Barthes, »Der Tod des Autors«, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. und kommentiert von Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko, Stuttgart 2000, S. 185– 193. Der Artikel ›Automatisches Schreiben‹ im Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart ist voll von Namen: Lautréamont, Mallarmé, Apollinaire, Breton, Soupault, Arp usw. Wer allerdings darüber hinaus auch noch das Automatische Schreiben praktiziert, bleibt unbekannt.
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Harald Haferland
bevor sich die Pseudepigraphie berühmte Namen zunutze machte, um Schriften durchzubringen und ihnen einen Platz in der Überlieferung zu sichern.7 Während der Name des literarischen Autors etwa also keinesfalls zu verschwinden droht, tritt doch etwas ein, was Michel Foucault beobachtet hat:8 allemal der des wissenschaftlichen Autors droht das kulturelle Gedächtnis überzustrapazieren. Für die Entschlüsselung des menschlichen und anderer Genome werden zwar Nobelpreise vergeben, aber da die Zahl der Gene beim Menschen hoch ist (22.000, bei der Maus sollen es noch mehr sein!), kann nicht für jedes entschlüsselte Gen in seiner Sequenz eine einmalige Entdeckerleistung veranschlagt werden. Kurz: Je umfänglicher das Sachwissen wird, desto weniger kommen diejenigen noch zur Geltung, die es herzustellen helfen und an deren Namen als zentrierendem Bestandteil das Sachwissen ursprünglich auch angelagert war (weil es für die spontane Fassungskraft des menschlichen Gedächtnisses irgendwann einfach zu viele sind). Auch der Diskursbegriff ist hier nicht mehr adäquat: Nachdem die Tabelle der chemischen Elemente einmal aufgestellt ist, kann man die Diskurse, die dazu führten, zusammen mit den Entdeckern einzelner Elemente vergessen.9 Und über die Tabelle selbst wird kein Diskurs mehr geführt. In der Tabelle ist immerhin das Einsteinium mit der Ordnungszahl 99 aufgenommen – als appellative Restform der Namenverwendung im Sachwissen, das sich ansonsten vom autobiographischen Wissen und allen darin verankerten Diskursen vollständig abgekoppelt hat. Sachwissen entwickelt sich damit fort zu einer zunehmenden Anonymisierung derjenigen, die zu seiner Vermehrung beitrugen. Zugleich tendiert es im Idealfall zu einer formalen Struktur, die es aus Diskursen herauslöst. Das ist gewiss anders bei Kulturleistungen, die dem Namen ihres Heros verbunden bleiben und Diskurse in Bewegung halten. Urheber und Autoren verschwinden hier nicht so leicht. Anonymität ist ihnen nur möglich, wenn sie anonym bleiben wollen; was ihnen aber nur mit Mühe gelingt.
2.
›Anonymität‹ und die Folklore der Vormoderne
Der Begriff der Anonymität literarischer Texte hat seine Tücken, wenn man ihn auf das Mittelalter und die Vormoderne anwendet, deshalb setze ich ihn in Anführungsstriche. Ich gehe aus von der Feststellung Gerhard Söhns, dass »in kaum einer Epoche vorher und nachher so viele Schriften anonym publiziert [wurden] wie im 18. Jahrhundert«.10 Söhn setzt hier den Normalfall der Onymität – des öffentlichen Vorhandenseins eines Namens – voraus und bezieht sich auf Umstände der P ubl i kat ion von Schriften. Den
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Vgl. Wolfgang Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum. Ein Versuch ihrer Deutung, München 1971, S. 40. Michel Foucault, »Was ist ein Autor?«, in: Texte zur Theorie der Autorschaft (wie Anm. 5), S. 198–229. Dies zu Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973. Gerhard Söhn, Literaten hinter Masken. Eine Betrachtung über das Pseudonym in der Literatur, Berlin 1974, S. 70.
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Begriff der Onymität verwendet Söhn nicht, er stammt von Gérard Genette, der ihn mit gutem Grund seiner Behandlung der Anonymität und Pseudonymität vorangestellt hat.11 Normalerweise lässt ein Autor nämlich ungefähr seit dem Jahr 1500 seinen Namen auf das Titelblatt eines Buchs setzen12 und man erwartet ihn da – das ist gewissermaßen der unmarkierte Fall, gegen den die dann unverkennbar gesuchte oder intendierte Anonymität und die allemal gesuchte Pseudonymität die markierten Fälle bilden.13 Autor und Titel – das sind die zwei Hauptanker gedruckter Texte im Diskurse initiierenden medialen System der Literatur, gegen die Anonymität und Titellosigkeit aus der Reihe fallen und damit auffallen. Es gibt kein solches System im volkssprachlichen Mittelalter: Es gibt kein Titelblatt!14 Und da also der mediale Ort für eine Namensnennung noch nicht ausdifferenziert ist, sind die Diskurse anderen Bedingungen unterworfen. Es verhält sich hier genau umgekehrt: Die Nennung des Verfassernamens (Onymität) bildet zunächst den markierten Fall, und die ›Anonymität‹ stellt – ich übertreibe zur Verdeutlichung – wenn nicht den Normal-, so doch den unmarkierten Fall dar, deshalb die Anführungsstriche. Man hätte demnach zwei oder drei Bedeutungen von Anonymität zu unterscheiden: eine davon im Rahmen eines Zustandes der ›Literatur‹, in dem Verfassernamen noch überhaupt keine Rolle spielen (weshalb eigentlich auch keine Anonymität vorliegt). Dann muss man zweitens damit rechnen, dass ein Verfassername durch kontingente Umstände der Überlieferung oder der Publikation verloren gegangen ist. Schließlich kann es sein, dass ein Verfassername absichtlich unterdrückt wird, sei es durch den Verfasser selbst oder durch Kreise, in denen er sich bewegt hat, oder Personen, zu denen er Kontakte hatte. Hierbei sind aber durchaus ganz unterschiedliche und vom literarischen System und Diskurs abhängige Motive der Wahrung der Anonymität zu gewärtigen. Ein Täuschungsakt wie im Fall der Pseudonymität muss immer noch nicht vorliegen. Dass für die volkssprachliche Literatur des Mittelalters Onymität noch keinen markierten Zustand darstellt, ist wohl zunächst folgendermaßen zu erklären: Auch wenn Literatur hier längst nicht so weitgehend wie in der Antike aus der Heldendichtung und der Folklore herauswächst, sondern sehr oft aus anderen Sprachen und Kulturen rezipiert wird, steht sie doch gegen die umgebende heimische Folklore und muss gegen
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Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buchs, Frankfurt a. M. 1989, S. 41–57. »Wolfgang Stöckel in Leipzig druckte das erste Buch mit einem vollständigen Titelblatt, auf dem der Sachtitel, der Name des Verfassers, des Druckers, des Druckorts, und das Druckjahr angegeben sind.« Konrad F. Bauer, Aventur und Kunst. Eine Chronik des Buchdruckergewerbes von der Erfindung der beweglichen Letter bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1940, S. 26 (mit der zugehörigen Abb. auf S. 82). Es handelte sich um eine logische Schrift des Petrus Hispanus aus dem Jahr 1500. Auf einige Fälle und die Bedingungen für ihr Zustandekommen weist Jan-Dirk Müller hin. Vgl. ders., »Art. Anonymität«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin/ New York 1997, S. 89–92. Vgl. auch noch Carl Diesch, »Art. Anonymität«, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1, Nachdruck Berlin/New York 22001 (zuerst 1958), S. 66– 68. Vgl. Claudia Brinker von der Heyde, Die literarische Welt des Mittelalters, Darmstadt 2007, S. 128f.
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Harald Haferland
deren konstitutive Unbekümmertheit um Verfasser eine Verfasserschaft erst zur Geltung bringen. Anders noch als in der Folklore sind die Tradenten von Heldendichtung zwar zweifellos bekannte Personen, die es auch zu einiger Berühmtheit bringen können: der Verfasser des altsächsischen Heliand etwa, der ungeachtet seiner gelehrt daherkommenden Bibeldichtung unverkennbar geübt ist in der Diktion germanischer Heldendichtung, wird in der lateinischen Praefatio als non ignobilis vates, als ziemlich berühmter Sänger genannt; freilich erfährt man seinen Namen nicht, und er nennt sich auch nicht in seiner Evangelienparaphrase. Kaum je einmal weben Sänger von Heldendichtung ihren Namen ihren Liedern ein; warum auch, wenn sie in ihrem Kopf tragen, was sie dann immer selber vortragen? Und wenn ein weiterer Träger ohnehin wenig Grund sähe, ihren Namen weiter zum Lied zu nennen? Wenn die Sänger von Heldendichtung nicht mehr singen, verlieren sie die Rechte an einem Lied, das sie vielleicht selbst schon übernommen haben und dessen Stoff sie allemal zu übernehmen gewohnt sind. Für Heldendichtung gelten entsprechend aus schriftliterarischer Perspektive dieselben Umstände wie für Folklore: in die mündlichen ›Texte‹ gehen keine Namen ein. Dies dürfte dann auch für alle Zwischenformen zwischen elementarer Folklore und großer Heldendichtung gelten, für alle Arten von Erzählungen also in diesem Zwischenraum: Bleiben sie mündlich, so haften keine Namen an ihnen. Die conteurs der matiére de Bretagne, die die âventiuren-Form der Artusliteratur des Hochmittelalters hervorgebracht haben und auf die Chrétien de Troyes sich als seine Stofflieferanten bezieht, mag er selbst nicht einmal namentlich kennen. Er hat es mit narrativer Folklore zu tun, deren Träger man nur kennt, wenn man ihnen persönlich begegnet oder ihren Namen im Kontext des Vortrags erfährt. Man kann den Namen freilich auch schnell wieder vergessen, denn die conteurs unterscheiden sich nur wenig voneinander, und man kann sie ohnehin nicht alle kennen. Im Erec-Prolog (um 1160) rühmt Chrétien sich selbst indes der besonderen conjointure seiner eigenen Erzählung, in der er âventiuren auf eine so hintersinnige Weise zusammenfügt, dass er dafür mit seinem Namen ›zeichnet‹. Zugleich schreibt er seine Dichtung auf oder lässt sie aufzeichnen. Man sieht hier seinen Namen verbunden mit einem neu etablierten Medium und einer charakteristischen, hervorstechenden Leistung, die sich abheben lässt von dem, was die namenlosen conteurs weitgehend unterschiedslos trieben. Chrétien ist sich dessen bewusst, er macht sein ›Autorbewusstsein‹ abhängig von einer Leistung, die ihn von den Trägern der Folklore abhebt. Noch wenn der vielleicht am meisten kunstbewusste mittelhochdeutsche Dichter, Konrad von Würzburg, im Prolog zu seinem Trojanerkrieg (nach 1280) sagt: von Wirzeburg ich Cuonrât / von welsch in tiutsch getihte / mit rîmen gerne rihte / daz alte buoch von Troye (V. 266–269),15 dann muss er mit dem kunstvollen erniuwen der sprachlichen und narrativen Form des alten Stoffs seine besondere Kompetenz gegen die Übermacht dieses Stoffs und seiner Geschichte verteidigen. Er stützt sich dazu immerhin auch schon auf eine besondere Begabung bzw. eine durch Gott verliehene Befähigung (V. 82–101).
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Konrad von Würzburg, Der trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten K. Frommanns u. F. Roths zum ersten Mal hg. durch Adelbert von Keller, Stuttgart 1858.
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Hier liegt ein bereits weit fortgeschrittenes Autorbewusstsein vor und Konrad hat denn auch allen Grund, seinen Namen zu nennen. Ein Platz für die Nennung des Verfassernamens in diesem Sinne musste im 12. und 13. Jahrhundert allerdings erst geschaffen und gesichert werden.16 Er findet sich nicht auf einem Titelblatt, sondern im Prolog oder Epilog als Einfassungen des Textes, die weitgehend gleichzeitig mit der Artikulation des Autorbewusstseins aufkommen.17 Im Ausnahmefall kommt auch ein Exkurs in Frage. Erst nachdem der Platz feststeht, kann ein Verfasser sich aus der auf diese Weise durch Konvention geregelten Onymität in die Anonymität zurückziehen. Dies gilt aber weitgehend auch nur für die Inselsituation der höfischen Literatur. Deshalb wäre es irreführend, für das Mittelalter grundsätzlich im gleichen Sinn von Anonymität zu sprechen wie für das 18. Jahrhundert. Vielmehr lässt sich im Großen und Ganzen als Differenz von Mittelalter und Moderne noch einmal festhalten: ›Anonymität‹ – im Sinne einer Nichtnennung des Verfassernamens – bildet dort (im Mittelalter) den unmarkierten und Onymität den markierten Fall; in der Moderne hingegen bildet Anonymität – im Sinne einer intendierten Anonymität – den markierten und Onymität den unmarkierten Fall. Die Verhältnisse haben sich damit verkehrt. Ich muss, wenn ich die Folklore als den kulturgeschichtlichen Untergrund von Literatur ansetze, auf den Umstand eingehen, dass sie immer schon und grundsätzlich ohne Verfasser- oder Urhebernamen umläuft und damit als anonym erscheinen könnte. Es verhält sich freilich einfach so, dass an Urheber nicht gedacht wird, wenn Folklore umläuft. Es gibt denn auch noch keinen Diskurs über die Folklore, in dem Verfassernamen ihren Platz hätten, sondern diese bildet an sich selbst einen Diskurs, bzw. Diskursformen der Vormoderne gestalten sich ursprünglich (auch) als Folklore. Wenn diese dabei nach Ursprüngen fragt, dann nicht im Sinne einer Frage nach namhaft gemachten schaffenden Einzelpersonen. Mit Folklore meine ich Volks›dichtung‹, Volkspoesie oder besser kleine (oder noch besser – und mit den Worten von André Jolles –: Einfache) Formen.18 Sie sind volkläufig, und das ist heute noch und wieder der Fall: Niemand weiß z. B. bei Witzen einen Verfassernamen zu nennen. Wenn ich sage ›wieder‹, dann ist natürlich an das Internet (›Wikipedia‹ usw.) zu denken, auf das der Begriff der Volkläufigkeit allerdings nicht
16
17 18
Und zwar gegen die – im Ausnahmefall auch bloß behauptete – Abhängigkeit von einem Stoff. Vgl. Joachim Bumke, »Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 116/1997, S. 87–114. Nach Bumke bemisst sich das Autorbewusstsein in der Regel an der Tätigkeit des Dichtens als eines Machens und In-ReimeBringens (S. 108f.). Entsprechend nennen die Verfasser sich selbst oft als tihtære. Vgl. Kurt Gärtner, »Zu den mittelhochdeutschen Bezeichnungen für den Verfasser literarischer Werke«, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter, hg. v. Elizabeth Andersen u. a., Kolloquium Meißen 1995, Tübingen 1998, S. 38–45. Den Prozess dieser Artikulation zeichnet Sonja Glauch nach. Vgl. dies., An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens, Heidelberg 2009, Kap. I. ›Einfache Formen‹ heißt im Anschluss an Jolles auch der Artikel von Hermann Bausinger in der Enzyklopädie des Märchens. Vgl. ders., »Art. Einfache Form(en)«, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 3, Berlin/ New York 1981, Sp. 1211–1226.
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Harald Haferland
mehr passt. Er ist eindeutig mit Mündlichkeit assoziiert. In der Mündlichkeit aber und in vielen Gattungen, die zumindest mündlichkeitsnah bleiben – Zaubersprüche, Gebete, Volkslieder, Sagen usw. – zeigt sich keinerlei Interesse für die Bewahrung von Namen. Mit der wissenschaftlichen Entdeckung der Folklore insbesondere durch Jacob und Wilhelm Grimm hat sich die später vielfach kritisierte ›romantische‹ Vorstellung Bahn gebrochen, dass das Volk als Kollektivsubjekt dichte oder, noch radikaler, dass Mythos, Sage und Epos sich selbst machten – wie sich die Sprache durch die Subjekte hindurch gewissermaßen selbst spricht. Jacob Grimm unterscheidet früh die Natur- oder Volkspoesie von der Kunstpoesie und sieht in dieser »eine Zubereitung, in der Naturpoesie ein Sichvonselbstmachen«.19 Ich setze hiergegen die schneidenden Worte von Friedrich Seiler aus seiner Deutschen Sprichwörterkunde: ›Das Volk‹ als Ganzes kann überhaupt nichts schaffen. Jede Schöpfung, Erfindung, Entdeckung rührt immer von einer Einzelpersönlichkeit her. Irgendwo und irgendwann muss jedes Sprichwort einmal zuerst ausgesprochen worden sein.20
Seiler dehnt den Gedanken der Kulturleistung hier auf jene ursprünglich ›anonym‹ bleibenden sprachlichen ȤȡȒȝĮIJĮ – auf Einfache Formen also – aus, die letztlich aber Schöpfern zu verdanken sein sollen. Auch wenn diese nicht mehr genannt würden, wären sie doch ursächlich für die Erzeugnisse. Nichts macht sich hiernach von selbst.21 Seiler hat denn auch die radikale Position einer eigenen Existenzform der Sprache mit Ablehnung bedacht: Auch das einfache Wort wird stets von einem gesprochen, um dann, wenn es gefällt und dem Sprachgeist entspricht, von vielen und vielleicht von allen Angehörigen der Sprachgemeinschaft nachgesprochen zu werden. Die Tätigkeit der Masse ist mithin nicht schöpferisch, sondern auswählend.22
André Jolles war nicht der Einzige, der sich an Seiler abgearbeitet hat,23 und ich will das auch noch einmal versuchen, obwohl ich meine, dass ihm grundsätzlich Recht zu geben ist. Denken wir aber an folgenden Fall: Es ist ein Unterschied, ob ich einmal im Wissen, dass Michail Gorbatschow dies in einer bestimmten historischen Situation gesagt hat und dass meine Gesprächspartner dies wissen, sage ›Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‹ (so die erst hierdurch in die Welt gebrachte deutsche Version eines russischen
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In einem Brief an Achim von Arnim vom 20. Mai 1811. Vgl. Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm, bearbeitet von Reinhold Steig, Stuttgart/Berlin 1904, S. 118. Vgl. zur Autopoiese von Natur- oder Volkspoesie Mark-Georg Dehrmann, »Philologische und dichterische Autorschaft. Epos, Lied und Märchen bei den Brüdern Grimm«, in: Das Potential europäischer Philologien. Geschichte, Leistung, Funktion, hg. v. Christoph König, Göttingen 2009, S. 240– 254, hier S. 241–246, zur Diskussion der Grimms mit Arnim ebd., S. 248f. Friedrich Seiler, Deutsche Sprichwörterkunde, München 1922, S. 19. Sicherlich böte es sich für eine moderne Theorie der Folklore an, an den sozialtheoretischen Begriff der Autopoiese anzuknüpfen. Seiler 1922 (wie Anm. 20), S. 21. André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 51974, S. 153f.
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Sprichworts); oder ob ich dies ohne ein solches Wissen sage und auch meine Gesprächspartner es nicht mehr wissen. Darin liegt der Unterschied zwischen einem – sei es auch in einer bestimmten Situation angewendeten – Zitat und einem Sprichwort. Das Zitat spreche ich so, dass die Partner sich auch an Gorbatschows Rede erinnern können, oder ich unterstelle, dass sie es können; das Sprichwort evoziert keinerlei Erinnerung dieser Art. Bei Sprichwort und Zitat wird man noch keinen großen Unterschied in der Wortlautbindung feststellen können, auch wenn diese hier ganz verschiedene Gründe hat: Das Zitat bewahrt den Wortlaut, damit man ihn wieder erkennen kann (oder weil man ihn nicht verändern darf), das Sprichwort ist geprägt, damit es leicht behalten werden kann. In beiden Fällen aber ist der Wortlaut weitgehend stabil. Der Unterschied vertieft sich allerdings, wenn man zu etwas umfänglicheren Sprachgebilden übergeht. Hier greift ›das Volk‹ mit weitreichenden Folgen ein, und die geographisch-historische Methode der Folkloreforschung hat sich deshalb genötigt gesehen, aus den gelegentlich hunderten belegten Varianten eines Rätsels, Märchens oder einer anderen Einfachen Form die Urform – durchaus noch im Sinne Seilers – herauszufinden. Antti Aarne hat dies etwa am Sphinxrätsel – bekannt ist es aus dem Ödipusmythos – vorgeführt (»Welches ist das Ding, das anfangs auf vier Beinen geht, dann auf zweien und zuletzt auf dreien?« Das Rätsel wird von einer am Wege sitzenden Königin gestellt, die denjenigen heiratet, der es löst, und den tötet, der es nicht löst).24 Man kennt den Urheber nicht, kann aber die Urform oder doch zwei Urformen der späteren Tradierung mit einiger Wahrscheinlichkeit rekonstruieren. Das Rätsel hat sich in zweieinhalb Jahrtausenden über Europa, Asien, Amerika und sogar Australien, über die ganze Welt also, verbreitet. Niemand hat sich dabei in dieser langen Zeit um die Urform bekümmert. Noch einmal: das Rätsel ist nicht anonym gewandert, sondern es ist einfach gewandert. Dabei haben seine Tradenten keineswegs nur auswählend gehandelt, sondern ihrerseits immer wieder eingegriffen. Man wird aber nicht jeden Eingriff als neue Urform behandeln wollen, also ist die ›Tätigkeit der Masse‹ sehr wohl auch schöpferisch, wenn auch – zugegeben – nur in einem gewissen Rahmen. Das Problem liegt in der Frequenz der Eingriffe und natürlich auch in der analytischen Perspektive: Will man die einzelnen Veränderungsstadien einzeln für sich bestehen lassen oder den Veränderungsprozess mit seinen vielen hundert Stufen als Ganzen erfassen? Noch radikaler stellt sich das Problem ja für die Sprache selbst: Niemand hat Zugriff auf die Billionen über Billionen von Äußerungen, die ein Wort in seiner Gebrauchsgeschichte durchläuft. Der alte Jacob Grimm – in seiner Schrift Über den Ursprung der Sprache aus dem Jahr 1851, und das heißt als einer der größten Gelehrten seiner Zeit und nicht mehr als romantischer Geist – hat hier an seinen Anfängen festgehalten: Die Sprache ist ihm eine »fortschreitende arbeit« und »nicht abgesondert da für einzelne menschen, sondern
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Antti Aarne, Vergleichende Rätselforschungen, Bd. 2, Helsinki 1919 (=FFC 28), S. 3–23. Sowohl das Rätsel und mehr noch die Rahmengeschichte sind erheblichen Veränderungen unterworfen.
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alle sprachen sind eine in die geschichte gegangene gemeinschaft«.25 Der junge Jacob Grimm hatte wiederholt betont, dass narrative Folklore »gleichsam unbewusst und von selbst« durch alle Völker hindurchgegangen ist,26 immer wieder auf dieselbe Weise in lokalen Kulturen auflebend. Dem lässt sich durchaus, wenn man einen entsprechenden Kollektivtradenten veranschlagen will, eine präzise Interpretation geben. Angenommen, drei Tradenten haben aufeinander folgend die Ausgangsform eines Textes verändert, wobei der dritte den ersten nicht mehr persönlich kennen gelernt hat: dann kann der dritte – der seinen Text vom zweiten hat – nicht mehr wissen, was der erste wollte oder welche Veränderungen von wem stammen oder wo überhaupt Veränderungen vorliegen. Deshalb wird er von vornherein nicht geneigt sein, Veränderungen überhaupt eine urheberbezogene Relevanz einzuräumen, auch wenn er sie dann selbst vornimmt. Dieser Vorgang lässt sich, wenn man die Fassung des dritten aufgreift, mit einem gewissen Recht ›unbewusst‹ nennen. Denn ein Bewusstsein der Änderungen läuft bei der Tradierung aus dem genannten Grund nicht mit. Die Tradenten sehen sich einer Kollektivform gegenüber, deren auf Einzelpersonen zurückgehenden intentionalen Gehalt sie nicht mehr rekonstruieren können. In lokalen Kulturen sind mit solchen ›Kollektivformen‹ deshalb grundsätzlich keine Namen verbunden, sie existieren namenlos (und nicht eigentlich anonym). An Namen macht man hier allenfalls Gründungsakte fest, die sich noch längst nicht auf sprachliche Gebilde erstrecken. Familiengründer haben noch das Vorrecht. So viel zur ›Anonymität‹ in der Folklore. Es kann nur dann sinnvoll von ihr die Rede sein, wenn man sie klar abhebt von einer Anonymität, wie sie erst ab dem Jahre 1500 möglich wird.
3.
›Anonymität‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters
Fast die gesamte frühmittelhochdeutsche geistliche und die frühe weltliche Dichtung des 11. und 12. Jahrhunderts ist ohne Verfassernamen überliefert (mit einigen Ausnahmen, darunter so spektakulären wie dem Ezzolied).27 Dies ist nicht den Unbilden der Überlieferung zuzuschlagen, sondern der Verfassername galt schon im Zuge der Textherstel-
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Jacob Grimm, Kleinere Schriften, hg. v. Karl Müllenhoff, Erster Band, Berlin 1864, S. 255–298, hier S. 276f. Wieder in einem Brief an Arnim (wie Anm. 19), S. 140. Siehe auch noch die Vorrede an Dahlmann zur Deutschen Mythologie aus dem Jahr 1835 (vgl. Jacob Grimm, Vorreden, Zeitgeschichtliches und Persönliches, hg. v. Eduard Ippel, Göttingen 1890, S. 148–171, hier S. 148f.), wo Grimm den Begriff der Zubereitung, den er ja für die Kunstpoesie reserviert hatte (s. o.), in seiner Anwendung auf Folklore bestreitet: »[...] zubereitet nennen dürfen wir nicht, was durch eine stillthätige, unbewusst wirksame kraft umgesetzt und verändert wurde«. Vgl. präzisere Hinweise bei Ernst Hellgardt, »Anonymität und Autornamen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der deutschen Literatur des elften und zwölften Jahrhunderts. Mit Vorbemerkungen zu einigen Autornamen in der altenglischen Dichtung«, in: Andersen 1998 (wie Anm. 16), S. 46–72 (vgl. S. 52f.: »Die gut 90 überlieferten Stücke der deutschen Literatur im elften und zwölften Jahrhundert sind zu einem großen Teil anonym überliefert. [...] Auf gut 90 Texte [...] kommen 20 Autorennamen«).
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lung nicht als nennenswert. Die gesamte Heldendichtung des Hoch- und Spätmittelalters ist ohne Verfassernamen überliefert (es gibt eine nicht erwähnenswerte Ausnahme: Albrecht von Kemenaten), daneben auch die Abenteuer- und Brautwerbungsepik, früher ›Spielmannsepik‹ genannt. Große Teile der Kleinepik, der Märendichtung, sind ohne Verfassernamen überliefert. Das gesamte geistliche Spiel und auch einige weltliche Spiele – als Vorform des Dramas – ist/sind ohne Verfassernamen überliefert. Die Reihe ließe sich noch fortsetzen, wenn man etwa an die spätmittelalterliche Lieddichtung, an große Teile der Legendendichtung und darunter besonders der aus dem Deutschen Orden sowie an anderes mehr denkt. Ja, die konstitutive ›Anonymität‹ mittelalterlicher Literatur läuft bis in die Zeit des Buchdrucks hinein, wenn man an so beliebte Lektüren wie den Ulenspiegel, das Lalebuch und den Fortunatus denkt, die indes schon Fälle des Übergangs zu einem neuen System der Literatur darstellen. Besonders prominente Einzelbeispiele aus den zuerst genannten Bereichen und Gattungen sind die Kaiserchronik, das erste weltliche Literaturwerk in deutscher Sprache überhaupt, das Nibelungenlied, der König Rother und Herzog Ernst, der Mauritius von Craûn, wenn man ihn denn gerade noch zur Kleinepik rechnen kann, das Donaueschinger Passionsspiel und das überaus umfangreiche Passional. Dagegen sticht aber die höfische Dichtung mit Roman und Lied auffällig ab. In den Prologen oder Epilogen der höfischen Erzähldichtung nennen sich die Dichter sehr häufig mit ihrem Namen, wenn es auch hier eine Reihe von Ausnahmen gibt. Zu den Minneliedern ist der Name ihrer adligen und hochadligen Verfasser ebenso häufig mit überliefert. Auszuklammern ist in diesem Zusammenhang generell die lateinische Dichtung, für die Ernst Robert Curtius gezeigt hat, dass die Nennung des Autornamens der weitaus häufigste Fall ist.28 Die lateinische Dichtung steht zusammen mit der antiken in einem literarischen Kontinuum, sodass die Frage nach der Anonymität hier zunächst auf die antike zurück zu beziehen wäre und eine gesonderte Betrachtung verlangt. So sind aber im Wesentlichen die Literaturverhältnisse im Mittelalter. Abgesehen vom Problem der fehlenden Verfassernamen sehe ich aber noch ein weiteres Problem: Auch die Texte/Werke haben zunächst oft keinen Namen, d. h. man konnte eigentlich gar nicht über sie sprechen, da man sich nicht auf sie beziehen konnte. Für Folklore ist dies selbstverständlich, da ihre ›Texte‹ selbst eine Art des Sprechens, ein Diskurs, sind und man in keiner Weise üb er sie spricht. Für ein Sprechen über Literatur bedarf es der Ausdifferenzierung einer diskursiven Metaebene. Namen für Texte gehören dann in den proprialen Bereich der Chrematonyma – die Objekte stellen sprach l iche Erzeugnisse dar. Das Problem ist alt: Die Namen Ilias (abgekürzt aus ݧ ݚȜȚȐȢ ʌȠȓȘıȚȢ, ›das ilische Gedicht‹) und Äneis (ganz analog abgekürzt aus ›das äneische Gedicht‹) sind abgeleitet vom Ort des Geschehens (bei Ilias von Ilion) bzw. von der Person im Zentrum des Geschehens (bei Äneis von Äneas). Texte mit Eigennamen zu bezeichnen ist aber alles andere als selbstverständlich. Geht man den Weg ihrer Derivation zurück, dann zeigt
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Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 81973, S. 503–505. Vgl. auch Paul Klopsch, »Anonymität und Selbstnennung mittelalterlicher Autoren«, in: Mittellateinisches Jahrbuch, 4/1967, S. 9–25.
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sich die dahinter stehende Wissenslogik: Ilion ist der Ort des Geschehens, ilisch ist sozusagen alles, was an diesem Ort geschieht (es geht hier vom proprialen in den appellativen Bereich), und von hier geht es wieder auf das spezifische Erzeugnis zu, das ilische Gedicht, das vom Geschehen an diesem Ort erzählt. Ganz entsprechend bei der Person des Äneas. Zuerst also stehen die Hauptgegenstände des Erzählens da, und von ihnen aus sucht sich die sprachliche Ableitung der Eigennamen für die zugehörigen Texte ihren Weg. Natürlich gibt es auch andere Derivationsformen. Ich wähle ein eigenartiges Beispiel aus dem Mittelalter: Hier können auch lateinische Gattungsnamen als Eigennamen der Texte dienen: Die Kaiserchronik bezieht sich auf ein buoch: geheizen ist iz crônicâ (V. 15–18),29 und Heinrich, der Dichter der Litanei, sagt: dizze gibet heizzit letanie.30 Gattungsbegriffe werden hier zu Textnamen. Das dürfte die ursprüngliche Verlegenheit der Titelbildung angesichts einer konstitutiven Titellosigkeit zeigen. Es bedarf einer zumeist schon gelehrten oder zumindest schulmäßigen Beschäftigung mit Texten, um überhaupt das Bedürfnis nach Eigennamen für sie zu verspüren. Und es gehört dann ein ausdifferenzierter Diskurs dazu, in den Texte und ihre Verfasser als Wissensbestandteile aufgenommen werden. Einen solchen Diskurs pflegt man im spätantiken und mittelalterlichen Lateinunterricht, wenn man in den Accessus ad auctores immer zuerst nach dem Leben eines mit Namen bekannten Autors (vita poetae) und dann nach dem Titel (titulus operis) fragt.31 Anders ist die Situation für die volkssprachliche Literatur, die bis in die Neuzeit hinein nicht im Schulunterricht vorkommt, sondern Gegenstand des (zunächst adligen) Vergnügens bleibt. Im Rahmen der höfischen Literatur ist es gleichwohl üblich, dass die Verfasser einander mit Namen nennen und das Publikum sie kennt. Die Verfasser tragen den literarischen Diskurs damit noch weitgehend selbst. Dennoch kann es schwierig werden, wenn sie sich auf Texte beziehen wollen. Kaum ein mittelhochdeutscher Dichter tut das zum Beispiel häufiger als Wolfram von Eschenbach im Parzival – es ist fast das ganze Spektrum der höfischen Literatur seiner Zeit. Dabei nennt er Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue und andere mehr, und wenn er Gottfried nicht nennt, dann ist klar, dass er seinen Namen ganz gezielt übergeht. Aber Wolfram nennt niemals einen Namen für die Texte! Er spricht von Enite, Laudine, Kurvenal usw., aber er kennt keine Namen der zugehörigen Texte. Ähnlich etwa auch Thomasin von Zerclaere, der im Wälschen Gast seinerseits nur Figurennamen aus der Artusdichtung nennt. Es gibt offenbar noch keine Namen für die Texte der höfischen Literatur. Wie hieß z. B. der uns so wohlbekannte Tristan? Über die Heidelberger Handschrift des Tristan hat eine fremde Hand (vielleicht noch im 13. Jahrhundert?) in ungelenker Schrift den Namen ›Tristrant‹ ge-
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Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. v. Edward Schröder, unveränderter Nachdruck der 1892 bei der Hahnschen Buchhandlung, Hannover, erschienenen Ausgabe, München 1984 (=MGH Deutsche Chroniken 1,1). Es ist nicht ganz klar, ob der Dichter mit diesen Worten und der Erwähnung eines buochs auf den eigenen Text zeigen will. Ich zitiere Heinrich Litanei nach Friedrich Maurer, Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts. Nach ihren Formen besprochen und hg. v. Friedrich Maurer, Bd. 3, Tübingen 1970, V. 945. Vgl. dazu Günter Glauche, Schullektüre im Mittelalter, München 1970.
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setzt.32 Hier wird das Bedürfnis nach einem Titel deutlich, aber es ist die Namensform aus Eilharts Tristrant, die durchaus unpassend herbeigezogen wird. Die Ableitung folgt im Übrigen der Logik, den Hauptgegenstand bzw. hier die Hauptfigur für den Text selbst stehen zu lassen. Wolfram und Thomasin nennen dagegen nur erst die Figuren, und die Verselbstständigung des literarischen Diskurses ist noch nicht so weit gediehen, dass sich die Notwendigkeit der hieraus hervorgehenden Titelbildung durchgesetzt hätte. Wir verdeutlichen solche Titel heute, indem wir in der Schreibung eine Hervorhebung (durch Kursivierung oder Anführungsstriche) hinzufügen – das zeigt übrigens den Nachteil einer solchen Ableitung im Gegensatz zu der genannten antiken Praxis.33 Ich ziehe hieraus die etwas zugespitzte Schlussfolgerung, dass es zunächst keinen Diskurs gab, in dem man über die Texte als Texte gesprochen hätte, sondern nur einen, in dem man über die Textinhalte sprach. Dazu nennt etwa Wolfram auch Verfassernamen. Die aber werden mit ihren Figuren kurzgeschlossen: mîn her Hartmann von Ouwe, / frou Ginovêr iwer frouwe [...] (Parzival 143,21f.)! Das ist eine ziemlich andere Situation, als sie für den heutigen Literaturbetrieb vorliegt, wo man Thomas Mann und den Dr. Faustus miteinander verbindet und nicht Thomas Mann und Dr. Faustus.34 Immerhin ändern sich die Verhältnisse im 13./14. Jahrhundert in diese Richtung, und Claus Wisse und Philipp Colin etwa können in ihrem sogenannten Rappoltsteiner Parzifal einen nuwen Parzefal von einem alten, dem von Wolfram nämlich, unterscheiden; außerdem unterscheiden sie einen welschen und einen tüzschen Parzefal.35 Es sind noch keine Anführungszeichen, die die Textnamen als Textnamen hervorheben, sondern die Pronomen – daneben auch die attributiven Adjektive – unterscheiden die Textnamen von den ohne Pronomen gebrauchten Personennamen. Soviel in Kürze zu den Namen der Texte. Abseits von der höfischen Literatur fallen nun aber öfter auch die Namen der Verfasser aus. Um ihre scheinbare Nichtbeachtung zu verstehen, sind zwei Umstände zu berücksichtigen, die so unvertraut wie trivial sind. Ich will hierfür einmal von einer Präponderanz der Gebrauchssituation sprechen, daneben aber von dem begrenzten zeitlichen Horizont der volkssprachlichen Literatur. Beides demonstriere ich knapp am Prolog der Kaiserchronik, dessen erste Verse lauten: In des almähtigen gotes minnen sô wil ich des liedes beginnen. daz scult ir gezogenlîche vernemen: jâ mac iuh vil wole gezemen
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Eine Abbildung vgl. in: Das Tristan-Epos Gottfrieds von Straßburg. Mit der Fortsetzung des Ulrich von Türheim. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. pal. germ. 360, hg. v. Wolfgang Spiewok, Berlin 1989, vor S. 29. Bei der Korrektur studentischer Hausarbeiten muss man die Unterscheidung regelmäßig einschärfen – Parzival und Parzival erscheinen nicht besonders eingängig differenziert, auch wenn vor den Parzival noch der bestimmte Artikel zur Verdeutlichung tritt. Natürlich stellt sich das für den geistlich-klösterlichen Bereich des Mittelalters und die in ihm tradierten Texte der Antike und der Kirchenväter ganz anders dar. Parzifal, von Claus Wisse und Philipp Colin (1331–1336). Eine Ergänzung der Dichtung Wolframs von Eschenbach. Zum ersten Mal hg. v. Karl Schorbach, Straßburg/London 1888, S. XIIIf.
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Harald Haferland ze hôren älliu frumichait. die tumben dunchet iz arebait, sculn si iemer iht gelernen oder ir wîstuom gemêren. die sint unnuzze unt phlegent niht guoter wizze, daz si ungerne hôrent sagen dannen si mahten haben wîstuom unt êre; unt wære iedoch frum der sêle. (Kaiserchronik, V. 1–14)36 [In der Liebe des allmächtigen Gottes / will ich das Lied beginnen. / Ihr sollt es auf anständige Weise anhören: / Es steht Euch gut an, / all diese vorbildlichen Taten zu hören. / Den Dummen ist es lästig, / wenn sie etwas lernen / oder ihr Wissen vermehren. / Die sind aber zu nichts gut / und nicht recht bei Verstand, / wenn sie etwas nicht anhören, / woraus sie / Weisheit und Ansehen erwerben könnten; / es würde der Seele allemal von Nutzen sein.]
Der Verfasser (einer wohl von mehreren) sagt ungezwungen ich und nennt sich nicht angestrengt in der dritten Person, wie es in Prologen und Einleitungen späterer Literatur meist der Fall ist. Ebenso ungezwungen spricht er irgendwelche Zuhörer mit ir an. Er hat seinen Text für eine Situation präpariert, in der er unmittelbar auf diese Zuhörer trifft; und wenn er davon spricht, dass er mit seinem Text – der im Übrigen als liet recht irritierend kategorisiert ist – beginnen will, dann ist nicht an die Aufzeichnung, sondern an den Vortrag gedacht. Genau dies meint ›Präponderanz der Gebrauchssituation‹: diese liegt dem Verfasser näher als der Augenblick der Niederschrift, der für Dichter in der Neuzeit mental in den Vordergrund tritt. Der Name muss nicht in den Text der Kaiserchronik hinein, die Vortragssituation hat das entschieden größere Gewicht. Und wenn der Dichter dann vor seinen Zuhörern sitzt, dann werden sie ihn schon irgendwie kennen (lernen), gegebenenfalls auch mit Namen. Dagegen: Literatur wird heute, und das schon seit ein paar Jahrhunderten, für eine Lektüre verfasst, die einsam stattfindet, wobei der Leser den Autor nicht mehr persönlich kennt37 – das ist einer der Gründe, warum es Titelblätter und bestimmte, noch weitergehende konventionelle Rahmungen für literarische Texte gibt (neue und wiederum konstitutiv ›anonyme‹ mediale Formen aus dem Zeitalter des Internets klammere ich aus meiner Betrachtung aus). Dies war vor dem Buchdruck nicht notwendig der Fall. Literatur wurde Hörern vorgelesen, gelegentlich sogar vom Autor/Verfasser selbst. Hier kommt es auf den zeitlichen Horizont und seine Stadien an, den/die ein Verfasser für seinen Text und dessen Lesung und eventuell auch noch Lektüre ab- und vorsah. Wenn er an ein langes Leben seines Textes über unterschiedliche Stationen hinweg gar nicht dachte und es nicht für möglich hielt, dass dieser überhaupt noch jemandem anderen in
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Vgl. zur zitierten Textausgabe wie oben (Anm. 29). Vgl. Müller 1997 (wie Anm. 13), S. 91: »[...] ein von seiner Sprecherinstanz abgelöster Text wendet sich an ein gleichfalls anonymisiertes Publikum«. Unglücklich ist hier die Rede von der Sprecherinstanz, wichtig der Hinweis auf die konstitutive Anonymisierung des Literaturbetriebs durch die Zwischenschicht des Mediums Buch.
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die Hände fiel, dann musste er sich auch nicht bemühen, seinen Namen im Text unterzubringen oder den Text durch irgendwelche quasi paratextuellen Einfassungen zu rahmen. Volkssprachliche Literatur hat aber oft einen derart beschränkten Zeithorizont (die frühmittelhochdeutsche Literatur ist oft genug nur unikal überliefert), dass es – wie bei der Kaiserchronik – nicht nötig schien, sie auf ein längeres Leben vorzubereiten und sich mit einem Namen ›einzuschreiben‹. »Namenssignatur im Text ist ein Bedürfnis, das bis heute im performativen Akt mit seiner Präsenzlogik nicht aufkommt.«38 Die Verfasser kamen deshalb gar nicht auf den Gedanken, sich einzuschreiben. Mit Anonymität hat das nichts zu tun, und dies ist vielmehr ein Grund, die Alterität mittelalterlicher Literaturverhältnisse in dieser Hinsicht in Rechnung zu stellen, allemal wenn sie konstitutiver Mündlichkeit noch nahe stehen: Unter den Bedingungen einer illiteraten Dichtungstradition kann es kaum das Bewußtsein einer Differenz zwischen Autor und Vortragendem geben. Im mündlichen Vortrag verkörpert der Vortragende das kollektive Gedächtnis seiner Hörer durch dessen je besonderen und aktuellen Vollzug. Es wird in seiner Person leibhaftig. Da man ihn aber kennt und vor sich hat, erübrigt sich seine namentliche Vorstellung für ihn selbst und für sein Publikum: Er ist, der er ist. Sein Name und seine Person werden nicht verschwiegen, verschlüsselt oder ignoriert. Sie sind auch ohne besondere Nennung schlicht gegenwärtig. Hier ist auch an die linguistische Beschaffenheit und kommunikative Funktion des Namens zu erinnern. Als Personenname dient er zur Bezeichnung einer Person in Unterscheidung von anderen in der Anrede oder in der dritten Person Singular bzw. Plural. Wo solche Unterscheidung nutzlos ist, wird der Name redundant, und sein Gebrauch kann ohne Schaden für die Kommunikation unterbleiben.39
Die erste Strophe des Nibelungenliedes lässt das Heraufholen der kollektiven Vergangenheit aus dem Sängergedächtnis in unmittelbarer Gegenwart des – nur für uns unbekannten – Sängers schön erkennen: er reiht sich dabei in die Rezipientengemeinschaft mit ein. Es heißt: Uns ist in alten mæren wunders vil geseit von helden lobebæren, von grôzer arebeit, von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen.40
Der Dichter/Sänger ist nur einer der Tradenten, die in langer Reihe bis ins 5./6. Jahrhundert zurückreichen. Irgendwann im 10. oder 11. Jahrhundert muss eine Umsetzung vom Stabreim in eine strophische Endreimdichtung erfolgt sein – ein recht einschneidender Eingriff, der eine Namensnennung hätte rechtfertigen können; vielleicht hat die Rolle des Bischofs Pilgrim von Passau im Lied damit zu tun: ein Passauer Bischof hätte gut den Auftrag zu einer solchen Umsetzung erteilen können, aber das lässt sich nicht mehr erhärten.
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Glauch 2009 (wie Anm. 17), S. 49. Hellgardt 1998 (wie Anm. 27), S. 50. Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch, hg. v. Helmut de Boor, 21. revidierte und von Roswitha Wisniewski ergänzte Auflage, Wiesbaden 1979.
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Heldendichtung knüpft in ganz anderer Weise an Gepflogenheiten der narrativen Folklore an, als dies in den anderen genannten Bereichen und Gattungen der Fall ist: Man übernimmt als Sänger eine solche Dichtung von anderen Sängern, und selbst wenn man weitergehend in den Wortlaut eingreift, kann man nicht meinen, etwas zu erzählen, was man selbst verantwortet. Auch schafft man nicht die sprachliche Form oder – wie Konrad von Würzburg (s. o.) – die Diktion, in der man den alten Stoff zur Geltung bringt. Dazu ist auch die gemeinschaftliche Überwachung zu groß: Heldendichtung ist anders als Stoffe aus anderen Sprachen und Kulturen weithin vertraut, die Leute benennen etwa ihre Kinder nach ihren Figuren und sie kennen die Form, in der solche Dichtungen daher kommen. Insofern dürfte es schon bedenklich erschienen sein, wenn der Vater der burgundischen Könige im Nibelungenlied nicht Gibiche (historisch Gibica), sondern Dancrat heißt,41 oder wenn an der altvertrauten Strophenform mit der Längung des letzten Halbverses etwas umgebaut wird. Die Dichter des Nibelungenliedes – ›die‹, weil man eine Vorgängerfassung aus dem Lied noch klar erschließen kann, wenn natürlich auch nicht ihre konkrete Sprachgestalt – waren also am Gängelband. Keineswegs aber waren sie anonym, wenn sie vortrugen. Nun ist es aber doch auffällig, dass der Name des letzten Dichters der ab 1200 massiv auftretenden Fassungen des Nibelungenliedes von keiner Seite genannt wird. Gottfried von Straßburg ist z. B. nicht mehr dazu gekommen, seinen Namen in den Fragment gebliebenen Tristan zu setzen, und doch kennt u. a. Rudolf von Ems ihn später sehr wohl (Alexander, V. 3139–3170). Und ähnlich in einer Reihe von weiteren Fällen.42 Es scheint, dass Heldendichtung im Umfeld der höfischen Dichtung doch mit dem Nimbus der Anonymität auftritt.43 Von keiner Seite fallen je die Namen der Tradenten, während sich darunter höchst umfangreiche und z. T. in den höfischen Reimpaarvers gebrachte Dichtungen befinden. Gleichwohl ist auch hier Anonymität kein markierter Zustand: Die Dichter treten einfach hinter dem geschichtlichen Gehalt ihrer Dichtungen und deren Tradierungsform zurück, man zeigt kein Interesse für sie und respektiert den absoluten Vorrang des kollektiv tradierten Inhalts. Im Sinne meines den vorhergehenden Abschnitt einleitenden Zitats von Gerhard Söhn gibt es also keine Anonymität in der Vormoderne, und im Mittelalter gibt es noch keine intendierte Anonymität, wie sie spätestens ab dem 18. Jahrhundert sehr verbreitet ist. Dagegen stehen nur sehr vereinzelte Ausnahmen, die in keiner Weise typisch sind. Man erkennt sie daran, dass die Dichter ausdrücklich betonen, sich nicht nennen zu
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Stellen im Vorwort zur Thidrekssaga und in der mhd. Klage (hier V. 4328f.) zeigen, dass fehl laufende oder abweichende Tradierung auch wahrgenommen und gegebenenfalls korrigiert werden kann. Wobei es aber immer wieder auch Gegenbeispiele gibt und man z. B. den Namen des vielleicht berühmtesten mittellateinischen Dichters, des Archipoeta, nirgendwo greifen kann. Dies will Otto Höfler, »Die Anonymität des Nibelungenliedes«, in: Zur germanisch-deutschen Heldensage. Sechzehn Aufsätze zum neueren Forschungsstand, hg. v. Karl Hauck, Darmstadt 1965, S. 330–392, als Gattungsgesetz veranschlagen, was der Gattung allerdings ein zu großes Gewicht einräumt.
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wollen.44 Sie suchen also die Anonymität. Hier lässt sich der Karlmeinet anführen (eine Anfang des 14. Jahrhunderts auf der Basis älterer Vorlagen entstandene Kompilation von Karlsdichtungen), dessen Dichter im Prolog sagt: Dye dat boich hat gedicht Van vrantzois in duytz geschricht, Hey woulde sich gerne nennen, Vp dat yr en mochtet kennen; Mer yd duncket yn eyn baich syn; Anders dede hey yd uch schyn Synen namen offenbare. (Karlmeinet, V. 9–15)45 [Der, der das Buch vom Französischen ins Deutsche gebracht hat, würde sich gern nennen, damit Ihr ihn kennen könntet. Aber es erscheint ihm als Prahlerei, ansonsten würde er Euch seinen Namen offen mitteilen.]
Danach bringt er ein bisher nicht aufgelöstes Buchstabenspiel, in dem sich sein Name verbergen soll. Auffällig ist im Kontext der höfischen Literatur immerhin der Fall des Minne- und Aventiureromans Flore und Blanscheflur (um 1230). Hier sagt der Dichter im Epilog: er seite gerne sînen namen, durch daz, ob er sich nande, daz man in erkande ze liebe und ze guote: dô wart im des ze muote, ez wære bezzer geswigen. durch daz in valsche liute iht zigen daz erz durch ruom tæte, ob er sich genennet hæte. (Flore und Blanscheflur, V. 7998–8006)46 [Er würde gern seinen Namen nennen, / damit man ihn, wenn er es täte, / auch zu schätzen wisse: / da besann er sich / und schwieg lieber, / damit Verleumder nicht behaupten konnten, / dass er sich wichtig tun wolle, / wenn er sich genannt hätte.]
Man kennt den Dichternamen, Konrad Fleck, aus zweiter Hand (u. a. wieder aus dem Alexander Rudolfs von Ems, V. 3240). Die Verweigerung der Selbstnennung folgt hier wie im Karlmeinet dem Bescheidenheitstopos, der aus der lateinischen Literatur bekannt ist.47 Gelegentlich versteht der Topos sich allerdings auch aus der Gattung. Wenn es der
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Das ist etwa für eine Dichtung wie den Reinfried von Braunschweig nicht der Fall, wo der Dichter ausführlich und geradezu autobiographisch über sich spricht und doch nicht erkennen lässt, warum er seinen Namen nicht nennt. Karl Meinet, Zum ersten Mal, hg. v. Adelbert von Keller, Stuttgart 1858. Flore und Blanscheflur. Eine Erzählung von Konrad Fleck, hg. v. Emil Sommer, Quedlinburg/ Leipzig 1846. Vgl. Julius Schwietering, Die Demutsformel mittelhochdeutscher Dichter, Berlin 1921, S. 26ff. (auch zu den genannten Beispielen).
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Dichter des Passional im Schlussgebet seines Prologs ablehnt, sein Dichten nur um des Lobes durch die Hörer und Leser willen in Angriff zu nehmen, so dürfte er auch die Selbstnennung aus eben diesem Grunde verweigern. Das ist aber in einer Legende und in der Hinwendung auf Gott keineswegs fernliegend. min herze sich nu keret an dich, vil lieber herre got! ich la nicht abe durch dekeinen spot; ich grife nicht zu durch loben [...] (Passional, S. 6,2–5)48 [Mein Herz richtet sich nun / auf Dich, lieber Herrgott! / Ich gebe (mein Dichten) nicht infolge von Spöttereien auf, / ich nehme es nicht in Angriff um des Dichterruhms willen (...)]
In einer Legende oder Legendensammlung nämlich kann es als Demut gegenüber Gott angezeigt erscheinen, sich weltlicher Ehre zu entziehen. Die (eher seltene) Befolgung der Forderungen dieses Bescheidenheits- und Demutstopos dürfte den einzigen Fall darstellen, in dem für die volkssprachliche Literatur des Mittelalters rechtmäßig von Anonymität gesprochen werden kann. In Betracht ist dabei noch ein Fall von scheinbarer Anonymität zu ziehen, wenn nämlich ein Name nur versteckt genannt wird. Akrosticha oder verwandte Buchstabenspiele machen in der Regel über Besonderheiten der Schreibung – abgesetzte Buchstaben, Großbuchstaben, Rubrizierung oder andere Arten der Hervorhebung – auf sich aufmerksam und sind dann leicht auflösbar, oft auf einen Blick; aber gelegentlich sind sie auch so verrätselt, dass es Mühe bereitet, sie zu erkennen: so bereits, wenn die relevanten Buchstaben sich nicht alle auf einer Blattseite befinden. Ebernand von Erfurt etwa will seinen Namen nicht preisgeben; aber er tut es dann doch, indem er seinen Lesern am Ende seiner Legende von Heinrich und Kunegunde den Schlüssel mit an die Hand gibt: Nû hân ichz allez vollenbrâht. wan einez hân ich noch erdâht: will ieman frâgen mêre: ›wer was der tihtêre?‹ ich enphlige mich niht nennen, geruocht ir mich erkennnen enwelt irs niht erwinden, alsus muget irz vinden: ist der leser kluoc hât er an kunste die gevuoc, er lese die houbtbuochstabe von êrst wan an daz ende herabe, damite die verse erhaben sind, er ensî dan genzlîch ein kint, den namen vindet er lîhte,
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Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts, hg. v. Karl Köpke, Quedlinburg/Leipzig 1852, Nachdruck Amsterdam 1966. Zum Demutsmotiv vgl. auch Schwietering (wie Anm. 47), S. 31f.
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ez saget im daz getihte: die buochstabe machent wort von êrst biz an des endes ort: sus mag er vinden mînen namen. al muoz ich mich ein lutzel schamen. (Heinrich und Kunegunde, V. 4445–4464)49 [Nun bin ich fertig (mit meiner Dichtung). / Nur eines habe ich mir überlegt, / wenn jemand noch nachfragen wollte: / ›Wer war der Dichter?‹: / Ich möchte mich nicht nennen, / wenn ihr aber nicht davon abstehen wollt, / meinen Namen in Erfahrung zu bringen, / so findet ihr ihn folgendermaßen heraus: / Wenn der Leser klug ist / und wenn er sich nur geschickt genug anstellt, / so soll er die Initialen ansehen, / vom Anfang an bis zum Schluss des Buchs, / die jeweils am Versanfang stehen. / Wenn er sich nicht ganz dumm anstellt, / so findet er leicht meinen Namen, / das Gedicht gibt ihn preis: / Die Buchstaben bilden, hintereinander gelesen, Wörter, / vom Anfang bis zum Ende; / so kann er meinen Namen finden. / Dann habe ich allerdings Grund zur Scham.]
Auf diese Weise kann Ebernand das Bescheidenheitsgebot einhalten und doch seinen Namen lancieren. Wer sich die Mühe nicht machte, ihn zu finden, für den blieb Ebernand anonym. John L. Flood hat für solche im Mittelalter und noch in der Renaissance recht häufigen Fälle verdeckter und versteckter Autorschaft den Spieltrieb verantwortlich gemacht.50 Mitunter scheint auch geradezu ihre Eitelkeit Autoren zu veranlassen, Leser auf eine verwickelte Namensuche zu schicken.51 Freilich ließ sich, wie man an Ebernand sieht, durchaus auch das konventionelle Motiv der Bescheidenheit und Demut damit verbinden.
4.
Autorschaft, Pseudonymität, Anonymität
Anonymität im eigentlichen Sinne gibt es erst, nachdem es Autorbewusstsein und Autorschaft in so nachdrücklicher Form gibt, dass es angezeigt erscheint, den Autornamen in einen Text zu setzen oder mit ihm zu verbinden (der Fall der Onymität). Ein in einer lokalen Kultur geäußerter alltagssprachlicher Satz wie ›Das hat XY gesagt‹ verbindet nur eine Aussage mit einer Person, die unabhängig von dieser Aussage bekannt ist. Manchmal – wie im Fall von ›Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‹ – bleibt das Wissen, wer der Urheber ist, implizit und muss nicht versprachlicht werden. Es ist auch keine besondere Leistung, dies gesagt zu haben, sondern es liegt eine denkwürdige Situation zugrunde. Wenn sich dieses Verhältnis nun aber umkehrt und man zu einer Aussage oder eben einem Text den Namen einer nicht schon unabhängig von diesem Text bekannten Person setzt, hat man Umstände, die auch ein hinreichendes Bewusstsein einer Urheber- oder Autorschaft erfordern sowie das Interesse, sie genannt zu bekommen. Wie
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Ebernand von Erfurt, Heinrich und Kunegunde. Zum ersten Male nach der einzigen Handschrift hg. v. Reinhold Bechstein, Quedlinburg/Leipzig 1860, Nachdruck Amsterdam 1968. John L. Flood, »Offene Geheimnisse. Versteckte und verdeckte Autorschaft im Mittelalter«, in: Andersen u. a. 1998 (wie Anm. 16), S. 370–396, hier S. 396. Floods Aufsatz versammelt eine nahezu erschöpfende Fülle von Beispielen. Ebd., S. 395f.
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schon gesagt, treten solche Umstände beim Erzählen von Witzen niemals ein. Das ändert sich u. a. mit dem Grad der Kunstfertigkeit von sprachlichen Erzeugnissen und ihrer endgültigen Lösung aus dem beschränkten Horizont lokaler Kulturen. Damit einher geht eine Expansion des diskursiven Universums. Der Begriff des Werks meint ursprünglich die mit körperlichen Mitteln ausgeführte Handlung oder Arbeit, dann auch die Handarbeit. In dieser Bedeutung trifft man auf den Begriff etwa bei Wirnt von Grafenberg, der eine descriptio einer kostbaren Spange liefert und ihre kunstvolle Anfertigung dann allerdings auf seine sprachliche Beschreibung abzieht: daz vürspan was ein edel stein, der doch drîer varwe schein. daz ein teil ein smâragde was grüener danne dehein gras; ein saphir was des andern schîn; daz dritte ein edele rubin: zwêne lewen und ein ar. alsus hât gemeistert dar nâch dem wunsche ditze werc mit worten Wirnt von Gravenberc. (Wigalois, V. 10567–10576)52 [Die Spange war ein Edelstein / der aus drei verschiedenfarbigen Teilen bestand. / Ein Teil war ein Smaragd, / grüner als Gras; / ein Saphir war der andere; / der dritte war ein Rubin: / zwei Löwen und einen Adler (stellten die Teile dar). / So hat dieses Werk nach allen Regeln der Kunst mit Worten Wirnt von Grafenberg angefertigt.]
Hier sticht die unmittelbare Nähe von Kunstfertigkeit und Autornennung ins Auge, auch wenn die descriptio der Spange in diesem Fall so kunstvoll nicht ist. Wirnt dürfte als Topos voraussetzen, dass Kunstbeherrschung für die Anfertigung einer descriptio vonnöten ist,53 und er kann auch deshalb mitten im Text seinen Namen lancieren, weil er eine Leistung, ein Produkt, ein werc – die Spange und ihre Beschreibung –, vorzuweisen hat. Nicht vor dem 18. Jahrhundert bildet sich der Begriff des literarischen Werks heraus, das einen Fingerabdruck oder eine individuelle Signatur des Autors in der literarischen Welt darstellt und an dem er persönliche Rechte hat. Sie beziehen sich darauf, dass das definite Werk von einem infiniten Wirken des Autors zwar zu unterscheiden, aber letztlich nicht zu trennen ist..54 Es ist das Genie des Autors, aus dem das Wirken hervorgeht, das sich in einem Werk manifestiert. Ein handwerkliches Kunstprodukt kann der gedichtete Text indes schon lange vorher sein55 und mittelalterliche Dichterkatalo-
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Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text, Übersetzung, Stellenkommentar. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach u. Ulrich Seelbach, Berlin/New York 2005. Vgl. zur Gründung des topischen Zusammenhangs bei Heinrich von Veldeke Glauch 2009 (wie Anm. 17), S. 57 und 321. Ich zitiere hier Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn u. a. 1981, S. 15. Im Rahmen einer Inspirationsbitte, Gott möge seine Wunderzeichen an ›diesem Werk‹ (thesemo
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ge versammeln Dichter als Könner – und nicht als Künstlerexistenzen. Der Autorname wird in der höfischen Literatur seit dem 12. Jahrhundert in diesem Sinne an das Werk eines Könners geheftet.56 Der Autor tritt damit aus der Namenlosigkeit und Unbekanntheit heraus, mehr nicht. Mit seinem Namen verbindet sich nicht das Mysterium eines Dichterlebens,57 man schreibt ihm nicht ein außerordentliches Genie zu, dessen Ausdruck man im Werk sieht; nichts verbindet sich weiter mit der Namensnennung, als dass sie erfolgt und das ›Werk‹ eben ein Kunstprodukt ist, das vom Genannten gemacht wurde.58 Deshalb liegt es nicht nahe, dass der Autor gleich schon wieder in die Anonymität abtaucht. Es ist noch nicht lange genug her, dass er sich überhaupt zu nennen wagte. Heinrich von Veldeke ist »der erste Epiker, der sich nicht mehr als Pfaffe bezeichnet«59 und der »zugleich zum Ursprung und ersten Namen einer mittelalterlichen deutschen ›Literaturgeschichte‹ wird: er muss seinen Namen anders gebraucht haben«60, anders als eben die Pfaffen. Er muss »in einer zuvor nicht gekannten Weise unter seinem Namen aufgetreten und seine Leistung als eine persönliche vertreten haben«61. Er kann sich auf ein außerordentliches Interesse an seiner Dichtung berufen – man stiehlt ihm sein Manuskript (vgl. den Eneasroman, V. 13419–13490) – und ein im höfischen Kontext nahezu schlagartig präsentes säkulares Autorbewusstsein demonstrieren. Der Autor entsteht hier mit seinem Publikum, für das er unterstellen kann, dass es an seinem Werk interessiert ist und es zu schätzen weiß, auch wenn er selbst nicht anwesend ist und vielleicht nicht einmal mehr unter den Lebenden weilt. Denn er hat sein Werk für den speziellen Geschmack dieses Publikums zurechtgemacht. Konrad von Würzburg wird gut hundert Jahre später zusätzlich eine besondere Begabung für das Dichten ansetzen (s. o.). Autorname und literarische Leistung verankern hier den literarischen Diskurs. Er kann den Autor überleben – die verstorbenen Autoren der höfischen Dichtung werden denn auch im 13. Jahrhundert immer noch und wieder genannt. Der Zeithorizont der Rezeption volkssprachlicher Literatur, die nun überhaupt erst zur Literatur geworden ist, hat sich geöffnet. Dies lässt etwa Wernher der Gartenaere in den letzten Versen seines Helmbrecht deutlich erkennen:
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werke, gemeint ist das Gedichtete) wirken, kommt der Werkbegriff schon in Otfrids Evangelienbuch III 1,10 vor. Vgl. auch Jan-Dirk Müller, »Aufführung – Autor – Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion«, in: Mittelalterliche Literatur im Spannungsfeld zwischen Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997, hg. v. Nigel F. Palmer/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1999, S. 149–166, hier S. 157. Immerhin hat gerade Wirnt von Grafenberg Anlass zu einer Dichterlegende in Konrads von Würzburg Der Welt Lohn geboten. Vgl. entsprechend auch Erich Kleinschmidt, »Autor und Autorschaft im Diskurs«, in: Autor – Autorisation – Authentizität, hg. v. Thomas Bein/Rüdiger Nuth-Kofoth/Bodo Plachta, Tübingen 2004, S. 5–16, hier S. 5f. Wie vor ihm der phaffe Chunrât, der das Rolandslied, und der p(h)affe Lamprecht, der das Alexanderlied dichtete. Glauch 2009 (wie Anm. 17), S. 56. Ebd., S. 54.
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Harald Haferland Swer iu ditz mære lese bitet daz im got genædic wese und dem tihtære der heizet Wernher der Gartenære. (Helmbrecht, V. 1931–1934)62 [Erbittet für den, der Euch diese Geschichte vorlesen wird, die Gnade Gottes, und erbittet sie für den Dichter: der heißt Wernher der Gärtner.]
Der Name des Dichters verdient vor einem Zeithorizont genannt zu werden, der über das persönliche Leben des Dichters hinausreicht. Dieser sieht den Vortrag als ein von ihm selbst abgerücktes künftiges Ereignis und denkt gleich an den Jenseitslohn, auch für den Vorleser. Hierfür muss aber der Name des Dichters bewahrt werden. Hinter einem persönlichen Auftritt zu einer Lesung kann ein Dichter sich nicht verstecken, und wo die Lesung sich von ihm entfernt, dort muss er seinen Namen für das künftige Publikum dem Text einschreiben und so aufbewahren. Verstecken kann der Dichter sich dann erst – vom Pseudonym abgesehen – hinter einem Titelblatt, dem Ort, der ab 1500 im Prinzip denn auch zum Ort eines Versteckspiels werden kann. Als Vorgängerform hierfür kann allenfalls die leere Namensangabe gelten, so wenn jemand sich etwa ›Niemand‹ nennt.63 Auf einem Titelblatt kann man dann falsche Angaben machen oder Angaben einfach aussparen. Intendierte Anonymität kommt auch deshalb zustande, weil sich ein Medium zwischen Autor und Rezipient schiebt, das als Informationsfilter und/oder -sperre dienen kann.64 Das gilt natürlich schon für die verdauerte Schrift auf einem lokomobilen Schriftträger, ohne dass dieses Potential gleich gezielt ausgenutzt würde. Man muss erst wissen, wo üblicherweise das Namensschild angebracht wird. Mit der Möglichkeit eines Versteckspiels über eine nicht genutzte Stelle auf dem Titelblatt aber bilden sich Motive heraus, tatsächlich Versteck zu spielen. Es muss nicht bei bloßer Bescheidenheit und Demut bleiben. Gründe indes, einen anderen Namen als den eigenen zu nennen, gibt es bereits in dem Augenblick, in dem der Name überhaupt irgendwo genannt wird. Wenn man nicht schon einen bekannten Namen hat, leistet man einer positiven Aufnahme seines Textes gegebenenfalls keinen guten Dienst mit der bloßen Nennung des eigenen unbekannten Namens. Das gilt zumindest dann, wenn es bekannte Namen gibt. Aus diesem Umstand
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Wernher der Gartenaere, Helmbrecht. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung, hg., übersetzt und mit einem Anhang versehen von Helmut Brackert/Winfried Frey/Dieter Seitz, Frankfurt a. M. 1972. Das tut der Verfasser der Drei Mönche zu Kolmar im letzten Vers (V. 404) seines Mære. ›Leere‹ bzw. nicht-eigentliche Verfassernamen wie ›der Freudenleere‹ oder ›der Unverzagte‹ begegnen gelegentlich im Mittelalter und dürften nach ihrer Machart auf einen Aspekt der Lebensform der Verfasser zurückgehen. Auch in der Neuzeit begegnen sie: der Autor (Julius Langbehn) der populären Schrift Rembrandt als Erzieher (Leipzig um 1890) lässt auf das Titelblatt ›Von einem Deutschen‹ setzen. Vgl. Söhn 1974 (wie Anm. 10), S. 125. Vgl. dazu auch Jan-Dirk Müller, »Jch Vngenant und die leüt. Literarische Kommunikation zwischen mündlicher Verständigung und anonymer Öffentlichkeit in Frühdrucken«, in: Der Ursprung von Literatur, Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650, hg. v. Gisela Schmolka-Koerdt u. a., München 1988, S. 149–174.
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heraus entsteht schon die antike Pseudepigraphie. Selbst Götternamen werden noch herbeigezogen, um einen Text auf besondere Weise zu autorisieren und ihm so Geltung und Wirkung zu verschaffen.65 Daneben aber greift man zu den Namen schon bekannter Autoren, um zum Teil mediokre Schriften unter prominenter Flagge segeln zu lassen. Und zwar tun dies die unbekannten Verfasser selbst. Auch im Mittelalter ist ein Pseudonym kein unbekannter Name, der nur dazu herhalten soll, den eigentlichen Verfassernamen zu verschweigen, sondern es wird ein bekannter hergenommen.66 Öfter wird etwa Wolfram als Autor ausgegeben. Besonders sticht hier der Jüngere Titurel hervor, dessen Verfasser, Albrecht, sich über Tausende von Strophen hinweg mehrere Male Wolfram nennt und Wolframs Fragment gebliebenen Titurel mit in seinen Text aufnimmt. Offenbar trägt ein Mäzen die Mitverantwortung dafür, dem Autorbewusstsein Albrechts keinen Raum zu gestatten. Das Projekt versprach mehr Erfolg mit der Nennung Wolframs als Autor. Aber als Albrecht sich neue Förderer suchen muss, rückt er mit seinem Klarnamen doch noch heraus, was keineswegs zu seinem ursprünglichen Plan gehört haben dürfte.67 Das nötigt ihm denn auch noch eine Rechtfertigung ab: Ich Albrecht niemen swache, daz ist mir immer wilde. wer der von eschenbache von himel chomen her in engels bilde mit flugen, svnnen var von got bechront, sin edel hoh getihte kvnd ich mit lob niht richer han bedonet.68 [Ich, Albrecht, setze niemanden herab, / das ist mir gänzlich fern. / Wäre der von Eschenbach (sc. Wolfram) / vom Himmel in der Gestalt eines Engels herabgekommen / mit Flügeln, mit einem Strahlenkranz, / so könnte ich seine unübertreffliche Dichtung / mit Lob nicht angemessener in Worte gefasst haben (als ich es getan habe).]
Albrecht will seine eigene Nennung nicht als Abwertung Wolframs verstanden wissen. Aber da er nun einmal einen Förderer finden muss, muss er mit seiner wahren Identität heraus. Das zeigt auch, dass man jenseits eines engeren mäzenatischen Kreises leicht hinter einem Text verschwinden konnte.
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Speyer 1971 (wie Anm. 7), S. 46. Vgl. dazu auch Schwietering 1921 (wie Anm. 47), S. 32–36. Solche Umstände legt vor allem die Strophe 5961 nahe, in der Albrecht sich innerhalb des überlieferten Textes zum ersten und einzigen Mal mit seinem eigenen Namen nennt und berichtet, ein in Deutschland weithin bekannter Fürst habe ihm seine Unterstützung entzogen. Vgl. den Abdruck des unabhängig vom Jüngeren Titurel überlieferten sogenannten Verfasserfragments bei Erich Petzet, »Über das Heidelberger Bruchstück des Jüngeren Titurel«, in: Sitzungsberichte der philos.-philolog. und der hist. Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Jahrgang 1903, München 1904, S. 287–320, auf S. 292–297 (die zitierte Strophe hier auf S. 295). Nach Petzet hatte Albrecht die Strophen des Fragments zur Werbung um Ludwig den Strengen als Förderer vorgesehen, indes keinen Erfolg gefunden, sodass er seine Dichtung auf eigene Faust fortführen musste und das Fragment aus dem übrigen Text ausgliederte.
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Die Auflösung eines Pseudonyms gegen Ende eines Textes – wie z. B. hier im Jüngeren Titurel – macht dabei auf einen Umstand aufmerksam, der heute eher unvertraut ist: Ein Text liegt im Mittelalter nicht gleich schon als ganzer vor. Es kann mehrere Jahre dauern, bis er fertig gedichtet ist, und er kann vorher unvollständig zirkulieren. Selbst wenn er einem Vorleser vollständig vorliegt, liegt auch nicht gleich ein Wissen über den Verfasser und seinen Namen vor. Ein Vorleser muss sich gegebenenfalls über eine Reihe von Lesungen hinweg bis zur ersten Namensnennung voranarbeiten, ohne diese Stelle vorher schon zu kennen. Nennt sich also ein Verfasser erst im Epilog, so kann er für eine lange Reihe von Lesungen ›anonym‹ bzw. unbekannt bleiben, wenn der Vorleser sich nicht im Vorhinein in den Text eingearbeitet hat. Es müsste denn sonst ein von einem Diskurs getragenes einher laufendes Wissen der Autorschaft bei einem literaturkundigen Publikum zum Zuge kommen, was bei weniger bekannten Verfassern schwerlich gewährleistet war. Ich möchte mit einem einzigen Hinweis auf neue Umstände für die Freisetzung intendierter Anonymität in der Literatur enden. Der 1521 im Rahmen der Reformation und des sich schon länger ankündigenden Bauernkriegs anonym erscheinende Karsthans ist ein frühes Beispiel für eine Partei- und Tendenzschriftstellerei, die besser daran tut, den Autornamen nicht auszuweisen. Nur so entgeht der Autor obrigkeitlicher Repression und den Nachstellungen der Gegenpartei(en). Selbstschutz ist nur ein Motiv aus der Fülle der sich in den folgenden Jahrhunderten ausfaltenden Motivationen, hinter einem Titelblatt zu verschwinden.
Cordula Kropik
Formen der Anonymität in mittelhochdeutscher Liedüberlieferung
So lange ein Lied gesungen wird, ist die Frage nach seinem Autor nicht relevant. Denn ein Lied gehört weniger dem, der es verfasst, als vielmehr dem, der es singt. Zwar kann es durchaus mit einem Namen verbunden sein, doch tritt der Autor dabei stets hinter den Sänger zurück. Das gilt auch und gerade dann, wenn er mit diesem identisch ist: Im Gesangsvortrag hört man vielleicht einen Sänger, der seine Lieder selbst verfasst hat, kaum aber einen Autor, der seine Lieder selbst singt. Wahrscheinlicher ist es dann schon, dass man allein den Sänger hört und dabei überhaupt nicht auf die Idee kommt, nach dem Autor zu fragen. Wo man aber nicht nach dem Autor fragt, da gibt es im eigentlichen Sinne auch keine Anonymität. Gesungene Lieder sind entweder die Lieder eines bestimmten Sängers (auch wenn sie ein anderer singt) – oder es sind Lieder, die jeder singen kann und die deshalb allen gehören. Die Frage nach dem Autor eines Liedes stellt sich erst, wenn es verschriftlicht ist. Dann nämlich verschwindet der Sänger im Text. Dort fristet er sein Dasein gewissermaßen als Schatten seiner selbst, als textinterne Instanz, deren Sprechgestus nur noch auf eine Stelle hindeutet, die nun verwaist ist. Bleibt diese Stelle leer, wird der Text anonym. Doch auch wenn sie mit einem Namen gefüllt wird, referiert der Name nicht mehr in erster Linie auf einen Sänger, sondern auf den Autor des Textes: Weil das verschriftlichte Lied nicht mehr von der körperlichen Präsenz des Sängers dominiert wird, tritt die Frage nach dem Verfasser in den Vordergrund. Nun ist es nicht mehr der (dichtende) Sänger, der im Lied spricht, sondern der (singende) Autor, oder besser gesagt, die Imagination eines Autors. Das Lied gehört nicht mehr dem, der es singt, sondern dem, der es gemacht hat; es scheint nicht mehr die Gedanken und Gefühle des Sängers, sondern die des Autors auszudrücken.1 In diesem Sinne ist zwar nicht der Autor in seiner Funktion als Urheber des Textes, wohl aber der Name des Autors in seiner Funktion für den Text ein Produkt der Verschriftlichung. Ernst Hellgardt beschreibt den Vorgang so: Der Name zeigt in seiner schriftlichen Aufzeichnung die Ablösung des Autors und seines Werkes von der aktuellen Vortragssituation an. [...] Erst mit dem Übergang des Werks in die Schriftlichkeit erhält die Autornennung einen literarisch-kommunikativen Sinn: Die genannte Person wird für den Leser oder Hörer als nicht-gegenwärtiger Autor des Werkes identifiziert.2
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Stellvertretend für die Forschung zu diesem Themenkomplex verweise ich hier nur auf den material- und gedankenreichen Aufsatz von Rüdiger Schnell, »Vom Sänger zum Autor. Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs«, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450, hg. v. Ursula Peters, Stuttgart/Weimar 2001 (=Germanistische SymposienBerichtsbände XXIII), S. 96–149. Ernst Hellgardt, »Anonymität und Autornamen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in
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Die Verschriftlichung ist somit Voraussetzung für Anonymität u n d Autorschaft eines Liedes. Welche der beiden Optionen jeweils gewählt wird, hängt von den spezifischen Bedingungen der Verschriftlichung und Überlieferung sowie von den Interessen der Texttradenten ab. Ich möchte dieses Bedingungsgeflecht hier am Beispiel der mittelhochdeutschen Lieddichtung untersuchen, die im vorliegenden Kontext deshalb besonders interessant ist, weil sie als eine der ersten Gattungen das Autorprinzip in der Volkssprache konsequent durchgeführt, ja geradezu zur Norm erhoben hat.3 Wie wohl keine andere macht sie daher deutlich, dass »der Autor [...] eine Instanz der mittelhochdeutschen Überlieferung [ist]«.4 Die große Anzahl anonymer Liedaufzeichnungen, die der autorbezogenen Überlieferung vorausgehen, sie begleiten und ablösen, führt indessen zugleich vor Augen, dass »die Anwendung des Autorprinzips prekär bleibt«.5 Diesem letzten Typus, der anonymen und anonymisierten Überlieferung, soll hier das Hauptaugenmerk gelten. Da er nicht ohne Rücksicht auf seinen autorbezogenen Gegentyp untersucht werden kann, soll zuvor ein kurzer Blick auf diesen geworfen werden.
1.
Autorbezogene Überlieferung
Die Konstitution des Autorprinzips in der Lyriküberlieferung vollzieht sich in den großen Liederhandschriften des ausgehenden 13. und des beginnenden 14. Jahrhunderts.
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der deutschen Literatur des elften und zwölften Jahrhunderts. Mit Vorbemerkungen zu einigen Autornamen der altenglischen Dichtung«, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. v. Elisabeth Andersen/Jens Haustein/Anne Simon/Peter Strohschneider, Tübingen 1998, S. 46–72, hier S. 61. Zu Anonymität und Autorschaft in mittelhochdeutscher Literatur vgl. auch Thomas Bein, »Zum ›Autor‹ im mittelalterlichen Literaturbetrieb und im Diskurs der germanistischen Mediävistik«, in: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, hg. v. Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko, Tübingen 1999 (=Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71), S. 303–319. Allgemein: Jan-Dirk Müller, »Anonymität«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Harald Fricke u. a., Bd. 1, Berlin u. a. 1997, S. 89–92. Dazu bes. Burghart Wachinger, »Autorschaft und Überlieferung«, in: Autortypen, hg. v. Burghart Wachinger, Tübingen 1991 (=Fortuna vitrea 6), S. 1–28. Helmut Tervooren, »Die Frage nach dem Autor. Authentizitätsprobleme in mittelhochdeutscher Lyrik«, in: Dâ hœret ouch geloube zuo. Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. Beiträge zum Festcolloquium für Günther Schweikle anlässlich seines 65. Geburtstages, hg. v. Rüdiger Krohn, Stuttgart/Leipzig 1995, S. 195–204, hier S. 204. Hierzu auch Rüdiger Schnell, »›Autor‹ und ›Werk‹ im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven«, in: Neue Wege der Mittelalter-Philologie, hg. v. Joachim Heinzle/L. Peter Johnson/Gisela Vollmann-Profe, Berlin 1998 (=Wolfram-Studien 15), S. 12–73. Ausführlich zum Autorverständnis mittelhochdeutscher Lyrik Thomas Bein, ›Mit fremden Pegasusen pflügen‹. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie, Berlin 1998 (=Philologische Studien und Quellen 150). Franz-Josef Holznagel, »Typen der Verschriftlichung mittelhochdeutscher Lyrik vom 12. bis zum 14. Jahrhundert«, in: Entstehung und Typen mittelalterlicher Lyrikhandschriften, hg. v. Anton Schwob/András Vizkelety, Bern 2001 (=Jahrbuch für internationale Germanistik: Reihe A, Kongressberichte; 52), S. 107–130, hier S. 120.
Formen der Anonymität in mittelhochdeutscher Liedüberlieferung
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Die Kleine Heidelberger Liederhandschrift (A, um 1270), die Weingartner Liederhandschrift (B) und die Manessische Liederhandschrift (C, beide Anfang des 14. Jahrhunderts) sammeln die lyrische Überlieferung des 12. und 13. Jahrhunderts systematisch und zeichnen sie nach Dichtern geordnet auf. B und C ergänzen die den jeweiligen Œuvres vorangehenden Namenssignaturen durch meist ganzseitige, gerahmte Dichter›porträts‹, machen sich also buchstäblich ein Bild vom Autor. Dabei verstehen sie die Namen offenkundig nicht nur als Ordnungsprinzip, sondern verbinden sie mit einer Autorfigur von durchaus historischem Anspruch. Die Autoren werden durch Wappenabbildungen und Standessymbole sozial und historisch verortet und durch ›biographische‹ Details auch inhaltlich mit den Texten in Verbindung gebracht.6 Diese Darstellungsweise wirkt umso erstaunlicher, wenn man versucht, die mündliche Vorgeschichte der Lieder und die Umstände ihrer Verschriftlichung nachzuvollziehen:7 Sie sind meist weder mit Verfassersignaturen versehen noch in irgendeiner Weise gegen Variation und Umdichtung geschützt. Im Grunde genommen konnte sich also jeder eines Liedes bemächtigen, es modifizieren und als sein eigenes aufführen. Hinzu kommt, dass die überlieferten Handschriften bis zu 150 Jahre nach dem Entstehen der Lieder datieren – das Wissen ihrer Hersteller über die Autoren und deren Werk wird dementsprechend dürftig, der Textverlust hoch und die Zuschreibung unsicher gewesen sein. Nicht zu vergessen ist schließlich auch, dass die autorbezogene Aufzeichnung genuin mündlicher Kleinformen um 1300 alles andere als selbstverständlich war. Gattungen wie novellistische Erzählungen, Reden oder Exempel bleiben bis ins 16. Jahrhundert hinein anonym. Dass dies gerade bei der Lieddichtung anders ist,8 deutet auf ein von Anfang an außerordentlich großes Interesse an den Autoren hin. Es scheint, als sei schon der Liedvortrag sehr eng an die Person der Sänger gebunden gewesen – die Lieder Walthers
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Zu diesem Komplex – wiederum stellvertretend für die umfangreiche Forschung: Franz-Josef Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik, Tübingen 1995 (=Bibliotheca Germanica 32), bes. S. 49–88. Zu den Handschriften bes. auch Gisela Kornrumpf, »Heidelberger Liederhandschrift A«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3/1981, Sp. 577–584; dies., »Heidelberger Liederhandschrift C«, in: ebd., Sp. 584–597, dies., »Weingartner Liederhandschrift«, in: ebd., Bd. 9/1995, S. 809–817. Ergänzend hingewiesen sei hier auch auf das Budapester und das Naglersche Fragment. Beide bezeugen um 1300 entstandene bebilderte Liederhandschriften von demselben Sammeltyp wie B und C. Vgl. dazu Lothar Voetz, »Überlieferungsformen mittelhochdeutscher Lyrik«, in: Codex Manesse. Die Große Heidelberger Liederhandschrift. Texte – Bilder – Sachen, Katalog zur Ausstellung vom 12. Juni bis 2. Oktober 1988 UB Heidelberg, hg. v. Elmar Mittler/Wilfried Werner, Heidelberg 1988, S. 245–250; Gisela Kornrumpf, »Budapester Liederhandschrift«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 11/2004, Sp. 305–307. Dazu der klassische Aufsatz von Hugo Kuhn, »Die Voraussetzungen für die Entstehung der Manessischen Handschrift und ihre überlieferungsgeschichtliche Bedeutung«, in: ders., Liebe und Gesellschaft (=Kleine Schriften Bd. 3), hg. v. Wolfgang Walliczek, Stuttgart 1980, S. 80–105 und 189–193. Vgl. zum Folgenden auch Bein 1999 (wie Anm. 2), bes. S. 306f., Wachinger 1991 (wie Anm. 3), bes. S. 2–14. Wachinger erwägt sogar, »ob die Liedüberlieferung« bei der Autornennung »etwa eine Vorreiterrolle gespielt haben könnte«. Vgl. ders. 1991 (wie Anm. 3), S. 7.
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von der Vogelweide oder Reinmars des Alten blieben also die Lieder Walthers oder Reinmars, auch wenn sie von jemand anderem gesungen wurden. Wie es zu der andauernden Präsenz im Bewusstsein des Publikums kam, ist im Einzelfall schwer zu erklären. Anzunehmen ist aber, dass außer der Popularität der Sänger vor allem das ausgeprägte Profil des im Lied sich aussprechenden Ich sowie das in den Texten immer wieder apostrophierte künstlerische Selbstbewusstsein eine Rolle gespielt haben dürften.9 Die Sänger inszenieren sich als Sprecher der höfischen Gesellschaft, als Experten der höfischen Liebes- und Liedkunst und insofern als Autoritäten, die den Idealen, dem kulturellen Anspruch und dem Lebensgefühl der höfischen Gesellschaft repräsentativ und gültig Ausdruck verleihen.10 Da die Verbindung mit diesen Autoritäten den Liedern einen höheren Geltungsanspruch verschafft haben dürfte, erscheint es plausibel, dass sie unter deren Namen weitergesungen und schließlich auch aufgezeichnet wurden. Und wie auch immer diese Aufzeichnungen ausgesehen haben mögen – sie oder Abschriften von ihnen gehörten zu den Quellen von A, B und C, oder doch zumindest zu den Quellen ihrer Vorlagen: Die Abhängigkeitsverhältnisse der überlieferten Handschriften weisen darauf hin, dass es ältere autorbezogene Sammlungen gegeben haben muss.11 Die Konstanz der Namenstradition hat indes noch eine andere Voraussetzung. Es musste ein Konzept von Autorschaft entwickelt werden, das die Funktion der höfischen Vortragskünstler für das Selbstverständnis der Gattung ins schriftliche Medium übertrug. Die Handschriften notieren ja eine Liedüberlieferung, die schon zum Zeitpunkt ihrer Aufzeichnung großenteils nicht mehr gesungen wurde und die auch nicht mehr für die Aufführung bestimmt war.12 Der Wandel vom Sänger zum Autor wird in den Bildern von B und C am unmittelbarsten sichtbar. Dort findet man die Dichter nur selten diktierend, schreibend oder öffentlich vortragend, dafür aber häufig in lyrischer Kommunikation mit einer höfischen Dame. Offenbar verschmilzt hier die einstmals reale Aufführungssituation mit dem Inhalt der Lieder: Der Sänger, der dem höfischen Publikum von seiner Liebe berichtet, wird zum höfisch Liebenden, der für seine Dame dichtet.13 Die
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Dazu Kuhn 1980 (wie Anm. 7), S. 84f.; Wachinger 1991 (wie Anm. 3), S. 12f.; Holznagel 1995a (wie Anm. 6), S. 53–57. Zur Bestimmung von Autorität als Glaubwürdigkeit, Ansehen, »öffentliche Normierungs- und Beweiskraft«: L. Calboli Montefusco/S. Z., »Auctoritas«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1/1992, Sp. 1177–1185, hier Sp. 1178. Das Verhältnis von auctor und auctoritas im Mittelalter und die Etablierung der Autornamen in der höfischen Epik erhellt Joachim Bumke, »Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik«, in: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte, hg. v. Helmut Tervooren/Horst Wenzel, Sonderheft der ZfdPh 116/1997, S. 87–114, bes. S. 101–109. Kuhn 1980 (wie Anm. 7), S. 92–95; zusammenfassend zu den Vorstufen Holznagel 1995a (wie Anm. 6), S. 208–256. Überlieferungsgeschichtliche Bedeutung hat in diesem Kontext insbesondere das Budapester Fragment, weil es, anders als das Naglersche Fragment, nicht durch ein direktes Abhängigkeitsverhältnis, sondern über gemeinsame Vorstufen mit C verbunden ist. Vgl. dazu Voetz 1988 (wie Anm. 6); Kornrumpf 2004 (wie Anm. 6). Burghart Wachinger, »Liebeslieder vom späten 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert«, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. v. Walter Haug, Tübingen 1999, S. 1–29, hier S. 8f. Schnell 2001 (wie Anm. 1), S. 110–115; vgl. auch Holznagel 1995a (wie Anm. 6), S. 83f.
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Autorität als Sprecher der höfischen Gesellschaft leitet sich mithin nicht mehr aus dem Singen, sondern aus dem Leben des Dichters ab – einem Leben, das freilich aus dem Werk heraus konstruiert wird und das insofern mit dem historischen Sänger nichts mehr zu tun haben muss. Dass hier gewissermaßen das Werk den Dichter und die Autorität den Autor erschafft, erhellt auch aus der Aufnahme einiger »dubioser« Autoren in A und C,14 deren ›Œuvres‹ hauptsächlich Strophen anderer Autoren enthalten. Es handelt sich dabei, wie Hugo Kuhn bemerkt, um »offenbar ursprünglich anonyme Liedersammlungen, die auf dem Weg von der Vorlage [zu den uns überlieferten Handschriften] geradezu fahrlässig mit einem ›Autor‹-Namen überdeckt wurden«.15 Besonders augenfällig ist dieser Vorgang im Fall von Niune, der seinen Namen der zählenden Anordnung eines Sammlers zu verdanken scheint.16 Ob es sich bei dieser ›Nr. 9‹ um das Repertoireheft eines fahrendes Spielmannes, um ein schriftlich notiertes Minnesang-Florilegium oder um das Ergebnis eines komplexen Umgestaltungsprozesses der Vorlage handelte, sei dahingestellt.17 Sicher ist jedenfalls, dass die Sammler und Redakteure der Handschriften den Namen nicht unter ihre Autoren aufgenommen hätten, wenn dessen Wirkung von der Erinnerung an eine bestimmte Sängerpersönlichkeit abgehangen hätte. Vor diesem Hintergrund erklärt sich letztlich auch der »Drang, die ganze verfügbare Liedtradition dem Autorprinzip zu unterwerfen«.18 Der Status der Lieder als exklusive Kunstform der adeligen Laiengesellschaft liegt nun nicht mehr im höfischen Rahmen der Aufführung, sondern in der imaginierten Person des Autors begründet. Deshalb muss ein Corpus höfischer Lieder mit dem Namen eines Autors verbunden werden, der dem Anspruch seines Werks gerecht wird. Hier erscheint nicht mehr die durch den SängerAutor praktizierte Liedkunst, sondern vor allem der Autor selbst als Repräsentant der höfischen Gesellschaft. Dieser ebenso kurze wie schematische Abriss mag genügen, um die Herausbildung der Autorfunktion in der Liedüberlieferung des 13. Jahrhunderts anzudeuten. Erkennbar geworden sein dürfte, dass der Wandel vom Sänger zum Autor ebenso wie die spezifische Gestaltung von Autorschaft zum einen vom Prozess der Verschriftlichung, zum anderen von den künstlerischen, kulturellen und sozialen Ansprüchen der Textproduzenten und -tradenten abhängt. Erkennbar geworden sein dürfte außerdem, dass Autorschaft ein ganz besonderes Mikroklima braucht, um sich entwickeln und erhalten zu können. Wendet man den Blick von hier aus zur anonymen Liedüberlieferung, so liegt es zweifellos nahe, das Fehlen der Autornamen mit der Abwesenheit eines solchen Mikroklimas zu erklären. Wenn Autorschaft unter den Voraussetzungen bewusst gestalteter Schriftlichkeit, individueller künstlerischer Leistung und höfischer Repräsentationskultur gedeiht, dann scheint Anonymität umgekehrt mit der Nähe zur (kollektiven) Münd-
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Ebd. S. 57. Kuhn 1980 (wie Anm. 7), S. 93. Ebd. Günther Schweikle, »Niune«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon Bd. 6/1985, Sp. 1169; Holznagel 1995a (wie Anm. 6), S. 108f.; Gisela Kornrumpf 1981a (wie Anm. 6), Sp. 581f. Kuhn 1980 (wie Anm. 7), S. 94.
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lichkeit, mit künstlerischer Anspruchslosigkeit und niedrigem sozialen Milieu assoziiert zu sein. Es bedarf indes keiner langen Überlegung, um diesen Rückschluss zwar nicht als rundweg falsch, aber doch als unzureichend zu erkennen. Denn Anonymität lässt sich nicht rein negativ erklären. Ebenso wie Autorschaft kann auch sie bewusst gesetzt sein, erfüllt auch sie im jeweiligen Zusammenhang bestimmte Funktionen und ist auch sie an ihren literarhistorischen Kontext gebunden. So fällt schon beim ersten Hinsehen auf, dass synchron zur globalen Entwicklung mittelhochdeutscher Liedüberlieferung auch verschiedene Typen von Anonymität auftreten. Die vom Ende des 12. bis ins 14. Jahrhundert entstandenen Textzeugnisse haben offenkundig einen anderen Charakter als die des 15. und 16. Jahrhunderts. Damit verbunden ist ein Wechsel des dominanten Typus. Während in der ersten Phase das Autorprinzip vorherrscht, tritt es in der zweiten Phase zurück und Anonymität wird zur Regel.19 Ich werde im Folgenden die wichtigsten Typen von Anonymität in der Liedüberlieferung beschreiben, wobei es mir weniger auf eine systematische Untersuchung aller Textzeugen als um die Darstellung von Entwicklungsbedingungen und die Einordnung in verschiedene Gebrauchskontexte geht.
2.
Inhaltsbezogene Überlieferung
Ich wende mich zuerst der Liedüberlieferung bis ca. 1350 zu, die sich ganz wesentlich dadurch auszeichnet, dass ihre Autoren meist nicht prinzipiell unbekannt sind. Es gibt aus dieser Zeit relativ wenige anonyme Textzeugen, denen nicht an anderer Stelle ein Autorname zugeordnet wird oder deren Autoren sich nicht wenigstens erschließen lassen.20 Den Liedern dieser Phase geht die Funktion ›Autor‹ demnach nicht generell ab; sie ist nur in bestimmten Kontexten nicht vorgesehen oder gefährdet. Der wichtigste dieser Kontexte ist die thematisch-sachorientierte Überlieferung, die von Anfang an als Alternative neben dem Typus der Autorsammlung steht.21 Prominent vertreten wird sie von der Handschrift der ›Carmina Burana‹ (um 1225/30), in der vor allem mittellateinische, aber auch verstreute deutsche Lieder und Liedstrophen in thematische Abteilungen geordnet werden.22 Dass sich bis auf zwei nachträgliche
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Vgl. dazu den Überblick von Franz-Josef Holznagel, »Mittelalter«, in: Geschichte der deutschen Lyrik, Stuttgart 2004, S. 11–94; sowie die grundlegenden Untersuchungen von Horst Brunner, »Tradition und Innovation im Bereich der Liedtypen um 1400. Beschreibung und Versuch einer Erklärung«, in: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg 1.–4. April 1979, hg. vom Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten, Berlin 1983, S. 392–413; ders., »Das deutsche Liebeslied um 1400«, in: Gesammelte Vorträge der 600-Jahresfeier Oswalds von Wolkenstein, Seis am Schlern 1977, hg. v. Hans-Dieter Mück/Ulrich Müller, Göppingen 1978 (GAG 206), S. 105–146. Überblicke zur (anonymen) Überlieferung dieses Zeitraums bieten Lothar Voetz 1988 (wie Anm. 6), S. 224–274; Bein 1998 (wie Anm. 4), S. 221–234; Holznagel 2001 (wie Anm. 5). Vgl. auch Franz-Josef Holznagel, »Formen der Überlieferung deutschsprachiger Lyrik von den Anfängen bis zum 16. Jahrhundert«, in: Neophilologus 90/2006, S. 355–381. So schon Kuhn 1980 (wie Anm. 7), S. 90f. Auf die moralisch-satirischen Dichtungen folgen Lieder mit Liebes- und Klagethematik sowie
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Vermerke23 hier keine Autornamen finden, gehört offensichtlich zum Programm. Das thematische Ordnungsprinzip macht den Namen des Autors nicht nur überflüssig; es würde durch ihn sogar unliebsame Konkurrenz erfahren. Auffällig ist, dass der anonyme Überlieferungsmodus hier mit einer gewissen Nähe zur Aufführung verbunden ist. Der Codex Buranus ist teilweise mit linienlosen Neumen versehen, hinzu kommen unter anderem optische Verzierungen und gestikbetonte Illustrationen, die die musikalische und theatralische Umsetzung des Textes erleichtern.24 Anders als die vorrangig als Lesebücher konzipierten Autorsammlungen A, B und C ist er mithin nicht nur, aber zumindest auch als Aufführungsbuch gedacht, nicht als repräsentative Summe einer vergangenen Ära elitärer höfischer Liedkunst, sondern als »Partitur« einer lebendigen Spiel- und Aufführungspraxis.25 Die Nähe zur Aufführung unterscheidet den Codex Buranus von einer anderen Art thematisch orientierter Liedüberlieferung, die sich vor allem in Form kleinerer und größerer Abschnitte in gattungsübergreifenden Mischhandschriften, aber auch in den Anhängen von Lyrikhandschriften findet.26 Charakteristisch für sie ist ein Zugriff, dem es »mehr auf inhaltliche Akzente als auf große Quantitäten oder auf die Kodifizierung einer mit Dichternamen verbundenen Tradition ankam.«27 Ihr geht es also nicht um das Sammeln und Ordnen ganzer Gattungsverbünde, sondern um eine begründete Auswahl. So vereinigt etwa der Typus der Minnesangflorilegien jeweils unter einem bestimmten Gesichtspunkt vor allem Anfangsstrophen und Kurzfassungen von Minneliedern, daneben finden sich thematisch definierte Sangspruchkollektionen und Zusammenstellungen geistlicher Lieder.28 Bei einigen dieser Sammlungen erstreckt sich das inhaltliche Interesse auch gattungsübergreifend über weitere Strecken der Handschrift. Als Beispiel sei hier auf die Lyrikkollektion des sog. ›Rappoltsteiner Parzifal‹ (um 1335) verwiesen, die nicht nur direkte thematische Parallelen zu Prolog und Epilog der Handschrift, sondern auch enge Bezüge zum Text des ›Parzival‹ herstellt und die darüber hinaus an einer
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Trink- und Spielerlieder; als vierter Abschnitt steht eine Sammlung geistlicher Spiele. Dazu allgemein: Günter Bernt, »Carmina Burana«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 1/1978, Sp. 1179–1186. Detaillierter zu den Anlageprinzipien und dem Verhältnis zwischen deutschen und lateinischen Strophen: Burghart Wachinger, »Deutsche und lateinische Liebeslieder. Zu den deutschen Strophen der Carmina Burana« (zuerst 1981), in: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung, hg. v. Hans Fromm, Bd. 2, Darmstadt 1985 (=WdF 608), S. 275–308. Es handelt sich um Ergänzungen zu zwei nachgetragenen Liedern des Marners: vgl. Bernt 1978 (wie Anm. 22), Sp. 1180. Dazu im Detail: Hedwig Meier/Gerhard Lauer, »Partitur und Spiel. Die Stimme der Schrift im ›Codex Buranus‹«, in: Aufführung und Schrift in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Jan-Dirk Müller, Stuttgart/Weimar 1996 (=Germanistische Symposien Berichtsbände 17), S. 31–47, hier S. 38–43. Ebd., S. 31 u.ö. Holznagel 2001 (wie Anm. 5), S. 115–120. Franz-Josef Holznagel, »Minnesang-Florilegien. Zur Lyriküberlieferung im Rappoltsteiner Parzifal, im Berner Hausbuch und in der Berliner Tristan-Handschrift N«, in: Dâ hœret ouch geloube zuo. (wie Anm. 4), S. 65–88, hier S. 82. Holznagel 2001 (wie Anm. 5), S. 115f.
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Schnittstelle der Handschrift der Gliederung dient.29 Die Anonymität ergibt sich demnach hier aus der Funktion der Strophen in der Gesamtkonzeption der Handschrift: Sie trägt zur inhaltlichen Profilierung und zur schriftliterarischen Integration der Einzeltexte in ein kohärentes minnenbuoch bei.30 Ähnliche Bezüge zur handschriftlichen Umgebung lassen sich auch in einer Reihe von Einschüben und Nachträgen einzelner Strophen nachweisen.31 Wie eng die Verbindung mit den umliegenden Texten sein kann, illustrieren besonders nachdrücklich jene deutschen Zeilen, die am Ende des ›Tegernseer Liebesbriefes‹ IV.1 inseriert worden sind, um die lateinischen Ausführungen der Briefschreiberin zusammenzufassen.32 Dabei werden die Formtypen von lateinischer Prosa und deutschem Vers ebenso wie die Ausdruckskonventionen der lateinischen Gelehrten- und der deutschen Volkskultur so weit einander angeglichen, dass die germanistische Forschung sich über ein Jahrhundert lang nicht über den Status der Zeilen einigen konnte: Du bist mîn, ich bin dîn – das »älteste Liebesgedicht in deutscher Sprache«33? Oder doch »nur [...] Zeilen in Reimprosa«34? Ausdruck volkstümlicher Naivität oder vom Hohelied inspirierte Brautmystik?35 Obwohl man inzwischen mehrheitlich davon ausgeht, dass wir hier kein authentisches Liebeslied vor uns haben, macht der Fall dennoch deutlich, dass Elemente volkssprachlicher Lyrik gezielt für die Aussageintention lateinischer Texte dienstbar gemacht werden können. Dass es sich hierbei vielleicht um einen extremen, aber keineswegs um einen Einzelfall handelt, erhellt aus dem Überlieferungskontext einiger Strophen, die man in ›Des Minnesangs Frühling‹ ebenfalls unter den namenlosen findet.36 So stehen die Strophen Namenlos I-III thematisch passend in einer kleinen Sammlung lateinischer Verse über die Verachtung des Weisen; Namenlos IV, eine Aufforderung, gegen das Übel in der Welt vorzugehen, bezieht sich als Anhang auf Sallusts ›Bellum Iugurthinum‹ und Namenlos V bildet »eine Art volkssprachige[n] Kommentar« zum superbia-Thema seiner lateinischen Umgebung.37 Nimmt man diese Beispiele zusammen, so erscheint die inhaltlich-thematisch gebundene Überlieferung als typischer Fall eines Diskurses ohne Autor-Funktion.38 Dabei übernimmt der Inhalt jene Aufgaben, die sonst der Autor erfüllt. Er dient als Ordnungs-
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Holznagel 1995b (wie Anm. 27), bes. S. 74–78; vgl. auch Bein 1998 (wie Anm. 4), S. 225. Vgl. auch Bumke 1998 (wie Anm. 10), S. 87–95. Mit Belegsammlung: Holznagel 2001 (wie Anm. 5), S. 109–113. Jürgen Kühnel, »Dû bist mîn. ih bin dîn«. Die lateinischen Liebes- (und Freundschafts-)briefe des clm 19411 , Göppingen 1977 (=Litterae 52), S. 68–78. So Kühnel in Zusammenfassung der älteren Forschung: Ebd., S. 28. Franz Josef Worstbrock, »Tegernseer Liebesbriefe«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 9/1995, Sp. 671–673, hier Sp. 672. Vgl. Friedrich Ohly, »Du bist mein, ich bin dein. Du in mir, ich in dir. Ich du, du ich« (zuerst 1975), in: ders., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung, hg. v. Uwe Ruberg/Dietmar Peil, Stuttgart 1995, S. 145–175, bes. S. 147f. Zum Folgenden Holznagel 2001 (wie Anm. 5), S. 109–111. Ebd., S. 111; Voetz 1988 (wie Anm. 6), S. 237–242. Michel Foucault, »Was ist ein Autor?«, in: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd 1, hg. v. Daniel Defert/François Ewald, Frankfurt a. M. 2001, S. 1003–1041, bes. S. 1015ff.
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prinzip, bildet den Fokus des Sammelinteresses, verbindet Texte zu größeren (Werk-) Einheiten oder stellt kommentierende Bezüge zwischen Texten her.39 Auf diese Weise werden Redezusammenhänge konstituiert, deren Kernfrage nicht lautet: ›wer spricht?‹, sondern: ›worüber wird gesprochen?‹ Die Anonymität der Texte erklärt sich so aus der spezifischen Zentrierung des Diskurses. Daneben scheint die Nähe zur Mündlichkeit zwar als weiterer Faktor auf, doch darf sie angesichts der sorgfältig konzipierten Schriftlichkeit aller hier anvisierten Überlieferungsträger nicht als essentiell gelten, und der übernächste Abschnitt wird zeigen, dass sie in einen anderen Kontext gehört.
3.
Überlieferung mit verlorenem Autor
Vom Diskurs ohne Autor-Funktion grenzt sich unter den Liedaufzeichnungen bis ca. 1350 eine Gruppe ab, die gewissermaßen nur äußerlich anonym ist – man könnte sie als Überlieferung mit unsichtbarem oder verlorenem Autor bezeichnen. Typisch für diese Gruppe ist, dass sie zwar Strophen nach dem Autorprinzip sammelt, aber keine Namen nennt. Warum sie dies unterlässt, ist im Einzelfall nicht immer nachzuvollziehen. In einer Reihe von Fragmenten, die ohne Namensangabe Strophen und Lieder einzelner Dichter vereinigen, liegt die Vermutung nahe, dass die Namen im Lauf der Überlieferung verloren gegangen sind: Sie mögen einst Teile größerer Autor-Sammlungen gewesen sein, deren Signaturen mit dem Rest der Handschriften verschwunden sind.40 Schwerer einzuordnen sind die anonymen Nachtragsschichten der Liederhandschriften A und B. Deutlich ist nur, dass das Autor- und Werkprinzip des Grundstocks hier mit einem thematischen Sammelinteresse gemischt und durch die Aufnahme von Einzelstrophen aufgeweicht, nicht jedoch gänzlich aufgegeben wurde. Beide Nachträge bieten kleine, aber kohärente Strophencorpora verschiedener Dichter, in denen wohl Autorsammlungen verwertet sind, die während der Arbeiten am Grundstock noch nicht greifbar waren.41 Möglicherweise sind sie nur deshalb nicht signiert, weil es sich nicht um Œuvres im Sinne der Handschriftenkonzeption handelt, möglicherweise ging man auch davon aus, dass die Autoren bekannt waren. Der letztgenannte Fall liegt mit einiger Sicherheit bei einer Reihe von Handschriften vor, die entweder ausschließlich oder in einem größeren Abschnitt Werke eines einzigen Autors sammeln: Im Kontext des Münchner Wolfram-Codex cpg 19 war ein Hinweis auf die Autorschaft der beiden angehängten Tagelieder sicherlich ebenso wenig nötig wie in der Heidelberger Reinmar-vonZweter-Handschrift (cpg 350).42 Gemeinsam ist diesen Aufzeichnungen, dass ihre Anonymität im Gegensatz zum inhaltsorientierten Sammeltypus weder konzeptionelle noch programmatische Gründe hat. Sie erklärt sich eher durch implizites Autorwissen und die Unwägbarkeiten der
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Ebd., S. 1014. Dazu die Zusammenstellung von Bein 1998 (wie Anm. 4), S. 221–224. Holznagel 1995a (wie Anm. 6), S. 116–120 und S. 134–139. Bein 1998 (wie Anm. 4), S. 225–227; Burghart Wachinger, »Heidelberger Liederhandschrift cpg 350«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3/1981, Sp. 597–606.
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Überlieferung. Dasselbe gilt in gesteigertem Maße auch für einen letzten Typus anonymer Liedüberlieferung, der hier der Vollständigkeit halber noch erwähnt sei. Es handelt sich dabei um anonyme Nachträge einzelner Strophen, die in keinem inhaltlichen Bezug zu ihrem handschriftlichen Kontext stehen und die ihre Aufzeichnung wohl »vor allem der Suggestionskraft des leeren Raumes verdank[en]«.43
4.
Gattungsbezug und Re-Oralisierung
Mit dem Ende der groß angelegten Lyriksammlungen in der Mitte des 14. Jahrhunderts beginnt das Funktionsgefüge von Anonymität und Autorschaft sich grundlegend zu wandeln. Dieser Wandel bricht nicht plötzlich herein. Er nimmt Tendenzen auf, die bereits in den ›Carmina Burana‹ sichtbar werden und die dann wieder in der jüngsten der großen Autorsammlungen, der Jenaer Liederhandschrift (J, um 1330),44 hervortreten. Zurückzuführen sind diese Tendenzen zum Teil auf den Einfluss von Gattungstraditionen, deren Verständnis von Autorschaft entweder schwächer oder anders ausgeprägt ist als das des höfischen Minnesangs.45 So liegt die Anonymität im Codex Buranus wohl nicht zuletzt darin begründet, dass er sich auf die Aufzeichnung von genres objectivs und Texten ohne höfischen Anspruch konzentriert, auf Gattungen also, die sich weder durch eine besonders akzentuierte Autorrolle auszeichnen noch der Rückbindung an eine besondere Autorität bedürfen.46 Die Jenaer Liederhandschrift hingegen ist mit der Sangspruchdichtung einer Gattung gewidmet, deren Interesse traditionell eher dem Melodie- als dem Textdichter gilt.47 Hintergrund dieses Phänomens ist die Praxis der Sangspruchdichter, nicht wie die Minnesänger für jedes Lied eine eigene Melodie zu erfinden, sondern ihre Töne immer wieder zu verwenden. Dabei hat es von Anfang an auch Sangspruchdichter gegeben, die in nachahmender oder polemischer Absicht Strophen in den Tönen anderer Autoren schufen. Für ihre Nachfahren, die städtischen Meistersinger, wurde das Dichten in den Tönen älterer Autoren dann sogar zu einer feststehenden Konvention, mit deren Hilfe sie sich dezidiert in die Nachfolge der ›alten Meister‹ stellten. Für sie »garantierte der Tonautorname den Anschluß an eine verbindliche Tradition und bedeutete damit Legitimation des eigenen Dichtens.«48 Hier äußert sich also ein Kunst-
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Holznagel 2001 (wie Anm. 5), S. 111. Burghart Wachinger, »Jenaer Liederhandschrift«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 4/1983, Sp. 512–516. Zu diesem Aspekt Tervooren 1995 (wie Anm. 4), S. 202f. Ebd.; Wachinger 1985 (wie Anm. 22), bes. S. 297–308. Grundsätzlich zum Folgenden: Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, hg. v. Horst Brunner/Burghart Wachinger, Bd. 1: Einleitung, Überlieferung, Tübingen 1994, S. 1–7; Gisela Kornrumpf/Burghart Wachinger, »Alment. Formentlehnung und Tönegebrauch in der mittelhochdeutschen Spruchdichtung«, in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, hg. v. Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 356–411. Ebd., S. 359.
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verständnis, in dem die Autorität des Tonkünstlers über der des Wortkünstlers steht.49 Es erscheint daher nur konsequent, wenn Sangspruch- und Meisterliedersammlungen ihren Traditionsbestand nach Tonautoren ordnen. Wo man nicht davon ausgehen kann, dass Ton- und Textdichter identisch sind, bleiben die Texte anonym.50 Neben den Gattungstraditionen dürfte auch eine Ausrichtung der Handschriften auf die musikalische Praxis zum Verschwinden der Textautoren beigetragen haben. Helmut Tervooren vermutet im Zusammenhang mit der Melodienotation von J einen durch die Anonymität erleichterten Gebrauch: »Im Nachsingen der Melodie wird sich der Sänger sowieso mit dem Rollen-Ich identifizieren und so für das Publikum und sich selbst das Autor-Ich überdecken«.51 Die Aufführung der Lieder wäre in diesem Sinne als Umkehrung des Verschriftlichungsprozesses aufzufassen. Während die Aufzeichnung den realen Sänger verstummen lässt und ihn durch die Vorstellung des Autors ersetzt, lebt in der Aufführung die Stimme des Sängers wieder auf und das Bild des Autors verblasst. Man könnte daher mutmaßen, dass aufführungsnahe Handschriften diesen Prozess vorwegnehmen, indem sie die Etablierung des Textautors von vornherein verhindern und dessen Platz so gleichsam für künftige Sänger freihalten. In J wäre dieser Vorgang freilich nur unvollkommen realisiert. Denn zwar tritt beim Singen im Ton eines bestimmten Autors der Sänger an dessen Stelle, doch nicht, um ihn zu überdecken, sondern um seiner Stimme neue Worte zu verleihen. Obwohl also der Sänger spricht, bleiben der Name und die Autorität des Melodieautors noch präsent. Klarer erkennbar ist die Auslöschung der Autorstimme im Codex Buranus, wo das Streben nach Anonymität auch die Textauswahl prägt. Der Codex spart konsequent gerade jene Lieder aus, die für ihre Autoren typisch sind und reduziert so die deutsche und lateinische Überlieferung »auf eine gefällige Liedkunst mit Bevorzugung einer eher geselligen Betrachtung der Liebe«.52 Die Konzentration auf die Themen ›Tanz‹ und ›Freude‹ drängt mithin das individuelle künstlerische Profil der Autoren zurück und bereitet den Weg für die Re-Oralisierung:53 Das anonyme Text-Ich kann in der Aufführung umso leichter mit dem Sänger identifiziert werden, als es nicht an die Eigenarten bestimmter Autoren erinnert. Man kann an diesen Beispielen gut sehen, dass das partielle oder vollständige Fehlen von Namen sich im Vergleich zu den typischen Autorsammlungen bis zu einem gewissen Grade tatsächlich negativ definiert. Die fehlende Einbindung in die Repräsentati-
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Ebd., S. 375–381. Bei den Sangspruchdichtern kann man für gewöhnlich von einer Einheit von Text- und Tondichter ausgehen: »Die anspruchsvolleren Meister verwendeten nur Töne, die sie selbst geschaffen hatten, manche nur einen einzigen; die Benutzung fremder Töne findet sich bei ihnen fast nur in polemischen Zusammenhängen. Es gab aber auch weniger ambitionierte Dichter, die die Töne anderer für eigene Texte benutzten [...].« Erst die Verehrung der meister im Meistergesang des 14. bis 16. Jahrhunderts führt also zu einer zunehmenden Anonymisierung der Texte: Brunner/ Wachinger 1994 (wie Anm. 47), S. 2f. Tervooren 1995 (wie Anm. 4), S. 203. Wachinger 1985 (wie Anm. 22), S. 293–297, hier S. 302. Wachinger führt »die Vorstellung, dass tiefere Schichten des Anspruchs und des Gebrauchs einbezogen wurden« weiter in die Vermutung eines »unmittelbaren Zusammenhang[s] mit Tanzspielen«. Vgl. ders. 1985 (wie Anm. 22), S. 296.
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onskultur der höfischen Laiengesellschaft macht ausgeprägte Ich-Rollen in den Texten überflüssig und führt zur Rücknahme biographischer Inszenierungen und künstlerischer Autoritätsgesten. In erster Linie begründet sich die Anonymität der Texte aber wohl doch positiv. Hier stehen (wenn auch u.U. durch Tonautoren vertretene) Gattungstraditionen oder die Aneignung der Texte in der Aufführung im Vordergrund. Die Handschriften gehören mithin Diskursen an, in denen es weniger darum geht, wer spricht, als darum, in welcher Tradition oder in welchem Gebrauchskontext gesprochen wird. Dabei verweist die Bedeutung der Tradition zurück auf bestimmte mündlichkeitsnahe Überlieferungsformen, in denen der Verfasser des Einzeltextes sich nur als Fortsetzer oder Bearbeiter des Altüberlieferten versteht.54 Die Bedeutung des Gebrauchs hingegen weist voraus auf die Liedüberlieferung des 15. und 16. Jahrhunderts.
5.
Gebrauch
Wenn ich im Folgenden den Gebrauch als Motivation für die Anonymität von Lyriküberlieferung in den Vordergrund stelle, so will ich damit nicht sagen, dass autorbezogene Überlieferung nicht ebenfalls pragmatisch eingebunden sei. Auch die Darstellung von höfischer Kultur und künstlerischer Meisterschaft impliziert ja eine Form des Gebrauchs, nur eben – und das ist der Unterschied, auf den es hier ankommt – eines rein repräsentativen Gebrauchs ohne lebenspraktische Bedeutung. Die Liederhandschriften A, B und C kommen nicht aus der Mitte der höfischen Kultur und haben auch in ihr keine Funktion. Sie entstehen zu einem Zeitpunkt, da diese Kultur in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht mehr existiert und erfüllen den Zweck, sie sich anzueignen und für die Nachwelt zu erhalten.55 Ähnliche Typen der Überlieferung gibt es auch im 15. Jahrhundert. Man denke vor allem an die Sammlungen der Lieder Oswalds von Wolkenstein und Hugos von Montfort, die, in der Nähe ihrer Autoren entstanden und aufwendig mit Buchschmuck, Autorbild und Wappen versehen, in erster Linie den Status ihrer Autoren als adelige Dichtersänger betonen. Die Handschriften sind »wohl in erster Linie für den repräsentativen Hausgebrauch angelegt«;56 sie spiegeln die Intention der großen Sammelhandschriften also sozusagen ins Private.57 Der Gestus bleibt aber derselbe: Wie die Liederhandschrift das Weiterleben einer vergangenen höfischen Kultur, so garantiert die private Autorsammlung das literarische Weiterleben des abwesenden oder verstorbenen
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Dieses Traditionsverständnis ist besonders typisch für die Heldendichtung: Otto Höfler, »Die Anonymität des Nibelungenliedes«, in: DVjs 29/1955, S. 167–213. Vgl. auch Hellgardt 1998 (wie Anm. 2), S. 46, 49–51; Bein 1999 (wie Anm. 2), S. 303f. Besonders deutlich geht das aus den berühmen ›Manesse‹-Strophen Johannes Hadlaubs hervor, in denen er programmatisch verkündet, dass die Sammler der liederbuoch den edil[n] sang [...] nit [wolten] lân zergân. Ausgabe: Johannes Hadlaub, Die Gedichte des Zürcher Minnesängers, hg. v. Max Schiendorfer, Zürich, München 1986. Dazu Kuhn 1980 (wie Anm. 7), S. 100–105; Kornrumpf 1981b (wie Anm. 6), bes. Sp. 585. Wachinger 1991 (wie Anm. 3), S. 17. Anders gesagt: Ihr Darstellungsinteresse gilt der Repräsentation des höfisch-adligen Autors, nicht dem Autor als Repräsentanten der höfischen Adelskultur.
Formen der Anonymität in mittelhochdeutscher Liedüberlieferung
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Dichters. Beide sind in ihrer Funktion autonom – sie wirken auch außerhalb ihrer Ursprungskontexte und weit über sie hinaus. Der im Spätmittelalter dominierende Typus des Liederbuchlieds zeigt demgegenüber eine »neue Art der gesellschaftlichen Einbettung, wie sie im 12. und 13. Jahrhundert nicht bezeugt ist und nicht vorstellbar wäre«.58 Die hier überlieferten Lieder gehören in jeweils ganz spezifische Lebenszusammenhänge. Sie werden gemeinschaftlich gesungen, vor höfischer oder anderer Gesellschaft ein- oder mehrstimmig vorgetragen, und sie erfüllen in schriftlicher Form beispielsweise die Funktion von Liebesbriefen oder Neujahrsgrüßen.59 Die Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts verweisen auf mündlichen oder schriftlichen, musikalischen oder nicht-musikalischen Gebrauch in höfischen, städtischen oder geistlichen Kreisen.60 Sie entstehen als musikalische Sammlungen im Umfeld von Musikfreunden,61 werden als Lesehandschriften oder Hausbücher konzipiert62 oder haben den Charakter von Stammbüchern.63 Je nach Interessenlage ihrer Sammler und Auftraggeber tradieren sie ausschließlich Lieder oder mischen diese mit Texten anderer Gattungen, widmen sich spezifischen Typen von Liebes- oder geistlichen Liedern oder zeigen ein breiteres Interesse, geben Melodieaufzeichnungen bei oder nicht, stellen Texte neu zusammen oder reproduzieren bereits vorhandene Sammlungen.64 Mit dem Gebrauchscharakter der Handschriften geht sowohl ihre relativ bescheidene Ausstattung als auch die nahezu ausschließliche Anonymität der aufgezeichneten Lieder einher. Dabei kann die Abwesenheit der Autornamen schon im primären Gebrauchszusammenhang ganz unterschiedliche Gründe haben. Bei Liedern aus dem Umfeld musikalischer Aufführungen ist es etwa denkbar, dass die Bekanntheit der vorgetragenen Autoren vorausgesetzt wird. Wahrscheinlicher ist aber, dass schon hier das Interesse an den Themen oder an der musikalischen Durchführung im Vordergrund stand. Letzteres gilt umso mehr, als bei dem nun sich herausbildenden mehrstimmigen Lied der Text ohnehin
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Wachinger 1999 (wie Anm. 12), S. 15. Hierzu bes. ebd., S. 12–14. Vgl. Christoph Petzsch, »Einschränkendes zum Geltungsbereich von ›Gesellschaftslied‹«, in: Euphorion 61/1967, S. 342–348. Vgl. den Überblick von Holznagel 2004 (wie Anm. 19), S. 85–88. Eine katalogartige Zusammenstellung der Liederbücher unternimmt Albrecht Classen, Deutsche Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts, Münster u. a. 2001 (=Volksliedstudien 1). Zu den Entstehungs- und Gebrauchskontexten der Liederbücher gibt es eine ganze Reihe von Einzeluntersuchungen; eine systematische Darstellung steht noch aus. So etwa das ›Lochamer Liederbuch‹: Holznagel 2004 (wie Anm. 19), S. 85; vgl. Christoph Petzsch, Das Lochamer Liederbuch. Studien, München 1967 (=MTU 19). In diese Kategorie dürften z. B. das ›Liederbuch der Clara Hätzlerin‹ und das ›Augsburger Liederbuch‹ gehören. Vgl. Johannes Rettelbach, »Lied und Liederbuch im spätmittelalterlichen Augsburg«, in: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, hg. v. Johannes Janota/Werner Williams-Krapp, Tübingen 1995 (=Studia Augustana 7), S. 281–307, bes. S. 290. Das »erste Liederstammbuch in der deutschen Geschichte« ist die ›Darfelder Liederhandschrift‹: Die Darfelder Liederhandschrift 1546–1565. Unter Verwendung der Vorarbeiten von Arthur Hübner und Ada-Elise Beckmann hg. v. Rolf Wilhelm Brednich, Münster 1976 (=Schriften der Volkskundlichen Kommission für Westfalen 23), hier S. 19. Einen Eindruck zur Vielgestaltigkeit der Liederbücher kann man sich bei Classen 2001 (Anm. 60) verschaffen.
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Cordula Kropik
an Gewicht verliert: »Je höher der Anspruch des musikalischen Satzes ist, desto weniger kann auf die Nuancen und Überraschungen des Textes geachtet werden.«65 Hinzu kommt, dass das gemeinschaftliche Singen sich dem Gedanken an den Autor sperrt: Anders als im einstimmigen solistischen Lied ist es hier nicht möglich, das sprechende Ich mit dem Sänger und diesen mit dem Autor zu identifizieren.66 Einen deutlicheren Bezug zwischen Text-Ich und Autor scheint demgegenüber der Gebrauchstyp des schriftlichen Liebesgrußes zuzulassen, der in Gestalt persönlich gewidmeter Lieder vielfach bezeugt ist. Nichtsdestotrotz spielt auch hier der Autor keine Rolle, da es nur auf die Kommunikation zwischen Sender und Empfänger ankommt. Ob der Sender zugleich auch der Verfasser des Liedes ist, bleibt offen und ist auch eigentlich gleichgültig. Denn trotz seines scheinbar privaten Charakters ist der Liebesgruß kein individueller Ausdruck. Er beansprucht nicht Einmaligkeit oder Originalität, sondern allgemeine Geltung; er ist ›Minnebrauchtum‹ ohne persönliches (Autor-)Profil und als solches uneingeschränkt wieder verwendbar.67 Das Desinteresse an den Autoren und überhaupt an der Kategorie der Autorschaft setzt sich in den schriftlichen Sammlungen fort. Das ist zum Teil gewiss damit zu begründen, dass diese als Liedrepertoires oder Zusammenstellungen gewidmeter Gedichte entstehen und so die Vorgaben des primären Gebrauchs bewahren.68 Der Gedanke an die ursprüngliche Gebrauchsform bleibt aber wohl auch in jenen Liederbüchern präsent, die aufgrund ihrer fehlenden Notation und metrisch verderbten Textgestalt offensichtlich nur als Lesebücher geeignet waren. Ihnen allen gemeinsam ist die Ausrichtung auf das Allgemeingültige und Wiederverwendbare, was die Ausprägung eines persönlich akzentuierten Text-Ich ebenso verhindert wie ein elitäres Kunst- oder Lebensbewusstsein. In diesem Sinne gestaltet sich auch der Bezug auf die lyrische Überlieferung des 12. und 13. Jahrhunderts: In den Liederbüchern finden sich zwar immer wieder Anklänge an den Minnesang, sie pflegen weitgehend die gleichen Gattungen und greifen versatzstückhaft auch die Topoi der höfischen Minneideologie auf, doch bewahren sie weder die Namen mittelhochdeutscher Autoren noch deren Texte.69 Gleichwohl ist das anonyme Lieder-
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Wachinger 1999 (wie Anm. 12), S. 13. Ebd. Ebd., S. 12f. Zu diesem Problemfeld auch Harald Haferland, »Frühe Anzeichen eines lyrischen Ichs. Zu einem Liedtyp der gedruckten Liedersammlungen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts«, in: Deutsche Liebeslyrik im 15. und 16. Jahrhundert. 18. Mediävistisches Kolloquium des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg am 28. und 29. November 2003, hg. v. Gert Hübner, Amsterdam/New York 2005 (=Chloe 37), S. 169–200. So erwägt etwa Sappler zum ›Königsteiner Liederbuch‹, dass »Mitglieder eines Freundeskreises [...] einander und ihren Angebeteten Aufzeichnungen der Lieder geschenkt [hätten] und der Besitzer des Liederbuches [...] sie dann mit den dazugehörigen Widmungen gesammelt [habe].« Das Königsteiner Liederbuch Ms. germ. qu. 719 Berlin, hg. v. Paul Sappler, München 1970 (=MTU 29), S. 8. Zur Minnekonzeption der Liebeslieder des 15. und 16. Jahrhunderts Wachinger 1999 (wie Anm. 12), S. 15–29. Zu den Themen: Doris Sittig, »Vyl wonders machet minne«. Das deutsche Liebeslied in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie, Göppingen 1987 (=GAG 465).
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buchlied mit seinem geringeren Anspruchsniveau, dem schmaleren Themenspektrum und der inhaltlichen Stereotypie nicht einfach als ›gesunkenes Kulturgut‹ zu begreifen. Zwar wirkt es im Vergleich zur Kunstform des hohen Minneliedes volksliedhaft, doch ist es nicht Volkslied im Sinne von kollektiver Mündlichkeit, Kunstlosigkeit und Verbreitung in ›unteren‹ Gesellschaftsschichten.70 Sein Signum ist vielmehr die Einbindung in mannigfache mediale und soziale Gebrauchszusammenhänge, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie keines Autornamens bedürfen. Damit sei mein Gang durch die mittelhochdeutsche Liedüberlieferung beendet. Er hat gezeigt, dass Anonymität und Autorschaft hier von verschiedenen Diskurszusammenhängen bestimmt werden und sich gemeinsam mit diesen wandeln. Autorschaft ist dabei stets mit irgendeiner Form von persönlicher auctoritas verbunden. Der Autor repräsentiert dichterisches Können, didaktische Kompetenz oder höfischen Lebensstil. Sein Auftreten als profiliertes Ich impliziert immer auch ein gewisses Interesse an seiner (imaginierten) Person. Es ist gewiss kein Zufall, dass ausgerechnet die Liedüberlieferung bevorzugt biographische Details in den Blick nimmt, dass der Minnesänger Ulrich von Liechtenstein die erste literarische Autobiographie verfasst und dass eine Handschrift Oswalds von Wolkenstein das erste Autorenporträt mit individuellen Zügen enthält.71 Ein grundsätzliches Bedürfnis nach dem Autor entsteht daraus gleichwohl nicht. Ein Lied muss weder jemandem gehören, noch wird es unbedingt als Ergebnis individuellen Ausdruckswillens begriffen. Und auch sein Geltungsanspruch ist von keiner konkreten Person abhängig – es kann sich auch durch seinen Inhalt, den Rückgriff auf eine Gattungstradition, sein Leben in der Aufführung oder die Einbindung in einen gesellschaftlichen Gebrauch legitimieren.
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Hans Peter Neureuter, »Volkslied«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin 2003, S. 794–799; vgl. auch Gert Hübner, »Vorwort«, in: Deutsche Liebeslyrik im 15. und 16. Jahrhundert (wie Anm. 67), S. 1–10. Vgl. Wachinger 1991 (wie Anm. 3), S. 17, 20f.
Nicola Kaminski
Gottsched/in oder Umwege weiblicher Autorschaft: Die Vernünftigen Tadlerinnen – Die Pietisterey im Fischbein-Rocke; Oder die Doctormäßige Frau – Herr Witzling*
Mit Dank gewidmet den Teilnehmer/inne/n meines Bochumer Hauptseminars »Gottsched, Gottschedin«, Sommersemester 2008**
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Umwege, Nebenwege
»Ich erlaube meinem Geschlechte einen kleinen Umweg zu nehmen; allein, wo wir unsere Grenzen aus dem Gesichte verlieren, so gerathen wir in ein Labyrinth, und verliehren den Leitfaden unserer schwachen Vernunft, die uns doch glücklich ans Ende bringen sollte«, so schreibt am 19. Juli 1732 die neunzehnjährige Louise Adelgunde Victorie Kulmus an Johann Christoph Gottsched, ihren späteren Mann.1 Anlaß war sein Angebot, sie nach dem Vorbild der Dichterin Christiana Mariana von Ziegler als zweite Frau in die Deutsche Gesellschaft aufzunehmen.2 »Die Frau von Z.«, so ihre Begründung, »kann mit Recht die Aufnahme in die deutsche Gesellschaft eben so hoch schätzen, als
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Auf Wunsch der Autorin erscheint dieser Beitrag in der alten Rechtschreibung. Indra Janorschke, Manuel Mackasare, Irena Messina, Nicolas Potysch, Lars Purschke, Melanie Waschkewitz. Inka Kording (Hg.), Louise Gottsched – »mit der Feder in der Hand«. Briefe aus den Jahren 1732–1762, Darmstadt 1999, S. 32. Die Briefe der Louise Kulmus (später Gottsched) stellen insofern vor prinzipielle Probleme, als die Originale mit wenigen Ausnahmen nicht erhalten sind und man daher auf die 1771/72 von ihrer engen Freundin Dorothee Henriette von Runckel posthum veranstaltete Ausgabe angewiesen ist. Daß die Herausgeberin mit ihrer Edition (die der Ausgabe von Kording zugrundeliegt) eine eigene Darstellungsabsicht verfolgt, lassen ihre den drei Teilen jeweils vorangestellten Vorberichte erkennen; wie weitreichend die Stilisierung in die ursprünglichen Schreiben eingreift, zeigt der Vergleich mit den wenigen überlieferten Originalbriefen. Vgl. hierzu grundsätzlich Magdalene Heuser, »Neuedition der Briefe von Louise Adelgunde Victorie Gottsched«, in: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit, hg. v. Hans-Gert Roloff, Amsterdam/Atlanta 1997, Bd. 1, S. 319–339, und Susanne Kord, Little Detours. The Letters and Plays of Luise Gottsched (1713–1762), Rochester/New York 2000, S. 23–65. Zu Christiana Mariana von Ziegler, die schon 1730 Mitglied der Deutschen Gesellschaft geworden war, vgl. Kord 2000 (wie Anm. 1), S. 50: »Christiana Mariana von Ziegler (1695–1760) was the first female poet laureate, one of Johann Christoph Gottsched’s own protegées and the first woman to gain admission into the famed German Society in Leipzig.« Zum Kontext und zur zeitgenössischen Rezeption ihrer Aufnahme in die Deutsche Gesellschaft vgl. Detlef Döring, Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds, Tübingen 2002, S. 245–251.
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Nicola Kaminski
wenn sie von irgend einer Academie den Doctorhut erhalten hätte. Aber gewiß, Sie halten mich für sehr verwegen, wenn Sie mir zutrauen, an dergleichen Ehre zu denken.«3 Die Vorstellbarkeit einer ›Doctormäßigen Frau‹ hatte sie schon gut anderthalb Monate zuvor gegenüber dem zweiunddreißigjährigen außerordentlichen Professor für Poesie und Beredsamkeit ins Briefgespräch gebracht: »Wie gefällt Ihnen«, schreibt sie am 30. Mai, »Donna Laura Bassi, welche neulich den Doctorhut in Bologna erhalten? Ich vermuthe, daß wenn dieser junge Doctor Collegia lesen wird, solcher in den ersten Stunden mehr Zuschauer, als in der Folge Zuhörer bekommen möchte.«4 Unmittelbar im Anschluß daran aber ist folgendes zu lesen: »Sie verlangen meine Meynung über die Schrift: La Femme Docteur ou la Théologie Janseniste tombée en Quenouille? Ich finde viel Aehnlichkeit unter den französischen Jansenisten und den deutschen heuchlerischen Frömmlingen. Weder die einen noch die andern haben meinen Beyfall. Ich werde mich hüten auf Nebenwege zu gerathen und darauf irre zu gehen.«5 Gemeint ist die französische Vorlage eines vier Jahre später, 1736, unter dem Titel Die Pietisterey im Fischbein-Rocke; Oder die Doctormäßige Frau veröffentlichten Lustspiels, das die Rezeption seit 1762 einer Autorin, der Gottschedin, zurechnen kann, das zunächst jedoch anonym erschienen war. Besteht zwischen dem »kleinen Umweg«, den Louise Kulmus ihrem Geschlecht erlaubt, den ›Neben-‹ und ›Irrwegen‹, vor denen sie
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Kording 1999 (wie Anm. 1), S. 32. Ebd., S. 31. Vgl. dazu Kord 2000 (wie Anm. 1), S. 50: »Laura Bassi (1713–80), the first woman to receive her doctorate (Ph.D. in physics, Bologna 1732), also became the first female professor to lecture at a university […].« Zu den Briefen vom 30. Mai und 19. Juli 1732 vgl. ebd., S. 50f., Kords der üblichen Lesart (»that Kulmus chastised intellectual ambition in women and refused it for herself«, S. 51) entgegengesetzte, weitaus intrikatere Deutung, die performativ den kommunikativen Kontext dieser Briefäußerungen einbezieht: »What most of these interpretations traditionally overlook is the context in which these remarks are made: one of negotiation, the context in which the entire correspondence between Johann Christoph Gottsched and Luise Kulmus takes place. Kulmus wrote this letter not to her lover, but to her mentor, and as numerous facets in her letters indicate, that was manifestly the part of the relationship that she was interested in upholding. She wrote it as a pupil who had already been harshly censored several times; all of these instances of rebuke from her mentor followed upon Kulmus’ expressions of her own ambition and initiative. It is no wonder that she takes an entirely different tone here, one of submission and deference that ostentatiously reinstates him in his position of superiority. She does so, however, while flatly refusing his plans for her advancement and career […]. Given the context of negotiation in which Kulmus writes, her tactic of passive resistance and her tone of self-irony, the trite imagery she employs (the guiding light, the confusing labyrinth, the little detour, the dangerous current) and the all-too-obvious message (the necessity of reigning in unruly women before they stray from the path of feminine virtue and lose their way in the dangerous maze of intellectual activity) are too evocative of the worst contemporary clichés to be taken entirely seriously« (ebd.). Kording 1999 (wie Anm. 1), S. 31. Zur 1730 und 1731 anonym und unter verschiedenen fiktiven Verlagsorten erschienenen französischen Komödie La Femme Docteur ou la Théologie tombée en Quenouille des Jesuiten Guillaume-Hyacinthe Bougeant vgl. die synoptische Ausgabe von Amédée Vulliod (Hg.), La Femme Docteur. Mme Gottsched et son modèle Français Bougeant ou Jansénisme et Piétisme, Lyon/Paris 1912, mit einer ausführlichen Einleitung (S. 1–82).
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sich hüten wolle, dem altmodisch-umwegigen Doppeltitel6 ihres anonymen Lustspielerstlings und dessen nicht minder umwegiger Autorschaftsfiktion ein symptomatischer Zusammenhang? Um das zu erkunden, möchte ich den geneigten Leser, die wohlmeinende Leserin meinerseits zu einem ›kleinen Umweg‹ einladen, der seinen Ausgang von der Unterwanderung lustspielpoetologischer Standards in der Pietisterey nimmt, von da aus über ihre Paratexte einen Abstecher zum französischen Prätext macht, bis zu Gottscheds Vernünftigen Tadlerinnen zurückführt, um endlich beim letzten Lustspiel der Gottschedin, dem wiederum anonym publizierten Herrn Witzling, herauszukommen.
2.
Einheit der Handlung
Das Gegenteil von Umweg, Nebenweg oder gar Irrweg ist in dramenpoetologischer Perspektive die Einheit der Handlung – für Johann Christoph Gottsched ein hohes Gut, nachgerade der Königsweg zu einer guten dramatischen Fabel. »Sie binden sich«, so lautet 1730 im Lustspielkapitel seines Versuchs einer Critischen Dichtkunst der Vorwurf gegen die zeitgenössische, von Harlekin und Skaramuz geprägte Theatertradition, »an keine Einheit der Zeit und des Orts, ja offt ist nicht einmahl eine rechte Haupt-Handlung in ihren Fabeln.«7 Die 1736 unter der fiktiven (Selbst-)Verlagsadresse »Rostock, Auf Kosten guter Freunde« (3) 8 aus dem Hause Gottsched – genauer: dem Haus des Verlegers Breitkopf, in dem Gottsched ob seiner Produktivität lebenslang mietfrei wohnen durfte9 – an die Öffentlichkeit tretende Pietisterey im Fischbein-Rocke hat selbstverständlich eine »rechte Haupt-Handlung«: die nach dem Willen des Vaters zu vollziehende Verheiratung Luischens mit Herrn Liebmann, welcher sich jedoch Hindernisse in den
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Man vergleiche die weitaus ökonomischeren Titel in der von Gottsched 1741–1745 herausgegebenen Deutschen Schaubühne. Zwar begegnen, insbesondere unter den übersetzten Komödien, gelegentlich auch Doppeltitel, doch sind sie – mit Ausnahme der Addison-Übersetzung Das Gespenste mit der Trummel, oder der wahrsagende Ehemann im zuerst erschienenen zweiten Teil – stets äußerst knapp gefaßt. Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen; Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besondere Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Uberall aber gezeiget wird Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe. Anstatt einer Einleitung ist Horatii Dichtkunst in deutsche Verße übersetzt, und mit Anmerckungen erläutert, Leipzig 1730, Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf, S. 590. Vgl. auch die Auswahledition nach der Erstausgabe von 1730 in Johann Christoph Gottsched, Schriften zur Literatur, hg. v. Horst Steinmetz, Stuttgart 1972, S. 182. Hier und im folgenden wird mit in Klammern nachgestellter Seitenangabe nach folgender Ausgabe zitiert: Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Komödie, hg. v. Wolfgang Martens, Stuttgart 21996. Vgl. Detlef Döring, »Die Leipziger Lebenswelt der Luise Adelgunde Victorie Gottsched«, in: Diskurse der Aufklärung. Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph Gottsched, hg. v. Gabriele Ball/Helga Brandes/Katherine R. Goodman, Wiesbaden 2006, S. 39–63, hier S. 43f. mit Anm. 15.
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Nicola Kaminski
Weg stellen.10 Verkörpert sind diese den folgerichtigen Handlungsablauf aufhaltenden, zum Stocken bringenden, geradezu auf Irrwege ableitenden Hindernisse in Luischens Mutter mit dem sprechenden Namen »Frau Glaubeleichtin«. Ihr nämlich ist von ihrem auf Reisen befindlichen Gatten »die Vollziehung der Heyrath« aufgetragen, und zwar »schon seit zwey Jahren« (14). Doch sie folgt ihrem eigenen Kopf, und der hat die Bücher der Pietisten und die »Lehre vom wahren innern Christenthume« (15) für sich entdeckt, weshalb sie sich durch Magister Scheinfromm zu einer sub specie gratiae vermeintlich opportuneren Verbindung für Luischen überreden läßt. Sind aber »Haupt-Handlung« und sie unterbrechende hindernde Umstände wirklich derart funktional aufeinander bezogen? Ist Luischen tatsächlich als Protagonistin anzusprechen und die pietistisch verblendete, die geplante Hochzeit guten Glaubens hintertreibende Frau Glaubeleichtin als Antagonistin? Oder sieht es nicht eher umgekehrt aus: daß »eine eintzige recht wichtige Spitzbüberey […], dazu viele Anstalten gehören, ehe sie ausgeführet werden kan«, die »Haupt-Handlung ausmacht«,11 Magister Scheinfromms Heiratsintrige nämlich, die in einem manipulierten Ehekontrakt gipfelt?12 Auch so etwas ist der Critischen Dichtkunst zufolge möglich. Doch »gelinget« weder die Intrige,13 noch wird am Ende, wiewohl »der Contract […] schon seit zwey Jahren fertig« ist (141), die Hochzeit vollzogen,14 hier wie dort gelangt die »rechte Haupthandlung« nicht zum Abschluß. Die gestörte Familienhierarchie, in deren Folge Frau Glaubeleichtin nicht als Sachwalterin des väterlichen Willens agiert, sondern sich selbst patriarchale Autorität zueignet, scheint sich so auch in einer gestörten, weil signifikant verschobenen dramatischen Struktur abzubilden. Schon der umständliche doppelte Titel des Lustspiels spricht von nichts anderem als den Luischens Hochzeit behindernden Ambitionen der Frau Glaubeleichtin, und entsprechend nimmt auch im Stück die »eine rechte Haupt-Handlung« episodisch verhindernde »Pietisterey« nahezu den gesamten dramatischen ›Handlungs‹-Raum ein. Daß es damit wenigstens zeitweilig zur Pietistensatire mutiert und so auch performativ – das ist: in der ›Echtzeit‹ der performance – Luischens Anliegen verdeckt, läßt die Emanzipation der »Pietisterey« von
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Vgl. die bündige Ein-Satz-Formulierung bei Kord 2000 (wie Anm. 1), S. 75: »a young girl is saved from an arranged marriage to a religious hypocrite«. Gottsched 1730 (wie Anm. 7), S. 595. Bei Steinmetz 1972 (wie Anm. 7), S. 187. Die Klassifizierung als ›spitzbübisch‹ erfolgt in einem Beiseite durch den Advokaten ganz ausdrücklich: »Das ist ein Spitzbube!« (125). Vgl. dazu den Passus aus der Critischen Dichtkunst (wie Anm. 7), S. 595, im Zusammenhang: »Zu einer comischen Handlung nun, kan man eben so wenig, als zur tragischen, einen gantzen Character eines Menschen nehmen, der sich in unzehlichen Thaten äussert; als z. E. einen Cartousche mit seinen Spitzbübereyen. Es muß eine eintzige recht wichtige Spitzbüberey genommen werden, dazu viele Anstalten gehören, ehe sie ausgeführet werden kan: und die vieler Schwierigkeiten ungeachtet gelinget; und also eine Haupt-Handlung ausmacht. Diesen Erfolg derselben lächerlich zu machen, dazu gehört, daß entweder Cartousche, oder der, so von ihm betrogen wird, auslachens würdig werde.« Bei Steinmetz 1972 (wie Anm. 7), S. 187f. Vielmehr wird die »verzögerte Hochzeit der Luischen« nur für »heute« (141) oder »Morgen« (denn der Advokat soll erst »Morgen wieder« kommen) ins Auge gefaßt (138), also aufs neue verschoben.
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der (vorgeblichen) »Haupt-Handlung« auch auf der Ebene des dramatischen discours Ereignis werden. In den Vordergrund des Lustspiels drängt sich, dysfunktional wie die vielgescholtenen »Harlekins Lustbarkeiten«,15 eine überlange »Vierte Handlung«,16 regelrecht eine episodische Nummernrevue, in welcher der Pietismus jedenfalls nicht dadurch lächerlich wird, daß er bürgerliche Verlöbnisse untergräbt. Vielmehr sind es die »Gottseligen Gespräche« (84) über den »Artickel von der Wiedergeburth« (85), ihre blumigen Definitionen und das Ergötzen über die »viel neue[n] schöne[n] Sachen«, die der »Bücher-Krämer Jacob« (102) ihnen Titel für Titel in extenso zu präsentieren weiß, was die eifernden Proselytinnen dem Gelächter preisgibt. Bezogen auf die Einheit der Handlung, erweist die Pietistensatire sich so als potentiell autonomes, anarchisches Bravourstückchen (in der commedia dell’arte hieße so etwas lazzo), das, indem es sich scheinbar gegen die hochzeitverhindernden Auswüchse im Hause Glaubeleicht wendet, der »Haupt-Handlung« selbst einen nicht unerheblichen Umweg aufgibt, ja sie geradezu vom dramatischen Plan verdrängt.17
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An besonders prominenter Stelle etwa in der »Critischen Vorrede« zum Sterbenden Cato. Johann Christoph Gottsched, Ausgewählte Werke, hg. v. Joachim Birke, Bd. 2: Sämtliche Dramen, Berlin 1970, S. 5. Zum systematischen Zusammenhang von Einheit der Handlung und Harlekinsbekämpfung bei Gottsched vgl. Thorsten Unger, Handeln im Drama. Theorie und Praxis bei J. Chr. Gottsched und J. M. R. Lenz, Göttingen 1993, S. 60f. In der hier zugrundegelegten Reclam-Ausgabe (wie Anm. 8) stellen die Proportionen sich folgendermaßen dar: Die »Erste Handlung« umfaßt knapp 27 Seiten, die »Andere Handlung« etwas mehr als 25 Seiten, die »Dritte Handlung« 18 Seiten, die »Vierte Handlung« 36 Seiten und die »Fünfte Handlung« etwas mehr als 22 Seiten. Vgl. dazu Gottscheds ›Rezept‹ für eine »gute tragische Fabel« in seiner Critischen Dichtkunst (wie Anm. 7), S. 571: »Dieses [das Gesamt von »Haupt-Fabel« und »Zwischen-Fabeln«, N.K.] theilt er [der Poet] denn in fünf Stücke ein, die ungefehr gleich groß sind, und ordnet sie so, daß natürlicher Weise das letztere aus dem vorhergehenden fliesset.« Zur analogen Konstruktion komischer Fabeln vgl. S. 596. Bei Steinmetz 1972 (wie Anm. 7), S. 161 und 188. Gemessen an diesen regelpoetologischen Vorgaben, sprengt die »Vierte Handlung« der Pietisterey im Fischbein-Rocke nicht nur die Harmonie ›ungefähr gleich großer‹ Akte, sondern verweigert sich auch der handlungslogischen Konsekution; als der Vaterbruder Herr Wackermann gegen Ende der »Vierten Handlung« mit den Worten »Nein Frau Schwester! ich habe ihnen was anders zu erzehlen« auf die »bevorstehende Hochzeit« (116) (und damit auf die »Haupt-Handlung«) zurückzulenken sucht, scheitert er am »Nein!« der Glaubeleichtin (119). Dies alles gilt nun freilich auch für die in weiten Teilen fast wörtlich übersetzte französische Vorlage der Pietisterey im Fischbein-Rocke – allerdings bei genauerer Untersuchung auch wieder nicht. Denn zum einen ist die etwa ein Viertel der langen »Vierten Handlung« ausmachende, radikal paradigmatisch Titel von Neuerscheinungen reihende Szene mit dem »Pietistische[n] Bücher-Krämer« (11) in der französischen Komödie gerade einmal ein Drittel so lang. In den alten Ausgaben, beide im Oktavformat, umfaßt die Bücherrevue in der Pietisterey neun Druckseiten (S. 113–121), in der Femme Docteur nicht einmal drei (S. 104–107). Zugrundegelegte Ausgaben: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke; Oder die Doctormäßige Frau. Jn einem Lust-Spiele vorgestellet. Rostock, Auf Kosten guter Freunde. 1736; La Femme Docteur, ou La Theologie tombée en Quenouille. Comedie. A Avignon, Chez Pierre Sincere, à la Vérité. Zum andern deckt sich die Stoßrichtung der Jansenistensatire im französischen Text nicht nur mit dem Standpunkt der dramatischen Perspektivfiguren, sondern auch mit demjenigen seines anonymen Autors, wohingegen in der Pietisterey die Bloßstellung der pietistischen Schwärmer von einem Standpunkt
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Nicola Kaminski
Sprechende Namen
Dieser Verstoß gegen einen der zentralen Standards von Gottscheds Critischer Dichtkunst ist das erste Indiz eines der dramatischen Ökonomie merkwürdig zuwiderlaufenden Umwegs. Ein nächstes bietet die Unterwanderung eines weiteren lustspielpoetologischen Ordnungsinstrumentariums: der sprechenden Namen.18 Sprechende Namen wollen in der Komödie des frühen 18. Jahrhunderts Transparenz schaffen, das fiktionale Medium durchsichtig machen auf eine moralische Aussage.19 Im »insonderheit von der Fabel« handelnden vierten Kapitel seiner Critischen Dichtkunst richtet Gottsched den »lehrreichen moralischen Satz […]: Ungerechtigkeit und Gewaltthätigkeit sey ein abscheulich Laster« exempli gratia als »comische Fabel« ein20 und gelangt – nach der das Lustspiel gegen das Trauerspiel abgrenzenden Bestimmung »Die Nahmen werden nur dazu erdacht, und man darf sie nicht aus der Historie nehmen« – zu folgendem Plot: Herr Trotzkopf, ein reicher aber wollüstiger und verwegener Jüngling, hat einen halben Tag mit Schmausen und Spielen zugebracht, geräth aber des Abends in ein übelberüchtigtes Haus, wo man ihm nicht nur alle seine Baarschafft nimmt, sondern auch das Kleid vom Leibe zieht, und ihn so bloß auf die Gasse hinausstößt. Er fluchet und poltert eine Weile vergebens, geht aber endlich mit dem bloßen Degen in der Hand Gasse auf, Gasse nieder, in dem Vorhaben dem ersten dem besten mit Gewalt das Kleid zu nehmen, und also nicht ohne Rock nach Hause zu kommen. Es begegnet ihm Herr Ruhelieb, ein friedfertiger Mensch, der von einem guten Freunde kommt, und etwas spät nach Hause geht. Diesen fällt er an, nöthiget ihn nach dem Degen zu greifen, entwaffnet ja verwundet ihn ein wenig, und zwinget ihn also das Kleid auszuziehen und ihm zu geben. Kaum hat er selbiges angezogen um damit nach Hause zu gehen, so stehen an der andern Ecke der Straße ein paar tüchtige Kerle, die von Herrn Ruheliebs Feinden erkauft worden, denselben wichtig auszuprügeln. Diesen fällt Herr Trotzkopf in die Hände, und ob er gleich Leib und Seele schweret daß er nicht derjenige sey, davor sie ihn ansehen, wird er doch wacker abgestraft, so daß er aus Zorn und Ungedult das Kleid wieder von sich wirft, und gantz braun und blau geprügelt nach Hause läuft.21
Wie selbstverständlich bedient Gottsched sich – Didaxe über Natürlichkeit stellend – sprechender Namen, »Trotzkopf« und »Ruhelieb«, welche die dramatis personae im Sinne der skizzierten Handlung schärfer profilieren und als abbreviatorischer Klartext exemplarisch charakteristische Figuren aufrufen. Nach diesem Modell scheinen auch die sprechenden Namen in der Pietisterey im Fischbein-Rocke zu funktionieren. Auf der
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orthodoxen Luthertums aus erfolgt, der nicht derjenige der anonymen Autorin ist. Vgl. dazu unten, S.102ff. Auch dies in Abweichung von der französischen Vorlage, die keine sprechenden Namen verwendet, vgl. Vulliod 1912 (wie Anm. 5), S. 103, Anm. 1. Zur Rolle der sprechenden Namen in der frühaufklärerischen Didaxe vgl. Helga Brandes im Nachwort zu ihrer Ausgabe der Vernünftigen Tadlerinnen: Die Vernünftigen Tadlerinnen 1725– 1726. Herausgegeben von Johann Christoph Gottsched. Im Anhang einige Stücke aus der 2. und 3. Auflage 1738 und 1748, neu hg. und mit einem Nachwort, einer Themenübersicht und einem Inhaltsverzeichnis versehen von Helga Brandes, erster Teil 1725, zweiter Teil 1726, Hildesheim/ Zürich/New York 1993, S. 18*. Gottsched 1730 (wie Anm. 7), S. 133 und 135. Bei Steinmetz 1972 (wie Anm. 7), S. 96 und 97. Gottsched 1730 (wie Anm. 7), S. 135f. Bei Steinmetz 1972 (wie Anm. 7), S. 98.
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einen Seite die Pietist/inn/en: neben Frau Glaubeleichtin die »Beth-Schwestern« Frau Zanckenheimin und Frau Seuffzerin, die »Allmosen-Sammlerin« Frau Bettelsackin sowie Magister Scheinfromm und sein Vetter Herr von Muckersdorff (11), die durch ihre Namen als unkritisch, zänkisch, überspannt, geldgierig, heuchlerisch und frömmelnd charakterisiert sind. Auf der andern Seite das vernünftige Gegenlager, bestehend aus Herrn Wackermann, Herrn Liebmann und Frau Ehrlichin, die sich namentlich durch Redlichkeit in unterschiedlichen Schattierungen auszeichnen. Sieht man freilich genauer hin, so wird durch den plakativen Gestus, der einen direkten Weg zum Verständnis verspricht, auch etwas verdeckt, das die Rezeption auf Umwege führt. Noch nicht die Rede war nämlich (abgesehen von den intransparent bleibenden Namen Dorchen, Luischen, Cathrine und Jacob sowie dem namenlosen Advokaten) von dem im Personenverzeichnis gemäß der Familienhierarchie an oberster Stelle stehenden Herrn Glaubeleicht. Wie kann es sein, daß das seiner leichtgläubigen Frau als vernünftig entgegengesetzte, in letzter Sekunde die Situation noch rettende Familienoberhaupt gleichfalls auf den Namen Glaubeleicht hört? Systemzwang hat man für diese Unstimmigkeit geltend gemacht22 oder, raffinierter, auf hintergründige Diskreditierung auch dessen erkannt, der guten Glaubens zwei Jahre lang seiner Frau die patriarchale Gewalt überläßt und so Mitschuld an der Verwahrlosung seines Hauses trägt.23 Doch macht sich damit auch das vorgeblich transparenzschaffende Namenmaterial ›mitschuldig‹. Denn wenn das Laster der Frau Glaubeleichtin darin besteht, leichtgläubig gegen das patriarchale Gebot verstoßen zu haben und dem eigenen (weiblichen) Kopf gefolgt zu sein, dann vollzieht sich auf der Ebene des poetischen discours noch einmal dieselbe Auflehnung gegen die patriarchale Ordnung. Stiftet der charakterisierend auf sie gemünzte sprechende Name doch matrilinear den Familiennamen, obwohl der im 18. Jahrhundert unumstößlich der »Name des Vaters« ist.24 Oder sollte doch alles seine Richtigkeit ha-
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Vgl. etwa Helga Brandes, »Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im FischbeinRocke; Oder die Doctormäßige Frau«, in: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung, Stuttgart 2000, S. 200–223, hier S. 215, die die »sprechenden, d. h. typisierenden Namen« als Ausdruck von »Schwarz-Weiß-Zeichnung« deutet, um dann fortzufahren: »Daß der Ehemann der Protagonistin – obwohl er vernünftig und tugendhaft ist – als Herr Glaubeleicht auftreten muß, zeigt die Grenzen dieses Verfahrens.« Vgl. Vulliod 1912 (wie Anm. 5), S. 103, Anm. 1: »La logique plus formelle qu’avisée avec laquelle ce procédé facile a été appliqué au mari même de Mme Crédule l’a fait appeler M. Crédule, bien qu’il ne partage pas du tout l’engoument de sa femme pour les piétistes. Mme G… aurait pu toutefois justifier l’appellation à laquelle elle s’est arrêtée, en arguant de l’excès de confiance dont a fait preuve M. Crédule, en laissant tous ses pouvoirs à sa femme, dont il eût dû prévoir l’incapacité.« Das spricht auch Cathrine, »der Frau Glaubeleichtin ihre Magd« (11), gegenüber Luischen gleich zu Beginn unmißverständlich aus: »Ich muß gestehen, daß ihr Herr Vater sehr unbillig handelt, daß er uns so lange Zeit dem Eigensinne seiner närrischen Frauen überlässt. Er hat sie verlobet: Sie soll die Hochzeit vollziehen, indessen reiset er seiner Geschäffte wegen nach Engelland. Der liebe GOtt sey mit ihm! Mich dünckt aber er wird bey seiner Wiederkunft sehr erschrecken, wenn er sie noch ledig, und sein Haus in diesem schönen Zustande finden wird« (16). Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […]. Drey und Zwantzigster Band, N–Net. Leipzig und Halle, Verlegts Johann Heinrich Zedler. 1740, s.v. ›Nahme, Name‹, Sp. 469–488, Sp. 476 und passim.
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ben? Schließlich trägt, konform mit den auch vor der »Gottschedin«, »Neuberin«, »Karschin« (und wie sie alle heißen) nicht haltmachenden gesellschaftlichen Konventionen, doch nicht er, sondern sie den abgeleiteten Namen: Glaubeleichtin. Allerdings: diese onomastische (die Faktur des Namens betreffende) Ordnung25 ist nur um den Preis der semasiologischen (die Bedeutung des Namens betreffenden) Ordnung zu haben. Soll der Name Glaubeleicht auf ihn zurückführbar bleiben und ihr Name nur abgeleitet, so ist es folgerichtig auch das ihn zum sprechenden Namen machende semantische Implikat, die Leichtgläubigkeit. Schafft als Familienname der sprechende Name Glaubeleicht Klarheit also allenfalls beim ›leichtgläubigen‹ Leser, während der nachdenkliche auf allerlei gedankliche Nebenwege gerät, so scheint doch wenigstens eines sicher: Verlaß ist auf den wackeren Herrn Wackermann, einen »Obrister, und Bruder des Herrn Glaubeleichts« (11). »Bruder des Herrn Glaubeleichts«?! Aber müßte der »Bruder des Herrn Glaubeleichts«, der als naher Verwandter des abwesenden Familienvaters bei Frau Glaubeleichtin beratend dessen Stelle zu vertreten sucht, denn nicht seinerseits Glaubeleicht heißen?26 Sollte der unmotiviert innerhalb des Glaubeleichtschen Familienverbunds zum Einsatz kommende, der familiären ›Leichtgläubigkeit‹ wider-sprechende Name Wackermann einmal mehr etwas verdecken? Immerhin hat der Name Glaubeleicht – nicht nur durch seine ungünstige Semantik, sondern auch durch die mutmaßlich feminine Provenienz27 – für die Begründung patriarchaler Autorität an Kredit verloren, so daß der besonders maskuline Name Wackermann28 als Gegen- und Deckname nur willkommen sein kann.
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Vgl. dazu grundsätzlich Kord 2000 (wie Anm. 1), S. XIIf. und S. 2f., sowie Susanne Kord, Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft 1700–1900, Stuttgart/Weimar 1996. Ganz unverständlich hierzu die Bemerkung von Brandes 2000 (wie Anm. 22), S. 213 mit Anm. 28, die daraus, daß Herr Wackermann »ein Bruder Herrn Glaubeleichts ist«, schlußfolgert: »Sie tragen also unterschiedliche Nachnamen.« Daß auch in diesem Fall nicht einfach undifferenzierter Schematismus geltend gemacht werden kann, zeigt Louise Gottscheds 1743 in der Deutschen Schaubühne veröffentlichtes Lustspiel Die ungleiche Heirath, in dem das ›vernünftige‹ Fräulein Amalia zwar zur Familie von Ahnenstolz gehört, aber ausdrücklich als »Stiefschwester« eingeführt wird. »Die ungleiche Heirath, ein deutsches Lustspiel in fünf Aufzügen«, in: Die Deutsche Schaubühne, nach den Regeln und Mustern der Alten, Vierter Theil, darinn sechs neue deutsche Stücke enthalten sind, Nebst einer Fortsetzung des Verzeichnisses deutscher Schauspiele, ans Licht gestellet von Joh. Christoph Gottscheden. Leipzig 1743, Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf, S. 69–184, hier S. 70. Zitiert nach: Johann Christoph Gottsched, Die Deutsche Schaubühne. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1741–1745, mit einem Nachwort von Horst Steinmetz, vierter Teil, Stuttgart 1972. In dieser Logik, die aber eben (spiegelbildlich zu den tatsächlichen Gegebenheiten) eine matriarchale wäre, lautete dann der ›Geburtsname‹ von Herrn Glaubeleicht – wie der seines Bruders – Wackermann, den er durch die Verbindung mit Frau Glaubeleichtin zugunsten ihres Namens aufgegeben hätte. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 13, Leipzig 1922, Sp. 216–235, s.v. ›WACKER‹, bes. II 3 c γ, d β und e (Sp. 225f.), 4 a (Sp. 227f.).
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Glaubeleicht/in, Gottsched/in
Im Namen Glaubeleicht/in ist so auf kleinstem Raum der dramatische Konflikt zentriert, und zugleich hat er sich auf signifikante Weise verschoben: vom theologischen Feld auf einen Schauplatz, auf dem Geschlechterrollen ausgehandelt werden. Denn zwar ist Frau Glaubeleichtin unzweifelhaft als Parteigängerin der Pietisten gezeichnet; doch bietet ihr Herr Glaubeleicht – anders als sein Bruder – keinen orthodoxen Widerpart,29 vielmehr geht es in der Auseinandersetzung im Hause Glaubeleicht ausschließlich um Rollenverteilungen im Spannungsfeld von Macht und gender.30 Und dieser Machtkampf um die Familienautorität stellt sich, wenigstens auf dem Feld des zweideutig sprechenden Namens Glaubeleicht/in, als durchaus nicht so klar entschieden dar, wie der Ausgang des Lustspiels glauben machen möchte (weswegen es auch des Umwegs über den militärisch-›maskulinen‹ Namen Wackermann bedarf). Doch auch über den auf die Ebene des discours beschränkten onomastischen Horizont31 hinaus vermag Frau Glaubeleichtin, in einer Art Parabase gleichsam jenseits ihrer Rolle, für die Sache der Frauen eine Lanze zu brechen. Hatte Luischen auf Herrn Wackermanns Spott über die pietistische Terminologie aus dem Munde ihrer Mutter32 mit elliptischem Grundsatzzweifel an weiblicher Zuständigkeit in theologicis reagiert,33 so behauptet Frau Glaubeleichtin im folgenden Auftritt diesen emanzipatorischen Anspruch selbstbewußt und prinzipiell. »In Wahrheit, Frau Schwester!«, so beginnt Herr Wackermann, seinerseits grundsätzlich werdend, den Wortwechsel, innerhalb dessen die Glaubeleichtin ihr negativ konturiertes Rollenprofil zeitweilig überschreitet,
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Das geht nicht nur aus der völligen Absenz eines theologischen Standpunkts in den (auf den fünften Akt beschränkten) Redeanteilen Herrn Glaubeleichts hervor, sondern auch daraus, daß Luischen die Gefährlichkeit der Orthodoxen nach dem Willen ihrer Mutter erst aus den Büchern kennenlernen muß (vgl. 31) – und also nicht aus ihrem Familienhaus. Daß diese gender-Auseinandersetzung durchaus im theologischen Konflikt zwischen Pietismus und lutherischer Orthodoxie mit ausgetragen wird, zeigt Richard Critchfield, »Prophetin, Führerin, Organisatorin. Zur Rolle der Frau im Pietismus«, in: Die Frau von der Reformation zur Romantik. Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur- und Sozialgeschichte, hg. v. Barbara Becker-Cantarino, Bonn 1980, S. 112–137. Vgl. auch Richard Critchfield, »Beyond Luise Gottsched’s ›Die Pietisterey im Fischbein-Rocke oder die Doctormäßige Frau‹«, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 17.2/1985, S. 112–120. Allerdings formuliert Critchfield für die Gottschedin zu undifferenziert die Diagnose eines »reactionary stand against the growing influence of women among Pietists« (S. 119). Daß die Semantik der sprechenden Namen den Figuren auf der Ebene der dramatischen histoire verschlossen bleibt, zeigt am deutlichsten der Umgang aller mit dem eigentlich schon durch seinen Namen diskreditierten Magister Scheinfromm. »Potz tausend, Frau Schwester! wo nehmen sie alles das schöne Zeug her? das sind ja Wörter, womit man vier Theologische Responsa ausspicken könnte« (31f). »Ich verehre alles das, als heilige Sachen; aber ich sehe nicht, was ich mich drein zu mischen habe; und ob überhaupt ein Frauenzimmer – – – – « (32).
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Nicola Kaminski sie haben von ihrer Aufführung schlechte Ehre in der Welt. Sie thäten viel besser, wenn sies wie andere Frauens machten, die sie kennen; welche, ohngeacht sie sehr klug sind, sich dennoch eine Ehre daraus machen, von den Religions-Streitigkeiten nichts zu wissen. Wozu Hencker stecken sie denn immer mit allerley Weibern und Pietisten zusammen, mit welchen sie die Theologischen Facultäten, die Schrifften der Wittenberger und Rostocker, und sonst hundert andere Dinge, davon sie nichts verstehen, verachten oder loben? Was würde doch die Welt sagen, wenn sie sich eben so in die Juristerey mischen wollten, als in die Theologie? Würde man sie nicht auslachen? Frau Glaubeleichtin. Sie müssen uns für sehr dumm halten. Herr Wackermann. Für dumm? Nein! Sie wissen alles, was sie wissen sollen: Nehen, stricken, sticken, und viele andere Sachen, die ihrem Geschlechte zukommen. Sie haben auch Verstand; und ich glaube, daß sie mehr haben, als viele andere Frauen, ja, als viele Männer: Aber von der Theologie wissen sie nichts. Frau Glaubeleichtin. Und warum nicht? Vielleicht weil ich nicht in Rostock studiret habe? Giebt denn der schwartze Priester-Rock und Mantel diese Gelehrsamkeit? Muß man denn so gar gelehrt seyn, um die Geheimnisse und Grund-Sätze der Religion zu wissen? (34)
Noch im selben Satz fällt sie freilich mit der Rede vom »innern Funcken, von der Versenckung der Seelen in GOtt, von der Unmöglichkeit, daß ein Wiedergebohrner sündigen könne« (ebd.), wieder in die lächerliche Pietistenrolle zurück. In dieser Rolle aber – und somit, wie es scheint, von vornherein diskreditiert – formuliert sie zu Beginn der »Vierten Handlung« einen Anspruch, in dessen Horizont der Name noch einen ganz andern, einen öffentlichen Status hat: den Anspruch gelehrter Autorschaft unter weiblichem Namen. Nicht bloß sollen nämlich, wie Frau Zanckenheimin im Pietistinnenzirkel vorschlägt, ihre »Unterredungen in ein Buch« eingetragen werden, woraus »die dunckelsten Theologischen Streitigkeiten entschieden werden« könnten, sondern »wir müsten unsere Nahmen darunter setzen« (84). Kaum ist diese Autorschaftsbedingung ausgesprochen, ist auch der stolze »Titul darzu schon fertig«: Sammlung auserlesener Streitigkeiten über die schwersten Religions Artickel, den Doctoren der heiligen Schrifft, und den Theologischen Facultäten zum Nutzen und Unterricht heraus gegeben, von denen Frauen: Glaubeleichtin, Seufzerin und Zanckenheimin. (ebd.)
Ein »Doctormäßiger« Anspruch, der, auch wenn er in der Schwebe zwischen Autorschaft und Herausgeberschaft bleibt, aufs schärfste mit dem von Herrn Wackermann entworfenen Bild von der nähenden, strickenden, stickenden Frau kontrastiert.34 Doch ist es, wenigstens für die deutsche Version, mit dem gattungskonformen Verlachen der femmes docteurs nicht getan. Denn die inkriminierte Hybris – weibliche Autorschaft unter eigenem Autornamen – steht zugleich auch in entschiedenster Spannung und Parallele zum 1736 im Druck erschienenen Lustspiel Die Pietisterey im FischbeinRocke; Oder die Doctormäßige Frau selbst. Wiewohl dessen Autorin nämlich ihrerseits
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Um darin eine dem weiblichen Geschlecht nicht zukommende Selbstüberhebung zu erkennen, muß man offenbar nicht einmal orthodox sein, sondern einfach bloß Mann; so geht auch der pietistische Magister Scheinfromm, als er vom Publikationsvorhaben seiner Glaubensschwestern erfährt, unverzüglich auf Abstand: »Wie? und wollen Glaubens-Artickel machen, ohne die Einwilligung unserer Herrn zu haben. Ich bin ihr Diener: Damit habe ich nichts zu thun« (97). Vgl. dazu Kord 2000 (wie Anm. 1), S. 144f.
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eine »Doctormäßige Frau« ist,35 hat sie ihren Namen – Gottschedin oder gar Gottsched – nicht ›daruntergesetzt‹.36 Vielmehr bietet das Titelblatt in der Autorposition überhaupt keinen Namen, allenfalls den Hinweis, daß der ungenannt bleibende Autor »gute Freunde« haben muß, die die Kosten für den Druck (offenbar im Selbstverlag) übernommen haben. Stattdessen meldet sich in einer Vorrede ein gleichfalls namenloser Herausgeber zu Wort, der aber über seine Rolle nicht recht glücklich scheint und sich dem Amt des Vorredners denn auch sogleich wieder entzieht: Weil es doch eine hergebrachte Gewohnheit ist, daß ein Buch eine Vorrede haben muß; Ich aber dem Geneigten oder Ungeneigten Leser nichts anders zu sagen weiß, als was in folgenden beyden Briefen enthalten ist: So will ich dieselbe ohne fernere Weitläuftigkeit mittheilen. (5)
Wird so die Verantwortung für die Veröffentlichung vom nicht genannten Autor über den nicht genannten Verleger auf den namenlosen Herausgeber geschoben, so schiebt dieser sie seinerseits auf einen Briefwechsel zwischen dem »Herausgeber« und dem »Verfaßer dieses Lust-Spiels« (ebd.), aus dem eines unverkennbar hervorgeht: Niemand will es gewesen sein. Vielmehr ist der Text auf Druck der Öffentlichkeit – und dies im Wortsinn: jener »guten Freunde« nämlich – zu einem Gegenstand öffentlichen Interesses geworden. Demgegenüber zeichnet sich das Selbstportrait des »Verfaßers« (8) – so heißt er durchweg – gerade durch besondere Insistenz auf seiner Privatheit, auf seiner Identität als Nicht-Autor aus.37 Spricht der Herausgeber – womöglich komplimentierend – von dem »gewöhnliche[n] Urtheil, welches die Welt von Dero Schrifften zu fällen pflegt« (5), und setzt damit buchstäblich einen namhaften Autor voraus,38 so weist der
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Vgl. dazu Martens 1996 (wie Anm. 8), S. 165f. Für die folgenden Überlegungen kann die Feststellung von Kord 2000 (wie Anm. 1), S. 136, »that anonymity in fact can be seen as much more than merely a mode of publication for most writing women of the age, but as a problematization of their authorship and a veiled discussion of the permissibility of authorship for women«, als Prämisse gelten. Vorsichtiger Nancy Kaiser, »In Our Own Words. Dramatizing History in L. A. V. Gottsched’s Pietisterey im FischbeinRocke«, in: Thalia’s Daughters. German Women Dramatists from the Eighteenth Century to Present, hg. v. Susan L. Cocalis/Ferrel Rose, Tübingen 1996, S. 5–15, hier S. 7: »A fictive correspondence exists as the preface to Bougeant’s text as well, and I am not making the argument that Luise Adelgunde Gottsched consciously chose to reveal in veiled form the conflicts accompanying female authorship in her century.« Gleichwohl sieht auch Kaiser in den Paratexten der Pietisterey »key questions of female authorship« thematisiert. Kord 2000 (wie Anm. 1), S. 141, spricht von »privatization of authorship, in which literature is produced not for publication, but for the private edification of the author and her (›his‹) intimate circle of friends«. Zum Zusammenhang zwischen nicht existentem Autornamen und nicht existentem Werk im Falle weiblicher Autorschaft generell und der Gottschedin im besonderen vgl. Kord 2000 (wie Anm. 1), die in ihrer Einleitung das Problem pointiert auf Foucaultsche Begriffe bringt: »Luise Adelgunde Gottsched, who once categorically discounted the literary activity of women as ›a little detour‹ taken from their real (that is, domestic) work, was herself an extremely prolific author. […] But while there are an astonishing variety of works by Luise Gottsched, her work – as a unified concept designating her authorship – does not exist« (S. XI). Vgl. dazu auch Kord 1996 (wie Anm. 25).
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»Verfaßer« den seitens der Öffentlichkeit befürchteten Verdacht, »daß ich der Urheber dieser Schrifft nothwendig seyn müsse«, mit einer erneuten Verschiebung von sich: Gleichwol, wenn ich die Wahrheit gestehen soll; so bin ich nicht einmahl dafür anzusehen. Ein gewisser ungenannter Frantzose hat mehr Theil daran, als ich. Und ich bin eher vor einen unschuldigen Übersetzer, als für den Urheber dieses Lust-Spiels anzusehen. (8f.)
Vielmehr habe er »diesen Versuch einer Comischen Schreib-Art, darinnen ich mich sonst niemahls geübt, und dazu ich mich für gantz ungeschickt halte«, ganz privat, »nur zu meinem eigenen Vergnügen«, unternommen (9). An die Stelle des vom Herausgeber entworfenen Bildes eines routinierten Autors tritt dasjenige des Dilettanten, dem es »niemahls in den Sinn gekommen, […] weder unter meinem Nahmen, noch ohne demselben« sein Elaborat »ans Licht zu stellen«. Die auktoriale Verantwortung für die »Erfindungen« sei hingegen dem »Original« zuzuschreiben, dem beim Titel genannten, allerdings seinerseits anonymen Text des »Frantzösischen Scribenten« (ebd.).39 Daß hinter dieser umwegig inszenierten Verschiebung von Autorschaftsverantwortung eine »Doctormäßige Frau« steckt, eben die Gottschedin, lassen die dem anonym erschienenen Stück vorausgeschickten, ihrerseits anonymen Paratexte nicht erkennen. Ganz selbstverständlich wird der »Verfaßer dieses Lust-Spiels« vom Herausgeber als »Hoch-Ehrwürdiger, Hochgelahrter Herr!« (5) tituliert, ebenso selbstverständlich entwirft dieser selbst sich als maskulines Ich. Und der einzige Name, der auf dem Titelblatt der Pietisterey überhaupt fällt, ist seinerseits ein männlicher: »Horatius«, der als Autorität die Gattungsbezeichnung legitimiert und überdies metonymisch auf die (männliche) Autorität im poetologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts verweist, die Critische Dichtkunst, welcher ihr Autor »an statt einer Einleitung […] das treffliche Gedicht Horatii […] mit dem Nahmen einer Dichtkunst« beigegeben hatte.40 Allenfalls könnte das vom Herausgeber für seine Herausgeberschaft gewählte, merkwürdig feminine Bild – »und ich habe die Ehre, als eine getreue Heb-Amme, dieses so wohl gerathene Kind E. H. ans Tages-Licht zu bringen« (6) – einen versteckten Hinweis geben. Aber doch eben nur einen versteckten. Den direkten Weg zu »Doctorhut« und Autorschaft, den die »Frau von Z.«41 in der Wirklichkeit und Frau Glaubeleichtin im Lustspiel für sich in Anspruch nimmt, gestattet die Gottschedin sich nicht. Oder wird er ihr von ihm, der den Autornamen Gottsched regelrecht zur Marke gemacht hat, nicht gestattet? Auf diese Frage geradewegs mit einem Ja zu antworten, wäre zu simpel – immerhin hatte er ihr die einem »Doctorhut« vergleichbare Mitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft angetragen. Vielmehr gilt es auch hier, nicht anders als im Hause Glaubeleicht, die textuelle Aushandlung der Geschlechterrollen einer genauen Lektüre zu unterziehen.
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Kord 2000 (wie Anm. 1), S. 138–143, macht darauf aufmerksam, daß die Selbstcharakterisierung als ›unschuldiger Übersetzer‹ auf die Schuld weiblicher Autorschaft (»the guilt of female authorship«) verweist. Gottsched 1730 (wie Anm. 7), »Vorbericht«, S. 3. Das auf das Titelblatt der Pietisterey gesetzte Horazzitat stammt allerdings nicht aus der Ars poetica, sondern aus den Sermones 1,10,14f. Vgl. oben Anm. 2.
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Daß die Pietisterey im Fischbein-Rocke, inklusive der dem Stück vorangestellten Paratexte, eine detailgenaue, vielfach beinahe wörtliche Übersetzung der vom »Verfaßer« selbst angeführten, 1730 ihrerseits anonym erschienenen französischen Komödie La Femme Docteur ou la Théologie Janseniste tombée en Quenouille sei und kein deutsches Original, wie von der deutschen Germanistik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts emphatisch behauptet, hat mit Verve und seinerseits nicht ohne polemische Spitzen 1912 der französische Literaturwissenschaftler Amédée Vulliod konstatiert und durch eine synoptische Edition beider Dramen nachgewiesen. In der Tat stellt sich der anonyme (und als solcher in der Pietisterey namhaft gemachte) französische Text, verglichen mit dem seinerseits anonymen, ausdrücklich als Übersetzung deklarierten deutschen, ganz ähnlich dar. Hier wie dort gibt ein ungenannter Autor, der mit seiner theologisch brisanten dramatischen Satire lieber ungedruckt geblieben wäre, eine heterodoxe Sekte (Jansenisten respektive Pietisten) der Lächerlichkeit preis und nimmt als besonders komisch die »Doctormäßig« sein wollenden Frauen ins Visier. So jedenfalls die Perspektive des zeitgenössischen Lesers, in welcher der französische wie der deutsche Autor fraglos männlich ist und die Anonymität sich aus der theologischen Brisanz des Sujets erklärt. In dieser Sicht liegt die auktoriale Verantwortung tatsächlich beim »Original« (9) und ist vom »unschuldigen Übersetzer« (ebd.) nur insofern mitzutragen, als die jesuitische Komödie sich natürlich nicht gegen die deutschen Pietist/inn/en gerichtet hatte. Doch muß an dieser Stelle genauer darüber nachgedacht werden, woran ›Originalität‹ – sowohl in urheberrechtlich-juristischer als auch in literarischer Hinsicht – sich im vorliegenden Fall eigentlich bemißt. Ist ein wörtlich oder nahezu wörtlich übersetzter Text per se ›unoriginell‹, weil die »Erfindungen« (9) die eines andern sind? Macht umgekehrt die ›Originalität‹ der Gottschedin sich also nur in den Veränderungen der »Vierten Handlung«, der ›Erfindung‹ der plattdeutschsprechenden Frau Ehrlichin zumal, geltend?42 Das wirft die Frage auf, wo eigentlich der Text seine Grenzen hat. An der Lustspielgrenze, der Grenze der dramatischen Fiktion demnach? Oder gehören die Paratexte und das Titelblatt noch dazu? Und also auch die Autor- und Herausgeberfiktion? Jenseits des Streits um (Un-)Originalität gilt es jedenfalls festzustellen, daß, zieht man Autor- und Herausgeberfiktion mit in Betracht, das französische und das deutsche Lustspiel ungeachtet aller (beinahe) wörtlichen Entsprechungen zwei ganz unterschiedliche Texte sind.43 Während die französische Komödie den Jansenismus und insbesondere die femmes docteurs als dessen besonderen Auswuchs zum Gegenstand des Ver-
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So der Konsens der Forschung seit Vulliod 1912 (wie Anm. 5), vgl. etwa Martens 1996 (wie Anm. 8), S. 158f: »Von einem deutschen ›Original‹ wird man, wenn man den Paralleldruck der Pietisterey mit der Femme Docteur bei A. Vulliod studiert hat, schwerlich sprechen können. […] Die einzigen größeren Abweichungen bietet der IV. Akt. […] Die Ehrlichin ist denn auch, wie man zu Recht bemerkt hat, in der Pietisterey als Gestalt die einzige originelle Erfindung der Gottschedin, in ihrem – Platt mit hochdeutschen Elementen mischenden – Idiom von köstlicher praller Realistik, eine Figur, der in der Sächsischen Komödie nichts Gleichartiges an die Seite zu stellen ist.« Vgl. die pointierte Feststellung von Kaiser 1996 (wie Anm. 36), S. 9f., die es unter dem Gesichtspunkt der Adressierung(en) genauer zu untersuchen gilt: »The structure of the plot corresponds to Bougeant’s comedy […]. Yet her deviations from Bougeant’s play are striking. I read them
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lachens macht und dabei von einem in jeder Hinsicht entgegengesetzten Standpunkt aus operiert (jesuitisch, männlich), verhandelt das deutsche Stück, indem es analog den Pietismus und insbesondere die pietistischen femmes docteurs dem Verlachen preisgibt, zugleich selbstreflexiv die eigene Textentstehung mit. Und dies von einem ganz und gar ungesicherten satirischen Standort aus: Denn zwar ist die Gottschedin keine Pietistin, doch auf der sicheren Seite der Orthodoxie steht sie auch nicht. Eine Frau aber, und zwar eine »Doctormäßige«, ist sie allemal. Diese aus der Pietisterey im Fischbein-Rocke einen ganz eigenen Text machende selbstreflexive Qualität ist freilich gebunden an das Wissen um die hinter der Autor- und Herausgeberfiktion stehende Urheberin. Andernfalls wäre das deutsche Lustspiel tatsächlich nichts als eine ›unschuldige Übersetzung‹. Über dieses Wissen aber verfügte der zeitgenössische Leser 1736 nicht, und er bekam es auch bis zum Tod der Gottschedin 1762 nicht. Über dieses exklusive Wissen verfügte (sieht man vom im Hause wohnenden Verleger Breitkopf ab, bei dem das Stück tatsächlich erschien) nur einer: Gottsched.
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»Was wird die Welt von mir gedencken?«
Für »die Welt« (8) liegen hingegen ganz andere Mutmaßungen über den »Verfaßer« nahe: logische Hochrechnungen aus der satirischen und intertextuellen Faktur, wie sie schon der Autor der französischen Komödie befürchtet hatte. Auch dort macht eine dem Stück vorangestellte »Lettre de L’Auteur à L’Éditeur« dem Herausgeber die Veröffentlichung zum Vorwurf – »la présenter au Public sur le papier, c’est la déplacer«44 – und zeigt sich besorgt, es könnte die wahre Urheberschaft aufgedeckt werden. Falls es dazu komme, so der Autor beunruhigt, sei es um ihn geschehen, werde man mit dem Finger auf ihn deuten, müsse er Namen und Wohnort wechseln, und »les femmes surtout ne me pardonnerons jamais«.45 Doch selbst wenn er persönlich nicht entdeckt werde, sei eine Autorschaftszuschreibung zu gewärtigen, die ihm überaus unangenehm sei: Il faut encore que je vous communique un autre sujet d’inquiétude que j’ai: c’est que, comme on est depuis longtemps dans l’habitude d’ attribuer aux Jésuites tous les ouvrages où Messieurs les Jansénistes ne trouvent pas leur compte, je suis persuadé qu’on me fera l’honneur de leur attribuer encore celui-ci, et je vous avoue que j’en suis peiné. Car je crains que quelque bel esprit du parti ne se mette en devoir de vanger sa secte par quelque écrit sanglant et outrageux, comme c’est l’ordinaire de ces Messieurs; et je serois au désespoir d’avoir attiré ce désagrément à une société que j’honore et que j’estime infiniment.46
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as literary interventions which foreground the drama of gender being enacted in Pietisterey.« Kaiser stützt sich in ihrer Argumentation vor allem auf die Abweichungen im vierten Akt. La Femme Docteur, zitiert nach der Ausgabe von Vulliod 1912 (wie Anm. 5), S. 88. Ebd., S. 92. Die Einschätzung von Kord 2000 (wie Anm. 1), S. 142 (»Bougeant’s author figure does not insist on the preservation of his anonymity, nor does he worry about the potential consequences of his play’s publication for him personally«), ist mir nicht nachvollziehbar. La Femme Docteur (wie Anm. 5), S. 94. Kords Lesart (wie Anm. 1), S. 142, der Autor befürchte, »the play might be misunderstood as an attack on the Jesuits instead of the Jansenists«, greift zu kurz.
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Zwar gibt der ungenannt bleibende Autor sich selbst nicht ausdrücklich als Jesuit zu erkennen (das wird dann in seinem Antwortschreiben umgekehrt der gleichfalls namenlose und offenbar mit dem Verfasser nicht persönlich bekannte Herausgeber tun47), doch gewinnt der allenfalls vom Publikum zu rekonstruierende Urheber einigermaßen scharfe Konturen: vor dem Auge des Lesers ersteht das Phantombild des gegen die Jansenisten sich wendenden (selbstredend männlichen) jesuitischen Ordensdramatikers. In genauer Analogie vollzieht sich 1736 die Rezeption der Pietisterey im FischbeinRocke. »Es gelung ihr damit so gut«, schreibt Gottsched 1763 rückblickend in der Lebensbeschreibung seiner verstorbenen Gattin, in welcher erstmals diese ihre Autorschaft bekanntgegeben wird, »daß eine Menge von Lesern, die es in Hamburg gedruckt erblickten, es keinem unberühmtern Schriftsteller, als dem berühmten Pastor Neumeister, zueignete« – einem Mann somit aus dem lutherisch-orthodoxen Lager, »dessen Eifer wider die Pietisten, sich sonst schon auf mehr als eine Art beißend genug erwiesen hatte«.48 Anders als in der französischen Komödie leitet die Konstruktion des anonymen Autors aus der paratextuellen Fiktion jedoch nicht auf die dahinter stehende Autorinstanz hin, sondern von ihr ab: einmal mehr auf einen Umweg. Ja, es hat den Anschein, als würde diese Irreführung durch eine bereits am 18. Oktober 1736 in den Niedersächsischen Nachrichten von Gelehrten neuen Sachen veröffentlichte Rezension noch gezielt befördert.49 »Geehrter Herr«, so richtet der Rezensent, der sich »Martin Theilrecht Past. ad Sanctam Concordiam« in »Reinkirchen« nennt,50 seinerseits in Briefform das Wort an
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Und zwar, indem er auf den zitierten Anlaß zur »inquiétude« Bezug nimmt und den Autor in Hinsicht auf seine Befürchtung, die Jesuiten könnten ihm seinen womöglich ihnen zugeschriebenen Text verübeln, beruhigen kann. Warum? »Tels ont été de tout tems les sentimens des Jésuites, et vous devez m’en croire sur ma parole, puisque vous n’ignorez pas que j’ai eu l’honneur d’être de leur société.« La Femme Docteur (wie Anm. 5), S. 101. Der Frau Luise Adelgunde Victoria Gottschedinn, geb. Kulmus, sämmtliche Kleinere Gedichte, nebst dem, von vielen vornehmen Standespersonen, Gönnern und Freunden beyderley Geschlechtes, Jhr gestifteten Ehrenmaale, und Jhrem Leben, herausgegeben von Jhrem hinterbliebenen Ehegatten. Leipzig, bey Bernhard Christoph Breitkopfen u. Sohne. 1763, fol. **4r/**4v. Zu Erdmann Neumeister (1671–1756) vgl. Bautz’ Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, s.v. ›Neumeister, Erdmann‹, http://www.kirchenlexikon.de/n/neumeister.shtml (Stand: 1. Juli 2009). Niedersächsische Nachrichten Von Gelehrten neuen Sachen Auf das Jahr 1736. den 18. Octobr., S. 691–694. Im folgenden wird aus diesem Text, der im Anhang faksimiliert ist, ohne Einzelnachweise zitiert. Für den Hinweis auf diese der Forschung zur Gottschedin bislang nicht bekannte Rezension danke ich Claus-Dieter Osthövener (Wuppertal), für die freundliche Reproduktionsgenehmigung der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, insbesondere Martin Liebetruth. Daß es sich um eine fiktive Identität handelt, die über sprechende Namen theologische Autorität beansprucht, liegt schon deshalb nahe, weil weder ein »Martin T(h)eilrecht« noch ein Ort namens »Reinkirchen« über das biographisch und geographisch umfassend informierende Zedlersche Universal-Lexicon nachgewiesen werden können. Auch moderne biographische Nachschlagewerke kennen keinen Autor namens »T(h)eilrecht«; ebenso wenig ist der Name als Pseudonym belegt. Womöglich nicht ganz abwegig ist die Vermutung, es könnte diese frühe »Bekanntmachung« von Gottsched selbst lanciert sein, der sich auf den Text seiner Frau ein ›Teilrecht‹ zuspräche.
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den Herausgeber (der just in Hamburg erscheinenden Zeitschrift nämlich51), »für dißmahl« könne er »nur mit einer Comödie aufwarte[n]« und »um deren Bekanntmachung […] ersuche[n]«. Ganz unproblematisch sei das freilich nicht, da die Veröffentlichung »wider des Verfassers Wissen und Willen« erfolgt sei. Doch wolle er »nicht hoffen, daß Sie an ihrem Orte, wo die Pietisten nichts zu befehlen haben, sich fürchten sollten, dieser Comödie öffentliche Erwehnung zu thun«. »Den meisten Lerm« werde – entscheidender Fingerzeig auf ›den‹ Autor, der von offenbar berufener Seite fast beiläufig gegeben wird – »sonder Zweiffel dieses verursachen, weil ein Geistlicher Urheber davon ist.« Warum dieses Ablenkungsmanöver? Weil bezogen auf das Anliegen der Pietistensatire die weibliche Identität ihrer Autorin ganz und gar unerheblich ist, es ausschließlich um die theologische Sache geht? (Aber geht es denn um die theologische Sache? Schließlich ist die Autorin gar keine orthodoxe Lutheranerin!) Oder weil die anonyme Maske des orthodoxen Geistlichen in dieser brisanten Angelegenheit willkommenen Schutz bot? Immerhin hatte das Stück – und das war voraussehbar – sofort bei Erscheinen eine ungeheure Wirkung: In Hamburg hatte man dem für den Autor gehaltenen Pastor Neumeister die Fenster eingeworfen. In Königsberg erregte das Stück Empörung; alle Exemplare wurden beschlagnahmt, das Lesen des Stückes verboten; der Buchhändler Kanter wurde wegen des Verkaufs zur Rechenschaft gezogen. Ähnlich in Berlin. König Friedrich Wilhelm I. persönlich nannte das Stück in einer Kabinettsordre vom Februar 1737 eine recht gottlose SchmähSchrifft und ein abominables pasquille. Sämtlichen Buchführern der Stadt wurde der Verkauf der scandaleusen SchmäheSchrifft wieder die Halleschen Theologos verbohten, die vorgefundenen Exemplare wurden versiegelt. Der Buchhändler J. A. Rüdiger, der als erster das Lustspiel als Neuerscheinung für vier Groschen ausgeboten hatte, wurde verhört, und da er angegeben hatte, das Stück sei einmal in Coburg und ein anderes Mal in Hamburg beim Ratsbuchdrucker König gedruckt worden, so mußte der diplomatische Vertreter Preußens beim Hamburger Rat Beschwerde führen und auf eclatante satisfaction Antrag stellen. Ja, die Pietisterey wurde zum Anlaß, ein neues strenges preußisches Zensuredikt über den Druck, die Einfuhr und die Verbreitung von Schriften zu entwerfen.52
Sowohl der französische als auch der deutsche Text geben jedoch Hinweise, die gegenüber diesen (gewiß berechtigten) Sicherheitsüberlegungen53 eine andere Lesart nahe-
51
52 53
Vgl. Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […]. Vier und Zwantzigster Band, Neu–Nz. Leipzig und Halle, Verlegts Johann Heinrich Zedler. 1740, Sp. 747, s.v. ›Nieder-Sächsische Nachrichten, von gelehrten und neuen Sachen‹, wo als »deren Verfasser der Herr Professor Johann Peter Kohl in Hamburg« genannt wird. Martens 1996 (wie Anm. 8), S. 155. Vgl. auch Vulliod 1912 (wie Anm. 5), S. 46–48. Zur prekären Situation der aufgeklärten Anhänger des 1723 von der Universität Halle vertriebenen Christian Wolff, die in Leipzig ständig des Atheismusvorwurfs gewärtig sein mußten, vgl. Detlef Döring: »Der Wolffianismus in Leipzig. Anhänger und Gegner«, in: Christian Wolff – seine Schule und seine Gegner, hg. v. Hans-Martin Gerlach, Hamburg 2001 (=Aufklärung 12, H. 2), S. 51–76, hier S. 66–72. Im Herbst 1737 wurde Gottsched vor das Dresdner Oberkonsistorium geladen und »mit der Amtsenthebung bedroht, verwarnt und verpflichtet, seine Redekunst nach den Vorgaben der Theologen zu überarbeiten und der Zensur zu unterwerfen« (ebd., S. 69). Zum geistigen Klima im Leipzig der 1730er und 40er Jahre vgl. auch Martin Mulsow, Freigeister im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740– 1745, Göttingen 2007.
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legen, genauer gesagt: zwei interagierende Lesarten. Eine, die das Lustspiel unter dem Titel »Pietisterey« plakativ an die Öffentlichkeit adressiert, und eine zweite, in deren Windschatten lancierte unter dem Titel »Doctormäßige Frau«, die sich erst mit dem unöffentlichen Wissen um die Autorschaft der Gottschedin erschließt. Ein erstes Indiz für eine solche doppelte Lesbarkeit, das auch der uneingeweihte zeitgenössische Leser wahrzunehmen vermag, liefern im Vergleich die beiden Komödientitel. La Femme Docteur ou la Theologie Janseniste tombèe en Quenouïlle ist, wie der »Verfaßer« in seinem der Pietisterey vorangestellten Brief ausdrücklich angibt, das französische Stück überschrieben: vorweg exemplarisch die konkrete lächerliche Figur, durch das ›oder‹ nachgestellt das in ihr repräsentierte abstrakte Phänomen, wobei beide Teile des Doppeltitels chiastisch verbunden sind durch das Oxymoron weiblicher Gelehrsamkeit. Demgegenüber nimmt der deutsche Lustspieltitel eine bemerkenswerte Umstellung vor, läßt die »Doctormäßige Frau« hinter die »Pietisterey im FischbeinRocke« zurücktreten, wobei nicht nur (sprachbedingt) der Chiasmus zerbricht, sondern auch die hierarchische Relation von Besonderem und Allgemeinem fraglich wird. Gestische Signifikanz erwächst diesem ›Rücktritt‹ der »Doctormäßigen Frau« hinter die »Pietisterey« aber, wenn man sie im Zusammenhang mit einer zweiten Umstellung gegenüber dem französischen Prätext sieht. In Bougeants Komödie ist es nämlich der Autor, der selbstbewußt in einer empörten »Lettre […] à L’Éditeur« das erste Wort ergreift, und ihm antwortet in einer beschwichtigenden, aber zugleich auch unpersönlich-distanzierten »Réponse« der Herausgeber. In der Pietisterey hingegen tritt »der Verfaßer« nicht nur als bloßer Übersetzer hinter die ihm angetragene Autorerwartung zurück, sondern er tritt auch buchstäblich hinter die Instanz des Herausgebers, die in ›seinem‹ Buch das erste Wort hat, an die zweite Stelle. Sieht man diese beiden ›Rücktritte‹ als korrespondierende Textbewegungen, so ›ist‹ es die »Doctormäßige Frau«, die in der Autorposition zurücktritt und damit gegenüber der vom Autor eines Buches erwartbaren oratio directa einen signifikanten Umweg beschreibt. Wozu aber all dies? Ohne das allein Gottsched verfügbare Wissen um die Autorin Louise Gottsched teilt sich die gestische Semantik dieser beiden Umstellungen dem Leser allenfalls andeutungsweise mit. Die nun an erster Stelle stehende »Pietisterey« aber bestärkt ihn noch geradezu auf seinem beim Hamburger Pastor Erdmann Neumeister herauskommenden Lektüre-Irrweg. An diesem Punkt bieten die Paratexte des französischen Lustspiels eine weitere Spur. Ein auffälliger Zug sowohl der »Lettre de L’Auteur« als auch der »Réponse de L’Éditeur« ist nämlich ein Gestus der Diversifizierung des prospektiven Komödienpublikums. Schon der Autor hatte bei der Formulierung seiner Rezeptionsbefürchtungen mehrere Publikumsgruppen unterschieden, und diese Distinktion greift der Herausgeber in seiner Erwiderung ausdrücklich auf: »permettez-moi de distinguer encore ici les Lecteurs Molinistes« (das sind die Jesuiten), »les Lecteurs désintéressés, et ceux de la petite Eglise, comme vous les appellez« (mit letzteren sind die Jansenisten gemeint).54 Sollte Die Pietisterey im Fischbein-Rocke; Oder die Doctormäßige Frau auf eine analoge Diversifizierung ihrer Adressaten zielen, dabei aber
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La Femme Docteur 1912 (wie Anm. 5), S. 98.
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noch einen Schritt weitergehen? Demnach entsprächen den französischen Jesuiten die lutherisch-orthodoxen Leser, den »Lecteurs désintéressés« die keinem der beiden Lager zugehörigen aufklärerischen Leser, den Jansenisten die pietistischen Leser – und hinzu käme er, der eine, um ihre Autorschaft wissende Leser. Fokussiert man diesen exklusiven Adressaten, so fragt sich allerdings, wozu überhaupt das brisante Spiel mit der »Pietisterey« dient, wenn darüber – anders als im Hause Glaubeleicht – beim Ehepaar Gottsched doch offenbar bereits vorab Einigkeit herrscht.55 Wozu, wenn dadurch die sakrosankte Einheit der Handlung gefährdet und das eigentliche Anliegen ihres Lustspieldebüts, ihre Selbstverortung als Autorin im zeitgenössischen Literaturbetrieb, ebenso verdeckt wird wie Luischens Heiratsanliegen? Eine Antwort liegt nahe, wenn man bedenkt, daß weibliche Autorschaft in der Pietisterey nicht bloß als faktische Verfasserschaft verhandelt wird, sondern als eine durch den ›daruntergesetzten‹ Namen als öffentlich markierte Diskursrolle. In dieser Perspektive läßt aber gerade die Brisanz des Sujets für »die Welt« den Pietismus zum idealen Transportmittel für ihr exklusiv an ihn adressiertes Projekt unter dem Titel ›Was ist eine Autorin?‹ werden. Denn nicht nur ver-, auch gedeckt durch die bis zum preußischen König hinauf hochbrisante »Pietisterey«, kann das Lustspiel um die »Doctormäßige Frau« sich in der Öffentlichkeit – einer Öffentlichkeit, in der er seit 1734 das öffentliche Amt eines ordentlichen Professors der Universität Leipzig bekleidet – von Anfang an höchster Aufmerksamkeit sicher sein. Ein derart öffentlichkeitswirksamer Text kann nicht unerheblich sein, auch nicht in seinen nur dem Eingeweihten sich erschließenden Zusatzklauseln. Zugleich aber ist diese wirkungsvolle Satire – wiederum nur für den Eingeweihten – erkennbar als Rede nicht in eigener Sache, als Rollenrede demnach. Denn ihre verborgene Autorin ist der lutherischen Orthodoxie sowenig zuzurechnen wie ihr darum wissender Gatte. Aussagen wie diejenige des als Perspektivfigur konturierten Herrn Wackermann, das weibliche Geschlecht solle bei seinem Leisten bleiben (»Nehen, stricken, sticken«), gehen somit in seinem Wahrnehmungshorizont nicht auf ihre, sondern auf die Rechnung verstellt orthodoxer Rede.56 Eben dadurch aber vermag sich die Frage nach dem Stellenwert der »Doctormäßigen Frau« von den satirischen Vorgaben des Lustspiels zu emanzipieren. Jenseits der orthodoxen Verlachkomödie formuliert es
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56
Dessen konnte er sich im Mai 1732, als er seiner Braut ins pietistisch beherrschte Danzig (vgl. dazu Vulliod 1912 [wie Anm. 5], S. 1–4) schrieb und ihre »Meynung über die Schrift: La Femme Docteur ou la Théologie Janseniste tombée en Quenouille« zu hören »verlang[te]« (zitiert nach Kording 1999 [wie Anm. 1], S. 31), womöglich noch nicht sicher sein. Im Jahr 1736 in Leipzig, wo die Pietisten vergeblich Fuß zu fassen versucht hatten (vgl. Vulliod, S. 38), dürfte das klar gewesen sein. Darauf, daß die orthodoxe Perspektivierung sich im Lustspiel allenthalben als brüchig erweist, macht bereits Martens 1996 (wie Anm. 8), S. 164f., aufmerksam. Deutlicher noch urteilt Rudolf Malter, »Königsberger Gesprächskultur im Zeitalter der Aufklärung. Kant und sein Kreis«, in: Kant und die Aufklärung, hg. v. Norbert Hinske, Hamburg 1993 (=Aufklärung 7, H. 1), S. 7–23, hier S. 13f, wenn er feststellt, die Gottschedin persifliere »mit den Pietisten auch die Orthodoxen« (S. 14).
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einen exklusiven Appell an den Leser Gottsched, das für ihn allein auf einem inneren Schauplatz gegebene Stück Die Doctormäßige Frau in der zeitgenössischen literarischen Öffentlichkeit zu verorten. Daß sich aber dieser Appell exklusiv an ihn, den einen, wissenden Leser, adressiert, läßt sich ein letztes Mal einem bedeutsamen Umweg ablesen, der an der Schnittstelle zwischen literarischem Text und literarisch interessierter Öffentlichkeit seinen Anfang nimmt und sich im literarischen Text reflexiv zum Zirkel schließt. Die Rede ist von der in merkwürdiger Spannung zum regelpoetologischen Einheitspostulat stehenden Vielheit der Orte. In »Rostock, Auf Kosten guter Freunde« ist dem Titelblatt zufolge die Pietisterey im Fischbein-Rocke erschienen, und der »Brief des Herausgebers an den Verfaßer dieses Lust-Spiels« (5) liefert zu dieser kontextlosen Angabe auch eine Geschichte, welche klarstellt, um wessen »gute Freunde« es sich bei dieser augenscheinlich privaten Veröffentlichungsinitiative handelt. Um diejenigen des Herausgebers nämlich, der das vom »Verfaßer« ihm »neulich übersandte Manuscript« einer »grossen und aufgeweckten Gesellschafft« mit allgemeinem Beifall vorgelesen hat (5). Das ist aber noch nicht alles. Die gescheidesten Köpffe in dieser Gesellschafft traten alsobald zusammen, und beschlossen mit einhelligen Stimmen, daß man der Welt dieses vortreffliche LustSpiel nicht mißgönnen müste. Wieder diesen Entschluß hatte die gantze Gesellschafft nichts einzuwenden, als dieses: Wo man denn einen Verleger darzu hernehmen würde. Weil sich so leicht kein Buchdrucker entschliessen würde eine Schrifft zu drucken, die allem Ansehen nach gewissen Leuten sehr mißfallen, und sie zu der empfindlichsten Rache gegen denselben anflammen würde. Doch kaum war dieser Einwurff vorgebracht; so war er auch schon gehoben. Eben diejenigen, so auf den Anschlag gekommen waren, dieses Werck drucken zu lassen, erbothen sich auch die Kosten darzu herzugeben. (6)
Als Selbstverlagsort der Pietisterey wie als mutmaßlicher Wohnsitz des namenlosen Herausgebers wird somit paratextuell Rostock bestimmt, neben Wittenberg die wichtigste universitäre Hochburg der lutherischen Orthodoxie. Daß »der Verfaßer« demgegenüber an einem andern Ort zu denken ist, deutet sein Antwortschreiben an, wenn er auf die Veröffentlichungsnachricht mit dem bestürzten Vorwurf reagiert: Wollen Sie mir noch mehr Verdruß und Streitigkeiten über den Hals laden, als ich schon wegen einiger weit unschuldiger Schrifften wieder dieses Fanatische Geschmeisse bekommen habe? haben Sie nicht bedacht, an was vor einem Orte ich lebe? (8)
Auch wenn dieser Ort nicht genannt wird, um Rostock handelt es sich wohl nicht, scheinen doch die drastisch als »Fanatische[s] Geschmeisse« bezeichneten Pietisten hier über so viele Sympathisanten zu verfügen, daß die Publikation für den »Verfaßer« persönliche Unannehmlichkeiten mit sich bringen könnte. Der so in den Paratexten kenntlich werdenden fiktiven Verschiebung des brisanten Lustspiels von einem ungenannten Ort, an dem Pietisten etwas zu sagen haben, ins orthodoxe Rostock korrespondiert hinter den öffentlichen Kulissen aber aufs genaueste eine nichtfiktive Verschiebungsbewegung, in der die Unbekannte Leipzig heißt. Wie nämlich die Geschäftsbücher des Verlages ausweisen, kam die Pietisterey tatsächlich – nicht anders als Gottscheds Critische Dichtkunst, seine Ersten Gründe der Gesamten Weltweisheit oder die ebenfalls 1736 erschienene Ausführliche Redekunst – bei Bern-
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hard Christoph Breitkopf in Leipzig heraus,57 unter dessen Dach »Verfaßer« wie »Herausgeber« als Ehepaar Gottsched seit Mai 1735 hausten. Wer immer den »kleinen Umweg« von Leipzig nach Rostock initiiert haben mag, er, sie, der Verleger oder sie alle zusammen: jedenfalls hat dieser Umweg sich über das Titelblatt hinaus in die das Stück anonym an die Öffentlichkeit geleitende Autor- und Herausgeberfiktion eingeschrieben. Doch auch die Lustspielhandlung selbst ist durch Orte strukturiert. Hier sind die polaren Zentren erneut Rostock und Wittenberg mit den in orthodoxer Sicht maßgeblichen »Theologischen Facultäten« (31) auf der einen, das durch August Hermann Francke geprägte pietistische Halle, das unter dem besonderen Schutz des preußischen Königs stand,58 auf der andern Seite. »Der Schau-Platz« des Lustspiels aber ist an einem dritten Ort, in »einer Stadt, die gerade in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts ein Hauptsitz des in Preußen vom Könige begünstigten Pietismus war«:59 »in Königsberg« (11) nämlich, von wo Johann Christoph Gottsched 1724, notwendig einen ziemlich großen Umweg nehmend, vor preußischen Kriegshäschern nach Leipzig geflohen war. In Königsberg also ist nicht nur das Geburtshaus Gottscheds, sondern, so will es die dramatische Fiktion, zugleich auch »der Frau Glaubeleichtin Haus« (ebd.) zu denken, das doch eigentlich, hätte alles seine Richtigkeit, Herrn Glaubeleichts Haus heißen müßte. Und daß das alles kein Zufall ist, versichert ausgerechnet der vertrauenswürdige Herr Wackermann. Denn zwar machen im Stück selbst die Figuren an einigen Stellen indirekt (wiederum nur für Eingeweihte, das ist: Ortskundige, erkennbar) Königsberg als Ort des Geschehens namhaft.60 An markanter Position aber wird dieses vorgebliche
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Einen Eindruck, in wie umfassendem Sinne Breitkopf Gottscheds Hausverleger, Gottsched Breitkopfs Hausautor ist, vermittelt die Bibliographie, welche die historisch-kritische GottschedAuswahlausgabe beschließt: Johann Christoph Gottsched. Ausgewählte Werke, hg. v. P. M. Mitchell, Bd. 12: Gottsched-Bibliographie, Berlin/New York 1987. Vgl. die pointierte Formulierung bei Vulliod 1912 (wie Anm. 5), S. 38: »La Rome du piétisme était Halle.« Vgl. allerdings die weitaus differenziertere Darstellung in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […]. Acht und Zwantzigster Band Pi−Pq. Leipzig und Halle, Verlegts Johann Heinrich Zedler. 1741, Sp. 109–130, s.v. ›Pietisten‹; zu Halle Sp. 126: »So ward nunmehro [nach der Universitätsgründung 1694, N.K.] durch ein allgemeines Vorurtheil feste gesetzet, daß zu Halle der eigentliche Sitz, Auffenthalt, Seminarium, und Retirade der Pietisten wäre.« Martens 1996 (wie Anm. 8), S. 156. Zum Pietismus in Königsberg vgl. Vulliod 1912 (wie Anm. 5), S. 40f, sowie Fritz Gause, Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen, Bd. 2: Von der Königskrönung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Köln 1968, S. 116–122. Wenig weiterführend Joseph Kohnen, »Adelgunde Gottscheds Pietisterey im Fischbein-Rocke und Königsberg«, in: Germanistik. Publications de l’Université du Luxembourg 23/2007, S. 1–7. Cathrine berichtet im zweiten Auftritt des ersten Aktes, daß »die Wächter […] diese Nacht auf der Lestadie einen Geistlichen zu packen bekommen [haben], den man für einen Priester aus dem Löbenicht gehalten hat« (21). Zu »Lestadie« bietet das Stück in einer Fußnote die Erklärung: »Eine übel berüchtigte Vorstadt in Königsberg« (ebd.), »Löbenicht« muß man als »Stadtteil von Königsberg« hingegen kennen. Sodann erwähnt Cathrine das »Collegi[um] Friderician[um]« (ebd.), dessen überregionale Bekanntheit als »pietistisches Pädagogium in Königsberg« man wird voraussetzen dürfen. Erläuterungen nach Martens 1996 (wie Anm. 8), S. 21, Anm. 21. Im zweiten Auftritt des dritten Aktes beklagt sich Frau Bettelsackin über mangelnde Freigebigkeit in dem »schlimmen Qvartier«, in dem sie Almosen sammeln muß, und bricht in den Stoßseufzer
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Königsberg momentweise gleich zweimal auf einen ganz andern, in mancher Hinsicht nächstliegenden Handlungsort durchsichtig. »Ist hier in unsern Landen wohl ein Orthodox, der darwieder streitet?«, fragt Herr Wackermann und fährt, als die pietistischen Betschwestern im Hause Glaubeleicht ihm in einiger Dreifaltigkeit »die Liebe und das innere Christenthum« ans Herz legen (114), ironisch in erlebter Rede fort: Glauben Sie denn, daß die Orthodoxen gar keine Liebe und kein Christenthum haben? Es ist doch wahr, wir Pietisten sind rechte Leute. Wir meynen, wir haben die Gottseeligkeit allein gepacht; und wir sehen nicht, daß andere Menschen uns oftmahls auslachen müssen. Frau Glaubeleichtin. Was vor Menschen denn? Die Wittenberger in Wittenberg? Oder die Rostocker in Rostock? Herr Wackermann. Nun ja! Oder die Leipziger in Leipzig. (115)
Damit spricht Herr Wackermann, aus der preußischen Rolle fallend, ein zum satirischen Auslachen bereites Komödienpublikum an, wie das in Gottschedscher Regelmäßigkeit geschulte Leipzig es im Unterschied zu Königsberg, wo Gottsched bis zu seiner Flucht 1724 keine Komödie hatte zu Gesicht bekommen können,61 zu bieten hatte. Und daß darüber hinaus (hier schließt sich der Zirkel) auch die in Königsberg angesiedelte Lustspielhandlung selbst auf Leipzig, den Wirkungsort des gebürtigen Königsbergers Gottsched, abzubilden ist, darauf deutet, wie beiläufig und doch pointiert, wiederum Herr Wackermann hin, als Frau Glaubeleichtin ihn einlädt, doch einmal ihrem pietistischen Zirkel beizuwohnen: Potz tausend! das will thun. Die Sache ist sehenswerth, denn sie kömmt nicht ofte vor. Ich will gewiß hinein kommen. Ich wollte zwar in die Comödie gehen; allein ich werde nichts dabey verliehren. (37)
Die Wahl, »in die Comödie [zu] gehen« oder aber alternativ den Pietistinnenzirkel als theatralisches Äquivalent zu nehmen, war in Königsberg, wo »der fromme Friedrich Wilhelm I.« 1718 ein Theaterverbot erlassen hatten,62 schlechterdings nicht zu haben – wohl aber im Leipzig Gottscheds und der Neuberin. Insgeheim erweist die Pietisterey im Fischbein-Rocke sich ihm, dem wissenden Leser, als Heimspiel.
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aus: »Ach! wäre ich nur auf dem Tragheim, oder auf dem Roß-Garten« (67). Beides sind, wie die Erläuterung von Martens (ebd., Anm. 56) ausweist, »Stadtteile in Königsberg«. Nochmals auf die »Lestadie« kommt Frau Ehrlichin zu sprechen (99), deren Königsberger Platt sie zudem regional verankert. Vgl. Gottscheds Darstellung seines Weges zum Theater in der Vorrede zum Sterbenden Cato (wie Anm. 15), S. 5: »Obwohl ich nun Molièren leicht genug zu lesen bekam; so war doch in meinem Vaterlande keine Gelegenheit eine Komödie oder Tragödie spielen zu sehen: als wozu mir dieses Lesen eine ungemeine Lust erwecket hatte. Ich mußte mir also diese Lust vergehen lassen, bis ich im 1724. Jahre nach Leipzig kam; und daselbst Gelegenheit fand, die privilegirten dresdenischen Hofkomödianten spielen zu sehen.« Gause 1968 (wie Anm. 59), S. 36. Vgl. auch Malter 1993 (wie Anm. 56), S. 10. Eingang in die Stadt fand das Theater erst wieder seit dem Regierungsantritt Friedrichs des Großen 1740, vgl. Gause 1968 (wie Anm. 59), S. 133–135.
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6.
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Vorspiel von den schreibenden Frauen
Für eine solche exklusiv an ihn gerichtete Lesart war Gottsched nicht nur der aus pragmatischen Gründen – als ihr Gatte und paraakademischer Lehrer – notwendige, sondern zugleich der ideale Adressat. Denn in seinem literarischen (oder doch auch literarischen) Debüt hatte er sich gut zehn Jahre vor der Pietisterey, durchaus kühn, der umgekehrten Autorschaftscamouflage bedient: Gottsched veranstaltet seine erste Veröffentlichung, noch keine fünfundzwanzig Jahre alt, im Namen einer Frau. Genaugenommen nicht nur einer, sondern gleich dreier Frauen. Daß das ein anmaßender Ausgriff in eine anerkannt männliche Domäne ist, darum weiß der Text und vollzieht die Grenzüberschreitung um so selbstbewußter: Was ist das wieder vor eine neue Hirn-Geburt? Es wird itzo Mode, daß man gern einen SittenLehrer abgeben will. Haben wir aber nicht von Manns-Personen schon moralische Schrifften genung; und muß sich das Weibliche Geschlechte auch ins Spiel mischen? […] […] Es ist allerdings was ungewöhnliches, daß sich schwache Werckzeuge zu öffentlichen Richtern aufwerffen. Denn obwohl die lebhafften Engelländerinnen, und so gar die Schweitzerinnen, den Ruhm erlanget, daß sie zu einigen bekannten Sitten-Schrifften nicht wenig beygetragen haben: so sind doch ihre Arbeiten nicht anders, als durch die Vermittelung gelehrter MannsPersonen, der neugierigen Welt mitgetheilet worden. Wir unterstehen uns itzo was mehrers. Wir unterwerffen uns keiner männlichen Aufsicht in Verfertigung der Blätter, die wir ins künfftige herauszugeben willens sind; sondern sind entschlossen dieselbigen ohne fremde Anordnung, nach unserm eigenen Gutdüncken, und auf unsere eigene Gefahr ans Licht treten zu lassen.63
So ist am Mittwoch, dem 3. Januar 1725, im ersten Stück der Vernünftigen Tadlerinnen zu lesen. Unterschrieben ist dieses Avertissement von einer Frau namens Calliste, als Mitstreiterinnen bei ihrem Publikationsprojekt ohne »männliche Aufsicht« oder »Vermittelung« macht sie Phyllis und Iris namhaft, die nachfolgend im Wechsel mit ihr Woche für Woche für die einzelnen Stücke der ersten deutschsprachigen Moralischen Wochenschrift verantwortlich zeichnen werden. Wer sind diese drei Frauen, die, wiewohl sie auf ihrer ›Unstudiertheit‹ beharren,64 doch nur zu deutlich ihr moralisches, philosophisches, poetologisches Reflexionsvermögen blicken lassen? Unverkennbar handelt es sich um Pseudonyme, eine ehrbare Bürgerin im frühen 18. Jahrhundert heißt nicht Calliste oder Phyllis; das bezeugt auch Iris’ anfängliches Bedenken, »wie leicht unsere Nahmen kund und offenbar werden könnten, da man denn mit Fingern auf uns zeigen, und uns also zum allgemeinen Gelächter machen würde«.65 Doch gerade die innerhalb der Fiktion so ostentativ gewählten falschen (insofern fi ktiv fiktiven) Namen vermögen die weibliche
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Die Vernünftigen Tadlerinnen. Erster Jahr-Theil 1725. Halle im Magdeburgischen, Verlegts Johann Adam Spörl / des Königl. Preußl. Reformirten Gymnasii illustris privileg. Buchhändler, I. Stück, S. 1f. Zitiert wird nach der Ausgabe von Brandes (wie Anm. 19). Vgl. ebd., S. 7 (»Bleibet ihr aber bey euer vorigen Sprödigkeit, bleibet ihr bey der vorgefaßten Meynung, daß von einem oder etlichen unstudirten Weibes-Bildern nichts lesenswürdiges, nichts tüchtiges zu hoffen sey: Wohlan, so glaubet, was ihr wollet: wir werden es euch nicht wehren.«) und passim. Ebd., S. 4.
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Identität der fiktiv realen »Tadlerinnen« zu schützen.66 Den bereits im fünften Stück in einem Leserbrief – dem ersten in einer langen Reihe von (fiktiven, womöglich auch nichtfiktiven) an die »Tadlerinnen« gerichteten Briefen – eingespielten Verdacht, »unter der Larve vernünfftiger Tadlerinnen« operierten in Wahrheit keine »Frauenzimmer«, sondern »vernünfftige Tadler«,67 können sie glaubhaft parieren und zum Protest wenden »wieder das wenige Vertrauen, das man zu unserm Geschlechte hat«.68 So werden die Mutmaßungen darüber, wer die »vernünftigen Tadlerinnen« nun eigentlich seien, regelrecht zum Leipziger Gesellschaftsspiel. Wer tatsächlich federführend hinter dem Projekt steckt, bleibt die gesamte Laufzeit der Zeitschrift über verborgen. Hinweise bietet der serielle Text lediglich darauf, von wo aus Calliste, Phyllis und Iris ihre weibliche Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Und das ist allerdings signifikant, denn die »Tadlerinnen« schreiben eben nicht (wie man es vielleicht hätte erwarten können) von Leipzig aus, können daher auf einen von dort eingehenden, über Verdruß in einer Komödienvorstellung klagenden Leserbrief ihrer »treue[n] Verehrerin Eburina« auch nicht aus eigener Kenntnis der »Beschaffenheit des Schau-Platzes und andere[r] Anstalten dabey« reagieren.69 Vielmehr stellen sie ihre »Reguln der gesunden Vernunfft von Comödien« von einer Stadt aus auf, deren »Einwohner […] hiebey schon einen Eckel werden empfunden haben. Diese[n] zu vertreiben«, so fährt die am 25. April 1725 korrespondierende Phyllis fort, will ich ihnen sagen, daß wir auch bey uns Comödien genug haben, wenn wir nur darauf acht haben wolten. Sie werden insgemein an Sonn- und Fest-Tagen und zwar ganz öffentlich gespielet, so daß sie ein jeder ohne Entgeld zuschauen kan. Jch habe sonderlich drey Schau-Plätze bemercket, wo dieselben aufgeführet werden. Der eine ist vor der Marckt-Kirche, der andere ist vor der Ulrichs-Kirche, und der dritte auf dem Berge neben der Schul-Kirche. Die Personen so daselbst auftretten sind fast lauter junge Manns-Personen und Frauenzimmer. Davon jene mehrentheils
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»Fiktive Verfasserschaft« hat Wolfgang Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, S. 15–99, bes. S. 22ff., als entscheidendes Gattungskonstituens der Moralischen Wochenschriften herausgestellt. Allerdings scheint mir die Annahme, »daß die Maske […] als solche für das Publikum durchaus erkennbar war« (S. 32), im Hinblick auf die Staffelung fiktiver Masken gerade bei einer so frühen Wochenschrift wie den Vernünftigen Tadlerinnen zu selbstverständlich vorausgesetzt. Vorsichtiger, ausgehend von einem etwas späteren Beispiel, Kord 1996 (wie Anm. 25), S. 131: »So zieht Daphne, hinter der sich Johann Gotthelf Lindner (1729–1776) verbirgt, zu diesem Zweck sogar – pikanterweise – die Benutzung eines männlichen Pseudonyms in Betracht. Bei diesem Geschlechtertausch in zweiter Potenz erwägt ein pseudogynym [sic] schreibender Mann spielerisch die Rückkehr ins eigene Geschlecht, ist aber dennoch an die Weiblichkeitsfiktion gebunden, denn nur ›Daphne‹ kann ihrer ›natürlichen‹ Neigung zufolge über Mägde, Markt und Moden plaudern. Inwiefern dieses pseudonyme Spiel bei der Leserin Erfolg hatte, ist bislang noch unerforscht: in den meisten Fällen mußte sie sich darüber im klaren sein, daß die weibliche Verfasserfigur eine fiktive war. Da die meisten Wochenschriftenautoren jedoch tatsächlich anonym blieben, blieb es der Leserin freigestellt, hinter der fingierten Verfasserin einen Autor oder eine Autorin zu vermuten.« Die Vernünftigen Tadlerinnen, Erster Jahr-Theil 1725, V. Stück, S. 37 und 38. Ebd., S. 39. Ebd., XVII. Stück, S. 131f.
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stille stehend, diese aber gehend ihre Rolle spielen, indem sie aus den GOttes-Häusern kommen und sich nach Hause verfügen. Und dieses geschieht ordentlich des Tages zweymahl welches auf andern Schau-Plätzen was ungewöhnliches ist. Man wird mich vielleicht auslachen daß ich keinen bessern Begriff von einer Comödie habe, als diese kurtze Nachricht zu verstehen giebt: allein ich glaube daß ich meinem Satze keinen geringen Schein geben kan: Man sage mir was ist eine Comödie. Jst sie nicht eine Vorstellung der Menschlichen Laster, die durch lebendige Personen geschieht? Und findet sich nicht dieses vor unsern Kirch-Thüren auf das allergenaueste?70
»Und dieses ist dasjenige«, so das Resümee, »was ich von unsern Hällischen Comödien zu sagen gehabt.«71 Im pietistischen Halle, das dem Theater feind ist, aber den Frauen weitreichende Entfaltungsspielräume bis hin zur Autorschaft gewährt,72 etablieren sich also die »Tadlerinnen« als schreibende, in männlich-skeptischer Sicht womöglich gar »Doctormäßige Frauen«. In Halle finden sie auch einen vom preußischen König privilegierten Verleger, um Woche für Woche in bisweilen brisanten Gedankenspielen vorstellbare weibliche Rollen zur Debatte zu stellen – und dabei selbst eine durchweg brisante Rolle zu spielen: die der eigenverantwortlichen, nicht durch einen Mann herausgegebenen Autorin. Die »Gesellschafft der teutschen Musen« wird da gegründet mit dem Ziel, »uns selbst in der Reinigkeit unserer Mutter-Sprache zu üben, und eine Vernunfft-mäßige Art des Ausdrucks der Gedancken einzuführen«.73 Gegen »die gemeine Auferziehung, da man Personen von unsern Geschlechte in der äussersten Unwissenheit stecken lässet«,74 wird protestiert und auf die »abgeschmackte Frage […]: Ob das weibliche Geschlechte auch zum Studieren geschickt sey?« erwidert: »Wir sind Menschen so wohl als die Manns-Personen«.75 Angeregt durch die »alten Amazonen«, wird die Utopie einer »Republic« entworfen, »die etwa heute zu Tage aus lauter Frauenzimmer aufgerichtet werden könte«.76 Das »löbliche Exempel eines Frauenzimmers welches sich auf die Poesie befleißiget«,77 wird vorgestellt, zur Nachfolge ermuntert und für die Zukunft versprochen, »dem Frauenzimmer zu gut, die sich dem Unterrichte der MannsPersonen nicht anvertrauen, und doch Verse machen wollen, einige andre Fehler in der Poesie anzumercken und zu beurtheilen«.78 Gegen drei Totengespräche des klassischen (männlichen) Satirikers Lukian setzt Calliste in einem literarischen Paragone zwei eigene, in denen, da »die höllischen Richter […] mit Verurtheilung der Männer soviel zu thun« haben,79 Proserpina das Unterweltsregiment übernimmt und weitaus effektiver
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Ebd., S. 134. Ebd., S. 146. Zu den Spielräumen weiblicher Autorschaft im Pietismus vgl. Critchfield 1985 (wie Anm. 30), S. 113. Die Vernünftigen Tadlerinnen, Erster Jahr-Theil 1725, II. Stück, S. 15. Ebd., VI. Stück, S. 42. Ebd., S. 43. Ebd., VII. Stück, S. 49. Ebd., XII. Stück, S. 90. Ebd., S. 96. Ebd., XXVI. Stück, S. 206.
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als »Pluto der unterirrdische Gott« oder »Minos, ein höllischer Richter«80 bei Lukian zu urteilen weiß. Ein poetisches Preisausschreiben unter dem Thema »Vertheidigung unsers Geschlechtes […] gegen die Mannspersonen«81 wird ausgelobt und zugleich die Warnung an »alle Manns-Personen« ausgesprochen, »daß wir ihre Arbeit dieser Ehre [der Veröffentlichung] nicht würdigen werden: wenn sie gleich die Verwegenheit haben solten unter dem Namen eines Frauenzimmers, etwas an uns zu überschicken«.82 Vom »sinnreichen Auferziehung[s]«-Experiment83 eines verwitweten »wohlhabenden Manne[s]« wird berichtet, der »seine beyde Kinder, ohne Unterscheid des Geschlechts in allerley Wissenschaften und Leibesübungen unterweisen lassen: wie denn seine Tochter nebst ihrem Bruder, die lateinische und griechische Sprache, die Geschichte, die Mathematic, Wapenkunst, Weltbeschreibung, Naturkunde, Kriegs- und bürgerliche Baukunst, das Fechten und Reiten etc. gantz wohl begriffen« und umgekehrt »es ihr sein Sohn in der Kochkunst, Zuckerbeckerey, im Putzmachen, Nähen, Sticken, u.s.f. auch nicht das geringste nach[gäbe]«.84 Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Bei alledem sind die »Tadlerinnen« aber keineswegs als weltfremde Anarchistinnen oder lächerliche femmes docteurs gezeichnet (obwohl sie sich ausdrücklich auch dem Lebensentwurf des »gelehrten Frauenzimmers« gegenüber aufgeschlossen zeigen85). Vielmehr gewinnen sie als nachgerade vorbildliche Perspektivfiguren Profil und werden zumal auf poetologischem Feld zu Vorreiterinnen dessen, was ihr verborgener Autor Gottsched fünf Jahre später unter eigenem Namen in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen als wegweisendes Regelwerk formulieren wird. So stellen sich seine 1725/26 unter dem programmatischen Titel »vernünftiger Tadlerinnen« schreibenden Hallenserinnen Calliste, Phyllis und Iris, gelesen im Horizont ihres zehn Jahre späteren Lustspieldebüts, wie ein kontrafaktischer Prätext zu den Königsberger Pietistinnen Frau Glaubeleichtin, Frau Zankenheimin und Frau Seuffzerin dar, zugleich aber auch als Gegenentwurf zu ihrer verborgenen, nur durch männliche »Vermittelung« möglichen Autorschaft. Diese kontrafaktische Nähe der Pietisterey zu den Vernünftigen Tadlerinnen wird noch deutlicher, wenn man die Komödienaffinität des gesamten »Tadlerinnen«-Projekts berücksichtigt. »Tadeln heisset unserer Einsicht nach«, so definiert Calliste im ersten Stück, »die Fehler und Schwachheiten der Menschen beurtheilen, und diese Urtheile durch Worte oder Schrifften zuverstehen geben.«86 Wenig später präzisiert sie, ihr Tadeln wolle »nur solche Fehler anmercken […], die einem Menschen würcklich zugerechnet werden können, und also wahrhafftig unter die Fehler gehören«, es solle »bescheiden« und »kein spöttisches, sondern ein wohlgemeintes und liebreiches Tadeln seyn«, vor allem werde man es sich »angelegen seyn lassen die Mittel vorzu-
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Ebd., S. 202 und 203. Ebd., XXVII. Stück, S. 216. Ebd., S. 210. Ebd., XLIV. Stück, S. 353. Ebd., S. 351f. Vgl. dazu das Nachwort von Brandes in ihrer Ausgabe der Vernünftigen Tadlerinnen 1993 (wie Anm. 19), S. 11*. Die Vernünftigen Tadlerinnen, Erster Jahr-Theil 1725, I. Stück, S. 4.
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schlagen, die, unserer wenigen Einsicht nach, zu desto leichterer Abschaffung mancher Schwachheiten behülfflich und dienlich seyn können«.87 Weist diese moralische Zielsetzung bereits entschieden auf die fünf Jahre später in Gottscheds Critischer Dichtkunst formulierte Absicht der Komödie voraus,88 so wird die Ähnlichkeit vollends deutlich, wenn die »Tadlerinnen« kundtun, sich zu diesem Zwecke auch der Fiktion bedienen zu wollen: Wie können wir aber die Vollkommenheiten unserer Brüder und Schwestern besser befördern, als wenn wir ihnen die Unvollkommenheiten zeigen, die sie noch an sich haben, und sie vor den Fehlern warnen, die ihnen hie und dar noch ankleben. Dieses wird also unsre vornehmste Absicht seyn; und ob wir es gleich bißweilen, mehrerer Deutlichkeit halber, unter erdichteten Nahmen und Personen bewerckstelligen werden, so darff doch niemand dencken, daß dieses lauter wahrhaffte Begebenheiten wären, die man aus Haß oder feindseligen Absichten so deutlich beschrieben. Nein es sollen nur Bilder seyn, die zu desto lebhaffterer Vorstellung der Laster, mit Fleiß also entworffen werden.89
In der Folge sind es dann aus dem lustspielfeindlichen und doch komödienhaltigen Hallenser Leben oder aus Zuschriften von andernorts gegriffene »Vorstellung[en] der Laster«, mittels welcher die »Tadlerinnen« zu vernünftigen Lustspielautorinnen avancieren und zugleich jederzeit gewärtig sein müssen, selbst als schreibende Frauen ausgelacht zu werden. Angesichts dieses weitreichenden Entwurfs weiblicher Autorschaft und Gelehrsamkeit aus seiner Feder dürfte die Unterstellung nicht zu gewagt sein, Gottsched habe die exklusiv an seine Person adressierte Problematisierung der »Doctormäßigen Frau« in ihrem Lustspiel verstanden. Zugleich stellt sich aber die Frage, worin der Appell ihres Stückes an ihn besteht, noch einmal genauer. Daß seine »vernünftigen Tadlerinnen« die Schwierigkeiten und Umwege weiblicher Autorschaft nicht reflektierten, kann man Gottsched nicht vorhalten. Kaum einer unter den hochfliegenden weiblichen Lebensentwürfen, der nicht brüchig würde, nicht an den wirklichen, männlich dominierten Verhältnissen seine Grenzen fände. So wird die Amazonenutopie, in der alles – bis hin zu »einer Weiblichen hohen Schule«, in der »alle Professor-Stellen mit Weibes-Personen besetzt« sind90 – viel vernünftiger zugeht, als bloßer Tagtraum depotenziert, dem auf dem Fuße der Albtraum vom ganz vermännlichten Frauenzimmer ohne allen äußeren Reiz folgt. »Jch entsetzte mich über diesen Anblick«,91 heißt es über die Träumende. Die erwachte Calliste aber geht der »wahre[n] Ursache« nach, »woher es doch komme, daß unser Geschlecht so sehr auf den Putz des Leibes und den Schmuck in Kleidungen hält«, und stößt auf Fremdbestimmung: »Mein Traum hat mich fest überredet, daß es bloß der Manns-Personen halber geschehe.«92 Besonders prekär ist es um das von den »Tadlerinnen« selbst betriebene und immer wieder angeregte literarische Schreiben von
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Ebd., S. 6. Vgl. das Nachwort von Brandes 1993 (wie Anm. 19), S. 15*. Die Vernünftigen Tadlerinnen, Erster Jahr-Theil 1725, I. Stück, S. 7. Ebd., VII. Stück, S. 50. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53.
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Frauen bestellt. Bereits das zwölfte Stück diskutiert, inwiefern »die Ticht-Kunst eine dem weiblichen Geschlechte nicht unanständige Beschäfftigung« darstellt, den Anlaß dazu hatte die Zuschrift jenes löblichen »Frauenzimmers, welches sich auf die Poesie befleißiget«, gegeben.93 Doch was steht in dem Brief dieser Leserin? Mitgeteilt wird lediglich sein Ende: Es hat ihr, vielleicht aus guten Ursachen beliebet, weder Ort noch Nahmen zu nennen; denn die Unterschrifft besteht in folgenden zweyen Versen: Vor dißmal kan ich nicht den rechten Nahmen schreiben, Der Ort, woher ich bin, soll auch verschwiegen bleiben. Aus diesen artigen Zeilen haben wir zur Gnüge abgenommen, daß es allerdings wahr seyn müsse, was uns gemeldte unbekante Gönnerin von sich selbst zu berichten beliebet, daß sie nemlich so wohl in der ungebundenen als gebundenen Schreib-Art nicht ungeübet sey.94
Diese beiden die eigene poetische Existenz nur um den Preis der Anonymität ermöglichenden Verse lesen sich wie die pointierte Konstruktionsformel ihrer Autorschaft avant la lettre. Ein »volles viertel Jahr« nach diesem »zwölften Stücke«95 vermag Phyllis dann endlich mit einer Zuschrift aufzuwarten, die einen poetischen Text – eine Versepistel an die »Tadlerinnen« von immerhin 160 Alexandrinern – und den (freilich verstellten) Namen der Dichterin bietet, der »gelehrten Breßlauerin« Elysie;96 doch macht die »Tadlerin« selbst am Ende den performativen Widerspruch der Schlußverse, »Mein eigner schlechter Reim / kan Euch schon überzeugen | Wie ungeschickt ich sey / zur edlen Poesie«,97 als charakteristisches Strukturmerkmal des Gedichtes kenntlich.98 Auf den in diesem siebenundzwanzigsten Stück ausgelobten Schreibwettbewerb aber erhalten die »Tadlerinnen« bis zum »letzte[n] Stück dieses Jahres«99 nur eine einzige Einsendung,100 deren Autorin – »Dero gehorsamste Dienerin de Rose« – es einmal mehr vorzieht, ihren »rechten Namen« zu verschweigen, ja sogar »sowohl dieses Schreiben als den Einschluß mit einer fremden Hand [hat] abschreiben lassen«.101 Gelingende weibliche Autorschaft unter zwar verstellten, aber doch weiblichen Namen vermögen in den Vernünftigen Tadlerinnen allein die »Tadlerinnen« selbst zu
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99 100 101
Ebd., XII. Stück, S. 90. Ebd., S. 89. Ebd., XXVII. Stück, S. 209. Ebd., S. 211. Ebd., S. 215. Ebd., S. 216: »Nun fragen wir alle Kenner der reinen Poesie, ob nicht unser Geschlecht Ursache habe, ein solches Probestück einer weiblichen Feder als eine Ehrenrettung anzusehen, dadurch man sich wider alle Auflagen vertheidigen kan. Es ist wahr unsre Poetin scheinet unsern gantzen Vorschlag, daß das Frauenzimmer zur Poesie geschickt sey, zu wiederlegen: allein es scheinet bloß, daß sie solches thue. Jhr eigenes Exempel zeiget, daß auch unser Geschlecht fähig sey gute Gedancken in angenehmen Versen auszulassen, ohngeachtet aller Hindernisse, die sich dabey finden könten.« Ebd., LII. Stück, S. 411. Weswegen das Preisausschreiben auf unbestimmte Zeit verschoben werden muß, vgl. ebd., S. 416. Ebd., S. 413 und 412.
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praktizieren. Und gerade darin besteht gegenüber dem, worüber Calliste, Phyllis, Iris schreiben, aber auch gegenüber der umwegigen Konstruktion von (Nicht-)Autorschaft in ihrem Lustspiel der blinde Fleck seines Textes. Ihre Autorschaftscamouflage negiert sie, weil sie gelingt: weil niemand die Autorin, durch die das übersetzte Werk erst zu einem »Original« würde, hinter dem »Verfaßer« argwöhnt. Seine Autorschaftscamouflage kann es sich leisten, mit der Negation des männlichen Urhebers zu spielen, gerade weil dieser (nicht persönlich, aber als Mann) unentwegt hinter der »Tadlerinnen«-Maske vermutet wird102 und so das exzeptionelle Gelingen weiblicher Autorschaft halb und halb als männliche Virtuosität auf seine Rechnung geht.103 So ist es denn auch konsequent, daß er am Ende, im zweiundfünfzigsten Stück des zweiten und letzten Jahrgangs der Vernünftigen Tadlerinnen, in männlichem Namen den alleinigen Autorruhm davonträgt und Calliste, Phyllis, Iris zu bloß didaktisch motivierter Fiktion depotenziert.104
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Dieser Verdacht zieht sich leitmotivisch durch die Vernünftigen Tadlerinnen; besonders ausgiebig in Szene gesetzt wird er am Ende des ersten Jahrgangs im LII. Stück, S. 417f.: »Was sollen wir aber von denen sagen, die noch biß auf diese Stunde nicht glauben wollen, daß wirckliche Frauenzimmer an unsern Blättern gearbeitet haben? Wir müssen es ihnen erlauben: ob sie gleich sehr schwache Gründe vorzuwenden pflegen; wenn sie ihre Ungläubigkeit vertheidigen wollen. Der eine hört einen guten Freund rühmlich von den Tadlerinnen sprechen: augenblicklich macht er den Schluß: Mein Herr, sie werden gewiß der Verfasser seyn. Unvergleichlich geschlossen. Der andre hört einen sprechen, der vorher sagen kan, was in dem nächsten Stücke abgehandelt werde, noch ehe dasselbe gedruckt ist: So gleich ist es offenbar, daß er der Urheber davon seyn müsse; denn wie wolte er es sonst wissen? Abermal ein bündiger Beweisgrund. Der dritte sieht gar den ersten Abdruck unserer Blätter bey jemanden, der aus Höflichkeit die Mühe über sich genommen, die Fehler des Setzers zu verbessern: da ist nun vollends die Sache ausgemacht. Er soll und muß die Tadlerinnen schreiben, und wenn er tausend Eyde dagegen ablegen möchte. Sind das nicht alles wunderliche Leute? Gerade als wenn niemand ein gut Wort von einer Schrift sagen könte, als ihr Uhrheber. Gerade als wenn unser Verleger, seinen guten Freunden, den Jnnhalt unsers künftigen Stückes nicht entdecken, oder wohl gar unsern Aufsatz zeigen könte. Gerade, als wenn endlich die Verfasser eines Werckes, selbst die Druckfehler verbessern müssen! Wir haben sonst niemals was drucken lassen; folglich verstehen wir die Kunst nicht ein Blat recht auszumustern: weswegen wir uns auch genöthiget gesehen solche Arbeit einem, auch wohl etlichen guten Freunden unsers Verlegers zu überlassen. Will man es uns noch nicht glauben: so gehe man hin, und lasse sich unsre eigenhändige Abschrift zeigen. Man wird an allen Buchstaben sehen, daß es keine Manns- sondern eine Weiberhand seye. Man halte dieselbigen auch gegen die Hände derer auf die der Verdacht gefallen ist: so wird man gewahr werden, wie sehr man sich bisher betrogen habe?« Zur grundsätzlichen Differenz zwischen Pseudandronymität und Pseudogynonymität, zwischen prätendierter Männlichkeit (die Autorin als Autor) und prätendierter Weiblichkeit (der Autor als Autorin) vgl. Kord 1996 (wie Anm. 25), S. 125–134. Genaugenommen – das wird in der Rezension des zweiten Teils der Vernünftigen Tadlerinnen in den Deutschen Acta Eruditorum 1727 präzise registriert – läßt Gottsched die weibliche Maske bereits mit der Widmungsvorrede (eine solche gab es zum ersten Teil nicht) fallen: »Endlich haben die vernünfftigen Tadlerinnen die Masqve abgelegt, indem man unter der Zuschrifft dieses Theils die Worte findet: der Verfasser.« Deutsche Acta Eruditorum Oder Geschichte der Gelehrten, Welche den gegenwärtigen Zustand der Literatur in Europa begreiffen. Hundert und vier und zwantzigster Theil. Leipzig, bey Joh. Friedrich Gleditschens seel. Sohn, 1727, S. 299–304, hier S. 299. Vom zeitgenössischen Rezensenten wird das, durchaus konsequent an die Konzeption der Tadlerinnen anschließend, auch weiter in theatralischen Begriffen beschrieben: »Nunmehr
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Zwar wird diese Enthüllung sogleich durch die Versicherung eingeschränkt, es sei »indessen weit gefehlt, wenn man glaubet, daß an diesen Blättern das schöne Geschlecht gar keinen Theil habe«.105 Doch namhaft gemacht werden können dessen Vertreterinnen mit Ausnahme der »nunmehro seelige[n] Frau von Breßler« nicht, stattdessen folgt, ausgehend von dieser »eintzige[n]«, die Schlußvision von sich unter seiner Hand anonym vervielfältigendem schreibenden Frauenzimmer: Und wer weiß, was sie nicht noch sonst unter verdecktem Nahmen zu diesen Blättern beygetragen? So viel ist gewiß, daß ein andres vornehmes Frauenzimmer ihre Hand und Nahmen wohl zehnmal verändert, ja sich wohl einen männlichen Nahmen gegeben, um nur von mir nicht allezeit vor dieselbe Correspondentin gehalten zu werden. Was mag nicht sonst ohne mein Wissen aus weiblichen Federn in diese Schrifften eingeflossen seyn?106
7.
Nachspiele
Die souverän gelingende Autorschaft des »Tadlerinnen«-Trios kann so zugunsten ihres männlichen Autors und der in seiner Critischen Dichtkunst verfochtenen Wahrscheinlichkeit ins Reich der literarischen Phantasie verwiesen werden, in dem sich die allen-
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ist die Comödie aus, und der Vorhang zugezogen« (S. 302). Anders als von der Forschung durchweg behauptet, gibt Gottsched sich im letzten Stück des zweiten Jahrgangs allerdings nicht als Johann Christoph Gottsched zu erkennen. Vielmehr spricht er – im Habitus, als hätte er sich zu erkennen gegeben – als männliches Ich, das seine ehemaligen Mitstreiter beim TadlerinnenProjekt nicht »alhier mit Nahmen […] nennen« darf und sich darum damit begnügt, »zu ihrem besondern Ruhme zum wenigsten die Anfangs-Buchstaben ihrer Nahmen [zu] entdecken«: »Phyllis heißet J. F. M. Jris J. G. H. […]. Jch weiß daß sie mir diese Freyheit nicht übel deuten werden: da ich mich noch itzo ihrer werthen Freundschafft versichert halten kan. Meinen Lesern aber wird es nicht unangenehm fallen, wenn sie diejenigen wenigstens errathen werden, die zu ihrem Nutzen und Vergnügen gleich im Anfange dieses Werckes so viel beygetragen haben.« Die Vernünftigen Tadlerinnen, Andrer Jahr-Theil 1726, LII. Stück, S. 411f. Auch dieses Spiel setzt der Rezensent der Deutschen Acta Eruditorum fort und läßt dabei im unklaren, ob er um die Identität »des Verfassers« weiß: »Es hat derselbe die Anfangs-Buchstaben von denen Nahmen seiner Gehülffen drucken lassen, und dabey dem Leser die Freyheit gegeben, solche zu errathen. Nun haben sich zwar dieselben dieser Arbeit gar nicht zu schämen: und es würde ihnen gantz nicht nachtheilig seyn, wenn solche völlig ausgedruckt wären. Weil es ihnen aber beliebet hat, verborgen zu bleiben, so behalten wir unsere Muthmassungen, so wohl von ihnen, als von demjenigen, welcher sich Calliste genennet, billig bey uns; weil es unhöflich ist, iemanden wieder seinen Willen die Masqve abzuziehen« (S. 299f.). Namentlich bekennt sich Gottsched zur Autorschaft an den Vernünftigen Tadlerinnen erst durch die Widmungsvorreden zur zweiten Auflage 1738, die ebenfalls bei Brandes 1993 (wie Anm. 19) abgedruckt sind. Rückblickenden Klartext bietet 1756 Gottscheds »Vorrede, darinn eine Nachricht von des Verfassers ersten Schriften, bis zum 1734sten Jahre enthalten ist«, die er der sechsten Auflage seiner Ersten Gründe der gesammten Weltweisheit, Praktischer Theil voranstellt. Vgl. Johann Christoph Gottsched, Ausgewählte Werke, hg. v. P. M. Mitchell, Bd. V/3: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Variantenverzeichnis), bearbeitet v. Otto Tetzlaff, Berlin/New York 1989, S. 247–286, hier S. 257f. Die Vernünftigen Tadlerinnen, Andrer Jahr-Theil 1726, LII. Stück, S. 415. Ebd., S. 415f.
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falls trotzdem zu beanstandende ›Unnatürlichkeit‹ – nicht anders als etwa die Verwendung sprechender Namen – didaktisch rechtfertigen läßt.107 Was bleibt, sind – freilich unter denkbar unterschiedlichen Autorschaftsbedingungen – in seinen wie in ihren Texten Frauenfiguren, deren emanzipatorisches Potential im Akt seiner Auslotung konsequent gebrochen wird,108 die an Autorschaft ohne »männliche Aufsicht« und »die Vermittelung gelehrter Manns-Personen«109 gar nicht zu denken brauchen. Eine Ausnahme macht allein Herr Witzling, Ein deutsches Nachspiel in einem Aufzuge, das 1745, einmal mehr anonym, den sechsten und letzten Band von Gottscheds Deutscher Schaubühne beschließt – gleichsam ihr letztes poetisches Wort. Außergewöhnlich ist dieses Stück, insofern es die »Gottschedische Schaubühne«,110 dessen Teil es ist, selbstreflexiv zum Gegenstand der komischen Auseinandersetzung zwischen dem vernünftigen jungen Reinhart und den lächerlichen Herren Witzling, Rhomboides und Jambus macht; außergewöhnlich auch insofern, als die Schaubühne nur vordergründig zum Prüfstein auf poetische Vernunft wird, hintergründig sich hingegen der junge Reinhart im Gespräch über die Poesie mit den drei komischen Witzfiguren als unrettbar unpoetisch disqualifiziert;111 außergewöhnlich ist es schließlich, weil es als Einakter, dessen dramatischer Konflikt bereits im ersten Auftritt gelöst ist, sämtlichen Vorgaben
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Vgl. ebd., S. 414: »Eine solche Verstellung, als in diesen Schrifften geschehen ist, kan zu vielem guten dienen: und ich glaube, daß auch die meinige mehr genützet als geschadet habe. Diese Blätter sind von unzehlichem Frauenzimmer gelesen worden, die sich vielleicht keine Mühe darum gemacht hätten, wenn sie unter männlichen Nahmen herausgekommen wären.« Vgl. dazu, bezogen auf ihre weiblichen Figuren, Kord 2000 (wie Anm. 1), S. 86: »The question of female self-determination in Gottsched’s plays […] is answered by a rift between intellectual/ volitional and social empowerment: those who are intellectually capable and willing to make decisions are deprived of the authority to do so, while those in authority refuse to exercise it and mask this refusal by recourse to physical debility.« Die Vernünftigen Tadlerinnen, Erster Jahr-Theil 1725, I. Stück, S. 2. »Herr Witzling, Ein deutsches Nachspiel in einem Aufzuge«, in: Der Deutschen Schaubühne, nach den Regeln und Mustern der Alten, Sechster und letzter Theil, darinnen sechs neue Stücke enthalten sind, ans Licht gestellet von Johann Christoph Gottscheden. Leipzig 1745, Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf, S. 509–551, hier S. 517. Zitiert wird nach Johann Christoph Gottsched, Die Deutsche Schaubühne. Faksimiledruck von 1741–1745, mit einem Nachwort von Horst Steinmetz, sechster Teil, Stuttgart 1972. Im sechsten Auftritt ergreift der junge Reinhart Partei für die Deutsche Schaubühne, die Herr Rhomboides und die beiden anderen komischen Figuren einhellig als »poetische Wassersuppen« (ebd., S. 534) denunzieren, was sie zunächst ins Unrecht zu setzen scheint, zumal alle drei sich im Fortgang als eifrige Anhänger ungrammatischer, doch von ihnen für um so poetischer gehaltener »Sprachschnitzer« (S. 536) entpuppen. Doch wendet sich das Blatt in dem Moment, da es an ein konkretes Beispiel geht: »Reinhart. Z. E. Jch las neulich in einem Gedichte, da ein Verliebter seine schöne um Gegenliebe ersuchet, den Ausdruck: uns wird nicht immer Frühling seyn. Jst das nicht ein bloßer Latinismus? Rhomboides. Latinismus oder nicht! der Gedanke ist doch schön. Witzling. Ja, er ist all artig. Reinhart. Würde er aber nicht bleiben, was er ist, wenn ich ihn nun gleich so verdeutschete: Wir werden nicht immer jung seyn? Sie schreyen alle drey. Nein! nein! nein! das ist kalt, matt, frostig! Reinhart zuckt die Achseln und lacht. Da sehen Sies ja nun, daß Jhnen bloß der Sprachschnitzer gefällt: der Gedanke ist ja eben derselbe. Jambus. Bey Leibe nicht. Uns wird nicht immer Frühling seyn! das ist so malerisch, so körnicht geredet. Das andere ist lauter Wasser dagegen« (S. 537). Kein Wunder, daß gerade Jam-
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Gottschedscher Regelpoetik Hohn lacht. Allein dadurch allerdings vermag es seine Protagonistin Lottchen, der zunächst ein ähnliches Schicksal fremdbestimmter Verheiratung droht wie Luischen in der Pietisterey, zu einer das ganze »Lustspiel«112 über ungebrochenen Souveränität zu ermächtigen und so zur wahrhaft lachenden Dritten zu machen. Denn die Waise Lottchen, »Unmündige« des reichen Leipziger Kaufmanns Reinhart,113 erweist sich nicht nur als mündig, indem sie der Autorität der väterlichen Vollmacht, mittels derer Reinhart aus ihr und Herrn Witzling »ein Paar zu machen« gedenkt,114 ihre philologisch genaue Lektüre entgegensetzt. Sie hatte auch einen »vernünftigen Vater«,115 der Herrn Reinhart, wie dieser selbst zugibt, »mit einer Bedingung, die sehr selten ist«, über sie »zum Vormunde […] gesetzt« hat: »daß nämlich, wofern Sie in Jhren unmündigen Jahren wider meinen Willen heirathet, ich Jhr von Jhrem Vermögen keinen Häller auszahlen darf.«116 Der »Sinn des väterlichen Willens«, so weiß Lottchen ihren Vormund zu belehren, besteht darin, »einer unbedachtsamen Thorheit der Jugend vor[zu]beugen«, keineswegs aber, sie »zu einer Sklavinn eines fremden Eigensinnes auf Lebenslang« zu machen: »Wenn ich mündig, und hoffentlich vernünftig genug seyn werde: so kann ich mich nach eigenem Gefallen verheirathen.«117 Das Heiratsproblem ist damit für die Dauer des Nachspiels aufgeschoben. Ihre durch das nachgerade utopische Testament bereits in der Unmündigkeit erlangte Mündigkeit aber vermag Lottchen schon im Stück unter Beweis zu stellen. Die übrigen acht Auftritte nämlich, derer es nach der vorzeitigen Auflösung des Konflikts gar nicht mehr bedurft hätte, macht sie zu ihrer »schöne[n] Comödie«,118 in welcher der junge Reinhart – im Glauben, sie vor dem Schicksal retten zu müssen, »eine Frau Witzlinginn zu werden«119 – sich mit Witzling, Rhomboides und Jambus ein für alle Beteiligten desaströs endendes Schaugefecht liefert, während sie leitmotivisch »lacht«.120 Daß Gottsched ihr Nachspiel in seine Schaubühne aufgenommen hat, muß nicht nur deshalb verwundern, weil die Gattung Nachspiel in die Tradition improvisatorischen Theaters gehört, die er zeitlebens bekämpft hat. Allerdings enthält er sich nicht, ihrem letzten Wort sein letztes Wort gleich mehrfach nachzuschicken. Zunächst durch eine das Stück anonymisierend fremdstellende Bemerkung in der Vorrede zum sechsten Teil der Deutschen Schaubühne:
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bus gegen Reinharts Paraphrase protestiert – geht es mit der Zerstörung des jambischen Verses ihm doch buchstäblich an den Leib. Als »Lustspiel« wird das Nachspiel im Personenverzeichnis tituliert, ebd., S. 510. Ebd. Ebd., S. 514. Ebd., S. 515. Ebd., S. 514. Ebd., S. 515. Ebd., S. 521. Insofern ist die sie als Protagonistin gar nicht erwähnende Titelwahl für das Nachspiel durchaus konsequent. Ebd., S. 519. Vom ersten Auftritt an weisen die Regiebemerkungen Lottchen durchgängig das Lächeln oder Lachen zu.
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Das letzte Stück, welches nur ein Nachspiel ist, hat mir ein Unbekannter eingesandt. Die Absicht in demselben, schien sich sehr gut zum Beschlusse meiner Schaubühne zu schicken: darum habe ich ihm diesen Platz eingeräumet.121
Mag im »Lustspiel«, »welches nur ein Nachspiel ist«, Lottchen die souveräne Komödiengewalt über sämtliche männlichen Figuren erlangen: jenseits des Stückes wird die ungenannte Autorin einmal mehr zum Mann, dem er den Platz einräumt. Doch damit noch nicht genug, auch der literarische Text selbst bleibt potentiell nicht unangetastet: Jch weis es nicht, ob die Charactere, die er darinn vorstellet, Originale haben mögen: da ich es aber aus verschiedenen besondern Zügen, die darinn vorkommen, muthmaßen mußte, daß der Herr Verfasser etwas dabey im Sinne gehabt; so habe ich mir die Freyheit genommen, dieselben wegzulassen und vieles von demjenigen zu lindern, was etwa anzüglich hätte werden können. So wie ich es itzo liefere, wird es wohl den Namen einer allgemeinen Fabel führen können, die sich auf keine besondre Person schicket. Denn das ist allemal meine Absicht gewesen, daß die Lustspiele meiner Schaubühne keine persönliche Satiren werden möchten. Was indessen ohne mein Wissen und Vermuthen noch geblieben seyn möchte, lasse ich den Urheber selbst verantworten.122
Doch auch damit noch nicht genug. Auf das die Schaubühne beschließende Nachspiel muß nämlich, die übliche Sechszahl überschreitend,123 paradoxerweise noch »ein sogenanntes Vorspiel« unter dem Titel Die mit den freyen Künsten verschwisterte Schauspielkunst folgen, womit es, wie wiederum die Vorrede kundtut, eine besondere, poetologisch wie autobiographisch auf das Ich des Herausgebers gemünzte Bewandtnis hat. Es handelt sich um dasjenige Stück […], welches im nächstverflossenen Jahre, bey der Jubelfeyer der königsbergischen Akademie, aufgeführet worden: theils, weil es an sich überaus wohl gerathen ist; theils weil es die Regeln der guten Schaubühne in vielen Stücken erläutert; theils, weil es mich derjenigen hohen Schule erinnert, wo ich zehn Jahre hintereinander meine Studien getrieben habe; und eine Art der Dankbarkeit gegen Dieselbe anzuzeigen schien, wenn ich es hier einrückete.124
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Der Deutschen Schaubühne […] Sechster und letzter Theil 1745 (wie Anm. 110), Vorrede, fol. **v. Ebd., fol. **v/ **2r. Daß es sich um eine Überschreitung handelt, wird durch das Titelblatt kenntlich, auf dem es heißt: »darinnen sechs neue Stücke enthalten sind«. Der Deutschen Schaubühne […] Sechster und letzter Theil 1745 (wie Anm. 110), Vorrede, fol. **2r. Dabei ist festzuhalten, daß dieses Vorspiel nicht nur Gottsched an die Universität seiner Heimatstadt, sondern umgekehrt – wiewohl ohne namentliche Nennung – auch die Welt an einen großen Sohn der Königsberger »hohen Schule erinnert« und ihn ehrt, wenn im letzten Auftritt die rehabilitierte und in den Kreis der »freyen Künste« aufgenommene Schauspielkunst ihrerseits sich ihres Schicksals vor Gottscheds Auftreten erinnert: »Daher das Vorurtheil, eh ich nach Deutschland kam, | Mir aller Gönner Gunst, und Lob und Ehre nahm; | Ja, man verdammte mich noch ehr, als man mich kannte, | Weil, da mein Feind [das Possenspiel] gefehlt, man mich auch strafbar nannte. | Doch, als in Deutschland ich Gefahr zu fallen lief, | Erhob ein Preuße mich, der mich aus Frankreich rief, | Und deutsch erzog; ob gleich viel critische Tyrannen | Den Anfang, weil er nicht vollkommen ist, verbannen; | Und mich verachten, nicht zu bessern sich bemühn. | So würde doch mein Glück auf deutschen Bühnen blühn, | Wenn jene, statt den Ruhm des Preußen zu verletzen, | Was er gegründet hat, sich wagten fortzusetzen«. Ebd., S. 562f.
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Sein allerletztes Wort über ihre Autorschaft spricht er, der ein Leben lang, ihr Leben lang über die »Doctormäßige Frau« hinter der Pietisterey im Fischbein-Rocke geschwiegen, dieses Stück auch nicht in die Schaubühne aufgenommen hat, aber erst nach ihrem Tod. In seiner ihren Sämmtlichen Kleineren Gedichten vorangestellten Beschreibung ihres Lebens, in der er sie als »in ganz Deutschland, ja auch in benachbarten Ländern, durch ihre Geschicklichkeit, und viele gelehrte und witzige Schriften, bekanntte [sic] und berühmte Frau« feiert,125 wird nicht nur erstmals ihre Autorschaft annonciert.126 Es findet sich dort zu diesem ihrem Lustspieldebüt auch ein vielzitierter, doch bislang nicht genau genug gelesener Passus über das Verhältnis von Autorin, komischem Sujet, französischer Vorlage: Um diese Zeit war in Frankreich oder Holland, die so betitelte Femme Docteur, ou la Theologie Janseniste tombée en Quenouille herausgekommen; ein leichtfertiges Schauspiel, womit die Jesuiten die Jansenisten zu Paris eingetrieben hatten. Die Wohlsel. hatte in ihrer Jugend eine Brut von solchen Frömmlingen gekannt, die sich auch in die Häuser klugseynwollendes Frauenzimmers eingeschlichen, um sie unter dem Scheine der Andacht zu gewinnen, und zum Behufe ihrer Herrschsucht, zu misbrauchen. Bey Durchlesung dieser Komödie glaubte sie, sehr viel Aehnlichkeit zwischen diesen häuchlerischen Seelenbrüdern, und den französischen Jansenisten zu bemerken: und da sie die Künste und Lebensart von jenen noch in frischem Andenken hatte, meynte sie vielen einen heilsamen Dienst zu thun, wenn sie die Abscheulichkeit boshafter Absichten und Verführungen, auch in unsrer Muttersprache bekannt machen möchte. Sie begnügte sich aber nicht mit einer bloßen Uebersetzung, wie es Terenz mit Menanders Stücken gemachet hatte; sondern änderte Namen und Umstände dergestalt, daß diese ihre Nachahmung ein auf deutschem Boden gewachsenes Original zu seyn schien.127
Mit dieser Bekanntmachung wird die »Doctormäßig« gelehrte Gottschedin zur Autorin in eigenem Namen, erscheint ihr Stück nicht mehr nur als Übersetzung, sondern als »Original«. Doch selbst posthum bleibt die Depotenzierung ihrer Autorschaft nicht aus, denn »ihre Nachahmung« schien nur ein »Original« zu sein, sie glaubte bloß Ähn-
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Der Frau Luise Adelgunde Victoria Gottschedinn […] Leben, 1763 (wie Anm. 48), fol. *5r. Eine verschleierte Nennung bietet bereits 1757 der Nöthige Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst, oder Verzeichniß aller Deutschen Trauer- Lust- und Sing-Spiele, die im Druck erschienen, von 1450 bis zur Hälfte des jetzigen Jahrhunderts, gesammlet und ans Licht gestellet, von Johann Christoph Gottscheden, S. 310, wo sich für das Jahr 1737 (statt 1736) der folgende Eintrag findet: »Die Pietisterey in Fischbein-Rocke, oder die Doctormäßige Frau. Rostock in 8. 1737. Dieß ist eine Nachahmung des französischen Lustspiels: la Femme Docteur, ou la Theologie Ianseniste tombe en Quenouille. verf. von L. A. V. G. g. K.«. Die Angabe der Autorin ist verdeckt, aber entschlüsselbar; das »Register Der dramatischen Poeten«, das die »Gottschedinn« insgesamt zehnmal nennt (fol. Zr), führt auch die Seite 310 auf, die außer der Pietisterey kein weiteres Stück der Gottschedin bringt. Bei allen anderen Stücken heißt die Autorin allerdings im Klartext »L. A. V. Gottschedinn«. Nicht als Autorin genannt wird sie für »Herr Witzling, ein Nachspiel« (S. 320), das ohne Autorangabe bleibt; das Register führt zwar zu Seite 320, doch dort findet sich auch noch »Das Testament, ein Lustspiel von L. A. V. Gottschedinn«. Zitiert nach dem reprographischen Nachdruck: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst, gesammlet und ans Licht gestellet von Johann Christoph Gottsched, erster und zweiter Teil. Im Anhang Gottfried Christian Freiesleben: Kleine Nachlese, Hildesheim/New York 1970. Der Frau Luise Adelgunde Victoria Gottschedinn […] Leben 1763 (wie Anm. 48), fol. **4r.
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lichkeiten zwischen Pietisten und Jansenisten zu bemerken, sie meinte »vielen einen heilsamen Dienst« mit ihrem Lustspiel zu tun. Um aber zu ihrer Jugenderfahrung mit der »Brut von solchen Frömmlingen« zu gelangen – Voraussetzung für ihr vermeintlich »auf deutschem Boden gewachsenes Original« –, muß sie wohl selbst zu jenem Typus »klugseynwollendes Frauenzimmers« gehört haben.
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Vom Nennen Gottes und der anonymen Autorschaft. Mit zunehmender Rücksicht auf Klopstock, Hamann und Herder
1.
Unvermeidliche Namentlichkeit im Christentum
Das Christentum hat wesentlich mit Namen zu tun. Anonymität ist deshalb ein sperriges Thema für die Theologie. Die Namentlichkeit Gottes, des einzelnen Menschen, der kirchlichen Gemeinschaften oder auch bestimmter religiöser Sprachvollzüge drängt sich geradezu auf. Der Individualname Jesus bildet verbunden mit dem Christustitel denjenigen Namen, in dem sich alle Christen auf Gott beziehen, so sehr sie sich im Übrigen voneinander unterscheiden. In den für alle großen Konfessionen1 verbindlichen altkirchlichen Bekenntnissen2 erscheint dieser Name an zentraler Stelle. Auch die Theologie trägt diesen Namen in allen konfessionellen, institutionellen und selbst modischen Ausprägungen. Im Christentum ist alles voll vom komplexen menschlichen Namen Gottes. Der Theologe und Religionswissenschaftler Rudolf Otto hat in seinem vielgelesenen Buch Das Heilige sogar dargelegt, der Name Jesus Christus sei eine Kurzformel für den Inhalt des Christentums und benenne die Heiligkeitserfahrung schlechthin.3 Dieser theologische Kern von Ottos Buch hat im 20. Jahrhundert die Konzentration der Evangelischen Theologie auf die Christologie, also auf ein zentrales Lehrstück der Namentlichkeit, verstärkt. Die Macht des Namens im Christentum hat jedoch eine Kehrseite, die man im Zeichen von Anonymität interpretieren kann. Um diese Kehrseite zu begreifen, muss man sich den Sinn des Nennens und die Kräfte klar machen, an deren Schnittstelle die Namensgebung erfolgt. Namen verhindern, paradox formuliert, Anonymität.4 Sie werden gegeben, damit jemand oder etwas weder im Grau der Unbestimmtheit zurückbleibe noch im Strom
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Die Begriffe Denomination und Konfession sind in den großkirchlichen Binnenperspektiven umstritten, da sie den Anspruch relativieren, Kirche schlechthin zu sein. Vgl. z. B. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Reformation 1930, Göttingen 101986, S. 19–30. Hier zit. nach Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München o.A. 1987 [zuerst 1917], S. 38–41 und S. 183–201. Der mokanten Verleugnung Ottos durch spätere Gegner einer Religionstheologie steht im 20. Jahrhundert ein breites theologisches Autorenspektrum gegenüber, das sich auf Otto beruft. Vgl. zur Problematik der Definition von Namen ausführlich Philipp Stoellger, »›Im Namen Gottes‹. Der Name als Figur des Dritten zwischen Metapher und Begriff«, in: Gott Nennen. Gottes Name und Gott als Name, hg. v. Ingolf U. Dalferth/Philipp Stoellger, Tübingen 2008, S. 249–285.
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Christian Senkel
der Bestimmbarkeit verschwinde. Sie bezeichnen die Unverwechselbarkeit insbesondere von Personen, auch wenn Personennamen mehrfach vorkommen. In den Anfängen der Namensgebung waren die Namen Metonymien, also umschreibende, typisierende Charakterisierungen, aber unterwegs zur Individualität.5 Der Name macht greifbar; der Versuch, einem horror vacui der nackten Replikation und zufälligen Variation zu entgehen, vulgo: dem gleichgültigen Werden und Vergehen aller Dinge zu trotzen, dürfte ein tieferer Grund für dieses Greifbarmachen sein. Ins Namenlose zu sinken, bedroht das menschliche Selbstverständnis. Im Christentum werden die Dimensionen der Namensgabe durch Gott als Namensträger und -geber kompliziert und interessant: Der eine Gott erhält in seinen Geschichten einen Namen, um für die Menschen unverwechselbar und schließlich selbst als Mensch greifbar zu werden. Menschen erhalten Namen, um vor Gott überhaupt sein zu können. Dieser Umstand setzt wiederum Erzählungen zum Verständnis des Seins-vor-Gott voraus. Und die Überlieferung von Gottesnamen und das vielsinnige Spiel mit ihnen verweist auf die metonymischen Anfänge der Namensgabe. Die eine Offenbarung Gottes an die Menschen in vielen Einzelgeschichten erscheint als beständige Bildung eines nur Gott gewärtigen Namens aus vielfältigen Umschreibungen. Bei der Bestimmung von Namentlichkeit im Christentum geht es um eine unverwechselbare Umschreibung eines Individuums auf seine Greifbarkeit hin. Im Fall Gottes ist dieses Individuum als auf Dauer unverfügbar und zugleich greifbar zu denken. Aufgrund des verdoppelten Nennens (Gott und Menschen) und der Unterscheidungen zur (Un)Nennbarkeit Gottes lässt sich die Namentlichkeit auf Anonymität als ihre Kehrseite beziehen. Dies geschieht anhand von Beispielen zu den Elementarbegriffen der Namentlichkeit: Unverwechselbarwerden, Greifbarmachen, Umschreiben. Die Erörterung zum biblisch-christlichen Namensdenken (2.) schafft einen Fundus zur poetiko-theologischen Reflexion von Namentlichkeit, Anonymität und Autorschaft bei Klopstock, Hamann und Herder (3.).
2.
Biblisch-Christliches Namensdenken und Anonymität
a)
Göttliche und menschliche Unverwechselbarkeit
Im Alten Testament ist die Verwechselbarkeit Gottes ein Dauerthema. Die Verwechslung ist unbedingt zu vermeiden, wie das Erste Gebot einschärft: »Du sollst keine Götter haben neben mir!« Historisch wird hiermit noch kein Monotheismus vorausgesetzt,
5
Auf eine metonymische Herkunft verweisen Verzögerungsrituale der Namensgabe, die auf das Hervortreten besonderer Züge warten. Die Addition von Typischem zur Individualität (Familie, Vorname, Auffälligkeit) zeigt sich im Lateinischen an Namen wie Publius Ovidius Naso oder Publius Vergilius Maro. Die scheinbar exotische Namensbedeutung in fremden Sprachkulturen (z. B. Blumen als chinesische Frauennamen) lenkt auf die Metonymik in der eigenen Namenskultur zurück (Rose, Viola, Daisy, Hortense etc.).
Vom Nennen Gottes und der anonymen Autorschaft
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vielmehr führt erst die Verwendungsgeschichte der Gebote auf ihn hin.6 Vorausgesetzt wird das Vorhandensein anderer, leichter greifbarer Götterkulte, die eine Verwechslung des Gottes Israels mit anderen Gottheiten begünstigen.7 Der Gottesdienst an solchen Kultorten wird vorsorglich untersagt: Man soll dort nicht anbeten.8 Die Unverwechselbarkeit des Gottes Israels wird in einer doppelsinnigen und, liest man die Bibel vom Anfang her, erstmaligen Kundgabe seines Namens dargestellt. »Ich werde sein, der ich sein werde!« (ʤʩʤʠ௴ ʸʹʠʖ ʤʩʤʠ: ähijäh ascher ähijäh) antwortet der HERR Mose aus dem brennenden Dornbusch auf die besorgte Frage, unter welchem Namen er Gott dem aus Ägypten zu führenden Volk vorstellen solle. Diese Antwort ist zwiespältig. Der im Hebräischen vier Buchstaben umfassende Gottesname ʤʥʤʩ (Jahwe) wird umschreibend ausgelegt.9 Eindeutig ist nur, dass Gott nicht verwechselt werden will. Der Exodustext verschiebt die endgültige Namensgabe in Gestalt einer Zeitigung (»ich werde sein«). Zugleich wird damit gerade der Name zum bevorzugten Gegenstand der Verehrung. Der israelitische Gottesbezug wird von unterschiedlichen Traditionsströmen definitionsartig als »Anrufen« und »Verehren« des Namens bezeichnet.10 Gottes halbe Anonymität, das halbe Auftauchen aus ihr und die Erhebung seines unaussprechlichen Namens zum Wahrzeichen einer Verwechslungsgefahr sichern die Offenheit der künftig auf diesen Namen zu beziehenden Geschichten. Der zurückgehaltene Name wird als Gabe in Aussicht gestellt, wird »verheißen«. Er steht für Unverwechselbarkeit, ist, wie es später heißt, »über alle Namen«,11 daher aber in der Lage, einzelne Namen zu adaptieren.12 So wird der Gottesname zur Stelle einer Aufladung mit Erwählungschancen, Bewährungsproblemen, Verwerfungsdrohungen und Neuanfängen. Die Offenheit des Gottesnamens für künftige Handlungen und Geschichten beruht auf seiner Stellung am Rande von Anonymität: von einem heiligen Dunkel des Namens und um den Namen. Die altkirchliche, später ostkirchliche Tradition thematisiert dies
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Vermutlich verdankt sich die Zentralstellung der Zehn Gebote und ähnlicher Texte der Prophetie. Die historische Priorität von prophetischen und gesetzlichen Traditionen ist ein immer wieder erneuerter Streitfall der alttestamentlichen Exegese. Die Geschichte vom Goldenen Kalb zielt mutmaßlich auf die Verwechslung von Jahwe und Baal vorort eines Stierheiligtums. Die Darstellung von Israels Gott im Kult ist religionsgeschichtlich erwiesen. Gleichwohl erfährt die komplizierter werdende Geschichte zwischen Gott und seinem erwählten Volk Einschnitte, mit denen die Darstellbarkeit Gottes als solche zum Thema wird. Vgl. Friedhelm Hartenstein, Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum. Jesaja 6 und der Wohnort JHWHs in der Jerusalemer Kulttradition, Neukirchen-Vluyn 1997, S. 109 passim, S. 225 passim. Vgl. die morphematische Ähnlichkeit zwischen dem Verb ʤʩʤʠ und dem Namen ʤʥʤʩ. Zur Relevanz für das Nennen Gottes Paul Ricœur, »Gott nennen« [1977], in: ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), übers. und hg. v. Peter Welsen, Hamburg 2005, S. 153–182, hier S. 170 passim. Für eine Auswahl gibt es zu viele einschlägige Belege. Vgl. daher Große Konkordanz zur Lutherbibel, Stuttgart 31993, S. 1035–1039. So im Brief an Philemon 2, 9. Maximalaussagen zum Namen Gottes finden sich vielfach im Alten Testament. Vgl. 2.c) zu den Umschreibungen; vgl. weiter Stoellger 2008 (wie Anm. 4), S. 257 passim.
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unter Rückgriff auf Moses Aufstieg am Berg Sinai.13 Fazit: Der mosaisch gebotene, schonende Umgang mit dem Gottesnamen zeitigt eine theologisch motivierte Anonymisierung Gottes als Kehrseite der hohen Bedeutung des göttlichen Namens. Das biblische Denken sucht mittels Namen auch eine spezifische Verwechselbarkeit des Menschen zu verhindern. In dieser Beziehung ist weniger an den Umstand der individuellen Namensgabe zu denken. Grundlegend ist vielmehr die Unterscheidung, ob sich Menschen einen Namen machen oder ob Gott ausgewählten Menschen oder Völkern einen Namen macht. So streben die Bewohner Babels gemäß der biblischen Urgeschichte danach, sich selbst durch den Turmbau einen Namen zu machen. Der Name in diesem Sinn bedeutet nicht nur individuelle Unverwechselbarkeit, er ist als rühmlicher Beiname gleichsam eine Metonymie der Geltung, die Menschen bei anderen Menschen haben. Die Babylonier (der Urgeschichte) zielen damit auf ein Überschreiben der Namen Anderer, weshalb ihnen jenes Medium verwirrt wird, das die erstrebte cognominale Eindeutigkeit sichern soll: die Sprache. Durch ihre Uneindeutigkeit wird die von Babel erstrebte Unverwechselbarkeit allen Völkern möglich. In der Gegenwirkung wird Babel verwechselbar. Dieser Unterscheidung des menschlichen Namensgebrauchs steht die Tradition der Erwählung durch Gott zu solcher Namentlichkeit gegenüber. Sie wird beispielsweise an der Erweiterung des Namens Abram zu Abraham (Gen 17, 5), an verschiedenen Verheißungen für Israel oder an dem großen Namen, den David erhalten soll (2. Sam 7, 9), deutlich. Am Ende aller (Nicht-)Verwechslungsgeschichten steht ein Neuanfang: die Menschwerdung Gottes. Der menschliche Name Gottes zeitigt Ruhe und neuschöpferische Unruhe. Er beruhigt die Zukunftsoffenheit des alttestamentlich bezeugten Gotteswesens, indem er sie in einer individuellen Unverwechselbarkeit ankommen lässt. Derselbe Name setzt aber auch ein neues Nennen Gottes frei, ohne die vormalige Umsicht gegenüber der Unnennbarkeit zu verlieren. So entsteht eine neue, intrinsische Anonymität. Schon an dieser Stelle dürfte die Abhängigkeit aller drei Elementarbegriffe der Namentlichkeit voneinander deutlich geworden sein. Wie Verwechselbarkeit sich sinnvoll nur unter Rückgriff auf Greifbarkeit und Umschreibung beschreiben lässt, so auch Greifbarkeit und Metonymik nur unter Rückgriff auf die anderen Elementarbegriffe. Dennoch müssen sie als Aspekte der Namentlichkeit abgeschattet werden. b)
Göttliche und menschliche Greifbarkeit
Anders als die Namensoffenbarung an Mose und ihre Folgegeschichten bejahen manche Überlieferungen die namentliche Greifbarkeit von Gott und Mensch. Neben dem erwählenden Unverwechselbarmachen mancher Menschen manifestiert sie sich besonders in der Performativität des Taufsakraments. Nach den neutestamentlichen Taufformeln wird ein Mensch dem Namen Gottes (als des dreieinig angerufenen Gottes) und dessen Bedeutungsmacht zugeordnet. Im Namen Gottes versammeln sich Gottesgeschichten,
13
Vladimir Lossky, Die mystische Theologie der morgenländischen Kirche, Paris/Graz 1961, S. 36f. u.ö.
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auf die der Einzelmensch bezogen wird.14 Um die Beziehung herzustellen, wird das Untertauchen in Wasser oder das Besprengen mit Wasser als copräsentativer Akt gewählt. Dieser Akt ist zum einen in der Jesusüberlieferung als Bußritual zur Reinigung von Sünde verankert (Jesus tauft nicht selbst). Zum anderen taucht der Täufling in das menschliche Lebensgeschick Gottes ein, um Anteil an dessen den Tod besiegender Lebendigkeit zu erhalten (Jesus lässt sich von Johannes dem Täufer taufen).15 Der individuelle Mensch wird durch ein Nennen im Namen Gottes der Verflüssigung aller endlichen Gedenkbarkeit entrissen und dem unendlichen göttlichen Gedächtnis präsentiert. Durch die Kindertaufe, in der die Gabe des menschlichen Namens im Unterschied zur Erwachsenentaufe kirchlich ritualisiert ist, wird dieser Vergegenwärtigungscharakter noch erhöht. Der Name des Neugeborenen und der göttliche Name werden zu einer gemeinsamen Geschichte des Unverwechselbar- und Greifbarwerdens aufeinander bezogen. Der menschliche Name soll sich mit einer individuellen Geschichte verbinden, ebenso unverwechselbar und greifbar wie die Geschichte Gottes selbst. Die doppelte Nennung lässt in der humanen Natalität Gottes Menschwerdung aufscheinen. Auch im namentlichen Greifbarmachen verbirgt sich Anonymität. Sie tritt am komplementären Fehlen eines namentlichen Verwebens von göttlicher und menschlicher Geschichte zutage. Das an der performativen Fülle des Taufsakraments ersichtliche Greifbarwerden Gottes und des Menschen füreinander im Namen scheint die Ungetauften ins heillose Dunkel existenzieller Anonymität zu verstoßen. Man könnte dieses Namenlos-Bleiben der Ungetauften schöpfungstheologisch durch den Hinweis auf die Auszeichnung der Menschen als nennende Kreaturen kompensieren. Denn im Benennen aller anderen Kreaturen erkennt Gott ausnahmslos allen Menschen eine ihm ähnliche Macht und Würde zu. Gott ruft ins Leben und der Mensch als Mandatar des Schöpfergottes benennt das Lebendige. Einschlägiger ist jedoch eine Gott selbst betreffende Kehrseite der Greifbarkeit. Gottes Greifbarwerden im Namen liegt eine Ungreifbarkeit zugrunde, die im alttestamentlichen Offenbleiben des göttlichen Namens nicht ihr volles theologisches Ausmaß findet. Machte sich der Gott Israels im Namen greifbar, so blieb er durch die kultische und textuelle Ersetzung seines Namens durch den Begriff des Namens einem direkten Zugriff doch entzogen. Um der Unverwechselbarkeit willen wird die Ungreifbarkeit aufrechterhalten. Die Weisheitsliteratur bewegt sich vom Alten bis zum Neuen Testament um den solchermaßen in seiner Offenbarung verborgenen Gott, verborgen im Leiden seines unabschreckbaren Verehrers Hiob oder in der Schwere und Eigenmacht irdischer Angelegenheiten.16 Ob man deshalb von Anonymität sprechen kann, ist fraglich, man kann die Verbergungsweisen Gottes aber als Hinweise auf eine Unbegreiflichkeit verstehen, die auch die substitutive Verehrung des Namens betrifft.
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Vgl. zur überaus komplexen Traditionsgeschichte der Formel ›im Namen‹ Adelheid RuckSchröder, Der Name Gottes und der Name Jesu. Eine neutestamentliche Studie, NeukirchenVluyn 1999, besonders die forschungsgeschichtliche Einleitung. Auf Einzelheiten des Sakramentsverständnisses kann ich hier nicht eingehen. Vgl. Paul Ricœur 2005 (wie Anm. 9), S. 169f.; Hermann von Lips, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 1990.
134
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Der nächste theologische Schritt ist die Zuschreibung der Verborgenheit an ein Wollen Gottes, das Gottes Verheißungen, oder allgemeiner: seine Zuwendung zu den Menschen verdunkelt. Diese Selbstinfragestellung des göttlichen Handelns kann zwar auch zum Guten ausschlagen (Ex 32ff.). In der gewollten Selbstverbergung manifestiert sie sich aber als Zürnen Gottes. Der Zorn Gottes ist in der christlichen Überlieferungsgeschichte moralistisch missverstanden worden. In seine Ausdrucksbeziehung gehört zwar auch ein Verkehren oder Verfehlen im Ethischen, doch ist es nicht die Sache selbst. Die Zornesvorstellung beruht auf der göttlichen Heiligkeit und ihrer Missachtung. Der Zorn gilt einem umfassenden menschlichen Abschweifen von Gott, das sich in bestimmten Formen und Medien äußert, aber das gesamte Verhältnis von Gott und Menschen berührt. Der Zorn Gottes lässt den Namen Gottes erlöschen. Im Zorn steht seine Heiligkeit in ihrer Reinheit und Namenlosigkeit vor den Menschen, sodass diese mit namenlosem Schrecken antworten. Dieser Schrecken kann zu Gott zurückführen.17 Er führt zurück, indem der Name Gottes – vielleicht der vergessene, verdrängte, vielleicht ein abgewandelter, vielleicht ein neuartiger – unwiderstehlich zum Nennen drängt. Das liturgische Bekennen dient so gesehen nicht der Sekurisierung gemeindlicher Identität, sondern einer rituellen Erschütterung. Es wiederholt ein Erschrecken. Im Bekenntnis anonymisieren sich die Erschrockenen, auf dass die Herrlichkeit des Namens Gottes greifbar werde. c)
Die Theologie der Namen als Kunst der Umschreibung
Die Umschreibung als drittes Element der Namentlichkeit – neben den Aspekten der Unverwechselbarkeit und der Greifbarkeit – setzt ebenfalls eine Dynamik der Anonymität frei. Die innerbiblischen Umschreibungen des Namens weisen über sich hinaus, verlassen ihre Orte und zeitigen Intertext.18 Eine berühmte Heilsweissagung Jesajas kann diese Kunst der Umschreibung verdeutlichen: »[…] uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf daß seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth.« (Jes 9, 5f.)
Jesaja verwendet eine formelle Anerkennung des Thronfolgers aus der Daviddynastie für eine weitergehende Verheißung. Die Ankunft des fraglichen Sohnes ist zeitlich entschränkt. Ein Anfang wird versprochen, dem kein Ende folgt. Im Rahmen dieses Neuanfangs gibt der Prophet ein Signal durch Metonymien konkreter Hoffnung: Man erkennt
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Die Lehre von den Letzten Dingen (Eschatologie) greift zur Veranschaulichung dieses Verlorengehens von Getauften auf die biblisch-apokalyptische Metapher vom Buch des Lebens zurück, in das ein Name eingetragen, aus dem er aber auch gelöscht werden kann. Christian Senkel, »Umgang mit dem Anderen. Eine theologische Hermeneutik des Zitats in ethischer Absicht«, in: Im Namen des Anderen. Die Ethik des Zitierens, hg. v. Joachim Jacob/ Mathias Mayer, München 2010, S. 161–174.
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den messianischen Sohn an Zügen, die auf eine endgültige Namentlichkeit hindeuten. Sie ist mit der Geburt des Sohnes in Bildung begriffen. Dieser Vorgang wird besiegelt durch die Nennung eines der Namen Gottes (›Herr der himmlischen Heerscharen‹: ›Herr Zebaoth‹). An solche Metonymik knüpft das Neue Testament an. Die Umschreibungen des Davidssohnes stellen Attribute zur Verfügung, die sich in der Erfahrung mit Jesus bestätigen. Umgekehrt lässt sich die Überlieferung von seinem Leben, Sterben und Auferstehen an solchen Umschreibungen plausibilisieren. Aus dem Schweben der Umschreibung zwischen Namentlichkeit und Anonymität, zwischen Herkunft und Ankunft geht Jesus als der die Verheißung einlösende Davidssohn hervor. Das dritte Element der Namentlichkeit im Christentum kann auch anhand eines theologischen Theorietyps auf seine intrinsische Anonymität hin befragt werden. Die von altkirchlichen Theologen und der ostkirchlichen Überlieferung entfaltete Theologie der Namen beruht auf einem doppelten Umschreibungsverfahren, das die Übergänge des Theologisierens in andere Darstellungsformen des Christlichen (Gebet, Ikonik, Hymnik) gewährleistet. Einem der wichtigsten um die Namen kreisenden Texte zufolge hat diese Theologie zwei gedankliche Stränge,19 einen ›apophatischen‹ und einen ›kataphatischen‹, die in komplementärer Weise aufeinander bezogen sind. Während die Apophatik im Aufstieg zu Gott als dem unaussprechlichen Über-Seienden alles Seiende negiert, um sich des unverwechselbaren Gottes in seiner Ungreifbarkeit zu vergewissern, geht die Kataphatik den umgekehrten Weg. Sie steigt, der göttlichen Kenosis, der Entäußerung in die Menschlichkeit analog, vom Konzentrat des Über-Unaussprechlichen hinab in die äußersten Winkel des nennbaren Seienden, um sich der Greifbarkeit Gottes in seiner unverwechselbaren Spur zu vergewissern. Beide Wege zusammen sind Theologie schlechthin.20 Der Stellenwert der Namen liegt in einer Anonymisierung wie in einer Ent-Anonymisierung. In der apophatischen Bewegung von Gedanken und Worten wird die Unverwechselbarkeit Gottes im Zeichen der Ungreifbarkeit gesucht. Der Name Gottes ist zwar gemäß dem Bekenntnis zum dreieinigen Gott bekannt, doch verschwindet er gleichsam in dessen Betrachtung. Gott entzieht sich in die ungreifbare Anonymität seiner nur ihm selbst ganz gewärtigen Präsenz. So schafft der Name einen durch ihn unbetretbaren Raum für menschliche Anbetung (und Autorschaft). Dies ist der Fluchtpunkt in der Apophasie. Auf kataphatischer Seite bezeichnen die Namen der Abwärtsbewegung der Kenosis folgend all das Gute und Schöne, das von Gott ausgeht, obgleich er den Emergenzen seiner Güte und Schönheit entzogen bleibt. Greifbar wird Gott durch seine Namen als den Inbegriffen der Ordnung alles Seienden. Der Über-Unaussprechliche macht die Menschen dadurch mit einer ihnen zuträglichen Präsenz bekannt. So gewährt er auch die Formen der Anbetung. Dies ist der Fluchtpunkt in der Kataphasie.
19 20
Dionysius Areopagita, »Über die mystische Theologie«, in: ders., Von den Namen zum Unnennbaren, Auswahl und Einleitung von Endre von Ivánka, Freiburg 31990, S. 94f. Vgl. zur ostkirchlichen Kritik an Thomas von Aquins Adaptation Lossky 1961 (wie Anm. 13), S. 34f.
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Die Doppelbewegung vollzieht das Paradox des Christentums: Ein unverwechselbarer Gott in seiner dreieinigen Ungreifbarkeit wird greifbar Fleisch in einer unverwechselbaren Spur. Während die kataphatische Spur einer Ent-Anonymisierung des Göttlichen Vorschub leistet, beschreibt die apophatische Bewegung eine Anonymisierung Gottes ins immer Erhabenere. »Dort ist die Rede vom Obersten zum Äußersten, Letzten hinabgestiegen, und sie gewann im Maße des Abstieges Breite und Fülle; hier aber, vom Untern zum Höheren emporsteigend, verengt sie sich nach dem Maße des Aufstieges und wird, nach dem Vollzug des Aufstieges, endlich ganz klanglos und gänzlich geeint mit dem Unaussprechlichen.«21 Der apophatisch-kataphatische Doppelweg hat aber weitere Bezugspunkte für Anonymität. So dichtet die apophatische Anonymisierung das göttliche Dunkel nicht völlig ab. Sie erfährt, in einer für moderne Erwartungen erstaunlichen Kontrarietät, Gott als überseiend und zugleich als nichtseiend. Gott erscheint der Apophatik als nicht nichtseiend, ein Ausdruck, der auf Gottes Erhabenheit zielt und erkennen lässt, wie der Areopagit das überseiende Eine des Neuplatonismus mittels eigener Kategorialität einfangen und der einheitlichen Unterschiedenheit des dreieinigen Gottes unterordnen will.22 So steht Gott für weitere Namen ein, die sich aus seiner erhabenen Namenlosigkeit entfalten, da sie selbst nicht nicht genannt werden kann.23 Seine Anonymität hat eine stets erneuerbare Zukunft.24 Die Kataphasie wird dadurch, es scheint gegen die Intention des Autors, aufgewertet.25 Neben dieser Dynamisierung von Anonymität kommt es aber auch zu einer Frage, oder zum Nichtstellen einer Frage, welche die Moderne (auch die moderne Theologie) beschäftigt. Die Frage betrifft die Systemstelle der menschlichen Auctorialität. In der christlichen Überlieferung führt das Umschreiben Gottes zu einer funktionalen Auffassung menschlicher Autorschaft. Wie dem Menschen die Schau Gottes, wenn auch nicht ohne Übung, widerfährt, so dient er ihrer Darstellung ganz und gar. Trotzdem ist es im Christentum nicht zur Anonymisierung von Theologen gekommen, im Gegenteil.26 In dieser Hinsicht ist Foucaults These zum Hervortreten namentlicher Autorschaft korrekturbedürftig. Anonyme Autorschaft ist in der langen Literaturgeschichte des Christentums nicht der Regelfall. Gewiss verweist ein Motiv wie namentliche Belangbarkeit auf jene kirchliche Synkrasie von Schmerz, Macht und Wahrheit, die Foucault anderwärts kritisiert. Doch der Erinnerungswert an ein gelunge-
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Dionysius Areopagita 1990 (wie Anm. 19), S. 95. Dionysius Areopagita, »Von den Namen Gottes«, in: ders., Von den Namen zum Unnennbaren, Auswahl und Einleitung von Endre von Ivánka, Freiburg 31990, S. 50ff. Vgl. Günter Bader, Die Emergenz des Namens. Amnesie – Aphasie – Theologie, Tübingen 2006, hier 104–108 zu Dionysius. Bader betont die Übergänge zwischen Apophatik und Kataphatik. Die Theologie der Namen hat keineswegs nur der Neuplatonismus ins Christentum kopiert. Vgl. zur Bewertung der Wege des Dionysius Areopagita 1990 (wie Anm. 19), S. 40ff. u.ö. Es kann zur Anonymisierung von Schrift, aber auch zur alleinigen Kanonisierung von (geheimer) mündlicher Überlieferung kommen wie in Formen des Buddhismus.
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nes Lob Gottes kann eine individuelle literarische Spur ermöglichen.27 Die Hymnik als Mündung der Namenstheologie bezeugt diese Spurbildung. Der Areopagit selbst ist historisch gesehen ein anonymer Autor, doch er wird entanonymisiert. Der spätantike Überlieferungsglaube gibt ihm das Pseudonym Dionysius Areopagita, zum Zeichen seiner apostolischen Herkunft (Apg 17, 34). Dieses Namensschicksal erweist sich aufgrund seiner Schriften als delikat. Ihnen zufolge könnte man die Namentlichkeit menschlicher Autorschaft als Frucht der Ent-Anonymisierung begreifen, die wie erwartet am Grund, aber auch auf der apophatischen Spitze der namenstheologischen Doppelbewegung erfolgt: als Emergenz zweiter Ordnung.
3.
Anonymität und christliche Autorschaft im 18. Jahrhundert
Der nun fällige Sprung ins 18. Jahrhundert ist aus drei Gründen möglich. Zum einen ist jede theologische Thematisierung göttlicher Namentlichkeit und Anonymität ein Risiko. Wo die Theologie auf dem Spiel steht, rückt das geschichtlich Entrückte aneinander. Zum anderen hat die bisherige Darstellung historische Hinweise gegeben, ohne primär historische Erklärung zu sein. Vielmehr wurden mit dem biblischen Namensdenken und der apophatisch-kataphatischen Tradition Modelle von verdeckter oder verdeckt wirksamer theologischer Anonymität erarbeitet. Drittens betreffen die historischen Übergänge und Bruchstellen der Anonymität im 18. Jahrhundert allerdings deren theologischen Sinn. a)
Klopstocks Unverwechselbarkeit und Gottes Rühmung
Friedrich Gottlieb Klopstock wäre ein schlechtes Beispiel für strategische Anonymität im 18. Jahrhundert, da er in hohem Maß auf den an namentliche Autorschaft gewiesenen Rücklauf von Leserreaktionen, Einkünften und Ruhm bedacht war. Seine Schreibweise sollte in ihrer Unverwechselbarkeit Anonymität geradezu unmöglich machen. Sie wurde jedoch zum bemerkenswerten Fall von kultureller Anonymisierung. Klopstocks Name ist nicht völlig vergessen, doch wie in eine multiple Rezeption aufgelöst28 erscheinen die literarischen Verfahren, die seine Unverwechselbarkeit begründen: der metrisch frei spielende lyrische Rhythmus, der hexametrische Schwung in einer deutschsprachigen ›heiligen Poesie‹, die Mühe um eine nationale Gelehrtenrepublik diesseits der Utopie und jenseits der Akademie. Klopstocks Platz in der jungen Nationalliteratur stand selbst für zeitgenössische Kritiker fest. Aufgrund von Überschreibungen wurde Klopstock jedoch zum Wegbereiter (Goethe, Hölderlin), zur Witzfigur (Heine) und zum Archivposten.
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Vgl. zum Recht der Rhetorik im kirchlichen Leben Hans-Georg Beck, Rede als Kunstwerk und Bekenntnis – Gregor von Nazianz, München 1977. Vgl. Katrin Kohl, Friedrich Gottlieb Klopstock, Stuttgart 2000, S. 1–21.
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Ein Hauptgrund dafür liegt in der Christlichkeit von Klopstocks Autorverständnis, das zur Rhetorisierung des Glaubens führt. In der rhetorisch-humanistischen Tradition wurzelnd geht Klopstock mit den antiken Rhetorikern Pseudo-Longin, aber auch Quintilian von der Notwendigkeit einer ethischen Qualifizierung jedes Rhetors/Dichters aus. Der vir bonus dicendi peritus wird allerdings christianisiert.29 Zum einen gewährt die Religion dem Dichter des namenlos Erhabenen gegenüber antiken und gegenwärtigen Sujets »eine neue Höhe, die für uns, ohne Offenbarung, mit Wolken bedeckt war.«30 Im Gespräch auf dem religiös-ästhetischen Höhenkamm sind Autor und Leserschaft poetologisch als Gemeinde versammelt. Sie »lernen […] einander am gewissesten kennen, ob sie Christen sind.«31 Der Überbietungsanspruch gegenüber der antiken mythologischen Epik und der spätbarocken chronikalischen Heldenepik wird durch kunstvolle Retrospektiven und Prospektiven um die Messiasfigur entfaltet. Eine weitere ästhetische Herausforderung besteht darin, zum »Plan der Offenbarung«32 hinzuzuerfinden, was nicht schon die biblischen Texte erzählen. Die Religion entlastet aber auch. Klopstock ordnet seine Literatenexistenz dem lutherischen Rechtfertigungsglauben zu. In dem der Messiade von 1780/81 beigefügten Gedicht An Freund und Feind33 stellt der Dichter die Wahl des Sujets als Ergriffenwerden durch dasselbe dar. In der vergeblichen Suche nach dem epischen Helden »unter des Vaterlands Denkmalen« erfährt das lyrische Ich »wie aus Schlummer geweckt« eine ungeheure Intuition: »Welches Anschaun war es! Denn ihn, den als Christ, ich liebte, Sah ich mit einem schnellen begeisterten Blick, Als Dichter, und empfand: Es liebe mit Innigkeit Auch der Dichter den Göttlichen!«
Der wählende Dichter weiß sich erwählt, sich durch ein christologisches und damit namentliches Dichten einen Namen zu machen. Das falsche Sujet auf falsche Weise suchend findet er erst im Grenzgang zwischen Literatur und Religion zum Thema. Im Gnadenglauben erfährt er sich nicht nur als begnadigt (Gabe), sondern auch als begnadet (Weitergeben).34 Die aus dem »Anschaun« abkünftige seelische Bewegung befreit den Glaubenden vom lastenden Gesetz und den Dichter von falschen Sujets und Methoden. Der christliche Dichter wird des Namens inne, aus dessen Ankunft allein auch ihm der begehrte Name des Ruhms herkommen kann. Denn »Reizvoll klinget
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Vgl. weiterführend Katrin Kohl, Rhetoric, the Bible, and the Origin of Free Verse. The Early ›Hymns‹ of Friedrich Gottlieb Klopstock, Berlin/New York 1990. Von der heiligen Poesie (1755), zit. nach Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte Werke, hg. v. Karl August Schleiden, München/Wien 41981, S. 1009. Ebd. Ebd., S. 1005. Zit. nach Friedrich Gottlieb Klopstock, Oden, Erster und Zweiter Band, hg. v. Franz Muncker/ Jaro Pawel, Stuttgart 1889, Bd. 2, S. 26–28, hier S. 28. Vgl. Martin Laube, »Begnadigung und Gnade. Dogmatische Unterscheidungen im Anschluss an eine öffentliche Debatte«, in: Christentumstheorie. Geschichtsschreibung und Kulturdeutung. Trutz Rendtorff zum 24.1.2006, hg. v. Klaus Tanner, Leipzig 2008, S. 165–178.
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des Ruhms lockender Silberton/ In das schlagende Herz und die Unsterblichkeit/ Ist ein großer Gedanke […].«35 Dieser irdische Ruhm ist verbunden mit dem Nennen von Freundesnamen. Klopstocks Distanz zur Anakreontik verhindert nicht die Teilnahme am sympathetischen Zusingen affektiver und konzeptioneller Botschaften. Dieses interaktive Rühmen bildet permanente Wettkampfbereitschaft im Zeichen des Autornamens ab. Aus solch einem Wettkampf soll ferner die Nationalliteratur entspringen.36 Die damit verbundene Agonalität bedarf aus christlicher Warte ebenso permanenter Revision. Auch Klopstocks Lyrik sucht im Grenzgang zwischen Literatur und Religion den legitimen und berühmten Autornamen zu erwerben. Das »Anschaun« des »Göttlichen« führt hier geradewegs in eine poetische Apophatik. Die Ode Die Stunden der Weihe (1748) hält die Stille als Medium der »Erfindung« fest: »kein schwatzender Prediger,/ Kein wandelloser Christ« soll die Tugend schöpferischer Konzentration stören: »Den stillen Eingang«. Selbst Freunden sind nur Ausnahmen von dieser Regel gewährt. Die Stille als Medium der Invention und Intuition korrespondiert einem Konzept der Stille vor Gott. Dieses Konzept dürfte dem zwar nicht pietistisch aufgewachsenen, aber hellhörigen Klopstock als fertige Ligatur aus radikalpietistischer Gelassenheit vor Gott und empfindsamem Pathos zugewachsen sein.37 Für eine lyrische Fassung solchen Stillwerdens vor der dreifachen Heiligkeit Gottes kann man an Gerhard Tersteegens Lied Gott ist gegenwärtig (zuerst 1729)38 denken. Solche Stille ergänzt Klopstocks Wortreichtum. Der hymnische Wortreichtum ist nur aus ihr verständlich.39 Klopstocks Stille birgt Namenlosigkeit. Der im konzeptionellen Sinn ›ruhmredige‹ Dichter verschweigt vor Gott seinen Namen, den Namen seiner Geliebten (und Gattin), die Namen von Freunden – alle ihm wichtigen menschlichen Namen. Er umschreibt sie allenfalls. Texte wie Dem Erlöser (1751), An Gott (1752) oder Dem Allgegenwärtigen (1758) zielen auf eine unendliches Umschreiben erzeugende Rühmung Gottes. Das lyrische Ich scheint sich in einer Gegenbewegung zur Poetologie des Ruhms zu befinden. Klopstocks Techniken der Herstellung individueller Beziehungen im Gedicht dienen hier einer ekklesiologischen Geselligkeit.
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Aus »Der Zürchersee«, in: Klopstock 1889 (wie Anm. 33), Bd. 1, S. 83–86, hier S. 85. Kevin Hilliard, »Klopstocks Tempel des Ruhms«, in: Klopstock an der Grenze der Epochen, mit Klopstock-Bibliographie 1972–1992 von Helmut Riege, hg. v. Kevin Hilliard/Katrin Kohl, Berlin/New York 1995, S. 221–243. Vgl. als Fundort nach wie vor Isabella Papmehl-Rüttenauer, Das Wort heilig in der deutschen Dichtersprache von Pyra bis zum jungen Herder, Weimar 1937; vgl. weiter Joachim Jacob, Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997. EG 165. Zit. n. Evangelisches Gesangbuch: Antwort finden in alten und neuen Liedern, in Worten zum Nachdenken und Beten, Ausgabe für die Evang.-Luth. Kirchen in Bayern und Thüringen, München/Weimar 1994. Das zitierte Lied findet sich im sogen. ›Stammteil‹, der für die Ausgaben der verschiedenen Landeskirchen gleich ist. Ich meine nicht das Genre, sondern die Redeform. Sie kann auch Oden bestimmen. Vgl. ausführlich Kevin Hilliard, »Schweigen und Benennen bei Klopstock und anderen Dichtern«, in: Das Erhabene in der Dichtung – Klopstock und die Folgen. Vortragstexte des Kolloquiums; Friedrich Gottlieb Klopstock, wissenschaftliche Tagung, 1. und 2. Juli 1995, Quedlinburg, hg. v. den Städtischen Museen Quedlinburg, Halle 1997, S. 13–32.
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Die Ode An Gott verdeutlicht das Verhältnis von Autorschaft und Anonymität. Die poetische Rede nimmt sich angesichts Gottes zurück. »Von deinem Antlitz wandelt, Unendlicher,/ Dein Blick, der Seher durch mein eröffnet Herz.«40 Das Herz als Organ der Seele muss geheiligt sein, ehe das Nennen anfangen kann: »Empfindung, bist du wahr, als dürf’ ich frei/ Mit dem Schöpfer der Seele reden?« Da die Poesie entgegen dem Gebot der Herzensprüfung schon angefangen hat, ist ihr Verfahren nur als Nicht-Nennen zu verstehen. Die Rede fragt, erwägt und zögert. Ihre Apophatik zeigt sich an den »menschlichen Gedanken«: Wenn ihnen »Gottes Gedanken […] zürnen: o wo sollen Sie […] hinfliehn?« Das Zürnen entspricht einer Selbstverbergung Gottes in der Unnennbarkeit. Mit Allusionen an die Psalmensprache zeigt sich, wie weder die kataphatische Abwärtsbewegung zum »Abgrund« noch das apophatische Aufwärtsfliegen zu den »Seraphim« Gottes zürnenden Gedanken zu entgehen vermögen. Die Anonymität des Zürnenden breitet sich aus, man könnte sogar sagen, seine Heiligkeit breite sich als Anonymität aus. Nur die Anerkennung der humanen Endlichkeit, »in engen Bezirk« beschlossen zu sein, gewährt einen Wechsel. Jetzt vermag die Seele, das lyrische Ich, »Töne des Menschen herabzustammeln«.41 Sie bewegen sich weiter zwischen Verstummen und Nennen. »Jehova Heissest du, aber ich Staub von Staube!« In Dem Erlöser beschreibt Klopstock auf verwandte Weise die Spannung der Rede zwischen Stille und Sprechen, Jubel und Stammeln, lebendigster Gegenwart und »Verwesungen«. Hier »stammelt« sogar der »Seraph« und »die Unendlichkeit Bebt« das Lob des Sohnes Gottes.42 »Wer bin ich,/ Daß ich mich auch in die Jubel dränge?« fragt das lyrische Ich mit apophatischer Blickführung. »Von Staube Staub!« Die Kreatürlichkeit bezeichnet wie in An Gott einerseits die Unmöglichkeit, den Namen auszusprechen. Die Einsicht in die Kreatürlichkeit erlaubt andererseits aber auch eine kataphatische Wende, denkt im endlichen Medium doch »ein Unsterblicher/ Von hoher Ankunft […] Gedanken, dass Entzückung/ Durch die erschütterte Nerve schauert.«43 Aus dem Bezirk des Unnennbaren, durch Gottes Gegenwart bezeichnet, will die poetische Rede, was überhaupt genannt werden kann, »tiefanbetend […] Herunter rufen«.44 In der kataphatischen Bewegung werden folglich überlieferte Namen Gottes verständlich variiert. Klopstocks Autorenschicksal ist im Namensumgang präfiguriert. Der christliche vir bonus steht mit Sprachfiguren der Demut für den Glauben und für die poetische Ordnung der Selbstrücknahme im Zeichen des Namens Gottes. Das auctoriale Ruhmbedürfnis verwendet den Namen Gottes für poetologische Überschreitungen. In der hymnischen Art, über Gott zu denken und ihn zu nennen, berühren sich beide Dimensionen. So wird eine Bruchstelle von Klopstocks Namensverlust deutlich: Sobald die christlichen Sujets
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Klopstock 1889 (wie Anm. 33), Bd. 1, S. 70–75, hier S. 71. Ebd., S. 72. Ebd., S. 95–98, hier S. 95. Ebd., S. 96. »Dem Allgegenwärtigen«, in: Klopstock 1889 (wie Anm. 33), Bd. 1, S. 122–128, hier S. 124. – In Klopstocks geistlicher Lieddichtung ist diese kataphatische Bewegung deutlicher, im sublimen Genuss interessanter, da es eben auch die apophatische Bewegung gibt.
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nicht mehr als Option für eine Ästhetik des Erhabenen gelten, wird das poetologische Konzentrat zur Wegbereitung für anderes. Und sobald Rhetorik in den Pauschalverdacht gerät, unwahre Technik zu sein, verliert die Poetik der Spannung zwischen Nichtnennen und Nennen an Überzeugungskraft. b)
Hamanns Handgreiflichkeit und Gottes Schwächung
Auch Johann Georg Hamann wäre ein schlechtes Beispiel für strategische Anonymität. Seine Autorstrategie stellt dem Vernunftideal einer anonymen Öffentlichkeit kritisch Pseudonyme entgegen. Hamanns vorsätzliche Stillosigkeit wäre als aufklärungskritische Marotte aber unzureichend bestimmt. Vielmehr bahnt sie einen Weg, öffentlich im Namen Gottes zu sprechen. Der Diskurs der Anonymisierung Gottes findet im Hintergrund dieser Anbahnung statt. Nur aus diesem Grund ist im Folgenden auch von der Pseudonymik die Rede. Hamann droht immer einmal zwischen komplementären Unterstellungen ungreifbar zu werden. Dem Vorwurf des inkommensurablen Irrationalismus steht die Versicherung gegenüber, er mache rationalistische Religionsschädlinge unschädlich. Hamann greift indes nicht die Vernunft überhaupt an, sondern weist mit der Sprache spielend auf Sinnverluste hin, die ein puristisch-geometrisches Vernunftideal bewirken kann.45 Im sprachlichen Handeln des Autors erschließen sich Rationalitätsformen, die den Vernunftbegriff nach Geschichte und Überlieferung differenzieren.46 Auf dieser Spur verbietet sich auch eine Entgegensetzung von Vernunft und Sprache zur Vereindeutigung des Sprachumgangs. Sie würde die (Mit)Teilung von Affekten und Sinnanmutungen unmöglich machen.47 Der Verlust an Individualität und Lebendigkeit wäre nicht verkraftbar. Vernunftkritik und Sorge über den Sprachverlust kristallisieren sich an Namen. So beurteilt Hamann verschiedentlich einen anonymisierten Vernunftdiskurs als öffentliche Gefahr.48 Im Wissen um Gefährdungen der eigenen Autorschaft kritisiert er zwar selber den preußischen König (Friedrich II.). Doch eine organisatorische Esoterisierung rationaler Diskurse wie die Freimaurerei scheint ihm unsinnig: Wäre Hamann eingeweiht und hielte sie für gefährlich, würde er das Geheime sogleich öffentlich machen. Würde er das esoterisch Kommunizierte für gut und wichtig halten, fehlte ihm der Grund, es der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Der öffentliche Vernunftdiskurs wäre folglich zu ent-
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Ich verzichte hier auf Belege und verweise pauschal auf die Tagungsbände zu Hamann-Kongressen, die sich dieses Themas immer wieder annehmen. Brief an Herder vom 9.11.1785, zit. n. Arthur Henkel, Johann Georg Hamann. Briefe, Frankfurt. a. M. 1988, S. 206. In Leser und Kunstrichter nach perspektivischem Unebenmaaße löst Hamann das Purismusproblem sarkastisch: Regeln seien »vestalische Jungfrauen [...], durch die Rom vermittelst Ausnahmen bevölkert werden musste«. Johann Georg Hamann, Sämtliche Werke, Wuppertal 1999 [Nachdruck der 1949ff. erschienenen hist.-krit. Ausg. von Josef Nadler], 2. Bd., S. 345. Noch mit tastender Ironie in An den geheimen Ausschuß der[…]Frey Mäurer Loge zu Königsberg in Preußen (1772), mit deutlichem Sarkasmus in Vetii Epagathi Regiomonticulae hierophantische Briefe (1775) und in Konxompax (1779) – alles wie Anm. 47, 3. Bd.
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anonymisieren. So gesehen kann man die Diskussion um die Stellung dieses Autors zur Aufklärung von der fatalen Entgegensetzung des Rationalen und des Irrationalen auf die mit Namentlichkeit und Anonymität gegebenen Fragen hin verschieben. Auch die göttliche Namentlichkeit ist von der verengten Vernunft und vom sprachbedingten Individualitätsverlust betroffen. Mit einem auf geschichtslose Evidenz reduzierten, den Ereignissen misstrauenden Vernunftkonzept wäre es konsequenter, jede Rede von Offenbarung abzulegen, statt sie verkümmert beizubehalten. Wie Hamann gegen Lessing feststellt, könne man unter solchen Bedingungen nur schließen, dass »unser Herr gekreutzigt und noch nicht auferstanden ist«, weil keine »zuf ä l l ige Gesch ichtswa h rheit, kein physisches Fact u m noch pol it isches Phä nomenon ›jemals ein Beweis von nothwendigen Vernunftwahrheiten werden kann.‹«49 Das Greifbarwerden Gottes im Namen und dessen Kundwerden an derartigen ›Facta‹, ist in diese Kontradiktion hineingezogen; »der geoffenbarte Name« Gottes als »das einzige Mysterium des Judentums und […] das tausendzüngige Mysterium des Heidentums«50 verschwindet mit der scheinrationalen Hinfälligkeit aller Kontingenz und Konkretion. Die öffentliche Amnesie des Gottesnamens51 trägt Züge von Schuld: »nichts von dem Gott der Christen verlauten zu lassen, gehört zum hohen Geschmack des erleuchteten Jahrhunderts, wo die Verleugnung des christlichen Namens eine Bedingung ist, ohne die man zu dem Titel eines Weltweisen keine Ansprüche wagen darf.«52 Die Amnesie ist aber nicht einfach epochale differentia specifica, sondern eine stets aus der menschlichen Abwendung von Gott hervorquellende ›Überschwemmung‹ der sinnlichen Qualität sprachlicher Zeichen durch Abstraktion.53 Mit voller Entlastung der menschlichen Sinnlichkeit kennzeichnet Hamann die Vernunft als Ort einer Ambivalenz. Aus Hamanns Überlegungen und Intuitionen kann man zwei Ursachen für die Anonymisierung Gottes herausheben: Theismus (Deismus) und Schriftvergessenheit.54 Der von einer universalen, rational einsehbaren Offenbarung ausgehende ›Theismus‹ naturalisiert die partikularen Gottesgeschichten und damit den aus Umschreibungen und Theophanien gewonnenen Gottesnamen. Gegen die Umbesetzung einer universalen Offenbarungsmacht durch eine naturgegebene Universalwahrheit heißt es, es lohne nicht »der Mühe zu untersuchen, ob der ›Theismus‹ den Vater oder den Soh n oder den Geist des Christentums vorstellen soll.«55 Der geoffenbarte Name Gottes wird entgegen der
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Hamann 1999 (wie Anm. 47), 3. Bd., S. 218. Ebd., S. 226. Vgl. dazu Bader 2006 (wie Anm. 23), S. 41ff. und vor allem § 9. Hamann, »De la nature par Robinet« (Rez. Königsbergsche Zeitungen 13.2.1764), in: Hamann 1999 (wie Anm. 47), 6. Bd., S. 271f. Hamann, »Aesthetica in nuce« (1762), in: Hamann 1999 (wie Anm. 47), S. 207. Der theologische Ort dieser Kritik ist die Sündenlehre. Vgl. Tom Kleffmann, Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont. Eine Interpretation Augustins, Luthers und Hamanns, Tübingen 1994. Vgl. zum Problemkreis Marita Rödszus-Hecker, Der buchstäbliche Zungensinn. Stimme und Schrift als Paradigmen der theologischen Hermeneutik, Waltrop 1992; Klaas Huizing, Der erlesene Mensch. Eine literarische Anthropologie, Ästhetische Theologie I-III, Stuttgart 2000. Hamann, »Hierophantische Briefe«. Dritter Brief (1775), in: Hamann 1999 (wie Anm. 47), 3. Bd., S. 143.
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geschichtlichen Individualität jedes Gottesverständnisses verkehrt und in Anonymität überführt. Schriftvergessenheit bildet die zweite Ursache. Als Kulturphänomen ebenfalls von der Rationalitätsverengung ausgehend ruiniert sie das Individuelle am Sprachumgang des Glaubens. Im theologischen Kontext gewinnt die Schriftvergessenheit Hamann zufolge ihre Gestalt als kritische Erforschung des Bibeltextes, die einer Anonymisierung gleichkommt. Hamann lehnt zwar ein geschichtliches Verstehen von Texten nicht als solches ab, sieht als Problem auf dessen Linie aber einen Verzicht auf Sinnanmutungen durch Rückgang auf Gesetzmäßiges ›hinter‹ Texten. Das Erklären geht dann auf Kosten des Verstehens.56 Zur Ent-Anonymisierung Gottes bietet Hamann ein kataphatisches Programm auf, das sich gegen die in der protestantischen Orthodoxie vorbereitete, durch Aufklärungstheologen neu interpretierte Lehre von der Akkomodation der Offenbarung an die Vernunft wendet. Der Gedanke, Gott offenbare sich gemäß menschlichem Begriffsvermögen und menschlicher Zuträglichkeit, indem er seine überwältigende Macht nicht sehen lasse, wird in der Neudeutung um den Machtaspekt und den Gedanken der Zuträglichkeit verkürzt, sodass Akkomodation nurmehr ein Erkenntnisproblem bezeichnet. Hamann hält in einer beide Akkomodationskonzepte überholenden Weise und mit kritischem Witz (punning) dagegen: Gott lasse sich nicht herab, sondern herunter zu den Menschen und in die Welt.57 Er offenbare sich nicht unter Vorbehalt, sondern ganz und gar. Als Schöpfer, Erlöser und Vollender gebe sich Gott in der Schwächung seiner Macht preis, ja rede sich »aus dem Othem«.58 Dieser kenotische Gedanke ist für die Erniedrigung Gottes am Kreuz gut nachvollziehbar, Hamann variiert ihn aber auch für den allmächtigen Schöpfer: »Die Einheit des Urhebers spiegelt sich bis in dem Dialecte seiner Werke; – in allen Ein Ton von unermäslicher Höhe und Tiefe! Ein Beweiß der herrlichsten Majestät und leersten Entäußerung! Ein Wunder von solcher unendlichen Ruhe, die Gott dem Nichts gleich macht, daß man sein Dasein aus Gewissen leugnen oder ein Vieh seyn muß [!]; aber zugleich von solcher unendlichen Kraft, die Alles in Allen erfüllt, daß man sich von seiner innigsten Zuthätigkeit nicht zu retten weiß!«59 Die Schöpfung wird als Werk eines Autors interpretiert. Ihr Stil ist zum Staunen unverwechselbar. Extreme Kontrastivität ist seine Signatur: auf der einen Seite ›herrlichste Majestät‹ und ›unendliche Ruhe‹, auf der anderen Seite ›leerste Entäußerung‹ und ›unendliche Kraft‹. Die Spannung ist für die ›Lektüre‹ so hoch, dass der Autor zu verschwinden scheint. Es ist, als wäre er nicht da – als wäre er ›tot‹ und seiner nicht zu gedenken. Doch zugleich entäußert der Urheber seine Macht in eine kraftvolle Gegenwart bei den Kreaturen. Er scheint ganz und gar da – als hätte er Intentionen. Die Kont-
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Vgl. Christian Senkel, »Zwischen den Stylen. Hamanns Schreibweise als theologische Erkenntnisform«, in: Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert, Hallische Beiträge 41, hg. v. HansEdwin Friedrich/Wilhelm Haefs/Christian Soboth, Tübingen 2010, 296–309. Hamann, »Über die Auslegung der Heiligen Schrift« (1758), in: Hamann 1999 (wie Anm. 47), 1. Bd., S. 5. Ders., »Aesthetica in nuce« (1762), in: Hamann 1999 (wie Anm. 47), 2. Bd., S. 213. Ebd., S. 204.
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rastivität des Schöpfungsstils unterstellt einen Atheismus (Tod des Autors) auf der einen und eine göttliche Kreativität (Präsenz des Autors) auf der anderen Seite. Im Zeichen der Autormetapher steht der gefühlte Atheismus dem ›theistischen‹ Akkomodationsgedanken entgegen, während Gottes nennbare Präsenz bei den Kreaturen (als Mitleser seines Schöpfungsbuchs) die Intention der protestantischen Orthodoxie gegen deren Begrifflichkeit rettet. Kritisch gegen beide theologischen Diskurstypen wendet Hamann die Ambivalenz der göttlichen Autorschaft in Kataphatik um, in deren Fundus auch die handgreifliche Stillosigkeit seiner Narrenrede gehört. An der Schwächung des als Autor verstandenen Gottes gewinnt man den Eindruck, als koste Hamanns Gott bereits die Ambivalenz moderner Autorschaft aus. Versteht man die göttliche Kenosis als Aufbruch eines Autors in die Lektüre seiner Skriptur, so liegt der Rest auf der Hand. Schriftvergessenheit kann dann nicht zum Zuge kommen, wenn die kritisch ermittelten Gesetzmäßigkeiten hinter Texten deren Sinnanmutungen (vgl. Majestät und Kraft, Ruhe und Entäußerung) nicht ausschließen. Das ist die Minimalbedingung für Offenheit gegenüber dem göttlichen Namen, der sich in den Sinnanmutungen, nicht aber in Überlieferungsgesetzmäßigkeiten kundgibt. Hamann führt die Individualität kenotisch ins Schriftverständnis zurück: Die kritische Vivisektion der Schrift selbst gehört in die Kenosis. Gott, der sich seiner Macht begeben hat, um beinahe in tödliche Namenlosigkeit zu sinken, setzt sich der menschlichen Kritik noch einmal aus.60 Die Fleischwerdung ist auch Schriftwerdung. Hamann praktiziert seinen stillosen Stil als zudringliche Verähnlichung mit dem äußerst greifbar gewordenen Gott. Das dafür gebotene Rationalitätsmodell sorgt sich um Eigenleben und Erkenntnisträchtigkeit der Sprache, um einen Doppelsinn der Anonymisierung begreiflich zu machen. Die Ent-Anonymisierung folgt derselben Spur. Pseudonymisierung ist eine ihrer Techniken. Ein letztes Beispiel: Hamann pseudonymisiert sich als Körnerpicker, als ›Spermologe‹.61 Der Name wurde Paulus von Gegnern nach der Areopagrede nahe beim athenischen Altar des ›unbekannten Gottes‹ verliehen (Apg 17, 18). Hamann überträgt die Szene auf den anonymisierenden ›Theismus‹ des 18. Jahrhunderts und verbirgt seine Autorschaft samt ihrem theologischen Witz im Apostelnamen. c)
Herders göttliche Urkraft und das menschliche Nennen
Johann Gottfried Herders Autorschaft ist ein mögliches Beispiel für strategische Anonymität, da Herder etliche Schriften anonym herausgegeben hat. Zugleich wäre eine materialtheologische Perspektive auf seinen literarischen Vollzug von Anonymität schwierig.62 Anders als sein Freund und Mentor Hamann scheint ausgerechnet der Berufstheologe Herder Scheu vor der konfessorischen Autorschaft im Namen Gottes zu haben. Doch die guten Gründe dafür liegen zum einen in den breit angelegten Theorieinteressen, die (bei
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Hamann nimmt den Begriff der Kritik allerdings oft doppelsinnig: Gottes Option als Kritiker und vor allem Gegenkritiker ist noch nicht ausgeschöpft (s. Jüngster Tag). Hamann, »Die Magi aus Morgenlande, zu Betlehem« (1762), in: Hamann 1999 (wie Anm. 47), 2. Bd., S. 137. Materialtheologisch im Sinn eines Abrufens von dogmatischen Lehrörtern.
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aller zunächst gesuchten Ähnlichkeit) keine Hamann vergleichbare Schreibweise vertragen. Zum anderen möchte Herder weder sein nichttheologisches Publikum verlieren noch zuviel Gegnerschaft in der eigenen Zunft provozieren. Ein frühes Beispiel für Anonymität bietet die Fragmentensammlung Ueber die neuere Deutsche Litteratur (1766–1768). Sie will zur Arbeit an einer Nationalliteratur anregen und betreibt Literaturkritik in kanonbildender Absicht. Antike Muster hebräischer, griechischer und lateinischer Herkunft werden auf ihre Vorbildfähigkeit hin untersucht, darüber hinaus wird die tatsächliche Literaturgeschichte beschrieben. Im Versuch, die deutsche Literatur auf eigene Muster hin zu entgrenzen, erweitern die Fragmente ihren Diskurs auf Sprache als mündliche Rede und soziales Handeln, auf Literatur als Poesie und als Gesamtheit des Geschriebenen, auf Geschichte als Inbegriff allen Wissens und auf ›Weltweisheit‹ als eine wissenschaftsorganisatorische Praxis.63 Diese Disposition lebt auch in den Figuren auctorialen Handelns auf: im Redner, Dichter, Schriftsteller und Weltweisen. Anonymität gewinnt für den Fragmentisten kollektive Bedeutung. Herder unterscheidet zwischen der Beschaffenheit einer Sprache, Literaten verschiedener Ordnung und dem Volk, aus dem sie herausragen. So bildet das anonyme Volk den Entdeckungszusammenhang für die Beziehung zwischen Sprache und Literatur: »Ein Volk, das ohne Poetische Sprache große Dichter, ohne eine biegsame Sprache gute Prosaisten, ohne eine genaue Sprache große Weise gehabt hätte, ist ein Unding.«64 Literaturen aller Art sind auf die grammatikalischen und oratorischen Bedingungen einer Sprache angewiesen. In der Kraft und Gediegenheit einer Sprache kommt die anonyme Autorschaft des Volkes zum Zug. Der Bückeburger Herder gibt dieser kulturanthropologischen Instanzialität einen theologischen Rahmen. Herder konstruiert seine Zuschreibungen an die Volkssprache mit einer immanenten Apophatik. Jede Sprache hat einen anonymen Genius. Er ist ungreifbar und gewährleistet ihre Unverwechselbarkeit.65 Der Genius zeigt sich am Phänomen des Unübersetzbaren. Das Unübersetzbare in anderen Sprachen zu kennen, ist unabdingbar zur Bestimmung des Charakters der eigenen Sprache. Dafür ist vergleichendes Übersetzen notwendig,66 bei dem man auf Individualität stößt: Herder verweist dafür bevorzugt auf Suche, Pflege, Ausbau und Anwendung von Idiotismen. Verlust der Idiotismen ist Verlust der Vielfalt und des Humors, deren Verlust bedeutet aber den Verlust der Individualität von Sprache.67 Werden diese Züge einer Sprache kultiviert, so kann ihr Genius zum
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Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, 3. unveränd. Nachdr. der Ausg. Berlin 1877ff., hg. v. Bernhard Suphan, Hildesheim 1994, hier 1. Bd., S. 147 u.v.ö. – Vgl. dazu Roderich Barth, Seele nach der Aufklärung. Studien zu Herder und Harnack, Habilitationsschrift Halle 2008. Herder 1994 (wie Anm. 63), 1. Bd., S. 147. Ebd., S. 148 passim. Ebd., S. 176. Vgl. zum Übersetzungskonzept Luca Crescenzi, »Anmerkungen zu Sprachkritik und Differenzbewusstsein in Herders frühen theologischen und geschichtsphilosophischen Schriften«, in: Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre, hg. v. Tilman Borsche, München 2006, S. 194–202. Vgl. Herder 1994 (wie Anm. 63), 1. Bd., S. 159–166. Diese Folgerung zeitigt ein Aufgabenbündel für eine komparativ-praktische »Philosophie über die Deutsche Sprache«.
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Vorschein kommen. Mit seiner Ankunft wird die anonyme Ganzheit einer Volkssprache durch die Namen der Meisterliteraten präsentierbar. Die Anonymität verschwindet aber nie ganz, da die Lebendigkeit einer Sprache nicht durch Literaten allein zu bestehen vermag.68 Die anonyme Individualität einer Sprache ermöglicht die namentliche Individualität einer Literatur. Indem Herder die Sprache als das Anonyme in der Literatur und die Literatur als das vielnamig Individuelle der Sprache für komplementär hält, hat sein Theorem einen apophatischen Zug. Die Bekanntmachung von Herders Autorschaft durch seinen Kritiker Klotz bedeutete für Herder daher einen verdorbenen poetologischen Coup.69 Herders Autorschaft entwächst den Fragmenten in eine vielgestaltige Geschäftigkeit, in der ein theologischer Initialgedanke bestehen bleibt: der Gedanke einer unverfügbaren Kraft, die dem menschlichen Sprachumgang vorauswirkt und sich in dessen vielnamiger Individualität äußert. Zwischen Herder und Hamann kam es im Blick auf eine fragliche Anonymisierung jener Kraft zum Widerstreit, der sich an Herders preisgekrönter Schrift zum Sprachursprung entzündet hat. Für die Frage der Anonymität ist jene Debatte um die (Nicht)Göttlichkeit des Sprachursprungs zu einseitig an der Gottesauffassung orientiert. Herders Genesisauslegung ist dagegen deutlicher auf die Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Menschen hin angelegt. Mit Älteste Urkunde des Menschengeschlechts und anderen Bückeburger Schriften spielt Herder theologische Narrative und Denkfiguren in Gegenwartsdiskurse ein.70 In Älteste Urkunde vermittelt er anhand der biblischen Urgeschichte die historische Zerlegung des Bibeltexts mit einer kulturtheoretischen Deutung seines Literalsinns. Der Vorgang des Zerfallens von Texten wie Gen 1 und Gen 2 passim in eigenständige zeitliche Ordnungen ist demnach durch die Art der Texteinheiten begrenzt.71 Die Fülle der Textarten resultiert aus einer infinitesimalen, poetiko-theologischen Produktivität.72 Herder kann sagen, ›Moses‹ sammle die oral-namenlos fluktuierende »Vatersage« mit einer redaktionellen »Mutterstimme«.73 Die historische Bibelkritik reibt sich hingegen kleinlich an textuellen Artunterschieden. Sie trennt und anonymisiert unter Zeitaspekt, was im Autorennamen Sinn versprach. Die theologische Bedeutung von Älteste Urkunde liegt in der besonderen Verknüpfung von anonymer Autorschaft und Umschreibung Gottes. Herder entwirft ausgehend von der biblischen Urgeschichte einerseits eine um Namentlichkeit unbekümmerte, re-
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Auch Herders Lieblingsnarrativ der Lebensalteranalogie unterscheidet die Anonymität des Sprachganzen von der Greifbarkeit durch einzelne Literaten. Vgl. Herder 1994 (wie Anm. 63), 1. Bd., S. 151–159. Vgl. Suphans Editionsbericht in: Herder 1994 (wie Anm. 63), 1. Bd., S. XXIXf. Vgl. zu Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit nach wie vor Hans Dietrich Irmscher, Johann Gottfried Herder, Stuttgart 2001. Vgl. die Vorrede zur Fortsetzung von Älteste Urkunde (1776) in: Herder 1994 (wie Anm. 63), 2. Bd.. Gen 2 passim wird auf Gen 1 als ›Schwalbe‹ bezogen, die in einer ›Königssäule‹ niste. Herders untergründige, von den Flügelkämpfen der Hegelschulen und vom Neukantianismus überlagerte Rezeptionsgeschichte führt unter anderem in die Spitzenleistungen der alttestamentlichen Exegese des 19. Jahrhunderts hinein (de Wette, Gunkel). Vorrede zur Fortsetzung von Älteste Urkunde (1776) in: Herder 1994 (wie Anm. 63), 2. Bd.
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gelorientierte Kulturtheorie. Andererseits ergänzt seine Texterklärung das Verständnis der Urgeschichte durch die Unterstellung einer Praxis des ent-anonymisierenden Nennens. Spezielle Bibelauslegung und universale Kulturtheorie ergänzen einander. Unter beiden Aspekten agiert Herder als Hamannausleger, hatte doch Hamann in großen, nie theoretisch validierten Intuitionen von der »Poesie als Muttersprache des menschlichen Geschlechts« gesprochen und behauptet, der »hieroglyphische Adam« sei »die Historie des ganzen Geschlechts im symbolischen Rade«.74 Die Poesie als Matrix aller vernünftigen Besinnung und humanen Kultur zu verstehen, erlaubt dem einstigen Fragmentisten, sein Theorem vom anonymen Sprachgenius zu universalisieren. Daher beginnt Älteste Urkunde mit einer komparativen, auch Gegenwartslyrik einbeziehenden Interpretation von Gen 1 als einer Poesie der Schöpfung. In ihr offenbare sich Gott, bleibe aber als Kraft in der Matrix menschlicher Verständigung, anders als bei Hamann, dem humanen Zugriff apophatisch entzogen: »Wer sieht nicht offenbar, daß eben mit ihnen [den Worten der Erzählung] der du n kelste Vorha ng n ieder fa l le?«75 Die sublime hebräische Urkunde scheint sich selbst zu dichten: »Bewegung in der Natur, ist Kraft, ist Seele, ist Geist, ist Weben und Leben des Himmels«.76 Es wäre falsch, Herder wegen solcher Äußerungen Naturalismus zu unterstellen.77 Gerade die Darstellung des alltäglichen »Unterricht[s] unter der Morgenröthe«78 bleibt Kulturtheorie des biblischen Sprachdenkens. Gottes wird nicht nur (spinozistisch) als anonymer Kraft in der poetischen Weltmatrix gedacht, sondern auch als einer unverwechselbaren Spur ihrer Herkunft. Die anonyme Immanenz der Schöpfungspoesie öffnet sich einer Gottesgeschichte, die aus dem orientalischen »Feenland« herüberkommt.79 Zum einen gibt es die anonyme »Lehrmeisterstimme« im allmorgendlichen kosmischen Sprachunterricht.80 Diesem alles Wissbare inbildlich umfassenden Unterricht liegt das siebenteilige, ›hieroglyphische‹ Schema des Schöpfungsgedichts zugrunde.81 Alle Künste, getragen von Religion durch die Geschichte von sieben Kulturvölkern – das wäre »nicht mehr Religion, sondern offenbarste Geschichte« Gottes.82 Zum anderen ertastet und begreift ein »Gefühl der Gottesklarheit« den der schöpfungspoetischen Erfahrung
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Hamann, »Aesthetica in nuce« (1762), in: Hamann 1999 (wie Anm. 47), 2. Bd., S. 200. Vgl. dazu Herder 1994 (wie Anm. 63), 4. Bd., S. 302. Ebd., S. 206. Ebd., S. 220. Vgl. mit ausdrücklicher Selbstabgrenzung Herder 1994 (wie Anm. 63), 4. Bd., S. 258 und 7. Bd., S. 59: »Das Paradies, dem wir jetzt zueilen dörfen, hat ein unbekannter Höherer erworben; daher trügen sich unsre Weisen, und glauben, es sei natürlich.« Herder 1994 (wie Anm. 63), 6. Bd., S. 258–268. Ebd., 7. Bd., S. 33. Ebd., S 266. Herder 1994 (wie Anm. 63), 6. Bd., S. 288–303. Vgl. sehr instruktiv Gerhard vom Hofe, »Schöpfung als Dichtung. Herders Deutung der Genesis als Beitrag zur Grundlegung einer theologischen Ästhetik«, in: Was aber bleibet, stiften die Dichter?, hg. v. Gerhard vom Hofe/Peter Pfaff/ Hermann Timm, München 1986, S. 65–87. Herder 1994 (wie Anm. 63), 6. Bd., S. 291.
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angemessenen Gottesgedanken.83 Der durch die Hieroglyphe angestoßenen Erfindung der Schrift kommt dabei vermittelnde Bedeutung zu.84 Der empirischen Plastizität der hebräischen Schöpfungsurkunde entsteigen Begriffe als kulturelle und theologische Selbstklärungen einer poetischen ›Interpretationsmaschine‹, als die Gen 1 und Gen 2 passim nun erscheinen.85 Nach der kulturtheoretischen Formung der Bibelauslegung folgt nun die Anpassung der Kulturtheorie an einen tatsächlichen Gründungstext derjenigen Kultur, in der sich Herders Theorie bewegt.86 Denn eine Bestimmbarkeit von Kultur ergibt sich noch nicht aus der Initialpoesie von Gen 1, sondern erst aus den gleichsam ebenerdigen Perspektiven und Verstrickungen von Gen 2. Die poetische Hieroglyphe zeitigt Offenbarungskultur.87 Es geht nun um die Herkunft kultureller Fakten aus den Sinnbildern der adamitischen Urgeschichte. Herder qualifiziert die Urgeschichte zunächst als Sprachursprungserzählung. Der Anstoß des Spracherwerbs von außen durch die liebenswürdige ›Lehrmeisterstimme‹ habe nicht weniger Wahrheit als Sprachursprungsmodelle, die eine innere Sprachfähigkeit oder aber äußere kontingente Arbiträrität unterstellen, die jeweils Aspekte des Gegenmodells unterschlagen.88 Die biblische Protofiktion ist in ihrer Art kulturtheoretisch zumindest nicht unterlegen. Die Perspektive wechselt nun ganz zur Anthropologie, in deren spezifischer Kultur des Nennens das kataphatische Element von Herders Sprachdenken besteht. Am Benennen der Tiere gemäß biblischer Erzählung zeigt Herder einen ersten Aspekt des Nennens auf. Es hat als sprachliche Besinnung inventiven Charakter. Der Mensch findet am Anderen zur Sprache und erfindet mit gottebendbildlicher Würde Worte. Menschliche Empathie erzeugt aus den Ähnlichkeiten alles Lebendigen namentliche Ordnungen. Adam als »der lebendige Königliche Mittelpunkt Aller«89 bleibe im Lernen jedoch allein, wiewohl seine Sprache aus Sehnsucht nach vollkommener Ergänzung feiner werde. »Kunst= Sprache= und Verstandesbildung […] wird Übergang zum Weibe«.90 Der
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Ebd., S. 260. Ebd., S. 289. Vgl. Hermann Timm, »Geerdete Vernunft. Johann Gottfried Herder als Vordenker der Lebenswelttheologie«, in: ders., Dichtung des Anfangs. Die religiösen Protofiktionen der Goethezeit, München 1996, S. 94–113. Die Bestimmung der Hieroglyphe selbst ist Teil der Auslegung von Genesis 1. Vgl. dazu Herder 1994 (wie Anm. 63), 7. Bd., S. 59, Gen 1 biete eine bewegliche »Tafel der Schöpfung«, Gen 2 eine »kurze Familiengeschichte der ersten Pflanzstäte unsers Geschlechts«. Vgl. zur Kontraktion von Offenbarung und Kultur auch die Herderdeutung in Markus Buntuß, Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette, Berlin/New York 2004. Mit Bezug auf seine eigene Schrift von 1773 vgl. Herder 1994 (wie Anm. 63), 7. Bd., S. 30f. Herder 1994 (wie Anm. 63), 7. Bd., S. 42. Die Kennzeichnung des Menschen als ›Mängelwesen‹ durch die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts beruht auf einer falschen Herderdeutung. Ebd., S. 43.
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Bildungstrieb erwacht erst kraftvoll am Geschlecht, das von nun an doppeldeutig die Sexualität und die Gattung meint. Im ›Übergang‹ kommt der inventive Charakter des Nennens voll zum Zug, begründet Adam doch die Liebeslyrik. Die Anerkennung Evas mit dem parallelistischen Urschema aller hebräischen Poesie – »Bein von meinem Bein […]« – benennt den Liebreiz der Ähnlichkeit. Nun vermag sich das Geschlecht (Menschheit) durch individuellen, geschlechtlichen Schöpfungsgenuss zu ergänzen, während dieser Genuss als »Feuerkette fürs [Menschen]Geschlecht« zur individuellen »Erhaltung der Gottesflamme« dient.91 Am Erkennen des Geschlechts zeigt Herder den zweiten Aspekt des Nennens auf. Es hat als Orientierung der Weltwahrnehmung didaktischen Charakter. Zwar gab es zu solcher Orientierung bereits die hieroglyphischen Inbegriffe und Inbilder (Gen 1). Doch erst durch die menschliche Initiative kommt Bewegung hinein. Diese Initiative führt allerdings nicht immer zu so günstigen Resultaten wie beim göttlichen Sprecher. Die Menschen ruinieren im Vollbesitz ihrer erotisch fundierten Erkenntnisfähigkeit ihr Geschlecht. Herder verdeutlicht das Gemeinte einmal mehr an jener ›Lehrmeisterstimme‹, die inmitten des Garten Eden ein einziges Verbot ausspricht. Auch dessen Einhaltung gehört zum Sprachlernen. Vernunft und Erfahrung seien zu seiner Achtung gar nicht erforderlich, wird das Verbot doch in einem verständnisinnigen Ton geäußert. Durch den Anstoß der Schlange – »sollte Gott gesagt haben« – kommt es jedoch zum Abwägen, einem unsachgemäßen ›Vernünfteln‹, denn nicht der Sinn, sondern die Kommunikation des Verbots macht den Lerneffekt. So tingiert seine Übertretung auch die Kommunikation der Geschlechter und der Gattung.92 Die volle Erkenntnis aus dem Nennen von Namen hat ihre Ambivalenz, weshalb Herder aus dem Sündentopos der felix culpa eine Sprachdidaktik der Bildung zur Selbstbildung konstruiert, die ein naturalistisches wie auch ein supranaturalistisches Sündenverständnis umschifft. In der zweiteiligen Interpretation der biblischen Urgeschichte kommt Gott nicht wie bei Hamann als Autor zur Sprache. Herder sucht die Stärke menschlichen Nennens zu begreifen. In diesem enthaltene Zuschreibungen an Gott als potenten Sprecher gehen in die Anthropologisierung der biblischen Erzählung ein. Doch enthält auch die Anthropologisierung die unverwechselbare göttliche Spur: Gott fungiert nun als protofiktionaler erster Sprecher und Geber von Gaben wie Invention und Bildungstrieb. Die anonyme, hieroglyphisch verschattete ›Lehrmeisterstimme‹ wird in der Kultur greifbar, die sich ihr verdankt. Die kulturtheoretische Auslegung der biblischen Urgeschichte belegt es material, ihre Durchführung als Kulturtheorie des Nennens formal. So gewinnt Herder der kritischen Anonymisierung biblischer Autoren theologischen Sinn ab. Die göttliche Spur in den sie bergenden Kulturen scheint nie ganz anonymisierbar.
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Ebd., S. 50. Herder dürfte Miltons ausführlich dargestellten Ehestreit im Paradies nach dem 9. Buch von Paradise Lost gekannt haben.
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Unwiederholbare Konstellation? Autoren handeln im Namen Gottes
Klopstock, Hamann und Herder schreiben im Geviert von göttlicher und menschlicher Autorschaft, von göttlicher und menschlicher Anonymität. Durch ihre poetologisch reflektierten Schreibweisen erweitert sich das auctoriale Bewusstsein lebhaft und limitiert sich ebenso lebhaft angesichts Gottes.93 Die Unterscheidungskultur der Moderne sieht zwischen einer Feststellung solcher Tätigkeit als Kulturtatsache und ihres divinatorischen Charakters einen Graben. Das auctoriale Handeln jener drei Autoren im Namen Gottes bietet einen Ansatzpunkt für das Hinwegsetzen über den Graben zwischen Deskription und Divination. Alle drei Autoren begegnen einer Anonymität Gottes. Sie fragen nach deren Herkunft, prüfen ihre Christlichkeit, stehen wägend vor ihrer Fremdheit und stellen sich in den Dienst einer Aufklärung darüber. Ihr auctoriales Handeln im Namen Gottes verdankt sich Erfahrungen und Einschätzungen, die erst zur Sprache zu bringen waren und daher jede Epochenzuschreibung durchkreuzen. Eine Deutung im Sinn älterer Säkularisierungsmodelle und ihrer Bewertungsmuster würde dem nicht gerecht. In der poetologischen Reflektiertheit dieses Handelns zeigt sich der aufgeklärte Geist der Tatsachenbeschreibung, der die materielle Lage der Auctorialität, die Ökonomie des Stils, aber auch die Ökonomie der göttlichen Namentlichkeit umfasst. In theologischer Hinsicht hat dieser Geist apophatischen Sinn, da er kulturelle Medien göttlicher Namentlichkeit und Anonymität benennt. Klopstock, Hamann und Herder schreiben in diesem Geist, zielen aber zugleich auf die Überwindung der Abspaltung der Divination von der Deskription. Diese Intentionalität bleibt Richtung, Weg, Spur, sie kommt nicht an ihr Ziel. Man kann in der Rezeption nur auf sie zeigen. In theologischer Hinsicht ist dieses divinatorische Sprachhandeln auch von einem kataphatischen Wollen bestimmt. Die Anonymisierung Gottes wird mit einer literarischen Pragmatik aufgefangen. Die Namentlichkeit Gottes durfte im Bemühen um eine Reinigung des Christentums und alles Religiösen von Aberglauben, Wunderhaftem und Überschwänglichem nicht verloren gehen. Daher rühmt Klopstock Gott (ausnahmsweise) auf Kosten des eigenen Namens, Hamann deutet die Anonymisierung Gottes als dessen kenotische Selbstschwächung und Herder beschreibt die Spur Gottes in der Kraft menschlichen Nennens. Das auctoriale Handeln schließt Deskription und Divination zusammen, um »die Tiefen der Gottheit« (1. Kor 2, 10) erkenntnisfroh zu erforschen. Klopstock, Hamann und Herder bilden im Antworten auf diese doppelte Aufgabenstellung eine Konstellation. Ihre Synopse im Zeichen einer gegenwärtigen Aufgabenstellung war im Blick auf die moderne Unterscheidungskultur ein divinatorisches Risiko. Ohne solch ein Risiko kann es aber auch keine Deskription von historischen Kulturtatsachen geben. Schon gar nicht, wenn es um die Unverwechselbarkeit und die Greifbarkeit Gottes in seiner Ent-Anonymisierung geht.
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Gegen Klaus Hurlebusch, Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens, Tübingen 2001. Hier handelt es sich um einen philologischen Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne, der diese Dimension außer Acht lässt.
Martin Dönike
Anonymität als Medium inszenierter Öffentlichkeit: Das Beispiel Winckelmann
I. Im November des Jahres 1756 erschien in der von Johann Christoph Gottsched in Leipzig herausgegebenen Monatsschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit eine Rezension von Johann Joachim Winckelmanns Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Bereits im Jahr zuvor war die damals in einer Auflage von nur fünfzig bis sechzig Exemplaren gedruckte Erstlingsschrift Winckelmanns (Abb. 1) in derselben Publikation angezeigt und kritisch, im Großen und Ganzen jedoch durchaus wohlwollend beurteilt worden.1 Nachdem im April 1756 die nunmehr zweite Auflage der Gedancken erschienen war (Abb. 2), ließ es sich Gottsched nicht nehmen, die erneute Rezension dieses »Werkchens«, welches Winckelmann gleichsam über Nacht zu einer mehr als lokalen Berühmtheit gemacht hatte, selbst zu übernehmen.2 Hatte die erste Ausgabe von 1755 noch allein den Text der Gedancken über die Nachahmung umfasst, so war die von dem Dresdner Verleger Walther besorgte zweite Auflage um insgesamt drei Texte erweitert worden (Abb. 3–5): Erstens ein Sendschreiben über die Gedancken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und
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Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, 5/1755, Heumond [Juli], S. 537–544. – Über den Verfasser dieser ersten Rezension, die – wie üblich – ohne Nennung eines Namens oder Kürzels abgedruckt worden war, herrscht Unklarheit. Winckelmann selbst schrieb sie Gottsched zu. Siehe Johann Joachim Winckelmann, Briefe, in Verbindung mit Hans Diepolder hg. v. Walther Rehm, 4 Bde., Berlin 1952–1957, hier Bd. 1, S. 219 (an Walther, [Anfang April 1756]); ebd. (an Oeser [1. Hälfte April 1756]); ebd., S. 222f. (an Genzmer, 1. Juni 1756). Die WinckelmannForschung ist ihm in dieser Zuschreibung allgemein gefolgt, so zuletzt auch die Herausgeber des Bandes: Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse, hg. v. Helmut Pfotenhauer/Markus Bernauer/Norbert Miller, Frankfurt a. M. 1995, S. 394; dagegen hat Philipp M. Mitchell den Text in seine Bibliographie der Werke Gottscheds nicht aufgenommen. Siehe Johann Christoph Gottsched, Ausgewählte Werke, Bd. 12. Gottsched-Bibliographie, hg. v. Philipp M. Mitchell, Berlin 1987. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, 6/1756, Windmond [November], S. 859–868; vgl. Gottsched/Mitchell 1987 (wie Anm. 1), S. 175, Nr. 652. – In einem Brief an Berendis vom 4. Juni 1755 spricht Winckelmann selbst von einem »unglaublichen Beyfall«, den die Schrift in Dresden gefunden habe (Winckelmann 1952–1957 [wie Anm. 1], Bd. 1, S. 176). Bereits im Sommer desselben Jahres erschien in der Nouvelle Bibliothèque Germanique, Bd. XVII (Juillet-Septembre) der erste Teil einer Übersetzung der Gedancken ins Französische, der auf das Aufsehen schließen lässt, das Winckelmanns Schrift auch im Ausland erregte. Hierzu und zu den weiteren Übersetzungen siehe den Kommentar in: Johann Joachim Winckelmann, Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hg. v. Walther Rehm, 2. Auflage, Berlin/New York 2002, S. 325f.
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Martin Dönike
Abb. 1: [Johann Joachim Winckelmann], Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, [Friedrichstadt] 1755, Titelblatt. SLUB Dresden / Deutsche Fotothek, Rudolph Kramer, 7/1966
Anonymität als Medium inszenierter Öffentlichkeit
Abb. 2: [J. J. Winckelmann], Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, 2. Auflage, Dresden und Leipzig 1756, Titelblatt
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Martin Dönike
Abb. 3: [J. J. Winckelmann], Sendschreiben über die Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, [Dresden und Leipzig] 1756, Titelblatt
Abb. 4: [J. J. Winckelmann], Nachricht von einer Mumie in dem Königlichen Cabinet der Alterthümer in Dreßden, [Dresden und Leipzig 1756], Titelblatt
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Abb. 5: [J. J. Winckelmann], Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst; und Beantwortung des Sendschreibens über diese Gedanken, [Dresden und Leipzig] 1756, Titelblatt
Bildhauerkunst, zweitens eine diesem Sendschreiben angefügte Nachricht von einer Mumie in dem Königlichen Cabinet der Alterthümer in Dreßden sowie drittens eine den Band abschließende Erläuterung der Gedancken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst; und Beantwortung des Sendschreibens über diese Gedancken. Konnten die ursprünglichen Gedancken mit ihren vierzig Quartseiten wahrlich noch als ein »Werkchen« bezeichnet werden, so durfte die auf 172 Seiten angeschwollene zweite Auflage bereits als ein – wenn auch schmales – Werk gelten, welches allein schon aufgrund dieser Vermehrung genügend Anlass für eine nochmalige Besprechung der Schrift gab. Wie schon der Text der ersten Ausgabe, so trugen auch die hinzugekommenen Schriften der zweiten Auflage, was zu der Zeit durchaus nicht unüblich war, keinen Verfassernamen auf dem jeweiligen Titelblatt. Dass Winckelmann der Verfasser der Gedancken über die Nachahmung war, konnte aus der namentlich gezeichneten Widmung an König August III. erschlossen werden, die dem ersten Text in beiden Fällen vorausging. Dass er ebenfalls der Verfasser der Erläuterung war, ergab sich aus der Tatsache, dass deren Autor sich zu den Gedancken als seiner eigenen Schrift bekannte und sie, wie es in der Erläuterung heißt, gegen »eines ungenannten Erinnerungen«, soll heißen gegen den Verfasser des Sendschreibens, zu verteidigen suchte.3
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Offen blieb damit die Frage, wer denn nun der Verfasser des Sendschreibens war. Der Text selbst legte nahe, dass es sich bei diesem um eine in Kunstdingen zweifellos gelehrte Person handelte, die mit Winckelmann so weit bekannt war, dass sie ihrem an diesen gerichteten Schreiben die Anrede »Mein Freund« hatte voranstellen können. Lediglich vermuten ließ sich darüber hinaus, dass der ›Ungenannte‹, da er sich unter den Dresdener »Kennern und Gelehrten« allem Anschein nach gut auskannte und mehrere der von ihm angeführten Beispiele aus den Beständen der Dresdener Galerie beziehungsweise des »Cabinets der Alterthümer« wählte, selbst dort ansässig war. Das aber war schon alles – weiterführende oder gar eindeutige Hinweise ließen sich dem Text nicht entnehmen. Für Gottsched aber, der über die Dresdener Verhältnisse, wie man annehmen darf, einigermaßen unterrichtet war, und dem ferner das Phänomen und der Umgang mit anonym veröffentlichten Schriften nicht zuletzt aus seiner eigenen Herausgeber- und Rezensententätigkeit durchaus geläufig war, scheinen diese spärlich gesäten Andeutungen zur Identifizierung des Verfassers ausgereicht zu haben. Ohne die Tatsache, dass das Sendschreiben nicht namentlich gekennzeichnet war, auch nur zu erwähnen, präsentierte er seinen Lesern den Diplomaten, Sammler und Verfasser der im Jahr zuvor erschienenen Lettre à un amateur de la peinture Christian Ludwig von Hagedorn4 als dessen Verfasser und skizzierte vor diesem Hintergrund die Textkonstellation wie folgt: Ein großer Liebhaber der Künste, der Herr Leg.[ations] R.[at] von Hagedorn, hat an den Herrn Winkelmann, als Verf.[asser] des Tractats, ein weitläuftiges Sendschreiben, über die Ged.[anken] von der Nachahm.[ung] der griechischen Werke, abgelassen. Dieses geht von der 40sten bis a.[n] d.[ie] 98ste Seite, und hält Anmerkungen in sich, die sowohl von dem feinen Geschmacke, als von der großen Belesenheit des Herrn Leg.[ations] Raths zeugen.5
Winckelmann wiederum, so Gottsched weiter, habe, da »[a]uf eine so freundschaftliche Aufforderung eines großen Kenners gewiß eine artige Antwort [gehört]«, die Einwände
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Zu Christian Ludwig von Hagedorn, dem Bruder des Dichters Friedrich von Hagedorn und späteren Direktor der Dresdener Akademie, siehe Moritz Stübel, Christian Ludwig von Hagedorn. Ein Diplomat und Sammler des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1912; Claudia Susannah Cremer, Hagedorns Geschmack. Studien zur Kunstkennerschaft in Deutschland im 18. Jahrhundert, Phil. Diss. Bonn 1989, sowie Gerald Heres, Winckelmann in Sachsen: ein Beitrag zur Kulturgeschichte Dresdens und zur Biographie Winckelmanns, Berlin u. a. 1991, S. 90ff. Grundlegend noch immer Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen, 3 Bde., hg. v. Julius Vogel, 3. Aufl., Leipzig 1923, Bd. 1, S. 380–389. Es ist übrigens Hagedorn gewesen, der Gottsched, den er bereits 1733 in Leipzig kennengelernt hatte, im Juli oder August 1755 ein Exemplar der Gedankken über die Nachahmung mit dem Hinweis zukommen ließ, dass deren »Verfasser, welcher in wenig Wochen nach Rom gehet, [...] an einer Fortsetzung dieses Werkes« arbeite (Brief Hagedorns an Gottsched, 25. August 1755, zit. nach Winckelmann 1952–1957 [wie Anm. 1], Bd. 1, S. 553). Am 11. März 1756 sollte Hagedorn gegenüber Gottsched auch die »vermehrte Schrift« des »gründlich gelehrten Hrn. Johann Joachim Winckelmann« erwähnen (ebd., S. 554). Von Hagedorn selbst ist keine Äußerung über seine Identifikation als Verfasser des Sendschreibens überliefert. Der als Quelle überaus wichtige Briefwechsel mit seinem Bruder endet mit dessen Tod 1754. Gottsched 1756 (wie Anm. 2), S. 860.
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seines »Freunde[s]« Hagedorn in der Erläuterung beantwortet. Auch wenn Gottsched unverkennbar mit den Argumenten Hagedorns sympathisierte, so hinderte ihn dies nicht, auch Winckelmann sein Lob zu zollen: Die Einsicht, Bescheidenheit, und Billigkeit führen auch ihm die Feder. Er hat sie aber als ein Reisefertiger aufgesetzet, und ihr folglich nicht alle Vollkommenheit geben können. Doch ist eine schöne Gelehrsamkeit und Belesenheit von malerischen und bildhauerischen Werken, der Hauptcharakter der Schreibart des Herrn Verfassers.6
Auf diese Weise die gelehrte Kennerschaft beider Verfasser herausstreichend, schließt Gottscheds Rezension denn auch mit der Feststellung, dass es letzten Endes unmöglich sei zu entscheiden, wessen Argumenten in diesem »freundschaftlichen Streit« der Vorzug zu geben sei: Es ist indessen ein großes Vergnügen, alles das zu lesen, was dieser freundschaftliche Streit zweener großen und gelehrten Kenner der schönen Künste hervor gebracht hat. Wenn man den einen liest, so giebt man ihm recht; und wenn man die Antwort liest, so zweifelt man, ob sie nicht eben so gründlich ist. Wie gut wäre es um die kaiserliche Akad.[emie] der Künste in Augsp.[urg] bestellet, wenn sie viel solche Mitglieder hätte!7
Winckelmann erfuhr von der Rezension Gottscheds erst ein Jahr später aus einem Brief seines ehemaligen Hallenser Studienkollegen Genzmer, den ihm dieser Mitte März 1757 nach Rom gesandt hatte. In seiner Antwort vom 20. November, einer der großen an die deutschen Freunde gerichteten Selbstdarstellungen,8 berichtet Winckelmann nicht nur von seinen aktuellen Publikationsplänen, sondern kommt auch auf seine bereits in Dresden entstandene Erstlingsschrift und deren erneute Rezension zurück. Fast überliest man, was Winckelmann hier mit wenigen, scheinbar beiläufig eingeflochtenen Worten »nur zu erinnern« hat, was sich aber bei genauerer Betrachtung als die völlige Demontage Gottscheds als Kritiker erweist:
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Ebd., S. 867. Ebd., S. 868. Zur erwähnten 1755 von Johann Daniel Herz gegründeten Augsburger Kunstakademie siehe Felix Freude, »Die Kaiserlich Franciscische Akademie der freien Künste und Wissenschaften in Augsburg«, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg, 34/1908, S. 1–132, sowie Ernst Herbert Lehmann, Die Anfänge der Kunstzeitschrift in Deutschland, Leipzig 1932, S. 20ff. Wie ein Antwortschreiben Winckelmanns an Herz vom 28. November 1756 belegt, ist ihm die Mitgliedschaft in dieser Akademie angetragen worden (Winckelmann 1952–1957 [wie Anm. 1], Bd. 1, S. 249ff.). Dass Winckelmann tatsächlich »Rath und Mitglied« derselben war, geht u. a. aus einem Brief an Berendis vom 29. Januar 1757 hervor (ebd., S. 269). Ein immer wieder erwähnter Aufsatz Winckelmanns für die Akademie ist indes niemals erschienen (siehe dazu den Kommentar Rehms ebd., S. 560, 562 und 573). Zu den Selbstdarstellungen Winckelmanns vgl. Ernst Osterkamp, »Winckelmann in Rom. Aspekte adressatenbezogener Selbstdarstellung«, in: Rom – Paris – London. Erfahrungen und Selbsterfahrungen deutscher Schriftsteller und Künstler in fremden Metropolen. Ein Symposion, hg. v. Conrad Wiedemann, Stuttgart 1988, S. 203–230, sowie Martin Disselkamp, Die Stadt der Gelehrten. Studien zu Johann Joachim Winckelmanns Briefen aus Rom, Tübingen 1993, S. 301ff.
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Was meine Dreßdner Schriften betrifft, so habe ich nur zu erinnern, daß das Sendschreiben nicht von Hrn. von Hagedorn, Königl. Pohln. Legat. Rath wie sich Hr. Gottsched eingebildet ist, welches ihn der Verleger sagen können, sondern es ist von mir selbst.9
Mit nur einem, gleichsam auf eine Pointe hin konzipierten Satz stellt Winckelmann die Rede vom »freundschaftlichen Streit zweener großer und gelehrter Kenner der schönen Künste« als reine Einbildung hin und lässt Gottsched, nach wie vor einer der einflussreichsten Kritiker Deutschlands, als unerfahrenen und allzu gutgläubigen Naivling erscheinen, der die Fiktionalität des vermeintlich anonymen Sendschreibens nicht durchschaut hat. Mit den lapidar angefügten Worten »sondern es ist von mir selbst« setzt Winckelmann gegen die von ihm verspottete Naivität seines Rezensenten die Souveränität seines Ichs als Autor aller drei bzw. vier zur Debatte stehenden Schriften. Winckelmann präsentiert sich damit als der Überlegene, der die in jeder Hinsicht heikle Konstellation von Autor und Kritiker schon allein dadurch dominiert, dass er letzteren hat täuschen können. Dass Gottscheds Einwände – im Gegensatz auch und gerade zu denen, die Winckelmann im Sendschreiben gegen sich selbst ins Feld geführt hatte – nichts taugen können, war damit beinahe schon selbstverständlich.
II. Nun sind anonym veröffentlichte Selbstkritiken und -rezensionen im 18. Jahrhundert keine Seltenheit. Nur erinnert sei hier an Lessings Rezension seiner Kleinigkeiten von 1751 und seiner 1753–55 erschienenen Schrifften in der Berlinischen Privilegirten Zeitung sowie die Besprechung seiner Fabeln und seiner Logau-Ausgabe in den Briefen, die neueste Literatur betreffend,10 sodann an Wielands Rezension seines Goldenen Spiegels von 1772 in der Erfurtischen Gelehrten Zeitung,11 Schillers Besprechung seiner eigenen Räuber und der Anthologie auf das Jahr 1782 im Wirtembergischen Repertorium12 oder Georg Forsters Selbstrezension seiner Kleinen Schriften in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen.13 Der naheliegenden Frage, ob »man nicht vielen Misbräuchen
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Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 314 (an Genzmer, 20. November 1757). Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner u. a., Frankfurt a. M. 1985–2003, Bd. 2, S. 278 (Kleinigkeiten); ebd., S. 552 und Bd. 3, S. 44f., 389 (Schriften); Bd. 4, S. 540f. (36. Brief), S. 581–596 (43. und 44. Brief). Christoph Martin Wieland, Schriften zur deutschen Sprache und Literatur, Bd. 1, Frankfurt a. M. 2005, S. 207f. Friedrich Schiller, Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, Weimar 1943ff., Bd. 22: Vermischte Schriften, hg. v. Herbert Meyer, Weimar 1958, S. 115–131, 133–135. Georg Forster, Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd. 11: Rezensionen, bearbeitet von Horst Fiedler, Berlin 1977, S. 181–184 (ursprünglich erschienen in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen 1789, St. 144, 7. September, S. 1441–1446); dazu: Michael Ewert, »Vernunft, Gefühl und Phantasie, im schönsten Tanze vereint«. Die Essayistik Georg Forsters, Würzburg 1993, S. 149–155. Offenbar war Forster von seinem Schwiegervater und Herausgeber der Göttingischen Anzeigen, Christian Gottlob Heyne, zur Niederschrift der Rezension aufgefordert worden.
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der bellestristischen Rezensionen steuern [würde], wenn kein anderer ein Buch rezensieren dürfte als der, der es selbst gemacht?« widmete bereits Jean Paul einen ganzen Abschnitt seiner satirischen Auswahl aus des Teufels Papieren von 1789.14 Selbstrezensionen und -anzeigen wie die soeben genannten dienen in der Regel dazu, Aufmerksamkeit zu generieren, d. h. das Interesse der Öffentlichkeit, sei es nun durch Lob oder durch Kritik, auf das eigene Werk zu lenken.15 Es liegt auf der Hand, dass auch Winckelmann mit dem von ihm selbst verfassten Sendschreiben Aufsehen erregen wollte. Zwar hatten die in einer Auflage von nur fünfzig bis sechzig Exemplaren erschienenen Gedancken über die Nachahmung einen »unglaublich Beyfall«16 erhalten, doch war die Nachhaltigkeit dieses Erfolgs alles andere als sicher. Der mit Hilfe eines fingierten anonymen Autors in Szene gesetzte Streit sollte ihm offensichtlich dazu verhelfen, seine Erstlingsschrift noch bekannter zu machen und damit als Autor zu einer gewissen Prominenz zu gelangen. Dass diese Strategie aufging, zeigt schon allein die Tatsache, dass die zweite Auflage der Gedancken über die Nachahmung nicht nur von Gottsched, sondern auch von Christoph Friedrich Nicolai und Friedrich Gottlieb Klopstock rezensiert wurde.17 Was die Dresdner Schriften Winckelmanns indes von Selbstrezensionen wie etwa denjenigen Schillers unterscheidet und damit zu einer Besonderheit macht, ist die Tatsache, dass ihr Verfasser nicht nur seine eigene Schrift in Form einer eigenen Abhandlung kritisiert, sondern der Kritik zugleich eine Replik bzw. Antikritik folgen lässt, kurz: dass er mit der Abfolge Gedanken – Sendschreiben – Erläuterung eine öffentliche Debatte simuliert, in der tatsächlich aber nur eine Person spricht.18 Indes ist auch dies nicht
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Jean Paul, Sämtliche Werke, Abt. II, Bd. 2: Jugendwerke II. Vermischte Schriften I, hg. v. Norbert Miller u. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Darmstadt 2000, S. 310–342. Rezensionen eigener Werke verfasst haben darüber hinaus etwa David Hume (siehe Astrid von der Lühe, David Humes ästhetische Kritik, Hamburg 1996, S. 9), Johann Georg Hamann (siehe Wolfgang-Dieter Bauer, Johann Georg Hamann als Publizist. Zum Verhältnis von Verkündigung und Öffentlichkeit, Berlin/New York 1991, S. 110–114) und Jakob Michael Reinhold Lenz, der die Rezensionen seines Neuen Menoza, die er auch zur Weiterentwicklung seiner Dramentheorie nutzte, allerdings unter seinem eigenen Namen veröffentlichte (siehe Jakob Michael Reinhold Lenz, Werke und Briefe in drei Bänden, hg. v. Sigrid Damm, Bd. 2, Leipzig 1987, S. 699–704). Dass sich das Prinzip der Selbstrezensionen auch im 19. Jahrhundert nicht überholt hatte, zeigt das Beispiel Christian Dietrich Grabbes (Werke, hg. v. Roy C. Cowen, Bd. 2: Dramen II, Gedichte, Prosa, München 1977, S. 505–509). Vgl. Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin u. a. 2007, S. 169, der als eine weitere Funktion von Selbstkritiken die nach außen verlagerte Antizipation von Kritik nennt. Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 176 (an Berendis, 4. Juni 1755). Christoph Friedrich Nicolai, [Rez.] »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke [...]«, in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste, 1/1757, 2. Stück, S. 332– 347; Friedrich Gottlieb Klopstock, »Eine Beurtheilung der Winkelmannischen Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in den schönen Künsten«, in: Der Nordische Aufseher, 3/1761, 150. Stück, 10. Mai 1760, S. 197–204. Vgl. Irina Denissenko, »Die inszenierte Öffentlichkeit des Streites. Die Gattung Antikritik und das kritische Profil der Allgemeinen Literatur-Zeitung«, in: Organisation der Kritik. Die Allge-
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neu: Vergleichbare Fälle inszenierter Debatten sind etwa von Lessing19 und Wieland20 überliefert. Dass sie weitaus häufiger vorgekommen sein müssen, belegen die satirischen Reflexe in J. B. Menckes zwei Reden De Charlataneria Eruditorum, die 1715 zunächst auf Latein und schon kurz darauf in deutscher Übersetzung erschienen. Hinsichtlich der »Streit=Schrifften« und der »Begierde vieler Gelehrter darnach« findet sich hier die folgende Bemerkung, die zeigt, dass die Inszenierung polemischer Scheingefechte bereits zu Anfang des 18. Jahrhunderts überaus geläufige Strategie war, um in der gelehrten Welt berühmt zu werden: Andere Bücher=Schreiber hingegen suchen ihnen [ihren Büchern, M.D.] mit Fleiß einen Wiedersacher, durch dessen Bestreitung Sie berühmt zu werden verhoffen. [...] Ja, damit es nur das Ansehen habe, als hätten Sie was Neues erfunden, so scheuen sie sich nicht alles was der Vernunfft und denen Sinnen gemäß ist, anzufechten, in der eintzigen Absicht, einen berühmten Gegner zu bekommen, mit dem Sie sich auf das ziehrlichste nach Klopf=Fechter Manier herumb schlagen könten. Und wenn über Verhoffen auch diese Kriegs=List fehl schlägt, so fangen sie selber an wieder ihre eigne Geburth auf das greulichste zu wütten: massen von dem Poeten Garopolus bekant ist, daß er sein Gedicht von Carl dem Grossen in einer offentlichen Censur sehr scharff durchgezogen hat.21
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meine Literatur-Zeitung in Jena 1785–1803, hg. v. Stefan Matuschek, Heidelberg 2004, S. 113– 142 (mit Beispielen vornehmlich aus den 1780er und 90er Jahren). Zu betonen ist, dass Winckelmann sich mit der von ihm inszenierten Spiegelfechterei an einer älteren Tradition des gelehrten Streits orientiert, wie er u. a. in Christian Ludwig Hagedorns anonym erschienener Satire Die Mittel in der gelehrten Welt berühmt zu werden, o. O. [Dresden], 1736 beschrieben wird: »Die gelehrten Send=Schreiben, womit sonderlich Anfänger hervor brechen, erhalten ihren grösten Werth, wenn sie von einem kleinen Geist an einen grossen gerichtet sind. Es gereichet dem ersteren zu keinem geringen Ruhm, wenn durch ihn ein grosser Mann in ein angenehmes Erstaunen gesetzet und zweifelhaft wird, wie sich der unbekannte Scribent mit solchen Kleinigkeiten so behertzt an ihn wagen mögen. Dieses Mittel kommt insonderheit vielen wackeren Gelehrten zu statte, die das Verhängnis, allem Ansehen nach, mit andern dunckelen Gelehrten, zu einer ewigen Vergessenheit bestimmet hatte. Ein grosses Licht in der Republick der Gelehrten, vermag die umstehenden Schüler mit allen ihren Send=Schreiben sichtbar zu machen.« (S. 67f.) Lessing 1985–2003 (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 736–878. Von Karl Lessing stammt die Behauptung, dass ein in die Zeitschrift Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters (1750) eingerückter anonymen Leserbrief (ebd., S. 821–859), der sich kritisch mit Gotthold Ephraim Lessings kurz zuvor erschienenen Plautus-Abhandlung sowie seiner Übersetzung der Gefangenen auseinandersetzt, von diesem selbst verfasst worden sei. Hinsichtlich Abhandlung, Übersetzung und der auf die Kritik folgenden Antwort ist Lessings Autorschaft seit jeher anerkannt. Umstritten ist dagegen aber bis heute, ob Lessing die »Critik« wirklich fingiert hat oder ob es sich bei dem Text nicht doch um einen »in der Tat wohl eingesandte[n] Brief« handelt, an dem man verfolgen könne, »wie sich zwei Intellektuelle jener Zeit über die ihnen wichtigsten Probleme des Dramas auseinandersetzen« (so die Auffassung Stenzels ebd., S. 1336; vgl. dagegen Wilfried Barner (Hg.), Lessing: Epoche, Werk, Wirkung, 5. Aufl., München 1987, S. 139f. und 146f.). Auf die von Wieland 1792 im Teutschen Merkur inszenierte Debatte über die Rechtmäßigkeit der Französischen Revolution hat zuerst Jan Philipp Reemtsma aufmerksam gemacht, siehe Jan Philipp Reemtsma, »Der politische Schriftsteller Christoph Martin Wieland«, in: Christoph Martin Wieland, Politische Schriften, 3 Bde., hg. v. Jan Philipp Reemtsma, Nördlingen 1988, Bd. 1, S. XII-LXXV, hier S. LIIIf. Sämtliche Texte sind abgedruckt in: ebd., Bd. 2, S. 379–523 und 565–602. Ich danke Anja Oesterhelt (Gießen) für diesen Hinweis. Herrn Joh. Burckhardt Menckens Zwey Reden von der Charlatanerie oder Marcktschreyery der
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Mencke beschreibt hier eine dreifach gestufte Strategie vermeintlich gelehrter Autoren, berühmt zu werden, wobei die Tatsache, dass sie dies über den gegnerischen Widerspruch statt über die kollegiale Zustimmung zu erreichen gedenken, Ausdruck der verkehrten Welt der Scharlatanerie ist. Zunächst bemühen sie sich um einen ›wirklichen‹ Gegner, der ihre Schriften aus eigenem Antrieb kritisiert. Findet sich kein solcher Kritiker, so greifen sie selbst die Schriften anderer, vorzugsweise berühmter Gelehrter in der Absicht an, mit diesen dadurch in einen ihrer eigenen Berühmtheit zuträglichen Streit zu geraten. Wenn sich indes auch auf diese Weise kein Gegner findet, so bedienen sie sich schließlich des letzten, offenbar verzweifelten Mittels und attackieren ihr eigenes Erzeugnis in einer öffentlichen Kritik.
III. Sofern es nicht als eine »bloße, nicht ernstzunehmende Fingerübung«22 abgetan wurde, ist Winckelmanns Scheingefecht in der Forschung unterschiedlich interpretiert worden: als »ein in die Polemik verdrängtes Bekenntnis und somit Dokument eines inneren Zwiespalts«, der »ein Ventil sucht, das es dem Rigoristen erlaubt, wenigstens einmal gegen den Stachel des eigenen Dogmas zu löcken«,23 als Ausdruck eines psychologischen Komplexes und Symptom intellektueller Ortlosigkeit24 oder als direkte Konsequenz einer gelehrten Lesemethode, die danach verlange, das in Exzerptheften angesammelte Wissen so intensiv und vollständig wie möglich auszuwerten.25 Hieran anschließen ließen sich Überlegungen zum Verhältnis von theoretisch propagierter Einfalt und prak-
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Gelehrten, nebst verschiedener Autoren Anmerckungen. Mit Genehmhaltung des Hn. Verfassers nach der letzten vollständigen Auflage übersetzt, Leipzig 1716, 1. Rede, S. 73f. – Zu dem hier erwähnten Hieronymus Garopolus, einem gelehrten Poeten des 17. Jahrhunderts und Sekretär des Prinzen von Palestrina, siehe Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Halle und Leipzig 1732–1754, 64 Bde. und 4 Supplementbde., Graz 1961–1964, Bd. 10, Sp. 342. So die Kritik Pfotenhauers an den bisherigen Deutungen von Fernow über Justi bis zu Uhlig in: Frühklassizismus 1995 (wie Anm. 1), S. 383; vgl. Winckelmann’s Werke, hg. v. Carl Ludwig Fernow u. a., 11 Bde., Dresden 1808–1825, hier Bd. 1, Vorrede, S. XIV; Justi 1923 (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 463–467; Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Sendschreiben. Erläuterung, hg. v. Ludwig Uhlig, Stuttgart 1990, S. 152. Werner Hofmann, »Rollentausch oder: ›Wer allgemein sein will, wird nichts ...‹«, in: Johann Tobias Sergel 1740–1814, hg. v. Werner Hofmann, München 1975, S. 9–25, hier S. 19; ders., Das entzweite Jahrhundert: Kunst zwischen 1750 und 1830, München 1995, S. 71. Vgl. Wolfgang Lange, »Watteau und Winckelmann oder Klassizismus als antik drapiertes Rokoko«, in: DVjs 72/1998, S. 376–410, der Winckelmanns »Positionswechsel« als »Indiz« dafür wertet, »wie unsicher und schwankend, wie ambivalent und unbestimmt, im hohen Maße labil die Anschauung Winckelmanns in Sachen Kunst war« (S. 382). Elisabeth Décultot, »Theorie und Praxis der Nachahmung. Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften«, in: DVjs, 76/2002, S. 27–29, hier S. 39; dies., Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert, Ruhpolding 2004, S. 26 und 58–61.
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tisch ins Werk gesetzter Vervielfältigung des Autors, zum Konflikt zwischen dem auch von Winckelmann für sich in Anspruch genommenen Tugendideal aufgeklärter Redlichkeit und seinen letztlich aus dem Arsenal der Barockrhetorik stammenden Verstellungstechniken sowie, nicht zuletzt, zur Frage der Modernität des in sich gespaltenen AutorIchs.26 Es wäre vermessen, alle diese Aspekte des Winckelmannschen Scheingefechts im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes weiter verfolgen zu wollen. Aus diesem Grund sowie mit Blick auf das übergreifende Thema soll das Augenmerk im Folgenden allein auf das komplexe Verhältnis von Anonymität und Autorschaft gerichtet werden. Die unterschiedlichen Perspektiven, in denen dies geschieht, sind mit den Begriffspaaren »Aggression und Diskretion«, »Prätention und Prävention« sowie »Querelle und Parallèle« überschrieben, ohne dass sich mit diesen Termini ein weitergehender systematischer Anspruch verbindet. 1.
Aggression und Diskretion
Winckelmanns bereits erwähnter Brief an Genzmer vom November 175727 ist nicht das erste und einzige Schreiben, in dem er von seinem Täuschungsmanöver berichtet. Mehrere Briefe an Freunde und Bekannte aus der Altmark gehen, in durchaus selbstdarstellerischer Absicht, auf die Dresdener Schriften ein und lassen somit Anlass und Entstehung des Sendschreibens wie auch der Erläuterung verfolgen. In einem Brief vom 3. Juni, also nur vierzehn Tage nach Erscheinen der Gedancken über die Nachahmung, berichtet Winckelmann seinem Stendaler Freund Uden nicht allein von den Absichten, die ihn bei der Abfassung der vorliegenden Schrift geleitet hätten, sondern erwähnt ihm gegenüber erstmals auch das »dessein« zweier neuer Schriften, die unmittelbar daran anknüpfen sollten: Diejenigen welche den hiesigen Geschmack kennen, wißen mit welcher Freyheit ich in dem letzten Bogen dem König selbst die Wahrheit gesagt. Die Tropheen auf ein Jagd-Haus gehen auf das prächtige Schloß Hubertusburg, welches er gebauet, und verschiedene andere Stellen sind eine Lection für unwürdige Leute, denen man die Aufsicht über die größte Gallerie der Welt und über die Antiquen anvertrauet hat. Ich arbeite itzo an einer Schrift, worinn ich diese meine Schrift selbst angreifen [werde], um diesen Leuten, denen ich beißende Wahrheiten sagen werde, eine Freude zu gleicher Zeit zu machen. Die Zweifel sollen aufs höchste getrieben werden, und der Druck soll von jemand anders besorget werden. In einer folgenden Schrift aber, welche ich zu gleicher Zeit entwerfe, soll alles beantwortet werden. Ich werde Sr. Majestät dieses dessein vorher communicieren laßen, damit ich sicher gehe, und wider Leute, dergleichen der Baron von Heineke ist, protection finde.28
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Zu letzterem vgl. Peter Szondi, »Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit«, in: ders., Poetik und Geschichtsphilosophie I, hg. v. Senta Metz und Hans-Hagen Hildebrand, Frankfurt a. M. 1974 (=Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 2), S. 11–265, bes. S. 39 mit dem Hinweis, dass Winckelmanns Begriff des »Geteilten in der modernen Natur« auf die Selbstdeutung der frühromantischen Ästhetiker und Dichter vorausweise. Siehe oben, S. 157. Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 171; vgl. auch ebd., S. 175–177 (an Berendis, 4. Juni 1755).
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Winckelmanns Strategie ist hier in aller Offenheit ausformuliert: Der Text der Gedancken über die Nachahmung soll um zwei Schriften ergänzt werden, von denen die erste – das nur zum Schein gegen seine eigene Schrift gerichtete Sendschreiben – dazu dienen soll, sowohl sich selbst als auch einige »unwürdige Leute« anzugreifen, denen er hinter der Maske eines anonymen Kritikers »beißende Wahrheiten« sagen will. Parallel zum Sendschreiben entwirft er mit der Erläuterung zugleich die Antwort auf die gegen sich selbst ins Feld geführten Einwände. Wer die von Winckelmann erwähnten »unwürdigen Leute« sind, deren pedantische Einwände er vom Verfasser des Sendschreibens gleich zu Anfang in ironischem Tonfall referieren lässt, hat Winckelmann in einem weiteren Brief an seinen Freund Uden offengelegt.29 Diesem zufolge handelt es sich bei ihnen um den Unterinspektor der Gemäldegalerie Matthias Oesterreich,30 den Antiquar und Verwalter des kurprinzlichen Münzkabinetts Johann Gottfried Richter31 sowie den damaligen Vize-Inspektor an der Galerie der antiken und modernen Statuen Johann Cronawetter32 – drei Personen also, in deren professionelle Aufgabenbereiche sich der bis dahin faktisch unbekannte Verfasser der Gedancken über die Nachahmung vorgewagt hatte. Ein nur flüchtiger Blick auf die von ihnen besetzten Posten lässt erkennen, dass zumindest Oesterreich und Cronawetter mehr oder weniger direkt dem »Ober-Aufseher aller Königl[ichen] Gallerien« Carl Heinrich von Heinecken unterstanden, welcher in der Erläuterung wiederum als bloß materialistisch interessierter Anaxagoras verspottet wird.33 Nun war Dresden keine egalitäre Gelehrtenrepublik, in der man von gleich zu gleich kommunizieren konnte, sondern eine höfische Residenzstadt, in deren Hierarchie Heinecken deutlich über Winckelmann rangierte. Nach allem, was über diesen Günstling und Vertrauten des »Ministrissimus« Brühl bekannt ist, hätte sich eine offene Kritik an ihm bzw. seinen Protegées für Winckelmann als fatal erweisen können: »Sein Selbstbewußt-
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Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 225f. (an Uden, 1. Juni 1756). Matthias Oesterreich (1716–1778), Enkel des Malers Gottfried Kneller und Vetter Heineckens, war seit 1751 am Kupferstichkabinett angestellt und seit 1754 Unterinspektor der Gemäldegalerie und trat 1757 als Inspektor der Galerie von Sanssouci in die Dienste Friedrichs II. Über Johann Gottfried Richter (1691–1755) scheint nicht viel mehr bekannt zu sein als dass er, von Haus aus Jurist, das dem Kurprinzen unterstellte Münzkabinett verwaltete (vgl. Heres 1991 [wie Anm. 4], S. 119f, 123–125). Aus einem Brief an Stosch wird indes deutlich, dass Winckelmann sich spätestens seit 1758 Hoffnungen auf die nach dem Tod Richters vakant gewordene Stelle als Antiquar des Kurprinzen machte, die ihm dieser 1761 dann tatsächlich auch zusicherte. Siehe Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 402 (an Stosch, 5. August 1758), S. 430 (an Uden, 10. November 1758); ebd., Bd. 2, S. 166f. (an Friedrich Christian von Sachsen [Entwurf], 24.–28. Juli 1761) und S. 169 (an Gessner, 28. Juli 1761). Zu Johann Cronawetter vgl. Justi 1923 (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 457; Heres 1991 (wie Anm. 4), S. 120f. Trotz ihrer Schärfe hat die Winckelmannsche Polemik nicht zu einem Bruch mit Cronawetter geführt. Noch aus Rom lässt Winckelmann sich diesem »herzlich« empfehlen (Winckelmann 1952–1957 [wie Anm. 1], Bd. 1, S. 215); offensichtlich sollte Cronawetter eine geplante Übersetzung der Gedancken über die Nachahmung ins Italienische betreuen; vgl. die Briefe an Hagedorn und Walther ebd., Bd. 1, S. 217 (3. April 1756) und S. 218 (Anfang April 1756). Winckelmann 2002 (wie Anm. 2), S. 115: »Pythagoras siehet die Sonne mit andern Augen an als Anaxagoras: jener als einen Gott, dieser als einen Stein, [...].«, vgl. auch ebd., S. 117.
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sein steigerte sich öfters zu einer leicht reizbaren Empfindlichkeit, selbst seinem Gönner Brühl gegenüber, wie dessen Briefe beweisen, und zu verletzender Schärfe des Urteils über andere, namentlich wenn diese ihm irgendwo unbequem waren oder seine Geltung beeinträchtigen konnten.«34 Der einfache Bibliothekar Winckelmann tat also besser daran, diesem ebenso gewandten wie rücksichtlosen Hofmann, der Carl Justi zufolge »seinen Balthasar Gracian nicht umsonst gelesen hatte«,35 nicht offen entgegenzutreten, sondern selbst zu höfischen Dissimulationstechniken zu greifen. Für die polemische Konzeption des Sendschreibens ist nun des weiteren der Umstand von Bedeutung, dass Winckelmann einen früheren Entwurf der Gedancken über die Nachahmung redigiert hatte, nachdem ihm mitgeteilt worden war, dass diese unter seinem Namen erscheinen sollten, statt – wie eigentlich beabsichtigt – als anonymer Beitrag zu einer Monatsschrift. Ursprünglich, so berichtet er in seinem bereits zitierten Brief an Uden, sei die gegenwärtige Schrift »ganz anders« ausgearbeitet gewesen »als sie itzo erschienen« war: Meine Absicht war nicht, sie unter meinem Namen drucken zu laßen, und also hatte ich mit großer Freyheit geschrieben, und hier, wo alles der Paßion des Königs gegen die Mahlerey nachgeäffet, gewißen Leuten, die brilliren wollen, ziemlich Beere vorgeleget, woran sie würden zu nagen gehabt haben. Ich durfte aber dieses nicht thun, ohne sie vorher einer Person, die über mich zu disponiren hat, vorzulegen. Die Schrift gefiel und man wünschte, sie so bald als möglich gedruckt zu sehen. Ich hatte diese Erklärung als einen Befehl anzusehen, und es war kein anderer Weg, als auf meine Kosten. Mein Beutel setzte mir gewiße Grenzen, und ich warf sehr viel weg und mußte auch bedächtlicher verfahren.36
Winckelmann, davon kann man ausgehen, war sich der Gefahren bewusst, die ihm durch die Anmaßung einer allzu großen »Freyheit« auch jenseits der gleichsam privaten Intrigen Heineckens drohten. Der Fall des Dresdener Satirikers Christian Ludwig Liscow, der 1749 wegen seiner vermeintlichen Beteiligung an der Abfassung eines gegen seinen Dienstherren, den Minister Graf Brühl, gerichteten Memorials verhaftet und eingekerkert worden war, dürfte Winckelmann, der seit 1748 in Nöthnitz bei Dresden lebte, nicht
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Otto Eduard Schmidt, Minister Graf Brühl und Karl Heinrich von Heinecken. Briefe und Akten, Charakteristiken und Darstellungen zur sächsischen Geschichte (1733–1763), Leipzig und Berlin 1921, S. 325. Rücksichtslosigkeit zeichnet sein Verhalten gegenüber Hagedorn aus; vgl. Stübel 1912 (wie Anm. 4), S. 135ff. und Cremer 1989 (wie Anm. 4), S. 89ff. Justi 1923 (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 314. Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 170f. (3. Juni 1755). Mit der »Person, die über mich zu disponiren hat«, ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Beichtvater Leo Rauch gemeint. – Winckelmanns Brief an Berendis vom folgenden Tag (ebd., S. 175–177) lässt sich entnehmen, dass der ursprüngliche Text der Gedancken über die Nachahmung als Beitrag für eine Monatsschrift entworfen worden war. Üblicherweise erschienen solche Beiträge ohne Angabe des Verfassernamens, wodurch sich die »große Freyheit« erklärt, die es Winckelmann erlaubt hatte, ungehemmt gegen »gewiße Leute« zu polemisieren. Zu den Gründen, die einen Schriftsteller in der Mitte des 18. Jahrhunderts dazu bewegen konnten, seine Schriften auch abgesehen von der Zensur anonym erscheinen zu lassen, siehe Wolfgang von Ungern-Sternberg, »Schriftsteller und literarischer Markt«, in: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789, hg. v. Rolf Grimminger, 2. Aufl., München 1984 (=Hanser Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 3.1) S. 133–185, hier S. 170ff.
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unbekannt geblieben sein. Zwar wurde Liscow von diesem Verdacht freigesprochen; dies änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass er seine bisherige Stellung verlor, sich auf gerichtliche Anweisung aus Dresden entfernen und darüber hinaus verpflichten musste, sich künftig jeglicher Äußerungen über offizielle Angelegenheiten zu enthalten. Von seinen beiden für schuldig befundenen Mitangeklagten, dem Finanzier Alexander Macphail Baron de Bishopfield und dem Sekretär der Geheimen Kriegskanzlei Georg Gottlob Seyffert, wurde der erste »bis auf weitere Verfügung« auf der Festung Sonnenstein festgehalten, der letztere aber zur »besseren Erhaltung der gemeinen Ruhe« zu lebenslanger Haft im Zuchthaus Leipzig verurteilt.37 Ebenfalls nicht unbekannt gewesen sein dürfte Winckelmann das in diesem Zusammenhang erlassene »Patent wider die Pasquill-, Schmäh- und Drohungsschriften«, dessen der Zensur in Kursachsen dienenden Bestimmungen in einem Mandat vom 18. April desselben Jahres wie folgt konkretisiert wurden: Setzen, wollen und ordnen demnach hiermit, daß hinfüro Niemand solchen Unfugs sich schuldig machen, sondern jedermann alles ungebührlichen Raisonnierens, Critisierens und Beurteilens [...] über die publiquen Angelegenheiten Unsres Landes und deren Regierung, insgleichen der unbefugten Einmischung in fremde ihn nicht angehende Sachen [...], auch des boshaften Verunglimpfens und Bezüchtigens Unserer Mitarbeiter und Collegiorum sich schlechterdings und gänzlich enthalten soll. Inmaßen wir im widrigen Fall die Übertreter [...] mit der Suspension und Remotion von ihren Ämtern und Chargen, mit Gefängnis und andern schweren Strafen belegen [...] wollen. Wie wir denn ferner hiermit ausdrücklich verordnen, daß der- oder diejenigen, welche vor dergleichen Übertretungen Anderer Wissenschaft haben und solche gehörigen Orts schrift- oder mündlich nicht anzeigen, mit gleicher Strafe als die Verbrecher selbst ohnfehlbar angesehen werden sollen. »38
Angesichts solch massiver Strafandrohungen ist es mehr als verständlich, dass Winckelmann in seinen Gedancken über die Nachahmung »bedächtlicher« verfahren war als er ursprünglich vorgehabt hatte. Zwar rühmt er Uden gegenüber, »mit welcher Freyheit« er »in dem letzten Bogen dem König selbst die Wahrheit gesagt« habe, doch war diese Wahrheit anscheinend so weit verschleiert, dass sie zwar für Kenner des »hiesigen Geschmacks«, nicht aber für Außenstehende wie eben Uden, ohne erläuternde Hinweise
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Siehe Agatha Kobuch, Zensur und Aufklärung in Kursachsen. Ideologische Strömungen und politische Meinungen zur Zeit der sächsisch-polnischen Union (1697–1763), Weimar 1988, S. 219ff., die Zitate aus dem Urteil S. 221f. Vgl. auch Stübel 1912 (wie Anm. 4), S. 131ff. und Siegfried Hoyer, »Bürgerkultur einer Residenzstadt. Dresden im 18. Jahrhundert«, in: Städtische Kultur in der Barockzeit, hg. v. Wilhelm Rausch, Linz/Donau 1982, S. 105–116, hier S. 111. – Heres 1991 (wie Anm. 4), S. 58, weist in diesem Zusammenhang auf einen Brief Winckelmanns vom Spätherbst 1749 hin, der belegt, dass dieser nicht nur von den Vorgängen unterrichtet war, sondern aus der Verhaftung Liscows, Bisphopfields und Seyfferts auch Konsequenzen für seine Privatkorrespondenz zog. Im Anschluss an Nachrichten über Dresdener Lustbarkeiten, die Berendis mit dem jungen Grafen Bünau besucht habe, heißt es dort ebenfalls Uden gegenüber: »Von andern öffentlichen Nachrichten unterstehe mich nichts ferner zu melden weil man einige Personen nach dem Königstein wegen freyen Schreibens gebracht hat.« Vgl. Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 93. Zitiert nach Stübel 1912 (wie Anm. 4), S. 133f.
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verständlich war. »Beißende« und damit deutliche »Wahrheiten« hingegen sollte das Sendschreiben zur Sprache bringen, indem es die »Lection für unwürdige Leute, denen man die Aufsicht über die größte Gallerie der Welt und über die Antiquen anvertraut hat«, aufgreift und – geschützt durch die Maske eines anonymen Kritikers – verschärft. Es erscheint damit als Fortsetzung der Polemik mit anderen, nämlich diese fiktionalisierenden Mitteln. Vor dem Hintergrund der rigiden Zensurbestimmungen muss schließlich auch der von Winckelmann gegenüber Uden erwähnte Plan betrachtet werden, den Druck des Sendschreibens »von jemand anders« besorgen zu lassen.39 Diese Äußerung lässt erkennen, dass Winckelmann ursprünglich beabsichtigt hatte, dem von ihm als Äußerung eines anonymen Kritikers verfassten Sendschreiben durch einen eigenständigen Druck einen höheren Grad von Authentizität zu verleihen. Separat veröffentlicht und zudem mit einem anderen als dem Walther’schen Druckvermerk versehen, hätte diese Schrift Winckelmann gleichsam als ein mit den Händen zu greifendes Alibi dienen können. Sicherlich nicht zuletzt auf Grund des Einspruchs George Conrad Walthers, der als Geschäftsmann natürlich ein Interesse daran hatte, alle drei Schriften en bloc zu verlegen, hat Winckelmann von diesem Vorhaben schließlich doch abgelassen.40 Auch wenn im Frühjahr 1756 das Sendschreiben somit gemeinsam mit den beiden anderen Schriften in einem Band erschien, hat dies seiner Glaubwürdigkeit als Kritik eines fremden Verfassers keinen Abbruch getan: Gottscheds Überzeugung, es mit einem »freundschaftlichen Streit zweener große[r] und gelehrte[r] Kenner der schönen Künste« zu tun zu haben, steht exemplarisch für die Bereitschaft des zeitgenössischen Publikums, die Winckelmannsche Spiegelfechterei für bare Münze zu nehmen. Allerdings war Winckelmann keinesfalls so ›unklug‹, sich allein auf den Schutz der von ihm inszenierten Anonymitätsfiktion zu verlassen. Früher oder später, das wusste er, würde er als der wahre Verfasser des Sendschreibens und der darin ausgesprochenen inkriminierenden »Wahrheiten« identifiziert werden. In einem solchen Fall aber gab es unter den damaligen absolutistischen Verhältnissen nur eine Möglichkeit, der gesetzlichen Bestrafung zu entgehen: Winckelmann musste sich der Protektion des Hofs, und das heißt: des Königs versichern. Zu diesem Zweck aber schien eine die Strategie der Täuschung ergänzende Strategie der Ehrlichkeit angeraten: Zielte Winckelmanns Vorhaben, sich im Sendschreiben selbst anzugreifen, laut eigener Aussage darauf ab, hinter der Maske eines anonymen Kritikers öffentlich zensurverdächtige »Wahrheiten« äußern zu können, ohne als deren Urheber zu erscheinen, so gedachte er intern, das heißt dem König gegenüber, seine Karten offen auf den Tisch zu legen: »Ich werde Sr. Majestät dieses dessein vorher communicieren laßen, damit ich sicher gehe, und wider Leute,
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Siehe oben, S. 162. Zudem hatte Winckelmann bereits im September 1755 Dresden in Richtung Rom verlassen, wodurch ihm jeglicher Einfluss auf die Gestaltung des Drucks seiner dort bei Walther zurückgelassenen Manuskripte genommen war. Anzunehmen ist aber, dass Winckelmann sein ursprüngliches Vorhaben, den Druck von »jemand anders« besorgen zu lassen, auf Grund des damit verbundenen allzu großen – auch finanziellen – Aufwands bereits in Dresden aufgegeben hatte.
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dergleichen der Baron von Heineke ist, protection finde.«41 Der Täuschung der Öffentlichkeit auf der einen entspricht somit die Offenheit gegenüber dem Souverän auf der anderen Seite. Auf diese Ambivalenz des Winckelmannschen »dessein« wird später zurückzukommen sein. Soviel sei hier aber schon vorweggenommen, dass vor dem hier skizzierten Hintergrund von Offenheit und Täuschung mit – mindestens – zwei Lesarten zu rechnen ist: Während die ›Nicht-Eingeweihten‹ (wie etwa Gottsched) die fingierte Argumentation des Sendschreibens als das lasen, was sie zu sein schien: nämlich die reale Kritik eines anonymen Verfassers, war derselbe Text für diejenigen, die Winckelmann in sein Vorhaben eingeweiht hatte (also den König, bestimmte Angehörige des Hofes, aber auch seine Freunde) stets transparent auf den sich selbst kritisierenden Autor. 2.
Prätention und Prävention
Winckelmanns Sendschreiben ist jedoch viel mehr als nur eine Finte, um seinen Feinden »beißende Wahrheiten« sagen zu können. Wie gezeigt worden ist, legt Winckelmann dem Verfasser des Sendschreibens durchaus ernst zu nehmende Argumente gegen seine Gedancken in den Mund, die sich nicht, wie etwa die Einwände der »unwürdigen« Dresdner Pedanten, ohne weiteres als irrelevant oder gar lächerlich abtun lassen.42 Das aber heißt: Indem Winckelmann das Schreiben eines anonymen Kritikers fingiert, schafft er sich nicht nur ein Forum, in dessen Rahmen er gegen seine Konkurrenten polemisieren kann, sondern er gibt sich zugleich die Gelegenheit, in seiner Antwort alle die Quellen und Argumente nachzutragen, die er in seiner auf eigene Kosten gedruckten Erstlingsschrift aus finanziellen wie auch aus stilistischen Erwägungen unterdrückt hatte.43 Doch damit nicht genug: Zugleich ermöglicht ihm diese Vorgehensweise, die im
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Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 171, vgl. oben, S. 10. Zwar genoss Winckelmann bei Hof bereits die Protektion des Jesuitenpaters Leo Rauch, doch reichte dessen Schutz angesichts solch einflussreicher Gegner wie Heinecken offensichtlich nun nicht mehr aus. Vgl. hierzu Winckelmanns Brief an Berendis vom 4. Juni 1755 (ebd., S. 176). Auch später in Rom ist Winckelmann stets um einen »Protector« bemüht, vgl. an Uden, 1. Juni 1756 (ebd., S. 224) und an Genzmer, 20. November 1757 (ebd., S. 313). Vgl. Szondi 1974 (wie Anm. 26), S. 35–39, sowie Pfotenhauer in: Frühklassizismus 1995 (wie Anm. 1), S. 382–392. Dafür, den Text ernst zu nehmen, sprechen nicht zuletzt auch die von Winckelmann im Sendschreiben publizierten »Seltenheiten« (vgl. Winckelmann 1952–1957 [wie Anm. 1], Bd. 1, S. 180), mit denen er die Kritik aufwerten (und dabei zugleich seinen Ruf als Gelehrter und Kenner untermauern) wollte, so etwa die »Critic über den Diomedes« (Winckelmann 2002 [wie Anm. 2], S. 66–69); die »Anmerkung über die erhobenen Arbeiten der Alten« (ebd., S. 72–74), deren Einsprüche er in der Erläuterung zugesteht (ebd., S. 117); die Beschreibung des Gemäldes von Gérard de Lairesse, (ebd., S. 82) sowie die dem Sendschreiben angefügte Nachricht von einer Mumie, deren Gegenstand »unter mehr als einem Umstande merkwürdig« sei (ebd., S. 63). Konstitutiv für den Stil der Gedancken über die Nachahmung sind die beiden Ideale einer sich auf das Wesentliche konzentrierenden Kürze (brevitas) und der Originalität, mit denen Winckelmann sich demonstrativ von dem ausufernden Gelehrtenstil des 17. Jahrhunderts abwendet. Zur Kürze als Stilideal siehe Horst Rüdiger, »Pura et illustris brevitas«, in: Konkrete Vernunft. Fest-
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Sendschreiben gegen sich selbst angeführten Einwände in der Erläuterung souverän zu widerlegen und damit letztlich als ›Sieger‹ aus dem Streit hervorzugehen. Diese Strategie ist einfach, aber äußerst effektiv: Der Umstand, dass Winckelmann die Einwände gegen die Gedancken über die Nachahmung selbst auswählt, erlaubt es ihm, bestimmte Fragenkomplexe entweder von vornherein auszublenden oder aber, gerade im Gegenteil, eigens zu thematisieren. Ersteres gilt z. B. für die ›Wasserkasten-Methode‹, das heißt seinen Vorschlag, über den »neuen Weg in Marmor zu arbeiten«44, den er in seinen Briefen von Anfang Juni 1755 noch als einen der Punkte bezeichnet hatte, die den Wert seiner Schrift »vornehmlich« ausmachten.45 Während in den Gedancken über die Nachahmung dieser Vorschlag einen eigenen Abschnitt beansprucht, fällt weder im Sendschreiben noch in der Erläuterung auch nur ein einziges Wort über diese vermeintliche Entdeckung, die ja tatsächlich auf einem Missverständnis Winckelmanns beruht. Die leicht anfechtbare These wird somit gar nicht erst zur Diskussion gestellt, wobei sich diese Ausblendung als Versuch Winckelmanns interpretieren lässt, die Rezeption seiner Schrift auf diese Weise im Nachhinein zu steuern. Andere Thesen hingegen greift er offensichtlich gezielt an, um einen Anlass zu haben, sie in der Erläuterung dann umso nachdrücklicher verteidigen zu können. Hierzu gehört z. B. die These von der »Vorzüglichkeit der Natur unter den Griechen«, auf die sich die meisten Einwände des Sendschreibens beziehen.46 Bereits in den Gedanken über die Nachahmung hatte Winckelmann darauf verwiesen, dass er sich bei diesem Punkt auf die »Wahrscheinlichkeit« berufen müsse.47 In der Erläuterung greift er dies mit den Worten auf, dass er »auch mit den seltensten Nachrichten« nicht »bis zur völligen Überzeugung« gelangen könne, ja er konzediert seinem Kritiker sogar, dass »diese Vorzüge der Griechen [...] sich vielleicht weniger auf die Natur selbst, und auf den Einfluss des Himmels, als auch auf die Erziehung derselben zu gründen« scheinen.48 Gleichwohl führt er im Folgenden gerade solche aus den antiken Quellen gezogenen »seltensten Nachrichten« en masse an und flankiert diese mit einem Exkurs über die Sprache der Griechen, aus der man, wie ihm »deucht«, »auf die Beschaffenheit ihrer Körper urtheilen« könne.49 Der fingierte Angriff bietet Winckelmann in diesem Fall also die Gelegenheit, in der zugleich entworfenen Antwort seine ursprüngliche These unter Einbeziehung der Kritik argumentativ zu festigen.50
44 45 46 47 48 49 50
schrift für Erich Rothacker, hg. v. Gerhard Funke, Bonn 1958, S. 345–372; zum essayistischen Charakter der Winckelmannschen Gedancken über die Nachahmung siehe Tadeusz Namowicz, Die aufklärerische Utopie. Rezeption der Griechenauffassung J. J. Winckelmanns um 1800 in Deutschland und Polen, Warschau 1978, S. 40ff. und 78ff. Winckelmann 2002 (wie Anm. 2), S. 47. Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 176 (an Berendis, 4. Juni 1755) und S. 173 (an Nolte, 3. Juni 1755). Winckelmann 2002 (wie Anm. 2), S. 69–77. Ebd., S. 36. Ebd., S. 99. Ebd., S. 99f. Vgl. auch den Hinweis Pfotenhauers im Kommentar in: Frühklassizismus 1995 (wie Anm. 1), S. 382f.
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Nachträglich gelingt es Winckelmann auf diese Weise, die offensichtlichen Schwachstellen seiner Argumentation so weit auszubessern und seine ursprünglichen Thesen so weit zu unterfüttern, dass ›wirklichen‹ Kritikern so gut wie keine Angriffsfläche mehr bleibt. Ein vergleichender Blick auf Gottscheds Rezension zeigt, dass dieser dort, wo er Kritik an den Winckelmannschen Gedancken über die Nachahmung anmeldet, derjenigen des Sendschreibens folgt. Diese Einwände hatte Winckelmann jedoch bereits in der die Thesen seiner Erstlingsschrift verteidigenden Erläuterung widerlegt. In dieselbe Richtung weist auch eine Äußerung Winckelmanns gegenüber dem in Paris lebenden Kupferstecher Johann Georg Wille. In einem Brief vom 27. Januar 1756 berichtet er diesem aus Rom, dass er die anonyme »Beurtheilung [s]einer eigenen Schrift« in der Absicht verfasst habe, »ungegründeten Richtern zuvor zu kommen«.51 Aus dieser Perspektive betrachtet, lässt sich das Sendschreiben als der Versuch verstehen, dem Urteil anderer Gelehrter schon im Vorfeld zu begegnen. Durch die Vorwegnahme ihrer Einwände konnte Winckelmann ihnen sozusagen den kritischen Wind aus den Segeln nehmen. Nicht zuletzt aus diesem Grund musste ihm aber daran gelegen sein, sich mit dem Verfasser des Sendschreibens einen seriösen Kritiker zu konstruieren, dessen »Erinnerungen« keinesfalls lächerlich erscheinen durften, da nur eine ernsthaft geführte Auseinandersetzung eventuell geplante ›wirkliche‹ Beurteilungen der Gedancken über die Nachahmung überflüssig erscheinen lassen konnte. 3.
Querelle und Parallèle. Oder: Die Souveränität des ›sowohl als auch‹
Natürlich, darauf wurde schon hingewiesen, musste Winckelmann damit rechnen, dass früher oder später nicht nur in Dresden, sondern auch einer größeren Öffentlichkeit bekannt werden würde, dass er selbst der Verfasser des Sendschreibens war. Zwar glaubte Gottsched noch im November 1756, es wirklich mit einem »freundschaftlichen Streit zweener großen und gelehrten Kenner der schönen Künste« zu tun zu haben. Spätestens seit der Anfang 1757 in der Bibliothek der schönen Wissenschaft und freyen Künste erschienenen Rezension Friedrich Nicolais dürfte aber allgemein bekannt gewesen sein, »daß dieser Ungenannte, wie man aus allem urtheilen kann, niemand anders ist, als der Verfasser der Gedanken selbst«.52 Dies führt zurück auf die bereits angesprochene Ambivalenz in der Anlage der drei Schriften, die zuerst nur von einem begrenzten Kreis in Dresden, später dann aber auch von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen werden konnte: Diejenigen, die wussten, dass Winckelmann der Verfasser aller drei Schriften war, lasen das Sendschreiben
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Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 200 (an Wille, 27. Januar 1756). Vgl. dazu auch den Brief an Genzmer vom 1. Juni 1756 (ebd., S. 222). Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste, 1/1757, 2. Stück, S. 332–347. Hilfreich bei seiner Entlarvung der Winckelmannschen Spiegelfechterei dürfte Nicolai der Umstand gewesen sein, dass er selbst einige Erfahrung im Fingieren kritischer Briefe und Debatten hatte. Siehe dazu Mark-Georg Dehrmann, »Kritik, Polemik und Ästhetik beim frühen Friedrich Nicolai«, in: Friedrich Nicolai und die Berliner Aufklärung, hg. v. Rainer Falk/Alexander Košenina, Hannover 2008, S. 29–43, bes. S. 37–41.
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nicht als das, was es scheint (nämlich die reale Kritik eines anonymen Verfassers), sondern als das, was es tatsächlich ist, nämlich die äußerst geschickte Fiktion eines kritischen Briefes. In dieser Perspektive erscheint Winckelmann als der seinen Gegnern Überlegene, gerade weil er deren Rolle so überzeugend spielt. Carl Justi, Winckelmanns großer Biograph, der übrigens selbst ein gewisses Talent im fingieren historischer Quellen besaß,53 hat diese Strategie wie folgt beschrieben: Es erscheint als Überlegenheit, Gewandtheit, wenn man kaltblütig genug ist, den Advokaten seines Gegners zu spielen, in die Afterlogik des Irrtums einzugehen. Man sagt damit: Mein sehr gelehrter Kritiker! Stecken Sie sich nicht in Kosten: ich wette, daß ich alles, was Sie gegen mich zu Papier zu bringen Anstalt machen, ebensogut sagen könnte, wie Sie, ja ich will es sogar drucken lassen.54
Ähnliches gilt in Abwandlung auch für die ›eingeweihten‹ Leser der Dresdener Schriften, insbesondere ihre Adressaten am Hof. Mit den gleichsam die Querelle des anciens et des modernes rekapitulierenden Argumentationen des Sendschreibens und der Erläuterung gibt Winckelmann eine eindrucksvolle Probe seiner souveränen Beherrschung der antiken und modernen Kunstliteratur.55 Genau besehen entfaltet er in den beiden erst im Nachhinein entstandenen Texten dabei genau die »Gedanken«, die in seiner Erstlingsschrift bereits angelegt, aus den oben genannten Gründen jedoch unterdrückt worden waren. Sendschreiben und Erläuterung lassen somit nachträglich den äußerst komplexen theoretischen Hintergrund erkennen, vor dem die Gedancken über die Nachahmung überhaupt erst entstehen konnten. Mit den von ihm auf diese Weise demonstrierten umfassenden Kenntnissen präsentiert Winckelmann sich nicht nur als derjenige, der – im Gegensatz zu den von ihm verspotteten »unwürdigen« Dresdener Kennern und Gelehrten – dazu in der Lage ist, die Gedancken über die Nachahmung mit treffenden Argumenten zu kritisieren. Zugleich stellt er sich selbst als den idealen Anwärter auf eine Position am Dresdener Hof dar, welcher damals – festzumachen an der Person Augusts III. auf der einen und des Kurprinzen Friedrich Christian auf der anderen Seite – an der Schwelle zwischen Spätbarock und Klassizismus stand. Während August III. sich vornehmlich am Geschmack des ›modernen‹ italienischen Spätbarocks orientierte (mit der unter seiner Regentschaft zwischen 1739–1755 errichteten katholischen Hofkirche als dessen deutlichster Manifestation),56 zeigte sein Sohn
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Siehe dazu Johannes Rößler, Poetik der Kunstgeschichte. Anton Springer, Carl Justi und die ästhetische Konzeption der deutschen Kunstwissenschaft, Berlin 2009, S. 233–254. Justi 1923 (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 463. Vgl. dazu Décultot 2004 (wie Anm. 25). Zur Kunst und den Kunstsammlungen unter August III. siehe den Ausstellungskatalog: Barock in Dresden. Kunst und Kunstsammlungen unter der Regierung des Kurfürsten Friedrich August I. von Sachsen und Königs August II. von Polen genannt August der Starke 1694–1733 und des Kurfürsten Friedrich August II. von Sachsen und Königs August III. von Polen 1733–1763, hg. v. Ulli Arnold, Leipzig 1986, sowie den Sammelband Elbflorenz. Italienische Präsenz in Dresden 16.–19. Jahrhundert , hg. v. Barbara Marx, Dresden u. a. 2000; zu der von dem römischen Architekten Gaetano Chiaveri errichteten katholischen Hofkirche siehe Costanza Caraffa, Gaetano
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seit seiner Italienreise (1739/40) ein besonderes Interesse für die antike Kunst. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass dem Kurprinzen nicht nur das Münz- und AntiquitätenKabinett unterstand, sondern er sich offensichtlich auch für die griechische Sprache interessierte, ist zu vermuten, dass Winckelmanns Hoffnungen sich eigentlich auf diesen, als den zukünftigen Regenten, richteten. Noch aus Italien ließ er auf den ausdrücklichen Wunsch des Kurprinzen hin dem Grafen Wackerbarth bzw. dem Hofarzt Bianconi Berichte über die Ausgrabungen in Herculaneum sowie andere antike Funde in Italien, die sogenannten »antiquarischen Relationen«, zukommen, die dazu bestimmt waren, Friedrich Christian und seiner Frau Maria Antonia vorgelesen zu werden.57 Nicht übersehen werden darf dabei, dass der sogenannte ›junge Hof‹ um Friedrich Christian in deutlicher Opposition zur Regierung Brühl stand.58 Für Winckelmann schien sich hier also ein möglicher Weg zu einer künftigen Anstellung bei Hofe zu öffnen, der an Heinecken vorbeiführte. Es lässt sich folglich mit guten Gründen argumentieren, dass die Dresdener Schriften unmittelbar zwar an August III. als Stipendiengeber gerichtet waren, dass sie sich auf längere Sicht aber an seinen Sohn Friedrich Christian wandten, unter dessen »künftige[r] Regierung« Winckelmann eine Anstellung zu finden hoffte.59 Die Doppelbödigkeit des Winckelmannschen Scheingefechts ist somit auch als Reflex und Antwort auf die Notwendigkeit anzusehen, einen doppelten Adressatenkreis anzusprechen.
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Chiaveri (1689–1770) architetto romano della Hofkirche di Dresda, Cinisello Balsamo, Mailand 2006 (=Studi della Bibliotheca Hertziana, Bd. 1). Siehe dazu Rehms Kommentar in Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 584f., und den Fundbericht von Sigrid von Moisys in: Johann Joachim Winckelmann, Unbekannte Schriften. Antiquarische Relationen und Beschreibung der Villa Albani, hg. v. Sigrid von Moisy/ Hellmut Sichtermann/Ludwig Tavernier, München 1986, S. 9. In einem Brief an Stosch vom 5. August 1758 berichtet Winckelmann: »[...] ich schicke dem Prinzen itzo alle Woche einen schriftlichen Aufsatz im Ital. von Sachen welche die Alterthümer betreffen.« Vgl. Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 402. Vgl. Justi 1923 (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 360f.; Heres, 1991 (wie Anm. 4), S. 158. Als entschiedener Gegner Brühls galt auch der ehemalige Oberhofmeister des Prinzen, Graf von WackerbarthSalmour. Vgl. dazu Schmidt 1921 (wie Anm. 33), S. 312ff. Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 167 (an Berendis, ca. 10. März 1755). In Winckelmanns Briefen taucht der Kurprinz immer wieder im Zusammenhang seiner Hoffnungen auf »künftige« Entwicklungen auf, so z. B. auch am 23. Januar 1755 an Berendis (ebd., S. 165). In der Tat sollten ja auch die Gedancken über die Nachahmung ursprünglich dem Kurprinzen als »jemand[em]« gewidmet werden, der »künftig« Winckelmanns Glück machen könnte, was dann schließlich jedoch aufgrund diverser »Umstände«, die Graf Wackerbarth-Salmour machte, unterblieb (an Berendis, 4. Juni 1755; ebd., S. 176). Dass Winckelmann den Tod des damals 59-jährigen Königs durchaus in Betracht zog, belegt ein Brief an Berendis vom 25. Juli 1755 bezüglich seiner Pension: »Gesetzt der König stirbt vor Ablauf der bestimmten [zwei] Jahre, so ist Bianconi der Mann, der mir dieses wenige aus einem andern fond zu verschaffen weiß« (ebd., S. 178). Mit dem Ableben Augusts III. war auch das Ende der Regierung Brühl gewiss.
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* Mit der von ihm fingierten Kritik eines anonymen Verfassers, dies sollte deutlich geworden sein, gelingt es Winckelmann, eine öffentliche Debatte nach dem Modell gelehrter Kommunikation zu simulieren, aus der er selbst als Sieger hervorgeht. Primärer Zweck des von ihm inszenierten Scheingefechts ist es natürlich, Aufsehen zu erregen und dabei die Aufmerksamkeit auf sich selbst als Autor der Gedancken über die Nachahmung zu lenken: Winckelmann konstruiert sich einen Gegner, mit dem gemeinsam er im Sendschreiben die Thesen seiner Erstlingsschrift erörtern und gegen dessen Einwände er sich in der Erläuterung, die ihm das letzte Wort lässt, souverän verteidigen kann. Indem er als Verfasser des Sendschreibens zugleich seine Dresdner Gegner und Konkurrenten als Pedanten und Ignoranten darstellt, die sich weder ihren Aufgaben noch der Kritik seiner Schrift gewachsen zeigen, präsentiert Winckelmann sich zudem selbst, sozusagen ex negativo, als wahrhaft gelehrter Kenner und damit als ideale Besetzung für eine Stellung bei Hofe. Die Konstituierung eigener Autorität (und Autorschaft) geht mit der polemischen Zerstörung der Autorität anderer somit Hand in Hand. Das Wissen um Winckelmanns Autorschaft aller drei Schriften schließlich lässt seine souveräne Beantwortung des Sendschreibens vollends als Triumph über seine Gegner erscheinen, insofern er deren potentielle Kritik demonstrativ durch Selbstkritik zu überbieten weiß. Anonymität, so ließen sich diese Beobachtungen thesenhaft zusammenfassen, stellt in den Dresdner Schriften Winckelmanns keineswegs das Gegenteil von Autorschaft dar, sondern bildet vielmehr deren Voraussetzung: Indem Winckelmann sich hinter der Maske eines anonymen Gegners angreift und solchermaßen seine Autorschaft multipliziert, macht sich das kunstschriftstellerische No-Name einen Namen, der den seiner Gegner schon bald überstrahlen sollte.
Epilog Eine gewisse Schadenfreude darüber, dass es ihm gelungen war, Gottsched über den wahren Verfasser des vermeintlich anonymen Sendschreibens zu täuschen, ist in dem zu Beginn zitierten Brief Winckelmanns an Uden unüberhörbar: »Was meine Dreßdner Schriften betrifft, so habe ich nur zu erinnern, dass das Sendschreiben nicht von Hrn. von Hagedorn [...] wie sich Hr. Gottsched eingebildet ist, [...] sondern es ist von mir selbst.«60 Mit Hilfe des von ihm inszenierten Scheingefechts war es Winckelmann nicht nur gelungen, seine Dresdener Konkurrenten zu diskreditieren, sondern er hatte zugleich sich selbst als einen rundum versierten Kenner präsentieren können. Die Gewährung eines königlichen Stipendiums zur Unterstützung seiner Romreise schien seinem in moralischer Hinsicht durchaus fragwürdigen Manöver im Nachhinein sogar Recht zu geben. In Rom sollte Winckelmann bekanntlich zu einer europäischen Berühmtheit avancieren
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Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 314; vgl. oben S. 158.
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und als Verfasser der Geschichte der Kunst des Altertums gleichermaßen zum Begründer der modernen Archäologie wie auch der modernen Kunstgeschichte werden. Als Archäologe sollte Winckelmann nun selbst mit zahlreichen anonymen Kunstwerken zu tun haben, denen er, wenn schon nicht einen Autor, so doch einen Stil und damit eine Datierung zuweisen musste, wollte er ihnen einen Platz in seinem kunsthistorischen Gebäude einräumen. Für die damaligen Verhältnisse und Möglichkeiten ist sein dabei erwiesener Spürsinn wie auch seine Sensibilität bemerkenswert. Unter den Fehlern und Irrtümern, die ihm dabei als Pionier geradezu zwangsläufig unterlaufen mussten, ragt einer hervor, mit dem ihn gleichsam seine eigene Vergangenheit einzuholen schien. Im vierten Kapitel des ersten Teils seiner Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764 kommt Winckelmann auf die zur damaligen Zeit nahezu unbekannte »Malerey der alten Griechen« zu sprechen und berichtet hier von einem »neulich außer Rom an einem noch unbekannten Orte« entdecktem Gemälde, das Jupiter und Ganymed darstellt (Abb. 6): Nachdem man in langer Zeit keine alte völlig erhaltende Gemälde in und um Rom entdecket hatte, und wenig Hoffnung darzu übrig schien, kam im September des 1760. Jahres ein Gemälde zum Vorschein, desgleichen niemals noch bisher gesehen worden, und welches die Herculanischen Gemälde, die damals bekannt waren, so gar verdunkelt. Es ist ein sitzender Jupiter, mit Lorbeer gekrönet, (zu Elis hatte er einen Kranz von Blumen) im Begriffe, den Ganymedes zu küssen, welcher ihm mit der rechten Hand eine Schaale, mit erhobener Arbeit gezieret, vorhält, und in der linken ein Gefäß, woraus er den Göttern Ambrosia reichet. Das Gemälde ist acht Palme hoch, und sechs breit, und beyde Figuren sind in Lebensgröße, Ganymedes in der Größe eines sechzehenjährigen Alters. Dieser ist ganz nackend, und bis auf den Unterleib, welcher mit einem weißen Gewande bedecket ist; die Füße hält derselbe auf einem Fußschemel. Der Liebling des Jupiters ist ohne Zweifel eine der allerschönsten Figuren, die aus dem Alterthume übrig sind, und mit dem Gesichte desselben finde ich nicht zu vergleichen; es blühet so viel Wollust auf demselben, daß dessen ganzes Leben nichts, als ein Kuß, zu seyn scheinet.61
Als das »schönste Gemälde [...], was jemals aus dem Altertume das Licht zu unseren Zeiten erblickt« habe, bezeichnet Winckelmann das Bild voller Enthusiasmus auch an anderer Stelle62 – nur: Das nicht signierte und damit anonyme Bild ist nicht antik. Sein wahrer ›Autor‹ ist, wie man heute annimmt, Winckelmanns angeblicher »Freund« Anton
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62
Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums. Text: Erste Auflage Dresden 1764, zweite Auflage Wien 1776, hg. v. Adolf H. Borbein u. a., Mainz 2002 (=Schriften und Nachlaß, Bd. 4.1), S. 544–546. Zu dem Bild: Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums. Katalog der antiken Denkmäler, hg. v. Adolf H. Borbein u. a., Mainz 2006, S. 451, Nr. 1071 (mit Bibliographie), sowie darüber hinaus die Ausführungen in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hg. v. Karl Richter u. a., Bd. 15: Italienische Reise, hg. v. Andreas Beyer/Norbert Miller, München 1992, S. 920f.; Goethe und die Kunst, Ausstellungskatalog Weimar/Frankfurt a. M. 1994, hg. v. Sabine Schulze, Ostfildern 1994, S. 28; Mengs. La scoperta del Neoclassico, Ausstellungskatalog Padua und Dresden 2001, hg. v. Steffi Roettgen, Venedig 2001, S. 242; Andreas Beyer, »Klassik und Romantik. Zwei Enden einer Epoche«, in: Klassik und Romantik, hg. v. Andreas Beyer, München/Berlin/ New York 2006 (=Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 6), S. 9–37, hier S. 13f. Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 107 (an Wiedewelt, 9. Dezember 1760).
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Abb. 6: Anton Raphael Mengs (zugeschrieben): Jupiter und Ganymed, vor November 1760, Fresko, 178,7 x 137 cm, Galleria Nazionale dell’Arte Antica, Palazzo Corsini, Rom (aus: Mengs. La scoperta del Neoclassico, Ausstellungskatalog Padua und Dresden 2001, hg. v. Steffi Roettgen, Venedig 2001, S. 243)
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Raphael Mengs, der es offenbar darauf angelegt hatte, Winckelmanns angemaßte Kunstkennerschaft zu diskreditieren.63 Dass es sich bei diesem wie auch zwei weiteren vermeintlich antiken Fresken um Fälschungen handelte, erfuhr Winckelmann erst, nachdem seine Kunstgeschichte bereits gedruckt war. Zwar beauftragte er umgehend seinen Verleger, dafür zu sorgen, dass die entsprechenden Textpassagen aus der französischen Ausgabe seiner Kunstgeschichte entfernt würden und ließ zudem in den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen eine »öffentliche Erklärung« gegen den » Betrüger« abdrucken64 – sein Ruf als Gelehrter und Kunstkenner war und blieb durch diesen Vorfall gleichwohl beschädigt. Man mag es als einen Vorgang ausgleichender Gerechtigkeit betrachten: Der einstmalige Betrüger nun selbst betrogen – ob Gottsched, der Ende 1766 starb, von dieser Wendung der Dinge noch erfahren hat, ist leider unbekannt.
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Dazu Max Kunze, »Giovanni Battista Casanova contra Winckelmann«, in: Zwischen Original und Fälschung. Zur Ambivalenz in der Antikenrezeption, Stendal 2006, S. 46–56, hier S. 48, sowie zuletzt: Doris H. Lehmann, »Johann Joachim Winckelmann und die gefälschte Antike: Kritikkompetenz und Streit von Künstlern und Gelehrten um 1760«, in: Streitkultur. Okzidentale Traditionen des Streitens in Literatur, Geschichte und Kunst, Göttingen 2008, S. 327–383. Als seinen »Freund« hatte Winckelmann den Maler am Ende der Vorrede zu seiner Geschichte der Kunst des Altertums der Öffentlichkeit präsentiert: »Diese Geschichte der Kunst weihe ich der Kunst, und der Zeit, und besonders meinem Freunde, Herrn Anton Raphael Mengs.« (Winckelmann 2002 [wie Anm. 60)], S. XXXIV. Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen, 14. Stück, vom 1. Februar 1766, S. 109–111, abgedruckt in: Winckelmann 1952–1957 (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 151–153.
Stephan Pabst
Schamlose Beobachtung Über den Zusammenhang von Beobachtung und Anonymität in Lavaters Geheimem Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst*
I.
Beobachtung
Man kennt Johann Caspar Lavater heute vor allem als Autor der Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Er behauptet darin nicht allein, dass man das Innere des Menschen an seinem Äußeren erkennen, sondern auch, dass man diese Erkenntnis wissenschaftlich fundieren könne. Wissenschaftlichkeit bedeutet dabei, dass die Physiognomik zum einen auf der rationalistischen Metaphysik eines Leibniz, Wolff und Baumgarten und zum anderen auf Empirie beruhen soll. Beobachtung ist in dieser letzten Hinsicht der methodische Zentralbegriff der Physiognomik: »Beobachten ist die Seele der Physiognomik.«1 Dieser Begriff von Beobachtung erweist sich im Vollzug der Physiognomik immer wieder als Problem. Das hat unterschiedliche Gründe teils in den metaphysischen Voraussetzungen, die er macht, teils in der materialistischen Zurichtung des Gegenstandes, die er fast zwangsläufig nach sich zieht. Das in unserem Zusammenhang entscheidende Problem besteht aber darin, dass man Menschen nicht beobachtet wie Moose, Fische oder Ameisenbären. Menschen reagieren darauf, dass sie beobachtet werden. Sie gefallen sich in den Augen der anderen, sie schämen sich oder sie entziehen sich einfach den fremden Blicken. Durch diese Interaktion verstrickt der Beobachtete den Beobachter in Widersprüche. Einerseits verspricht sich Lavater von der Physiognomik einen Disziplinierungseffekt: Wer weiß, dass man ihm schon die Absicht zu seinen schlechten Taten ansieht, dem wird nicht nur das Geheimnis als Bedingung seiner Taten entzogen, er wird sich auch bemühen, sich wirklich zu bessern, da auch Verstellung kein probates Mittel gegen den Physiognomiker ist. Der Effekt, der ein sozialer ist, setzt also soziale Beobachtungsverhältnisse und Interaktion voraus.2 Andererseits unterläuft gerade die antizipatorische Interaktion zwischen den Beobachtern, von der man sich den Disziplinierungseffekt erhofft, die physiognomische Beobachtung: »Der Mensch, der es bemerkt, daß man ihn
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Ich danke Peter Haischer für die Hilfe bei der Transkription der Züricher Zensurakten und der Briefe Lavaters, Zimmermanns und Zollikofers. Johann Caspar Lavater, Von der Physiognomik, 1. St., Leipzig 1772, S. 75. Zum Begriff der Beobachtung und seinen methodischen Paradoxien in Lavaters Physiognomik vgl. Stephan Pabst, Fiktionen des inneren Menschen. Die literarische Umwertung der Physiognomik bei Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, Heidelberg 2007, S. 44–50. Im Anschluss an Foucaults Überlegungen zur Gefängnisarchitektur des 19. Jahrhunderts bezeichnet das Gray als »universalized panopticism«: Richard T. Gray, About Face. German physiognomic thought from Lavater to Auschwitz, Detroit 2004, S. xli.
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Stephan Pabst
beobachtet und zu erforschen sucht, wird entweder verlegen (geniert) erscheinen, und da kann er sich nicht zeigen, wie er ist; oder er verstellt sich, und da will er nicht gekannt sein, wie er ist«,3 schreibt etwa Kant. Die Beobachtung selbst provoziert also Reaktionen, die den Beobachtungsgegenstand modifizieren. Es entsteht eine Art physiognomische Unschärferelation. Wer weiß, dass er beobachtet wird, kann sich verstellen oder unwillkürlich reagieren, etwa indem er sich schämt. Lavater könnte natürlich einwenden, dass seine Physiognomik dieser Unschärfe nicht unterliege, gerade weil sie sich ja im Gegensatz zur Pathognomik auf die festen Teile des Gesichts beziehe, auf die eine subjektive und spontane Ausdrucksintention gar keinen Einfluss habe. Offenkundig genügt ihm das aber nicht, denn er hat weitere Mittel gegen dieses Problem empfohlen. Schon die titelgebende »Menschenliebe« erweist sich vor dem Hintergrund des Interaktionsproblems der Beobachtung nicht nur als Ziel der Physiognomik, sondern auch als deren notwendiges methodisches Regulativ. Übersetzt man diese Menschenliebe in eine Beobachtungshaltung, dann ist damit gemeint, dass der Beobachter den ganzen Menschen als ganzer Mensch beobachten soll, d. h. frei von partikularen Interessen.4 Der Beobachter muss wie Gott ein liebender und zugleich unparteilicher Beobachter sein, damit sich der Beobachtete dem Beobachter auch ohne Widerstreben zeigt. Einen zweiten Anlauf, seinen Beobachtungsgegenstand gefügig zu machen, unternimmt Lavater damit, dass er ihn geradezu mit einem theologisch begründeten Schamverbot belegt: Er versucht seinem Gegenstand die Scham auszutreiben, indem er sie als implizite Auflehnung des Menschen gegen seinen Schöpfer interpretiert. Da jedes Geschöpf in der Stufenleiter der Wesen notwendig den von Gott zugewiesenen Platz einnimmt, dürfe sich derjenige, der beobachtet wird, gar nicht schämen: »Kein Geschöpf, das beobachten kann, darf sich schämen, beobachtet zu werden. Was Gott geschaffen hat, darf sich nicht schämen, geschaffen zu seyn.«5 Aus der »metaphysischen Unentbehrlichkeit«6 jedes Einzelnen folgt mithin ein Schamverbot. Denn Scham stellt hier nicht nur einen Zweifel an sich selbst, sondern einen Zweifel an der gesamten Schöpfung dar. Dieses Verbot kann freilich nur aufrechterhalten werden, wenn angenommen wird, dass das Individuum keinen Einfluss auf seine Stellung im Ganzen der Schöpfung hat und durch seine Stellung in seiner individuellen Unvollkommenheit immer schon gerechtfertigt ist – so wie umgekehrt aus der Unverfügbarkeit der Stellung im Ganzen das Verbot folgt, stolz auf die Stellung zu sein, die man einnimmt.7
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Immanuel Kant, »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: Werke in sechs Bänden, Bd. IV, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1970, S. 401. Johann Caspar Lavater, »Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst«, in: ders., Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe, Bd. IV: Werke 1771– 1773, hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler, Zürich 2009, S. 820. Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, 4 Bde., Winterthur 1775–1778, Bd. II, Winterthur 1776, S. 52. Ebd., S. 28. Vgl. Charles Bonnet, Herrn Karl Bonnets psychologischer Versuch als eine Einleitung zu seinen philosophischen Schriften, übers. v. C. W. Dohm, Lemgo 1773, S. 266. Lavater stand mit dieser Argumentation keineswegs allein. Der Naturhistoriker Charles Bonnet – ein Bruder Lavaters im
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Lavater empfiehlt aber noch ein drittes Mittel gegen das Interaktionsproblem der Beobachtung. Der ideale Beobachter sei derjenige, der »unbeobachtet beobachtet«8. Der Beobachter darf als Beobachter nicht in Erscheinung treten, er muss sich verbergen oder verstellen, wenn er seine Absicht nicht selbst untergraben möchte. Das Projekt der Menschenbeobachtung, das von einer Kritik der Verstellung seinen Ausgang nahm, rät nun seinerseits dem Beobachter zur Verstellung. So schreibt Moritz, ein Verteidiger der Physiognomik als Mittel der psychologischen Beobachtung:9 »Dann werde ich erst das Zutrauen des jungen Menschen zu gewinnen suchen, um auf besondere an ihn zu richtende Fragen, unzurückhaltende und aufrichtige Antworten zu bekommen.«10 Vertrauen wird zum Teil einer Strategie. Das methodische Problem zwingt zu einer heiklen moralischen Operation. Die Beobachtung, die sich auf Menschenliebe beruft, muss den Menschen hintergehen, um beobachten zu können. Der Beobachter muss sich als Beobachter verbergen, und verbergen kann er sich nur, indem er täuscht. Das gilt natürlich umso mehr für einen Beobachter, der seine Beobachtungen öffentlich machen möchte, denn diesem Beobachter wird sich der Beobachtete erst recht entziehen wollen. Mehr noch als die einfache Beobachtung untergräbt die potentiell publizierte Beobachtung die Beobachtungssituation. Hier hat die Anonymität ihren systematischen Ort. Die Anonymität des Beobachters ist die publizistische Entsprechung seiner Verborgenheit, durch die die ideale Beobachtungssituation hergestellt werden soll. Addisons und Steeles Spectator erschien unter anderem deswegen anonym. Zwar argumentiert Addison, dies geschehe deshalb, weil er nicht gerne öffentlich gegrüßt und angesprochen werde:
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Geist der naturwissenschaftlich-metaphysischen Spekulation – geht sogar einen Schritt weiter und deduziert, dass es in der Stufenleiter der Wesen eigentlich gar nicht möglich sei sich zu schämen. Wären wir dazu in der Lage, so spekuliert Bonnet, unsere intellektuellen Fähigkeiten so zu perfektionieren, dass sie unserer physisch definierten Stellung im Ganzen der Schöpfung nicht mehr entsprächen, so wäre dies ein Makel der Schöpfung. Besäße etwa eine Auster den Geist eines Menschen, so würde diese Differenz als ausgesprochen qualvoll erfahren werden. (Vgl. ders., Herrn C. Bonnets verschiedener Akademien Mitglieds Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und künftigen Zustand lebender Wesen. Als ein Anhang zu den letztern Schriften des Verfassers; in welcher insonderheit das Wesentliche seiner Untersuchungen über das Christenthum enthält, Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben von Johann Caspar Lavater, Zürich 1770, S. 557) Im Sinne der Zweckmäßigkeit der Schöpfung muss also von einer Entsprechung der physischen und intellektuellen Fähigkeiten der Wesen ausgegangen werden. Scham setzt aber voraus, dass ich meinen eigenen Zustand im antizipierten Blick eines anderen erfahre, der – ansonsten wäre Scham keine sinnvolle Reaktion – als höherer Zustand vorausgesetzt wird. Da eine solche Antizipation für ein Missverhältnis zwischen meinem physischen und meinem intellektuellen Zustand spräche, ist der Affekt der Scham in diesem Modell gar nicht denkbar. Nach Bonnet und Lavater hat also der Mensch schamlos zu sein wie eine Auster. Lavater, Bd. I, 1775–1778 (wie Anm. 5), S. 242. Moritz hält sie für einen »vortrefflichen Beitrag zur Experimentalseelenlehre«: Karl Philipp Moritz, »Aussichten in die Experimentalseelenlehre«, in: ders., Werke in drei Bänden, hg. v. Horst Günther, Bd. III, Frankfurt a. M. 1981, S. 91. Ebd., S. 98.
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Stephan Pabst
They would indeed draw me out of that obscurity which I have enjoyed for many years, and expose me in public places to several salutes and civilities, which I have been always very disagreeable to me; for the greatest pain I can suffer, is to being talked to, and being stared at.11
Doch ist der Ton, indem er diese Entschuldigung seiner Anonymität vorträgt, so ironisch, dass man das Argument auch leicht umkehren kann: Niemand wird eben gerne vom und niemand wird gern als ›Spectator‹ angestarrt. Wenn der ›Spectator‹ also beobachten will, muss er anonym bleiben, das heißt unbeobachtet bleiben.12 Ironie ist Lavater zwar vollkommen fremd, aber auch die von ihm herausgegebene und in großen Teilen mitverfasste moralische Wochenschrift Der Erinnerer beruft sich nicht nur auf das Vorbild des Spectator, sondern erschien wie dieser anonym. Auch sie diente neben der christlich-moralischen Erbauung der ›Beobachtung‹.13 Anonymität fungiert dabei unter anderem als publizistische Entsprechung des verborgenen Beobachters. In der Anonymität bringt sich der Beobachter zum Verschwinden.
II.
Selbstbeobachtung
Die Kompetenz von Lavaters Beobachter besteht in einem hohen Maße darin, dass er den moralischen Widerspruch, zu dem ihn das methodische Dilemma zwingt, auszutarieren vermag. Er muss sicherstellen, dass Menschenliebe sein einziges Motiv ist und dass er das Mittel der Täuschung ausschließlich zu moralischen Zwecken gebraucht.14 Weil aber die Beobachtung nur unter der Voraussetzung einer bestimmten Einstellung des Beobachters möglich und statthaft ist, muss der Beobachter seinerseits einer Kontrolle unterworfen, das heißt er muss beobachtet werden. Nur so ist es zu erklären, war-
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The Spectator, Nr. 1, Thursday, March 1, 1710–11, in: The Spectator in Eight Volumes, Edinburgh 1785, S. 10. Ausführlich wird dieser Zusammenhang von Christoph Heyl dargestellt. Heyl kann erstens zeigen, dass es sich bei der Anonymisierung des Beobachters nicht um eine einmalige Geste handelt, sondern dass sie Mr. Spectator kontinuierlich als konstitutiven Bestandteil des Beobachtungsverfahrens reflektiert. Vgl. Christoph Heyl, A Passion for Privacy. Untersuchungen zur Genese der bürgerlichen Privatsphäre in London, 1660–1800, München 2004, S. 366ff. Heyl kann diesen Vorgang zweitens in einen städtischen Umgang mit Anonymität einordnen, der sie bewusst steigert, um daraus Handlungs- und Kommunikationsoptionen zu gewinnen. Vgl. das Kapitel »Die inszenierte Anonymität«, ebd., S. 305–412. Vgl. Johann Caspar Lavater, »Der Erinnerer«, in: ders., Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe, Bd. I/2: Jugendschriften 1762–1769, hg. v. Bettina Volz-Tobler, Zürich 2009, S. 45f. Mit der Frage der Objektivität der Beobachtung und den genieästhetischen Konstruktionen, die nötig sind, diese Objektivität als intentionsloses Erfassen des Ganzen sicherzustellen, befasst sich ausführlich Thomas Weitin. Vgl. Thomas Weitin, Zeugenschaft. Das Recht der Literatur, München 2009, S. 182–211, hier S. 190ff. Anders als ich interessiert sich Weitin im Folgenden vor allem für den unverstellten Blick und die Verzerrungen des Blickes durch subjektive Intentionen oder Mängel des Beobachters, also die Unschärfe der Beobachtung auf Seiten des Beobachters, nicht des Beobachteten.
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um Lavater die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung für die »wichtigste aller Kenntnisse«15 des Physiognomikers hält. Insofern sich die Fähigkeit zur Beobachtung in der Selbstbeobachtung rückversichert, besteht im Werk Lavaters ein systematischer Zusammenhang zwischen seiner Physiognomik, deren erster Entwurf 1772 erscheint, und seinem 1771 anonym publizierten Geheimen Tagebuch. Das Tagebuch ist der Ort, an dem sich der Beobachter durch Beobachtung selbst kontrolliert. Und die Selbstbeobachtung kann deshalb zum Kontrollmedium der Beobachtung werden, weil Beobachter und Beobachteter identisch sind, der Beobachtete also nicht zu befürchten hat, bloßgestellt zu werden und sich deshalb auch nicht schämt, verstellt oder entzieht, was unter normalen Umständen die Beobachtung verderben würde: Es ist von Menschenkennern die richtige Bemerkung gemacht worden, daß die Aufrichtigkeit gerade da aufhöre, wo wir es zu merken anfangen, daß wir beobachtet werden. – Aber umgekehrt verhält sich die Sache bey der strengen Beobachtung seiner Selbst. Gerade da fängt die Aufrichtigkeit an, wo unser Herz zu merken anfängt, daß es von uns selbst beobachtet wird.16
Diese Beobachtungssituation ist freilich nur dann gegeben, wenn der Beobachter bei der Beobachtung seiner selbst nicht seinerseits beobachtet wird. Nun wird diese intime Situation der Selbstbeobachtung aber just durch die Veröffentlichung des Tagebuchs aufgehoben. Nur deshalb muss ja eigens angemerkt werden, dass es sich um ein ›geheimes‹ Tagebuch handelt. An sich ist das ja ein vollkommen unsinniges Attribut für ein Tagebuch, Lavater selbst spricht im zweiten Teil seines Tagebuchs von einem »ungewöhnlichen Titel«.17 Denn Tagebücher sind in der Regel ohnehin nicht zur Publikation vorgesehen, wenigstens dann nicht, wenn sie als Medium der Selbstwahrnehmung fungieren. Man könnte also sagen, dass Tagebücher in diesem Sinne per definitionem geheim sind. Sie registrieren die Wahrnehmungen eines Selbst von sich selbst und adressieren den Text dieser Wahrnehmung primär an sich selbst, wenngleich diffus das Bewusstsein anderer Adressierungen mit in den Text eingehen mag. Das Attribut ›geheim‹ verweist also auf den Grundwiderspruch zwischen Öffentlichkeit und Intimität, der in der Publikation eines Tagebuchs steckt. Sie ist deshalb so problematisch für Lavaters Tagebuch, weil in diesem Widerspruch auch das Interaktionsproblem der Beobachtung wiederkehrt, das ja eigentlich in der Selbstbeobachtung still gestellt werden sollte. Durch die Veröffentlichung wird eben eine Öffentlichkeit an der Selbstbeobachtung beteiligt, so dass entweder der Beobachtete der Gefahr unterliegt, sich zu verstellen oder der Beobachter der Versuchung, das Beobachtete zu bearbeiten, was natürlich im Fall der Selbstbeobachtung auf dasselbe hinausläuft. Dass sich der Autor vornimmt, sein Tagebuch absolut sicher zu verwahren, liegt also nicht nur daran, dass er sich vor der Enthüllung von Intimitäten fürchtet, sondern daran, dass er durch
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Lavater, Bd. I, 1775–1778 (wie Anm. 5), S. 176. Johann Caspar Lavater, »Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst«, in: ders., Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe, Bd. IV: Werke 1771–1773, hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler, Zürich 2009, S. 79. Lavater 2009a (wie Anm. 4), S. 749.
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das Wissen um einen potentiellen Leser dazu verführt werden könnte, sich zu verstellen: »Damit ich mich aber nicht selber täusche, so will ich mir fest vornehmen, diese meine Beobachtungen niemals irgend einem Menschen [...] zu zeigen, sie auf das sicherste zu verwahren«18. Um diese Geheimhaltung sicherzustellen, notierte Lavater besonders indignierende Passagen sogar in einer »jedem andern unauflösbaren«19 Geheimschrift. Entschlüsselungsversuche, die immer wieder unternommen wurden, haben ergeben, dass es sich bei diesen Stellen zum Teil um Notate zum Beischlaf mit seiner Frau und zu sexuellen Anfechtungen handelt – »Schambrassoi ma famme und vergoß meinen Saamen an ihr«20 – zum Teil aber auch um Notate, deren Verschlüsselung nicht unmittelbar einleuchtet, weil sich das Niveau ihrer Intimität von anderen, unverschlüsselten Stellen kaum unterscheidet. Dabei ist Lavaters Geheimhaltungsabsicht skeptisch zu beurteilen. Prinzipiell musste er von der Lesbarkeit der Geheimschrift ausgehen21 und ist wohl davon ausgegangen,22 so dass erstens auch beim verschlüsselten Text ein Leser mitgedacht werden konnte und zweitens der Sinn der Geheimschrift weniger darin liegt, was sie verschlüsselt, als in der Geste der Geheimhaltung.23 Aber gleichgültig ob und mit welchem Aufwand man sie im 18. Jahrhundert lesen konnte oder nicht, ist sie doch ganz auf ein Publikum berechnet. Erstens ist eine Geheimschrift natürlich ein Indiz dafür, dass man mit anderen Lesern rechnet, was im Umkehrschluss besagt, dass wenigstens die lesbaren Stellen solche wären, die im Bewusstsein potentieller Lektüren geschrieben worden sind. Wenigstens mit diesen Stellen würde Lavater also in einem performativen Widerspruch zu sich selbst stehen. Und zweitens bleibt im Fall der Veröffentlichung –
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Lavater 2009c (wie Anm. 16), S. 79. Ebd. Dietrich Gerhardt, »Lavaters Wahrheit und Dichtung«, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 46/1952, S. 4–30, hier S. 25. Lavater, 2009c (wie Anm. 16), S. 165. Wahrscheinlich war man auch im 18. Jahrhundert schon dazu imstande, die Geheimschrift zu entschlüsseln. Der mit Lavater bekannte und selbst Tagebuch schreibende Johann Anton von Leisewitz berichtet davon, dass er von Freunden gebeten worden sei, einige der Stellen zu dechiffrieren und dass er damit auch zu einem Ergebnis gekommen sei, wenngleich er nicht überliefert zu welchem. Vgl. Johann Anton Leisewitz, Johann Anton Leisewitzens Tagebücher, nach den Handschriften herausgegeben von Heinrich Mack und Johannes Lochner, Bd. I, Weimar 1916, S. 42f. Schönborn hat zuerst auf diese Verweise auf Lavater in Leisewitz’ Tagebuch hingewiesen. Vgl. Sibylle Schönborn, Das Buch der Seele. Tagebuchliteratur zwischen Aufklärung und Kunstperiode, Tübingen 1999, S. 94. Lavaters Geheimschrift ist teilweise kaum verhüllt; der Schlüssel zur Lektüre ist sogar beigegeben. Vgl. Lavater 2009c (wie Anm. 16), S. 165: »Valent omnes literae nur die grichyschen nicht«. Einigen Freunden scheint Lavater den Schlüssel seiner Geheimschrift, wenigstens zu ausgesuchten Passagen, mitgeteilt zu haben. Vgl. Lavater an Johann Georg Hasenkamp, 5. Juni 1773, zit. nach Lavater 2009a (wie Anm. 4), S. 1048. Allerdings ist bis ins 20. Jahrhundert Lavaters Scham und die daraus folgende Geheimhaltungsabsicht gelegentlich für bare Münze genommen worden. Über die beiden Geheimtexte des ersten Bandes schreibt Etter, dessen Aufsatz sich eigentlich mit der Entschlüsselung der Geheimschrift befasst: »So sollen denn die beiden Texte auch hier unter dem Schleier des Geheimnisses verhüllt bleiben.« Paul Etter, »Johann Caspar Lavaters Geheimschriften im ›Geheimen Tagebuch‹«, in: Zürcher Taschenbuch, Zürich 1954, S. 70.
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Lavater behält die Geheimschrift in späteren Auflagen seines Tagebuchs bei, obwohl seine Autorschaft längst bekannt ist – der Widerspruch einer öffentlichen Geheimschrift bestehen. Entweder ist sie wirklich nicht lesbar, dann ist sie nicht öffentlich. Oder die Schrift kann entschlüsselt werden. Das macht das Geheimnis einerseits glaubwürdig, weil es dann etwas gibt, von dem nachvollzogen werden kann, dass man es geheim halten möchte. Andererseits ist dann das Beobachtete schon wieder vom Interaktionsproblem bedroht. Denn wer weiß, dass seine Geheimschrift entschlüsselt werden kann, der muss mit anderen Beobachtern, das heißt Lesern rechnen. So wird das Geheimnis schon in seiner Entstehung korrumpiert. Diese Widersprüche werden offenkundig zugunsten einer Performanz der Geheimhaltung in Kauf genommen. Das Tagebuch schielt also nach Öffentlichkeit. Gerade die Techniken des Verbergens können als Hinweis darauf gelesen werden, in welchem Maße das Tagebuch auf Öffentlichkeit spekuliert. All diese Geheimhaltungsbemühungen fruchten freilich nicht, denn das Tagebuch wird, so die Darstellung Lavaters, von einem unbekannten Freund des Autors an einen ebenfalls anonym bleibenden Herausgeber weitergegeben, der den Text publiziert. Gleichwohl ist Lavater im zweiten Teil seines Tagebuchs, das 1773 zu einem Zeitpunkt erscheint, zu dem Lavaters Autorschaft längst bekannt ist, keineswegs erbost über diesen Vorgang, im Gegenteil, er rechtfertigt den »menschenfreundlichen Verräther«.24 Denn durch Eingriffe in den Text habe der Herausgeber geschickt dafür Sorge getragen, dass der Autor hinreichend geschützt werde und schließlich habe er das alles nur mit den besten Absichten getan, um dem Publikum ein Beispiel für die christliche Selbstprüfung des menschlichen Herzens zu geben. Zwar gibt es diesen Herausgeber wirklich – es handelt sich um Georg Joachim Zollikofer – und wohl auch den unbekannten Freund, gleichwohl muss Lavaters Darstellung als bewusste Steuerung literarischer Kommunikation gelesen werden, zumal durchaus zweifelhaft ist, ob sich die Publikation wirklich so zugetragen hat, wie sie Lavater darstellt. Erstens handelt es sich bei Zollikofer nicht um irgendeinen Vermittler des Tagebuchs an den Leipziger Verleger Philipp Erasmus Reich. Reich hat Zollikofer seit Ende der 1750er Jahre systematisch als Lektor und Vermittler in Anspruch genommen.25 Seit 1765 stand Lavater mit Zollikofer in brieflichem Kontakt und es ist unwahrscheinlich, dass das Manuskript ohne Lavaters Zutun an den Verleger gerät, der sich dann auch für seine Physiognomischen Fragmente als derartiger Glücksfall erweisen sollte. Wenn man zweitens einmal annimmt, dass Lavater mit dem unbekannten Freund eine Art Unterhändler zwischen sich und Zollikofer geschaltet,
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Lavater 2009a (wie Anm. 4), S. 750. Offensichtlich war der Kontakt Zollikofers zu Reich so eng, das Reichs Besuche Christian Garve gegenüber als eine Art fester Bestandteil des Tagesablaufs Zollikofers in Leipzig dargestellt werden. Vormittags, schreibt er, sitze er am Pult, korrigiere, übersetze, konzipiere Predigten »bis etwa Reich kommt und mir die Briefe seiner Autoren communicirt, oder mich über andere Buchhändler-Angelegenheiten zu Rathe zieht«. Zollikofer an Garve, 5. Januar 1774, in: Briefwechsel zwischen Christian Garve und Georg Joachim Zollikofer, nebst einigen Briefen des erstern an andere Freunde, Breslau 1804, S. 131. Vgl. Philipp Erasmus Reich 1717–1787. Verleger der Aufklärung und Reformer des deutschen Buchhandels, hg. v. Horst Hennig, Leipzig 1990, S. 107.
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oder erfunden hat, um die Spur zum Autor zu verwischen – man weiß bis heute nicht, um wen es sich handelt –, dann wird die vermeintliche Indiskretion auch als strategische Handlung des Autors Lavater lesbar. Drittens ist der Brief, in dem Zollikofer dem scheinbar ahnungslosen Lavater das Erscheinen des Tagebuchs meldet,26 kein absolut sicheres Indiz dafür, dass Lavater wirklich nicht Bescheid wusste. Denkbar ist auch, dass der Brief nachträglich geschrieben wurde, um die Züricher Zensur, die sich darüber mokierte, dass Lavater das Tagebuch nicht zur Begutachtung vorgelegt hatte, davon zu überzeugen, dass Lavater gar keinen Anteil an der Publikation habe. Genau dieses Vorgehen hatte Lavater im Fall seiner Schweizerlieder nämlich mit Johann Georg Zimmermann verabredet. Sollte die Züricher Zensur Anstoß an der Publikation der Lieder in Bern nehmen, so wolle er Zimmermann einen Brief schreiben, in dem er die Lieder Zimmermann zum Geschenk mache, so dass die Verantwortung der Publikation dann ganz bei Zimmermann und nicht mehr bei Lavater läge.27 Viertens wird der Herausgeber als Instanz der Beglaubigung derart bewusst ausgenutzt, dass es schwer fällt, nicht an eine Abstimmung des Vorgehens zwischen Lavater, (dem Freund) und Zollikofer zu glauben. Aus der Differenz zwischen Autor und Herausgeber ergibt sich ja erst die Möglichkeit eine zweite, beglaubigende Stimme im Text zu installieren, die der Autor des Tagebuchs gar nicht hätte erheben können, weil er damit ein Bewusstsein der Öffentlichkeit seines Tuns verraten hätte. Der Beglaubigungseffekt, den das Tagebuch aus der Differenz bezieht, war auch für zeitgenössische Leser so evident, dass einige vermuteten, es handle sich bei dem Verfasser und dem Herausgeber um ein und dieselbe Person.28 Wie immer verschleiert Anonymität eben nicht nur den Verfasser, sondern auch die Zahl der an der Textkonstitution beteiligten Instanzen, weshalb sowohl die Singularität als auch die Pluralität solcher Instanzen zu den Lektüreoptionen anonymer Texte gehören. Lavater hatte also ein gutes Motiv, die Veröffentlichung durch einen Herausgeber gutzuheißen. Nur ein anderer als der Autor selbst kann den Widerspruch zwischen Geheimhaltung und Veröffentlichung plausibel vermitteln. Der Verfasser hat selbst nicht eingegriffen in den Text, der, gerade weil er zur Publikation nicht vorgesehen war, Informationen enthält, die im Wissen um die Veröffentlichung wahrscheinlich nie niedergeschrieben worden wären. Der Herausgeber kann also etwas in einer Weise öffentlich machen, die das Bewusstsein des Geheimnisses zugleich wahrt. Der Freund und der Herausgeber erweisen mithin dem Autor noch einen ganz anderen Dienst. Deren vorgebliche Indiskretion suspendiert den Autor vom Verdacht, er habe seine Beobachtungen in dem Wissen niedergeschrieben, sie könnten veröffentlicht werden. Nur unter dieser Bedingung werden die Beobachtungen freigestellt von dem Bewusstsein ihrer Publizität und also von der Interaktion der Beobachtung, können also Anspruch darauf machen, das Selbst unverstellt zu zeigen. Insofern fungiert die Indiskretion des Freundes und des
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Zollikofer an Lavater, 17. Mai 1771, in: Zentralbibliothek Zürich FA Lav Ms 535.73. Vgl. Lavater an Zimmermann 11. November 1766, in: Zentralbibliothek Zürich, FA Lav Ms 589b. Im Schreiben an den Herausgeber, mit dem der zweite Teil des Tagebuchs einsetzt, bemerkt Lavater: »Nachdem ich einmal für den Verfasser, und von vielen für den Herausgeber des ersten Theils gehalten worden bin«. Lavater 2009a (wie Anm. 4), S. 760.
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Herausgebers zugleich als Beglaubigung der Selbstbeobachtung. Sinnigerweise wird die Beglaubigung, die in der Indiskretion steckt, nicht vom Autor, sondern vom Herausgeber aufgedeckt: Freylich mag dieser liebe Mann an alles in der Welt eher gedacht haben, als daß seine Empfindungen und Beobachtungen einmal unter die Augen des Publikums treten sollten; die Nachläßigkeit und Treuherzigkeit, mit der sie geschrieben sind, wird einen jeden leicht davon überzeugen können. Erschrecken würde er, wenn ihm je noch ein gedrucktes Exemplar davon zu Gesicht kommen könnte.29
Der Autor kennt also nur die Perspektive der Intimität, die durch die Veröffentlichung verletzt wird, er hat auch hier kein anderes als dieses negative Bewusstsein von der Öffentlichkeit. Nur der Herausgeber erkennt den öffentlichen Effekt der Indiskretion und kann sie deshalb als Argument für die Glaubwürdigkeit des Autors ins Spiel bringen, während der Autor selbst durch diese Feststellung kompromittiert werden würde. Und so kann der Herausgeber zum Nutzen des Autors die Publikationssituation und die Aufrichtigkeit des Selbstbeobachters in ein zirkuläres Begründungsverhältnis zueinander setzen: Weil der Autor an Veröffentlichung nie gedacht hat, hat er aufrichtig geschrieben. Dass er nie an eine Veröffentlichung gedacht hat, erkennt man daran, dass er aufrichtig geschrieben habe. Dass diese Konstruktion etwas durchsichtig ist und in ihrer Durchsichtigkeit einer gewissen Komik nicht entbehrt, bemerkte schon die zeitgenössische Kritik. Zollikofers Hoffnung, der Autor – also Lavater – möge keines seiner gedruckten Tagebücher zu Gesicht bekommen, die das fehlende Öffentlichkeitsbewusstsein des Verfassers beglaubigen soll, quittiert der Rezensent der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste – Karl Gottlob Küttner – mit der Bemerkung: »was soll der Leser hierbey von dem Verfasser muthmaßen? daß solcher todt, oder daß er etwa in den unbekannten Südländern ist?«30 Wie gesagt, besteht das dritte Mittel, öffentlich unbeobachtet zu bleiben, neben der Chiffrierung und dem indiskreten Herausgeber darin, dass Tagebuch anonym erscheinen zu lassen. Dabei müssen freilich zwei Funktionen der Anonymität voneinander unterschieden werden. Die eine, von Lavater ausdrücklich benannte, verleiht den Beobachtungen des einzelnen Individuums paradigmatisches Gewicht. Lavater gibt in der Vorrede zum zweiten Teil des Tagebuchs an, der Grund der Anonymität sei es gewesen, dass er sich nicht in besonderer Weise vor anderen habe auszeichnen wollen, da es ihm lediglich um die exemplarische Form christlicher Selbstbeobachtung und -prüfung gegangen sei und weniger um die konkreten Lebensinhalte eines bestimmten Individuums. Die Rezension des ersten Tagebuchs in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek hatte moniert, dass durch die Anonymität gar nicht mehr überprüft werden könne, was hier der
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»Vorbericht des Herausgebers«, in: Lavater 2009c (wie Anm. 16), S. 72f. [Karl Gottlob Küttner]: »Geheimes Tagebuch, von einem Beobachter seiner selbst, Leipzig, bey Weidmanns Erben und Reich 1771. gr. 8. 264. S. mit vielen eingedruckten kleinen Kupfern«, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste, 13/1772, H. 1, S. 51.
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Wahrheit entspreche und was nicht.31 Das eigentliche Argument einer durch die Anonymität erst möglich werdenden Unaufrichtigkeit verkennend oder bewusst ignorierend erwidert Lavater scheinbar bescheiden, dass es nicht »darum zu thun gewesen wäre, die Geschichte eines besondern namentlichen Menschen«32 bekannt zu machen. Darin steckt einerseits eine Demutsgeste,33 andererseits entspringt gerade der Anonymität die Paradigmatizität des sich selbst beobachtenden Ich. Diese Aufwertung der Selbstreflexion zum Paradigma christlicher Selbstreflexion qua Anonymität ist nicht neu. Auch in Johann Joachim Spaldings anonym erschienener Betrachtung über die Bestimmung des Menschen spricht ein namenloses Ich und wertet sich dadurch zur exemplarischen Reflexionsinstanz des christlichen Menschen auf,34 ebenso wie der für Lavater nicht weniger maßgebliche Martin Crugot durch die Aussparung des Verfassernamens an die Stelle des titelgebenden Christ in der Einsamkeit tritt.35 Lavater nutzt die Möglichkeiten, die sich aus der Anonymität für die Verallgemeinerung des Ich ergeben lediglich in einem vollkommen anderen Ausmaß. Seine Schweizerlieder (1767) erscheinen anonym, werden aber mit dem Zusatz »von einem Mitgliede der helvetischen Gesellschaft in Schinzach« versehen, sodass der anonyme Autor zum Repräsentanten einer patriotischen Gruppierung aufsteigt, wo nicht zum paradigmatischen Schweizer. Vor allem aber sein Umgang mit der Anonymität in der Wochenschrift Der Erinnerer muss für die Bewertung des Tagebuchs berücksichtigt werden. Dort wertet er das eigene Ich nicht nur zum Exempel auf, wie Spaldings Schrift, er versetzt sich durch die Anonymität an die Stelle eines kollektiven Subjekts, das eben auch als moralisch richtende, ja geradezu transzendente Instanz auftritt. Durch die Anonymität vermag Lavater nicht nur an die Stelle des Kollektivsubjekts ›Erinnerer‹ zu treten, indem er eben die Autorität der Zeitschrift für sich in Anspruch nimmt,
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Friedrich Nicolai hatte in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek angemerkt, dass man dank der Bekanntmachung des Namens dazu im Stande sei, die Angaben des Verfassers zu überprüfen, was ja im Umkehrschluss unterstellt, dass die Anonymität die Fälschung der Selbstbeobachtung begünstigt hätte. Vgl. F. Nicolai, »J.K. Lavater, Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner Selbst« [Rezension], in: Allgemeine deutsche Bibliothek. 1765–96. 1772, 17. Bd., 2. St., S. 358–361, hier S. 360. Lavater 2009a (wie Anm. 4), S. 756. Demut als Motiv, den Namen des Autors durch Pseudonyme oder Akrosticha zu verhüllen oder ganz zu verschweigen, hat Schwietering für die Literatur des Mittelalters nachgewiesen. Vgl. Julius Schwietering, Die Demutsformel mittelhochdeutscher Dichter, Berlin 1921. Curtius korrigiert Schwieterings Tendenz zur Verallgemeinerung dieses Befundes und markiert die Anonymität als Sonderfall. Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 505–507. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert freilich nur die Tatsache, dass es ein historisches Beispiel für die Verknüpfung von Anonymität und Demut gibt. Ich danke Mark-Georg Dehrmann für den Hinweis auf den Zusammenhang von Paradigmatizität und Anonymität bei Spalding. Vgl. dazu auch Claus-Dieter Osthövener in diesem Band. Die Paradigmatizität der Selbstprüfung ist auch der Grund, die der englische Geistliche John Newton für die Anonymität seiner 1764 und bis zum Ende des Jahrhunderts sehr populären An Authentic Narrative of some Remarking and Interesting Particulars in the Life of ******** anführt. Vgl. John Mullan, Anonymity. A Secret History of English Literature, London 2007, S. 254ff.
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er gewinnt darüber hinaus geradezu eine metapersonale Autorität, indem er funktional an die Stelle des Todes tritt, der als memento mori den christlichen Menschen auf den Weg des Heils führen soll und der (nicht nur) von Lavater als »Erinnerer« bezeichnet wird.36 Ganz offensiv begründet Lavater, das heißt das anonyme Subjekt des Erinnerers, seinen ungeheuren Geltungsanspruch gerade mit seiner Anonymität. Seine Rolle werde ihm nämlich dadurch erleichtert, dass er erstens einer konkreten Situation enthoben sei und sich zweitens hinter seinem Blatt »verstecken« könne: »Ich habe e[s] hierinn auch immer leichter und besser, als jeder andere persönliche und unmittelbare Erinnerer, weil ich durch kein sichtbar vor mir stehendes Ansehen abgeschreckt werde, und mich immer hinter mein Blatt gleichsam verbergen kann.«37 Lavater überträgt also das Argument für die Anonymität der literarischen Kritik, die desto freimütiger sei, je weniger persönliche Rücksichten sie nehmen müsse,38 auf die Verhältnisse der moralischen Kritik. Autorität, heißt das, kommt dem anonymen Sprecher qua Anonymität nicht nur zu, weil er in die Rolle eines kollektiven Subjekts schlüpft, sondern auch, weil Anonymität die Bedingungen eines objektiven Urteils herstellt. Diese Verschiebung des individuellen ins paradigmatische Ich wird auch im Geheimen Tagebuch durch die Anonymität erst möglich. Das gilt erstens im Sinne der Verallgemeinerung, die durch die Auslöschung der individuellen Spur forciert wird. Das gilt zweitens im Sinne der Inszenierungen, die durch diese Auslöschung möglich werden, weil sie, wie der Rezensent der Allgemeinen Deutschen Bibliothek anmerkt, der Möglichkeit einer Überprüfung der Angaben Lavaters den Boden entziehen. Eine Episode, die vor allem Schönborn in ihrer Lektüre hervorgehoben hat, macht das besonders deutlich:39 Lavater lässt seinen 33. Geburtstag ins Jahr des Tagebuchs fallen und macht ihn zum Datum einer neuerlichen ausführlichen Selbstprüfung. Eigentlich ist er im Jahr der Niederschrift erst 28, im Jahr des Drucks 30 Jahre alt. Der Sinn dieser Umdatierung ist evident: Lavater als Nachahmer Christi datiert auf dessen Todesjahr. Diese Fälschung wird natürlich erst durch die Anonymität möglich und sie erhöht den paradigmatischen Status der Selbstreflexionen Lavaters, in denen sich der Leidensweg Christi abbildet. Umgekehrt steht, wie Caflisch-Schnetzler anmerkt, die Umdatierung im Dienst der Anonymität, insofern sie die biographischen Spuren des realen Autors verwischt.40 Die Demutsgeste der Anonymität ist also moralisch durchaus doppeldeutig, indem Anonymität zugleich das Mittel der Selbstaufwertung zum christlichen Paradigma ist.41
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Lavater 2009c (wie Anm. 16), S. 162. Lavater 2009b (wie Anm. 13), S. 48. Vgl. dazu Stephan Pabst, »Der anonyme Rezensent und das hypothetische Publikum«, in: Organisation der Kritik. Die Allgemeine Literatur-Zeitung in Jena 1785–1803, hg. v. Stefan Matuschek, Heidelberg 2004, S. 23–54. Schönborn 1999 (wie Anm. 21), S. 107ff. Lavater 2009c [Kommentar] (wie Anm. 16), S. 228. Auf die Gefahr der Verkehrung der Demutsgeste weist auch Christian Gottlob Heyne in seiner Rezension hin: Der christlichen Tugend der »Selbstverläugnung« käme Lavater mit einer solchen Kleinlichkeit und Genauigkeit nach, dass diese selbst zum Grund eines »geheimen Stolz[es]« werden würde. [Heyne, Christian Gottlob]: »Bey Weidmanns Erben und Reich 1771.
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Der zweite Grund für die Anonymität des Tagebuchs besteht darin, dass durch den Ausschluss der Öffentlichkeit die Aufrichtigkeit der Selbstbeobachtung sichergestellt werden soll.42 Nur wenn nicht bekannt ist, wer sich hier selbst beobachtet, wird die Scham des Selbstbeobachters als möglicher Grund der Verstellung ausgeschlossen.43 Dieses Argument wird von Lavater selbst nicht so benannt und es kann von ihm aus beglaubigungsstrategischen Gründen eigentlich auch gar nicht benannt werden, weil das immer schon ein Bewusstsein von den Effekten der Öffentlichkeit voraussetzt und so den Verdacht weckt, die Maßnahmen zur Geheimhaltung – die Geheimschrift, der indiskrete Herausgeber, die Anonymität – seien Beglaubigungsgesten, die ausdrücklich auf ein Publikum abzwecken. Im Prinzip ist ja Geheimhaltung als Form der Beglaubigung fiktionsstrategisch vollkommen beliebig disponibel. Ob es nun Gellerts anonym erschienene Schwedische Gräfin von G*** ist oder Kleists Marquise von O, immer suggeriert die Tarnung der Person ein besonders delikates und intimes Wissen über sie, das diese Tarnung notwendig macht. Da aber Anonymität in jedem Fall etwas verbirgt und der Leser unter Umständen gerade deshalb die Motive der Anonymität nicht mehr überprüfen kann, ist es die Anonymität selbst, durch die die Aufrichtigkeit des Tagebuchs sichergestellt werden soll, die Anlass dazu gibt, diese Aufrichtigkeit wiederum in Zweifel zu ziehen. Historisch wird dieser Effekt an Nicolais Reaktion in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek greifbar, der der Aufrichtigkeit des Selbstbeobachters misstraut, weil durch die Anonymität gar nicht angegeben werden kann, auf wen sich der Text eigentlich bezieht. Nur unter dieser Bedingung ließe sich aber die Aufrichtigkeit einer Aussage überprüfen. Die Anonymität kann also auch als Bedingung dafür angesehen werden, die vom Text behauptete Wahrheit zu unterlaufen. Man kann sich das auch systematischer an jenem ›Pakt‹ verdeutlichen, den Philippe Lejeune den ›autobiographischen‹ genannt hat. Der Wahrheitsanspruch des autobiographischen Textes beruht auf der Identität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist. Diese Identität wird durch die Selbstreferenz des Erzählers mit dem Personalpronomen ›Ich‹ zwar angedeutet, ist aber am Personalpronomen selbst für den Leser nicht nachvollziehbar. Das Kriterium der Identität ist letztlich der Name des Autors, der mit dem des Protagonisten übereinstimmen muss, womit dem Leser die Möglichkeit der Überprüfung des Textes in der Wirklichkeit gegeben wird.44 Die Anonymität unterläuft den ›autobiographischen Pakt‹, den Lavater mit der Perspektive seines Berichts (Ich) und der Gattungszuweisung (Tagebuch) zu stiften scheint. Zwar mutet Lejeunes Entschei-
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8. mit artigen kleinen Kupfern: Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner selbst«, in: Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen, 59. Stück, 18. May 1771, S. 505–508, S. 507. Einen breiten Überblick über die Verwendung dieses Arguments in der englischen Bekenntnisliteratur zwischen 1760 und 1830 gibt Mullan 2007 (wie Anm. 36), S. 254–285. Vgl. Dictionary of Anonymous and Pseudonymous English Literature (Samuel Halkett/John Laing), new and enlarged Edition by James Kennedy/W. A. Smith/A. F. Johnson, Bd. 1, London 1926, S. XIf. Dort wird ›Scham‹ als eines der wichtigsten Motive anonymer Publikationen überhaupt bezeichnet. Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, Frankfurt a. M. 1994, S. 25ff.
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dung, die anonyme Autobiographie geradezu für unmöglich zu erklären,45 etwas radikal an, doch ist damit einfach nur gemeint, dass auf Grund des fehlenden Autornamens keine eindeutige Gattungszuschreibung mehr möglich ist. Man kann den Text für einen Roman in Form einer Autobiographie halten oder eben für eine Autobiographie und von der Gattungsentscheidung hängen natürlich die Bedingungen der Glaubwürdigkeit ab.46 Erschwerend kommt bei Lavater hinzu, dass auch die beiden Komplizen der Veröffentlichung – der unbekannte Freund und der Herausgeber – anonym bleiben. Natürlich gibt es nicht wenige Fälle im 18. Jahrhundert, in denen die Anonymität einer Fälschung von Öffentlichkeit Vorschub leistet, indem sich der anonyme Autor in unterschiedliche Funktionen der Öffentlichkeit aufspaltet.47 Anlass zu Spekulationen über den Fiktionscharakter des Tagebuchs und der bloßen Fiktionsverschleierungsfunktion der Anonymität gab es allemal. Schon die zeitgenössische Rezension von Hermann Andreas Pistorius in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek hat das mit sicherem Gespür erkannt: Auch kommt es uns vor, als wenn die Situation in der Zeit eines Monats gekaufter und gesuchter sey, als das menschliche Leben sie gewöhnlicherweise herbey zu suchen pflegt. Dies erregt wenigstens einen Verdacht von eingemischter Dichtung, und wir wünschten sehr, daß wir zu einer solchen Vermuthung, die den Eindruck des Uebrigen schwächte, keinen Grund gefunden hätten.48
Die jüngsten Forschungen bestätigen, was auch den Lesern des 18. Jahrhunderts nicht lange verborgen geblieben sein dürfte, indem sie Lavater die bewusst falsche Datierung einiger von ihm aufgezeichneter Ereignisse nachweisen können.49 Diese Eingriffe sind massiv und betreffen die kompositorische Einheit des Textes wie die Rückdatierung des für das Tagebuch zentralen Todestages Felix Hess’ und seinen exemplarischen Anspruch wie die Datierung der Selbstprüfung auf das Sterbealter Jesu um der imitatio christi willen. Auch die Anonymität selbst muss als strategische Beglaubigung der Aufrichtigkeit des Selbstbeobachters gelesen werden. Zumal Lavater realistisch nie davon ausgehen konnte, dass er als Autor des Tagebuchs dauerhaft anonym bleiben würde. Die klare
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Ebd., S. 35. Freilich wird im Fall des autobiographischen Textes die Nachprüfbarkeit durch die Exklusivität des Wissens eingeschränkt, die ja für die Autobiographie geradezu gattungskonstitutiv ist. Die Pointe der Autobiographie besteht gerade darin, dass erzählt wird, was nur der Autor selbst weiß und was sich selbst der Kenntnis eines Biographen entziehen müsste. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. dazu Martin Dönike in diesem Band. Hermann Andreas Pistorius, »J.K. Lavater, Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner Selbst« [Rezension], in: Allgemeine deutsche Bibliothek. 1765–96. 1772, 17. Bd., 2. St., S. 346– 358, hier S. 357f. Vgl. Cafisch-Schnetzler, »Einführung«, in: Lavater 2009c (wie Anm. 16), S. 42. Freilich hatte Lavater selbst eine Differenzierung eingeführt, mit der der Fiktionsvorwurf, der leicht auf Grund der von ihm selbst eingeräumten Eingriffe des Herausgebers erhoben werden konnte, abgewehrt werden sollte. Er unterscheidet zwischen der ›Echtheit‹ und der ›Richtigkeit‹ des Tagebuchs. Wenngleich es nicht ganz ›echt‹ sei, sei es in seiner moralisch-christlichen Intention doch ›richtig‹. Vgl. Gerhardt 1952 (wie Anm. 20), S. 7.
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Trennung zwischen intimer Schreibsituation und öffentlicher Publikationssituation, durch die allein die Wahrung der Anonymität erst möglich würde, wird für die Publikation eigentlich nur behauptet. Sie ist in dieser Klarheit keineswegs gegeben. Zwischen beiden Polen gibt es fließende Übergänge. Lavater lässt Manuskripte – unter ihnen das Tagebuch – im Freundeskreis zirkulieren, und Lavaters Freundeskreis war groß. Auch Briefe machen, darin ist Lavater kein Sonderfall, die Runde. Als Lavater im Streit um seinen ›Kryptokatholizismus‹ der Berliner Monatsschrift vorwirft, ausspioniert worden zu sein, erwidern Gedike und Biester vollkommen zu Recht, dass dies nicht nötig sei, weil Lavater selbst seine Briefe Dritten anvertraue.50 Zwischen 1790 und 1793 gibt Lavater seine ebenfalls intime Tagebuchaufzeichnungen enthaltende Handbibliothek für Freunde gedruckt heraus, achtet aber darauf, durch die handschriftliche Signatur bzw. Widmung oder den Zusatz »Manuscript« den Anschein der privaten Kommunikation zu wahren. Unumwunden konzediert er, dass es dabei lediglich um »die Form eines Manuscriptes für Freunde«51 gehe und keineswegs darum, dass tatsächlich nur Freunde die Aufzeichnungen zu lesen bekämen. Sicher reflektiert Lavater das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit 1790 anders als 1770. Aber die Situation eines fließenden Übergangs vom einen zum anderen ist dieselbe und die Vorstellung einer klaren Trennung ist eine Fiktion des Tagebuchs, in die die ganze Erzählung der Indiskretion, der Änderung etc. eingetragen werden kann.
III. Beobachtete Selbstbeobachtung Die Publikationsgeschichte des Lavaterschen Tagebuchs versetzt uns in die glückliche Lage, die Effekte der Anonymität und der Namentlichkeit am Text beobachten zu können. Während der erste Teil des Tagebuchs anonym als Geheimes Tagebuch erscheint, wird der zweite Teil unter dem Titel Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters seiner Selbst mit einem Schreiben Lavaters an den Herausgeber veröffentlicht. Lavaters Name steht zwar immer noch nicht auf dem Titelblatt, aber damit ist natürlich klar, wer der Verfasser des Textes ist. Es war zwischenzeitlich ohnehin publik geworden. Die Frage, die sich nun stellt und die zwischen Verfasser und nach wie vor anonymem Herausgeber am Anfang des zweiten Teils diskutiert wird, ist, was denn zu der neuerlichen Publikation eines Tagebuchs berechtige, da ja die Geheimhaltung eine Bedingung der Aufrichtigkeit der Selbstbeobachtung war und also den Text strukturell erst ermöglichte. »Wie wichtig«, zitiert Lavater den Brief eines Freundes, »muß sich L. dünken, wenn er sich anmaßt, daß einige tausend Menschen wissen sollen, um welche
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Johann Erich Biester/Friedrich Gedike, »Über das itzige Streiten mancher Schriftsteller, besonders Lavaters gegen die Berliner«, in: Berlinische Monatsschrift, April 1787, S. 369ff. »Gar nicht das ich denke, daß das, was ich schreibe, nicht auch in andere Hände kommen werde. Das geht mich nichts an. Es muß die Form eines Manuscriptes für Freunde haben, und es darf unmittelbar nur Freunden angeboten werden.« Johann Caspar Lavater, Reise nach Kopenhagen im Sommer 1793. Auszug aus dem Tagebuch. Durchaus bloß für Freunde von Johann Caspar Lavater, o. O., o. J., S. 2f.
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Zeit er aufsteht und schlafen geht«.52 Etwas schärfer wird die missliche Situation vom anonymen Rezensenten des zweiten Teils in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek benannt: Allein hätte nicht billig das ganze Werk nun aufhören, der Beobachter sein Tagebuch nicht mehr fortsetzen, oder wenigstens den Augen des Publikums und selbst seinen geheimsten Freunden aufs sorgfältigste entziehen sollen? Öffentlich unter dem Namen des Verf. fortgesetzt kann es meiner Einsicht nach nicht mehr ein geheimes Tagebuch eines Beobachters seiner selbst seyn53.
Dass Lavater den zweiten Teil publizierte, obgleich ihm mit dem Bekanntwerden seines Namens die von ihm selbst behaupteten Bedingungen der aufrichtigen Selbstbeobachtung entzogen wurden, dürfte nicht zuletzt daran gelegen haben, dass Reich das »Manuscript schon zum voraus ganz bezahlt«54 hatte. Tatsächlich bricht natürlich mit der Nennung des Namens die ganze Performanz der Geheimhaltung in sich zusammen. Das betrifft zum einen die Demutsgeste, die sich mit der Anonymität verband. Lavater selbst trägt gegenüber Zollikofer Sorge, man könne ihm die Publikation des zweiten Teils so auslegen, als wenn »ich meiner Eitelkeit [..] Weyrauch gestreüt habe«,55 eine Sorge, die natürlich nur unter der Bedingung begründet ist, dass man den Autor kennt. Das betrifft zum anderen die Beteuerung seiner Aufrichtigkeit. Das Attribut der Beglaubigung ist nun nicht mehr ›geheim‹, sondern ›unverändert‹ bzw. ›unausgesucht‹, wie es im Titel einer zweiten, preiswerteren Ausgabe heißt. So, wie sie im Tagebuch stehen, gebe Lavater seine Selbstbeobachtungen der Öffentlichkeit preis und versichert, dass er sie »ohne einige Rücksicht auf das Publicum«56 niedergeschrieben habe, und er inszeniert sich als Schmerzensmann der literarischen Öffentlichkeit, indem er die »Inconvenienzen«57, die ihm seine Offenheit eintrage, gerne erleide für den moralischen Nutzen, den seine öffentliche Selbstbeobachtung erbringe. Abgesehen aber davon, dass diese Beglaubigungsform deutlich schwächer ist als die der Geheimhaltung, macht sie auch die Glaubwürdigkeit des ersten Teils des Tagebuchs fragwürdig. Denn dass der zweite Teil ›unverändert‹ ist, bezieht sich ja auf den ersten Teil, der von dem ›menschenfreundlichen Verräther‹ verändert worden war. Zwar geschah dies, wie Lavater schreibt, um alle Hinweise auf den wirklichen Verfasser des Textes zu tilgen, doch wird dadurch das gesamte Projekt in Misskredit gebracht. Man beobachtet anonym, um aufrichtig zu beobachten, muss aber unaufrichtig sein, um diese Anonymität als Beobachtungsbedingung zu wahren.58 Wenn Lavater also bestreitet,
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Lavater 2009a (wie Anm. 4), S. 759. Anonym, »J. K. Lavater, Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Zweiter Teil«, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 1777, Anh. 1771–91, Anh. 13–24. Bd., 1. Abt., S. 147–155, hier S. 147. Zollikofer an Garve, 17. Juli 1773, in: Garve 1804 (wie Anm. 25), S. 90. Lavater an Zollikofer, 29. März 1773, in: Zentralbibliothek Zürich FA Lav Ms 587. 109. Lavater 2009a (wie Anm. 4), S. 760. Ebd., S. 763. Vgl. dazu Christoph Siegrist, »Nachwort«, in: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters seiner Selbst, bearbeitet von Christoph Siegrist, Bern/Stuttgart 1978, S. 22.
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dass er sich je habe frisieren lassen,59 dies im ersten Tagebuch aber behauptet und im Kupferstich auch gezeigt wird, dann ist offenkundig das erste Buch Lavaters frisiert worden.60 Die Eingriffe, die Lavater zunächst publikationsstrategisch rechtfertigte, gingen offensichtlich so weit, dass er schon wenige Jahre später den ersten Teil seines Tagebuchs nicht mehr als sein Werk anerkannte. In einer Aufstellung der von ihm autorisierten Werke schreibt er: »Der erste Theil, obgleich er viel ächtes enthält – wird wegen vieler Zusätze und Verkleidungen durchaus nicht anerkannt.«61 Freilich lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr entscheiden, ob er die Autorschaft bestreitet, weil tatsächlich so massiv in den Text eingegriffen wurde, oder weil ihm die Aufrichtigkeit der Aufzeichnungen nach der Aufdeckung seines Namens peinlich ist und er sich nun ›schämt‹. Tatsächlich wirkt sich die Nennung des Namens massiv auf den Text aus. Im zweiten Teil nimmt die Intimität der Selbstbeobachtung deutlich ab, stattdessen treten theologische Überlegungen zu einzelnen biblischen Texten oder anderen theologischen Autoren stärker hervor. Lavater rückt an vielen Stellen Briefe und eigene Dichtungen ein, die zwar Spuren ihres Verfassers tragen mögen, aber eben Texte sind, die ohnehin auf Öffentlichkeit kalkuliert waren. Zwar handelt es sich auch bei diesen Texten um ›Selbstbeobachtung‹, aber eine solche, die weiß, dass sie beobachtet wird, weil sie mit einer Adressierung untrennbar verbunden ist. Auch die Geheimschrift verändert ihre Funktion. Schützte sie im ersten Teil Lavaters Intimsphäre oder simulierte diesen Schutz doch wenigstens, so dient sie nun eher dem Schutz anderer, über die sich Lavater in seinem Tagebuch äußert.62 Stellenweise verkommt die Geheimschrift zur bloßen Kulisse der Intimität, wenn Lavater in den verschlüsselten Stellen offen lässt, worum es eigentlich geht,63 man also auch dann nichts verstünde, wenn man sie entschlüsselte, wenn er Passagen verschlüsselt, die im ersten Teil bereits unverschlüsselt abgedruckt worden waren, wie im Fall einer für sich selbst entworfenen Grabinschrift64 oder wenn er Passagen verschlüsselt, die auch als Klartext kaum Anstoß erregen könnten. Selbst der Herausgeber Zollikofer findet den zweiten Teil »weniger interessant, [...] tändelnder, [...] schwärmerischer«.65 Dass just das zweite
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Vgl. Lavater 2009c (wie Anm. 16), S. 61. Auch im Bezug auf die Anonymität gilt, was Ursula Geitner über Lavaters Versuch schreibt, die Differenz von Unmittelbarkeit und Nachträglichkeit und Äußerlichkeit der Schrift im Tagebuch auszusöhnen: »Der Tagebuchtext, der sich gegen die Erkenntnis seiner Bedingungen zu immunisieren versucht, treibt sie nolens volens voran.« Ursula Geitner, »Zur Poetik des Tagebuchs. Beobachtungen im Text eines Selbstbeobachters«, in: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hg. v. Jürgen Schings, Stuttgart/Weimar 1994, S. 629–659, hier S. 640. Johann Caspar Lavater, Ein Wort von meinen Schriften, in: ders., Vermischte Schriften II, Winterthur 1781, S. 462. Vgl. Lavater 2009a (wie Anm. 4), S. 856 und S. 871. Ebd., S. 874 und S. 889. Ebd., S. 898f. Zollikofer an Garve, 17. Juli 1773, in: Garve 1804 (wie Anm. 25), S. 90. In einem anderen Brief an Garve vom 5. Januar 1774, ebd., S. 131, schreibt er im Bezug auf die Gleichförmigkeit seines Lebenswandels: »Mein Tagebuch würde noch weit weniger interessant seyn, als Lavaters seines, ich müßte denn alle wunderlichen Einfälle, die mir den Tag über durch den Kopf gehen,
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Tagebuch das ›echtere‹ insofern ist, als es sich an die reale Chronologie der Ereignisse hält,66 wirft einfach nur ein Licht darauf, inwiefern die Intimität des ersten durch die Anonymität nicht nur als Bedingung der ›aufrichtigen‹ Selbstbeobachtung ermöglicht worden war, sondern auch als Bedingung der darstellungsstrategischen Reorganisation des biographischen Materials. Insofern ist der Grund der Aufrichtigkeit immer zugleich der Grund des Zweifels an ihr. Mit der Anonymität Lavaters verfällt also die Intimität seines Textes. Dafür ist man als Lavater-Leser sogar dankbar. Aber die Rückhaltlosigkeit der Selbstbeobachtung, die Lavater zum Beispiel christlicher Selbstprüfung machen und seinerseits als Beobachter legitimieren sollte, ist damit unmöglich geworden, sei es als echte oder als inszenierte Intimität. Bevor man also wie Schönborn die Differenz zwischen dem ersten und dem zweiten Tagebuch als Entwicklungsgeschichte nacherzählt67 und damit der Selbstdarstellung Lavaters folgt, der die Veränderungen als Reflexions- und Souveränitätsgewinn ausgibt, hätte man sich zu fragen, inwiefern die Veränderungen den veränderten Publizitätsbedingungen, das heißt der Onymität des zweiten Tagebuchs geschuldet sind.68 Herder, der sich Lavater gegenüber immer ironischer verhalten hat, als es dieser verstehen konnte oder wollte, registriert den Unterschied zwischen dem anonym erschienenen ersten und dem namentlich erschienenen zweiten Band am pointiertesten. Der zweite Teil sei »kein Tagbuch mehr, höchstens zeigt sich Lavater im NachtKamisol oben auf dem Balkon, weiß aber wohl, daß er auf dem Balkon stehe.«69
IV.
Die Fiktion der Beobachtung
Lavater entkommt der Aporetik der (beobachteten) Beobachtung nicht. Der zweite Teil des Tagebuchs enthüllt ex negativo die publizistischen Bedingungen der Intimität und diese Intimität als Effekt bestimmter publizistischer Strategien. Wider Willen zwingt ihn das zweite Tagebuch dazu, die fiktiven Elemente des ersten Tagebuchs aufzudecken. Dass diese Fiktionen nicht einfach Ausdruck der Scheinheiligkeit Lavaters sind, sondern als Ausweg aus der Aporetik der Beobachtung eine gewisse Notwendigkeit haben, wenngleich sie von Lavater als solche nicht reflektiert werden, zeigt das Beispiel des fünfzehn Jahre nach Lavaters Tagebüchern ebenfalls anonym erschienenen Tagebuchs
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aufschreiben und sie mit etwas Philosophie versetzen.« Vgl. dazu Gerhardt 1952 (wie Anm. 20), S. 11. Caflisch-Schnetzler, Einführung, in: Lavater 2009a (wie Anm. 4), S. 722. Schönborn 1999 (wie Anm. 21), S. 115ff. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass die Unveränderten Fragmente weniger Beachtung fanden als das Geheime Tagebuch, »obschon die im Geheimen Tagebuch beanstandete Anonymität aufgehoben war«, wie Caflisch-Schnetzlers Kommentar bemerkt (Lavater 2009a, wie Anm. 4, S. 718). Es ist vielmehr so, dass der zweite Teil weniger Aufmerksamkeit erregt als der erste, weil durch die veränderten Publizitätsbedingungen auch der Text deutlich anders ausfällt. Herder an Lavater, 18. Dezember 1773, in: Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe. 1763–1803, hg. v. Karl-Heinz Hahn, Weimar 1977ff., Bd. 3: Mai 1773-September 1776, bearb. v. Wilhelm Dobrek/Günter Arnold, Weimar 1978, S. 59.
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eines unsichtbaren Reisenden des Buchdruckers und Buchhändlers Johann Heinrich Heidegger, der als Züricher wohl bestens mit Lavaters Schriften vertraut war. Der Zusammenhang zwischen Anonymität und Beobachtung ist hier bereits zum Topos geronnen. »Daß Unsichtbarkeit«, so schreibt der fingierte Herausgeber des Tagebuchs im ersten Satz seiner Vorrede, »auch Anonymität ist, das bedarf wohl keiner Erinnerung«.70 Freilich kann die Unbekanntheit des Autors nur metaphorisch auf die Unsichtbarkeit des Beobachters angewendet werden, denn an sich, das weiß auch der Autor des Tagebuchs, »ist ein Reisender: Eine in die Augen fallende Maschine«.71 Die Unsichtbarkeit, die die metaphorische Anwendung der Anonymität auf den Beobachter gestattet, muss deshalb durch eine Fiktion erst hergestellt werden. Der Verfasser berichtet, wie er durch ein Wunder buchstäblich unsichtbar geworden ist. Auf einer Wanderung durch die Schweizer Alpen begegnet er dem »Schutzgeist dieser Alpen«,72 der ihm den ›Stein der Weisen‹ zum Geschenk macht. Als Stein der Weisen kann er deshalb angesehen werden, weil er eine bestimmte Fähigkeit verleiht und dieser Fähigkeit Erkenntnis entspringen lässt: »[E]r machet dich unsichtbar, wenn, wo, und so lange du selbst es seyn willst. Dieser Stein, wird dir die Welt, die Menschen zeigen, wie sie sind«.73 Noch einmal wird der Zusammenhang zwischen der Verborgenheit des Beobachters und seiner Beobachtung als Idealbedingung der Beobachtung hergestellt, wobei es sich auch hier teilweise um einen physiognomischen Beobachter handelt.74 Allerdings muss nun eine Fiktion für diese Idealbedingung aufkommen. Damit wird die Anonymität selbst zum Zeichen eines bestimmten Fiktionstyps der Beobachtung. Es geht gar nicht mehr darum, den Beobachter respektive Autor tatsächlich zu verbergen, sondern darum, diese Elemente der Beglaubigung als Fiktionssignale umzudeuten; sei es, um den gesamten Beobachtungsvorgang als Fiktion zu markieren, oder − dass wäre die zweite mögliche Erklärung −, um ironisch von der eigentlichen Motivation der Anonymität abzulenken, die darin besteht, dass der Beobachter für die Mitteilung seiner realen Beobachtungen nicht angegriffen werden möchte.75 Dann wäre Anonymität nicht die Bedingung der Beobachtung, wohl aber die der Mitteilung der Beobachtung. In diesem Sinne legt der Rezensent der Allgemeinen Literatur-Zeitung die »Maske der Unsichtbarkeit« aus, die dazu diene, »manche[m] ganz bestimmten Zügen [...] ans Licht zu helfen«76. So
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[Heinrich Heidegger], Tagebuch eines unsichtbaren Reisenden, [Zürich] 1793, S. 5. Ebd., S. 14. Ebd., S. 35. Ebd., S. 40. Ebd., S. 73ff. Wenngleich, wie ein Rezensent anmerkt, das Gute doch im Resümee des unsichtbaren Reisenden so sehr überwiegt, dass es der Unsichtbarkeit, sprich Anonymität gar nicht bedurft hätte, weil sich durch diese Erkenntnis ohnehin niemand angegriffen fühlen könne. Vgl. »Tagebuch eines unsichtbaren Reisenden«, 2 Bde., in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek 14/1795, H. 1, S. 118. Ohne Angabe des Druckorts: Tagebuch eines unsichtbaren Reisenden. 1793. I.B. 347 S. 8. II. Band. 300 S. 8. m. 8. Kupfern, und mit lateinischen Lettern gedruckt, in: Allgemeine LiteraturZeitung Nr. 199, Juni 1797, Sp. 775f.
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oder so aber lässt sich der Beobachter nur durch eine Fiktion aus der Welt schaffen, die er beobachtet. Und nicht nur die Verborgenheit des Beobachters wird als Fiktion aufgedeckt, sondern auch das moralische Regulativ seiner Verborgenheit. Unsichtbarkeit, wie sie dem Verfasser des Tagebuchs zuteil wird, eröffnet Möglichkeiten des kriminellen Gebrauchs dieser Fähigkeit. Deshalb wird sie vom »Geist der Alpen« nur unter einem Vorbehalt verliehen: »Aber, wo du dieses mein Geschenk, mit Vorsatz zu einer boesen, straeflichen Handlung gebrauchen wolltest, so sollst du auch dafür nach Maasgabe deines Fehlers Strafe empfangen, ja sogar, plözzlich ein Kind des Todes seyn.«77 Diese Möglichkeit des Missbrauchs ergibt sich aus der Verborgenheit des Beobachters. Ihre Regulierung wurde deshalb bei Lavater an die Menschenliebe und an die Selbstbeobachtung verwiesen, die sich aber ihrerseits in eine Aporetik der beobachteten Beobachtung verstrickte. Auch der Berggeist bindet die Beobachtung an die Selbstbeobachtung. »[Der Stein der Weisen] wird [...] dich klug machen, wenn du bei deinen Beobachtungen immer auf dasjenige acht giebst, was dein Inneres dir über jede Beobachtung sagen wird.«78 Scheinbar weiß er aber um die Aporetik der Selbstbeobachtung und lässt mit der Übergabe des Steines zugleich ein Gesetz seines richtigen, das heißt moralischen Gebrauchs ergehen. Dieses Ungenügen der Selbstbeobachtung, die im Text dazu führt, das der Geist zusätzlich ein Gesetz ausspricht, findet auf der Metaebene des Textes seinen Ausdruck darin, dass in Heideggers Tagebuch der Ausweg aus der Aporie der Selbstbeobachtung nur über die Fiktion eines Geistes führt, der den Gebrauch der Beobachtungsbedingungen reguliert.
V.
Göttliche Beobachtung
Wenn Lavater die fiktiven Anteile seines Tagebuchs lediglich in der Weise reflektiert, dass er sie als strategische Elemente der Anonymisierung gegen Vorwürfe der Inauthentizität verteidigt, dann hängt das aber auch damit zusammen, dass das Ideal der Beobachtung einen imaginären, aber wahrhaften Ort hat – das Auge Gottes –, und deshalb für Lavater von der bloßen Fiktion unterschieden werden kann und muss. Der erste Teil erhob noch den Anspruch, sich mit den Mitteln der öffentlichen Geheimhaltung quasi in den Standpunkt eines göttlichen Beobachters zu versetzen. Dort nimmt sich Lavater vor, seine Geschichte so genau niederzuschreiben, als wenn ich Gott selbst mein Tagebuch vorlesen müßte; – so genau, daß ich einst auf meinem Sterbelager, nach diesen Urkunden eine solche Rechnung über mein Leben machen kann, die derjenigen gleich ist, welche mir vorgelegt werden wird, wenn ich den letzten Athem verhaucht haben werde.79
Der menschliche Selbstbeobachter ist bemüht, den Blick eines absoluten, göttlichen Beobachters auf sich selbst einzunehmen und in diesem Blick den Tag des Jüngsten
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Ebd., S. 38. Ebd., S. 40. Lavater 2009c (wie Anm. 16), S. 80
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Stephan Pabst
Gerichts zu antizipieren. Das Schreiben des Tagebuchs wäre idealerweise identisch mit jener göttlichen Buchhaltung im »Buch des Lebens«80 – wie es in der Johannes-Offenbarung heißt –, in dem die guten und bösen Taten jedes Menschen verzeichnet sind und das dem göttlichen Richtspruch zu Grunde liegt.81 In einem in den Erinnerer eingerückten ›Traum‹ imaginiert sich Lavater als unsichtbaren Beobachter im Reich der Toten.82 Die apokalyptische Szenerie ist etwas verschoben. Die Menschen werden nicht nach dem ›Buch des Lebens‹ gerichtet, sondern lesen vor dem eigentlichen Gericht in ihrem Buch des Lebens, wobei das Gewissen des Toten dem Urteil zuvorkommt, insofern er im Bewusstsein der Sünden ein mögliches Urteil antizipiert und sich mit dieser Vorstellung bis zum eigentlichen Gerichtstag quält. Auch in sein eigenes Buch des Lebens vermag Lavater einen Blick zu werfen, in dem auch seine jüngsten apokalyptischen Träumereien verzeichnet sind, sodass in dieser selbstreflexiven Wendung das himmlische Buch des Lebens mit dem Tagebuch Lavaters, das dem Leser des Erinnerers gerade vorliegt, identifiziert wird. Und der Rat, den der Erinnerer auf Grund des Traumes seinen Lesern erteilt, ist: »Haltet ein moralisches Tagbuch [...] – L[ü]get euch selber nicht! – schreibet es auf, wie es von der Wahrheit in dem Buche euers Lebens aufgeschrieben wird.«83 Das Tagebuch stellt einen Vorgriff auf das ›Buch des Lebens‹ dar. Diese apokalyptische Motivierung gehört zur Topologie der Bekenntnisliteratur des 18. Jahrhunderts und gilt für einen guten Teil der Bekenntnisschriften Lavaters, ob es sich dabei um das Geheime Tagebuch, den Erinnerer oder den frühen Text Nachdenken über mich selbst handelt. Auch Rousseau tritt in seinen Bekenntnissen mit dieser apokalyptischen Geste auf: Que la trompette du jugement dernier sonne quand elle voudra [...] Je me suis montré tel que je fus, méprisable et vil quand je l’ai été, bon, généreux, sublime, quand je l’ai été : j’ai dévoilé mon intérieur tel que tu l’as vu toi-même. Etre éternel, rassemble autour de moi l’innombrable foule de mes semblables : qu’ils écoutent mes confessions, qu’ils g’emissent de mes indignités, qu’ils rougissent de mes miséres.84
Rousseau freilich nennt seinen Namen, lässt das Publikum an die Stelle des göttlichen Beobachters treten und bezieht aus der Öffentlichkeit der Scham die Beglaubigung seines Textes. Nur wer sich der Scham aussetzt, so lautet seine implizite Beglaubigungsformel, spricht wahr. Die Scham wird sogar zum sympathetischen Faktor, der Autor und Leser miteinander verbindet. Dieser Vorgang kann nur unter der Bedingung der Namentlichkeit in Gang gesetzt werden.85 Anders Lavater, der Scham für eine Verzerrung
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Offb. 20.12. Zum Tagebuch als ›Buch des Lebens‹ vgl. Bettina Volz-Tobler, Rebellion im Namen der Tugend: »Der Erinnerer«- eine moralische Wochenschrift, Zürich 1765–1767, Zürich 1997, S. 195ff. Lavater 2009b (wie Anm. 13), S. 463ff. Ebd., S. 470. Jean-Jacques Rousseau, Les Confessions, in: ders., Oeuvres complètes I: Les Confessions, Autres Textes autobiographiques. Édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Paris 1959, S. 5. Freilich verschiebt Rousseau die Scham auf ein imaginäres Publikum der Nachwelt und verwan-
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des Beobachtungsgegenstandes hält oder eben einfach zu schamhaft ist. Seine Selbstbeobachtung kann mit der göttlichen Beobachtung nur konkurrieren, wenn sie den Einfluss der Öffentlichkeit ausschließt und den Autor anonymisiert. Von dieser heilsgeschichtlichen Motivierung des Tagebuchs aus muss aber die Frage der Beobachtung noch einmal neu gestellt werden. Natürlich ist Gott ein anderer Beobachter als die literarische Öffentlichkeit und er wird deshalb vom Tagebuch auch ganz anders adressiert. Im Grunde handelt es sich um einen Spezialfall der doppelten Adressierung,86 die wie immer auch hier durch die Anonymität des Textes unterstützt wird. Es gibt einen Leser, der das Tagebuch in Unkenntnis der individuellen Autorschaft liest – die literarische Öffentlichkeit – und einen Leser, dem diese Autorschaft gar nicht verborgen werden kann – Gott. Das Tagebuch kann also aus der Perspektive zweier Beobachter, das heißt zweier Leser und entsprechend zweier Adressaten gelesen werden, wobei die Perspektive eines Lesers natürlich nur imaginiert werden kann. Da der Beobachter vom Tagebuch vor allem hinsichtlich der Effekte kalkuliert wurde, die seine Beobachtung beim Selbstbeobachter hervorruft, heißt das auch, dass die Beobachter hinsichtlich der unterschiedlichen Effekte zu unterscheiden sind, die sie beim Selbstbeobachter hervorrufen. Das betrifft in erster Linie die Scham des Selbstbeobachters, die im Wechsel von der einen Beobachtungsperspektive zur anderen eine Umwertung erfährt. Scham, die dem Publikum gegenüber eine Verzerrung der Beobachtungssituation darstellt, hat Gott gegenüber eine andere Bedeutung. Die Gefahr, dass sich der Beobachtete verstellt, weil er sich schämt oder sich schämen könnte, besteht Gott gegenüber gar nicht, weil Gott den Menschen ohnehin sieht, wie er ist. Dessen Blick könnte sich der Beobachtete also gar nicht entziehen. Aus diesem Grund hat das Tagebuch vor Gott einen anderen Status als vor der literarischen Öffentlichkeit. Während für diese Lavater mit seinem Text identisch ist und das Tagebuch deshalb tatsächlich das intimste Selbstbekenntnis darstellt (außer für enge Freunde, die die Person von ihrem Text zu unterscheiden vermögen), beobachtet Gott die Differenz zwischen der Wahrheit des Menschen, dem metaphorischen ›Herzenstext‹ und dem von ihm verfassten Text. Diesem unhintergehbaren Beobachter gegenüber nimmt Scham eine andere Qualität an. Sie entspringt der eigenen Unzulänglichkeit, derer man sich vor Gott bewusst wird. Je mehr Scham, so ließe sich die christliche Rechnung aufs Heil machen, umso größer die Übereinstimmung des Selbstbeobachters mit dem Blick Gottes, das heißt umso aufrichtiger. Prinzipiell ist ja Scham ein religiös indiziertes Gefühl. Sie ist nicht nur potentieller Zweifel an der Ordnung der Schöpfung, sie ist auch der psychologische Index des
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delt so die Scham ihrerseits in eine imaginierte. Um, wie er schreibt, die Personen zu schützen, die zwangsläufig mit seinen Bekenntnissen verbunden sind, sollen diese nicht nur nach seinem, sondern nach dem Tod aller dort erwähnten Personen erscheinen. Für diesen Zeitpunkt jedoch wird auf die Verbindung seines Namens mit seinen Bekenntnissen gerechnet: »mais puisqu’enfin mon nom doit vivre, je dois tâcher de transmettre avec lui le souvenir de l’homme infortuné qui le porta« (ebd., S. 400). Vgl. dazu Stephan Pabst, »Anonymität und Autorschaft«, in diesem Band. Phänomene der doppelten Adressierung werden vor allem von Kaminski und Dönike besprochen.
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Sündenfalls. Im Gefühl der Scham ist der Sündenfall Adams und Evas präsent, die sie nach der Vertreibung aus dem Paradies zuerst empfanden. Im Sinne eines solchen Sündenbewusstseins spielt Scham im Geheimen Tagebuch die Hauptrolle unter den christlichen Gefühlen. Kaum ein Tag, an dem sich Lavater nicht schämt oder andere mit seinen guten Handlungen ›beschämt‹.87 Da das Sündenbewusstsein ein wesentlicher Schritt des Menschen in der Geschichte seines Heils und eine Beglaubigung der Aufrichtigkeit gegenüber Gott ist, stachelt sich Lavater sogar selbst zur Scham an und sucht ›Nahrung‹ für seine Scham.88 Freilich geht es perspektivisch darum, die Gründe der Scham zu tilgen. Ziel des christlichen Menschen muss es deshalb sein, sich vor Gott und vor sich selbst nicht mehr schämen zu müssen: »Ach! Mein Gott, wie ausschweifend und unlauter sind meine Gedanken! wann wird einmal mein Herz so beschaffen seyn, daß ich mich selbst ohne Erröthen ansehen darf!«89 Vorläufig indiziert Scham gegenüber Gott aber immerhin Bewusstsein der Unzulänglichkeit und ist Movens der Besserung. Diese Umwertung der Scham hat Auswirkungen auf die Bedeutung der Anonymität. In dem Maße, in dem Scham nicht mehr der potentielle Grund der Verstellung, sondern Zeichen der Aufrichtigkeit ist, hat sie Teil am Heilsweg des christlichen Menschen. In der Scham vergegenwärtigt er den Sündenfall der Menschheit, er wird sich seiner eigenen Sünden bewusst und er kommt Gott näher, indem Scham der Antizipation des göttlichen Blicks ja erst entspringt. Wer sich schämt, will von Gott als guter Christ erkannt und erlöst werden. Das Zeichen dieser Erkenntnis ist der Name des Menschen: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!«90 Die biblische Metapher vom »Buch des Lebens« bezeichnet nicht nur das biographische Buch des einzelnen Menschen, sondern auch eine Art Register, in dem die Namen aller Gerechten verzeichnet sind.91 Im Namen wird der Mensch von Gott als Gerechter und als erlösungswürdig erkannt. Von Gott also will der Mensch beim Namen gekannt und genannt werden. In die Differenz zwischen Anonymität und Onymität trägt Lavater mithin eine heilsgeschichtliche Perspektive ein. Der Gerechte, der von den Menschen verkannt wird, wird von Gott erkannt. Eine Abhandlung, die Lavater in sein Tagebuch einrückt, umreißt diese Differenz exemplarisch: Oftmals bleibt die Stärke der Seele des Tugendhaften verborgen. Er genießt das seltene Glück, daß Gott und sein Gewissen die einzigen Zeugen seiner Tugend sind; aber der Richter unserer Handlungen [...] wird diese Verborgenheit selbst zu dem Maaße der Tugend eines Gerechten hinzufügen. Sein Name wird in keinem andern Buche, als in dem Buche des Lebens verzeichnet stehen, und seine stille Seelengröße wird für ihn eine Hinterlage seyn auf jenen Tag.92
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So beantwortet Lavater ein Fehlverhalten seiner Magd damit, dass er sie ausdrücklich nicht bestraft, sondern ein Bündel Wäsche für deren Mutter mitgibt: »In der That ein Triumph für mich, sie so bestürzt, so beschämt zu sehen.« Lavater 2009c (wie Anm. 16), S. 91. Ebd., S. 177. Ebd., S. 121. Jes. 43.1. Vgl. 2. Mos. 32.32; Ps. 69.29; Dan. 12.1; Lk. 12.1; Offb. 3.5, 17.8, 20.12–15. Lavater 2009c (wie Anm. 16), S. 168.
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Anonymität, heißt das für ein anonym erscheinendes Tagebuch christlicher Selbstprüfung, ist für den Gerechten eine Bedingung seiner irdischen Existenz. Die Mehrzahl seiner Taten bleibt verborgen. Die Welt kennt ihn als Gerechten nicht. Diese Namenlosigkeit vor der Welt zu ertragen, ist eine Bedingung seines Heils, insofern sie von dem Vertrauen zeugt, dass Gott ihn kennt, und insofern er sich mit seiner Anonymität bewusst vor der Welt erniedrigt. Natürlich ist auch diese transzendente Beobachtungsökonomie auf die weltliche Beobachtungsökonomie abgestimmt, insofern der Text auf ein christliches Publikum zielt, dass die Anonymität als Geste der Selbsterniedrigung zu lesen vermag. Die angeblich unautorisierte Herausgabe des Tagebuchs und Lavaters schließliche Enttarnung hätten dann für den Autor des Tagebuchs auch den Vorteil, dass er diese Intention für sich reklamieren und sich gleichwohl dem Publikum gegenüber als Gerechter vor dem Herrn darstellen könnte.
VI. Die Beobachtung der Zensur Das alles bedeutet freilich nicht, dass die von Lavater ausdrücklich gemachten Gründe seiner Anonymität die einzigen gewesen sein müssen. Die Verlegung des Druckortes gibt vielmehr Anlass zur Spekulation über weitere Motive. Die Publikationsgeschichte, die Lavater in der Vorrede zu seinem Tagebuch erzählt, begründet ja nicht allein die Anonymität des Textes, sondern auch dessen Erscheinen in Leipzig. Wie man sah, ist es unwahrscheinlich, dass Lavater auf den ganzen Hergang der Publikation keinen Einfluss mehr hatte. Von Lavaters Seite aus sind zwei Gründe für die Publikation des Tagebuchs in Leipzig denkbar. Abgesehen von der Bedeutung Leipzigs als Verlagsort zahlte Reich erstens verhältnismäßig gute Honorare93 und war für die vorzügliche Ausstattung seiner Bücher bekannt.94 Da das Tagebuch einige Kupferstiche enthielt, dürfte die Qualität der Bücher bei Reich eine gewisse Rolle für Lavater gespielt haben. Von dieser Qualität profitierte Lavater dann auch bei der Publikation der Physiognomischen Fragmente. Zweitens konnte Lavater mit der Publikation des Tagebuchs in Leipzig die Züricher Zensur umgehen, die im 18. Jahrhundert als verhältnismäßig streng galt. Da sich die Züricher Zensur aber nicht allein für in Zürich verlegte oder vertriebene Schriften, sondern auch für solche zuständig fühlte, die von Züricher Autoren stammten,95 war das freilich nur dann möglich, wenn man zugleich den Namen des Autors verschwieg. Zwar beinhaltete das Tagebuch keine Religions- oder Staatskritik, die die Zensur vor allem auszuschalten ver-
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Vgl. Hazel Rosenstrauch, Buchhandelsmanufaktur und Aufklärung. Die Reformen des Buchhändlers und Verlegers Ph. E. Reich (1717–1787), Frankfurt a. M. 1986, S. 107f. Das betrifft den Druck, die Illustrationen und die Qualität des Papiers. Vgl. Hennig 1990 (wie Anm. 25), S. 107ff. Ein Avertissement an das Publicum ohne Vorwissen u. Bewilligung der Lobl. Censurkammer nichts zum Druck zubefördern aus dem Jahr 1775 richtet sich vornehmlich auf solche Schriften, die »entweder von hiesigen Bürgeren verfasst, oder wenigstens der Stoff dazu von solchen gelifferet worden seye«. Staatsarchiv Zürich E I 24.
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suchte. Aber die Zensur ging auch gegen Schriften vor, die der »Ehre und Ruhe Unsers politischen Standes nachtheilig und verweislich; oder der Ehrbarkeit und guten Sitten anstoessig seyn, und zur Aergernis gereichen moechte«,96 die also einfach den störungsfreien Ablauf des öffentlichen Lebens betrafen. In diesem Punkt hatte sie bereits am dritten Stück des Erinnerers Anstoß genommen, in dem Lavater in Form eines ›Traumes‹ von den Folgen übler Nachrede berichtet und sich damit wohl auf einen konkreten Fall bezieht, der sich in Zürich zugetragen hatte, so dass sich der ›Traum‹ trotz der fiktionalen Einkleidung auf bestimmte und für den Leser erkennbare Personen bezieht.97 Was hier als Grund für die Beanstandung des Erinnerers angeführt wird, ist als Vorbehalt gegenüber dem Tagebuch natürlich auch denkbar. Die im Erinnerer beanstandete Stelle gibt sich ja selbst als Tagebuchszene aus, freilich strategisch, um die Form des Traums als Form der Verhüllung platzieren zu können. Auch im Geheimen Tagebuch schließt die Selbstbeobachtung notwendig die Beobachtung anderer Personen ein, über die zwangsläufig auch Aussagen gemacht werden, die natürlich beanstandet werden könnten. Dass Rücksichten auf die Zensur die Entscheidung, das Tagebuch anonym und in Leipzig zu publizieren, wenigstens begünstigt haben könnten, wird auch dadurch nahe gelegt, dass die von Lavater erzählte Publikationsgeschichte exakt dem Verfahren entspricht, das andere Autoren erklärtermaßen anwandten, um sich dem Zugriff der Zensur zu entziehen. Als es 1766 auf der Kippe steht, ob Lavaters Schweizerlieder in Zürich erscheinen können und es zunächst den Anschein hat, als dürften die Lieder »nicht gedruckt werden«,98 weil die Zensoren Anstoß am republikanischen Inhalt der Lieder nehmen, erwägt Lavater, den Druck nach Bern zu verlegen. Die Zensurkommission wird sich zwar später umstimmen lassen – die Voten der einzelnen Kommissionsmitglieder sind erhalten geblieben99 –, das konnte aber Lavater zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Die Mitteilung dieses Entschlusses gegenüber Johann Georg Zimmermann, die Lieder in Bern drucken zu lassen, verdeutlicht auch, wie trickreich ein Autor, ein anonymer zumal, dabei vorgehen musste. Da er die Lieder offenkundig nicht einfach selbst in Bern zum Druck geben kann, weil er als Züricher Autor auch dort der Züricher Zensur unterliegt, wolle er, im Fall die Züricher Zensur wende etwas gegen den Druck ein, einen Brief an Zimmermann schreiben, in dem er ihm die in Zürich abgelehnten Lieder zum Geschenk mache, worauf Zimmermann behaupten könne, er habe sie aus eigenem
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Sammlung der Bürgerlichen- und Policey-Geseze und Ordnungen, Lobl. Stadt und Landschaft Zürich, Bd. 3, Zürich 1757, S. 78f. Hermann Escher, »Lavater und die Büchercensur«, in: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1902, Zürich 1902, S. 132–145, hier S. 134. Lavater an Zimmermann, 11. November 1766 (wie Anm. 27). Eschers Rekonstruktion des Vorgangs (vgl. Escher 1902, wie Anm. 97, S. 137ff.) setzt erst an dem Punkt ein, an dem sich die Kommission in einer Reihe von Voten ihrer Mitglieder entschließt, den Druck doch zu gestatten. Das vorausgegangene Verbot der Lieder erfasst er nicht. Scheinbar ist es nicht in den erhaltenen Zensurakten, sondern nur in Lavaters Brief dokumentiert. Lavater selbst hat kurz nach dem 11. November von diesen Neuigkeiten erfahren. In seinem Brief vom 16. November 1766 an Zimmermann berichtet er davon. Vgl. FA Lav Ms 589b. Vgl. Staatsarchiv Zürich E I 23.3. 58. Escher gibt sie in seinem Aufsatz wieder. Vgl. Escher 1902 (wie Anm. 97), S. 138ff.
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Antrieb veröffentlicht, da er scheinbar in diesem Fall nur der Berner Zensur unterläge. Auf die Mitteilung dieser Entwicklungen antwortet Zimmermann mit einer Empfehlung, wie Lavater nicht nur in dieser Sache, sondern prinzipiell im Umgang mit der Zensur zu verfahren habe: Was soll ich anfangen, sagst du? Das, Lavater, [du] sollst keiner Censur trauen. Die züricherische kennst du –. Die bernerische bestehet einzig und allein in dem Professor Stapfer, der höchst vermuthlich kein Feind ist, obschon [er] mir niemals kein Wort von dir sagt. Ich schließ also dahin, deine Schweizerlieder, deinen Breitinger, kurz alle deine Werke must du durch andere herausgeben lassen, und zwar immer so, das man aus der Vorrede schließen muß, du habest dieses nicht dem Drucke bestimmt, sondern dein Freund habe es ohne dein Vorwissen drucken lassen. – Nun, deine Schweizerlieder – die must du zu Bern dem Herrn von [unleserlich] dem Schinznacher übergeben, und ihn zuvor durch den Pfarrer Imhof deine ganze Angelegenheit erzählen, und das nöthige insinuiren lassen. Diesem Berner kannst du da, wo vigeur vonnöten ist, am besten trauen; dieser nimmt sodann die Sache über sich, und deine [unleserlich] dir die löbliche Censuren von Zürich und Bern in den Hintern blasen.100
Einen ganz ähnlichen Ratschlag gibt der Verleger Salomon Gessner seinem Autor Josef Anton Felix Balthasar für dessen Schrift De Helvetiorum iuribus circa sacra: »Wir werden in einem kleinen Vorbericht sagen, diese Schrift sey nur ohne Brief und ohne Benennung des Verfassers zugesandt worden«.101 Auch der Herausgeber des Erinnerers Bürkli bedient sich im Fall des beanstandeten dritten Stücks dieses Verfahrens, um die Preisgabe der Autoren gegenüber der Zensur-Komission zu verhindern: Daß ich aber fataler weise ein mir durch eine unbekannte Hand zugeschiktes MSCpt. zu dem 3ten Stück gemacht und diesen Aufsatz nicht dafür angesehen, wie er jezo betrachtet wird, für nichts Besonderes, sonder für etwas ganz Allgemeines, sonst ich Ihn ganz gewiß in Hochlöbl.e Censur wurde gesandt haben, um außer aller Schuld Verantwortung, und mir Selbst vor Schaden zu seyn, darfür bin ich im Nammen des unbekannten Authoris gebüßt.102
Strukturell geht es bei dieser Verdopplung der Anonymität einfach darum, die Spur zum Autor zu verwischen. Zwar bedeutet die Tatsache einer strukturellen Analogie zwischen
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Zimmermann an Lavater, zwischen dem 11. und 15. November 1766, in: Zentralbibliothek Zürich, FA Lav Ms 533.99. Guinaudeau datiert den Brief Zimmermanns an Lavater auf den 15.11.1766. Vgl. Olivier Guinaudeau, Jean-Gaspard Lavater. Études sur sa vie et sa penée jusqu’en 1786, Paris 1924, S. 556. Allerdings fehlt der Anfang des Briefes von Zimmermann, sodass eigentlich nur gesagt werden kann, dass er nach dem 11. November geschrieben sein muss, da er auf einen Brief Lavaters vom 11. reagiert, und vor dem 16., da Lavater in seinem Brief vom 16. November auf Zimmermanns Brief Bezug nimmt. Gerhardt 1952 (wie Anm. 20), S. 13 verweist auf den Brief, kann aber nur vermuten, dass der Ratschlag auf die Zensur reagiert, weil er nur den Briefausschnitt kannte, den Guinaudeau zitiert, aus dem der Argumentationszusammenhang nicht ersichtlich wird. Zit. nach Thomas Bürger, Aufklärung in Zürich, Die Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner, Füssli & Comp. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie der Verlagswerke 1761–1798, Frankfurt a. M. 1997, S. 170. Zur Zensur in Zürich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. ebd., S. 161–174. Ehrerbietiges Memoriale an hochlöbl. Bücher-Censur den Erinnerer ein Moral.=Wochenblatt betreffend, 15. Februar 1765, in: Staatsarchiv Zürich E I 23.3. 20.
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dem Verfahren Gessners, Zimmermanns oder Bürklis und dem Lavaters noch nicht, dass seine Anwendung identisch motiviert ist. Und sicher kann das Tagebuch anders als die Schweizerlieder kaum politisch gelesen werden, was die Gefahr einer Beanstandung durch die Kommission minimiert. Aber es fällt eben auf, dass die Verfahren, die Lavater anwendet, denen gleichen, mit denen man im 18. Jahrhundert die Zensur zu umgehen versuchte, und dass die Vorbehalte gegenüber der Zensur – Zimmermann spricht ganz allgemein von den »Gewalttätigkeiten dieses Tribunals«103 – so ausgeprägt sind, dass man sie nicht nur von Fall zu Fall, sondern in jedem Fall zu umgehen versucht. Tatsächlich ist von der Züricher Zensurkommission, die noch im Jahr des Erscheinens Wind von Lavaters Autorschaft bekam, beanstandet worden, dass ihr das Geheime Tagebuch nicht vorgelegt und »weder in dem VerlagsCatalogo noch durch das Wochenblatt feilgebotten worden« war, »mithin die hiesige Censur in Conformitaet der Obrigkeitl. Censurordnung vorbeygegangen seye«,104 sie also gar keine Möglichkeit hatte, das Manuskript gegebenenfalls von sich aus einzufordern. Allerdings gibt man sich mit Lavaters Darstellung der Publikationsgeschichte zufrieden und konzediert, dass: der Herr Diacon Lavater über diseren Vorfall selbs in verlegenheit gesezt worden, da diseres Stük ohne sein wißen und willen die Preße verlassen, und ihme von H. Pfarrherr Zollikofer zu Leipßig ein Exemplar davon unerwartet übersendet worden etc. des mehreren übernohmen dem H. Diacon Lavater disfahls im nammen L. Censur die nöthigen Vorstellungen zu machen, dass er könftighin mit seinen Mscrpt: sorgfältiger umgehe und solche unordnungen, die gegen die Censur laufen, zu verhüten trachte, auch dem H. Zollikofer für sein partictulare zuschreiben, daß er mit verlegung der Schriften seiner Züricherischen Freunden mehr Vorsichtigkeit gebrauche, und dise nicht soleicht in die verlegenheit seze, gegen die L. Censur verantwortlich zu werden.105
Was aus dieser Reaktion der Zensurkommission zu schließen ist – ob sie so machtlos war, dass sie nachträglich keine Sanktionen verhängen konnte, so ahnungslos, dass sie Lavater tatsächlich glaubte, oder so ironisch, dass sie mit dieser Äußerung ihr Wissen um den wahren Hergang anzeigte –, lässt sich nicht sagen. Offensichtlich stieß sich die Kommission weniger am Inhalt der Schrift als an der Art und Weise ihrer Publikation. Immerhin belegt die Reaktion aber auch, dass Lavater die Kommission bewusst hintergangen hatte. Wohlweislich war das Tagebuch gar nicht erst in den Verlagskatalog aufgenommen worden, in dem sich die Kommission über Neuerscheinungen informierte. Im zweiten Teil des Tagebuchs nimmt Lavater auf die Zensur in einer Weise Bezug, die es zumindest nahe legt, dass es irgendeine Beanstandung des ersten Teils gegeben hat, wenngleich auch hier nicht klar wird, worin genau sie bestand: Wahrlich, mein Freund, ich bin fast müde, für ein Publicum zu schreiben, dem man bey einem Buche, das den Titel führt: Beobachter seiner Selbst, noch sagen muß; dessen Censoren man
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Zimmermann an Lavater, 1766 (wie Anm. 100). Censur Manual sub Conrado Hirzelio Secret. Ao 1769, Actum Donnstags den 5. Septembris 1771, in: Staatsarchiv Zürich E I 24, pag. 9. Ebd., pag. 9f.
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noch vorbuchstabiren muß: Es ist Beobachtung; was Beobachtung ist, ist nicht Vorschrift, nicht Regel, Grundsätze für alle, Beyspiel ohne Einschränkung!106
Wenngleich Lavater also das Tagebuch nicht wegen der Zensur anonym in Leipzig publizierte, so schien er die Möglichkeiten, die Kommission zu umgehen, die aus dieser Publikationsform resultierte, doch auszunutzen, um kein Risiko einzugehen. Dabei muss es noch nicht einmal darum gehen, dass Lavater aufgrund derartiger Beanstandungen irgendwelche Strafen zu erwarten gehabt hätte. Aber das fehlende Placet der Zensoren bedeutete wenigstens eine Behinderung des Drucks und damit des Vertriebs eines Buches, so dass dem Autor ebenso wie dem Verleger natürlich immer auch finanzielle Einbußen aus den Entscheidungen der Zensoren erwachsen konnten. Freilich ist auch der Fall denkbar, dass Lavater nicht anonym bleibt, weil er die Zensur-Kommission umgehen möchte, sondern dass er die Zensur-Kommission umgeht, um anonym bleiben zu können. Denn im Fall des Erinnerers hatte die Kommission darauf gedrungen, die Namen der Autoren zu nennen. Der Verleger David Bürkli hatte dieses Ansinnen recht beherzt und mit Erfolg abgewiesen und dabei zugleich darin erinnert, dass der Kommission eine codifizierte Grundlage für ihr Vorgehen fehle. In einem Engpass habe er für die Wochenschrift Mitarbeiter nur unter der Bedingung der Zusage gewinnen können, dass er deren Namen verschweige: Erlauben Sie, daß ich mit aller schuldigen Ehrerbietigkeit diese Zumuthung Ihnen zu bedenken gebe, besonders weil ich dardurch an der bisherigen Freyheit gekränkt wurde, die vermag, die Sachen und Schriften eines Authoris in die Censur zu liefern, aber nicht, wann man verdeckt bleiben will, den Namࡄ en zu eröffnen, wovon wir so viele Exempel haben, worauf ich billig stütze und hoffe, daß ich gleiche bürgerliche Freyheit genoß und theilhaftig seyn werde. Denn noch keinen Anonymum hat man gezwungen, sich zu entdecken, die Censur geht über Schriften, nicht über ihre Verfassern. Wann eine approbiert worden, ward sie gedruckt, ist sie verworfen worden, so mußte sie ungetruckt bleiben; ich finde auch in den Censur-Artiklen keinen hohen Befehl dazu, und deßen kan und werde ich mich behelfen.107
Aber prinzipiell machte das Vorgehen der Kommission natürlich auch klar, dass sie, wenngleich mit ungewissen Aussichten auf Erfolg, darauf drängen konnte, den Namen des Autors herauszugeben. 1766, nachdem der Erinnerer den Verlag gewechselt hatte und nicht mehr bei Bürkli, sondern bei Heidegger und Compagnie erschien, verfügt die Zensur-Kommission – diesmal nahm sie an einem Trinklied Anstoß – erneut, »daß fürhin ein jedes Stuk in Mauscript Vierzehentag eh’ es gedrukt wird in die Censur gethan, und keines angenommen werden solle, darunter der Verfaßer nicht seinen namen gestellt habe«.108 Auch von den neuen Verlegern scheint diese Auflage erfolgreich abgewehrt worden zu sein. Bis zum Schluss und auch nach dem neuerlichen Verlagswechsel zu Fuesslin und Compagnie wird der Erinnerer die Verfasser der einzelnen Beiträge nicht nennen. Aber, soviel konnte Lavater dem Vorgang entnehmen, sein Name war nicht sicher vor der Zensur. Seine Publikationsstrategien lagen nicht nur in seiner Hand, son-
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Lavater 2009a (wie Anm. 4), S. 756f. Ehrerbietiges Memoriale 1765 (wie Anm. 102). Actum Montags den 23ten Junii 1766, in: Staatsarchiv Zürich E I 23.3.61.
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dern auch in der Hand seiner Züricher Verleger, die gegenüber der Zensur rechenschaftspflichtig waren. Und letztlich war es von der Standfestigkeit des Verlegers abhängig, ob er Lavaters Namen gegenüber der Zensur verschwieg oder nannte und ob er sich auf Zugeständnisse hinsichtlich der Anonymität der Publikation einließ. Diese Rücksichtnahmen auf die Zensur bleiben spekulativ. Dass zwischen der Anonymität und der Verlegung des Druckortes nach Leipzig und der Zensur ein Zusammenhang besteht, ist lediglich denkbar. Allein die Möglichkeit eines solchen Zusammenhangs macht indes deutlich, dass sich die Begründungen der Anonymität, die ausdrücklich gemacht werden, von den Gründen der Anonymität ganz oder teilweise unterscheiden können. Anders gesagt: Die Codierung der Anonymität muss von ihrer Funktion unterschieden werden. Der Fall ist wenigstens denkbar, dass Lavater die beobachtungsstrategischen Gründe der Anonymität auch benennt, um die eigentlichen Gründe der Anonymität zu verschleiern, die ihn vor der Zensur ebenso schützen, wie sie vor ihr geschützt werden soll. * Es ist also keineswegs so, dass durch die Anonymität die Interaktion der Beobachtung stillgestellt werden würde, im Gegenteil. Die Anonymität des Tagebuchs ist einer Ökonomie der Beobachtung geschuldet, in der wirkliche (Freundeskreis/Publikum), imaginäre (Gott) und mögliche (Zensur) Beobachtungsinstanzen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Diese Beobachtungsinstanzen wissen in unterschiedlicher Weise (nicht) von der wahren Autorschaft und sie wissen zugleich vom Wissen der anderen Beobachtungsinstanzen, wobei das Nicht-Wissen bzw. Wissen des einen erst durch das Wissen bzw. Nicht-Wissen des anderen seine spezifische Bedeutung gewinnt. Gott kennt den Namen, sieht aber auch, dass sich der Autor demütig vor dem Publikum anonymisiert. Die engsten Freunde Lavaters dürften den Namen des Autors gekannt haben, lesen den Text aber in dem Wissen, dass sich Lavater dem Publikum verschweigt. Das christliche Publikum des Tagebuchs liest die Anonymität als Demutsgeste seines christlichen Autors, muss dazu aber mitlesen, dass es wenigstens einen Beobachter gibt – Gott –, der den Autor kennt. Zugleich ist der Fall denkbar, dass die Beobachtung der Zensur durch die Anonymität des Textes und die Verlegung des Druckorts ausgeschlossen werden soll und die Kommission erst zu einem Zeitpunkt von dem Druck erfährt, zu dem sie ohnehin nichts mehr unternehmen kann. Das alles heißt natürlich im Umkehrschluss, dass die Anonymität einer recht genauen Beobachtung der Beobachtungsinstanzen geschuldet ist. Keineswegs wird die Selbstbeobachtung durch die Anonymität vom Bewusstsein ihrer Publizität einfach freigehalten. Gerade in der Verschaltung unterschiedlicher Beobachtungsinstanzen durch die Anonymität wird klar, dass der Text Beobachtung durch die Anonymität nicht nicht, sondern einfach anders kalkuliert.
Hannes Fricke
Ein früher Literaturskandal Über Goethes zuerst anonym und ohne dessen Wissen veröffentlichtes Gedicht »Prometheus« und den Stolz des Autors
I.
Goethes Gedicht »Prometheus«
Goethes »Prometheus«1 gehört nicht nur inhaltlich gesehen zu den interessantesten Texten des später sogenannten Sturm und Drang, sondern auch unter urheberrechtlichen, editionsphilologischen und nicht zuletzt psychologischen Gesichtspunkten: Von Goethe in einem Brief an Johann Heinrich Merck vom 7. März 1775 mitgeteilt, machten Abschriften des Textes im Kreis der Goethe-Vertrauten die Runde, von denen eine an Friedrich Heinrich Jacobi gelangte. Der zeigte das Gedicht am 7. Juli 1780 Lessing. Das Gespräch zwischen beiden gab Jacobi (mit Eingriffen) 1785 in seiner Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelsohn wieder und stellte Goethes Gedicht als quasi anonymen Text dazu. Der war als Autor jedoch leicht zu ermitteln, da das einzige weitere Gedicht im Band, »Edel sei der Mensch / Hülfreich und gut«, auch von ihm stammte, jedoch mit dem Verfassernamen abgedruckt wurde. Der Band schlug höchste Wellen und provozierte den sogenannten PantheismusStreit. Goethe reagierte schnell nach der Veröffentlichung verstimmt, fühlte sich jedoch genötigt, den Text später 1789 in seine Schriften aufzunehmen – und griff dabei (wie auch bei der Aufnahme in den ersten Band seiner Werke und ähnlich wie schon Jacobi in die anonyme Fassung) nun selbst deutlich in den Text ein. Besonders die Veränderungen können zeigen, wie im Angesicht der Zensur durch Mäßigung der Zeichensetzung, Aufbrechen oder Zusammenkleben von Zeilen, Zügelung des Sturm-und-Drang-Stils bzw. durch Rücknahme von Wortungetümen oder Neologismen ein Text zu entschärfen versucht wurde. Einige Punkte sollen hier aufgezählt werden: Nimmt man H1 (also die Fassung aus dem Merckschen Nachlass) als Ausgangspunkt, fällt auf, wie heftig Jacobi eingriff:2 Den scharfen, vereinzelnden, geradezu aggressiven Zeilenfall (v. 10–12) »Und meinen Heerd / Um dessen Glut / Du mich beneidest« fasste er in zwei Zeilen zusammen: »Und meinen Heerd, um dessen Glut / Du mich beneidest!« Nach v. 31 zog er eine Leerzeile ein, um dann vereinzelt folgen zu lassen: »Hast du’s nicht alles selbst vollendet ». V. 38 wurde aufgeweicht, indem die Schroffheit des alleinstehenden Fragepronomens »Wofür« um eine Schwundform eines Pronomen »Wofür’s?« ergänzt wurde. Dass Jacobi Schwierigkeiten mit dem Sturm-und-
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Hier zitiert nach Johann Wolfgang Goethe: Gedichte. Studienausgabe, hg. v. Bernd Witte, Stuttgart 2000, S. 69–71 [Abdruck im Anhang dieses Aufsatzes]. Grundlage ist dabei die vorbildliche Studienausgabe von Witte, vgl. Anm. 1, bzw. hier S. 214f. nach der Handschrift Mercks.
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Drang-Duktus des Gedichts hatte, zeigt aber vor allem seine Domestizierung der berühmten »Knabenmorgen / Blütenträume« aus v. 50 in »Weil nicht alle Knabenmorgen, / Blüten, Träume – reiften«. Ähnlich ging Goethe bei der Einrichtung seines Textes für die Ausgabe in den Werken 1806 vor: Das Wortungetüm strich er zusammen: »weil nicht alle / Blütenträume reiften«. Wie Jacobi verteilte er außerdem in dem Versuch, den Text zu bändigen und zu ordnen, Kommata und Ausrufezeichen nach dem Gießkannenprinzip.3 Hans Arens hat in seinem wichtigen Kommentar zu Goethes Faust eine ähnliche Bearbeitung eines eigenen Textes durch den Verfasser Goethe, nämlich den Schritt von der Früheren Fassung der Kerkerszene in Prosa zur Vers-Fassung in Faust. Der Tragödie erster Teil,4 als »Verdünnung und Erweichung«5 bezeichnet. Besonders interessant ist die Geschichte des Textes aber deshalb, weil (1) sie durch Jacobis Strategien bei der anonymen Veröffentlichung einiges Licht auf die Umgehung und gleichzeitige Instrumentalisierung der damaligen Zensur wirft, (2) die spätere Veröffentlichung unter Goethes Namen bzw. die Aufnahme (und Bearbeitung) in seinen Werkkanon umgekehrt einiges über den Stolz eines selbstbewussten Autors aufzeigt und (3) sich in diesem Beispiel die in dieser Zeit geführte Debatte um die Problematik von unerlaubten Nachdrucken, längeren Zitaten und ›geistigem Eigentum‹ paradigmatisch widerspiegelt. Die anonyme Erstveröffentlichung im Druck durch Jacobi Jacobi muss sich der Sprengkraft seines Sammelbandes von Beginn an bewusst gewesen sein. Spinoza-Sympathie- und Pantheismus-Vorwürfe konnten ihm nur Ärger mit der Kirche und der Zensur einhandeln. Der anonyme Abdruck des Gedichts wirkt also auf den ersten Blick wie der übliche und leicht nachvollziehbare Schutzversuch, den ein Herausgeber für seinen Autor wegen Nachstellungen welcher Art auch immer unternimmt. Doch auf den zweiten Blick ist dies schon nicht mehr so klar, denn seltsamerweise verfolgte Jacobi bei der Veröffentlichung des Gedichtes auf den ersten Blick keine einheitliche Strategie: In einem Teil der Exemplare fehlte das Gedicht, es findet sich nur der Hinweis: »Dieses in sehr harten Ausdrücken gegen alle Vorsehung gerichtete Gedicht, kann aus guten Ursachen [Gründen] hier nicht mitgeteilet werden«.6 In einem anderen Teil wurde es am Ende des entsprechenden Briefes, in dem das Jacobi-Lessing-
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Ähnlich wie Erich Trunz in der besonders bei diesem Text editionsphilologisch gesehen indiskutablen Hamburger Ausgabe. Vgl. hierzu Hannes Fricke, »Über Nutzen und Nachteil naturwissenschaftlich-empirischer Erkenntnisse für die Literaturwissenschaft: Neurobiologie, Hirnphysiologie, Traumaforschung und Margarete im Kerker«, in: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/faust-margareteundtrauma_fricke.pdf (Zugriff am 01.04.2011), passim. Hans Arens, Kommentar zu Goethes Faust I, Heidelberg, 1982, S. 449. Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher u. Irmgard-Maria Piske bearb. von Marion Lauschke, Hamburg 2000, S. 328.
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Gespräch wiedergegeben wurde, abgedruckt und dieser Abdruck im Brief selbst durch eine Notiz angekündigt: »S. das Gedicht am Ende des Briefes«.7 Ein Hinweis erklärt das Vorgehen:8 Nachricht. Das Gedicht Prometheus wird zwischen S. 48 und S. 49 eingeheftet. Es ist besonders [heißt: abgesondert] gedruckt worden, damit es jedweder, der es in seinem Exemplar lieber nicht hätte, es nicht darin zu haben braucht. Noch eine Rücksicht hat mich diesen Weg einschlagen lassen. Es wäre nicht ganz unmöglich, daß an diesem oder jenem Orte, meine Schrift, des Prometheus wegen, konfisziert würde. Ich hoffe, man wird nun an solchen Orten sich begnügen, das strafbare besondere Blatt allein aus dem Weg zu räumen.
Diese Variante enthält also einen expliziten Hinweis an den Buchbinder, das Gedicht einzulegen, d. h. das Blatt war nicht eigentlich Teil des Buches, wurde also gar nicht in einen Druckbogen aufgenommen bzw. entsprechend mit einer Seitenzahl versehen oder durchgezählt, sondern war von Anfang an als Fremdkörper konzipiert worden – der anonyme Abdruck unterstreicht diesen Eindruck. Dennoch wurde es dem Leser durch den Abdruck des zweiten Goethe-Gedichtes verhältnismäßig leicht gemacht, ja geradezu nahegelegt, Goethe auch als den Autor des »Prometheus« zu identifizieren, ein Bedürfnis nach Aufklärung, das sich in der Folgezeit durch den Pantheismus-Streit eher noch verstärken sollte: Der anonym abgedruckte Text schreit geradezu nach der Angabe des Verfassers. Anonymität wird hier also gerade nicht als Schutzmantel benutzt, sondern als Provokation: Der Dichter als genuiner Schöpfer wird nicht namentlich genannt, ist aber durch die inszenierte Leerstelle, die nach Füllung verlangt, übergegenwärtig, und der Leser soll sich nicht mit der Anonymisierung zufrieden geben, sondern selbst der Sache auf den Grund gehen. Goethes Reaktionen Diese These wird durch die Reaktionen Goethes9 untermauert. Doch was genau passierte? Einige Daten sollen Goethes gesellschaftliche Stellung um 1785 (Jacobis Schrift erscheint) und 1789 (das Gedicht wird in die Werke aufgenommen) beleuchten. Am 1. November 1773 heiratete Johann Georg Schlosser Goethes Schwester Cornelia – ein tiefer Einschnitt in Goethes Leben. Hauptlektüre Goethes zu dieser Zeit waren Spinoza, der Koran und Homer. Am 1. Februar 1774 begann er die Arbeit am Werther. Im Juli traf er sich mit Jacobi (Jasminlaubengespräch über Spinoza), im Dezember begegnete er zum ersten Mal Carl August. Die Weimarer Karriere nahm ihren Anfang: Am 11. Juni 1776 trat Goethe in den Staatsdienst in Weimar ein und wurde Geheimer
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Jacobi 2000 (wie Anm. 6), S. 328. Ebd., S. 328f. Es muss dabei jedoch festgehalten werden, dass Goethe zu keiner Zeit mit Jacobi brach und die schriftlichen Zeugnisse, die in der Forschung meist nur in Ausschnitten zitiert werden und entsprechend drastisch klingen, im Small-Talk des Briefumfeldes sehr viel weniger heftig wirken. Aus diesem Grunde werden hier die Zeugnisse ausführlicher zitiert.
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Legationsrat mit Sitz und Stimme im Geheimen Conseil. Im Januar 1779 übernahm er die Verantwortung für die Kriegskommission und den Wegebau. Am 7. August verbrannte er in einem Autodafé quasi als Abrechnung nun nicht mehr goutierte Werke bzw. alte Schriften. Am 5. September wurde er zum Geheimen Rat ernannt. Im September 1784 war Jacobi in Weimar zu Gast, beide reisten gemeinsam nach Jena. Im März 1785 verhandelten Carl August und der Herzog von Gotha wegen eines Fürstenbundes. Die geheime Korrespondenz wurde von Goethe eigenständig geführt. Von April bis Ende Mai quälte Goethe eine depressive Verstimmung. Spinoza beschäftigte ihn weiterhin. Am 9. Juni, also noch vor Veröffentlichung der Briefe, schrieb er an Jacobi:10 Darüber sind wir [Goethe und Herder] einig und waren es beym ersten Anblicke, daß die Idee die du von der Lehre des Spinoza giebst derjenigen die wir davon gefaßt haben um vieles näher rückt als wir nach deinen mündlichen Aueßerungen erwarten konnten, und ich glaube wir würden im Gespräch völlig zusammenkommen. Du erkennst die höchste Realität an, welche der Grund des ganzen Spinozismus ist, worauf alles übrige ruht, woraus alles übrige fließt. Er beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn ist Gott. Und wenn ihn andere deshalb Atheum [Gottloser] schimpfen, so mögte ich ihn theissimum [Gottvollster] und christianissimum [Christlichster] nennen und preisen.
Am 1. September erhielt Goethe dann von Jacobi den Spinoza-Band. Am 11. September schrieb er an diesen:11 Du sendest mir deinen Spinoza. Die historische Form kleidet das Werkgen gut. Ob du aber wohl gethan hast mein Gedicht mit meinem Nahmen vorauf zu setzen, damit man wie bey dem noch ärgerlichern Prometheus mit Fingern auf mich deute, das mache mit dem Geiste aus der dich es geheißen hat. Herder findet lustig, daß ich bey dieser Gelegenheit mit Lessing auf Einen Scheiterhaufen zu sitzen komme. Wir leben gut und freundlich hier zusammen, obgleich Frau v. Stein wieder auf ihr Gut ist. – Fritzen habe ich nach Frankfurt geschickt damit er Blanchard12 in die Luft steigen sehe und in der Messe als einem Theile des Orbis pieti [sic] umherlaufe.
Das Thema ließ ihn nicht los. Am 26. September 1785 schrieb er:13 Es war die Absicht meines letzten Briefes nicht dich in Verlegenheit zu setzen, oder dir eine Art von Vorwurf zu machen, wir wollen die Sache nun gehn laßen und die Folgen abwarten. Das Beste wäre gewesen du hättest pure den Prometheus drucken laßen, ohne Note und ohne das Blat, wo du eine besorgliche Confiskation reizest [!], alsdann hättest du auch wohl das erste Gedicht [»Edel sei der Mensch / Hülfreich und gut«] ohne meinen Namen drucken mögen u. s. w. Nun aber da es geschehen[,] mag denn die Legion ausfahren und die Schweine ersäufen.
1786 begann er im September die erste Italienreise. Am 5. Mai schrieb er einen weiteren Brief an Jacobi, hatte mit diesem also offensichtlich nicht gebrochen. Am 18. Juni 1788
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Zitiert nach: »Ich träume lieber den Fritz den Augenblick …«. Der Briefwechsel zwischen Goethe und F. H. Jacobi, hg. v. Max Jacobi, neu hg. v. Andreas Remmel/Paul Remmel, Hildesheim 2005, S. 86f. Jacobi 2005 (wie Anm. 10), S. 89. Blanchard, berühmter Montgolfier bzw. Ballonflieger der Zeit. Jacobi 2005 (wie Anm. 10), S. 90 (»Legion«: Anspielung auf die neutestamentliche Geschichte der Austreibung der unreinen Geister aus den Schweinen durch Jesu).
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kam er aus Italien zurück nach Weimar. 1790 erschienen dann Faust – ein Fragment und Tasso. Im Rückblick kommentierte Goethe den Literaturskandal in Dichtung und Wahrheit im 15. Buch. Dort beschreibt er, wie er seine Flexibilität im Entwerfen von ›Lyrik auf Zuruf‹ entdeckte:14 Diese Vorstellung verwandelte sich in ein Bild, die alte mythologische Figur des Prometheus fiel mir auf, der, abgesondert von den Göttern, von seiner Werkstätte aus eine Welt bevölkerte. Ich fühlte recht gut, daß sich etwas Bedeutendes nur produzieren lasse, wenn man sich isoliere. Meine Sachen, die so viel Beifall gefunden hatten, waren Kinder der Einsamkeit, und seitdem ich zu der Welt in einem breitern Verhältnis stand, fehlte es nicht an Kraft und Lust der Erfindung, aber die Ausführung stockte, weil ich weder in Prosa noch in Versen einen Stil hatte [...]. Indem ich nun hierbei die Hülfe der Menschen abzulehnen ja auszuschließen hatte, so sonderte ich mich, nach Prometheischer Weise, auch von den Göttern ab, um so natürlicher, als bei meinem Charakter und meiner Denkweise Eine Gesinnung jederzeit die übrigen verschlang und abstieß. Die Fabel des Prometheus ward in mir lebendig, Das alte Titanengewand schnitt ich mir nach meinem Wuchse zu, und fing an, ohne weiter nachgedacht zu haben, ein Stück [das Theaterfragment, nicht das Gedicht] zu schreiben [...]. Zu dieser seltsamen Komposition gehörte als Monolog [Goethe erinnert sich falsch; in dem Fragment existiert kein solcher Monolog] jenes Gedicht, das in der deutschen Literatur bedeutend geworden, weil dadurch veranlaßt, Lessing über wichtige Punkte des Denkens und Empfindens sich gegen Jacobi erklärte. Es diente zum Zündkraut einer Explosion, welche die geheimsten Verhältnisse würdiger Männer aufdeckte und zur Sprache brachte: Verhältnisse, die ihnen selbst unbewußt, in einer sonst höchst aufgeklärten Gesellschaft schlummerten. Der Riß war so gewaltsam, daß wir darüber, bei eintretenden Zufälligkeiten, einen unserer würdigsten Männer, Mendelssohn, verloren [Mendelssohn soll seinen Aufsatz An die Freunde Lessings am Abend des 31. Dezember 1785 eigenhändig zur Druckerei gebracht haben, erkältete sich und starb am 4. Januar 1786]. Ob man nun wohl, wie auch geschehn, bei diesem Gegenstande philosophische, ja religiöse Betrachtungen anstellen kann, so gehört er doch ganz eigentlich der Poesie. Die Titanen sind die Folie des Polytheismus, so wie man als Folie des Monotheismus den Teufel betrachten kann; doch ist dieser so wie der einzige Gott, dem er entgegensteht, keine poetische Figur. [...] Der titanisch-gigantische, himmelstürmende Sinn jedoch verlieh meiner Dichtungsart keinen Stoff. Eher ziemte sich mir, darzustellen jenes friedliche, plastische, allenfalls duldende Widerstreben, das die Obergewalt anerkannt, aber sich ihr gleichsetzen möchte.
Erstaunlicherweise hat das Gedicht aber verhältnismäßig wenig mit pantheistischen, geschweige denn spinozistischen Gedanken zu tun, geht es in dem Text doch letztlich um eine Christianisierung des antiken Helden und vor allem um die Instantiierung einer Mitleidsethik, also keinesfalls um Pantheismus, sondern höchstens um Entmachtung des einen und damit monotheistischen Gottes.15 Trotz des ganzen Ärgers stand Goethe aber zu seinem Text bzw. wollte ihn unter seinem Namen in seiner wichtigsten Werkausgabe veröffentlicht sehen – wenn auch in gemäßigter Form.
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Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit, hg. v. Walter Hettche, durchgesehene und bibliographisch ergänzte Auflage, Stuttgart 1998, S. 686f. Vgl. Ulrich Gaiers luzide Untersuchung »Vom Mythos zum Simulacrum: Goethes ›Prometheus‹Ode«, in: Johann Wolfgang Goethe. Lyrik und Drama. Neue Wege der Forschung, hg. v. Bernd Hamacher/Rüdiger Nutt-Kofoth, Darmstadt 2007, S. 57–75, passim.
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II.
Hannes Fricke
Rechtliches
In den 1780er Jahren, die ja im Zusammenhang der Editionsgeschichte des goetheschen »Prometheus« die entscheidenden sind, wurde mit Vehemenz die Debatte um die Zulässigkeit von Büchernachdrucken und längeren Zitaten geführt, etwa in Martin Ehlers, seines Zeichens Philosophieprofessor in Kiel, 230 Seiten starker Abhandlung. Auf dem Gebiet des Strafrechts wurde es interessanterweise deshalb schwierig, für ein Recht des Autors an seinem Text zu argumentieren, da »das wesentliche Erforderniß dieser [...] Verbrechen – die Entwendung einer fremden Sache aus einer fremden Gewahrsam – hier schlechterdings wegfällt«16, so einer der Rezensenten von Ehlers Buch. Auch das römische Recht half nicht weiter, denn dieses kannte nur das Recht an körperlichen Gegenständen, »nicht jedoch ein wie auch immer geartetes Geistiges Eigentum«. Die Verteidiger des unbeschränkten Büchernachdrucks wiesen also darauf hin, »dass der Käufer eines Buches das Eigentum daran erwerbe und damit nach Belieben verfahren könne; grundsätzlich könne er es auch nachdrucken«.17 Wenig hilfreich war es, sich auf die üblichen, von einem Landesherren gegebenen Druckprivilegien zu berufen, denn Privilegien gehörten zu den Steuerungsmitteln des absolutistisch-merkantilen Staates – ein generelles Interesse am Recht des Autors an seinem Werk stand quer zu dieser Denkweise. Es wurde von denen, die dem unerlaubten Büchernachdruck ablehnend gegenüberstanden, also versucht, aus dem Naturrecht heraus abzuleiten, dass der »Mensch Eigentum an seiner Person und an den Erzeugnissen seiner Arbeit« besitze. Mit der Arbeit verbinde er »diese Erzeugnisse – unabhängig davon, ob sie auf körperlicher oder geistiger Arbeit beruhen – dergestalt mit seiner Person, dass sie ebenfalls Gegenstände seines Eigentums werden«.18 Natürlich warfen sich in diesem Zusammenhang viele Fragen auf, z. B. die Frage der räumlichen (überall?) und zeitlichen (auch für Erben?) Ausdehnung des Rechts an den eigenen geistigen Erzeugnissen. Insbesondere das Problem des Nachdrucks größerer Auszüge aus Werken ohne Zustimmung des Autors oder Verlegers wurde von einigen als besonderer Fall gesehen, der vielleicht einen Ausnahmestatus eingeräumt bekommen sollte, denn die so wichtige Publikationsform etwa der Rezensionsschrift wäre akut bedroht gewesen, nämlich alle »uns jetzt so nützlichen Compilationen, Thesauris eruditionis, Magazinen, und wie diese gelehrten Fruchtböden und Ausbälgereyen alle heissen mögen«, bemerkte ein Rezensent.19 Zwar handelt es sich im Falle von Goethes Gedicht nicht um einen unerlaubten Nachdruck, aber dennoch zeigen sich die in der Debatte um den Nachdruck aufscheinenden Probleme: Anscheinend gab es ein immer stärker werdendes Bedürfnis, die Rechte des
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Nach Diethelm Klippel, »›Ueber die Unzulässigkeit des Büchernachdrucks nach dem natürlichen Zwangsrecht‹. Der Diskurs über den Büchernachdruck im Jahre 1784«, in: Das Recht und seine historischen Grundlagen, Festschrift für Elmar Wadle zum 70. Geburtstag, hg. v. Tiziani J. Chiusi u. a. (= Schriften zur Rechtsgeschichte 139), Berlin 2008, S. 477–498, hier S. 481. Ebd., S. 482. Ebd., S. 490. Nach ebd., S. 495.
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Autors an seinem geistigen Eigentum zu achten und ihn als den Urheber seines Werkes offensichtlich sichtbar zu machen. Nur unter dieser Voraussetzung lässt sich Jacobis Pseudo-Anonymisierung als Spiel mit Autorschaft als ein eben solches Spiel verstehen. Es geht nicht einfach um den Versuch, als origineller Urheber seines Werkes erkannt zu werden. Tatsächlich spielt Jacobi nicht nur mit der Zensur, sondern auch mit dem vorhersehbaren Verhalten der Leserschaft bzw. nimmt ihre Reaktionen wie die der Zensur vorweg, die wiederum auf das gewachsene Selbstvertrauen der Autoren rekurrieren.
III. Zwei Skalen Bereits an diesem einen Beispiel lassen sich einige Erkenntnisse über die Probleme gewinnen, die Autoren mit ihren Texten im Wortsinne haben: Die Schwierigkeiten, die sich aus den Drohungen der Zensur ergeben, verbinden sich mit dem Bedürfnis eines Autors, als Urheber seines Werkes in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden, und Anonymität und Autorschaft verbinden sich in diesem Fall also auf besondere Weise. Man könnte versuchen, in zwei Skalen diese Spannungen zu verorten. Die erste Skala beschreibt dabei den Text: Es gibt anonym veröffentlichte Texte, die eben diese Anonymität als konstituierendes Merkmal aufweisen. Beispiele wären z. B. das Nibelungenlied (zumindest von seinem Anspruch her gesehen). Demgegenüber gibt es Texte, die inszeniert anonym daherkommen, aber geradezu nach einem Autor verlangen, so etwa der hier besprochene Prometheus, die Nachtwachen des Bonaventura oder die -kyKriminalromane. Will man Prometheus auf einer Skala zwischen diesen beiden Polen verorten (von sich aus anonymer Text, der keinen Autor bzw. inszenierter anonymer Text, der unbedingt nach Aufklärung über die wahre Identität des Autors verlangt), würde er ganz deutlich auf der Seite der inszenierten Anonymität, die nach Aufklärung der Autorschaft verlangt, positioniert werden. Argumente hierfür sind die impliziten und expliziten Hinweise von Jacobi, auch die Tatsache, dass das einzige andere Gedicht in dem Band von Goethe ist und dort sein Name angeführt wurde, die Tatsache, dass die Herausgeberzutat bzw. Buchbinderanweisung gerade neugierig macht auf den eigentlichen Verfassernamen, oder die (dann entschärfte) Aufnahme des Textes in die von Goethe selbst zusammengestellten Ausgaben seiner Werke. Werk per se anonym Werk inszeniert anonym Eine zweite Skala soll die Rolle, die der Autor im Zusammenhang der Anonymität des Textes spielt, ausdrücken: Die Grundfrage lautet dabei, inwieweit der Autor Leidensdruck verspürt, dass sein Name als der des Autors des Werkes bekannt wird. Inwieweit ist der Autor in dieser Hinsicht provozierbar? Autor nicht provozierbar Autor provozierbar Im Falle des Prometheus könnte man sagen, dass der Text auf der ersten Skala sehr weit rechts eingeordnet werden kann (die Anonymität des Textes ist eine eindeutig insze-
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Hannes Fricke
nierte) und der Autor gleichzeitig deutlich provozierbar ist, auf der zweiten Skala also ebenso weiter rechts eingeordnet werden müsste (obwohl dies nicht so stark der Fall ist, wie bisher meist dargestellt wurde, denn man hätte sich auch den völligen Abbruch jeden Kontaktes zwischen Jacobi und Goethe von Goethes Seite aus vorstellen können).
IV.
Die Probe aufs Exempel: Batman-Comics
Es lohnt sich, an einem völlig anders gearteten Fall die Relevanz der beiden Skalen zu überprüfen: Eine der großen archetypischen Figuren der Gegenwart, der bereits 1938 erfundene Batman, wurde jahrelang unter dem Namen seines (Haupt-)Schöpfers Bob Kane vermarktet, obwohl quasi von Anfang an die Arbeit am Comic und an der Figur (etwa der Ausbau der frühen Geschichte des Helden oder die Festlegung seiner besonderen Eigenschaften – von den Geschichten selbst ganz zu schweigen) Akkord-Arbeit eines Kollektivs aus Inkern, Letterern, Zeichnern und Textern war. Und niemand beschwerte sich bzw. wollte wissen, wer genau für die einzelnen Texte verantwortlich zeichnete: Man könnte sagen, dass die Form der billigen Groschenhefte gar keinen Autor verlangte. Erst nachdem die Serie viele Jahre gelaufen war, zeigten sich erste Ansätze einer grundsätzlichen Veränderung: Zum einen wurden die Fans ernster genommen. Fanzines, also eigene Magazine für die Fans, gab es bereits seit den frühen 1950er Jahren, aber eine eigene Plattform in den Fanbrief-Anhängen der Comicausgaben, um dort persönliche Meinungen zu äußern, wurde den Comicbegeisterten erst sehr viel später eingeräumt. Hinzu kam, dass Comic-Messen – die erste »New York Comicon« fand im Jahre 1964 statt – erste Kontakte zwischen Lesern und den Comic-Machern zuließen und so diese Tendenz verstärkten. DC (also einer der mächtigsten Verlage) ließ sich zwar nicht vollständig in die Karten schauen bzw. gab immer noch nicht die Namen aller jeweils an einer Geschichte Beteiligten preis. Doch entwickelte sich aus dieser Geheimnistuerei ein beliebtes Ratespiel, bestimmte Stile und Handschriften zu erkennen: Wer hatte wo wie in welchem Umfang seinen persönlichen Stil einfließen lassen? Mitte der 1980er Jahre erschienen dann Graphic Novels, also vollständig unter dem Namen eines bestimmten Autors oder eines Kollektivs erscheinende, von der Handlung her gesehen in sich geschlossene, hochpreisige Comics, die als gebundenes Buch mit Umschlag verkauft wurden. Wegweisend war Frank Millers (* 1957) The Dark Knight Returns von 1986, Alan Moores (*1953) und Brian Bollands (*1950) The Killing Joke von 1988 sowie Arkham Asylum von Grant Morrison (*1960) und Dave McKean (*1963) von 1989. Das hatte rückwirkend wiederum auch thematische Auswirkungen: Über die Jahre hin war es immer wichtiger geworden, den jeweils neuen Batman anders als alle vorausgegangenen Sichtweisen der Figur anzulegen: Massenware war nicht mehr gefragt, sondern die unverwechselbare, als solche auch leicht zu identifizierende besondere Sichtweise eines einzelnen Künstlers oder einer Künstlergruppe. Diese Erwartungshaltung prägte wiederum die etwa zur selben Zeit produzierten ersten beiden großen BatmanSpielfilme von Tim Burton (*1958), Batman von 1989 und The Return of the Batman von 1992: Burton war auf Grund seines Erfolges der Verfilmung der Schicksale skurriler, am
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Rande der Gesellschaft stehender Einzelgänger bekannt geworden. Sein Batman (dargestellt vom keineswegs athletischen Michael Keaton, *1951) wurde solch eine seltsame Figur, ein anders als in der Comic-Vorlage im Privatleben eher unscheinbarer, schwach wirkender Mensch, der sich auch aus diesem Grunde eine Doppelexistenz als Superheld gewählt hatte. Sein martialischer Anzug wirkte nicht wie im Comic als eng anliegende zweite Haut zur Unterstreichung jeder hart antrainierten Muskelfaser, sondern als künstliche Rüstung. Die wütenden Debatten um diese in den Augen der meistem Fans indiskutable Regie und Besetzung führte zu einem der interessantesten Kapitel im Zusammenhang mit der Figur, nämlich zum Aufbegehren der selbsterklärten Hardcore-Fans unter anderem im Internet unter dem Schlachtruf »Don’t let the suits win!«. Der Schlachtruf war gerichtet gegen die Anzugträger bei Warner Bros., die als neue Eigner inzwischen DC Comics vorschreiben konnten, was diese in Sachen Batman auch in den Verfilmungen zu tun und zu lassen hatten. Die Fans nahmen den Stoff und die (in ihren Augen guten) Autoren in Schutz. Zehn Jahre später galt der Film aber als Klassiker.20 Man kann also eine Entwicklung weg vom unproblematisiert anonym erstellten Massenprodukt (letztlich nur unter dem Decknamen des Erfinders) durch das erwachte Interesse des Publikums bzw. dessen Bestehens auf Originalität beobachten, aus dem sich mit den Graphic Novels eine neue Literaturgattung entwickelte, die ihrerseits wiederum Auswirkungen auf die Urform bzw. die Heftserien hatte: Auch die Heftserien wurden nun als in sich abgeschlossene Serien über mehrere einzelne Heftausgaben hinweg angelegt, die ihrerseits originell sein mussten: Batman wird etwa in andere Zeiten, z. B. in Gotham by Gaslight, oder andere Genres, z. B. eine Splatter-Vampir-Trilogie, versetzt, um so auf originelle Art die Grenzen der Figur weiter auszutesten. Überträgt man diese Ergebnisse auf die Skalen, so zeigt sich schnell, dass für die frühen Hefte als quasi-anonyme Massenware gar kein Bedürfnis seitens des Lesers bestand, mehr über den Autor zu erfahren. Im Laufe der Zeit erstarkte dies Interesse jedoch – und der Eintrag auf der Skala würde sich entsprechend nach rechts bewegen – bis er zu Zeiten der Entstehung der Graphic Novels ganz auf der rechten Seite angekommen sein müsste. Eine ähnliche Wanderbewegung gilt für die zweite Skala: Außer Bob Kane konnte sich in den Gründerzeiten der Serie niemand hintergangen fühlen – zu Zeiten der Graphic Novels musste sich jedoch jeder Künstler von vornherein provoziert fühlen, wäre sein Name nicht genannt worden, denn Originalität und Widererkennbarkeit hatten sich zu einem konstituierenden Merkmal der Serie überhaupt entwickelt, eine anonyme Veröffentlichung war schlicht undenkbar geworden.
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Vgl. Will Brooker, »Fandom and Authorship«, in: ders., Batman. Analyzing a Cultural Icon, London 2000, S. 249–307, bzw. Hannes Fricke, Batmans Metamorphosen als intermedialer Superheld in Comic, Prosa und Film. Das Überleben der mythischen Figur, die Urszene – und der Joker, in: iasl (Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur), www.iasl.online.de, dort unter »Aufsätze« (Zugriff am 01.04.2011).
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Anhang Johann Wolfgang von Goethe, »Prometheus«, Handschrift aus dem Nachlass Johann Heinrich Mercks (vermutlich aus einem Brief Goethes vom 7. März 1775) Bedecke deinen Himmel Zevs Mit Wolckendunst! Und übe Knabengleich Der Disteln köpft An Eichen dich und Bergeshöhn! Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn, Und meine Hütte Die du nicht gebaut, Und meinen Heerd Um dessen Glut Du mich beneidest. Ich kenne nichts ärmers Unter der Sonn als euch Götter. Ihr nähret kümmerlich Von Opfersteuern Und Gebetshauch Eure Maiestät; Und darbtet, wären Nicht Kinder und Bettler Hoffnungsvolle Thoren. Da ich ein Kind war, Nicht wußt wo aus wo ein, Kehrt mein verirrtes Aug Zur Sonne, als wenn drüber wär Ein Ohr zu hören meine Klage Ein Herz wie meins Sich des Bedrängten zu erbarmen. Wer half mir wider Der Titanen Übermuth Wer rettete vom Tode mich Von Sklaverey? Hast du’s nicht alles selbst vollendet Heilig glühend Herz und glühtest iung und gut Betrogen, Rettungsdank Dem Schlafenden dadroben Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert Je des Beladenen Hast du die Thränen gestillet Je des Geängsteten? Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
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Ein früher Literaturskandal Die allmächtige Zeit Und das ewige Schicksal Meine Herrn und deine. Wähntest du etwa, Ich sollt das Leben hassen, In Wüsten fliehn, Weil nicht alle Knabenmorgen Blütenträume reiften? Hier sizz ich, forme Menschen Nach meinem Bilde Ein Geschlecht das mir gleich sey Zu leiden, weinen Geniessen und zu freuen sich Und dein nicht zu achten Wie ich.
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Anonyme Theologie von Toland bis Schleiermacher
»Ich habe niemahls etwas sine nomine vel sub nomine ficto ediret […] werde auch für mich nichts ediren / darbey mein Nahme nicht stehet«.1 Diese klare Positionierung des öffentlichkeitswirksamen Aufklärers Christian Thomasius mag am Anfang auch der Überlegungen zur anonymen Theologie stehen. Denn mit der Aufklärung waren alle im Folgenden zu nennenden Theologen befasst, zugleich aber auch mit der Anonymität, die in vielfältiger Gestalt und mit sehr unterschiedlicher Funktion auftrat. Thomasius hat seinen Verzicht auf anonyme Veröffentlichungen damit begründet, dass er seinen Gegnern keinen Vorwand liefern wolle, ihn der heimlichen Verbreitung schädlicher Lehren zu bezichtigen.2 Hier zeigt sich bereits ein versierter Umgang mit Erwartungen und Erwartungserwartungen, der das Spiel (denn mitunter handelt es sich trotz allen Ernstes auch darum) mit der Anonymität durch das Jahrhundert hin prägen sollte. Eine gründliche Untersuchung zu den spezifisch theologischen Varianten anonymer Veröffentlichungen fehlt bislang. Es kann daher in diesem Beitrag nur um eine höchst selektive und vorläufige Erkundung dieses Terrains gehen, eine Erkundung, die immerhin einige Linien zu ziehen erlaubt und vielleicht auch Aufschluss für andere Fragestellungen gibt.
John Toland Im England des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts bildete sich eine Gruppe von publizistisch markant hervortretenden Denkern, die in Deutschland vor allem unter dem Etikett des Deismus bekannt wurden.3 Sie sind für unser Thema einschlägig, weil sie nicht nur viele ihrer Schriften anonym veröffentlichten, sondern zugleich eine recht
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Christian Thomasius, Kleine Teutsche Schriften, Halle 1701, Vorrede, Nr. 5. Er möchte nämlich »contestiren / wie ich so gar nicht gesonnen sey / meine doctrinas und LehrSätze zu verheelen / daß ich auch freywillig mich der Freyheit / da ich solches wohl thun / und mich verbergen könte / nicht bedienen / zu keinem andern Ende / als daß ich meinen Widerwertigen alle scheinbare Gelegenheit abschneiden wolle / als suche ich unter verdeckten / oder ohne Nahmen gefährliche und heimliches Gifft mit sich führende Lehren zu divulgiren«. Ebd., Nr. 6. Die klassische Darstellung ist immer noch Gotthard Victor Lechler, Geschichte des englischen Deismus, Tübingen 1841 (ND Hildesheim 1965). Eine detaillierte Aufarbeitung der verzwickten Rezeptionsprozesse und der damit einhergehenden frühen Legendenbildungen bietet Christopher Voigt, Der englische Deismus in Deutschland, Tübingen 2003.
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ausgefeilte Strategie damit verknüpften und eine neue Form öffentlichen Diskutierens über theologische und religionsphilosophische Themen entwickelten.4 »As writers the freethinkers tended to disguise both their views and their identities«.5 Bereits damit ist ein markantes Phänomen bezeichnet. Während in anderen Fällen die Anonymität dazu dient, Offenheit in der Sache und unvoreingenommenes Aussprechen strittiger Themen zu ermöglichen, gehört es zum Verfahren der Deisten, nicht nur den Namen, sondern auch die Sache in einer gewissen Unkenntlichkeit zu belassen und innerhalb dieses Freiraums in kreativer Weise am eigenen Bild in der Öffentlichkeit zu arbeiten.6 Allerdings spielte auch die konkrete Furcht vor Konsequenzen eine wichtige Rolle. Zwar wurde die Zensur im Jahre 1695 aufgehoben (Licensing Act), was aber nicht bedeutet, dass kritische Schriften insonderheit zu religiösen und theologischen Themen keine rechtlichen und sozialen Folgen für ihre Autoren gehabt hätten. Blasphemie war weiterhin und seit 1698 verschärft (Blasphemy Act) strafbar und erstreckte sich auf die Leugnung der heiligen Trinität (dies richtete sich vor allem gegen die Unitarier), auf die Bezweiflung der Wahrheit des Christentums oder Kritik an der Autorität der biblischen Überlieferung. Geldbußen und Gefängnis waren die üblichen Strafen für ein solches Verhalten. John Toland (1670–1722), der mit Matthew Tindal und Anthony Collins zum Kern dieser Bewegung gehörte, hatte Erfahrung mit solchen Konsequenzen. Sein Buch Christianity not Mysterious (1796) wurde in Dublin von Henkershand verbrannt, Toland selbst verließ Irland fluchtartig. Dabei hatte er das Buch7 gar nicht unter seinem Namen, sondern eben anonym veröffentlicht, doch dauerte es nicht lange, bis die Identität des Autors bekannt wurde. Das Vorwort zu seinem Buch gibt wichtige Hinweise auf die Funktion der Anonymität des Autors. Toland setzt ein mit einer Klage über die Umstände, die ihn zu einer anonymen Publikation zwingen: »And such is the deplorable Condition of our Age, that a Man dares not openly and directly own what he thinks of Divine Matters, tho it be never so true and beneficial, if it but very slightly differs from what is receiv’d by any Party, or that is establish’d by Law; but he is either forc’d to keep perpetual Silence, or to propose his Sentiments to the World by way of Paradox under a borrow’d or fictitious Name« (S. IV-V).
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Ich verweise für den folgenden Abschnitt vor allem auf die außerordentlich materialreiche und luzide Darstellung von Isabel Rivers, Reason, Grace, and Sentiment. A Study of the Language of Religion and Ethics in England, 1660–1780. 2 Bde., Cambridge 1991–2000. Zu den Deisten, die dort unter dem (angemesseneren) Namen der Freidenker firmieren, vgl. das Kapitel »The true religion of nature: the freethinkers and their opponents« (Bd. 1, S. 7–84), insbesondere den Abschnitt über die Schreib- und Publikationsstrategien (S. 31–50). Ebd., S. 31. »The freethinkers were skilfull and self-concious manipulators of their roles and their audiences« (ebd., S. 32). John Toland, Christianity not mysterious. Faksimile-Neudruck der Erstausgabe London 1696 mit einer Einleitung von Günter Gawlick und einem textkritischen Anhang, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964.
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Nicht nur das Gesetz also setzt dem Wahrheits- und Freiheitsstreben eines Autors Grenzen, sondern auch Parteien und Gruppierungen, die hier unschwer mit den tonangebenden kirchlichen und außerkirchlichen religiösen Gruppierungen identifiziert werden können.8 Solchen partikularen Gruppeninteressen entgegengesetzt sind die Wahrheit und die Vernunft. Das Hauptanliegen des Buches liegt daher in dem Nachweis, »that the Use of Reason is not so dangerous in Religion as it is commonly represented« (S. VIII). Dieser Rekurs auf die Vernunft ist zugleich ein Rekurs auf Einheit im strengen Sinne. Gegenüber allen partikularen Interessen ist daher zu betonen, dass Religion immer ein und dieselbe ist, so wie ihr Urheber: Gott.9 Und so erhebt sich Toland nicht nur über die zeitgenössischen Parteiungen, sondern auch über die Parteiungen aller Zeiten und Regionen, verpflichtet allein dem Ursprung der christlichen Religion in der Verkündigung Jesu Christi.10 Genau besehen sind es auch nicht nur die thematischen Felder selbst in ihrer Umstrittenheit, über die sich Toland hinwegzusetzen vermag, sondern er erklärt sich auch für unabhängig hinsichtlich der sozialen Zuerkennung der Kompetenz, über diese Themen zu urteilen. Weder Gelehrsamkeit noch Frömmigkeit weisen eine Person als Diskutanten aus, sondern allein die Wahrheit.11 Und das ist nun auch der eigentliche Grund für die Anonymität. »A wise and good Man will judg of the Merits of a Cause consider’d only in it self, without any regard to Times, Places or Persons« (S. XV). Ohne Ansehen der Person muss ein Urteil sich bilden, so dass also auch die Identität des Autors eines Buches, das zu solcher Urteilsbildung anleiten möchte, keine Rolle zu spielen hat. Toland vermag es sogar, dieser diskurstheoretischen Begründung von Anonymität noch eine religiöse Pointe zu verleihen. Er wendet sich am Ende an all diejenigen, »who love to call Names in Religion« (S. XXVIII). Und er fährt fort: »But I assure them, that I am neither of Paul, nor of Cephas, nor of Apollos, but of the Lord Jesus Christ, who alone is the Author and Finisher of my Faith« (S. XXVIIIf). Derart im Verbund mit dem großen Heidenapostel Paulus (vgl. 1. Kor 3,21–23) lässt Toland alle Parteiungen und Namen hinter sich, um nur auf einen Namen Anspruch machen: den eines Christen.12 In einem späteren Werk, dem Tetradymus (1720), einer Sammlung von vier Abhandlungen, die Toland unter seinem Namen veröffentlichte, findet sich eine äußerst klare und nachdrückliche Stellungnahme zur namentlichen Veröffentlichung von heiklen Wahrheiten. Toland schreibt:
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Vgl. dazu den ersten Band von Isabel Rivers (wie Anm. 4), in dem die Latitudinarier innerhalb der anglikanischen Kirche sowie Nonkonformisten, Dissenter und der frühe Methodismus behandelt werden. »But how little soever our Notions agree, and let our worldly Conveniences be what they will, Religion is always the same, like God its Author, whith whom there is no Variableness, nor Shadow of changing«. Toland 1964 (wie Anm. 7), S. XIII. »They are not the Articles of the East or West, Orthodox or Arian, Protestant or Papist, consider’d as such, that I trouble my self about, but those of Jesus Christ and his Apostles« (ebd., S. XIV). »I may probably differ in many things from Persons deservedly eminent for their Learning and Piety; but that ought to be no Advantage against me if Truth is evidently for me« (ebd., S. XV). »The only religious Title therefore that I shall ever own, for my part, is that most glorious one of being a Christian« (ebd., S. XXX).
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»Let all men freely speak what they think, without being ever branded or punish’d but for wicked practices, and leaving their speculative opinions to be confuted or approv’d by whoever pleases; then you are sure to hear the whole truth, and till then but very scantily, or obscurely, if at all«.13
Toland und seine Mitstreiter haben sich vehement gegen die Aufforderung gewandt, aus Gründen der Ehrlichkeit die Maske der Anonymität fallen zu lassen. Sie haben für das Recht der Anonymität gefochten, um am Ende dem Recht der unbefangenen Wahrheitsfindung das Wort zu reden. Nur ein Übergang kann diese Anonymität sein, ein Übergang in einer Zeit, in der zwar schon eine Öffentlichkeit besteht, in der grundsätzlich über die Grundlagen der menschlichen Existenz gestritten werden kann, in der aber noch durchweg die Macht der herrschenden kirchlichen Partei die tatsächliche Ausübung dieser freien Rede behindert. Aus diesem Pathos speist sich die Wucht der anonymen Theologie, die doch eigentlich für eine Zeit streitet, in der diese Anonymität nicht mehr nötig sein würde.
Johann Joachim Spalding Johann Joachim Spalding (1714–1804) setzte mit seinem Erstlingswerk eine leuchtende Wegmarke der Aufklärung. Die 1748 erstmals erschienene Betrachtung über die Bestimmung des Menschen war nicht nur ein Buchtitel, sondern eine Programmformel, die bis zu Fichtes gleichnamigem Werk (1800) prägend war und viele charakteristische Debatten freisetzte.14 Elf Auflagen erlebte das Buch bis 1794, ein Zeichen für das große Interesse, das in der zweiten Jahrhunderthälfte daran bestand.15 Erst in der siebten Auflage (1763) setzte Spalding seinen Namen unter die neue Widmungsvorrede.16 Hier sollen einige interessante Details der ersten anonym erschienenen Auflagen skizziert,17
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John Toland, Tetradymus, London 1720, S. 95f. Das Zitat stammt aus der zweiten Abhandlung »Clidophorus; or of the Exoteric and Esoteric Philosophy« (S. 61–100). Vgl. Norbert Hinske (Hg.), Die Bestimmung des Menschen. Aufklärung 11.1, Hamburg 1999. Johann Joachim Spalding, Die Bestimmung des Menschen, hg. von Albrecht Beutel/Daniela Kirschkowski/Dennis Prause. Kritische Ausgabe 1.1, Tübingen 2006. Anonym erschienen auch andere Bücher Spaldings, so etwa Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (1772), wo es in der Vorrede heißt: »An meinem Namen, denke ich, wird hiebey nichts gelegen seyn; er soll aber unverzüglich genannt werden, so bald irgend eine gegründete Ursache mir das zur Pflicht macht« (Kritische Ausgabe, Bd. 1.3, hg. v. Tobias Jersek, Tübingen 2002, S. 3). Erst die dritte Auflage (1791) erschien mit dem Autornamen auf dem Titelblatt. – Auch die Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum (1761) erschienen erst ab der dritten Auflage (1769) mit dem Namen Spaldings unter der Vorrede (vgl. Kritische Ausgabe, Bd. 1.2, hg. v. Albrecht Beutel/Tobias Jersek, Tübingen 2005, S. 29). – Die Schrift Vertraute Briefe, die Religion betreffend (1784) erschien ebenfalls in allen ihren drei Auflagen ohne Nennung des Autors auf dem Titelblatt, allerdings unterzeichnete Spalding in der dritten Auflage eine lange Zugabe »An den Herrn Vicepresident und Abt Jerusalem« namentlich (vgl. Kritische Ausgabe, Bd. 1.4, hg. v. Albrecht Beutel/Dennis Prause, Tübingen 2004, S. 248). Dazu beziehe ich mich im Folgenden vor allem auf die material- und perspektivenreichen Ausführungen von Albrecht Beutel in der Einleitung zur kritischen Ausgabe der Schrift (wie Anm. 15, S. XXI–XLIX).
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vor allem aber die in der verhandelten Sache liegende Plausibilität für ein Erscheinen ohne Autornamen erörtert werden. Eine schöne Pointe der Publikationsgeschichte der Bestimmung des Menschen besteht darin, dass die erste Gegenschrift bereits fertig war, bevor das Buch erschien. Johann Melchior Goeze, nachmals durch Lessing einer nicht unproblematischen Wirkungsgeschichte ausgeliefert, hatte das von Spalding in Umlauf gebrachte Manuskript offenbar ebenfalls erhalten und verfasste nun seine kritischen Gedanken dazu, das inkriminierte Werk wurde direkt im Anschluss ebenfalls abgedruckt. Auch diese bald nach dem Erscheinen der ›Bestimmung‹ an die Öffentlichkeit tretende Schrift trug keinen Verfassernamen. Der Titel lautet in barocker Vollständigkeit Gedanken über die Betrachtung von der Bestimmung des Mensch, in einem Sendschreiben entworfen von G*** nebst dem Abdruck gedachter Betrachtung selbst (Halle 1748). Der Text selbst gibt sich als ein beauftragtes Gutachten über die ›Bestimmung‹, der in Form eines Briefes an diesen ebenfalls Ungenannten präsentiert wird. Gleich eingangs behauptet der Verfasser sogar, dass er den Urheber der ›Bestimmung‹ ausfindig zu machen versucht hätte, allerdings ohne Erfolg. Dieses Spiel mehrfach verschränkter Anonymitäten hat Spalding noch dadurch leicht ironisch angereichert, dass er die nächste Auflage der ›Bestimmung‹, in der er auch auf diese Kritik Goezes (den er als Verfasser identifiziert hatte) einging, als die dritte Auflage firmieren ließ, solcherart den Abdruck seines Textes in Goezes ›Gedanken‹ als zweite Auflage anerkennend. So munter geht es in der Theologie des 18. Jahrhunderts nicht allzu häufig zu. Doch wichtiger als solche buchtechnisch und editionsphilologisch interessanten Entstehungsumstände sind zweifellos die inneren Gründe für eine anonyme Erscheinungsweise. Natürlich liegen auch hier verschiedene miteinander verwobene Motive vor. Doch sollen mögliche äußere Beweggründe, wie Bescheidenheit oder Furcht vor Kritik, hier nicht weiter verfolgt werden. Denn es gibt sachliche Gründe, die in der Anlage der Schrift selbst liegen. Eine Nacherzählung des kurzen Textes muss ich mir hier ersparen. Die leitende Idee liegt in der Frage eines ungenannten Subjekts nach seiner Bestimmung. »Es ist doch einmal der Mühe wehrt, zu wissen, warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll« (S. 1). Dass dieses Subjekt ungenannt ist und bleibt, liegt nun an der bereits im Titel ausgedrückten Frage nach der Bestimmung des Menschen. Es geht nicht um ein identifizierbares Individuum mit einer eigengeprägten Lebensgeschichte, das sich in konkreten Umständen nach seiner Zukunft fragt. Sondern es geht um einen insgesamt komplexen, aber in seiner humanen Fragerichtung durchaus schlichten Gedankengang, der jedem Individuum, das überhaupt der eingangs angesprochenen ›Mühe‹ sich zu unterziehen in der Lage ist, zugemutet werden kann. Das ›Ich‹ des Textes bietet eine Leerstelle, in die der Leser und die Leserin sich je nach Bedarf und Belieben eintragen können. Man erfährt hier also nichts von der Biographie und den Fragen eines Autors namens ›Spalding‹, sondern man erfährt, sofern man sich von dem ungenannten Autor die Linie des Sinnens und Denkens vorgeben lässt, etwas über sich selbst. Habe den Mut, Dich Deiner eigenen Bestimmung unter der behutsamen Anleitung eines anderen zu versichern. Die Frage des Menschen nach seiner Bestimmung führt diesen über Mensch und Menschenwelt am Ende hinaus. Die letzte der Stufen, die in kunstvoll gestalteten Über-
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gängen durch immer fortgehendes Sinnen und Überlegen erreicht wird, ist der Ausblick in die Unendlichkeit. »Ich will also mein ganzes Gemüth immer mehr mit der trostvollen Vorstellung erfüllen, daß ich noch in einem andern Zustande zu leben habe, worin ich nach der Natur der Dinge, und nach der gütigen Regierung der höchsten Weisheit, nichts als gutes erwarten darf« (S. 24).
Und eben darin vollendet sich das unablässige Fragen, dass »ich […] das grosse Ziel desto mehr erreichen werde, dazu ich durch meine Natur und von meinem Urheber bestimmet bin, nämlich rechtschaffen, und in der Rechtschaffenheit glückselig zu seyn« (S. 24f). Die Bestimmung vollendet sich in der Zusammenstimmung von der »Natur der Dinge« und der göttlichen »Regierung«, von menschlicher »Natur« und deren »Urheber«. Darin weist das Ende zugleich wieder an den Anfang, der in allem stufenweisen Fortschreiten nicht einfach zurückgelassen wurde, sondern in sublimierter Form auf seine Weise mitgeführt worden ist. Das stufenweise Fragen erschließt zugleich ein in sich geformtes Ganzes, ein Ganzes, das auch die Ewigkeit mit in den Blick nimmt. »Ich will mich also gewöhnen, die Ewigkeit und das gegenwärtige Leben beständig als ein Ganzes zu betrachten« (S. 23). In dieser wechselseitigen Bezugnahme von Welt und Ewigkeit findet der Mensch seinen Ort und seine Aufgabe. Johann Melchior Goeze hat dieses Ich, das durch vernünftiges Fragen zuletzt auch seiner überweltlichen Bestimmung ansichtig wird, der »Undankbarkeit gegen die göttliche Offenbarung« beschuldigt. Der Autor »hat, wenn wir seinen Versicherungen Beyfall geben, die Kentniß derselben sowol, als die völlige Ueberzeugung davon, lediglich den Kräften seiner Vernunft zu danken. Ich kan ihm solches ohnmöglich zu gefallen glauben«.18 Also sowohl die materiale Kenntnis all der entwickelten Themen als auch die damit verknüpfte Gewissheit lässt sich nach Goeze eben nicht aus der Vernunft allein schöpfen, sondern nur im Verbund mit der göttlichen Offenbarung gewinnen. Die Fragen, die sich an diese Alternative anschließen, können hier unerörtert bleiben. Jedenfalls ist Goeze nicht davon überzeugt, dass das räsonierende Ich eine anonyme, aber vernünftige Leerstelle bietet, in die sich jeder ebenfalls der Vernunft verpflichtete Zeitgenosse versetzen kann. Sondern er meint, dass das komplexe Ganze, das da erschlossen wird, von vornherein einem ganz und gar nicht anonymen, sondern in seiner Offenbarung in bestimmtester Weise kenntlichen Subjekt sich verdankt, nämlich Gott. Spalding hat in einer späteren Auflage (1763) dem ursprünglichen Schluss noch einen Abschnitt hinzugefügt, der nun in ausdrücklicher Weise an eben dieses kenntliche Subjekt sich wendet: »ich habe dem Zwecke meines Lebens, dem Grunde meiner Glückseligkeit und dem letzten Ziele meiner Wünsche nachgeforschet; und so habe ich Dich gefunden, Vater und Herr der Welt, alles belebender, wohlthätiger Geist, in dessen Betrachtung meine Seele vor Entzücken aufwallet« (S. 195). So wie Anselm von Canterbury, nachdem er dem semantischen Konstrukt »desjenigen, über das hinaus nichts gedacht werden kann«, die notwendige Existenz nachgewiesen hat, aus dieser neutralen Anony-
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[Johann Melchior Goeze], Gedanken über die Betrachtung von der Bestimmung des Mensch, Halle 1748, S. 7f.
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mität heraustritt und sagt: »et hoc es tu, domine, deus noster«19 – so findet nun auch das Abenteuer des rein vernünftigen und anonymen Bedenkens seine wahre Erfüllung in dem kenntlichen und namentlichen Gegenüber des großen und überschwänglichen Du. Freilich ruhte Anselm von vornherein in dem Gott, zu dem er nach den kühnen Abenteuern seiner Vernunft wieder zurückkehrte.20 Spalding dagegen riskiert den Bruch der vernünftig erschlossenen Ewigkeit mit dem religiös vertrauten Gegenüber im angefügten Gebet. Die Theologie wurzelt nicht mehr in der personalen Instanz namens Gott, auch wenn sie ihn am Ende noch zu erreichen versucht.
Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789) gehört mit Johann Joachim Spalding und Johann Salomo Semler zur Spitze der in der Jahrhundertmitte tonangebenden Aufklärungstheologie.21 Die Wirkungen dieser Gruppe erstrecken sich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, auch wenn die öffentliche theologische Diskussion bereits im letzten Jahrhundertdrittel oftmals andere Wege einschlug. Mit anonymen Veröffentlichungen hatte Jerusalem Erfahrung. Er begann seine schriftstellerische Laufbahn mit einer anonym herausgegebenen Schrift zum Armenwesen (nebst einer ebenfalls nicht namentlich gezeichneten Vorrede) 22 und den höchst wirkungsmächtigen Vorschlägen zur Eröffnung eines neuartigen Schultyps, des Collegium Carolinum.23 Er trat dann namentlich und vielbeachtet in die literarische Welt ein mit seinen Predigten, deren zwei Bände in immer neuen Auflagen, zuletzt in seinem Todesjahr, auf den Markt kamen. Die 1755 veröffentlichte Beantwortung der Frage Ob die Ehe mit der Schwester Tochter, nach den göttlichen Gesetzen zuläßig sey trägt zwar keinen Autornamen auf dem Titelblatt, ist aber am Ende des Textes namentlich unterzeichnet, kann also nicht als anonyme Schrift gelten.24 Umgekehrt wurde Jerusalem
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»Sic ergo vere est aliquid, quo maius cogitari non potest, ut nec cogitari possit non esse. Et hoc es tu, domine, deus noster« / »So wahrhaft existiert also etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, daß sein Nicht-Sein nicht einmal gedacht werden kann. Und das bist Du, Herr, unser Gott« (Kann Gottes Nicht-Sein gedacht werden? Die Kontroverse zwischen Anselm von Canterbury und Gaunilo von Marmoutiers, hg. v. Burkhard Mojsisch, Mainz 1989, S. 54f.). »Ergo domine, qui das fidei intellectum, da mihi, ut, quantum scis expedire, intelligam, quia es, sicut credimus, et hoc es, quod credimus« / »Herr, der du dem Glauben die Einsicht verleihst, verleih mir also, daß ich, soweit du es für nützlich erachtest, verstehe, daß du bist, wie wir glauben, und das bist, was wir glauben« (ebd., S. 51). Informationen und Materialien zu Jerusalem finden sich unter www.jerusalem.uni-wuppertal.de. Nachricht von denen Armen- und Arbeits- oder Werck-Häusern in Engelland, aus dem Englischen übersetzt, Nebst einer Vorrede von dem Nutzen dieser Anstalten, Braunschweig 1745. Vorläuffige Nachricht von dem Collegio Carolino zu Braunschweig, Braunschweig 1745. – Weitere Nachricht von dem Collegio Carolino und von der Aufnahme in dasselbe, Braunschweig 1750. – Zugabe zu der fortgesezten Nachricht, von dem Collegio Carolino, Braunschweig 1752. Der Text erschien dann nochmals mit kritischen Anmerkungen versehen: J. F. W. Jerusalems Beantwortung der Frage Ob die Ehe mit der Schwester Tochter, nach den göttlichen Gesetzen zuläßig sey. Mit Anmerkungen erläutert von M. Johann Friedrich Gühling, Chemnitz 1755.
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selbst einmal das Opfer anonymer Herausgeberschaft: Des Herrn Abts Jerusalem Gedanken zur Wiedervereinigung der christlichen Religionen erschien 1772 in Frankfurt und Leipzig (also dem typischen Verlagsortgespann für Raubdrucke). Ein Manuskript Jerusalems, das offenkundig in kleinerem Kreise kursierte, fand darin seinen Weg in die Öffentlichkeit, unter heftigem Protest seines Urhebers.25 Freilich hatte dies nur den Erfolg, dass alsbald eine weitere Ausgabe des Textes erschien, dreisterweise mit dem durchaus unzutreffenden Zusatz: »Neuer nach dem Sinn des Herrn Autoris abgeänderter Druck«.26 Doch finden sich auch zwei wichtige anonyme Schriften aus der mittleren Zeit Jerusalems, angesiedelt vor seinem höchst erfolgreichen Spätwerk, den Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion (1768ff.). Es handelt sich wiederum um eine Schrift zur Bildungspolitik sowie um eine Abhandlung zu Fragen des Pentateuchs, also der ersten fünf Bücher des Alten Testaments. Diese Veröffentlichungen sollen im Folgenden in ihrem Beitrag zur anonymen Theologie charakterisiert werden.27 Gedanken von einer bessern Vorbereitung derer die sich dem Predigt-Amte widmen lautete der Titel einer kleinen Schrift, die 1760 vermutlich in Hamburg gedruckt wurde. Gewidmet ist das Werk Georg Heinrich Ribow (1703–1774), einem verdienten Theologen und Universitätsgelehrten.28 Im Vorbericht zu einer allerdings Fragment gebliebenen vermehrten und ausgearbeiteten Fassung für den ersten Band der Nachgelassenen Schriften schreibt Jerusalem am Ende seines Lebens:
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In der Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten (Nr. 91 vom 6.6.1772) erschien in der Rubrik »Von gelehrten Sachen« ein namentlich gezeichneter Text Jerusalems, der mit den Worten beginnt: »Da es einem Ungenannten gefallen hat unter meinem Namen ein Bedenken über die Vereinigung der Protestantischen und Römischen Kirchen herauszugeben, so finde ich mich genöthigt, dargegen hiedurch öffentlich zu protestiren, und ueberlasse es dabey einem billigen Publico, den Namen darzu zu denken, den ein solches Verfahren verdient, daß man unter eines noch lebenden Mannes Namen, eine Schrift, die man etwa von ungefähr zu sehen bekommen, oder sonst erhascht hat, herausgiebt, ohne ihn vorher zu fragen«. Gegen Ende heißt es dann: »Denn da ein Verfasser, so lange er seinen Aufsatz nicht selbst bekannt macht, oder dazu seine ausdrückliche Einwilligung nicht giebt, immer die Vermuthung vor sich hat, daß er seine Ursachen habe, denselben entweder gar nicht, oder wenigstens nicht in der Gestalt bekannt zu machen, […] so behalte ich auch das Recht, diesen, ohne meinen Wissen und gegen meinen Willen so widerrechtlich vorgenommenen Abdruck, nicht für den meinigen zu erkennen«. Von der Kirchenvereinigung. Ein Bedenken des Herrn Abts Jerusalem. Mit einem Vorbericht. Neuer nach dem Sinn des Herrn Autoris abgeänderter Druck, o. O. 1772. Ebenfalls anonym erschien der Entwurf von dem Caracter und den fürnehmsten Lebens-Umständen des höchstseeligen Prinzen Wilhelm Adolph von Braunschweig und Lüneburg (Berlin 1771), den Jerusalem in seiner Eigenschaft als Prinzenerzieher verfasste. Doch berührt das nicht die Sphäre der Theologie und ist auch innerhalb dieser Gattung, zu der Jerusalem einige viel beachtete Schriften beitrug, nicht ungewöhnlich. Vgl. Das Leben des Höchstseligen Durchlauchtigsten Prinzen Albrecht Heinrichs, Braunschweig 1762, und die in kleiner Auflage (100 Exemplare) im Umfang von nur einem Bogen erschienene Schrift zum Tode des Herzogs Leopold von Braunschweig [ohne Titel, Braunschweig 1785]. Die Widmung auf dem Titelblatt lautet: »Sr. Hochwürden dem Herrn D. Ribow ehemaligen Lehrer auf der Universität zu Göttingen jetzigen Consistorial-Rath und Superintendenten in Hannover zugeeignet.«
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»wie nun ohngefähr um eben die Zeit mein vertrauter Freund, der selige Doctor Ribov von Göttingen, als Consistorialrath nach Hannover berufen wurde, so fiel es mir ein, diese Gedanken schriftlich zu entwerfen, und diesen kleinen Entwurf demselben zuzueignen. Da ich aber, aus einem mir immer natürlich gewesenen Mißtrauen zu meinen Einsichten, den Abdruck dieses an sich unbedeutenden Aufsatzes, an einem andern Orte, ohne Nahmen des Verfassers und Verlegers, veranstalten ließ, auch nur eine geringe Anzahl Exemplare davon abgedruckt wurde, so war es sehr natürlich, daß er sich gleich anfangs wenig Bemerken machte, und sich auch bald darauf völlig wieder verlor«.29
Die letzte Bemerkung hat sich bis zum heutigen Tage erfüllt, da sich erst kürzlich ein Exemplar der Schrift hat nachweisen lassen, das der Forschung der letzten hundert Jahre offenkundig entgangen ist.30 Das ›natürliche Misstrauen‹ in seine Einsichten ist zweifellos eine stimmige Begründung für ein anonymes und damit möglichst unspektakuläres Erscheinen dieser Schrift. Allerdings nimmt sie sich im Kreise der zu dieser Zeit vielfach erscheinenden Schriften zur Reform des universitären Theologiestudiums und der Pfarrerausbildung (etwa von Johann Lorenz Mosheim oder auch Johann Salomo Semler) keineswegs so bescheiden aus, wie es der Verfasser im Nachhinein nahelegt.31 Eine irgendwie wahrnehmbare Wirkung war ihr allerdings nicht beschieden. Anders verhält sich dies bei der zweiten hier zu charakterisierenden Schrift, den Briefen über die Mosaischen Schriften und Philosophie.32 Dieses im Jahr 1762 erschie-
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Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Nachgelassene Schriften. Zweiter und letzter Theil, Braunschweig 1793, S. 161. Das Exemplar befindet sich in der ULBSA Halle (Signatur: Il 335). – Die Editionslage ist deswegen ein wenig unübersichtlich, weil die erwähnte überarbeitete, wenngleich nicht vollständige Fassung in den Nachgelassenen Schriften [=NS] (wie Anm. 29, S. 157–251) begleitet wurde von dem Schlussteil des älteren Textes, der insofern diese fragmentarische spätere Fassung ergänzt (NS 2, S. 252–292). Dass die neueren Bibliographen, angefangen bei Karl Aner (vgl. ders.: Theologie der Lessingzeit, Halle 1929, S. 77), das Buch gar nicht mehr in der Hand hatten, ergibt sich daraus, dass als Erscheinungsjahr durchweg 1759 angegeben wird, während das Titelblatt das Jahr 1760 ausweist, wie es auch von den älteren Bibliographen, etwa Meusel, verzeichnet ist. Der Irrtum ist vermutlich veranlasst durch die am Ende des Textes angegebene Datierung auf den 12.2.1759 (NS 2, 64), die den Schluss eines bald darauf erfolgenden Erscheinens nahelegte. Doch führt auch die Rezension in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen (37. Stück vom 27.3.1760, S. 326–328) auf den Jahresbeginn 1760. Fritz Meyen, der verdiente Braunschweiger Bibliothekar und Lokalhistoriker, kennzeichnet das Buch in seiner umfassenden und detaillierten Bibliographie als »dem Bearbeiter nicht zugänglich« (Fritz Meyen, »Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Abt von Riddagshausen (1709–1789)«, in: Braunschweigisches Jahrbuch, 53/1972, S. 159–182; hier: S. 175f.). In der genannten Rezension (sie stammt von dem Göttinger Orientalisten Johann David Michaelis) heißt es: »es ist indeßen, so viel wir aus Schreibart und Inhalt sehen können, nicht die Arbeit eines Gönner suchenden Candidaten, sondern eines Mannes der manche gute Einsichten hat, und seine Vorschläge gern zur Wirklichkeit gebracht sehen möchte«. Ders. 1760 (wie Anm. 29), S. 326. – Zur Theologenausbildung vgl. Claus-Dieter Osthövener, »Wie hat sich die Ausbildung der Theologen in Deutschland entwickelt?«, in: Bülent Ucar (Hg.), Imamausbildung in Deutschland. Islamische Theologie im europäischen Kontext, Göttingen 2010, S. 69–80. Zum Inhalt und zum thematischen Kontext der Schrift vgl. Claus-Dieter Osthövener, »Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems Bild der mosaischen Religion«, in: Roderich Barth/Ulrich Barth/ Claus-Dieter Osthövener (Hg.), Christentum und Judentum. Akten des Kongresses der Interna-
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nene Buch bediente sich der im 18. Jahrhundert nicht ungewöhnlichen Fiktion einer Herausgeberschaft von Briefen an einen (natürlich fiktiven) Adressaten. Die vielen Beobachtungen, die er in diesem Buch zusammenträgt und die darauf hinauslaufen, dass es für die Erzählungen am Anfang der Heiligen Schrift, der heute so genannten Urgeschichte (Gen 1–11), einen namentlich bekannten Autor oder doch zumindest Erzähler gibt, der da Moses heißt, muss ich hier unerörtert lassen. Es mag aus dem Schluss der Schrift aber seine vehemente Kritik des Jean Astruc zitiert sein, also desjenigen französischen Arztes, der der heutigen alttestamentlichen Forschung als der Beginn der kritischen Quellenscheidung im Pentateuch gilt. Jerusalem schreibt: »daß er diesen heiligen Mann, diesen vortreflichen Geschichtschreiber, der auf allen Blättern seiner Geschichte den lautersten Geschmack und die schärfste Beurtheilung zeiget, ohne die geringste Wahl, in der Arabischen Wüste allerhand finstere namenlose Geschichten aufraffen, daß er Ihn diese auf die kindischste elendste Art zusammenflicken […] läßt, und Ihm […] dabey keine höhere Absicht beylegt, als daß er damit die Lücken in seinem Buche habe ausfüllen wollen« (S. 104).
Die Anonymität greift hier auf die Tradition über. War im Rahmen der starken Verbalinspiration ohnehin Gott der Urheber und Autor der Heiligen Schriften, war unter Beachtung der menschlichen Vermittlung des göttlichen Wortes immerhin noch ein identifizierbares Individuum namens Moses im Verbund mit Gott als Urheber der Erzählungen namhaft zu machen, so droht nun in der Zerfaserung der verschiedenen Textstränge und dem methodischen Verzicht auf Autorenpersönlichkeiten auch die Einheit und persönliche Bedeutsamkeit der Bibel verloren zu gehen. Diese Bedeutsamkeit durfte nicht nur geistig und kulturell vermittelt sein, sie bedurfte eines namentlichen Urhebers. Jerusalem steht hier an der Grenze zweier Zeitalter, er versucht, die individuelle Note der religiösen Mitteilung für eine Gegenwart zu retten, die sich anschickte, die biblischen Texte nur noch als Überlieferungsträger ins Unkenntliche hinein zu zersplittern. Anders als bei den anderen hier besprochenen Texten bleibt aber ansonsten die Anonymität der Schrift dem verhandelten Inhalt gegenüber äußerlich und wird somit nicht in eine auf der thematischen Ebene wirksame Anonymität transformiert.
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Mit Friedrich Schleiermacher (1768–1834) erreichen wir das Ende des 18. Jahrhunderts und blicken bereits ins 19. hinein. Die Wirkungen dieses Theologen reichen weit darüber hinaus, bis zum heutigen Tag. Sein erstes veröffentlichtes Buch Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (Berlin 1799)33 gilt als Programmschrift
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tionalen Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009, Berlin/New York 2011 [im Erscheinen]. Die Seitenzahlen im fortlaufenden Text beziehen sich auf die Paginierung der Erstauflage. Zitiert wird nach Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, hg. v. Günter Meckenstock. Kritische Gesamtausgabe I.2, Berlin/New York 1984.
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des modernen Protestantismus, deren komplexe Binnenstruktur immer noch vieles zu denken gibt. Erschienen ist dieses Buch, wie die meisten der frühen Texte Schleiermachers, anonym. Über die Gründe für diese Anonymität sind mancherlei Mutmaßungen angestellt worden, ohne dass ein eindeutiges Ergebnis zu notieren wäre.34 Da das Buch in dem intensiven Diskussionsverbund der Berliner Frühromantik entstanden ist35 und Schleiermacher während der Entstehung regelmäßig an seine Seelenfreundin Henriette Herz berichtete, war abzusehen, dass der Autor nicht lange unbekannt bleiben würde. Auch waren ernsthafte Repressionen, trotz aller Freimütigkeit Schleiermachers, nicht zu erwarten, wenngleich ein ernst mahnender und zugleich ehrlich besorgter Brief seines Vorgesetzten Friedrich Samuel Gottfried Sack nicht ausblieb.36 Immerhin mag man in diesem Punkt ein gewisses Spielen mit Erwartungen aus seinem intellektuellen Umfeld konzedieren. Wichtiger aber scheint mir zu sein, den in der verhandelten Sache selbst liegenden Gründen nachzugehen, die mit der buchtechnischen Anonymität und damit auch mit der Namenlosigkeit des Redners über die Religion verbunden sind. Diese Überlegungen werden in mancher Hinsicht einen Bogen zurück zu den deistischen Kontroversen schlagen, sie aber auch überschreiten und neues Terrain erschließen. In fünf Reden geht Schleiermacher seinem Thema auf den Grund, vier davon sind strikt der Sache selbst gewidmet: Das Wesen der Religion, die Bildung zur Religion, die Geselligkeit in der Religion und schließlich die Religionen in ihrer konkreten Vielgestaltigkeit sind die Themen der zweiten bis fünften Rede. Nur die erste nimmt zunächst einen ganz eigenen Standpunkt ein, indem das Unternehmen selbst gerechtfertigt wird, unter der assoziationsreichen Überschrift ›Apologie‹. Hier entfaltet der Redner in einem reichen Spiel mit den verschiedenen Ebenen der Sache, der Adressaten und vor allem seiner selbst ein Tableau, in dessen Bezirk dann die weiteren Reden sich ihrem jeweiligen Thema widmen. Die im Folgenden zu entfaltende These lautet, dass innerhalb dieses Tableaus die individuelle Kennzeichnung des Redners überflüssig, ja sogar irreführend wäre. Aus der buchtechnischen Strategie der Anonymität wird eine in der Sache der Religion selbst begründete Namenlosigkeit, die jedoch keinesfalls mit einer Entindividualisierung einhergeht. Eben darin besteht am Ende die eigentliche Pointe. Der Aufbau rednerischer Individualität und Singularität würde durch die Zuordnung zu einem Autornamen nicht befördert werden können. Die in reichem Maße eingestreuten Selbstvorstellungen und Selbstdarstellungen des Redners sind nicht ohne die stets damit verknüpfte Charakterisierung der Adressaten der Reden zu verstehen. »Es mag ein unerwartetes Unternehmen sein, und Ihr mögt Euch billig darüber wundern, daß jemand gerade von denen, welche sich über das Gemeine erhoben haben, und von der Weisheit
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Vgl. Kurt Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik, Weimar 1986, S. 145f.; ders., Schleiermacher, Göttingen 2001, S. 98f. Vgl. die historische Einführung des Herausgebers in KGA 1.2, S. LIII–LXXVIII. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Briefwechsel 1801–1802, hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond. Kritische Gesamtausgabe V.5, Berlin/New York 1999, S. 3–7; vgl. auch Schleiermachers Antwort a.a.O., S. 129–134.
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des Jahrhunderts durchdrungen sind, Gehör verlangen kann für einen, von ihnen so ganz vernachläßigten Gegenstand« (S. 1).
So setzt der Redner ein, mit Motiven, welche die gesamte erste Rede begleiten und strukturieren. Vor allem lässt der Redner keinen Zweifel daran, dass er als Einzelner redet, und zwar zu einer Gruppe, die zwar im Folgenden noch vielfältig charakterisiert und analysiert wird, die jedoch durchweg in ihrem Status als Kollektiv verbleibt, mögen auch hin und wieder namentliche Anspielungen eingeflochten sein. Immerhin ist es ein Kollektiv, das sich »über das Gemeine erhoben« hat, was zweifellos auch für den Redner selbst gilt. Abgrenzungen gegen »den niederen Theil des Volkes« (18) finden sich durchgehend, sie sind für die Profilierung des Verhältnisses von Redner und Gebildeten höchst aufschlussreich. Es liegt in diesem ersten Satz zugleich ein unverkennbar ironischer Ton, insbesondere in der »Weisheit des Jahrhunderts«, von der die Gebildeten »durchdrungen« sind. Die Figur des Weisen, oftmals ausgestattet mit Anspielungen auf das entsprechende Ideal der antiken Stoa, wird ebenfalls durchweg mitgeführt.37 Die Weisheit des Jahrhunderts, des saeculums, ist in diesem Sinne ›Weltweisheit‹, Philosophie, die aber in entscheidendem Sinn die Ganzheit der Welt verfehlt, indem sie die Religion vernachlässigt.38 Dennoch unternimmt es der Redner, auf gut Glück, »meinen Sinn und meine Begeisterung mitzutheilen« (S. 1). Und damit ist dann auch die lange Reihe von Selbstcharakterisierungen eröffnet, die diese Rede durchziehen. Es geht nicht nur darum »Beifall zu gewinnen« (S. 1), also den rhetorisch versierten Hörern Bewunderung zu entlocken (obwohl auch das gleichsam en passant geschieht), sondern es geht um Mitteilung in einem qualifizierten Sinne, nämlich des sensus auctoris, und es geht um Begeisterung, die ja spätestens seit Shaftesburys ›enthusiasm‹ ein fester Topos ist, die aber im Folgenden noch sehr viel weiter, nämlich bis zu den alttestamentlichen Prophetengestalten zurückgeführt wird. Denn wenn es heißt, dass über die Religion »nichts Neues« mehr gesagt werden kann, was nicht schon »von Philosophen und Propheten« sowie »von Spöttern und Priestern« gesagt wurde (S. 2), dann grenzt sich der Redner zwar vehement von den letzteren ab, stellt sich aber um so entschiedener hinein in die Rolle des Propheten (und wohl auch: des Philosophen). Denn er ist »von einer innern und unwiderstehlichen Nothwendigkeit, die mich göttlich beherrscht, gedrungen zu reden« (S. 3); eine klare Absetzbewegung gegenüber den Gebildeten, die lediglich von der Weisheit des Jahrhunderts durchdrungen sind. Im Zuge dieser Selbstcharakterisierung gibt sich der Redner dann auch als »ein Mitglied dieses Ordens«, nämlich der Geistlich-
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»Wäre es nicht glüklich genug, wenn Euere Weisen dann nur von den Besten unter Euch verstanden würden?« (S. 19). Hier liegt es auf der Hand, dass die Gruppe der Gebildeten ihrerseits mehrfach differenziert ist und die Weisen (gemeint sind vermutlich vieldiskutierte Denker wie Kant, Fichte, Schelling) allenfalls (glücklich genug) von ›den Besten‹ (ein aristokratischer Zug) verstanden werden. Die Religion ist nämlich keineswegs jenseits der Welt anzusiedeln, sondern in ihr, sofern diese recht verstanden wird: »wer einen Unterschied macht zwischen dieser und jener Welt, bethört sich selbst, alle wenigstens welche Religion haben, glauben nur an Eine« (S. 34). Ebenso steht es um »das ewige und heilige Wesen, welches Euch [!] jenseits der Welt liegt« (S. 2). Zur kritischen Sicht auf Gott und Unsterblichkeit vgl. den Schluss der zweiten Rede (S. 123–133).
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keit, zu erkennen (S. 4), von deren sonstigen Mitgliedern (»dem großen Haufen«) er sich aber zugleich scharf distanziert. »Als Mensch rede ich zu Euch von den heiligen Mysterien der Menschheit nach meiner Ansicht« (S. 5), eine Stelle, die umso interessanter ist, als die Überschreitung von Gruppenzuordnungen hin zur emphatischen Gattungsbezeichnung ›Mensch‹ begleitet wird von einem aufschlussreichen autobiographischen Einschub.39 Diese beiden Extreme der Gattung und des Individuums werden nun auch sachlich zusammengeführt, wiederum im Rückgriff auf den prophetischen Beruf: »es ist die innere unwiderstehliche Notwendigkeit meiner Natur, es ist ein göttlicher Beruf, es ist das was meine Stelle im Universum bestimmt, und mich zu dem Wesen macht, welches ich bin« (S. 5). Damit ist der Standpunkt des Redners klar umrissen. Erreicht ist ein Dreifaches: eine nicht mehr steigerungsfähige Allgemeinheit, die sich in der Notwendigkeit der Natur, mehr aber noch in der Stellenbestimmtheit im Universum ausdrückt, sodann das Ich, das eben in dieser Stellenbestimmtheit seine einzigartige und unwiederholbare Prägung empfangen hat, schließlich eine Aufgabe, eine Funktion (göttlicher Beruf) innerhalb dieses Ganzen. Alle drei Motive werden im Folgenden entfaltet und angereichert. Es dürfte aber hier bereits klar sein, dass ein Eigenname, der nun dem Redner etwa noch darüber hinaus zugeschrieben würde, dessen so beschriebene Individualität in keiner Weise bereichern könnte. Vielmehr geht gerade die Anonymität und Unnennbarkeit einher mit dem Ideal höchster Kenntlichkeit, wie in der nun folgenden Passage deutlich wird. Deren Bezug auf zeitgenössische naturphilosophische Debatten sei hier übergangen und lediglich das Ergebnis vorgestellt: »die Vollkommenheit der intellektuellen Welt besteht darin, daß alle mögliche Verbindungen dieser beiden Kräfte [sc. Aneignung und Mitteilung] zwischen den beiden entgegengesetzten Enden, da hier die eine dort die andere fast ausschließend alles ist, und der Gegnerin nur einen unendlich kleinen Theil übrig läßt, nicht nur wirklich in der Menschheit vorhanden seien, sondern auch ein allgemeines Band des Bewußtseins sie alle umschlinge, so daß jeder Einzelne, ohnerachtet er nichts anderes sein kann als was er sein muß, dennoch jeden anderen eben so deutlich erkenne als sich selbst, und alle einzelne Darstellungen der Menschheit vollkommen begreife« (S. 7 f.).
Die angezeigte Vollkommenheit enthält zwei Aufbaumomente: das Vorkommen aller denkmöglichen Verknüpfungen der beiden Grundkräfte in allen ihren Graden und Schattierungen sowie die wechselseitige Erkenntnis aller Individuen dergestalt, dass die Selbsterkenntnis mit der Erkenntnis des anderen und aller anderen in vollendeter Klarheit und Deutlichkeit gelingt. Hier sind die beiden vorhin genannten Elemente, Allgemeinheit und Singularität, miteinander vollständig vermittelt. Angesichts des idealen Charakters dieser Vollkommenheit bedarf es aber noch bedeutender Anstrengungen, die
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»Als Mensch rede ich zu Euch von den heiligen Mysterien der Menschheit nach meiner Ansicht, von dem was in mir war als ich noch in jugendlicher Schwärmerei das Unbekannte suchte, von dem was seitdem ich denke und lebe die innerste Triebfeder meines Daseins ist, und was mir auf ewig das Höchste bleiben wird, auf welche Weise auch noch die Schwingungen der Zeit und der Menschheit mich bewegen mögen« (S. 5).
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vor allem in den Aufgabenbereich der sogenannten ›Mittler‹ fallen.40 Diese Mittler zwischen den noch nicht vollkommen verteilten und zur Deutlichkeit erhobenen Standpunkten der Individuen bilden ihrerseits wieder typische Aufgabenbereiche aus. Es können dies »Helden Gesetzgeber Erfinder Bezwinger der Natur« sein (S. 10) oder sie können »als Dichter oder Seher, als Redner oder als Künstler« fungieren (S. 12). Zweifellos zählt sich Schleiermacher zu dieser letzteren Gruppe und wäre demnach »ein wahrer Priester des Höchsten« (S. 12).41 Damit ist der Weg zur zweiten autobiographischen Selbstvorstellung eröffnet. Auf dem Wege zum idealen Zustand, da es keiner Mittler mehr bedarf, indem ein umfassendes und anstrengungsloses Verstehen eine jede Mitteilung begleiten würde, auf diesem Wege bildet sich eine starke »Sehnsucht nach Mittheilung und Geselligkeit« aus, die am Ende versucht, »sich die Mitgenoßen selbst zu verschaffen, die ihr fehlen«. Und eben »dieser Gewalt«, so der Redner, »liege ich unter« (S. 14), und zwar in einem besonderen Maße im Blick auf die Mitteilung eben der Religion. Dies zu verdeutlichen, dient der nun folgende autobiographische Rückblick.42 Er mündet in die These, dass echte Mitteilung von Religion stets nur authentisch sein kann, da sie auf äußerliche Weise weder anzueignen noch mitzuteilen ist.43 Der Redner tritt also hinein in die Kenntlichkeit einer individuellen Lebensgeschichte, weil er dadurch die Legitimität seines Berufs plausibilisieren will, deren bündiger Nachweis natürlich nur durch die gelingende Mitteilung selbst erbracht werden könnte. Damit sind wir wieder bei den Gebildeten und der Frage, inwiefern sie wohl qualifiziert sein möchten, dieser Mitteilung ein unvoreingenommenes Gehör zu schenken. Eine doppelte Eingrenzung nimmt der Redner hier vor, eine territoriale und eine gesellschaftliche. Unter den europäischen Territorien kommt weder England noch Frankreich, sondern nur Deutschland als Ort seiner Reden in Frage und gesellschaftlich sind es allein die Gebildeten, die aufgrund ihres Forschens nach dem Einheitsgrund und Ursprung humaner Sittlichkeit und Freiheit als Adressaten gelten können. Denn der Redner
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Zu diesem Terminus und seiner Entfaltung vgl. Claus-Dieter Osthövener, »Die Christologie der ›Reden‹«, in: »Welche unendliche Fülle offenbart sich da …«. Die Wirkungsgeschichte von Schleiermachers »Reden über die Religion«, hg. v. Nico F. M. Schreurs, Assen 2003, S. 61–78. »Dies ist das höhere Priestertum, welches das Innere aller geistigen Geheimnisse verkündigt, und aus dem Reiche Gottes herabspricht; dies ist die Quelle aller Gesichte und Weissagungen, aller heiligen Kunstwerke und begeisterten Reden, welche ausgestreut werden aufs Ohngefähr, ob ein empfängliches Gemüt sie finde und bei sich Frucht bringen lasse« (S. 12). Die Assoziation zum Sämann der Evangelien (Mk 4, 3–9) stellt sich beinahe von selbst ein. »Vergönnet mir von mir selbst zu reden: Ihr wißt, was Religion sprechen heißt, kann nie stolz sein; denn sie ist immer voll Demuth. Religion war der mütterliche Leib in deßen heiligem Dunkel mein junges Leben genährt und auf die ihm noch verschloßene Welt vorbereitet wurde, in ihr atmete mein Geist, ehe er noch seine äußere Gegenstände, Erfahrung und Wißenschaft gefunden hatte, sie half mir als ich anfing den väterlichen Glauben zu sichten und das Herz zu reinigen von dem Schutte der Vorwelt, sie blieb mir, als Gott und Unsterblichkeit dem zweifelnden Auge verschwanden, sie leitete mich ins thätige Leben, sie hat mich gelehrt mich selbst mit meinen Tugenden und Fehlern in meinem ungetheilten Dasein heilig zu halten, und nur durch sie habe ich Freundschaft und Liebe gelernt« (S. 14f.). Davon handelt insbesondere die dritte Rede über die »Bildung zur Religion«.
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möchte sie »in die innerste Tiefen […] geleiten« (S. 19), aus denen die Religion entspringt, welches Vorhaben er mit einer recht gewagten Metapher umschreibt: »auf die Zinnen des Tempels möchte ich Euch führen, daß Ihr das ganze Heiligthum übersehen und seine innersten Geheimnisse entdeken möget« (S. 20). Wieder liegt der biblische Hintergrund offen vor Augen: die Versuchung Jesu durch den Satan (Mt 4,1–11). Allerdings findet zugleich eine Verdichtung und Umwendung des Bildes statt: Die zweite und dritte Versuchung wird zusammengezogen und der Blick geht nicht auf die Reiche der Welt, sondern in das Heiligtum hinein. Dabei will der ›Versucher‹ nichts für sich, weder Anbetung noch Verehrung. Er will etwas mitteilen, das sich nicht mitteilen lässt, sondern das die Hörer selbst »entdecken« müssen, auf dem »beschwerlichen Weg in das Innere des menschlichen Wesens« (S. 20). Der Redner kann mit keinem externen Vorteil die Gebildeten motivieren, ihre Verachtung zu überdenken und sich des vernachlässigten Gegenstandes anzunehmen. »Was nur um eines außer ihm liegenden Vortheils willen geliebt und geschäzt wird, das mag wohl Noth thun, aber es ist nicht in sich nothwendig« (S. 36). Und so tritt er am Ende aus seiner Kenntlichkeit auch wieder zurück in die Anonymität: »Ich fordere also, daß Ihr von allem, was sonst Religion genannt wird, absehend Euer Augenmerk nur auf diese einzelne Andeutungen und Stimmungen richtet, die Ihr in allen Äußerungen und edlen Thaten Gottbegeisterter Menschen finden werdet« (S. 30). Von ihm selbst ist da aber gar keine Rede. Ohnehin ist auch diese Religionshermeneutik der Andeutungen und Stimmungen nur ein Notbehelf, da sie ebenfalls lediglich sekundäre Effekte sind. Der Religion kommt man nur nahe, wenn sie »in dem unbegreiflichen Augenblik« erlauscht, da sie entsteht, immer dann, »wenn eine heilige Seele vom Universum berührt wird« (S. 30). Dazu aber kann der Redner nur hinführen, er kann werben, er kann sich kenntlich machen mit seiner Individualität. Aber wo es um diese innersten Geheimnisse geht, ist alles, wofür ein Eigenname steht, die Lebensgeschichte mitsamt all ihren äußeren Geschäften und deren Wichtigkeit, allzuoft hinderlich und ablenkend. Erst wenn sich das Wesen der Religion in seiner geheimnisvollen Fülle erschlossen hat, wäre es an der Zeit, dass »die religiösen Gefühle […] wie eine heilige Musik alles Thun des Menschen begleiten« (S. 68). Aber auch dann fügt sich das Ich nicht mehr zu einem singulären und individuellen Dasein. Vielmehr ist dann die Persönlichkeit ein »verewigtes Ich«, ein »Kompendium der Menschheit« (S. 99). Die Reden verhalten sich spröde gegen die emphatische Individualitätskultur ihrer Adressaten. So ist denn auch die Anonymität des Redners über die Religion aus der Sache heraus einsichtig. Dass auch das individualitätstheoretische Seitenstück zu diesem Werk, die Monologen anonym erschienen sind, müsste in eigener Weise bedacht werden. Die Anonymität der Theologie der Reden lässt sich unschwer auch in dem Umgang mit den theologischen Traditionen aufweisen. Sowohl die personale Gottesvorstellung als auch das individuelle Fortleben der unsterblichen Seele werden der religiösen Phantasie anheimgestellt. Das Universum als das Große und Ganze hat keinen Namen und bedarf keines solchen. Und die Anschauung des Universums, der Sinn und Geschmack für das Unendliche, kann ebenfalls darauf verzichten.
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Anonyme Theologie – ein Fazit Edward Morgan Forster hat in seinem höchst anregenden Essay über Anonymität die These aufgestellt: »all literature tends towards a condition of anonymity, and that, so far as words are creative, a signature merely distracts us from their true significance«.44 Ja, in ihrem Kern erhält diese Tendenz zur Anonymität kreativer, poetischer Wortschöpfungen eine religiöse Dimension: Indem wir in der Lektüre poetischer Worte nicht nur den Autor, sondern auch uns selbst vergessen, nähern wir uns einem uns in unseren Tiefenschichten verbindenden Allgemeinen, das keines Namens mehr bedarf: »the mystic will assert that the common quality is god«.45 Zweifellos war Schleiermacher in seinen Reden auf dem Wege, eben dieses Allgemeine, das er ›Universum‹ nannte und das in der Tat keines Namens bedarf, zu umschreiben, es in der menschlichen Seele ausfindig zu machen, es mitzuteilen. Und auf diesem Wege bedurfte der Redner keines Namens, da genau genommen ein jeder selbst sich auf diesen Weg begeben muss, da ihm mit objektiven Informationen, nach deren Richtigkeit man allenfalls fragen könnte, nicht geholfen wäre. Der Redner macht sich kenntlich und unkenntlich zugleich. Am Ende bedarf es seiner nicht mehr. Es ist gewiss auch nicht zufällig, dass die Reden mit einem bemerkenswerten Anteil an poetischem Elan (womit über die poetische Qualität nichts entschieden ist) geschrieben wurden. Ihre Transformation in eine akademische Abhandlung würde ihnen nahezu alles rauben, das Wichtigste in jedem Fall. Daran gemessen ist anonyme Theologie die Einsicht in Tiefendimensionen, die auf einen Namen verzichten können. Doch kann Theologie in diesem Sinne anonym sein, darf sie es? Immerhin ist es eine akademische Disziplin, die sich um Wahrheit bemüht (die zweifellos ohne Ansehen der Person wahr ist), die aber auch das Ethos der Wahrhaftigkeit, die jederzeit dem Subjekt zukommt, mit sich führt. Sofern es also um akademische, um methodisch kontrollierte Wahrheitsfindung geht, ist kaum einzusehen, warum die Theologie sich anonymisieren sollte. Und in eben diesem Sinn können die eingangs zitierten Worte von Thomasius verstanden werden und sind sie zumeist verstanden worden. Die Überzeugungskraft wissenschaftlicher Thesen und Theorien gewinnt nichts durch die Anonymität, daher hat auch Schleiermacher seine späteren akademischen Werke allesamt namentlich in die Welt gehen lassen. Aber die in diesen Überlegungen erörterten Schriften sind eben nicht in einem strengeren Sinn akademischer Natur. Dennoch gebührt ihnen in einer Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts gewiss ein Ehrenplatz, eine höhere Aufmerksamkeit als viele andere Schriften, die sich an die gültigen Regeln wissenschaftlicher Kommunikation gebunden haben. Lassen wir einmal die literarischen Strategien und Versteckspiele entschlossen beiseite, die sich mithilfe literaturwissenschaftlicher Instrumentarien klären
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Edward Morgan Forster, Anonymity. An Enquiry, London 1925, S. 14f. Ebd., S. 16.
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ließen,46 dann erkennt man immerhin verschiedene Typen und Motive theologischer Anonymität. Es beginnt mit dem Bemühen um Sachlichkeit, verknüpft mit persönlicher Bescheidenheit, die uns in Jerusalems anonymer Schrift über die Beförderung der Predigerausbildung entgegentritt. Eine sehr unspektakuläre Form der Anonymität, die ohne die spätere Veröffentlichung in den nachgelassenen Schriften vermutlich auch nie aufgedeckt worden wäre. Ganz anders steht es mit einer Diskussionslandschaft, die hochgradig aufgewühlt und mit mancherlei Ressentiments aufgeladen ist, wie es zur Zeit der Wende zum 18. Jahrhundert in England der Fall war. Die dort entwickelten Strategien waren nicht nur der Furcht vor rechtlichen Konsequenzen geschuldet (die in manchen Fällen zweifellos berechtigt war), sondern sie sollten vor allem die Grenzen der Belastbarkeit des öffentlichen Diskurses ausmessen. Derlei gab es in Deutschland erst am Ende des 18. Jahrhunderts, angezettelt durch Lessing und seinen ›Fragmentenstreit‹, in dem er seine Kontrahenten (auf verzwickte Weise die Anonymität des Fragmentisten als Deckung benutzend) schier um den Verstand brachte, weil er sich in keiner Weise auf die gängigen Muster öffentlicher Auseinandersetzung festlegen lassen wollte. Neben solchen, der spezifischen Art theologischer Öffentlichkeit geschuldeten, Anonymisierungen gibt es aber auch solche, die wegen der verhandelten Sache selbst gerechtfertigt zu sein scheinen. Dahin gehören Spaldings Bestimmung des Menschen und Schleiermachers Reden. Hier spricht im Falle Spaldings nicht einfach der Autor, sondern ein Ich, an dessen Stelle sich eigentlich jeder Leser und jede Leserin versetzen können sollte. In diesem Hineinversetzen in das nach seiner Bestimmung fahndenden Subjekt spielen Namen ebensowenig eine Rolle wie Individualitäten. Ähnlich, wenngleich in Anlage und Durchführung wesentlich komplexer, steht es mit den Reden Über die Religion. Nur um der Hinführung willen enthüllt der Redner Aspekte seiner Individualität, zieht sich aber zurück, sobald das eigentliche Ziel, die eigenständige Aufmerksamkeit auf die Anschauung des Universums, die Auslotung der religiösen Provinz im Gemüte, in den Blick kommt. Sowohl die Suche nach der humanen Bestimmung als auch die Suche nach der Religion verhalten sich der Sache wegen spröde zu objektiven Tatsachenbehauptungen oder allgemeinen Vernunftwahrheiten. Zwischen diesen beiden Polen liegt Jerusalems Schrift über die Mosaischen Schriften. Sie nimmt eine ebenfalls eher unspektakuläre Form der Anonymität in Anspruch, greift aber in eine Debatte ein, die durchweg auch ohne solche Strategien auszukommen vermag. Interessant wird es auch hier wieder durch die Aufmerksamkeit auf die verhandelte Sache: die Autorschaft des Moses an den ersten Büchern des Alten Testaments. Da geht es zweifellos um die namentliche Zuschreibung von Traditionen, die nach dem Plausibilitätsverlust der strikten Inspirationslehre (die in allem Gott als den einen und letzten Autor zu sehen vermochte) nach neuen Wegen suchte, die Überlieferung nicht in unzählige Einzelbestandteile zerfasern zu lassen, sondern durch einen Namen Einheit zu stiften. Damit eröffnete sie einen Horizont historischen Fragens, der vor allem im 19. und 20. Jahrhundert viele Debatten prägte, in denen nach wirksamen Individualitä-
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Vgl. die verschiedenen Kapitel in der materialreichen Untersuchung von John Mullan, Anonymity. A Secret History of English Literature, London 2007.
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ten innerhalb der geschichtlichen und prophetischen Überlieferung Ausschau gehalten wurde. Interessanterweise hat Jerusalem mit der These von der durchweg poetischen Natur der ersten Kapitel der Genesis ganz im Sinne E. M. Forsters eine Frage nach dem dichtenden Subjekt überflüssig gemacht. Anonymität und Öffentlichkeit sind als komplex miteinander verschränkte Perspektiven vor allem für die Theologie des 18. Jahrhunderts charakteristisch. Denn diese war in einer ganz außergewöhnlichen Weise mit der Suche nach neuen Ausdrucksformen und angemessenen Plausibilitätshorizonten beschäftigt, einer Suche, die so erfolgreich war, dass das 19. Jahrhundert sich wieder stärker der im engeren Sinne akademischen Sicherung und Fortbildung theologischer Themen zuwenden konnte, die auf Anonymisierungen weitgehend verzichten konnten. Doch die Vielfalt der vorangegangen Suchbewegungen in den Blick zu nehmen lohnt sich nach wie vor, wenn man die theologische Erkundung der neuen Arten der Öffentlichkeit, wie sie sich zur Zeit der Aufklärung ausgebildet haben, in ihren mannigfaltigen Motiven und Strategien verstehen will.
Stefan Matuschek
Dichtender Nationalgeist Vom Spiel zum Ernst literarischer Anonymität
Autorschaft – so haben wir alle von Michel Foucault gelernt – bezeichnet nicht einfach die Tatsache, dass Texte von Menschen hervorgebracht werden. Sie ist vielmehr eine historisch sich verändernde funktionale Größe im Umgang mit Texten. Anonyme Autorschaft – so lässt sich entsprechend sagen – bezeichnet nicht einfach die Tatsache, dass man von einem identifizierbaren Text den Autor nicht identifizieren kann. Sie ist vielmehr eine ebenfalls historisch sich verändernde funktionale Größe, ein seinerseits verschiedenartig bestimmbares Konzept von Autorschaft. Anonymität kann Zufall oder Absicht, kann eine mehr oder weniger durchsichtige Tarnung, eine strenge oder spielerische Konvention sein; ein Rätsel, das auf seine Auflösung wartet, oder die Unergründbarkeit einer namenlosen, kollektiven Überlieferung. Diese und noch andere denkbare Eigenschaften sind es, nach denen sich das Konzept anonymer Autorschaft differenziert. Aus der Vielfalt, in der literarische Anonymität historisch auftrat und gedacht wurde, möchte ich hier ein Kapitel behandeln, das zur Gründungsphase des NationalliteraturKonzepts in Deutschland gehört, zur Hochphase der klassisch-romantischen Literatur in Deutschland und auch noch zur Gründungsphase der Germanistik. Es geht um die Zeit von Lessing bis zu den Brüdern Grimm, die kanonische Neugermanisten-Zeit also. In dieser Zeit – so hat es die an Foucault anschließende Forschung herausgestellt – etabliert sich in der deutschen Literatur diejenige Autorfunktion, die man seither für normal hält: der individuell sich bei seinem bürgerlichen Namen nennende Autor. Literarische Texte erscheinen in der Regel unter dem Namen eines als reale Person verifizierbaren Verfassers, und zwar mit solcher Konsequenz, dass alle Werke eines Verfassers (oder einer Verfasserin) sich zu einem mit dem Autornamen überschriebenen Gesamtwerk ergänzen. Der Literaturbetrieb und auch die literaturwissenschaftliche Forschung, deren Flaggschiffe historisch-kritische Werkausgaben sind, arbeiten auf dieser Geschäftsgrundlage. Ihre Literatur ist in der Regel das Werk namhafter Autoren. Dieses Autorkonzept hat sich so gefestigt, dass es auch rückwirkend auf die Zeit angewendet wird, in der es historisch noch nicht galt. So ist es für uns heute selbstverständlich, Texte etwa von Lessing oder Schiller, die zu ihrer Zeit noch unter Anonymitätskonvention ohne Verfassernamen erschienen, heute in namentlichen Werkausgaben zu lesen. Es ist geradezu eine Intention der Forschung (in der Bearbeitung der Zeitschriftenliteratur des 18. Jahrhunderts spielt das eine nicht geringe Rolle), anonyme Autorschaft aufzulösen und namentlich zuzuschreiben. Erst dann stellt sich für die heutige Lesegewohnheit die Normalität ein, wenn man weiß, von wem der Text ist, den man liest. Ein Symptom, an dem man die Durchsetzung des individuell-namentlichen Autorkonzepts ablesen kann, sind die von den Autoren um 1800 (etwa Wieland, Schiller,
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Stefan Matuschek
Goethe1) selbst besorgten, eigenen Werkausgaben, in denen unter ihrem Namen dasselbe erneut erschien, was zuvor konventionell anonym herausgekommen war. Die Wissenschaft, kann man sagen, vollzieht dies im Großen nach, indem sie alles, was die Literaturgeschichte überliefert, in namentlichen Werkausgaben zu sichern versucht. In dieselbe Zeit jedoch, in der sich das individuell-namentliche Autorkonzept etabliert, fällt eine gegenläufige Entwicklung, ein konkurrierendes Konzept, das nicht auf die namentliche Individualisierung der Literatur, sondern auf deren anonyme Vergemeinschaftung abzielt. Es ist das Konzept der National- als Volkspoesie. In ihm spielt die Vorstellung eine Rolle, dass sich Literatur nicht schreibenden Einzelnen, sondern einem dichtenden National- oder Volksgeist verdankt, einer kollektiven und deshalb namenlosen Produktivität. Nährboden für diese Vorstellung sind das von Bodmer und Breitinger neu entfachte Interesse am Nibelungenlied, Herders (an englischen Vorläufern inspirierte) Volksliedsammlungen sowie vielfältige Sammlungen und Neubelebungen der Volksmärchen und -sagen. Es ist die Entstehungszeit der Nationalphilologie, in der dokumentarische Herausgeberschaft noch eng mit kreativer neuschöpfender Autorschaft benachbart, mitunter sogar – wie etwa in Arnims und Brentanos Wunderhorn – ununterscheidbar vermischt ist. Es wird zugleich volkstümlich geschrieben und Volkstümlichkeit philologisch rekonstruiert. Dass dabei oft beides miteinander verschwimmt, ist nicht nur ein Zeichen vorwissenschaftlicher Lässigkeit, sondern programmatisch gewollt. Herder sammelt und ediert die Volkslieder, um die zeitgenössische Lyrik zu inspirieren. Er will, wie er sagt, »Volkslieder für unsere Zeit!« Philologisch-wissenschaftlicher Dokumentationsanspruch spielt dabei keine Rolle. Der bringe nur Bücher hervor, die in der Bibliothek aufgestellt werden und dort stehen bleiben. Herder versteht Volkslieder ganz unphilologisch als populären, lebendigen Gesang. Ihn wissenschaftlich zu edieren kommt ihm so abstrus vor, als wolle man umgekehrt »Ulphilas Evangelien als gemeine Vorlesungen in den Kirchen« halten.2 Volkslieder und Editionsphilologie passen für ihn nicht zusammen. Der schönste Beleg für dieses Volksliedverständnis ist sicher das »Heidenröslein«, bei dem Herders Sammleranteil heute allerdings wohl weitgehend von Goethes Autorschaftsanspruch verdrängt ist. Ein ähnlich aktuell produktionsorientiertes Verständnis von Volkspoesie zeigt Ludwig Tieck. Es ist seine eigene Poetik des Wunderbaren, die ihn zu den Volksmärchen und deren Adaption führt. Was das Verhältnis von Alt und Neu, von Fremdem und Eigenem betrifft, ist er von maximaler Großzügigkeit: Seine 1797 herausgebrachten Volksmährchen enthalten sowohl Bearbeitungen überlieferter alter Stoffe (etwa »Blaubart« oder »Der gestiefelte Kater«) als auch ganz eigene Erfindungen (wie den »Blonden Eckbert«). Seine Autorschaft verschleiert Tieck dabei in einer Weise, wie sie für das 18. Jahrhundert üblich ist: durch Pseudonym (»Peter Leberecht«) und Herausgeberfikti-
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Vgl. dazu die Arbeiten des von Jutta Heinz und Jochen Golz geleiteten Teilprojekts »Monumente des Autors« im Jenaer Sonderforschungsbereich 482, »Ereignis Weimar − Jena. Kultur um 1800«. Vgl. http://www2.uni-jena.de/ereignis/extraseiten/c11/index.htm. Vgl. Johann Gottfried Herder, »Vorrede« [zur ersten geplanten Ausgabe der »Alten Volkslieder«, 1774], in: ders., Werke in zehn Bdn., Bd. 3: Volkslieder, Übertragungen, Bearbeitungen, hg. v. Ulrich Gaier, Frankfurt a. M. 1990, S. 15–25, hier S. 16f. (beide Zitate S. 16).
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on.3 Tieck erweitert dieses Spiel allerdings, indem er seinen fiktiven Herausgeber schon zwei Jahre zuvor literarisch auftreten lässt. 1795 erscheint anonym Tiecks Ich-Erzählung »Peter Lebrecht«, in der diese erfundene Figur in der Erzählwirklichkeit ankündigt, was dann in der deutschen Verlagswirklichkeit tatsächlich zwei Jahre später geschieht: »Ich habe nämlich ein Manuskript liegen«, sagt dieser fi ktive Ich-Erzähler Lebrecht, »welches nächstens im Druck unter dem Titel: Volksmährchen, erscheinen wird, und welches nichts als wunderbare und abenteuerliche Geschichten enthält. Der Leser muß dies für keinen Scherz aufnehmen, sondern es ist mein vollkommener Ernst, und das Buch wird selbst nächstens bei dem Verleger dieser Erzählung herauskommen.«4 So geschieht es dann. Im »vollkommenen Ernst«, den der fiktive Erzähler beteuert, steckt das doppelte Spiel des realen Autors, der seinen Text durch die pseudonyme Herausgeberfiktion anonymisiert. Im Blick auf das eine frei erfundene, dem Autor Tieck ganz allein gehörende Märchen vom »Blonden Eckbert« ist diese Strategie erfolgreicher gewesen, als es ihrem Erfinder lieb war. Denn sowohl der Verleger Carl August Nicolai als auch der in metafiktionalen Spielereien so routinierte Jean Paul wollten trotz aller Beteuerungen des Autors nicht glauben, dass dieses Märchen von Tieck frei erfunden und nicht irgendwo gefunden sei. Nicolai, heißt es, habe Tiecks Urheberanspruch für eine eitle Lüge gehalten. Und von Jean Paul wird eine Reaktion überliefert, die insgesamt als Motto für den Volkspoesie-Gedanken stehen kann: »Dergleichen erfindet man nicht! Das muß schon dagewesen sein!«5 Die Literatur des jungen Ludwig Tieck ist immer zugleich ein metaliterarisches Spiel. Das gilt für seine Volksmährchen nicht anders, die im ersten Teil mit zwei Vorreden – einer ernst- und einer scherzhaften – beginnen und am Ende des zweiten Teils mit einer »Prologus« betitelten Theaterposse über die Publikumserwartung enden. Schaut man von hier aus zeitlich nach vorn zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, so verliert sich alles Spiel und weicht wissenschaftlichem Ernst. In der Vorrede zur Neuausgabe von 1819 betonen die Herausgeber den »wissenschaftlichen Wert« ihrer Sammlung, der künstlerische Bearbeitung und eigene, aktuelle literarische Ansprüche strikt ausschließt. Geleitet wird diese Auffassung von dem Gegensatz ›natürlich – künstlich‹, wobei das erste für die anonyme volkstümliche Überlieferung und das zweite für die Bearbeitung durch moderne, literarisch ambitionierte Nacherzähler steht. Dieser Gegensatz ist nachdrücklich wertend gemeint: als Parteinahme für das Natürliche (»dem stillen Fortleben der Pflanzen ähnlich«) und als Absage an alle Bearbeitung, wofür die pejorative Metapher der »leimenden Umänderung« steht.6 In Musäus’ Märchensammlung von
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Volksmährchen, hg. von Peter Leberecht, 2 Bde., Berlin 1797. Peter Lebrecht. Eine Geschichte ohne Abenteuerlichkeiten, in: Ludwig Tieck, Werke in vier Bdn., hg. sowie mit Nachworten und Anmerkungen versehen von Marianne Thalmann, Bd. 1: Frühe Erzählungen und Romane, München 1963, S. 73–189, hier S. 147. Nach Rudolf Köpke, Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mitteilungen, Teil 1, Leipzig 1855, S. 265. Nicolais Äußerungen dort S. 202f. Vgl. Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm, hg. v. Heinz Rölleke, Frankfurt a. M. 2007, S. 19f.
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1782 war es noch genau andersherum: Dort wird die anonyme Überlieferung als bloßes Rohmaterial bezeichnet, aus dem der aktuelle Herausgeber durch seinen Darstellungsstil erst das Kunstwerk forme: »wie sein [...] Nachbar de[r] Bildner, der mit kunstreicher Hand durch Schlägel und Meißel, aus einem unbehülflichen Marmorwürfel bald einen Gott, bald einen Halbgott oder Genius hervorgehen lässt«.7 Mit solchem Künstlerbewusstsein schließt das Philologenethos der Grimms ab. Statt des stolzen Bildhauers sehen sie nur den unbeholfenen Bastler, der das Naturprodukt künstlich verpfuscht. Tiecks Beimischung eigener Erfindungen muss in dieser Perspektive geradezu als Frevel an der Natur erscheinen. Am Ende ihrer Vorrede geben die Grimms ihrer Bearbeiter-Schelte einen mythischen Ausdruck, indem sie im König Midas einen krassen Vergleich für den fatalen Veredelungsanspruch der Kunst finden: »Die geübte Hand solcher Bearbeitungen gleicht doch jener unglücklich begabten, die alles, was sie anrührte, auch die Speisen, in Gold verwandelte, und kann uns mitten im Reichtum nicht sättigen und tränken.«8 Was die Brüder Grimm bei diesem Vergleich wahrscheinlich nicht gewusst haben, ist, dass er eine intertextuelle Pointe hat. Sie reicht zwar weit zurück, trifft aber genau. Im Nachruf auf den französischen Märchensammler und -erzähler Charles Perrault, der 1703 im Mercure galant erschien, liest man: »Son genie estoit universel & brilloit dans les moindres bagatelles, on peut dire qu’il changeoit en or tout ce qu’il touchoit.«9 Hier steht der Midas-Vergleich (in genauem Gegensatz zu den Grimms) affirmativ für die Veredelung, die der moderne Erzähler den alten Märchenüberlieferungen beschert. Dass dieser Erzähler auch eigene Erfindungen beimische, ist dem Perrault-Nekrologen ein zusätzliches Lob wert. Perrault selbst hat seine Märchensammlung nicht unter eigenem Namen, sondern unter dem seines Sohnes herausgebracht: ein offensichtliches Spiel mit dem Charakter der Gattung. In der Widmungsvorrede des vorgeblich jungen Autors heißt es entsprechend: »On ne trouvera pas étrange qu’un Enfant ait pris plaisir à composer les Contes de ce Recueil.«10 Auch wenn sie ein Jahrhundert auseinander liegen, so haben Perrault und Tieck doch etwas gemeinsam, was von den Brüdern Grimm kurz nach Tieck nicht mehr geteilt wird: Das Verhältnis von namenloser volkstümlicher Überlieferung und eigener Autorschaft wird von ihnen spielerisch behandelt. Bei den Grimms wird es dagegen ernst, und an die Stelle der Herausgeberfiktion tritt die reale Herausgeberfunktion, die ihr Material nicht literarisch verwendet, sondern objektiv dokumentieren will. Das ist zum einen als Prozess der Verwissenschaftlichung zu verstehen, als Wechsel von der Vor- zur Gründungsgeschichte der Neuphilologie. Zum anderen aber kommt eine Idee dazu, die neben dem neuen Wissenschaftlerethos ganz spekulativ, geradezu traumhaft erscheint:
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Johann Karl August Musäus, Volksmärchen der Deutschen, hg. v. Karl Martin Schiller, Leipzig 1926, S. 7 [Vorbericht an Herrn David Runkel, 1782]. Kinder- und Hausmärchen 2007 (wie Anm. 6), S. 20. Mercure galant, mai 1703, S. 232–253, hier S. 248. Histoires ou Contes du temps passé. Avec des Moralités, Paris 1697. Auf dem Titelblatt wird neben dem Verleger Claude Barbin der Autor P. Darmancour genannt, der Name von Charles Perraults Sohn Pierre Perrault Darmancour. Das Zitat nach der heutigen Ausgabe: Perrault, Contes. Edition présentée, établie et annotée par Jean-Pierre Collinet, Paris 1981, S. 127.
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die Idee des dichtenden Volksgeists. »Den Grund und Gang eines Gedichts überhaupt«, schreibt Jacob Grimm in der Vorrede zu den Deutschen Sagen, »kann keine Menschenhand erdichten.«11 Das Nibelungenlied, schärft er seinen Göttinger Studenten ein, »kann nicht von einem Dichter ausgegangen sein.«12 Dabei geht es ihm nicht um die Ein- oder Mehrzahl. Es gilt vielmehr kategorisch. Die Volkspoesie, zu der er Märchen, Sagen, konkret auch das Hildebrands- und das Nibelungenlied zählt, hat für ihn prinzipiell keine menschlich identifizierbaren Schöpfer, sondern ist für ihn ein Ereignis im Volk, das wie eine religiöse Offenbarung auftritt. Im Hildebrandslied erweist sich für die Brüder Grimm »die ganze volle Kraft einer einmal lebendig ins Volk gedrungenen Poesie.«13 Das klingt nach einem literarischen Pfingstwunder und ist auch so gedacht. In einem Brief an Achim von Arnim macht Jacob die religiöse Analogie explizit: Glaubst Du mit mir, daß die Religion von einer göttlichen Offenbarung ausgegangen ist, daß die Sprache einen ebenso wundervollen Ursprung hat und nicht durch Menschenerfindung zuwege gebracht worden ist, so mußt Du schon darum glauben und fühlen, daß die alte Poesie und ihre Formen, die Quelle des Reims und der Alliteration ebenso in einem Ganzen ausgegangen ist, und gar keine Werkstätten oder Überlegungen einzelner Dichter in Betracht kommen können.14
In der Grimmschen Herausgebertätigkeit liegt somit bei all ihrem Wissenschaftsanspruch eine metaphysische Obsession: diejenige, die Offenbarung der Volkspoesie zu fassen. Die von ihnen edierten Werke bekommen damit einen biblischen Charakter. Diesen irrationalen, quasi-religiösen Zug hat schon einer ihrer ersten Schüler, Wilhelm Scherer, kritisch gesehen: Mit einer Art von trunkener Andacht sprachen Jacob Grimm und sein Bruder, sprach ihr Freund Achim von Arnim das Wort ›Volk‹ aus; und sie verstanden darunter gleichsam einen unsichtbaren guten Geist, welcher die Übereinstimmung der besten leite und in den unteren Schichten unverfälscht wohne.15
Dieser »unsichtbare gute Geist«, den die Grimms für den Autor der Märchen und Sagen halten, ist ein eigenes Kapitel in der Geschichte der literarischen Anonymität. Und nicht irgendeins, sondern ein extremes, ein eigentümlich spannungsvolles, in dem sich Wissenschaftlichkeit und andächtige Spekulation verbinden. Einzigartig ist es darin, wie die Grimms in ihren Märchen- und Sagensammlungen eine konkrete Form anonymer
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Deutsche Sagen. Herausgegeben von den Brüdern Grimm. Ausgabe auf der Grundlage der ersten Aufl., ediert und kommentiert v. Heinz Rölleke, Frankfurt a. M. 1994, S. 14. Jacob Grimm, Vorlesungen über deutsche Literaturgeschichte, hg. und bearbeitet v. Matthias Janssen, Kassel/Berlin 2005, S. 291 (=Brüder Grimm, Werke und Briefwechsel, Kasseler Ausgabe, Materialien, Bd. 1). Die beiden ältesten deutschen Gedichte aus dem achten Jahrhundert: Das Lied von Hildebrand und Hadubrand und das Weißenbrunner Gebet zum erstenmal in ihrem Metrum dargestellt und hg. durch die Brüder Grimm, Cassel 1812, unpag. Vorrede. Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Bearbeitet v. Reinhold Steig, Stuttgart/Berlin 1904, S. 139 (Jacob Grimm an Arnim im Juli 1811). Wilhelm Scherer, Rede auf Jacob Grimm. Gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität am 4. Januar 1885, Berlin 1885, S. 20.
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Autorschaft entwickeln: Sie schreiben ja diese Märchen und Sagen, ohne doch als Autoren, ja nicht einmal als Bearbeiter gelten zu wollen. Ihr persönlicher Anteil am Text strebt in ihrem erklärten Selbstverständnis gegen null. Sie inszenieren sich als Medien des namenlosen dichtenden National- und Volksgeists. Um dieses Grimmsche Anonymitätskonzept genauer zu beschreiben, hilft es, sich eine kleine Typologie aufzustellen, wie Anonymität im Zusammenhang mit der Volkspoesie-Vorstellung im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert auftritt: Sie erscheint 1. als Publikationsstrategie, 2. als stilistischer Effekt, 3. als philologische These und 4. als philosophische Idee. Aus all dem ergibt sich dann 5. das Grimmsche Konzept, das man schlagworthaft ›Anonymität als Dogma‹ nennen kann. Nun im Einzelnen, also 1. Anonymität als Publikationsstrategie: Den Anfang nationaler Volkstümlichkeit in der deutschen Literatur setzen Gleims Preußische Kriegslieder aus dem Jahr 1758. Sie beziehen sich auf den Siebenjährigen Krieg und feiern Friedrich den Großen als siegreichen Feldherren. Sie werden populär und in ihrer weiteren Wirkungsgeschichte sind sie durch ein vollmundiges Lob in Goethes Dichtung und Wahrheit geadelt: Sie haben der deutschen Literatur, sagt Goethe, ihren »ersten wahren und höheren Lebensgehalt« verliehen.16 Dabei nennt und ehrt Goethe den Verfasser Gleim. Bei der Veröffentlichung der Lieder aber nannte der sich nicht. Die Preußischen Kriegslieder sind ein Rollenspiel, in dem Gleim sich als namenloser Soldat ausgibt. Preußische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier lautet der komplette Titel, und es ist gerade diese anonyme Autorfiktion, die den Erfolg der Lieder ausmacht. Sie erwecken und überzeugen durch den Eindruck, es sänge hier ein unbekannter, aber gerade dadurch für alle repräsentativer Kriegsteilnehmer. Der erste, der dieses Rollenspiel mitspielt, ist Lessing. Nachdem einzelne Lieder in Separatdrucken erschienen sind, gibt er die erste Gesamtausgabe heraus und versieht sie mit einem Vorwort, das den anonymen Verfasser gerade in seiner Anonymität als eine besondere literarische Qualität preist. Sein gleichzeitiger Briefwechsel mit Gleim17 zeigt, dass Lessing selbst keinen Augenblick dieser Anonymitätsfiktion aufsaß, sondern sie von Anfang an als Publikationsstrategie behandelt. Sein Vorwort unterstützt sie und macht ihre Absicht explizit. Es geht darum, einen neuen volkstümlichen literarischen Ton zu etablieren, der programmatisch keinem identifizierbaren Schriftsteller zugeordnet werden darf: »Der Verfasser ist ein gemeiner Soldat, dem eben so viel Heldenmut
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Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hg. v. Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a. M. 1986, S. 306 (=J. W. G., Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 14). Zu den Preußischen Kriegsliedern als »Urtexten des deutschen/ preußischen Nationalismus« und »Bruch mit der gelehrten Tradition und des höfischen Kunstideals« vgl. Uwe-K. Ketelsen, »Ein Ossian der Hohenzollern: Gleims Preußische Kriegslieder von einem Grenadier zwischen Nationalismus und Absolutismus«, in: Exile and Enlightenment. Studies in German and Comparative Literature in Honor of Guy Stern, hg. v. Uwe Faulhaber et al., Detroit 1987, S. 39–46, hier S. 43. Abgedruckt in Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Ausgewählte Werke, hg. v. Walter Hettche, Göttingen 2003, S. 643–647.
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als poetisches Genie zum Teil geworden ist. […] Seine Sprache ist älter, als die Sprache der jetztlebenden größern Welt und ihrer Schriftsteller.«18 Für diese »ältere« Sprache verweist Lessing dann ausführlich auf die alten »Skalden« und »Barden«, auf die legendäre, doch leider verlorene Sammlung, die Karl der Große von ihnen habe anlegen lassen, sowie auf die greifbaren Sammlungen von dänischen Gelehrten und zuletzt von Bodmer, dessen Teilausgabe des Nibelungenlieds gerade im Jahr zuvor, 1757, erschienen war. Das – und nicht die zeitgenössische Dichtung – sei der Zusammenhang, in dem man den namenlosen Grenadier sehen und verstehen müsse. Dass tatsächlich ein zeitgenössisch bekannter Dichter der Autor war, der sich vor den Kriegsliedern als Anakreontiker einen Namen gemacht hatte, darf dabei natürlich nicht zur Sprache kommen. Anonymität ist in diesem Fall nicht die Eigenschaft, sondern die Publikationsstrategie volkstümlicher Dichtung: die strategische Voraussetzung, um ein »poetisches Genie« des Volks zu behaupten. 2. Anonymität als stilistischer Effekt: Wie die Anonymitätsstrategie zum Anonymitätseffekt führen kann, lehrt – wie gesehen – das Beispiel des »Blonden Eckbert«. In diesem Fall ist es ein so starker Effekt, dass er selbst über die Autorschaftsbeteuerungen im engsten Kreis triumphierte. Diskutiert wird der Anonymitätseffekt im Briefwechsel zwischen den Brüdern Grimm und Achim von Arnim. Dabei zeigen Arnim und Wilhelm Grimm ein positives, Bruder Jacob dagegen ein negatives Verhältnis zu diesem Effekt. Ein Streitfall zwischen Jacob Grimm und Arnim ist etwa das Gedicht »Der Staar und das Badewännelein«: Es stammt von Clemens Brentano, wurde von ihm aber so gut dem Volksliedton nachempfunden, dass er seinen Mitherausgeber Arnim täuschen und es als anonymes, »in der Spinnstube eines hessischen Dorfs aufgeschriebenes« Volkslied in Des Knaben Wunderhorn einrücken konnte.19 Für Jacob Grimm ist das kein Scherz, sondern Betrug. Und dass Arnim ihm erlegen ist, nimmt er als Beweis, dass jenem letztlich die Urteilskompetenz über die Volkspoesie fehle. Er selbst, gibt Jacob Grimm damit zu verstehen, falle auf solche Täuschung nicht herein. Ihm habe das von Brentano »gemachte Lied« von Anfang an »sehr wenig gefallen«.20 Die Reinheit der Volks- als Naturpoesie ist ihm heilig. Anders bewerten dagegen sein Bruder Wilhelm und Arnim die Dinge. Sie versichern sich wechselseitig ihrer Zustimmung zu solchen gelungenen Nachahmungen des Volksliedtons. So sind sie sich einig, »daß Goethes Fischer und König in Thule so gut ein Volkslied sei, als das beste in dem Wunderhorn«,21 und Arnim erwähnt und freut sich über den Fall, dass Schillers Reiterlied aus dem Wallenstein von Soldaten gesungen
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Gotthold Ephraim Lessing, »Vorbericht« [zu den Preußischen Kriegsliedern], in: ders., Werke, 5. Bd.: Literaturkritik und Poetik, hg. v. Jörg Schönert, München 1973, S. 15–18, hier S. 15f. Vgl. Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Kritische Ausgabe, hg. und kommentiert v. Heinz Rölleke, Stuttgart 1987, Bd. 2, S. 263 (Nr. 277). Vgl. Jacob Grimm an Arnim am 9.7.1811, in: Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm 1904 (wie Anm. 14), S. 132f. Wilhelm Grimm an Arnim am 28.5.1811, ebd., S. 124.
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werde, die nichts von Schiller wissen und stattdessen glauben, »der liebe Gott« habe es ihnen geschenkt. Für die eigene Dichtung wird ihm dieser Effekt geradezu zum Ideal: »Ich würde es als einen Segen des Herrn achten, wenn ich gewürdigt würde, ein Lied durch meinen Kopf in die Welt zu führen, das ein Volk ergriffe.«22 Wo Volkstümlichkeit als Wert gilt, wird der Anonymitätseffekt zum Qualitäts- und Erfolgskriterium der Literatur. In der dem ersten Band des Wunderhorns angehängten Abhandlung »Von Volksliedern« formuliert Arnim diese Perspektive pathetisch als Vergemeinschaftung des Dichters: »das Höchste, das Schaffende wird das Gemeinste, der Dichter ein Gemeingeist, ein spiritus familiaris in der Weltgemeine.«23 Der von Friedrich Schlegel und Hegel diagnostizierten Individualisierung der modernen Poesie tritt hiermit das Kontrastmotiv entgegen: die Sehnsucht des Dichters, mit seinem Gedicht in der Gemeinschaft aufzugehen. Anonymität bedeutet dabei nicht den Verlust, sondern die Maximierung von Bekanntheit. Der Name entfällt, weil das Werk jedermanns Eigentum geworden ist; so allgemein und jedem zu eigen wie die Muttersprache. Im Großen hat sich dieser Effekt, da er eng an die Mündlichkeit gebunden ist, nur bei mancherlei Redensarten aus Schillers und Goethes Dramen und Balladen ergeben. 3. Anonymität als philologische These: Im Jahre 1795 erscheint eines der Gründungsdokumente der modernen wissenschaftlichen Philologie: Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum. Sie geben ein neues Muster analytischer Textkritik und kommen dadurch zu dem Ergebnis, dass die Ilias und die Odyssee nicht von einem Dichter, Homer, stammen, sondern das Ergebnis vielstimmiger mündlicher Überlieferungen seien, die erst später gesammelt und verschriftlicht wurden. Homer sei nicht der Schöpfer seiner Werke, lautet lapidar der Befund. Deren Kunst und Struktur sei vielmehr ein Ergebnis späterer Jahrhunderte.24 Diese These war nicht neu; neu war die stringente Beweisführung, mit der Wolf sie vorbrachte. In einer Zeit, die seit einer Generation den Dichter Homer nach dem aktuellen eigenen Genie-Paradigma deutete und feierte und in der durch Voßens Übersetzungen der geschlossene Werkanspruch der beiden Epen manifestiert wurde, sorgte Wolfs Buch für Aufregung. Es fiel, so hat es Joachim Wohlleben schön gesagt, »wie eine Bombe in eine friedliche Landschaft innigster deutscher Homerverehrung«.25 Wolf entzieht der initialen europäischen Dichtung ihren namentlichen Dichter und verweist sie in die Heterogenität einer jahrhundertelangen Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte. In ihr gibt es viele namenlose Rhapsoden, namentlich spielt nur der Staatsmann Peisistratos eine Rolle, unter dessen Herrschaft die Sammlung und Verschriftlichung einen entscheidenden Schritt gemacht haben sollen.
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Arnim an Jacob Grimm am 14.7.1811, ebd., S. 135. Wunderhorn 1987 (wie Anm. 19), Bd. 1, S. 396. »Homerum non universorum quasi corporum suorum opificem esse, sed hanc artem et structuram posterioribus saeculis inditam put[o].« Friedrich August Wolf, Prolegomena ad Homerum […]. Cum notis ineditis Immanuelis Bekkeri, Berlin 1876, S. 82 (Kap. XXXI). Joachim Wohlleben, »Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum in der literarischen Szene der Zeit«, in: Poetica 28/1996, S. 154–170, hier S. 155.
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Die Frage nach dem Dichter Homer aber verliert ihren Sinn.26 Der Name verwandelt sich in die Gattungsbezeichnung der Homeriden, womit die vielen anonymen Dichter/Sänger der Ilias und Odyssee gemeint sind. Anerkennend, doch auch leicht ironisch hat Goethe diese Wolfsche Tat homerisch besungen: Erst die Gesundheit des Mannes, der, endlich vom Namen Homeros Kühn uns befreiend, uns auch ruft in die vollere Bahn. Denn wer wagt mit Göttern den Kampf? und wer mit dem Einen? Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön.27
Ohne alle Ironie, als feste Überzeugung eignet sich Jacob Grimm diese These an, die dann bei Karl Lachmann zur sogenannten »Liedertheorie« über das Nibelungenlied führt. Homer-Forschung und Altgermanistik arbeiten sich dabei wechselweise zu. Für Jacob Grimm scheinen die Dinge allerdings von Anfang an klar zu sein. Brieflich teilt er Achim von Arnim mit: »Mir ist undenkbar, daß es einen Homer oder einen Verfasser der Nibelungen gegeben habe.«28 Keinen individuell-menschlichen jedenfalls, ist damit gemeint. Der Verfasser sei vielmehr der Nationalgeist, der »spiritus familiaris« der griechischen und der germanischen Gemeinde, wie man mit Arnim sagen könnte. Doch, so wie Grimm ihn denkt, ist er kein Effekt des volkstümlichen Stils, sondern eine selbsttätige Ursache, ein, wie Grimm sagt, »Sichvonselbstmachen«29 der ältesten Epen. Dieser Gedanke führt aus der Philologie, zumal der historischen Textkritik hinaus. 4. Anonymität als philosophische Idee: So sehr Wolf sich als exakter Wissenschaftler versteht, der seine Thesen zur kritischen Prüfung vorlegt, so hat er doch die wohl kühnste Idee inspiriert, zu der sich literarische Anonymität ausdenken lässt. Es ist die Idee, dass am Anfang und Ende, emphatischer noch: am Ursprung und Ziel der Menschheit ein dichtender Weltgeist stehe, der zunächst alles aus einem initialen Epos hervorgehen lasse, um es am Ende wieder in ein finales Epos zusammenzuführen. Es ist das frühromantische Konzept der ›Neuen Mythologie‹, das den homerischen Anfang in eine spekulative Vollendung der Menschheitsgeschichte projiziert. In Schellings Philosophie der Kunst und seiner Philosophie der Mythologie wird es am weitesten ausgeführt. Wie sehr es von Wolf inspiriert ist, sagt Schelling mit dem Hinweis, er wolle mit seinem kunst- und mythosphilosophischen Grundgedanken »dasselbe, was Wolf vom Homer, behaupten«30. Das wird man wohl als eine strategische Behauptung ansehen können,
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»Wird die Einheit der homerischen Epen geleugnet, so verliert die Frage nach einem Dichter Homer ihren Sinn.« Ernst Vogt, »Homer – ein großer Schatten? Die Forschungen zur Person Homers«, in: Zweihundert Jahre Homer-Forschung. Rückblick und Ausblick, hg. v. Joachim Latacz, Stuttgart/Leipzig 1991, S. 365–380, hier S. 367. Johann Wolfgang Goethe, Herrmann und Dorothea (Elegie), in: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1: Gedichte 1756–1799, hg. v. Karl Eibl, Frankfurt a. M. 1987, S. 622f. Jacob Grimm an Arnim am 20.5.1811, in: Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm 1904 (wie Anm. 14), S. 116. Ebd. S. 118. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst (1802/03), Darmstadt 1980, S. 60.
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die Schelling auf der aktuellen wissenschaftlichen Höhe zeigen soll. Tatsächlich wendet er Wolfs textkritisch analytische in eine synthetische Perspektive um, indem er die Homeriden als eine Art Kollektivindividuum auffasst, dem sich das ursprüngliche wie das finale Epos verdanken soll. Es könne »weder das Werk eines einzelnen Menschen noch des Geschlechts oder der Gattung seyn (sofern diese nur eine Zusammensetzung der Individuen), sondern allein des Geschlechts, sofern es selbst Individuum und einem einzelnen Menschen gleich ist«31. »Gemeinschaftlicher Kunstgeist«32, heißt dieses Konzept von Autorschaft auch, oder »Weltgeist«. Das ist die Maximalidee anonymer Autorschaft: der dichtende Weltgeist. Schelling richtet seine Philosophie auf sie aus und denkt auf den »in noch unbestimmter Ferne liegenden Punkt [hin], wo der Weltgeist das große Gedicht, auf das er sinnt, selbst vollendet haben […] wird«33. Anonyme Autorschaft, die Wolf als ein Phänomen der Textgeschichte erfasst, wird bei Schelling zu einem spekulativen Motiv. Die Stelle, von der die historische Textkritik den namentlichen Autor entfernt hat, baut die Kunst- und Mythos-Philosophie zum menschheitsgeschichtlichen Rahmenkonzept aus. Die Beseitigung des namentlichen Autors ist die Voraussetzung, durch die sich diese spekulative Perspektive erst eröffnet. Denn hier wird ja auf ein Gedicht hin gedacht, das kein menschliches Maß mehr, geschweige denn ein individuelles menschliches Maß hat. Der Weltgeist hat keinen Namen. 5. Anonymität als Dogma: Die Brüder Grimm, insbesondere Jacob Grimm, haben beides übernommen: sowohl Wolfs Textkritik als auch Schellings Idee34 vom kollektivindividuellen dichtenden Geist. Als historisch arbeitende Philologen beschränken sie sich dabei allerdings auf den Ursprungsaspekt und enthalten sich der Zukunftsprojektion einer ›Neuen Mythologie‹. Das Konzept, das daraus entsteht, heißt »Naturpoesie«. Es ist eine spannungsvolle Mischung aus Wissenschaftlichkeit und Spekulation, aus Wolf und Schelling. Wissenschaftlich ist das textkritisch Dokumentarische, das es hat, spekulativ ist die Vorstellung einer selbsttätig entstehenden Volksdichtung. Das Thema der literarischen Anonymität nimmt dabei dogmatische Züge an. Es wird als Lehrmeinung absolut gesetzt und igelt sich (ganz anders als etwa bei Wolf) gegenüber jeder kritischen Diskussion ein. Das kann man in der brieflichen Auseinandersetzung beobachten, die Jacob Grimm mit Arnim über die Differenz von Natur- und Kunstpoesie führt, sowie in den Vorworten der Grimmschen Textsammlungen. Dabei ist es Jacob Grimm, der
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Eine ausführliche Darstellung dieses Zusammenhangs in meinem Beitrag: »Homer als ›unentbehrliches Kunstwort‹. Von Wolfs Prolegomena ad Homerum zur ›Neuen Mythologie‹«, in: Die schöne Verwirrung der Phantasie. Antike Mythologie in Literatur und Kunst um 1800, hg. v. Dieter Burdorf/Wolfgang Schweickard, Tübingen 1998, S. 15–28. Schelling 1980 (wie Anm. 30), S. 58. Ebd., S. 59. Ebd., S. 89. Schellings Einfluss auf die Brüder Grimm stellt sehr überzeugend Otfried Ehrismann dar (»Philologie der Natur – die Grimms, Schelling, die Nibelungen«, in: Brüder Grimm Gedenken, Bd. 5, hg. v. Ludwig Denecke, Marburg 1985, S. 35–59). Sein Urteil: »sage keiner, die Grimms seien empirische Philologen gewesen« (S. 44), schätzt die wissenschaftliche Dokumentationsabsicht der Grimms meiner Ansicht nach jedoch zu gering ein.
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die harte Linie zieht; der Bruder Wilhelm zeigt sich (wie gesehen) weicher. Das Dogmatische wird bei Jacob auch darin deutlich, dass er wertend polarisiert. Die anonyme Naturpoesie gilt ihm kategorisch als »reiner und besser« als alle andere, das »Bewußtsein und Ringen des Einzelnen«, das in aller namentlichen Dichtung liege, »kann nicht soviel sein, als die unbewußte Wahrheit« der Naturpoesie.35 Die organische Wachstumsvorstellung, die das Wort »Naturpoesie« suggeriert, führt ihn dazu, die Kunstpoesie ihr gegenüber als »zusammengesetzt«36 zu bezeichnen (man erinnere sich an die pejorative Rede von der »leimenden Umänderung«37 der Märchenbearbeiter): Das ist ein krasser Widerspruch gegen die Erkenntnisse der wolfschen Textkritik, die ja gerade die Heterogenität der alten Epentexte bewusst macht. Das Beharren auf der Anonymität verdrängt letztlich alles Menschliche aus der »Naturpoesie«, die dadurch einen naturreligiösen Ewigkeitswert gewinnt. Mitten in seiner Rede von der Naturpoesie bricht Jacob Grimm in das Bekenntnis aus: »Der Glaube an Gott und die Herrlichkeit der Natur halten ewig Probe, während die Lehren, Dogmen und Wissenschaften der Menschen untergehen.«38 Das Kompositum »Naturpoesie« tendiert damit zum Selbstwiderspruch. So wie Jacob Grimm es versteht, negiert das Wort »Natur« die Grundbedeutung von Poiesis. Die andere Seite dieses Konzepts, ihre Wissenschaftlichkeit, zeigt sich in der Herausgeberrolle. Das Wort »Natur« steht hier für ein Objektivitätsideal, für eine aller Willkür entzogene Gegebenheit dieser Dichtung, der sich die Herausgeber streng verpflichtet sehen. Die Vorworte der Kinder- und Hausmärchen sowie der Deutschen Sagen sind von diesem Ethos wissenschaftlicher Dokumentation geprägt, wobei es sich am deutlichsten ex negativo durch die Verunglimpfung von Bearbeitungen äußert: »aufgesetzte unnötige Bräme und Stilverzierung«39 heißt so etwas im Grimmschen Reinheitsprogramm. Positiv stellt es sich in einem geradezu anrührenden Genrebild des kindlich frommen Naturbeobachters dar. Gegen Ende der Sagen-Vorrede liest man: Aber das Geschäft des Sammelns, sobald es einer ernstlich tun will, verlohnt sich bald der Mühe und das Finden reicht noch am nächsten an jene unschuldige Lust der Kindheit, wann sie in Moos und Gebüsch ein brütendes Vöglein auf seinem Nest überrascht; es ist auch hier bei den Sagen ein leises Aufheben der Blätter und behutsames Wegbiegen der Zweige […].40
»Die volkssage will aber mit keuscher hand gelesen und gebrochen sein«41, heißt es entsprechend im Vorwort zur Deutschen Mythologie. Die Moral, die in diesen Sätzen liegt, ist als Wissenschaftlerethos zu verstehen: als Selbstverpflichtung zur unverfälschten Dokumentation.
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Vgl. Jacob Grimm an Arnim am 20.5.1811, in: Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm 1904 (wie Anm. 14), S. 117f. Ebd., S. 117. Vgl. Anm. 6. Ebd., S. 119. Deutsche Sagen 1994 (wie Anm. 11), S. 21 (Vorrede, 1816). Ebd., S. 23f. Jacob Grimm, Deutsche Mythologie. Vollständige Ausgabe, Wiesbaden 2007, S. 14 (Vorrede, 1844).
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Damit aber geraten die Grimms aus zweierlei Gründen in Schwierigkeiten: aus einem sachlichen und einem pragmatischen. Der Sache nach sind die Sagen- und Märchensammlungen auf zahlreiche namentliche Quellen angewiesen, aus denen sie die volkstümliche Überlieferung beziehen. Auch für die mündlichen Erzähler und Erzählerinnen, von denen die Grimms zahlreiche Märchen gehört und aufgeschrieben haben, weist die Forschung heute einen modernen kunstliterarischen Bildungsseinfluss nach, der den vermeintlich naiven Volkston geprägt hat.42 Dieser Schwierigkeit begegnen die Grimms mit ihrem Anonymitätsdogma, das den Anteil der namentlich identifizierbaren Vermittler negiert. Die daraus folgende Ambivalenz zwischen Wissenschaftlichkeit und spekulativer Idee bringt Jacob Grimm selbst zur Sprache, wo er sein Dilemma als SagenHerausgeber beschreibt: Die konsequenteste Art, seinem wissenschaftlichen Anspruch zu genügen, weiß er, hätte darin bestanden, einen »diplomatischen Kodex« seiner Quellen herauszubringen; das aber hätte den eigentlichen »Zweck« seiner Arbeit, nämlich die »gleichmäßige Übersicht des Ganzen« verfehlt.43 Dass es dieses »Ganze« als ein Gleichmäßiges überhaupt gibt, ist die spekulative Unterstellung des Naturpoesie-Konzepts. So sind es die Grimms als Herausgeber selbst, die das Anonymitätsdogma durchsetzen, indem sie als schriftstellernde Bearbeiter tätig werden, ohne doch als solche gelten zu wollen. Damit kreieren sie eine neue Form literarischer Anonymität: ein namentlicher Autor, der selbst schreibt und leugnet, dass er oder überhaupt jemand es tue. Anonymität erscheint hier als dogmatisch negierte Autorschaft. Die pragmatische Schwierigkeit, in die der Wissenschaftsanspruch der Grimms gerät, beschert ihnen der Buchmarkt. Er nimmt das wissenschaftlich Dokumentarische nicht an, die philologischen Anmerkungen und Kommentare werden abgelehnt, und auch der spröde Stil der Sagen findet wenig Anklang. Erfolgreich ist dagegen der von Auflage zu Auflage geschmeidiger werdende Wilhelm Grimmsche Märchenton. Wilhelm muss sich selbst als erfolgreichen Schriftsteller erleben. Das führt am Ende dazu, dass er gegen die Programmatik aller Herausgeber-Vorworte sein persönliches Eigentumsrecht an den Märchen behauptet. Ein Buchdrucker, der die Vorworte offenbar aufmerksam gelesen hatte, wollte unter Hinweis auf die fehlende Autorschaft sich die Freiheit nehmen, die erfolgreichen Märchen seinerseits nachzudrucken. »Ich schlug es ihm entschieden ab«, schreibt Wilhelm an Jacob, und »behauptete unser Eigentumsrecht«.44 Das beweist: Auch der sich dogmatisch negierende Autor ist am Ende ein Autor. Fazit: Im Konzept der National- als Volkspoesie, das um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entsteht und seine romantische Konjunktur hat, spielt literarische Anonymität eine konstitutive Rolle. Und zwar weniger als tatsächlicher Befund, sondern mehr als Strategie, als Effekt, als These, als Idee und als Dogma. Anonymität erweist sich hier als ein in sich differenziertes Autorschaftskonzept, mit dem sich gerade in
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Vgl. den Kommentar von Heinz Rölleke in der in Anm. 6 genannten Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen, S. 1157. Vgl. Deutsche Sagen 1994 (wie Anm. 11), S. 391 (Vorrede zum zweiten Teil, 1818). Wilhelm an Jacob Grimm, Anfang April 1838, abgedruckt im Kommentar zu den Kinder- und Hausmärchen 2007 (wie Anm. 6), S. 1166.
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der Zeit fortschreitender Individualisierung der Literatur ein Kontrastprogramm dazu artikuliert.
Hans-Peter Haferkamp
Anonymitätsstrategien juristischer Autoren im Vormärz*
Von den berühmtesten Juristenschriften der Rechtsgeschichte wurde eine nicht geringe Zahl anonym veröffentlicht. Beispielhaft verweise ich auf Friedrich von Spees Cautio criminalis von 1631,1 eine der einflussreichsten Schriften gegen die Hexenverfolgung, auf Rudolf von Jherings zwischen 1860 und 1866 veröffentlichte Vertrauliche Briefe über die heutige Jurisprudenz,2 die seine Kritik an »Begriffsjurisprudenz« berühmt machten, sowie die von Hermann Kantorowicz 1906 unter dem Pseudonym »Gnaeus Flavius« veröffentlichte Methodenstreitschrift: Kampf um die Rechtswissenschaft,3 die die sog. »Freirechtsschule«4 mitbegründete. Obwohl Anonymität somit ein wohlbekanntes Phänomen in meinem Fach ist, ist sie uns bisher noch nicht zum Problem geworden. Dies gilt schon gar für die Frage, inwiefern das Verbergen des Autorennamens Ausdruck einer Strategie war. Nachfolgend möchte ich mich aus drei Perspektiven der mir gestellten Frage zuwenden. Zunächst möchte ich das literarische Feld sondieren, in dem juristische Autoren anonym agierten. Zweitens möchte ich versuchen, durch Gruppierung einzelner Textgattungen erste Indizien für Gesprächsstrategien anonymer Autoren zu gewinnen. Drittens möchte ich nochmals konkretisieren und mit Blick auf zwei Juristen versuchen, individuelle Anonymitätsstrategien zu rekonstruieren. Als Untersuchungszeitraum habe ich den Vormärz gewählt, den ich hier in erweitertem Begriffsverständnis als Zeit zwischen 1815 und 1848 erfassen möchte. Drei Gründe möchte ich für die Wahl dieses Zeitraumes benennen. Die Epoche ist (seit 1818) geprägt von den Karlsbader Beschlüssen, also von Zensur und Demagogenverfolgung. Es liegt zunächst auf der Hand, dass die Frage der Anonymität in Zeiten politischer Repression eine zusätzliche Bedeutung erhält. Zweitens emanzipiert sich der juristische Zeitschriftendiskurs in dieser Epoche verstärkt von den Allgemeinen Literaturzeitschriften. Anhand dieser nun fachgebundenen Literaturzeitschriften möchte ich einen spezifisch
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Leicht erweiterte Vortragsfassung. Friedrich von Spee, Cautio Criminalis oder Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse, 8. Auflage, München 2007. Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz: Eine Weihnachtsgabe für das juristische Publikum, (1884), 13. Auflage, Leipzig 1924, ND Darmstadt 1992. Gnaeus Flavius (Hermann Kantorowicz), Der Kampf um die Rechtswissenschaft, Heidelberg 1906. Zu »Freirecht« einführend und zugleich klärend nun Joachim Rückert, »Vom ›Freirecht‹ zur freien ›Wertungsjurisprudenz‹ – eine Geschichte voller Legenden«, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 125/2008, S. 199ff.
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juristischen Umgang mit Anonymität betrachten. Drittens fällt der Zugang zu individuellen Anonymitätsstrategien für diesen Zeitraum leichter, da wir über einige Autoren dieser Zeit des Aufstiegs der deutschen Rechtswissenschaft zu einer europäischen Leitwissenschaft inzwischen relativ viel wissen. Beginnen möchte ich mit einer Sondierung des Feldes. Welche Textgattungen kamen allgemein für juristische Anonymitätsstrategien in Betracht? Zunächst springen eine Flut von meist tagespolitisch motivierten Gelegenheitsarbeiten und Flugschriften ins Auge, die die publizistische Atmosphäre des Vormärz prägten. Das Anonymenlexikon von Holzmann-Bohatta5 verzeichnet hunderte derartiger Titel zu juristischen Fragen. Der Umgang mit diesen Texten ist jedoch schwierig, weil es an verbindenden Klammern fehlt. Man muss sich sehr konkret auf einzelne Gespräche einlassen und kommt dabei ohne die oft nicht aufzulösende Verfasserfrage kaum weiter. Ich möchte im Folgenden daher eine andere Textgattung betrachten, die leichteren Zugang gestattet: juristische Zeitschriften. Juristische Zeitschriften wurden seit dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert immer stärker zum zentralen Ort des Fachgesprächs.6 Die ältere juristische Literatur7 hatte sich auf Lehr- und Handbücher, vor allem aber auf Gelegenheitsschriften konzentriert, von denen vor allem die Flut von Dissertationen ein Ort war, um wissenschaftliche Streitfragen zu diskutieren. Diese Schriften waren oft kaum greifbar und förderten die Tendenz, unüberprüfbare Fußnotenberge zu Autoritätsargumenten8 aufzubauen. Indem das Fach um 1800 von Kant beeinflusst einen Wissenschaftlichkeitsschub9 erfuhr, nahm die Forderung zu, leicht greifbare Veröffentlichungsorte zu haben. Seit 1780 kam es auch in der sich nun »Rechtswissenschaft« nennenden Jurisprudenz zu einer starken Zunahme juristischer Zeitschriftengründungen.10 Zwei Drittel aller juristischen Zeit-
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Michael Holzmann u. Hanns Bohatta, Deutsches Anonymen-Lexikon, 7 Bde., Wien 1901ff.; erfasst werden die Jahre 1500–1908. Hierzu Michael Stolleis, »Einleitung« sowie Diethelm Klippel, »Die juristischen Zeitschriften im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert«, in: Juristische Zeitschriften – die neuen Medien des 18.–20. Jahrhunderts, hg. v. Michael Stolleis, Frankfurt a. M. 1999, S. VIIff. und 15ff. Überblick bei Alfred Söllner, »Die Literatur zum gemeinen und partikularen Recht in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und der Schweiz«, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren Europäischen Privatrechtsgeschichte, hg. v. Helmut Coing, Bd. II. 1, München 1977, S. 501ff. Zu diesem Problem Jan Schröder, »›Communis opinio‹ als Argument in der Rechtstheorie des 17. und 18. Jahrhunderts«, in: Wege europäischer Rechtsgeschichte. Festschrift für Karl Kroeschell zum 60. Geburtstag, hg. v. Gerhard Köbler u. a., Frankfurt a. M. 1987, S. 404ff. Im Einzelnen zu diesem Übergang Jan Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der »praktischen Jurisprudenz« auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1979 (=Ius Commune Sonderhefte 11). Das Folgende nach Klippel 1999 (wie Anm. 6), S. 18ff. und Joachim Kirchner, Bibliographie der Zeitschriften des deutschen Sprachgebietes bis 1900, Bd. 1, Stuttgart 1969; ders., Das deutsche Zeitschriftenwesen. Seine Geschichte und seine Probleme, Bd. 1, 2. Aufl. Wiesbaden 1958, Bd. 2, Wiesbaden 1962.
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schriften zwischen 1703 und 1830 entstanden nach 1781.11 Dies war nicht nur Folge des aufstrebenden Verlagswesens, sondern auch Zeichen eines Aufstiegs der Zeitschriften zum zentralen Ort wissenschaftlicher Debatten. Georg Friedrich Puchta resümierte 1844, »[h]eutiges Tages« habe sich die Diskussion über juristische Detailfragen »auf die Zeitschriften geworfen«.12 Es entstanden in kurzer Folge Zeitschriften, die den Fachdiskurs ganz maßgeblich bestimmten. Ich nenne Hugos Civilistisches Magazin (seit 1791),13 Grolmann und Löhrs Magazin für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung (seit 1800),14 Savignys berühmte Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft (seit 1815),15 das heute noch bestehende Archiv für die civilistische Praxis (seit 1818),16 das Rheinische Museum für Jurisprudenz,17 die Zeitschrift für Civilrecht und Prozeß18 und die Themis19 (jeweils seit 1828), Reyschers und Wildas Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft (seit 1839). Anonymität spielte in diesen Zeitschriften offenbar keine Rolle. Weder in der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft noch im Archiv für civilistische Praxis noch in der Zeitschrift für Deutsches Recht und Deutsche Rechtswissenschaft finden sich jedenfalls anonyme oder pseudonyme Beiträge.20 Ganz anders war dies in einem sich begleitend ausdifferenzierenden Zeitschriftenfeld, den kritischen Zeitschriften.21 Eigenständig juristische kritische Zeitschriften fan-
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Klippel 1999 (wie Anm. 6), S. 18. Georg Friedrich Puchta, Pandekten, 3. Aufl. Leipzig 1845, S. 14 f. Anm. o). Gustav Hugo, Civilistisches Magazin, 6 Bde., Göttingen 1791–1837. Karl von Grolmann/Egid von Löhr, Magazin für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung, 4 Bde., Gießen u. a. 1800–1844. In den Jahren 1800–1807 (Bde. 1 und 2) hieß die Zeitschrift: Magazin für die Philosophie und Geschichte des Rechts und der Gesetzgebung. Friedrich Carl von Savigny, Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, 15 Bde., Berlin 1815–1850. Archiv für die civilistische Praxis, erscheint seit 1818 unter verschiedenen Herausgebern; lediglich in den Jahren 1940 und 1942 erschien die Zeitschrift nicht. Johann Christian Hasse (Hg.), Rheinisches Museum für Jurisprudenz, 7 Bde., Bonn 1827–1835, (Bd. 1/1827 auch unter dem Titel: Rheinisches Museum für Jurisprudenz, Philologie, Geschichte und griechische Philosophie; Bde. 5/1833–7/1835 auch unter dem Titel: Neues rheinisches Museum für Jurisprudenz, 1–3). Justin Timotheus Balthasar Linde (Hg.), Zeitschrift für Civilrecht und Prozeß, Gießen. Erschienen: 1/1828–20/1844; N.F. 1/1845-N.F. 22/1865. Christian Friederich Elvers (Hg.), Themis, Göttingen 1/1828–2/1830; N.F. 1/1838/41; Bde. 1–2 unter dem Titel Themis. Zeitschrift für praktische Rechtswissenschaft. Dies ergibt eine Überprüfung der Inhaltsverzeichnisse, die Joachim Rückert dankenswerterweise zur Nutzung bereitgestellt hat: http://web.uni-frankfurt.de/fb01/rueckert/ZgeschRW%20etc. html. Juristische kritische Zeitschriften wurden bisher kaum untersucht. Eine Pionierstudie hat vorgelegt Joachim Rückert, »Jurisprudenz und ›wissenschaftliche Kritik‹ in den ›Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik‹ (1827–1846)«, in: Die »Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik«. Hegels Berliner Gegenakademie, hg. v. Christoph Jamme, Stuttgart 1994, S. 449ff.; erster Überblick bei Klippel 1999 (wie Anm. 6), S. 24ff.; daneben nun Norman Senk, Junghegelianisches Rechtsdenken. Die Staats-, Rechts- und Justizdiskussion der »Hallischen« und »Deutschen Jahrbücher« 1838–1843, Paderborn 2007; ein guter Überblick für Literaturzeitschriften allgemein noch im-
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den sich um 1800 nur vereinzelt. Zu nennen sind die von Klüber zwischen 1786 und 1793 herausgegebene Kleine Juristische Bibliothek22 und das Tübinger Juridische Archiv, erschienen zwischen 1801 und 1810, herausgegeben von Danz, Gmelin und Tafinger.23 Die fachliche Bedeutung dieser rein juristischen Rezensionsorgane blieb zunächst aber wohl gering. Die überwiegende Zahl der Juristen rezensiert weiterhin in fachübergreifenden kritischen Zeitschriften. So veröffentlichte Anton Friedrich Justus Thibaut,24 geboren 1772, seine Rezensionen fast durchweg in der A.L.Z.25 und den Heidelbergischen Jahrbüchern.26 Der Göttinger Gustav Hugo, geboren 1764, hatte »alle Arbeiten dieser Art den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen bestimmt«.27 Savigny, geboren 1779, rezensierte zwischen 1804 und 1808 in der A L.Z. und den Heidelberger Jahrbüchern.28 In den 1820er Jahren änderte sich dies jedoch. Die nun antretende jüngere Professorengeneration rezensierte fast nur noch in eigenständigen juristischen kritischen Zeitschriften. Dies gilt für Carl Georg von Wächter, geboren 1797, der nach einer frühen Rezension in den Heidelberger Jahrbüchern im Jahre 1823 seit 1826 Mitherausgeber der überregional wirksamen und bis 1829 in sechs Bänden erscheinenden Tübinger Kritischen Zeitschrift für Rechtswissenschaft wurde und fast nur noch dort rezensierte.29 Georg Friedrich Puchta, geboren 1798, rezensierte nahezu ausschließlich in zwei noch erfolgreicheren juristischen kritischen Zeitschriften, in Schuncks Erlanger Jahrbüchern und in Richters Kritischer Zeitschrift.30 Die sog. Erlanger Jahrbücher erschienen zwischen 1826 und 1836 in insgesamt 27 Bänden und wurden so zur umfangreichs-
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mer: Sibylle Obenaus, »Die deutschen allgemeinen kritischen Zeitschriften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entwurf einer Gesamtdarstellung«, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens XIV, 1974. S. 1ff.; dies., Literarische und politische Zeitschriften 1830–1848, Stuttgart 1986. Kleine Juristische Bibliothek oder ausführliche Nachrichten von neuen kleinern iuristischen vornehmlich akademischen Schriften mit unpartheyischen Prüfungen derselben, hg. v. Johann Ludwig Klüber, Bd. 1–7, Erlangen 1786–1793. Kritisches Archiv der neuesten juridischen Litteratur und Rechtspflege in Teutschland, hg. v. Wilhelm August Friedrich Danz, Christian Gottlieb Gmelin u. Wilhelm Gottlieb Tafinger, Tübingen in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung 1801–1810. Ich entnehme dies dem Schriftenverzeichnis bei Rainer Polley, Anton Friedrich Justus Thibaut (AD 1772–1840) in seinen Selbstzeugnissen und Briefen, Frankfurt a. M. 1982, Teil 1, S. 281ff. Hierzu Stephan Pabst, »Der anonyme Rezensent und das hypothetische Publikum. Zum Öffentlichkeitsverständnis der Allgemeinen Literatur-Zeitung«, in: Organisation der Kritik. Die Allgemeine Literatur-Zeitung in Jena, hg. v. Stefan Matuschek, Heidelberg 2004, S. 23ff. Vgl. Otto Pöggeler, »Die Heidelberger Jahrbücher im wissenschaftlichen Streitgespräch«, in: Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800, hg. v. Friedrich Strack, Stuttgart 1987, S. 154ff. Gustav Hugo, »Über den Plan dieses Journals«, in: Civilistisches Magazin I, 1791, S. 16. Vgl. Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984, S. 12f. Ich entnehme das dem Schriftenverzeichnis bei Christoph Mauntel, Carl Georg von Wächter (1797–1880), Paderborn 2004, S. 306ff. Schriftenverzeichnis bei Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die »Begriffsjurisprudenz«, Frankfurt a. M. 2004, S. 473ff.
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ten juristischen Rezensionszeitschrift des Vormärz.31 Sie erschienen im Verein mit 15 bundesweit verteilten Professoren und Praktikern, waren also von Anfang an überregional ausgerichtet. Das gleiche gilt für die noch angeseheneren, vom bekannten Kirchenrechtler Aemilius Ludwig Richter in Leipzig herausgegebenen Kritischen Jahrbücher für deutsche Rechtswissenschaft,32 die zwischen 1837 und 1848 wichtigster Rezensionsort der Rechtswissenschaft wurden und eine Reihe namhafter Mitarbeiter versammeln konnten. Neben Puchta rezensierten hier etwa auch Justus Friedrich Abegg, Karl Friedrich Ferdinand Sintenis, Wilhelm Eduard Wilda, August Ludwig Reyscher, Philipp Eduard Huschke, Robert von Mohl, Romeo Maurenbrecher, Ernst Theodor Gaupp, Leopold Warnkönig und Wilhelm Eduard Albrecht. Auch Georg Beseler, geboren 1809, begann hier seine Rezensententätigkeit.33 Neben diesen genuin juristischen Rezensionsorganen behielten neben der A.L.Z. vor allem drei fachübergreifende Literaturzeitschriften für die Rechtswissenschaft Bedeutung. Zunächst sind zu nennen Hegels Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik.34 Diese waren nicht nur aufgrund des Gründungsherausgebers, Hegelschülers und Juristen Eduard Gans35 bedeutend. Vielmehr beteiligten sich auch viele Hegel skeptisch gegenüberstehende Juristen als Autoren vor allem aus der Berliner Fakultät.36 Daneben wurden die Halleschen und Deutschen Jahrbücher zwischen 1838 und 1843 zum Ort zentraler juristischer Debatten.37 Die Heidelbergischen Jahrbücher schließlich gewannen vor allem durch Thibaut als Redakteur juristische Reputation.38 Bei meiner Untersuchung dieser Zeitschriften auf mögliche Anonymitätsstrategien möchte ich meine Fragestellung differenzieren. Ich möchte im Folgenden Anonymität in zwei Feldern untersuchen, im politischen und im wissenschaftlichen Feld. Dabei behaupte ich nicht, dass zwischen diesen beiden Bereichen an juristischen Texten trennscharf unterschieden werden kann. Es handelt sich jedoch um zwei von juristischen Autoren des Vormärz nach meinem Eindruck scharf unterschiedene Gesprächsfelder. Zeitgenossen unterschieden bei der Wahl der Veröffentlichungsorte klar danach, ob sie sich hier auf potentiell politisches oder wissenschaftliches Feld begaben. Die Unterscheidung ist besonders mit Blick auf die von Juristen wohl besonders wahrgenommenen rechtlichen Rahmenbedingungen der Anonymität hilfreich. Als ein in rechtlicher Perspektive eher
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Friedrich Christoph Karl Schunck (Hg.), Jahrbücher der gesamten deutschen juristischen Literatur, 27 Bde., Erlangen 1826–1836. Aemilius Ludwig Richter (Hg.), Kritische Jahrbücher für deutsche Rechtswissenschaft, 24 Bde., Leipzig 1837–1848. Nach Schriftenverzeichnis bei Bernd Rüdiger Kern, Georg Beseler. Leben und Werk, Berlin 1982, S. 558f. Einführend Sibylle Obenaus, »Berliner Allgemeine Literaturzeitung oder ›Hegelblatt‹?«, in: Jamme 1994 (wie Anm. 21), S. 15ff. Zur Bedeutung von Gans: Norbert Waszek, »Eduard Gans, die ›Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik‹ und die französische Publizistik der Zeit«, in: Jamme 1994 (wie Anm. 21), S. 93ff. Zusammenstellung der Mitarbeiter bei Joachim Rückert (wie Anm. 21), S. 460. Hierzu nun Norman Senk, Junghegelianisches Rechtsdenken, 2007. Vgl. Obenaus, Die deutschen allgemeinen kritischen Zeitschriften (wie Anm. 21).
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politisches Veröffentlichungsorgan wurden von den genannten Zeitschriften vor allem die Halleschen Jahrbücher wahrgenommen. Ruges junghegelianisch motivierte Gründung richtete sich bekanntlich zunächst gegen die auf Hegel selbst zurückgehenden Berliner Jahrbücher, die eher ein neutral wissenschaftliches Profil entwickelten. Für Ruge ging es darum, die auch in Berlin gepflegte39 »wahre Wissenschaftlichkeit« in die »rechte Bewegung zu«40 setzen. Es ging um eine offensive und deutlich politische Wendung des Hegelianismus und damit um eine Abwendung von dem, was auch Eduard Gans selbstkritisch im Rückblick den Berliner Jahrbüchern vorwarf, nämlich in den »mehr gewöhnlichen Kreis« der Literaturzeitungen zurückgefallen zu sein41. Die Halleschen Jahrbücher entwickelten sich zu einem für Juristen zentralen Ort für rechtspolitische Debatten. Es ging um Fragen der Staatsverfassung, des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, des überpositiven Rechts, der Juristenausbildung, der Kodifikation, der Öffentlichkeit und Mündlichkeit im Strafprozess, der Schwurgerichte und der Justizreform42. Im Zentrum stand damit eine ab Ende 1839 zunehmend kritische 43 Auseinandersetzung mit dem bestehenden, insbesondere preußischen Staat. Es überrascht nicht, dass viele juristische Beiträge der Halleschen Jahrbücher anonym erschienen. Von den 266 von Norman Senk jüngst ausgewerteten juristischen Beiträgen zur Staats- und Rechtsverfassung in den Halleschen Jahrbüchern erschienen immerhin 80 Beiträge anonym. Zieht man von den verbleibenden 194 Beiträgen etwa die 60 Beiträge allein des Herausgebers Ruge ab, zeigt sich, dass sehr viele Autoren diese Zeitschrift nur anonym nutzten. Der Grund hierfür dürfte ziemlich eindeutig in der politischen Gefährlichkeit der Texte liegen. Die Halleschen Jahrbücher entgingen durch den Umzug nach Dresden den Zensurquerelen nicht und wurden bekanntlich 1843 verboten.44 Anonymität als Strategie bewegte sich hier in zwei gefährlichen rechtlichen Problemfeldern. Zunächst bewegte man sich hier auf dem primär polizeirechtlichen Feld der Zensur.45 Vor allem aber schwebte in strafrechtlicher Perspektive das Damoklesschwert des Hochverrats über den Köpfen der Autoren. Die Demagogenverfolgung hatte bei vielen bekannten Juristen des Vormärz Spuren hinterlassen. Dies gilt nicht nur für Jacob Grimm und Wilhelm Eduard Albrecht, die Juristen der Göttinger Sieben.46 Auch Karl Friedrich Eichhorn, der enge Freund Savignys und Mitbegründer der Historischen Rechtsschule, verließ bereits 1816 die Berliner Universität, nachdem der König bekannt gegeben hatte, Zensurfreiheit gelte nur für wissenschaftliche, nicht für politische Schriften, und weil man ihn zudem wegen seiner Mitgliedschaft im Königsberger Tugendbund revolutionärer Umtriebe
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Rückert 1994 (wie Anm. 21), S. 467ff. Arnold Ruge, Aus früherer Zeit, Bd. 4, Berlin 1867, S. 462f. Eduard Gans, Rückblicke auf Personen und Zustände, Berlin 1836, S. 256. So die Zusammenstellung der Themen bei Senk 2007 (wie Anm. 27), Inhaltsverzeichnis. Einzelheiten bei Senk, 2007 (wie Anm. 27), S. 64. Vgl. Edda Ziegler, Literarische Zensur in Deutschland 1819–1848, München u. a. 1983, S. 157. Hierzu jüngst Jakob Julius Nolte, »Polizeirecht, Spitzel und Denunzianten – Eine gemeinsame Entstehungsgeschichte während der Demagogenverfolgung in Preußen«, in: Forum historiae iuris (www.forhistiur.de/zitat/0904nolte.htm). Hierzu nun die interessante Arbeit von Miriam Saage-Maaß, Die Göttinger Sieben – demokratische Vorkämpfer oder nationale Helden?, Göttingen 2007.
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verdächtigte.47 Karl Theodor Welcker floh 1819 von Bonn nach Baden, weil gegen ihn eine Untersuchung wegen Teilnahme an demagogischen Umtrieben eingeleitet worden war.48 Eine Vielzahl im Vormärz bedeutsamer Juristen entstammte zudem dem Milieu der Burschenschaften und hatte in diesem Kontext mit der Demagogenverfolgung Erfahrung gemacht. Georg Beseler war Mitglied der damals verbotenen Kieler Burschenschaft Germania.49 Wegen seiner Zugehörigkeit zur Erlanger Burschenschaft stand Georg Friedrich Puchta zeitweise unter Polizeiaufsicht.50 Friedrich Julius Stahl wurde wegen seiner Beteiligung am Streitberger Burschentag 1824 verhaftet und relegiert.51 Adolph Dieterich Weber hatte bereits 1793 klargestellt, dass in Verfolgungszeiten Autoren ihre Wahrheiten »nur unter dem Schutze der Anonymität stiften konnten, ohne ihre bürgerliche Existenz und Freiheit der größten Gefahr auszusetzen, mithin gegen sich und die Ihrigen ungerecht zu handeln«.52 Dass freilich Anonymität hier überhaupt eine Möglichkeit war, sich politischer Verfolgung zu entziehen, folgte daraus, dass gerade Juristen ein Verbot der Anonymität abwendeten. Die alten Reichsgesetze, die ein solches Verbot ausgesprochen hatten,53 wurden nach der Auflösung des Ancien Regime im Jahr 1806 von Juristen überwiegend als nicht mehr geltend hinweginterpretiert.54 Die Karlsbader Beschlüsse verlangten lediglich die Offenlegung des Verlegers und des Redakteurs, nicht die des Autors.55 Weitergehende Forderungen, mit Blick auf eine Effektivierung der strafrechtlichen Verfolgung Anonymität, ähnlich der französischen Pressegesetzgebung von 1850, ganz zu verbieten, konnten sich nicht durchsetzen.56 Heinrich Karl Jaup57 fasste 1848 im Staatslexikon von Rotteck und Welcker die hiergegen vorgebrachten Gründe zusammen: »Dies Verbot der Anonymität könnte häufig durch Pseudonymität umgangen werden; es würde manchen dem gemeinen Wesen und
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Vgl. Johann Friedrich von Schulte, Karl Friedrich Eichhorn. Sein Leben und Wirken, Stuttgart 1884, S. 42f. Vgl. v. Weech, Art. Welcker, in: ADB 41, Leipzig 1896, S. 661. Kern 1982 (wie Anm. 33), S. 20f. Hierzu Hartmut Frommer, »Die Erlanger Juristenfakultät und das Kirchenrecht 1743–1810«, in: Jus Ecclesiasticum 21/1974, S. 132f.; Ernst Höhne, Die Bubenreuther. Geschichte einer deutschen Burschenschaft, Erlangen 1936, S. 34ff. Höhne, Die Bubenreuther 1936 (wie Anm. 50), S. 83 wirft Stahl vor, in der Haft andere Mitglieder der Burschenschaft denunziert zu haben; keine Hinweise hierzu bei Gerhard Masur, Friedrich Julius Stahl. Geschichte seines Lebens, Bd. 1: 1802–1840, Berlin 1930; Wilhelm Füssl, Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802–1861), Göttingen 1988. Adolph Dieterich Weber, Über Injurien und Schmähschriften, hier nach 4. unveränderter Aufl. Leipzig 1820, Bd. 3, S. 73. Ebd. S. 86f. Zum Problem der Fortgeltung von Reichsgesetzen nach 1806: Hans-Peter Haferkamp, »Die Bedeutung von Rezeptionsdeutungen für die Rechtsquellenlehre zwischen 1800 und 1850«, in: ders. u. Tilman Repgen, Usus modernus pandectarum. Römisches Recht, Deutsches Recht und Naturrecht in der frühen Neuzeit. Klaus Luig zum 70. Geburtstag, Köln 2007, S. 25ff. § 9 der Karlsbader Beschlüsse von 1819; abgedruckt bei Ziegler 1983 (wie Anm. 44), S. 11. So etwa Anonymus (Georg Friedrich Puchta), »Die Censurfrage«, in: Fliegende Blätter für Fragen des Tages, Berlin 1843, S. 26 (im Gegenzug zur Abschaffung der Zensur). Zu Jaup vgl. Wippermann, Art. Jaup, in: ADB 13, Leipzig 1881, S. 733ff.
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den Wissenschaften nützlichen Schriftsteller zum Stillschweigen verurteilen; und würde, wo Missbräuche und Gebrechen in der Staatsverwaltung vorhanden sind, die Aufhellung eines großen Theils derselben durch die Besorgniß, auf irgend eine Weise verfolgt zu werden, gänzlich verhindern«.58 Im gleichen Maße, wie Anonymität den Autor damit weiter schützen konnte, wurde sie zu einer Gefahr für Verleger und Redakteure, die mit einem Verbot der Zeitschrift und einem fünfjährigen Berufsverbot für den Inhalt der Texte hafteten.59 Hegel hatte sich 1819/20 mit Blick hierauf dafür ausgesprochen, in einer kritischen Zeitschrift den Namen des Verfassers stets anzugeben.60 Er wollte damit den »Schein« vermeiden, dass die anonymen Kritiken »Produkte, Ansichten und Urteile des ganzen Instituts« seien. Hegel erkannte eine Haftung der Redaktion dafür an, dass nicht »auf irgendeine Weise Unschickliches« unterlaufe. Durch die Herausstellung seiner Individualität sollte gleichwohl der Autor in eine, so Hegel, »solidare Responsabilität« eingebunden werden. Ein besonders im politischen Feld gefährliches Problem war zudem, dass die aus der Anonymität folgenden Spekulationen der Leser über mögliche Autoren zu politisch gefährlichen Verdächtigungen führen konnten. Die Briefwechsel im Vormärz sind bekanntlich voller derartiger Spekulationen. Der Heidelberger Strafrechtler Conrad Franz Roßhirt meinte 1833 im Vorwort seiner Abhandlungen civilistischen und criminalistischen Inhalts beispielhaft,61 er habe »nie etwas geschrieben« ohne seinen Namen beizusetzen, was in dieser Zeit der »Verleumdung« und »Preßungebührnisse« auszusprechen er für seine Pflicht halte. Neben der zu vermutenden individuellen Anonymitätsstrategie der Strafvermeidung finden sich besonders im politischen Feld auch kollektive Strategien der Anonymität zum Zwecke der Gruppenbildung. Georg Beseler, der ansonsten auch politische Stellungnahmen meist mit seinem Namen versah, veröffentlichte einen politischen Beitrag ausnahmsweise anonym,62 da die Preußischen Jahrbücher als Veröffentlichungsort dem Prinzip folgten: »Die Partei, nicht der einzelne, noch so glänzende Name sollte das Organ tragen«.63 Auch bei den sogenannten Fliegende[n] Blättern für Fragen des Tages, die Heinrich Leo in Berlin 1843 anonym herausgab, wurden die Autoren zum anonymen Kollektiv verschmolzen, hier unter dem Panier: »Für die Freiheit wider ihre Feinde«.64
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Heinrich Karl Jaup, »Pressfreiheit, freie Presse, Freiheit der Presse«, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. 11, 2. Auflage, Altona 1848, S. 31. Ziegler 1983 (wie Anm. 44), S. 11. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Berliner Schriften 1818–1831, Bd. 11, Frankfurt a. M. 1986, S. 19f. Conrad Franz Roßhirt, Vorwort zu seinen Abhandlungen civilistischen und criminalistischen Inhalts, Heidelberg 1833, Bd. 1, S. III. Politische Correspondenz, Preussische Jahrbücher, VII. Band, 3. Heft zitiert in Kern 1982 (wie Anm. 33), S. 552. Vgl. Otto Westphal, Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus, München 1919, S. 50; Kern 1982 (wie Anm. 33), S. 552. Heinrich Leo (anonym), Fliegende Blätter für Fragen des Tages, Berlin 1843, Vorwort S. 2.
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Andere Rahmenbedingungen prägten das Gesprächsverhalten im zweiten Untersuchungsfeld, den wissenschaftlichen kritischen Zeitschriften. Hier spielte das Recht für die Wahl der Anonymität eine weitaus geringere Rolle. Grenzen zog hier das Institut der gemeinrechtlichen Iniuria, der Beleidigungsklage, die zeitgenössisch am Schnittfeld zwischen privatrechtlicher Deliktsklage und strafrechtlicher Privatklage angesiedelt war.65 Ort der Regelung war damit das Gemeine Recht, also ein Rechtsgebiet ›ohne Staat‹, das nur von der Rechtswissenschaft und der Judikatur geprägt wurde. Erst mit der Regelung der Materie im Strafgesetzbuch von 1871 (§§ 185ff.) verdrängte der Gesetzgeber diesen autonomen Wissenschaftsdiskurs über die Grenzen der Beleidigung.66 Konsequent für diese interne Wissenschaftsperspektive wurde zuvor die wissenschaftliche Kritik vor rechtlichen Grenzen weitgehend geschützt. Zwar war man sich einig darüber, dass Anonymität nicht vor einer rechtlichen Haftung schützen dürfe, mithin Mitwisser wie Redakteure oder Verleger zur Angabe des Verfassernamens gezwungen werden konnten.67 Indem man aber zugleich die Hürden für Iniurien bei wissenschaftlichen Stellungnahmen bewusst hoch hängte, erreichte man die Sicherung eines Freiheitsraumes der wissenschaftlichen Kritik, weil, so Mittermaier 1844, das Urtheil über die geistige Würdigkeit einer Person, über ihre Talente und über ihre Leistungen im wissenschaftlichen, künstlerischen oder Gewerbekreise frei sein muß und keine Inurie begründet, weil die Eigenschaften des Geistes nicht mit der moralischen Würdigkeit zusammenhängen, weil niemand deswegen verächtlich wird, dass er geistige Talente oder eine gewisse Geschicklichkeit nicht besitzt, weil jeder dadurch, dass er im Leben mit gewißen Leistungen hervortritt, auch allen Anderen das Recht gibt, über den Werth der Leistung zu urtheilen, und er daher auch auf Tadel gefaßt sein muß, weil endlich der Richter nicht im Stande ist, über die Wahrheit solcher Urtheile zu entscheiden.68
Die Entscheidung, die Verfasserschaft nicht offen zu legen, folgte im wissenschaftlichen Feld daher anderen Strategien und diente weniger der Vermeidung einer Verfolgung. Die Ermittlung der Autorenmotivationen wird damit komplexer. Kaum Anhaltspunkte für Anonymitätsstrategien ergeben sich zunächst dann, wenn Zeitschriften selbst Vorgaben in dieser Frage machten. Es wäre verkürzt, in der Wahl der A.L.Z. primär eine Entscheidung für Anonymität, in der Wahl der Berliner Jahrbücher eine Entscheidung dagegen zu sehen, da andere Motivationen wie Loyalitäten
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Zur Entwicklung der actio iniuriarum Robert Mainzer, Die aestimatorische Iniurienklage in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Stuttgart 1908; Katrin Kastl, Das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Der Prozess seiner Anerkennung als »sonstiges Recht« im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB, Ebelsbach 2004, S. 6ff.; Karl Heinz Hambrecht, Persönlichkeitsrecht im 19. Jahrhundert, Diss. masch. Würzburg 1965, insb. S. 13ff.; Dieter Leuze, Die Entwicklung des Persönlichkeitsrechts im 19. Jahrhundert, Bielefeld 1962, S. 72ff. So jedenfalls die damals herrschende Meinung; hierzu Hambrecht 1965 (wie Anm. 65), S. 18– 24. Zu den Einzelheiten vgl. die Positionen von Weber 1820 (wie Anm. 52), S. 94, und Johann Georg Schlosser, »Prüfung der Theorie der Iniurienprozesse«, in: Hugo, Civilistisches Magazin I/1793, S. 201. Karl Josef Anton Mittermaier, Art. Iniurien, in: Weiskes Rechtslexikon, Bd. 5, Leipzig 1844, S. 891 unter Berufung auf Weber 1820 (wie Anm. 52).
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durch regionale Zugehörigkeiten, persönlicher Nähe oder Schulzusammenhalt, aber auch die wissenschaftliche Reputation der Zeitschrift die Wahl des Publikationsortes mitbestimmten. Zugänge bieten sich hier nur zu Herausgeberstrategien. Andere Zeitschriften als die A.L.Z., mit einem von den Herausgebern angestrebten anonymen Profil, finden sich im Bereich der kritischen Zeitschriften soweit ersichtlich nicht. Stattdessen finden sich juristische Zeitschriften, die Anonymität weitgehend ausschlossen. Gans folgte als Herausgeber den dargelegten Vorgaben Hegels und machte in den Berliner Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik juristische anonyme Rezensionen zum großen Ausnahmefall. In den von Joachim Rückert zusammengestellten 177 juristischen Rezensionen der Berliner Jahrbücher finden sich nur zwei Fälle von Anonymität und fünf Pseudonyme.69 Deutlich gegen anonyme Rezensionen sprach sich auch die Tübinger Kritische Zeitschrift aus. Von 205 veröffentlichten Rezensionen erschienen daher nur drei ohne Nennung des Verfassers. Diesem Profil lagen Strategien der Herausgeber zugrunde. Beiden ging es offenbar um eine Steigerung der Qualität. Für die Berliner Jahrbücher wurde auf Hegels Forderung hingewiesen, die mögliche politische Haftung nicht allein den Herausgebern und Redaktionen aufzubürden.70 Er brachte ein zweites, weniger politisch motiviertes Argument. Während in politischer Perspektive, wie gezeigt, Autorengruppen durch Anonymität oft zu einer schlagkräftigen Einheit verbunden werden sollten, warnte Hegel gerade vor dem »leeren Schein eines gemeinsamen Gerichtshofes«. Die scheinbare Absicherung durch ein Kollektiv flöße Autoren »einen eigenen Ton des Aburteilens und etwas von der Meinung ein […], nicht persönlich für ihre Meinung einzustehen«.71 Auch die Tübinger Kritische Zeitschrift fürchtete unter dem Mantel der Anonymität »gehässige Persönlichkeiten, unredliche Schmeicheleien und flüchtige Seichtigkeit«.72 Neben Zeitschriften, die Vorgaben zur Frage der Anonymität gaben, finden sich solche, die in dieser Sache den Autoren Entscheidungsfreiheit gewährten. Ein Profil in der Anonymitätsfrage bieten diese Zeitschriften gleichwohl oft. Schuncks Erlanger Jahrbücher zeigen sich stark von Anonymität geprägt. Von 614 Rezensionen waren nur 208 mit Verfassernamen versehen. Zwei Drittel der Rezensionen erschienen hier also anonym. Fast gegenteilig präsentieren sich Richters Kritische Jahrbücher. Von 640 Rezensionen erschienen 560 mit Nennung des Verfassers. Ein Achtel der Rezensionen erschien hier also anonym. Warum das so war, lässt sich nicht mit Sicherheit ermitteln. Keine Vorgaben erteilten auch die Heidelbergischen Jahrbücher. Im Hinweisblatt für Autoren73 hieß es: »Jeder Recensent hat, im Fall er dies wünschen sollte, das Recht, sich unter seiner Kritik zu unterzeichnen. Im entgegengesetzten Falle wählt er sich eine Chiffre und darf auf un-
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Rückert 1994 (wie Anm. 21), S. 475ff. Vgl. oben zu Anm. 60. Hegel 1986 (wie Anm. 60), S. 20. Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft, Erster Band 1826, Vorwort, S. V. Polley 1982 (wie Anm. 24), S. 265.
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sere Verschwiegenheit rechnen«.74 Nach der Auswertung Obenaus erschienen vielleicht unter dem Einfluss der Romantiker um Creuzer75 auch in den Heidelberger Jahrbüchern relativ viele Rezensionen mit Verfassernennung, aber auch anonyme Rezensionen waren verbreitet.76 Die Wahl des Veröffentlichungsortes sagte damit in diesen Fällen nichts über die Frage der Anonymität aus. Damit bietet diese bewusste Wahl keinen Zugang zu Strategien der Autoren. Um zu verstehen, warum ein Autor anonym blieb, bedarf es freilich einer genauen Nachzeichnung des Veröffentlichungskontexts. Dies wird schon dadurch erschwert, dass gerade bei diesen drei genannten Zeitschriften ein Verfasserverzeichnis wie es etwa Bulling77 für die A.L.Z. oder Fambach für die Göttingischen Gelehrten Anzeigen78 herausgegeben hat, meines Wissens nicht existiert. Rechtshistorische Biographien übersehen zumeist die anonymen Veröffentlichungen ihrer Untersuchungsgegenstände. Um Autoren ihre Werke zuzuweisen, bleibt damit nur die zeitaufwendige Analyse zeitgenössischer Briefwechsel. Erst damit ist jedoch der Einstieg für ein Verständnis der Kontexte und Gespräche möglich, in denen sich Texte positionierten. Ohne konkrete Einzelstudien findet man auf dem epistemologisch ziemlich glatten Boden der Frage nach Strategien der Anonymität kaum Halt. Für zwei Autoren des Vormärz möchte ich nun abschließend versuchen, ihren Umgang mit Anonymität in diesem Sinne etwas genauer zu rekonstruieren. Es handelt sich um Anton Friedrich Justus Thibaut, geboren 1772, und um Georg Friedrich Puchta, geboren 1798. Ich beginne mit einigen Erwägungen zu dem in Heidelberg lehrenden berühmten Pandektisten Anton Friedrich Justus Thibaut. Thibaut war 1815 zu Beginn des Vormärzes mit 42 Jahren bereits lange etabliert.79 Thibauts Denken über Anonymität hatte bereits um die Jahrhundertwende wichtige Prägungen erhalten. 1798 wetterte er in seinen Versuche[n] über einzelne Theile der Theorie des Rechts gegen übertriebene »Humanität und Milde« in Rezensionen und die »jetzt so oft gepriesene Liebe, gegen welche Gerechtigkeit Laster, und unpartheyische Strenge ein Verbrechen«80 sei. Thibaut sah die Chance der Anonymität darin, dass der Rezensent weder auf seine eigene Reputation noch auf den Autor unnötig Rücksicht nehmen musste.
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80
Ebd., S. 244 (1808). Pabst 2004 (wie Anm. 25), S. 23ff. Eine genaue Auswertung war mir hier nicht möglich. Karl Bulling, Die Rezensenten der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung, 3 Bde., Weimar 1962, 1963, 1965. Oscar Fambach, Die Mitarbeiter der Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1769–1836, Tübingen 1976. Zu Thibaut Polley 1982 (wie Anm. 24), Rückert 1984 (wie Anm. 28), S. 160ff.; ders., »Heidelberg um 1804, oder: die erfolgreiche Modernisierung der Jurisprudenz durch Thibaut, Savigny, Heise, Martin, Zachariä u. a.«, in: Strack 1987 (wie Anm. 26), S. 83ff. Anton Friedrich Justus Thibaut, Versuche über einzelne Theile der Theorie des Rechts, 2. Aufl. Altona 1817, S. 279.
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Jetzt gelingt doch noch manchem Schwachen unter dem Schilde der Dunkelheit ein guter Gedanke, weil er es darauf wagt; unterzeichnete sich jeder, so würde kein Schwacher einen Schritt thun, um der Schande des Fallens zu entgehen […]. Ferner: wie mancher kleine Geist hat jetzt nicht die unschuldige Freude, ungestraft an einem großen Mann zum Ritter zu werden; und wo lassen sich jugendliche Kräfte besser üben, als da, wo sie durch alles gespannt und durch nichts niedergedrückt werden?81
Auch seine eigene »unpartheyische Strenge« wollte er offenbar nicht mit Gedanken um seine Reputation belasten. Daher rezensierte Thibaut vor 1814 mit einer Ausnahme durchweg anonym.82 Ort dieser Rezensionen waren neben der A.L.Z. seit ihrer Gründung im Jahr 1808 zumeist die Heidelbergischen Jahrbücher, die, wie gezeigt, keine verbindlichen Vorgaben hinsichtlich der Anonymität gaben. Da gleichwohl viele Rezensionen in den Heidelbergischen Jahrbüchern unter dem Verfassernamen erschienen, entschied sich Thibaut bewusst für eine eigene und abweichende Strategie der Anonymität. Als Thibaut 1808 die Betreuung der juristischen Sektion der Heidelbergischen Jahrbücher als Redakteur übernahm,83 ließ er das oben erwähnte Hinweisblatt für Autoren84 streichen.85 Er wies Niebuhr darauf hin, dass die darin genannte Möglichkeit der Anonymisierung noch von der alten Redaktion stamme86 und durch die Übernahme der Redaktion durch ihn, Fries und Wilken eine Neuausrichtung der Heidelbergischen Jahrbücher einhergehe. Es sei lange sein Wunsch gewesen, das »so viel als möglich nur bedeutende Männer bedeutende Werke recensieren«, was bedeute, dass »unsere Jahrbücher aufhören, der Tummelplatz wilder Romantiker, Witzlinge und Mystiker zu werden, welche die bisherige Redaction auf eine unverantwortliche Art in unsrer Zeitung toben und schreyen ließ«.87 Das ging gegen die »Herren Arnim, Brentano und ihres Gleichen«.88 Namensnennung wurde für Thibaut ein Mittel, um seine antiromantische Neuausrichtung der Zeitschrift zu verdeutlichen und zugleich seinen Qualitätsanspruch offenzulegen. Parallel zu dieser Herausgeberstrategie geriet auch für ihn selbst Thibauts Ideal des Autors, dessen ›unpartheyische Strenge‹ am besten unter dem Mantel der Anonymität gedeihen sollte, aus dem Blick. Als er nach 1814 im Umfeld des Kodifikationsstreites mit Savigny selbst Gegenstand heftiger Angriffe wurde, nahm Thibauts Verletzbarkeit zu. In seinen Stellungnahmen sah er sich zum offenen Eintreten für seine Überzeugungen veranlasst, was ihm ohne Namensnennung nicht opportun erschien. Den scharfen Angriffen Gustav Hugos hielt er 1816 entgegen: »Hugo mag auch ferner gegen mich die Rolle eines furiosi spielen; mich soll er nicht zu der entferntesten Parteylichkeit bringen,
81 82 83 84 85 86 87
88
Thibaut 1817 (wie Anm. 71), S. 278f. So die Auswertung von Polley 1982 (wie Anm. 24), S. 277ff. (Ausnahme dort Nr. 55). Obenaus, Die deutschen allgemeinen kritischen Zeitschriften (wie Anm. 21) , Sp. 52. Vgl. oben zu Anm. 24. Polley 1982 (wie Anm. 24), S. 265. Ebd. Ebd., S. 263. Hufeland hatte er schon 1801 zu seinem Ausscheiden als Herausgeber der A.L.Z. gratuliert unter Hinweis auf die »vielen Neckereyen (…), welche jetzt der Lieblings-Ton zu werden scheinen«, Polley 1982 (wie Anm. 24), S. 572. Ebd., S. 264.
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obgleich ich nie mit vielen Andern sein Schmeichler werden werde«. Inzwischen hielt er es für notwendig, gerade durch Namensnennung die Unparteilichkeit und Würde der Rezension zu sichern«.89 Aus der Aristoteles zugeschriebenen Maxime »amicus Plato, sed magis amica veritas« folgte für ihn nun, dass er »mit Unterschrift meines Namens« Savigny rezensierte, denn: »Die Sache ist zu groß, als dass man dabey der Freundschaft irgend etwas nachgeben dürfte«.90 Anonymität wurde vom ermutigend-schützenden Mantel zur unwürdigen Tarnkappe. Bei all dem vermied Thibaut im Vormärz offenes politisches Engagement. Sein Rezensionsverständnis setzte in spätaufklärerischer Prägung auf den würdig-unparteiischen, nur seiner Wissenschaft verpflichteten Gelehrten. Seine noch 1815 geäußerte Hoffnung auf einen »innigen Verein der Aufgeklärten für Wahrheit und Recht, zur Belehrung der Fürsten und Völker, damit Jeder seine Pflicht erkenne, und damit das, was geschehen soll, nicht von dem wilden Toben der unverständigen Menge abhängig werde«,91 ging im politischen und wissenschaftlichen Kontext des Vormärz zuschanden. Im Umfeld sich verschärfender politischer und wissenschaftlicher Schulbildungen verteidigte er zunächst unter seinem Namen auch sein Ideal. Zunehmend verbittert zog er sich nach 1818 dann aus dem kritischen Geschäft ganz zurück.92 Der zweite berühmte Jurist des Vormärz, den ich hier kontrastieren will, nahm dagegen den Kampf an vorderster Front auf, ja seine überscharfen Rezensionen trugen nicht unmaßgeblich zur Lagerbildung und zur Verschärfung des Tones bei. Georg Friedrich Puchta, geboren 1798, war eine Generation jünger als Thibaut und prägte maßgeblich die Strukturen, denen sich Thibaut zunehmend verschloss. Puchta forderte stets klare politische Stellungnahme und Engagement. Zuwider war ihm die »götheliche Parthey«, zu der er auch Savigny zählte, der »jede Entschiedenheit, jedes Verwerfen des Hinkens auf beiden Seiten, als Einseitigkeit und Überspanntheit vorkommt«. Mit jenem »göthischen luftigen Standpunct über den Gegensätzen« sei es »eine gefährliche Sache; man kann es mit dem Gefühl in einem Luftballon vergleichen, wo man, wenn man den Bordmeter vergessen hat, glauben kann, noch immer zu steigen, während man schon im schnellen Fallen begriffen ist«.93 Als homo politicus versuchte Puchta Anfang 1830 als von Schelling eingesetzter Redakteur der bayerischen Tageszeitung Das Inland deren liberale Tendenz auszuschalten.94 Anonymität nutzte der stets im politischen Umfeld des jeweiligen Monarchen zu
89 90 91 92 93 94
11.10.1815 oder 1816 an Warnkönig, Polley 1982 (wie Anm. 24), S. 296. Brief vom 3.8.1815, Polley 1982 (wie Anm. 24), S. 294. Zur Freundschaft beider Rückert 1984 (wie Anm. 28), S. 165f. Anton Friedrich Justus Thibaut, Rezension Kieler Blätter, in: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, 1815 II, S. 1010; hierzu Rückert 1984 (wie Anm. 28), S. 174. Zu diesem Rückzug ebd., S. 177. Brief an Hugo vom 28.10.1834, abgedruckt bei Horst Heinrich Jakobs (Hg.), Georg Friedrich Puchta. Briefe an Gustav Hugo, Frankfurt a. M. 2009, S. 155f. Joachim Bohnert, »Beiträge zu einer Biographie Georg Friedrich Puchtas«, in: ZRG Germ. Abt. 96 (1979), S. 239.
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findende Puchta95 wohl weniger aus Angst vor politischer Verfolgung als rein instrumentell immer dann, wen n er fürchtete, durch seinen politisch klar positionierten Namen der Wirkung der Texte zu schaden. Anonym veröffentlichte er daher eine kritische Stellungnahme zur Funktionsweise des bayerischen Landtages von 183196 und eine tagespolitische Stellungnahme zur Zensurfrage in Preußen 1843.97 Auch im wissenschaftlichen Bereich forderte Puchta klare Parteinahme, nicht Unparteilichkeit. Die Namensnennung unter Beiträgen wurde von Puchta rein instrumentell gesehen. Es ging darum, Texten Anerkennung zu verschaffen. Namentlich veröffentlichte er, wenn es darum ging, Bekenntnisse abzulegen. Puchta erwarb sich bereits in den 1820er Jahren durch scharfe Rezensionen gegen Gegner der Historischen Rechtsschule den Ruf, der »Lieutenant du Roi« Savignys zu sein.98 Rezensionen waren Waffen in Schulkämpfen. Konkret ging das zunächst gegen Eduard Gans, der als Vertreter der Hegelianer Savigny kritisiert hatte. Als der Savigny-Schüler Klenze einen nach Puchtas Ansicht ungeschickten Angriff auf Gans unternahm, fürchtete Puchta, Klenze werde dadurch »dem Gegner selbst die Waffen in die Hände« spielen.99 Puchta nahm nun den Fehdehandschuh auf, indem er Gans in seiner Rezension als Menschen beschrieb, »der gepfropft voll Wut und Ingrimm gar niemanden findet, der sich mit ihm einließe (…) Wahrlich dieses eifrige Bestreben nach Kampf und Sieg verdient Belohnung, nämlich Erhörung«.100 Unter dieser Rezension stand Puchtas Name. Auch Anonymität konnte aber taugliches Kampfmittel sein. Nachdem Puchta gegen Gans zunächst in zwei Aufsehen erregend scharfen Rezensionen unter seinem Namen für Savigny eingetreten war, war er als Antipode im Bewusstsein der Zeitgenossen. Die nächsten beiden Rezensionen von Gans erfolgten anonym, da eine weitere Namensnennung keine Aufmerksamkeit mehr versprach. Dahinter stand vielleicht auch eine Strategie, auf die Savigny hinwies – und vor der schon Hegel gewarnt hatte: Wenn ein Autor zu einer Frage mehrfach anonym und inhaltlich übereinstimmend Stellung nahm, suggerierte er eine Mehrzahl von Autoren und wurde damit als Einzelautor zu einer herrschenden Meinung. In einem solchen Fall entstehe, so Savigny, »ein objektiver Eindruck, und man glaubt das Publikum selbst zu hören«101. Nachdem er in der Öffentlichkeit den Ruf des Antihegelianers aufgebaut hatte, nutzte Puchta Anonymität, um seinen Schriften gegen Hegelianer Öf-
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99 100
101
Ebd., S. 239. Anonymus (Georg Friedrich Puchta), »Aus einem Schreiben von München, betreffend den bayrischen Landtag von 1831«, in: Rankes historisch-politische Zeitung, Bd. 1, 1832, S. 91ff. Anonymus (Georg Friedrich Puchta) 1843 (wie Anm. 56). Puchta an Savigny vom 6.11.1828. Entgegen der Darstellung von Johann Braun, Gans und Puchta, JZ 1998, S. 764 und Bohnert 1979 (wie Anm. 94), S. 230 gab sich Puchta diesen Namen also nicht selbst. Vgl. hierzu bereits Braun 1998 (wie Anm. 98), S. 763ff., der den Ablauf des Streits mit Gans detailliert schildert. Georg Friedrich Puchta, Rez. Eduard Gans: Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung, Teil 1, Berlin 1824, Teil 2, Berlin 1825, in: (Schuncks) Erlanger Jahrbücher der gesammten deutschen juristischen Literatur 1/1826, S. 42. Polley 1982 (wie Anm. 24), S. 285.
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fentlichkeit zu verschaffen. Auch Thibaut wurde vom bekennenden Savigny-Schüler zu diesem Ziel anonym rezensiert. Anonym schrieb Puchta auch außerhalb des im engeren Sinne wissenschaftlichen Feldes dann, wenn persönliche Parteinahme der Sache schaden konnte, etwa dann, wenn der Eindruck der Unparteilichkeit mehr Gewicht versprach, als die durch Namensnennung bewirkte Offenlegung enger persönlicher Beziehungen zu den Beteiligten. So kämpfte er verdeckt für Schelling im Plagiatsstreit mit Paulus.102 Für Puchta waren die Zeitschriften seiner Zeit »Kampfplatz ohne Schranken«103, auf dem Ironie, offene Polemik und Schärfe regierten, nicht Unparteilichkeit und würdevolle Strenge. Er verabscheute an den zeitgenössischen kritischen Zeitschriften zu viele »Lobgesänge, Richtungs- Eß- und Trinkfeste«.104 Polemik war für ihn ein Mittel, um Gegner zu überwinden. Dies folgte aus einem Wissenschaftskonzept, das wissenschaftliche Wahrheit zersetzender Diskussion entzog: Für die Zulässigkeit der Polemik und zwar nach Beschaffenheit der Sache, der Polemik jeder Art spricht die unumgängliche Nothwendigkeit derselben. Denn in der That läßt sich ohne dieselbe gar keine wissenschaftliche Behandlung denken, und jede Zeit der Wissenschaft hat Streit erregt.105
Puchtas eher von Hegel geprägter Wissenschaftsbegriff kämpfte dort für »Wahrheit« wo das Wissenschaftsverständnis des Kantianers Thibaut bloße »Meinung« fand. Wissenschaftliche »Wahrheit« galt es zu verteidigen, gegen »Bonhomie und so zu sagen gevattermäßige Toleranz«, die »gewöhnlich aus Selbstgenügsamkeit und Trägheit entspringt«106. Polemik war für Puchta Technik im Kampf um die Durchsetzung seiner Wahrheit gegen die Falschheit der Anderen, eben ›wissenschaftliche Thätigkeit‹. Anonymität war diesen Leitbildern untergeordnet. Anonymität konnte aber auch in anderer Weise Kampfmittel sein. Zwei weitere Rezensionsstrategien Puchtas stehen in Zusammenhang damit, dass er Rezensionen als Kampfmittel ansah. Als Savigny 1838 Interesse an Karl Adolph von Vangerow und dessen Pandektenlehrbuch kundtat, veröffentlichte Puchta sofort zunächst anonym eine vernichtende Rezension107 und verbreitete zugleich brieflich, dass Vangerow in Heidel-
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Anonymus (Georg Friedrich Puchta), »Schelling, Paulus und die Juristen«, in: (Augsburger) Allgemeine Zeitung, Beilage Nr. 326 vom 22.11.1843, S. 2560f. (anonym, Zuweisung durch Cotta, vgl. Luigi Pareyson (Hg.), Schellingiana Rariora, Torino 1977, S. 641; dort auch leicht zugänglicher Abdruck der Abhandlung). Georg Friedrich Puchta, Pandekten, 3. Aufl. Leipzig 1844, S. 15 (in den Fußnoten). Brief an Mohl vom 10. Juli 1830, UB Tübingen Md 613–664. Georg Friedrich Puchta, Encyclopaedie als Einleitung zu Institutionen-Vorlesungen, Leipzig und Berlin 1825, S. 7. Puchta, Encyclopädie (wie Anm. 105), S. 7. Anonymus (Puchta), (vgl. Ankündigung in Brief an Savigny, UB Marburg MS 838/58), Rez. Vangerow, Leitfaden für Pandektenvorlesungen, in: (Richters) Kritische Jahrbücher für deutsche Rechtswissenschaft III, Leipzig 1839, S. 219, 222.
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berg fast jeden Tag mit Studenten in Wirtshäusern verkehre108. Kurz darauf kritisierte Puchta Vangerow in einer anderen Frage dann öffentlich109. In direkte Konkurrenz zu Puchta trat Vangerow, als er 1839 ein Pandektenlehrbuch veröffentlichte, das erneut Savignys Interesse fand. Savignys ursprünglicher Plan, Vangerow zu seinem Nachfolger zu machen, wurde damit zunichte gemacht und Puchta trat Savignys Nachfolge an. Anonymität diente hier in ganz eigener Sache offenbar dazu, Puchtas Kritik scheinbar auf zwei Schultern zu stellen. Zuletzt findet sich ein Fall, in dem Puchta die Unterschrift unter seine Rezension verweigerte, obwohl aus dem Text und dem Inhaltsverzeichnis seine Autorschaft klar hervorging. Es handelte sich um eine besonders scharfe Abfertigung des Bonner Germanisten Maurenbrecher. Indem Puchta die Autorschaft offen legte, ohne den Text jedoch zu unterschreiben, sprach er Maurenbrecher sozusagen die Satisfaktionsfähigkeit ab. Brieflich meinte Puchta, daß der Lump eigentlich gar nicht verdient, auf eine so gute systematische Art in allen Regeln der Kriegskunst oder der Duelle totgeschlagen zu werden, statt wie es ihm gebührte, den Troßknechten zugeschleudert zu werden und im Laufe einer gemeinen Prügeley unter Seinesgleichen das aufzugeben, was man bei anderen Menschen den Geist nennt.110
Anonymität konnte auch Bestrafung bedeuten.
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Hierzu mit näheren Nachweisen, Hans-Peter Haferkamp, »Karl Adolph von Vangerow, Pandektenrecht und »Miumiencultus««, in: Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 2008, S. 820. Georg Friedrich Puchta, v. Vangerow: Revision der neueren Theorien über gesetzliche Deliberationsfrist in AcP 22,1839, S. 151–212, in: Richters Jahrbücher 4/1840, S. 7–29. Brief an Savigny vom 6.6.1841, UB Marburg MS 838/85.
Martin Otto
Von Urheberrollen und Nebenluftausgaben Eine rechtshistorische Annäherung an die anonyme Autorschaft in Deutschland
1.
Vom Privileg zum Urheberrecht: Preußen bis 1837
Am 11. Juni 1837 trat das preußische Gesetz zum Schutze des Eigenthums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung in Kraft.1 Es gilt als »eines der bedeutendsten Gesetze unter den frühen Gesetzen zum Urheberrecht.«2 Die anonyme Autorschaft war darin ausdrücklich erwähnt. Auch ohne Nennung des Autors erschienene Werke erhielten durch das Gesetz urheberrechtlichen Schutz. Zuvor war in deutschen Rechtstexten von anonymer Autorschaft, die seit Jahrhunderten bekannt war, nicht die Rede, stand doch lange der Verleger, nicht der Schriftsteller im Mittelpunkt der rechtlichen Regelungen. So enthielt das 1794 in Kraft getretene Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten in den §§ 996 bis 1036 (Erster Teil 11. Titel) nicht zuletzt auf Betreiben des Berliner Buchhändlers Friedrich Nicolai eine umfangreiche Regelung des Verlagsvertrags. Der Autor war ein Schuldner des Verlegers (§ 1000 I 11 ALR). Auch wenn das ALR als das Musterbeispiel einer kasuistischen, also möglichst jeden Einzelfall regelnden, Kodifikation gilt, enthielt es keine Regelung der anonymen Autorschaft. Bei Inkrafttreten des ALR zeichnete sich aber bereits eine Abkehr vom Verlagsprinzip ab. Im Sturm und Drang trat die Person des Autors in den Vordergrund. In der Klassik kam der ›Geniegedanke‹ hinzu.3 In der naturrechtlichen Philosophie und Rechtswissenschaft war seit Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend das ›geistige Eigentum‹ des Schriftstellers an seinen Werken vertreten worden.4 Während der 1780 einsetzenden Vorbereitungen des ALR zog man sogar eine rechtliche Regelung der anonymen Autorschaft in Erwägung. In einem geplanten § 723 des II. Abschnitts sollte bei Büchern ohne Verfasser- und Verlegerangabe der Nachdruck gestattet werden. Hiergegen
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Preußische Gesetzes-Sammlung 1837, S. 165. Vollständig abgedruckt auch bei Elmar Wadle, Geistiges Eigentum. Beiträge zur Rechtsgeschichte, Weinheim u. a. 1996, S. 215–222. Elmar Wadle, »Das preußische Urheberrechtsgesetz von 1837 im Spiegel seiner Vorgeschichte«, in: Woher kommt das Urheberrecht und wohin geht es?, hg. v. Robert Dittrich, Wien 1988, S. 55–98, hier S. 55. Umfassend: Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Darmstadt 1985. Vgl. Barbara Dölemeyer/Diethelm Klippel, »Der Beitrag der deutschen Rechtswissenschaft zur Theorie des gewerblichen Rechtsschutzes und Urheberrechts«, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht in Deutschland (FS 100 Jahre Deutsche Vereinigung für Gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht), Bd. 1, Weinheim 1991, S. 185–237.
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Martin Otto
wurden mehrfach Proteste in Form von Monita vorgebracht.5 Der Kameralist Christian von Eggers6 sprach sich ausdrücklich für die anonyme Autorschaft aus; sie sei nicht verwerflich, viele unschuldige Ursachen, wäre es auch nur Bescheidenheit oder Furcht, in Streitigkeiten zu gerathen, können einen Verfasser bewegen seinen Namen nicht öffentlich bekannt zu machen und wegen Vorurtheils der Person ist solches zum Besten der Wahrheit zuweilen nöthig und nützlich.
Kammergerichtsrat Christoph Gossler7 stimmte diesem Monitum ausdrücklich zu, Bestandteil des ALR wurde es allerdings nicht. Gleichwohl normierte das ALR etwa in seinem § 1020 I 11 eine Stärkung der Rechte des Verfassers, indem es sein auch an die Erben übergehendes, also postmortales Recht, »dass ohne seine Zuziehung keine neue Ausgabe veranstaltet werden kann«, ausdrücklich normierte. Dies alles begünstigte den langsamen Wandel »vom Verlegerrecht zum Autorrecht«8, den urheberrechtlichen »Abschied vom Verleger« und dem Begriff »Nachdruck.«9 Das preußische ALR enthielt keinen Hinweis, dass der »Verfasser« ausdrücklich seinen Namen nennen musste. Ein Verfahren zur Sicherung der Autorenrechte bei anonymer Autorschaft lag also nahe. Artikel 18 der Bundesakte des Deutschen Bundes von 1815 bestimmte, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten »gleichförmige Verfügungen über die Preßfreiheit und die Sicherstellung der Rechte der Schriftsteller gegen den Nachdruck« beschließen sollen. Die Vorschrift, in der ausdrücklich von Rechten der Schriftsteller die Rede war, gehörte zu den wenigen zwingenden der Bundesakte, hatte aber noch eine andere Intention, nämlich eine Erleichterung der Zensur. Insoweit korrespondierten die insbesondere von Metternich formulierten Ziele Österreichs, der Präsidialmacht des Bundes, mit denen des Buchhandels und der Verlage. Metternich forderte in einer von Adam Müller verfassten Denkschrift10 auf der Bundesversammlung 1820 eine »Zentralstelle des deutschen Buchhandels« mit Sitz in Leipzig, die unter Oberaufsicht des Bundestages in Frankfurt am Main stehen sollte.11 Eine Eintragung bei dieser Zentralstelle sollte dem Verfasser zu Lebzeiten und 30 Jahre nach seinem Tod Schutz gegen Nachdruck garantieren. Schutz für anonyme Werke war vorgesehen für 15 Jahre ab dem Erscheinen. Metternich hatte Vorschläge von Buchhändlern und Verlegern aufgegriffen; der Leipziger Verleger
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Im Folgenden zitiert nach: Martin Löhnig, »Der Schutz des geistigen Eigentums«, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 29/2007, S. 197–214, hier S. 207. Christian von Eggers (1758–1813), Kameralwissenschaftler, Professor für Rechts- und Kameralwissenschaften in Kiel, später Oberpräsident von Kiel, ab 1788 Herausgeber zahlreicher Zeitschriften (Deutsches gemeinnütziges Magazin u. a.). Christoph Gossler (1752–1817), preußischer Geheimer Oberrevisions- und Kammergerichtsrat, wichtiges Mitglied der Gesetzgebungskommission für das ALR. Martin Vogel, »Grundzüge der Geschichte des Urheberrechts in Deutschland«, in: Dittrich 1988 (wie Anm. 2), S. 117–134, hier S. 122. Wadle 1988 (wie Anm. 2), S. 64. Martin Vogel, »Deutsche Urheber- und Verlagsgeschichte zwischen 1450 und 1850«, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens XIX/1978, S. 135. Ludwig Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht, Göttingen 1995, S. 226.
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Brockhaus hatte eine vergleichbare Zentralstelle in Leipzig gefordert. Nach Metternichs Plänen sollten in einem gesonderten Protokoll die zensurierten Druckschriften, auch anonyme, eingetragen werden. Zu einer Verwirklichung dieser Pläne kam es nicht. Bis 1829 unternahm der Bundestag keine weitere Initiative gegen den Nachdruck. Mittlerweile waren immer mehr deutsche Klassiker verstorben, 1803 Herder, 1805 Schiller, 1813 Wieland und 1825 Jean Paul. Ihre Erben waren an einem wirksamen Schutz gegen Nachdruck über den Tod hinaus interessiert.12 Goethe als berühmtester und letzter Vertreter der Weimarer Klassik hatte sich 1829, drei Jahre vor seinem Tod, an die Regierungen mehrerer deutscher Staaten mit der Bitte um Privilegierung seiner geplanten Ausgabe »letzter Hand« gewendet.13 Dies sorgte für eine neue Diskussion um das Urheberrecht, auf Initiative Preußens kam am 5. November 1835 ein Bundestagsbeschluss zustande, Grundsätze zum Büchernachdruck den Mitgliedsstaaten zur Stellungnahme vorzulegen. Am 9. November 1837 wurde auf Betreiben Preußens festgesetzt, die Grundsätze, »in Anwendung zu bringen.«14 Preußen setzte als erster Staat diesen Beschluss mit seinem Urheberrechtsgesetz um. Bei den Beratungen des Gesetzes wurde, anders als beim ALR, anonyme Autorschaft nicht ausdrücklich behandelt.15
2.
Bundestag, Sachsen und Bayern: Deutscher Bund 1837–1871
Auch das preußische Gesetz knüpfte den Urheberschutz in vollem Umfang, dessen Dauer in den §§ 5 (Lebzeiten des Autors) und 6 (30 Jahre nach Tod des Autors) festgesetzt war, gemäß § 7 daran, »dass der wahre Name des Verfassers auf dem Titelblatte oder unter der Zueignung oder Vorrede angegeben ist.« Eine Schrift, »die entweder unter einem andern, als dem wahren Namen des Verfassers erschienen oder bei welcher gar kein Verfasser genannt ist«, war 15 Jahre »von der Herausgabe derselben an gerechnet, gegen den Nachdruck geschützt.« Zur Wahrnehmung dieses Rechts sollte der Verleger »an die Stelle des unbekannten Verfassers treten.« Wurde innerhalb der Frist »der Name des Verfassers von ihm selbst oder von seinen Erben vermittelst eines neuen Abdruckes, oder eines neuen Titelblattes für die vorräthigen Exemplare« bekannt gemacht, erhielt das Werk die Schutzfrist der §§ 5 und 6. In Folge erhielten fast alle deutschen Staaten Gesetze zum Schutze des Urhebers.16 Sachsen, der für Buchhandel und Verlagswesen wichtigste deutsche Staat, erhielt 1844 ein Urhebergesetz, das ähnliche Schutzfristen wie das preußische Gesetz vorsah, daneben aber auch die Möglichkeit, anonyme und pseudonyme Autorschaft durch die Eintragung in ein in Leipzig einzurichtendes Register (Urheberrolle) anzugleichen.17 Das sächsische Urhebergesetz hatte den Schutz
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Ebd., S. 229. Wadle 1988 (wie Anm. 2), S. 57. Ebd., S. 56. Zur Entstehungsgeschichte mit umfangreichem Gesetzgebungsmaterial ebd., S. 76–93. Vogel 1978 (wie Anm. 10), S. 167, führt auf: Hamburg (1838), Sachsen-Weimar (1839), Bayern (1840), Braunschweig (1842), Sachsen (1844). Hierzu erging eine sächsische Verordnung vom 22. Februar 1844. Nachweis bei Gustav von
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des anonymen Autors aber nicht ausdrücklich an die Eintragung in die Rolle geknüpft; der anonyme Autor konnte bereits gemäß § 4 den vollen Schutz beanspruchen, wenn sich seine Autorschaft in irgendeiner Weise nachweisen ließ.18 Am 19. Juni 1845 erging ein Beschluss des Bundestages zum Umfang der urheberrechtlichen Schutzfristen, der ähnliche Schutzfristen wie das preußische Gesetz (Artikel II) und eine Urheberrolle für anonyme und pseudonyme Schriften nach sächsischem Vorbild19 mit Sitz in Leipzig vorsah. Die Gesetzgebung gegen Büchernachdruck war auch Gegenstand der Beratungen der Frankfurter Nationalversammlung und der Paulskirchenverfassung.20 Unmittelbare Auswirkungen hatte jedoch der Bundesbeschluss von 1845.21 1858 legte der »Börsenverein der Deutschen Buchhändler« einen vom Bundesbeschluss beeinflussten Entwurf für ein Urhebergesetz vor, der ebenfalls eine Urheberrolle vorsah.22 Der »Börsenverein« als nationaler Interessenverband der deutschsprachigen Buchhändler bestand in der wichtigsten deutschen Verlagsstadt Leipzig seit 1825. Der Börsenvereinsentwurf wurde 1862 von dem sächsischen Gesandten im Bundesrat als Frankfurter Entwurf eingebracht.23 Inzwischen hatte Sachsen Preußen als den im Urheberrecht führenden Staat abgelöst.24 In Bayern, das bereits 1840 ein Urheberrechtgesetz erhalten hatte, war am 30. Juni 1865 ein neues Gesetz zum Schutze der Urheberrechte an literarischen Erzeugnissen und Werken der Kunst25 in Kraft getreten, das, anders als sein Vorläufer, den Schutz des anonymen Autors ausdrücklich regelte. Das Gesetz entsprach fast wörtlich dem Frankfurter Entwurf von 1864.26 Gemäß Artikel 14 währte das »Verbot des Nachdrucks« bei »anonymen oder pseudonymen, d. h. solchen Werken, in welchen der Urheber nicht genannt oder nicht mit seinem wahren Namen bezeichnet ist […] 30 Jahre von der ersten Herausgabe an gerechnet.« Sollte innerhalb dieser Frist »der Name des Urhebers durch Eintrag in die Eintragsrolle bekannt gemacht« werden, trat die »gewöhnliche Schutzfrist« von 30 Jahren nach dem Tod des Autors (Art. 12) ein. In Artikel 52 war die Eintragsrolle näher geregelt. Es handelte sich um ein »beim Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten zu führendes Register.« Ein Eintrag müsse stattfinden, »wenn der Urheber eines anonymen oder pseudonymen Werkes seinen Namen zu dem Zwecke bekannt machen will, damit nunmehr für das betreffende Werk die gewöhnliche Schutzfrist eintritt.« Die näheren Bestimmungen zur Eintragsrolle waren nicht frei von bürokratischen Formalien. Art. 53 schrieb einen schriftlichen Antrag vor,
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Mandry, »Das Urheberrecht an literarischen Erzeugnissen«, in: Die Gesetzgebung des Königreichs Bayern seit Maximilian II. mit Erläuterungen, Bd. 1.5, Erlangen 1863, S. 389. Ebd., S. 233. So ausdrücklich ebd., S. 389 Elmar Wadle, »Das geistige Eigentum in der Reichsverfassung der Paulskirche«, in: ders. 1996 (wie Anm. 1), S. 19–34. Ebd., S. 232. Elmar Wadle, »Der Frankfurter Entwurf eines deutschen Urheberrechtsgesetzes von 1864«, in: ders. 1996 (wie Anm. 1), S. 309–326, hier S. 310. Ebd., S. 313. Ebd., S. 314. Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1863 und 1865, S. 65–102. Wadle 1996 (wie Anm. 22), S. 325.
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dem ein Exemplar des einzutragenden Werkes oder das Manuskript beizufügen war, das anschließend zu den Akten genommen wurde. »Nach geschehenem Eintrage« war dem Antragsteller ein »Zeugniß« über den Vorgang auszustellen (Art. 55). Ganz offensichtlich knüpfte das bayerische Register an die Vorstellungen Metternichs und des Buchhandels an. Insbesondere durch die Kommentierung des Tübinger Professors Gustav von Mandry27 war das Gesetz von richtungweisender Bedeutung über Bayern hinaus.28 Weitere deutsche Staaten führten Register für anonyme Werke ein. In Preußen wurde beim Kultusministerium eine Eintragungsrolle für anonyme Autoren eingerichtet, das genaue Jahr lässt sich nicht mehr feststellen. Sie wurde von den Autoren und Verlagen offenbar nicht angenommen; zu der Akzeptanz des bayerischen Registers können keine Angaben gemacht werden.29 Der einzige Nachweis zur preußischen Rolle findet sich im Protokoll einer Sitzung der preußischen Staatsregierung unter Ministerpräsident Otto von Bismarck vom 19. Januar 1870. Dabei wurde festgestellt, dass sich die »Eintragungsrolle beim Kultusministerium nicht bewährt« habe. Im Bundesrat des Norddeutschen Bundes sei »darauf zu drängen, dass die Eintragsrolle für anonyme Werke in Leipzig entweder beim Bundes-Oberhandelsgericht30 oder bei dem Verein der Deutschen Buchhändler geführt wird.«31
3.
Die »Leipziger Eintragsrolle«: Deutsches Reich 1871–1901
Ein »Bundes-Oberhandelsgericht« als höchstes Gericht des Norddeutschen Bundes gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht; erst durch Bundesgesetz von 1869 wurde seine Gründung als Reichsoberhandelsgericht mit Sitz in Leipzig beschlossen. Aufgrund der großen Bedeutung Leipzigs als Buchhandels- und Verlagsstadt kam es dann zu der beabsichtigten Errichtung der Urheberrolle für anonyme Werke in Leipzig, allerdings in Trägerschaft der Stadt Leipzig. Festgelegt wurde dies schließlich in dem neuen Urheberrechtsgesetz für das Gebiet des gesamten Norddeutschen Bundes von 1870. Der Norddeutsche Bund hatte in seiner Verfassung von 1867 eine Kompetenz für »den Schutz des geistigen Eigentums« erhalten. Das preußische Kultusministerium wurde beauftragt, ei-
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Gustav von Mandry, geboren 1832 in Waldsee (Württemberg), Richter, ab 1861 Professor für Römisches Recht in Tübingen, hatte großen Einfluss auf das Urheberrecht und das BGB. Er starb 1902 in Tübingen. Wadle 1996 (wie Anm. 22), S. 325 (insb. Anm. 58). Die Bestände des Bayerischen Ministeriums des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv sind als Kriegsverlust anzusehen. Das Bundes-Oberhandelsgericht, das höchste Gericht des Norddeutschen Bundes mit Sitz in Leipzig, war am 12. Juni 1869 durch Bundesgesetz (des Norddeutschen Bundes) geschaffen worden, nahm jedoch erst am 5. August 1870, also nach der erwähnten Sitzung, seine Geschäfte auf; seine Zuständigkeiten standen Anfang 1870 noch nicht fest. Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38, Bd. 6. I. 3. Januar 1867 bis 20. Dezember 1878 (=Acta Borussica N.F.), Hildesheim u. a. 2004, S. 170.
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nen Entwurf ausarbeiten zu lassen.32 Ein erster Entwurf vom November 1868 orientierte sich stark am Entwurf des Börsenvereins. Mittlerweile hatte sich der Gedanke, dem Urheber, auch bei anonymer Autorschaft, stehe ein Recht an seinem geistigen Eigentum zu, allgemein durchgesetzt.33 Am 11. Juni 1870 wurde das von Bundesrat und Reichstag beschlossene Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken von dem preußischen König Wilhelm I. in Berlin unterzeichnet. Am 1. Januar 1871 trat es in Kraft, zunächst im Norddeutschen Bund sowie in Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt. In Bayern wurde es durch das Reichsgesetz in Kraft gesetzt.34 Damit galt in dem 1871 gegründeten Deutschen Reich ein einheitliches Urheberrecht und damit eine einheitliche Regelung der anonymen Autorschaft. § 11 Absatz 3 des Gesetzes bestimmte: »Ein Schriftwerk, welches entweder unter einem anderen als dem wahren Namen des Urhebers veröffentlicht, oder bei welchem ein Urheber gar nicht angegeben ist, wird dreißig Jahre lang, von der ersten Herausgabe an, gegen Nachdruck geschützt.« Absatz 4 sah für den Fall einer Eintragung in die Urheberrolle vollen Schutz vor: Wird innerhalb dreißig Jahre, von der ersten Ausgabe an gerechnet, der wahre Name des Urhebers von ihm selbst oder seinem hierzu legitimierten Rechtsnachfolger zur Eintragung in die Eintragsrolle angemeldet, so wird dadurch dem Werke die in § 8 bestimmte längere Dauer des Schutzes erworben,
30 Jahre nach dem Tode des Urhebers. Der Standort der Eintragsrolle war Sachsen, knüpfte aber nicht an die 1844 eingeführte sächsische Rolle an und war weder beim Börsenverein noch bei dem Bundes-Oberhandelsgericht, das seinen Geschäftsbetrieb noch gar nicht aufgenommen hatte, angesiedelt. Die Eintragsrolle wurde gemäß § 39 »bei dem Stadtrathe zu Leipzig« geführt. In § 40 erhielt der anonyme Autor einen ausdrücklichen Anspruch auf Eintragung; der Stadtrat war dazu verpflichtet, »ohne daß eine zuvorige Prüfung über die Berechtigung des Antragstellers oder über die Richtigkeit der zur Eintragung angemeldeten Tatsachen stattfindet.« § 41 erklärte die Eintragsrolle zum für jedermann einsehbaren Register; seine Eintragungen waren im »Börsenblatt für den deutschen Buchhandel« bekannt zu machen. § 42 enthielt eine großzügige Kostenregelung; die Eintragung war kostenfrei. Die erste Eintragung fand am 15. Januar 1871 statt. Die Rolle bestand zunächst aus drei Abteilungen.35 Abteilung A enthielt Einträge zu anonym oder pseudonym erschienenen Werken; sie blieb der wichtigste und am stärksten genutzte Teil des Registers und sollte bis 1965 ununterbrochen in Leipzig geführt werden. Die Abteilung B war für Übersetzungen deutscher Autoren in fremde Spra-
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Elmar Wadle, »Schutz des geistigen und gewerblichen Schaffens im 19. Jahrhundert«, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht in Deutschland (wie Anm. 4), S. 93–183, hier S.154f. Ebd., S. 151. Ebd., S. 158. Stadtarchiv Leipzig, Bestand Eintragsrolle (Urheberrechte) (EtrR). Im Folgenden zitiert als EtrR.
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chen vorgesehen; bis 1902 wurden insgesamt 61 Übersetzungen eingetragen, fast ausschließlich von Meine Wasserkur und So sollt ihr leben des homöopathischen Priesters Sebastian Kneipp (1821–1897). Eine letzte Nachwirkung des bereits als anachronistisch empfundenen Privilegienwesens war Abteilung C für Nachdruckprivilegien. Tatsächlich hatte § 60 Absatz 1 Urheberrechtsgesetz die Erteilung von Privilegien für unzulässig erklärt. Allerdings war es in Absatz 2 den bisherigen Inhabern freigestellt, weiter von den Privilegien Gebrauch zu machen oder »den Schutz des Gesetzes anzurufen.« Absatz 4 knüpfte dies daran, dass »das Privilegium, bei Vermeidung des Erlöschens, binnen drei Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Eintragung in die Eintragsrolle angemeldet« wurde; da das Urhebergesetz am 1. Januar 1871 in Kraft getreten war, wurde die dritte Abteilung bereits am 1. April 1871 wieder geschlossen. Insgesamt wurden von Januar bis März 1871 22 Eintragungen vorgenommen; sie betrafen ausschließlich das Werk Goethes, dessen letzte direkte Nachkommen, die Enkel Walther36 und Wolfgang37, noch lebten. Auf sie ging die Eintragung der Goethe-Ausgaben auch zurück. Der 1832 verstorbene Goethe wäre für regulären Schutz seit 1862 nicht mehr in Frage gekommen. 1886 wurde die Eintragsrolle schließlich um eine vierte Abteilung D ergänzt, die Folge eines Abkommens zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien.38 Von November 1886 bis Dezember 1887 gab es in dieser Abteilung insgesamt 81 Eintragungen, die nur einen Bruchteil der in Frage kommenden Übersetzungen enthielten. Der erste Eintrag in die Abteilung A erfolgte am 15. Februar 1871. Der Verleger Julius Niedner aus Wiesbaden ließ für 83 Werke des als Unterhaltungsschriftsteller erfolgreichen evangelischen Pfarrers Friedrich Wilhelm Oertel39 das Pseudonym »W. O. von Horn« eintragen, darunter den Roman Ein Kongo-Neger. Der erste Fall anonymer Autorschaft war der revolutionäre Lyriker Georg Herwegh (1817–1875). Am 5. März 1871 meldete sein Stuttgarter Verleger Göschen die 1841 anonym erschienenen Gedichte eines Lebendigen: mit einer Dedikation an den Verstorbenen an. Es war der insgesamt dritte Eintrag. Herwegh war der klassische Fall des Schriftstellers, der für sein Erstlingswerk die Anonymität gewählt hatte; zugleich hatte er mit dem Titel den Englandreisebericht des exzentrischen Aristokraten Hermann Fürst von Pückler-Muskau (Briefe eines Verstorbenen, 1830/31) polemisch angegriffen. Herwegh hatte also doppelten Grund, die Anonymität zu suchen, seine Autorschaft war allerdings 1871 längst bekannt. Einträge wie der Herweghs blieben die Ausnahme. Die wenigsten Werke zeichneten sich durch literarischen Anspruch aus. Häufig waren es Gebrauchstexte, bei denen die namentli-
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Walther von Goethe (geb. 1818 Weimar, gest. 1885 in Leipzig) war seit 1883 letzter direkter Nachkomme Goethes. Er vermachte den Goethe-Nachlass dem Großherzogtum Sachsen-Weimar. Wolfgang von Goethe (geb. 1820 Weimar, gest. 1883 in Leipzig); Jurist, preußischer Legationsrat. Übereinkunft zwischen Deutschland und Großbritannien, betreffend den gegenseitigen Schutz der Rechte an Werken der Literatur und Kunst vom 2. Juni 1886 (Reichsgesetzblatt 1886, S. 237–258). Friedrich Wilhelm Oertel (1798–1867), evangelisch-reformierter Pfarrer, Superintendent in Sobernheim (Nahe), verfasste Abenteuerromane und Sammlungen von Rheinsagen; Pseudonym nach seinem Geburtsort Horn (heute zu Simmern) im Hunsrück. Ruhestand in Wiesbaden.
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che Autorschaft die Ausnahme bildete, so das Berlinische Lesebuch für Schüler (Nr. 5, 1871) oder die Verhaltensmaßregeln zur Verhütung der Rinderpest (Nr. 8, 1871). Zu den 1871 eingetragenen Pseudonymen gehörten allerdings »Nikolaus Lenau« (d.i. Nikolaus Niembsch Edler von Strehlenau, 1802–1850) und »Willibald Alexis« (d.i. Georg Wilhelm Häring, 1798–1871). Einer der prominentesten anonymen Autoren der ersten Jahre war Richard Wagner. 1836 hatte er als junger Kapellmeister in Königsberg die Oper Bianca und Giuseppe oder die Franzosen in Nizza begonnen, das Vorhaben aber nicht weiter verfolgt und das Libretto zunächst dem Dresdener Hofkapellmeister Carl Gottlieb Reissiger, dann dem böhmischen Komponisten Johann Friedrich Kittl verkauft. Wagners Autorschaft wurde von seinen Erben eingetragen; 1883 wurde »der am 14. Februar laufenden Jahres zu Venedig verstorbene Dichterkomponist Richard Wagner« mit dem Libretto eingetragen. Die besondere Sensibilität der Familie Wagner für urheberrechtliche Fragen ist bekannt;40 dass sie von dem Register Gebrauch machte, um Rechte auch am Frühwerk zu sichern, überrascht nicht. In den Anfangsjahren wurde das Register häufig für Tondichtungen benutzt. Prominente Namen wie Wagner oder sein Epigone Max von Schillings (für diverse frühe Kompositionen mit Nr. 484, 1919) blieben die Ausnahme, ebenso die vom Berliner Musikverlag Bote & Bock angemeldete deutsche Übersetzung des italienischen Schlagers O sole mio (Nr. 417, 1911). Häufiger als Klavierpartituren für populäre Tanz- oder Chormusik waren jedoch andere Eintragungen. 1881 wurden das Geistliche Gesangbuch für die Evangelischen Gemeinden der Fürstentümer Minden und der Grafschaft Ravensberg von 1852 (Nr. 53) und ein englischsprachiges Israelisches Gebetbuch: The Form of daily Prayer according to the Custom of German and Polish Jews (Nr. 56) eingetragen, 1882 eine katholische Marienandacht aus Westfalen (Nr. 57), 1884 das Bollhagensche Gesangbuch41 (Nr. 60) und die Gesangbücher der evangelischen Landeskirche Pommerns (Nr. 63) und der evangelischen Kirche der Stadt Frankfurt am Main (Nr. 72) sowie ein bei Velhagen & Klasing in Bielefeld verlegtes Erbauungsbüchlein des Minden-Ravensberger Pietismus42 (Erinnerungen zum geistlichen Gebrauch, Nr. 74). Ebenfalls religiöse Literatur waren das von »einem badischen Pfarrer«43 anonym verfasste Erweckungsbuch Im Kampf um die Weltanschauung (Nr. 119, 1891), eine Anleitung zur guten Kindererziehung für die katholischen Mütter (Nr. 125, 1892), ein bei Bertelsmann in Gütersloh verlegter Westfälischer Katechismus (Nr. 127, 1892) sowie evangelische Gesangbücher für das Rhein-
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Vgl. nur Sebastian Wündisch, Richard Wagner und das Urheberrecht, Berlin 2004. Auf den Eintrag Wagners in der Urheberrolle geht diese Arbeit nicht ein. In Pommern bis in das 20. Jahrhundert gebräuchliches, erstmals 1724 in Stettin erschienenes evangelisches Gesangbuch, herausgegeben von dem pommerschen Generalsuperintendenten Laurentius David Bollhagen (1683–1738). Zu dieser lutherischen Erweckungsbewegung in den westlichen Provinzen Preußens, dem Fürstentum Minden und der Grafschaft Ravensberg (mit dem Zentrum Bielefeld) nur: Zwischen Spener und Volkening. Pietismus in Minden-Ravensberg im 18. und frühen 19. Jahrhundert, hg. v. Christian Peters, Bielefeld 2002. Das ist Richard Wimmer (1836–1905), evangelischer Pfarrer in Baden (Schüler von Richard Rothe) und Erbauungsschriftsteller.
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land und Westfalen (Nr. 143, 1893), Mecklenburg-Strelitz (Nr. 234, 1899), Altenburg (Nr. 249, 1900), Schlesien (Nr. 399, 1910; Nr. 415, 1911, Nr. 444, 1913), Württemberg (Nr. 441, 1912), Mecklenburg-Schwerin (Nr. 443, 1913), die preußische Provinz Sachsen (Nr. 476, 1914) und die deutschen Schutzgebiete (Nr. 481, 1915). Ferner wurden das katholische Gesangbuch Sursum Corda für die Diözese Paderborn (Nr. 217, 1899) sowie das altkatholische Traktat Die geschichtliche Stellung und Aufgabe des deutschen Altkatholizismus (Nr. 179, 1895) unter »***«44 eingetragen. Die protestantische Seite ergänzten eine von dem Missionsinspektor Johannes Deinzer aus Neuendettelsau anonym herausgegebene Auswahl des lutherischen Theologen Wilhelm Löhe (Nr. 142, 1893) und ein pietistisches Wuppertaler Erbauungsbüchlein der Traktat-Gesellschaft Barmen (Nr. 436, 1912), die katholische Seite Heiligen- (Nr. 317, 1904) und Kommunionsbildchen (Nr. 330, 1904). Vergleichbare Werke aus dem Judentum waren selten; die unter dem hebräischen Pseudonym »Micha Bin-Gorion« erschienene Lyrikanthologie Der Born Judas von Micha Berdyczewski (1865–1921; Nr. 464, 1913) gehört nur bedingt zur religiösen Literatur. Insgesamt war der Anteil von Veröffentlichungen mit religiösem, insbesondere christlich-protestantischem Bezug überproportional. Belege für das in der Geschichtswissenschaft zunehmend vertretene »zweite religiöse Zeitalter«45 im 19. Jahrhundert finden sich so auch in der Leipziger Urheberrolle. In dem zunächst unterproportionalen Anteil katholischer Publikationen kann ein Hinweis auf den Kulturkampf gesehen werden. Deutlich wird auch, dass das Leipziger Register nur einen Bruchteil der Fälle anonymer Autorschaft abdeckte. Überdurchschnittlich vertreten war nur religiöse Literatur für den Hausgebrauch ohne wissenschaftlichen Anspruch; hier kam es auf eine Verfasserbezeichnung oft nicht an, der Schutz gegen unbefugten Nachdruck wurde trotzdem erwünscht. Nur wenige pseudonym veröffentlichende Autoren suchten dagegen den Schutz des Registers. Die wenigen Pseudonyme des Registers bieten ein uneinheitliches Bild. Eingetragen wurden die Romanautorin Eugenie Marlitt (d.i. Eugenie John, 1825–1887) kurz nach ihrem Tod (Nr. 85, 1888), »Ernst Deutsch« für den sektiererisch-völkischen Freikörperkulturaktivisten Heinrich Pudor (1865–1943; Nr. 127, 1892) 46, der NietzscheFreund und Musikwissenschaftler Peter Gast (d.i. Heinrich Köselitz, 1854–1918; Nr. 187, 1896), der niederdeutsche Schriftsteller Otto Ernst (d.i. Otto Ernst Schmidt, 1862–1926; Nr. 252, 1900), das Kürzel »R.B.« des Dichters Rudolf Baumbach (1840–1905; Nr. 337, 1905) und der Berliner Romancier Georg Hermann (d.i. Georg Hermann Borchardt, 1871–1943; Nr. 432, 1912). Herausragende Fälle pseudonymer Autorschaft im Kaiserreich waren »Friedrich Gundolf«, der zum George-Kreis gehörende »Dr. Friedrich Gun-
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Es handelt sich um den altkatholischen Slawisten, Pfarrer und Publizisten Leopold Karl Goetz (1868–1931), Professor für Kirchengeschichte in Bonn. Vgl. Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, hg. v. Olaf Blaschke, Göttingen 2002. Sein zweites Pseudonym, »Heinrich Scham« (Übersetzung des lateinischen »pudor«), das er ebenfalls ab 1892 gebrauchte, ließ Pudor nicht eintragen. Zum Pseudonymgebrauch Pudors vgl. Michael Peters, Art. »Pudor, Heinrich (Ps. Heinrich Scham)«, in: NDB 20/2001, S. 759.
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delfinger, Privatdozent an der Universität Heidelberg« (1880–1931; Nr. 518/19, 1917), und »Gorch Fock«, der Marineschriftsteller Johann Wilhelm Kinau (1880–1916; Nr. 459, 1913). Das blieben aber Ausnahmen. Unterrepräsentiert war klar die Belletristik. Viel stärker vertreten waren nichtwissenschaftliche Sachbücher. Etwa das Praktische Kochbuch der westfälischen Gouvernante Henriette Davidis (1801–1876; Nr. 68, 1886), angeblich das meistgelesene Kochbuch seiner Zeit, die drei Kartenspielbücher Illustriertes Buch der Patiencen, Illustriertes Whist-Buch und Illustriertes Skat-Buche (Nr. 216, 1899), eine meteorologische Tabelle (Nr. 333, 1905), eine Häkelanleitung (Nr. 433, 1912) und die Kosmos-Wetterwarte (Nr. 506, 1916). Reine Unterhaltungs- oder Trivialromane, bei denen anonyme oder pseudonyme Autorschaft keine Seltenheit war, blieben dagegen vereinzelt. Bei einem dieser Fälle, der Schriftstellerin Anny Mahn (1858–1917), die unter ihrem Mädchennamen Anny Wothe (postum eingetragen als Nr. 517, 1917) veröffentlichte, bestand vermutlich zusätzlich Unsicherheit über den Schutz des Mädchennamens nach Inkrafttreten des BGB.47 Bestand bei weiblichen Autoren das Motiv darin, den Mädchennamen zweifelsfrei zu schützen, hatte eine verhältnismäßig große Gruppe von Autoren ein anderes Motiv. Sie hatten sich aus Rücksicht auf ihre Familie oder ihre gesellschaftliche Stellung für die anonyme oder pseudonyme Autorschaft entschieden. Hierzu zählte der anonyme Bericht Neunundsechzig Jahre am preußischen Hofe der ehemaligen Oberhofmeisterin Marie Gräfin Voss (Nr. 134, 1892), das Pseudonym »Mary Beauchamp« für die Unterhaltungsschriftstellerin Mary Anette Gräfin von Arnim (Nr. 359, 1907), der Graf Waldemar von Roon als anonymer Herausgeber der Denkwürdigkeiten seines Onkels, des preußischen Kriegsministers Albrecht von Roon (Nr. 152, 1893), die eigenwillige anonym veröffentlichte Weltgeschichte des Grafen Maximilian Yorck von Wartenburg48 (Nr. 458, 1913), das anonym verfasste Lebensbild Aus dem Leben König Karls von Rumänien von seiner Hofdame Marie Kremnitz (Nr. 509, 1917) sowie das Pseudonym »Freiherr von Schlicht« für den Unterhaltungsschriftsteller Wolf Graf von Baudissin49 (Nr. 570, 1918), dessen Romane (Fräulein Fähnrich) im Offiziersmilieu spielten. Bürgerlich war dagegen der langjährige Oberbürgermeister von Königsberg, Karl Adolf Selke.50 Das Mitglied des Preußischen Herrenhauses ließ
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Vgl. Diethelm Klippel, Der zivilrechtliche Schutz des Namens. Eine historische und systematische Untersuchung, Paderborn 1985, S. 450f.; zeitgenössisch Alfred Manes, Das Recht des Pseudonyms unter besonderer Beachtung des Bürgerlichen Gesetzbuchs und ausländischen Rechts, diss. iur. Göttingen 1898. Kritisch zu Manes (»Überspannung des Formalitätsprinzips«) Alexander Elster, »Ueber den Rechtsschutz anonym oder pseudonym verfasster Werke, deren Verfasser bekannt sind«, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1914, S. 112–120, hier S. 115. Maximilian Graf Yorck von Wartenburg (1850–1900), preußischer Offizier (zuletzt Generalmajor), Militärattaché, Schriftsteller; seine »Weltgeschichte« nimmt einen altpreußischen Standpunkt ein, gegen »Partikularismus« und »Weltbürgertum«. Wolf Graf von Baudissin (1867–1926), preußischer Offizier, nach seinem Abschied 1899 Verfasser von Romanen und Theaterstücken (Militärhumoresken). Nicht zu verwechseln mit seinem Neffen, dem gleichnamigen Generalleutnant der Bundeswehr (1907–1993)! Johann Adolf Karl Selke (geb. 1836 in Mehlsack, gest. 1893 in Wildbad), Jurist, 1875 bis 1893 Oberbürgermeister von Königsberg (Pr.), ab 1888 Mitglied des preußischen Herrenhauses. Vgl.
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seine unter dem Pseudonym »Karl Adolf« veröffentlichten Unterhaltungsromane Die Harzbraut (1876) und Schmugglertöchter vor Norderney (1891) (beide Nr. 124, 1891) eintragen. Andere Gebiete der Literatur waren überhaupt nicht vertreten, etwa die erotische Literatur, obwohl anonym veröffentlichte Enthüllungsberichte aus Bordellen (»Dirnenromane«) zunehmend erschienen. Auch der prominenteste anonyme Roman dieses Genres, die 1906 als Subskriptionsroman verlegten fiktiven Lebenserinnerungen der Wiener Prostituierten Josephine Mutzenbacher, wurde nie eingetragen.51 Erst mit der Weimarer Republik wurde im weitesten Sinne erotische Literatur angemeldet: das unter dem Pseudonym »Eugen Dühren« 1900 erstmals erschienene Buch Der Marquis de Sade und seine Zeit des Berliner Arztes und Sexualwissenschaftlers Iwan Bloch (1872–1922; Nr. 590, 1919). Bei diesem Titel blieb es auch. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Register seine größte Bedeutung bereits hinter sich.
4.
LUG und Nebenluft: Deutsches Reich 1902–1918
Während des Ersten Weltkriegs, der im Register bis auf das Trotzkopf-Plagiat Trotzkopf im Krieg kaum Spuren hinterließ, war die Zahl der Anmeldungen kontinuierlich angestiegen, um 1918 mit 49 Eintragungen einen unerreichten Höchststand zu erreichen; in den Folgejahren fiel sie rapide ab und pendelte sich Ende der 1920er Jahre bei ungefähr zehn pro Jahr ein.52 Ursächlich für diesen Rückgang war nicht zuletzt das Gesetz über das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst (LUG), das am 19. Juni 1901 von Kaiser Wilhelm II. auf seiner Yacht ›Hohenzollern‹ vor Cuxhaven unterzeichnet wurde. Es ersetzte das Gesetz des Norddeutschen Bundes und trat zum 1. Januar 1902 in Kraft. Neben anderen Änderungen des Urheberrechts – so wurde die Eintragbarkeit von Übersetzungen abgeschafft, was das Ende der ohnehin kaum genutzten Abteilung B der Eintragsrolle bedeutete – enthielt es auch eine Klarstellung des Urheberrechts bei anonymer Autorschaft. Gemäß § 31 Absatz 2 Satz 2 LUG fand die reguläre Schutzdauer des § 29 (30 Jahre seit dem Tode des Urhebers) auch auf anonyme Werke Anwendung, wenn »der wahre Name des Urhebers binnen der dreißigjährigen Frist […] angegeben oder vom Berechtigten in die Eintragsrolle eingetragen wird.« In den §§ 56 bis 58 LUG wurde die Urheberrolle »bei dem Stadtrathe zu Leipzig« in ihrer bisherigen Form bestätigt. Damit konnte ein anonymer Autor den vollen Urheberschutz ausdrücklich auch dadurch erlangen, dass er sich öffentlich als Autor seines Werkes bekannte. Eine Eintra-
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(mit Hinweis auf die Romane) Fritz Gause, Art. »Selke, Johann Adolf Karl«, in: Altpreußische Biographie, Bd. 2, Marburg 1969, S. 663. Vgl. auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 83, 130–155; in dieser Entscheidung zum Umfang der Kunstfreiheit wird Felix Salten als Autor der Josefine Mutzenbacher bezeichnet (133). Für die urheberrechtliche Seite ist dies aber ohne Belang. Zu den Anmeldezahlen insgesamt sehr eingehend die unveröffentlichte Seminararbeit (Mschr.) von André Horváth, Die Bedeutung der »Eintragsrolle« bei dem Stadtrat zu Leipzig für das Urheberrecht an Schriftwerken (§ 138 VI UrhG), Leipzig 2003 (vorhanden in der Bibliothek des Stadtarchivs Leipzig unter Nr. 5247).
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gung in die Urheberrolle war in diesem Fall nicht mehr notwendig. Diese Klarstellung war erforderlich geworden, weil es durch die Formulierung des Gesetzes von 1870 zu dem Phänomen der »Nebenluftausgaben« gekommen war. Der Ausdruck selbst ging auf den Berliner Juristen Alexander Elster53 zurück, der ihn erstmals 1913 im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel einführte. Dem Begriff lag die Vorstellung zugrunde, dass hier der ordentliche Weg verlassen wurde und der eifrige Bucherzeugungsdrang sich auf einem unrechten Nebenwege Luft machte. Er schlüpfte durch eine Spalte, etwa wie der Rauch bei einer Zigarre oder der Dampf bei einem Kessel durchkommt, wo etwas undicht ist, was nicht undicht sein sollte. Undicht war aber etwas im Gesetz.54
Zwar hatte das 1902 in Kraft getretene LUG einen eindeutigen Standpunkt bezogen; da das alte Urhebergesetz aber zweideutig formuliert war und eine »enge« Auslegung seiner Bestimmungen zum Nachdruck anonymer und pseudonymer Werk auch von den wichtigsten Kommentierungen geteilt wurde,55 nahm die Zahl der »Nebenluftausgaben« nach 1902 unter Berufung auf die alte Rechtslage besonders stark zu. Insbesondere Mandry und der als Kommentator einflussreiche Justitiar des Reichspostamtes Otto Dambach56 sowie, etwas abgeschwächter, der Erlanger Strafrechtler Philipp Allfeld57 hatten in ihrer Kommentierung des Urheberrechts diesen Standpunkt vertreten.58
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Alexander Elster (geb. 1877 in Berlin), Jurist, zahlreiche Veröffentlichungen zu juristischen Fragen (Strafrecht, Urheberrecht), Redakteur Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 1898– 1914 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Prokurist des Verlages Gustav Fischer (Jena), seit 1914 Leiter der rechts- und staatswissenschaftlichen Abteilung beim Verlag Walter de Gruyter in Berlin. Alexander Elster, »Nebenluftausgaben«, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 1913, hier zitiert nach: Rudolf Beissel, Die »Nebenluftausgaben« in der deutschen Literatur, Leipzig 1917, S. 10. (Ablehnender) Hinweis in dem weiter unten zitierten Urteil des Reichsgerichts vom 10. Februar 1915 (Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen 86, 241, hier: 245) unter Verweis auf die »Motive« des Urhebergesetzes von 1870: »In den Kommentaren zum Gesetze wird dementsprechend allgemein die Meinung vertreten, ein erstmals anonym oder pseudonym erschienenes Werk könne nur durch Anmeldung seines Verfassers zur Eintragsrolle die Schutzfrist orthonymer Werke erlangen.« Otto Dambach (geb. 1831 in Querfurt, gest. 1899 in Berlin), 1862 Justitiar Generalpostamt, später Geheimer Rat Reichspostamt, 1873 außerordentlicher Professor in Berlin; zahlreiche Veröffentlichungen zum Nachdruckrecht und zum Postrecht; auch Gutachter. Philipp Allfeld (geb. 1852 in München, dort gest. 1940), lange Jahre bayerischer Staatsanwalt, 1895 Professor für Strafrecht in Erlangen. Mandry 1863 (wie Anm. 18), S. 233f.: »Daß anderweitige Bekanntmachung des Namens, namentlich durch Umdruck des Titelblattes, dieses Resultat nicht hat, ist nach der Motivierung der aus dem Entwurfe des BV Ausschußes herübergekommenen Bestimmung in den Motiven der Dreierkommission, nach dem Inhalte der Protokolle, den Motiven der k. bayerischen Regierung und der apodiktischen Ausdrucksweise des Gesetzes (namentlich Art. 52 [Eintrag muß stattfinden, wenn der Urheber seinen Namen bekanntmachen will, M.O.] nicht zu bezweifeln.«; Philipp Allfeld, Kommentar zu den Gesetzen vom 19. Juni, betreffend das Urheberrecht an Werken der Litteratur und der Tonkunst und über das Verlagsrecht, München 1902, S. 210: »Erscheint von einem zuerst anonym oder pseudonym veröffentlichten Werke eine neue veränderte Auflage unter dem wahren Namen des Autors, so kommt für diese Auflage § 29 [30 Jahre nach dem Tode
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Der erste prominente Fall einer »Nebenluftausgabe« betraf das Kinderbuch Der Struwwelpeter des Frankfurter Arztes Heinrich Hoffmann (1809–1894).59 Dessen Erstausgabe war 1845 unter dem sprechenden Pseudonym »Reimerich Kinderlieb« bei Rütten & Loening in Frankfurt am Main erschienen. Die folgenden Auflagen bis zur sechsten Auflage erschienen unter dem Pseudonym »Heinrich Kinderlieb.« 1848 erschien der Struwwelpeter in der siebenten Auflage orthonym als Werk von Heinrich Hoffmann, zudem um zwei weitere Episoden (der fliegende Robert und Hans-Guck-in-die-Luft) ergänzt. Heinrich Hoffmann starb 1894 in Frankfurt am Main. Nach geltendem Urheberrecht wäre der Struwwelpeter bis zum 31. Dezember 1924 geschützt gewesen. Der Leipziger Arzt Wilhelm Rudeck sah hier jedoch eine Gesetzeslücke. Rudeck war nicht ohne juristische Kenntnisse; er hatte mehrere Bücher über das Verhältnis von Medizin und Recht geschrieben,60 daneben populäre Sachbücher über das deutsche Sittenleben,61 besaß also auch Verlagserfahrung. Rudeck hatte die Urheberolle eingesehen und weder die Pseudonyme »Reimerich Kinderlieb« und »Heinrich Kinderlieb« noch die ersten Auflagen des Struwwelpeter gefunden. Aus heutiger Sicht ist dies ein weiterer Hinweis auf die schwache Nutzung der Urheberrolle. Rudeck betrachtete darauf die ersten Ausgaben des Struwwelpeter als gemeinfrei. Tatsächlich konnte er sich dabei auf Mandry und Dambach berufen. 1912 erschien so im Leipziger Pallas-Verlag in Kommission für Rudeck eine sehr billige Ausgabe des Struwwelpeter mit dem Vermerk »Unveränderte Ausgabe nach der 1.–4. Originalausgabe.« Der Verlag Rütten & Loening beschritt darauf den Rechtsweg, zunächst erfolglos. Das von dem Verlag angestrengte Strafverfahren wegen unerlaubten Nachdrucks war erfolglos; das Landgericht Leipzig lehnte am 10. September 1912 die Eröffnung eines Hauptverfahrens ab. Auch die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Leipzig wurde von Oberlandesgericht Dresden am 9. Oktober 1912 abgelehnt.62 Das OLG hatte den Standpunkt des Landgerichts Leipzig eingenommen, dass die pseudonymen Auflagen des Struwwelpeter gemäß des anzuwendenden § 11 RUG von 1870 gemeinfrei geworden seien. Nur die orthonymen Ausgaben seien noch bis 1925 geschützt. Dabei hatte sich das OLG Dresden über Rechtsgutachten von Josef Kohler63, Paul Kent64
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des Autors, M.O.] zur Anwendung; der Schutz der früheren Auflage richtet sich nach wie vor nach § 31 Abs. 1 [30 Jahre nach Erscheinen, M.O.].« Beissel 1917 (wie Anm. 54), S. 11–14. Wilhelm Rudeck, Medizin und Recht. Geschlechtsleben und -krankheiten in medizinisch-juristisch-kulturgeschichtlicher Bedeutung. Ein Handbuch in Ehescheidungs- und Vaterschaftsklagen, in Sachen des ärztlichen Berufsgeheimnisses und des Operationsrechtes, 2. Aufl. Berlin 1902; ders., Syphilis und Gonorrhoe vor Gericht, Jena 1900. Wilhelm Rudeck, Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Deutschland. Moralhistorische Studien, Jena 1897, 2. Aufl. Berlin 1902, 3. Aufl. Berlin 1905. Bei dem Rudeck nahestehenden Verlag Fiedler erschien auch: Hans Ostwald, Das Berliner Dirnentum, 2 Bde., Leipzig 1905–1907. Urteil abgedruckt in: Annalen des Königlich Sächsischen OLG 34, S. 274f. Hier nach Alexander Elster, »Ueber den Rechtsschutz anonym oder pseudonym verfasster Werke, deren Verfasser bekannt sind«, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1914 (wie Anm. 4), S. 112–120, hier S. 113. Josef Kohler, Professor an der Universität Berlin. Siehe unten Anm. 84. Paul Kent, Rechtsanwalt in Frankfurt am Main, Justizrat; Kommentare zum Patent- und Markengesetz.
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und Ludwig Fuld65 hinweggesetzt. Kohler hatte in seinem Gutachten einen Verstoß gegen Treu und Glauben durch Rudeck angenommen.66 Zusätzlich wurde vom Börsenverein Alexander Elster um eine Stellungnahme gebeten, in der er den Begriff der »Nebenluftausgabe« einführte und weitgehend Kohlers Argumente aufgriff. Zudem erwähnte Elster ein aktuelles Beispiel anonymer Autorschaft: »Ich erinnere nur an die ›Zukunft‹, die auf dem Titelblatt die Bezeichnung ›Herausgeber: Maximilian Harden‹ trägt, und von der jeder einigermaßen schriftkundige Mensch weiß, dass die nicht mit Verfassernamen bezeichneten Beiträge von Harden sind.«67 Im Sinne des Urteils äußerte sich nur Friedrich Streissler,68 der mit einer sozialen Verantwortung der Verlage, billige Ausgaben zu schaffen, argumentierte.69 Unmittelbare Folge des Dresdner Urteils war, dass sich Rudeck und andere Verleger auf die Suche nach anonymen oder pseudonymen Frühwerken berühmter Schriftsteller machten, die nicht in der Urheberrolle verzeichnet waren. Bereits 1902 hatte der Leipziger Kommissionsverlag Fiedler, mit dem Rudeck eng zusammenarbeitete, die 1858 anonym veröffentlichte Groteske Aus Franzensbad: 6 Episteln der Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916) ohne deren Einverständnis herausgebracht, die österreichische Schriftstellerin konnte sich juristisch nicht gegen das Erscheinen der Jugendschrift unter ihrem Namen zur Wehr setzen.70 Jetzt wurde Rudeck bei Gustav Freytag (1816–1895) fündig.71 Bei Fiedler erschien im November 1913 eine von Rudeck herausgegebene Ausgabe seiner Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Die Ausgabe war jedoch nicht identisch mit dem gleichnamigen Werk, das von 1859 bis 1867 erschienen war, einer Zusammenstellung einzelner Artikel, die Freytag für die nationalliberale Zeitschrift Die Grenzboten verfasst hatte, davon zahlreiche zunächst anonym. In der Ausgabe Rudecks waren die ursprünglich anonymen Artikel enthalten, zudem weitere Beiträge, die überhaupt nicht von Freytag stammten. Für seine Ausgabe gebrauchte Rudeck, der bereits 1911 eine billige Freytag-Ausgabe herausgebracht hatte,72 die werbewirksame Bezeichnung »Urtextausgabe«. In seinem Vorwort räumte er »Änderung von Titeln«, »Streichungen« und »Richtigstellung vereinzelter geschichtlicher Irrtümer« ein. »All diese Herausgebertätigkeit« sei nicht »ohne Zagen« geschehen, erscheine jedoch als »das einzige Mittel, das Werk Gustav Freytags, in dem sich seine
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Ludwig Fuld, geb. 1859 in Mainz, Rechtsanwalt, Syndikus mehrerer Wirtschaftsverbände, Justizrat, zahlreiche juristische Veröffentlichungen. Elster 1914 (wie Anm. 47), S. 115. Ebd., S. 119. Friedrich Streissler (1860–1917), Autor zahlreicher Rechtsratgeber zum Verlags- und Urheberrecht, darunter Der Kolportagehandel: Praktische Winke für die Einrichtung und den Betrieb der Kolportage in Sortimentsgeschäften (Leipzig 1887), Rechtslexikon für Urheber, Buchhandel und Presse in den Ländern deutscher Zunge (Leipzig 1890); daneben populärwissenschaftliche Veröffentlichungen. Zitiert nach Elster 1914 (wie Anm. 47), S. 116. Knapper Hinweis bei Elster 1914 (wie Anm. 47), S. 120, ohne auf Titel und Verlag einzugehen (»ein anonym erschienenes Gelegenheits- und Jugendwerk.«) Beissel 1917 (wie Anm. 54), S. 14–16. Erzählungen und Geschichten aus schwerer Zeit. Bilder und Dichtungen von Gustav Freytag. Gesammelt und hg. v. Wilhelm Rudeck, Leipzig 1911.
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eigentliche und größte Lebensarbeit verkörpert, nicht länger dem deutschen Volke vorzuenthalten. Textkritische Bedenken mußten da zurückstehen.« Freytags Verlag Hirzel in Leipzig klagte bei dem Landgericht Leipzig gegen die Verbreitung der Ausgabe. Zwischenzeitig hatte Rudeck unter seinem eigenartigerweise nicht in der Urheberrolle eingetragenem Pseudonym »Rudolf Will« eine volkstümliche Anthologie Allerlei Humor herausgebracht, die einige Bildgeschichten von Wilhelm Busch (1832–1908) enthielt. Dessen gesamtes Werk wurde von dem Münchner Verlag Braun & Schneider, in dem auch die Fliegenden Blätter erschienen, vertreten. Rudeck berief sich darauf, dass einige Zeichnungen Buschs 1859/62 in den Fliegenden Blättern anonym erschienen waren; seine Humoranthologie wurde als »das erste billige Busch-Album« beworben.73 Auch Braun & Schneider legte den Rechtsweg ein. Rudeck war 1913 verstorben; das Landgericht Leipzig hatte am 29. Januar 1914 erstinstanzlich den Vertrieb seiner Bilder aus der deutschen Vergangenheit untersagt. Das Gericht hatte zwar ebenfalls eine Gemeinfreiheit der Werke ab 1885/89 angenommen, zugleich aber einen rückwirkenden Schutz durch das LUG von 1901 festgestellt. Das OLG Dresden bestätigte diese Auffassung am 1. Juli 1914. Bereits im April 1914 war die Revision gegen die Herausgabe der BuschZeichnungen verworfen worden. Es kam zu wachsender Unsicherheit unter den Verlagen; eine Grundsatzentscheidung des Reichsgerichts wurde erwartet. Zwischenzeitig war eine weitere Nebenluftausgabe erschienen, diesmal von Wilhelm Raabe (1831– 1910).74 Auch dieser hatte zunächst unter Pseudonym gearbeitet, als »Jacob Corvinus«, einer Latinisierung seines Familiennamens. Unter dem Namen war 1857 das Romandebüt Die Chronik der Sperlingsgasse erschienen, bis 1859 weitere Bücher; in allen Fällen war Raabe noch zu Lebzeiten als Autor bekannt geworden, Die Chronik der Sperlingsgasse war schon 1864 unter richtigem Namen erschienen. Auch Raabe hatte auf eine Eintragung in Leipzig verzichtet. Nicht zuletzt unter Berufung auf das nachdruckfreundliche Urteil des OLG Dresden brachte 1913 der Berliner Verlag Jacobsthal & Co. eine im großen Umfang beworbene »billige« Raabe-Ausgabe heraus. Sie wurde von dem Journalisten Ferdinand Hesse herausgegeben, der bereits unmittelbar vor Eintritt der Gemeinfreiheit ein Joseph-Victor-von-Scheffel-Album herausgebracht hatte;75 für ein Vorwort konnte der bekannte Germanist Ludwig Geiger76 gewonnen werden. Raabes Erben und seine Verlage beschritten den Rechtsweg. Es wurde uneinheitlich judiziert. Die Berliner Grotesche Verlagsbuchhandlung, bei der Raabe in Einzelausgaben erschien, war vor dem Landgericht Berlin I erfolgreich. Das Gericht betrachtete die Werke Raabes sowohl durch das Urhebergesetz von 1870 wie durch das LUG von 1901 als geschützt. Weniger Erfolg hatten die Erben und der Verleger der Gesamtausgabe, die Berliner Verlagsanstalt für Literatur und Kunst Hermann Klemm. Das Landgericht Berlin II betrachtete die fraglichen Bände seit 1887/88 als gemeinfrei. Die Fälle kamen vor das Kammer-
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Beissel 1917 (wie Anm. 54), S. 17f. Ebd., S. 18–21. Ferdinand Hesse (Hg.), Viktor-Scheffel-Album. Perlen deutschen Humors, Berlin-Schöneberg 1913. Der 1886 verstorbene Scheffel war zum 1. Januar 1917 gemeinfrei geworden. Ludwig Geiger (1848–1919), Literaturwissenschaftler in Berlin (Goethe-Gesellschaft), Schriften zu Renaissance, Klassik, Theatergeschichte.
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gericht, das im Juni 1914 gegen Jacobsthal & Co. entschied, darauf wurde Revision beim Reichsgericht eingelegt. Trotz des mittlerweile ausgebrochenen Ersten Weltkriegs wurde die Entscheidung des Reichsgerichts von Schriftstellern, Buchhändlern und Verlagen mit Spannung erwartet; die Eintragungen in der Urhebrolle erreichten gleichzeitig einen Höchststand77, freilich von sehr niedriger Ausgangslage. Am 10. April 1915 erging die Entscheidung des Reichsgerichts. Das Gericht führte klar aus, auch § 11 LUG von 1870 führe bei richtiger Auslegung »keineswegs dazu, anonym oder pseudonym erschienenen Werken den Schutz der orthonymen nur unter der Voraussetzung zu gewähren, dass innerhalb der Schutzfrist der wahre Name des Autors zu einer Eintragsrolle angemeldet worden ist.«78 Vielmehr beziehe sich die Vorschrift nur auf anonyme oder pseudonyme Werke. Sobald aber der Autor eines Werkes sich öffentlich zu diesem bekenne, könne nicht mehr von einem anonymen Werk gesprochen werden. Sobald der wahre Name des Urhebers auf dem Titelblatt oder unter der Zueignung oder unter der Vorrede angegeben wird, hören sie auf, anonyme oder pseudonyme Werke zu sein. Würde man sie auch von diesem Zeitpunkt an als anonym oder pseudonym behandeln, so könnte dies nur aufgrund einer rechtlichen Fiktion geschehen, die mit der Wirklichkeit der Dinge in unvereinbarem Widerspruche stände, und für die sich ein verständiger Grund nicht finden ließe. Nirgends hat das Gesetz den Grundsatz aufgestellt, dass ein einmal anonym oder pseudonym erschienenes Werk den damit erlangten Charakter im Rechtssinne nicht mehr verlieren könne.
Dem »Laien« wäre es »kaum verständlich« dass ein ursprünglich anonym erschienenes Werk, das unter dem wahren Namen des Autors längst »in weitesten Kreisen Gemeingut aller Gebildeten geworden« sei, »von der Rechtsordnung noch als ein anonymes oder pseudonymes behandelt wird, lediglich deshalb, weil es zuerst als anonymes oder pseudonymes veröffentlicht wurde und die Anmeldung zur Eintragsrolle versäumt wurde.«79 Ausdrücklich stellte das höchste deutsche Gericht klar, dass anonyme Autorschaft vom Gesetzgeber grundsätzlich gestattet sei. »Das Erfordernis der Anmeldung ist keinesfalls daraus zu erklären, dass der Gesetzgeber pseudonymen oder anonymen Werken etwa missgünstig gegenüberstände. Für die Pseudonymität oder Anonymität eines Werkes können sehr berechtigte Gründe sprechen.« Auch die Eintragsrolle sei Ausdruck dieser grundsätzlichen Billigung: Der Grund, weshalb die Anmeldung zur Eintragsrolle erforderlich wird, ist vielmehr lediglich der, daß man auch anonym oder pseudonym gebliebenen Werken die Vorteile der regelmäßigen gesetzlichen Schutzfrist des § 8 zukommen lassen wollte […]. Diese Vorschrift ermöglicht al-
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Horváth 2003 (wie Anm. 52), S. 9. In den ersten Jahren kam die Rolle (Abteilung A) auf durchschnittlich 6,75 Eintragungen pro Jahr. 1908, also während der Nebenluftstreitigkeiten, erreicht sie zehn Eintragungen jährlich, um bis auf 49 Eintragungen allein im Jahr 1918 kontinuierlich anzusteigen. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte ein rapider Abfall der Anmeldezahlen ein, der 1923 fast den Nullpunkt erreichte. Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen 86, S. 241–245, hier S. 244. Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen 86, S. 241–245, hier S. 244.
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so, die Anonymität oder Pseudonymität zu wahren und doch den Schutz orthonymer Werke zu erlangen.80
Das Urteil des Reichsgerichts hatte unmittelbare Folgen. Der Fiedler-Verlag verzichtete wegen seiner Gustav-Freytag-Ausgabe auf Revision, für den Struwwelpeter folgte das Landgericht Frankfurt am Main am 29. November 1915 dem Reichsgericht. Im gleichen Jahr begrüßte der Leipziger Rechtsanwalt Curt Hillig81, der bereits wiederholt zum Rechtsschutz für das Werk Gustav Freytags Stellung genommen hatte,82 ausdrücklich das Urteil in einem Beitrag für die Juristische Wochenschrift. Mit seiner »zutreffenden Auslegung des § 11« schaffe das Reichsgericht eine Grundlage, »welche der weiteren Ausnutzung geistigen Eigentums auf Grund formaler Bestimmungen ein Ende macht. Und damit wird sich jeder rechtlich Denkende einverstanden erklären.«83 Noch entschiedener stellte sich der Berliner Professor Josef Kohler84 hinter den Standpunkt des Reichsgerichts; das Urteil habe »nunmehr endlich den Nebenluftausgaben das Lebenslicht ausgeblasen.« In den Jahren davor sei es gewissermaßen zum Sport geworden, nachzuforschen, ob bei berühmten gangbaren Werken nicht zuerst eine namenlose Ausgabe oder eine Ausgabe mit Decknamen erschienen sei, und insbesondere war es ein großer Fund, wenn man ermittelte, dass etwa ein Roman oder eine Novelle zuerst namenlos in einer Zeitschrift aufgetaucht war.85
»Schon vom Standpunkt des alten Gesetzes« sei diese Verkürzung der Schutzfirst bei anonymer Autorschaft nicht zwingend gewesen, da im Gesetz »nicht von einer namenlosen Ausgabe, sondern von einem namenlosen Schriftwerke« die Rede war. Zudem verlange »der Begriff eines benannten Schriftwerkes durchaus nicht«, dass »gerade die erste Ausgabe mit dem Namen erscheint, dass es vielmehr genügen muß, wenn überhaupt eine benannte Ausgabe veröffentlicht wird.« Kohler räumte jedoch ein, dass die Motive des Gesetzes andere gewesen seien; auch Mandry und Dambach hätten als führende Kommentatoren »ausdrücklich erklärt, dass es so einmal Gesetz sei, welches demgemäß
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Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen 86, S. 241–245, hier S. 245. Curt Hillig, Rechtsanwalt in Leipzig, Justizrat, zahlreiche Gutachten zu urheberrechtlichen Fragen, Kommentar zum LUG (zusammen mit Johannes Mittelstaedt, Das Verlagsrecht, Leipzig 1901). Mitteilungen des Deutschen Verlegervereins, 25. Oktober 1912; ferner Börsenblatt des deutschen Buchhandels, 1913 (Kurze Abhandlung über die Folgen der Schutzfähigkeit anonymer und pseudonymer Werke). Curt Hillig, »Nebenluftausgaben. Zur Frage der Auslegung des § 11 LitUrhG vom 11. Juni 1870«, in: Juristische Wochenschrift 1915, S. 438f. Josef Kohler (geb. 1849 in Offenburg/Baden, gest. 1919 in Berlin), zunächst Richter in Mannheim, 1878 Professor Würzburg, 1888 Berlin; einer der produktivsten (über 2000 Veröffentlichungen) und am breitesten aufgestellten (Zivilrecht, Patentrecht, Rechtsvergleichung, Rechtsethnologie, Rechtsphilosophie) Juristen seiner Zeit, prägte den Begriff der Immaterialgüterrechte für das Recht des Geistigen Eigentums. Vgl. nur Klaus Luig, Art. Josef Kohler, in: NDB 12/1980, S. 425f. Josef Kohler, »Nebenluftausgaben«, in: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1916, S. 174ff., hier S. 174.
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auch gelten müsse.« Insbesondere Dambach wurde von Kohler mit kaum verhülltem Spott bedacht, da er langjähriger Vorsitzender des Sachverständigenvereins86 war, so war dies für die Mehrzahl der Verleger ausschlaggebend; leider hat bei den Gerichten die ungünstige Wirksamkeit Dambachs seine geistlose Wortinterpretation und hölzerne Behandlung des Rechts lange Zeit nachgewirkt.
Zudem sei ein solches juristisches Operieren [...] im höchsten Grade ungesund: kraft einer Fiktion soll in die Zeit vor dem Jahre 1870 hineingeleuchtet werden und sollen Werke, welche schon zu benannten Werken geworden sind, nunmehr als namenlose Werke behandelt werden, weil sie vor 1870 einmal namenlos gewesen sind.87
Ironisches Lob gab es für die Motive der Reichstagskommission: Wie groß ist hier die Fürsorge für die Spätdruckverleger! Ihnen könnte ja ein Fall entgehen, in welchem ein anonymes Werk geworden ist! Daß sich ein solcher Verleger im Buchhandel erkundigen kann und dass jeder ordentliche Buchhändler die Möglichkeit hat, sich hierüber zu vergewissern, das beachtete man nicht, und doch war der Buchhandel schon im Jahre 1870 in einer solchen Weise entwickelt, daß eine einfache Nachfrage zum Ziele führen mußte. Schließlich wird man ja auch dem Verleger eines unbekannten Werkes noch die Pflicht auferlegen, nach dem Tode des Verfassers einen Totenschein registrieren zu lassen; denn kann man dem Spätdruckverleger zumuten, wegen des Todestages ein Konversationslexikon oder einen Kürschner nachzusehen? Und diese können sich doch auch menschlich irren!
Negativ war auch Kohlers Urteil über die »Eintragsrolle« in Leipzig als »eine bureaukratische Einrichtung, welche niemals Bedeutung hatte.« Sie sei »tatsächlich nur für den einen Fall brauchbar, wenn nämlich von einem Werke nur eine Auflage erschienen und diese in den 30 Jahren vollständig vergriffen ist, so daß der Name des Autors nicht mehr in anderer Weise zur Geltung kommen kann.« Als Beispiel für »solche Fälle« nannte Kohler ein nicht in Leipzig eingetragenes Buch, nämlich »das schlimme Buch von Max Stirner (Pseudonym für Kaspar Schmidt)«88, das zu diesem Zeitpunkt aber bereits gemeinfrei war. In den meisten Fällen sei »die bureaukratische Einrichtung der Eintragsrolle bedeutungslos.«89 Gemessen an der jährlichen deutschen Buchproduktion war dies sicherlich zutreffend. Von grundsätzlicher Bedeutung war Kohlers abschließende Bewertung, mit der er das von ihm leidenschaftlich begrüßte Urteil als »geschichtlich bedeutsam« bezeichnete. Wir haben hier ein Musterbeispiel der alten und der neuen Jurisprudenz vor uns, der alten Jurisprudenz, welche die Worte des Gesetzes und die Motive als den unverbrüchlichen Kanon
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In diesem Zusammenhang erschien: Otto Dambach, Fünfzig Gutachten über Nachdruck und Nachbildung, erstattet vom Königlich Preußischen literarischen Sachverständigen-Verein in den Jahren 1874–1889, Berlin 1891. In einem Gutachten vom 27. Oktober 1887 (S. 259–267) hatte Dambach bereits zu einem Nachdruck des Struwwelpeter Stellung genommen. Kohler 1916 (wie Anm. 85), S. 174f. Gemeint ist Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum (Leipzig 1844) Kohler 1916 (wie Anm. 85), S. 175.
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betrachtet, und der neuen Jurisprudenz, welche den Zwecken des Gesetzes entsprechend, auf unsere Kulturverhältnisse und ihre Anforderungen Rücksicht nimmt, welche das Gesetz als ein motivierendes Element der Rechtspflege betrachtet, und es nicht als einen gebietenden Herrn, sondern als einen wohlwollenden Lehrer ansieht, demgegenüber sich die Rechtsprechung nicht als gehorsamer Diener, sondern als gelehriger Schüler zu verhalten hat.
Das war eine rechtspolitische und methodische Aussage, eine klare Absage an eine vermeintliche »Begriffsjurisprudenz«, die von Kohler, nicht ganz zu Recht, mit den Namen Jhering90 und Windscheid91 assoziiert wird. Diese Kritik an einer engen, buchstabengetreuen Auslegung wurde nicht allein von Kohler so gesehen und war um 1900 weit verbreitet,92 teilweise auch mit einem Affekt gegen das Römische Recht, der bei Kohler allerdings nicht zu erkennen war.93 Auch die Rechtsprechung des Reichsgerichts war Gegenstand dieser Kritik geworden. Kohler betrachtete das Urteil zu den Nebenluftausgaben, dessen »treffende Ausführungen« er »im höchsten Maße« begrüße, offenbar als eine Tendenzwende. Einen erheblichen Anteil an dieser Tendenzwende schrieb sich Kohler selbst zu. »Seit mehr als 30 Jahren« gingen seine »Bemühungen dahin, eine solche neue Aera der Rechtspflege vorzubereiten, und ich freue mich, daß sie nunmehr begonnen hat.« Man werde ihm dankbar sein, »daß ich dazu beigetragen habe, eine Jurisprudenz im Windscheid-Jheringschen Sinne zu überwinden.« Kohlers Kritik an Jhering war auch eine Polemik. Jhering selbst hatte sich gegen ein zu enges Verständnis von Begriffsjurisprudenz94
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Rudolf von Jhering (geb. 1818 in Aurich, gest. 1892 in Göttingen), Professor für Römisches Recht in Basel, Rostock, Kiel, Gießen, Wien und seit 1872 in Göttingen. Einflussreichster deutscher Jurist der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Galt zu Unrecht als Vertreter einer die Lebenswirklichkeit vernachlässigenden »Begriffsjurisprudenz«, was allenfalls auf seine Frühschriften zutrifft. Vgl. nur: Diethelm Klippel, »Juristischer Begriffshimmel und funktionale Rechtswelt. Rudolf von Jhering als Wegbereiter der modernen Rechtswissenschaft«, in: Colloquia für Dieter Schwab, hg. v. Diethelm Klippel, Bielefeld 2000, S. 16–135. Bernhard Windscheid (geb. 1817 in Düsseldorf, gest. 1892 in Leipzig), Professor für Römisches Recht in Bonn, Basel, Greifswald, München, Heidelberg und Leipzig. Einflussreicher Pandektist und Lehrbuchautor, beteiligt an der Entstehung des BGB, galt aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als typischer Vertreter der lebensfremden Begriffsjurisprudenz. Dazu nur: Ulrich Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid. Erkundungen auf den Feldern der sogenannten Begriffsjurisprudenz, Frankfurt a. M. 1989. Zu der Kritik vgl. nur: Jan Schröder, »Begriffsjurisprudenz«, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl., Bd. 1, Berlin 2008, Sp. 500ff. Kohlers Verhältnis zu Windscheid war differenzierter. 1878 widmet er ihm sein »Deutsches Patentrecht« als »Neubeleber der Wissenschaft des praktischen Zivilrechts«. Gegen eine Überschätzung späterer Äußerungen Kohlers zu Windscheid: Ulrich Falk, »Der Gipfel der Pandektistik: Bernhard Windscheid (1817–1892)«, in: Greifswald – Spiegel der deutschen Rechtswissenschaft 1815 bis 1945, hg. v. Joachim Lege, Tübingen 2009, S. 129–150, hier S. 133. Mit »Begriffsjurisprudenz« wurde ab dem späten 19. Jahrhundert die Wissenschaft vom Römischen Recht (Romanistik, Pandektistik) bezeichnet; ihr wurde vorgeworfen, alle Lebenssachverhalte unter abstrakten Begriffen zu subsumieren und somit lebensfremd zu sein. Als bekanntester Vertreter der Pandektistik galt der Leipziger Professor Bernhard Windscheid. Die teilweise sehr polemische und auch überzogene Kritik wurde hauptsächlich von Vertretern der Germanistischen Rechtswissenschaft (Germanistik), zu denen Josef Kohler gehörte, geübt. Der Ausdruck »Begriffsjurisprudenz« geht auf Rudolf von Jhering selbst zurück, der ihn erstmals in dem 1884
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ausgesprochen95, und zwar in mehreren anonym verfassten Zeitungsartikeln.96 Gänzlich auf Kohlers Linie, insbesondere in seiner Kritik an der »Begriffsjurisprudenz« lag auch die ein Jahr später bei Emil Sehling97 in Erlangen entstandene Dissertation von Rudolf Beissel98 Die Nebenluftausgaben im deutschen Verlagswesen, die bislang letzte Veröffentlichung zu diesem Thema.
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Ohne Bedeutung und Beachtung: Deutsches Reich 1919–1945
Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg hatte die Bedeutung der Urheberrolle schlagartig abgenommen. Zu den wenigen Fällen pseudonymer Autorschaft zählte die Kolportageschriftstellerin Maria Mancke (1847–1926), die das für ihr Trotzkopf-Plagiat Trotzkopf im Weltkrieg gebrauchte Pseudonym »Marie von Felseneck« eintragen ließ (Nr. 591, 1919), das Pseudonym »Betty« für einen Lehrgang im Tischdecken und Servieren (Nr. 641, 1925) und der Schriftsteller Ferdinand Bruckner (1891–1958), der sich nach dem Erfolg der pseudonym erschienen Bücher Krankheit der Jugend und Elisabeth von England 1930 sein Pseudonym »Theodor Tagger« (Nr. 674) eintragen ließ. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts war 1933 durch eine letzte Wilhelm-Busch-Entscheidung voll bestätigt worden.99 Tagger blieb unter den Schriftstellern der Weimarer Republik eine Ausnahme; weder »B. Traven« noch »Hans Fallada«, um zwei berühmte Fälle zu nennen, ließen sich eintragen. Unter den noch spärlicheren Fällen anonymer Autorschaft fällt ein Notenheft Walzermelodien (Nr. 669, 1929) auf. Ungebrochen war allein die Präsenz evangelischer Gesangbücher mit den Gesangbüchern der Landeskirchen Thüringens (Nr. 655, 1928), Bayern rechts des Rheines (Nr. 656, 1928), Danzigs (Nr. 662, 1929), für die preußischen Kirchenprovinzen Ostpreußen (Nr. 663, 1929), Rheinland (Nr. 679, 1930) und Brandenburg (Nr. 685, 1931) sowie für Schleswig-Holstein, Lübeck, Schwerin und Strelitz (Nr. 673, 1930).
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erschienenen Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (S. 337) als Synonym für »die Scholastik in der heutigen romanistischen Wissenschaft« gebrauchte. Besonders nachhaltig wurde der Ausdruck von dem Tübinger Juristen Philipp Heck (1858–1943), dem führenden Vertreter der »Interessenjurisprudenz«, eingesetzt. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 451. N. N. (d.i. Rudolf von Jhering), »Vertrauliche Briefe über die heutige Jurisprudenz. Von einem Unbekannten«, abgedruckt in: Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Eine Weihnachtsgabe für das juristische Publikum. Leipzig 1884, Unveränd. reprografischer ND der 13. Aufl. Leipzig 1924, Darmstadt 1992, S. 3–117. Insgesamt sechs seiner Abhandlungen in der »Preußischen/Deutschen Gerichtszeitung« zwischen 1861 bis 1866 erschienen anonym. Emil Sehling (geb. 1860 in Essen, gest. 1928 in Erlangen), seit 1889 Professor für Kirchenrecht in Erlangen; daneben auch Lehraufträge in Handelsrecht, Deutschem Privatrecht und Seerecht; als Autor jedoch fast nur im evangelischen Kirchenrecht hervorgetreten (»Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts«, seit 1902). Rudolf Beissel (geb. 1894 in Köln, gest. 1986 in Saarburg), juristischer Mitarbeiter des Karl-MayVerlages Radebeul, Karl-May-Forscher, später Autor von Abenteuerromanen und Drehbüchern. Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen 139, S. 327–343.
Von Urheberrollen und Nebenluftausgaben
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Die nationalsozialistische Diktatur hinterließ in der Urheberrolle kaum Spuren, was allein ein Indiz für deren fortschreitende Bedeutungslosigkeit war. Schriftsteller, die aus politischen Gründen ein Pseudonym wählen mussten, so Erich Kästner mit »Berthold Bürger« für das Drehbuch des Münchhausen-Films der UFA von 1942, hatten auch andere Gründe, sich nicht in einem öffentlichen Register anzumelden. Für anonyme Autorschaft galt dies erst recht. Tatsächlich war die Bedeutung der Urheberrolle schon vor dem Zweiten Weltkrieg so zurückgegangen, dass sich staatliche Stellen kaum für das Register interessierten. 1943 kommt es zur vorläufig letzten Eintragung mit der Doppelnummer 717/718. Völlig zum Erliegen kam die Urheberrolle während des Krieges nicht; ihr Standort, das Neue Rathaus, war von den 1943 einsetzenden Bombenangriffen auf Leipzig nur leicht betroffen. Bis zum Januar 1945 lässt sich eine äußerst heterogene Korrespondenz nachweisen. 1944 wurde die Eintragung des Gesellschaftsspiels Rundfahrt im schönen Breslau beantragt, 1945 stellte aus dem noch deutsch besetzten Prag Katharina Roemmer-Stoll, die Librettistin von Eduard Künnekes Operette Die große Sünderin, Antrag auf Eintragung, dazwischen der Nordland-Verlag der SS und merkwürdige Tüftler, die bereits mit Patentschutz gescheitert waren. In allen Fällen reagierten die Sachbearbeiter im Leipziger Rathaus hinhaltend oder erklärten sich für unzuständig. Womöglich war sich über die rechtliche Bedeutung der Urheberrolle auf allen Seiten niemand so recht im Klaren.
6.
Anonyme Autorschaft in beiden deutschen Staaten: 1945 bis heute
Als die Leipziger Stadtverwaltung im Laufe des Jahres 1945 den regulären Geschäftsbetrieb im nur leicht beschädigten Rathaus aufnahm, wurde auch die Urheberrolle weiter fortgeführt, und das zonenübergreifend. Da in beiden deutschen Staaten das LUG von 1902 zunächst fortgalt, blieb auch die Eintragsrolle fast während des gesamten Kalten Krieges auf unveränderter Rechtsgrundlage bestehen und war in dieser Zeit eine der wenigen funktionierenden gesamtdeutschen Einrichtungen. Großes Interesse an dem Register bestand aber weder in West noch Ost. Jährlich gab es höchstens eine Eintragung, in einigen Jahren auch gar keine. Prominente Fälle anonymer oder pseudonymer Autorschaft gab es kaum; KuBa100 und Konsalik, um zwei bekannte Pseudonyme der fünfziger Jahre aus Ost und West zu nennen, wurden niemals eingetragen. Das Ende der fast vergessenen Eintragsrolle kam mit dem westdeutschen Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte vom 9. September 1965.101 In § 138 des Gesetzes wurde beim Deutschen Patentamt in München ein »Register anonymer und pseudonymer Werke« als Nachfolgeinstitution eingerichtet. Am 14. Oktober 1965 war der letzte Titel in Leipzig eingetragen worden. Er war westdeutsch. Unter der Nr. 724 wurden diverse Titel der im Bastei-Lübbe-Verlag in Bergisch-Gladbach erscheinenden Groschenro-
100 101
Pseudonym für Kurt Barthel (1914–1967), Lyriker, Dramatiker, Sekretär des Schriftstellerverbands der DDR. Bundesgesetzblatt I 1965, S. 1273.
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Martin Otto
manreihe Chefarzt Graf Holstein unter dem bekannten Pseudonym »Irene von Velden« eingetragen. Ein Eintrag der Leipziger Bearbeiterin konstatiert, dass dieser Vermerk offenbar irrtümlich für erforderlich gehalten wurde. Fast unbemerkt wurde ein letztes Stück Rechtseinheit beider deutschen Staaten beendet. In beiden Staaten wurde es aber nicht besonders vermisst. Die DDR sah in ihrem Gesetz über das Urheberrecht vom 13. September 1965 in § 33 Absatz 5 ein eigenes Register in Form einer Urheberrolle für anonyme Autoren vor. Die im Gesetz vorgesehen Bestimmungen, wann und wo das Register geführt werden sollte, wurden nie erlassen.102 Besondere Bedeutung erreichte das beim Deutschen Patentamt für die Bundesrepublik geführte Register ebenfalls nicht. Es kam nur auf wenige jährliche Eintragungen. Seit der Wiedervereinigung 1990 gibt es ein beim Deutschen Patent- und Markenamt geführtes gesamtdeutsches Register anonymer und pseudonymer Autoren. Es hat ebenfalls keine große Bedeutung. Jährlich kommt es auf höchstens zwölf Eintragungen, überwiegend keine literarischen Werke, sondern Gebrauchstexte, bei denen die anonyme Publikation die Regel und die, auch nachträgliche, Benennung eines Autors unüblich ist. Für die literarischen Fälle anonymer Autorschaft hat die Eintragsrolle ihre Bedeutung nahezu verloren. Das ist auch nicht überraschend, denn letztlich wurzelte die Vorstellung, dass der Autor eines anonymen Werkes seine Autorenrechte nur durch Eintragung in ein Register wahren kann, noch deutlich in der Zeit der Privilegien, bei denen ja auch Eintragsrollen üblich waren. Der Bedeutungsverlust der Eintragsrolle für anonyme und pseudonyme Werke geht mit einer rechtlichen Stärkung der Position der Autoren einher, die ihren Höhepunkt in der Reichsgerichtsentscheidung von 1915 fand. Aber schon in den Jahren zuvor deckte die Eintragsrolle nur einen Bruchteil der anonymen und pseudonymen Autoren ab. Auch in der Rechtsprechung zu den prominenten Fällen »Struwwelpeter«, »Wilhelm Raabe«, »Gustav Freytag« und »Wilhelm Busch« wurde deutlich, dass die Register von den Autoren in den wenigsten Fällen angenommen wurden. Das Urteil des Juristen Joseph Kohler, selbst ein Jurist mit künstlerischen Neigungen,103 der die Eintragsrolle als »bureaukratische Einrichtung« bezeichnete, wurde wohl von vielen Schriftstellern und Verlegern geteilt. Es dominierte der unkünstlerische Bereich: religiöse Volksliteratur, Spielanleitungen, Gebrauchsanweisungen, Lesebücher, also Texte, bei denen es auf die Person des Autors nicht unbedingt ankam. Bereits in literarischen Grenzbereichen, nämlich der Trivialliteratur, war die Eintragung eher die Ausnahme als die Regel, in einigen dieser Grenzbereiche blieb sie ganz aus, so bei der um das Jahr 1900 durchaus nennenswerten erotischen Literatur. In einer der wenigen Nachkriegsentscheidungen zur anonymen Autorschaft, Josefine Mutzenbacher von 1989, konnte das Register gerade nicht hinzugezogen werden.104 Schriftsteller, die in eher heiklen Grenzbereichen der Literatur tätig waren, hatten oft kein Interesse, sich bei einem öffentlichen Register anzumelden. Wer kein Interesse hat-
102 103
104
Urheberrecht, hg. v. Heinz Püschel, Leipzig 1980, S. 329f. Zu nennen ist etwa die Beschäftigung mit Shakespeare (Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, Würzburg 1883) und Richard Wagner (Zeitungsartikel »Parsifal und die Autorenrechte« von 1912, abgedruckt bei Wündisch 2004 (wie Anm. 40), S. 115–118; »Gutachten in der Parsifalfrage« von 1904, abgedruckt bei Wündisch 2004 (wie Anm. 40), S. 119ff.). OLG München, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1990, S. 446.
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te, seine Identität zu offenbaren, sei es, weil er staatliche Sanktionen fürchtete, sei es, weil er seine Anonymität bewusst als Reklamemittel einsetzte, interessierte sich auch wenig für die urheberrechtliche Fragen der anonymen Autorschaft, zumindest überwogen die Gründe für die Wahl der Anonymität dieses Interesse. Interesse zeigten nur die Randbereiche schriftstellerischer Tätigkeit, in denen es auf den Namen des Autors nicht ankam – Gebrauchstexte, religiöse Traktate und Gesangbücher, Schulbücher, Trivialliteratur. Das gilt auch für eine der letzten Entscheidungen, die anonyme Autorschaft betraf. Der im Jahr 2003 entschiedene Rechtsstreit, dessen Schwerpunkt allerdings im Internationalen Privatrecht lag, hatte das anonym verfasste Big Book der Anonymen Alkoholiker zum Gegenstand.105 Auch hier war eine ausgesprochene Grauzone des Buchmarktes betroffen. Grundsätzlich macht es die deutsche Rechtsordnung, seit es Urhebergesetze gibt, dem anonymen Autor einfach. Er kann ohne größeren Aufwand seine Rechte wahren, selbst das Register anonymer Werke war nur eine verhältnismäßig niedrige Hürde. Anonyme Autorschaft wird von dem deutschen Urheberrecht ausdrücklich gebilligt. Die Fälle, in denen der Autor völlige Anonymität wählt, meist weil sein Werk zugleich einen Straftatbestand erfüllt, waren und sind kein Problem der Rechtswissenschaft, sondern allein der Strafverfolgungsbehörden.
105
OLG Frankfurt am Main, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht-Rechtsprechungs-Report 2004, S. 99.
Dirk Oschmann
Anonymität als Symptom in der Literatur der Weimarer Republik
Das Anonyme, das begriffen würde, wäre es nie gewesen. Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit
In seinem Text Literatur und Biographie aus dem Jahre 1923 unterscheidet Boris Tomaševskij drei historische Phasen von Autorschaft: Vor dem 18. Jahrhundert habe diese im Zeichen der Anonymität gestanden, im 18. Jahrhundert im Zeichen der Subjektivität und im 19. und 20. Jahrhundert im Zeichen der Mystifikation.1 Diese Dreiteilung ist nicht nur in historischer Hinsicht erhellend, sondern auch in systematischer, weil sie zu erkennen gibt, dass erstens eine starre Entgegensetzung von Anonymität und Identifikation verschiedentlich zu kurz griffe und dass sich zweitens Funktion und Status von Anonymität in der Moderne gegenüber der Vormoderne grundlegend gewandelt haben.2 Und das Verhältnis von Anonymität und Identifikation bietet sich seit dem 18. Jahrhundert immer wieder anders dar, wie die Forschung in Auseinandersetzung mit Michel Foucaults Aufsatz Was ist ein Autor? inzwischen herausgearbeitet hat.3 Indirekt verbindet sich damit zugleich ein Plädoyer für ein stark gestuftes Verständnis der Anonymität
1 2
3
Boris Tomaševskij, »Literatur und Biographie«, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. v. Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko, Stuttgart 2000, S. 49–61. Was dem literarhistorischen Blick als Abfolge von Strategien der Autorschaft erscheint, bietet sich dem morphologischen freilich als tiefenstrukturell wiederkehrender Wechsel dar – so zumindest in der Argumentation Oswald Spenglers, der zwischen »anonymen und persönlichen Epochen« in der Weltgeschichte differenziert. Als ein Beispiel dient ihm die Französische Revolution im Vergleich zu der sich anschließenden Herrschaft Napoleons. Im Gegensatz zu Napoleon seien Danton und Robespierre, nach Spengler »Glücksritter« und Figuren »ohne innere Größe«, von der Revolution durch Zufall ins Licht der Öffentlichkeit gerückt worden: »ihr persönliches Schicksal [trägt] nur die Züge des allgemeinen [...]. Trotz der klangvollen Namen waren die ›Jakobiner‹ im ganzen und nicht einzelne von ihnen der Typus, welcher die Zeit beherrscht hat. Der erste Teil der Epoche, die Revolution, ist deshalb durchaus anonym, der zweite, napoleonische, im höchsten Grade persönlich gehalten.« Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1990, S. 194. Welches Zeitalter mit dem Ersten Weltkrieg eingeläutet wurde, stand für Spengler außer Zweifel. Vgl. dazu zusammenfassend Robert J. Griffin, »Anonymity and Authorship«, in: New Literary History 30/1999, S. 877–895. Für eine prinzipielle Kritik an Foucaults Position siehe Donald W. Foster, »Commentary: In the Name of the Author«, in: New Literary History 33/2002, S. 375– 396. Eine ausgezeichnete Darstellung des Anonymitätsproblems in der englischen Literatur bietet Anne Ferry, »Anonymity: The Literary History of a Word«, in: ebd., S. 193–214. Siehe außerdem Robert J. Griffin (Hg.), The Faces of Anonymity: Anonymous and Pseudonymous Publication from the Sixteenth to the Twentieth Century, New York 2003.
290
Dirk Oschmann
als Problem von Autorschaft, wie es einer wachsenden Ausdifferenzierung individueller Autorenpoetiken seit der Aufklärung letztlich entspricht. Vornehmlich anhand zweier Beispiele aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts soll im Folgenden gezeigt werden, dass Tomaševskijs Begriff der Mystifikation in heuristischer Wendung gut geeignet ist, moderne Formen inszenierter Autorschaft zu beschreiben und insbesondere Grenzbereiche zwischen Anonymität und Pseudonymität auszuleuchten, zumal in deren Auswirkung auf spezifische Darstellungsverfahren. Zu den Autoren, die sich in der Grauzone von Anonymität und Pseudonymität bewegt haben, gehören in der Weimarer Republik Siegfried Kracauer und Salomo Friedlaender. Der zweite ist freilich besser bekannt unter seinem Pseudonym »Mynona«, einem Anagramm von »anonym«. Die Reflexion von Anonymität in der Weimarer Republik muss zwangsläufig jenen Autor in den Blick nehmen, der programmatisch Anonymität bereits in seinem, wie er es selbst nannte, »anonymen Pseudonym« ausstellt,4 thematisiert und zugleich ironisch unterläuft. Denn es muss offenbleiben, ob das Kunstwort »Mynona« einen Namen oder ein anders zu kennzeichnendes paratextuelles Element darstellt, ob es als Anagramm von »anonym« wirklich ein Pseudonym ist oder ob das Wort nicht vielmehr zwischen diesen Polen von Anonymität und Pseudonymität oszilliert.5 Dass Anonymität hier deutlich als Form bewusster Inszenierung erscheint, steht allerdings außer Frage. Das Verhältnis von Anonymität und Autorschaft in der Weimarer Republik erwächst hauptsächlich aus dem Zusammenspiel von vier Aspekten, die hier im Einzelnen zu beleuchten sind. Den ersten darf man den namenspolitischen Aspekt nennen, sofern es von elementarer Bedeutung ist, dass Kracauer und Friedlaender Juden waren. Der zweite ist der bewusstseinsgeschichtliche Aspekt. Er bezieht sich darauf, dass im Deutschland der zwanziger Jahre erstmals das Phänomen der Masse und Vermassung6 eine signifikante Rolle zu spielen beginnt und zu einer maximalen Depotenzierung des Einzelnen führt, ein Phänomen, für das vor allem Berlin als erste und einzige deutsche Großstadt der Zeit wichtiges Anschauungsmaterial liefert.7 Mit Blick auf die literarischen Folgen des Zusammenhangs von Urbanisierung und Massengesellschaft bemerkt Herbert F. Tukker in seiner Einleitung zum Themenheft über Anonymität in New Literary History: »Literature that confronted anonymity as a new reality of urban and industrial experi-
4 5 6 7
Salomo Friedlaender/Mynona, Ich (1871–1936). Autobiographische Skizze, aus dem Nachlaß hg. v. Hartmut Geerken, Bielefeld 2003, S. 59. Zur Korrelation von Onymität, Anonymität und Pseudonymität vgl. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M. 32008, S. 41–57. Der Begriff der Masse bildet sich bereits während der Französischen Revolution heraus. Vgl. Niklas Luhmann/Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt a. M. 1989, S. 143. Großstadterfahrungen als Erfahrung von Menschenmassen beschränkten sich im 18. Jahrhundert bekanntlich meist auf London und wurden im 19. Jahrhundert dann vor allem auch mit Paris verknüpft. In Deutschland hingegen, der notorisch ›verspäteten Nation‹, dauerte es wesentlich länger, bis man eine eigene Metropole von Rang aufzuweisen hatte. Vgl. Dirk Oschmann, »›Aufstand der Landschaft gegen Berlin‹. Zur geistigen Topographie am Ende der Weimarer Republik«, in: Provinz und Metropole. Zum Verhältnis von Regionalismus und Urbanität in der Literatur, hg. v. Dieter Burdorf/Stefan Matuschek, Heidelberg 2008, S. 295–307.
Anonymität als Symptom in der Literatur der Weimarer Republik
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ence found fresh uses, accordingly, for anonymity in the older bibliographical sense.«8 Eine Form beispielsweise, auf die Massenerfahrung zu reagieren, besteht gerade in der Mystifikation.9 Der dritte Punkt wäre der medienspezifische, bei dem die Korrelation von Dichtung und Publizistik im Vordergrund steht. Und der vierte schließlich betrifft die poetologische Dimension und näherhin die Auswirkungen der ersten drei Aspekte auf die von den Autoren bevorzugten Schreibverfahren. Folglich sind vier Ebenen der Anonymität zu beschreiben sowie Praktiken der Anonymisierung in Politik, Bewusstseinsgeschichte, Medien und Poetik. Dass es zur gleichen Zeit natürlich auch starke Autorschaftspositionen gegeben hat, mit Thomas Mann als einem der prominentesten Exempel, versteht sich von selbst. Bevor jedoch diese vier Gesichtspunkte genauer in Augenschein genommen werden, seien einige wichtige Voraussetzungen und Gemeinsamkeiten der beiden ausführlicher zu analysierenden Autoren in Erinnerung gerufen. Friedlaender, promovierter Philosoph, ist Jahrgang 1871, Kracauer, promovierter Architekt, Jahrgang 1889, beide sind mit knapper Not dem Nationalsozialismus entkommen – soweit man das Exil eben als Entkommen bezeichnen darf. Sie sterben auch im Exil, Friedlaender 1946 in Paris, Kracauer 1966 in New York. Zu ihren wesentlichen inneren Grunderfahrungen zählen, wie in diesen Generationen jeweils üblich, die Auseinandersetzungen mit Kant und Nietzsche, zudem das Engagement in der expressionistischen Bewegung. Ab 1909 veröffentlicht Friedlaender als »Mynona« Grotesken,10 mit denen er einerseits in die Nähe des Expressionismus rückt, die ihn aber andererseits als einen der Gründungsväter des Dadaismus ausweisen. Zur gleichen Zeit arbeitet Kracauer im Anschluss an Simmel und Weber umfangreiche Moderne-Diagnosen aus sowie eine perspektivenreiche Darstellung des Expressionismus.11 Diese starke Verbindung beider Autoren zum Expressionismus ist für den Zusammenhang von Anonymität und Autorschaft nicht nur ein literaturgeschichtliches Faktum, sondern von erheblichem Erkenntniswert, insofern sich der Expressionismus durch eine absolute Hypertrophierung des Ich auszeichnet, mit der sich beide später mittels gegenwendiger Praktiken der Anonymisierung kritisch ausei-
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Herbert F. Tucker, »Introduction«, in: New Literary History 33/2002, S. 190–192, hier S. 191. Dazu passt die Beobachtung von Griffin über die zunehmende Relevanz der Pseudonymität ab Mitte des 19. Jahrhunderts: »Although we still lack statistics and I stress again that I am speculating, it appears that strict anonymity begins to wane more and more rapidly in the second half of the nineteenth century, while pseudonymity, because it is that form of anonymity that employs a name, continues to offer possibilities.« Griffin 1999 (wie Anm. 3), S. 891. Pseudonyme zeigen keine personale, biographische Identität an, wohl aber eine ästhetische Identität – oder mehrere. Vgl. Salomo Friedlaender/Mynona, Grotesken I und II, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Hartmut Geerken u. a., Bde. 1 und 2, Norderstedt 2008. Vgl. Siegfried Kracauer, Das Leiden unter dem Wissen und die Sehnsucht nach der Tat. Eine Abhandlung aus dem Jahre 1917, in: ders., Werke, hg. v. Inka Mülder-Bach/Ingrid Belke, Bd. 9.1: Frühe Schriften aus dem Nachlaß, Frankfurt a. M. 2004, S. 169–397; Siegfried Kracauer, »Über den Expressionismus. Wesen und Sinn einer Zeitbewegung. Abhandlung (1918)«, in: ebd., Bd. 9.2, S. 7–78.
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Dirk Oschmann
nandersetzen. In der Weimarer Republik schließlich gehören beide zu den sichtbarsten jüdischen Schriftstellern und Publizisten.12
1.
Namenspolitik
Für die Verschränkung von Anonymität und Autorschaft ist die jüdische Herkunft dieser Autoren eine keineswegs zu vernachlässigende Marginalie. Neben allem anderen hieß Jude zu sein, ein hellwaches und fast hypersensibles Verhältnis zur eigenen Namentlichkeit auszubilden. Denn das Problemfeld der Namentlichkeit, der Namensgebung, der Anrufung im Namen oder der Verheimlichung des Namens spielt in der jüdischen Tradition eine zentrale Rolle. So bekommen etwa, um nur einen Hinweis zu geben, alle männlichen Juden einen geheimen zweiten Namen, der ihnen erst am Tage ihrer BarMizwa mitgeteilt wird. Der geheime Name bleibt jedoch selbst nach seiner Bekanntgabe der Name, so Walter Benjamin, »der alle Lebenskräfte in sich faßt, bei welchem sie beschworen und vor Unberufenen behütet werden.«13 Unabhängig davon sind jüdische Namen im 19. und 20. Jahrhundert hochgradig politisiert worden. Darüber gibt eine umfangreiche Studie von Dietz Bering in aller Gründlichkeit Auskunft. Erst ab 1812 durften Juden, die bis dahin nur einen Rufnamen und allenfalls noch den Vatersnamen führten, in Deutschland, genauer: in Preußen »bleibende Familiennamen wählen und [bekamen] damit Staatsbürgerrecht. Es begann ihr Weg in Richtung Assimilation«.14 Bering zufolge gehörten Namenswahl, Namenswechsel, Namensänderungen und regelrechte Namensfluchten seitdem zum Alltag in jüdischen Gemeinden und bezeich neten zugleich den Übertritt in eine andere symbolische Ordnung. Der Name sollte in seiner neuen Variante möglichst wenig oder gar keine Hinweise mehr auf die jüdische Herkunft enthalten. Ein typisches Identifi kationsmerkmal wurde dergestalt funktional umgedeutet und fortan als vielversprechender Weg in die Unkenntlichkeit begriffen. Denn hier ergab sich eine große Chance, aber zugleich entstand ein erheblicher gesellschaftlicher und individueller Druck, den »richtigen«, das heißt möglichst unauffälligen Namen zu wählen und in einer paradoxen Wendung im Namen selber förmlich anonym zu werden. Mit Vorliebe wurden deshalb christliche oder vermeintlich urdeutsche Namen gewählt, die dann aufgrund ihrer plötzlichen Häufung selbst wieder als
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Zu den biographischen Umständen der Autoren vgl. Ingrid Belke/Irina Renz, Siegfried Kracauer 1889–1966. Marbacher Magazin 17/1988, Marbach 21989; Inka Mülder, Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913–1933, Stuttgart 1985; Peter Cardorff, Friedlaender (Mynona) zur Einführung, Hamburg 1988, sowie Hartmut Geerken, Maßnahmen des Verschwindens. Salomo Friedlaender/Mynona, Anselm Ruest, Heinz-Ludwig Friedlaender im französischen Exil, München 1993. Walter Benjamin, »Agesilaus Santander«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. 6: Fragmente. Autobiographische Schriften, Frankfurt a. M. 1991, S. 520. Dietz Bering, Der Name als Stigma. Antisemitismus im Deutschen Alltag 1812–1933, Stuttgart 21992, S. 23.
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Erkennungsmerkmal dienen konnten – wie gerade der Vorname »Siegfried« zeigt, den auch Kracauer verliehen bekam. Dazu heißt es bei Bering: »Wie germanisch der Name [Siegfried] anmutete, so gut schien er später auch für Juden dienlich, die sich mit aller Macht ›germanisieren‹ wollten. Er wurde daher sehr bald antisemitisch markiert [...], Versatzstück in jüdischen Witzen und überhaupt Beweisstück, daß die Juden die deutschen Namen ganz verdorben hätten.«15 Zwar bittet Tomaševskij in dem eingangs erwähnten Aufsatz darum, dass man, wenn man schon vom Autor als Menschen reden müsse, nicht auch noch über dessen »Brüder und Tanten« reden möge.16 Doch im Falle Kracauers gewinnt die familienpolitische Tragweite der Entscheidung, den Neugeborenen »Siegfried« zu nennen, vor dem Hintergrund schärfere Kontur, dass beispielsweise Kracauers Onkel, der sich als Historiograph der Frankfurter Juden einen Namen gemacht hat, noch Isidor Krakauer hieß und damit sowohl durch den Vor- als auch durch den Nachnamen »eindeutig jüdisch markiert« zu sein schien, da jüdische Nachnamen vielfach geographische Angaben oder Herkunftsangaben enthielten. Solche Versuche, sich durch Namenswahl sowohl zu assimilieren als auch in die Unkenntlichkeit zurückzuziehen, mehren sich in Anbetracht des wachsenden Antisemitismus zwischen 1872 und 1901 dramatisch und sind im sogenannten »Dritten Reich« radikal rückgängig gemacht worden. Zum 1. Januar 1939 beschlossen die Nazis, dass alle Juden ohne spezifisch jüdischen Vornamen entweder den Vornamen »Sara« oder den Vornamen »Israel« amtlich anzunehmen und unter diesem Namen dann aufzutreten haben. Die logische Konsequenz einer solchen Politik, den Einzelnen ums Eigene zu bringen und ihn mit der Stigmatisierung in ganz anderer Form zu anonymisieren, bildet dann unweigerlich der gelbe Stern. Angesichts dieser Entwicklungen vermag etwa Kracauers Empfindlichkeit für Vorgänge innerhalb der Namensproblematik kaum zu überraschen. Sie reicht bei ihm bis ins unmittelbar Persönliche hinein, ja sein Fall deckt das ganze Spektrum von Namensänderungen und Namenswechseln, von Pseudonymität und Anonymität ab. So bemühte er sich bezeichnenderweise über Jahre hinweg, die offizielle Schreibweise seines Nachnamens ändern zu dürfen. Ab 1930 wurde ihm dies behördlich gestattet. Statt mit »k« schreibt sich Kracauer seither mit »c« in der Mitte und verdeckt damit zumindest ansatzweise den Herkunftsaspekt. Auch sein Vorname Siegfried ist Gegenstand einer gründlichen Aversion. An Ernst Bloch heißt es in einem Brief Anfang Januar 1928: Mein lieber Freund Ernst, ich bin sehr glücklich, daß Sie mir Ihren Vornamen anvertrauen. Schon längst hätte ich Ihnen gerne den meinen übergeben, aber ich besitze keinen mehr. Der offizielle ›Siegfried‹ scheidet von vornherein aus, und der private ›Friedel‹ ist von früher her [...] mit einer Reihe so unangenehmer Assoziationen belastet, daß ich mich nicht unter ihm fassen kann. Die Menschen, die ihn noch gebrauchen, ragen aus der Vergangenheit mehr oder weniger in die Gegenwart hinein. [...] Bitte sagen Sie Krac zu mir.17
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Ebd., S. 425f. Tomaševskij 2000 (wie Anm. 1), S. 49. Siegfried Kracauer an Ernst Bloch, Anfang Januar 1928, in: Ernst Bloch, Briefe 1903–1975, hg. v. Karola Bloch, Bd. I, Frankfurt a. M. 1985, S. 288f.
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Dirk Oschmann
Bei seinem richtigen Namen genannt zu werden, erscheint Kracauer offenbar sehr unangenehm, als sei hiermit eine Art von Bedrohung verbunden oder schlicht eine Form der Festlegung, der er sich durch Strategien der Mystifikation und Selbstmystifikation zu entziehen sucht. Als Autor etlicher Bücher sowie natürlich als Journalist hat Kracauer darum seine Aussagepositionen maximal vervielfacht und gleichzeitig zerstreut, indem er sich Kürzel und Pseudonyme zulegt, unter denen er publiziert; hinzu kommen außerdem die vielen anonym veröffentlichten Texte. Auch Friedlaender setzt sich zeitig mit der eigenen Namentlichkeit auseinander, gibt diesen Versuchen der Selbstorientierung aber den entspannten Anschein höherer philosophischer Weihen: »Die Gestalt der Kugel nur befriedigte mich restlos, so daß ich, als Kind nach meinem Namen gefragt, mich Kugel nannte.«18 Später wird er seine Briefe aus dem französischen Exil nur selten mit seinem Namen unterzeichnen, eine Strategie, die weniger politische als bewusstseinsgeschichtliche Gründe hat.19
2.
Bewusstseinsgeschichte
Die bewusstseinsgeschichtliche Frage nach der Depotenzierung und Anonymisierung des Einzelnen durch die moderne Massengesellschaft, wie sie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg unübersehbar wird, gehört in den Diskursen der Weimarer Republik zu den zentralen Topoi der Reflexion.20 Sie ordnet sich zugleich, wie Arnold Gehlen später vermerkt, spezifischen Mustern deutscher Kulturkritik seit Nietzsche und Spengler zu, indem sie »angstvolle Vorstellungen vom Ameisenstaat der Zukunft, von Vermassung und drahtloser Lenkung der Gehirne, vom Verlust der Person« evoziert.21 Darüber hinaus spiegelt sie nicht nur eine bestimmte Argumentationsrichtung wider, sondern
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Friedlaender 2003 (wie Anm. 4), S. 23. »Die wenigsten Briefe sind mit seinem bürgerlichen Namen unterzeichnet, er unterschrieb meistens mit Mynona [...] oder mit verschlüsselten Namen wie Frimy (Friedlaender Mynona), Samyfri (Salomo Mynona Friedlaender). Auch dies eine Tendenz, die Monumentalität der eigenen Person aufzuheben.« Hartmut Geerken, »Vorwort«, in: Salomo Friedlaender/Mynona, Briefe aus dem Exil 1933–1946, hg. v. Hartmut Geerken, Mainz 1982, S. 7–14, hier S. 11. Mit Recht spricht Norbert Bolz hier von der »Masse als Matrix«. Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 21991, S. 118–125. Vgl. auch Bernhard Weyergraf/Helmuth Lethen, »Der Einzelne in der Massengesellschaft«, in: Literatur der Weimarer Republik 1918–1933, hg. v. Bernhard Weyergraf, München 1995, S. 636–672, insbesondere S. 636–646. Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme der industriellen Gesellschaft (1957), Frankfurt a. M. 2007, S. 5. Signifikanterweise dient nicht der von Fleiß und Ordnung bestimmte, mit Wohlstand identifizierte Bienenstaat als Wahrnehmungsmuster der Massengesellschaft, sondern der geistlos geschäftige und völlig unübersichtliche Ameisenstaat: das ist freilich ein Schreckbild bereits des frühen 19. Jahrhunderts. Es entstand naturgemäß dort zuerst, wo Großstadterfahrung zur Erfahrung der Masse wird, in London, Paris und Chicago. Wordsworth spricht schon 1805, in The Prelude, von London als einem »monstrous ant-hill«, Baudelaire nennt Paris in dem Gedicht Les Sept Vieillards eine »fourmillante cité«, und Upton Sinclair charakterisiert in dem 1906 publizierten Buch The Jungle die Einwohner von
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beschäftigt vielmehr das gesamte ideologische und politische Spektrum, »links« und »rechts« ebenso wie Avantgardismus und Konservativismus, wobei trotz ähnlicher Antworten die Wertungen naturgemäß unterschiedlich ausfallen. Das kann angesichts der Fülle des Materials hier freilich nur angedeutet werden. Ernst Jünger zum Beispiel konstatiert im Jahr 1932 ganz nüchtern, man lebe im »Zeitalter der Massen und Maschinen«.22 Das bedeutet umgekehrt freilich nichts anderes, so Kracauer, als »daß das Individuum anonym geworden ist.«23 Diesen Diskurs hat er mit seinem Essay »Das Ornament der Masse« aus dem Jahr 1928 sowie mit einer ganzen Reihe weiterer Texte entscheidend geprägt. Aufgrund der sozialen und ästhetischen Wucht, mit der sich Menschenmassen im deutschen Alltag plötzlich Geltung verschaffen, scheint ein Beharren auf den Werten und Insignien des Einzelnen inadäquat und vermessen; alle kollektivistischen Diktaturen haben das bekanntlich bis heute ausgenutzt. Begriffe wie Individuum, Persönlichkeit, Privatheit, Subjektivität, Charakter, Schicksal und wie die Versatzstücke der Einzigartigkeit alle heißen mögen, stehen fortan unter Verdacht und Rechtfertigungszwang oder sind womöglich gänzlich delegitimiert. Kracauer benennt konkrete historische Gründe dafür: »Ist durch Einstein unser ZeitRaum-System zum Grenzbegriff geworden, so durch den Anschauungsunterricht der Geschichte das selbstherrliche Subjekt. Allzu nachhaltig hat in der jüngsten Vergangenheit jeder Mensch seine Nichtigkeit und die der anderen erfahren müssen, um noch an die Vollzugsgewalt des beliebigen Einzelnen zu glauben.«24 Schärfer noch formuliert Ernst Jünger, der vom »Auflösungsprozeß am Individuum«25 spricht oder schlicht von der »Auflösung des Individuums«26 und der feststellt: »Die Art, in der das Individuum stirbt, hat viele Farben [...].«27 Ein Beharren auf Individualität gilt ihm folgerichtig als
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Chicago »as busy as ants – all hurrying breathlessly, never stopping to look at anything, nor at each other«. Zitiert nach Ferry 2002 (wie Anm. 3), S. 201, 207 und 204. Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932), Stuttgart 32007, S. 78. Siegfried Kracauer, »Die Biographie als neubürgerliche Kunstform« (1930), in: ders., Schriften, hg. v. Karsten Witte/Inka Mülder-Bach, Bd. 5.2: Aufsätze 1927–1931, Frankfurt a. M. 1990, S. 195–199, hier S. 197. Ebd., S. 195. Nur wenig später wird Benjamin diesen Zusammenhang im Blick auf den weltkriegsbedingten Verlust der individuellen Erfahrung zuspitzen und in seinen Konsequenzen für das Erzählen erörtern. »Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.« Walter Benjamin, »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows« (1936), in: ders., Gesammelte Schriften (wie Anm. 13), Bd. 2.2: Aufsätze, Vorträge, Essays, S. 438–465, hier S. 439. Zur Erfahrung der Masse im Weltkrieg, insbesondere des massenhaften Sterbens, vgl. Alexander Meschnig: Der Wille zur Bewegung. Militärischer Traum und totalitäres Programm. Eine Mentalitätsgeschichte vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus. Bielefeld 2008, S. 249–262. Jünger 2007 (wie Anm. 22), S. 105. Ebd., S. 108. Ebd.
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überholt,28 weil »das Individuum als der Vertreter geschwächter und zum Untergang bestimmter Ordnungen« erscheint.29 Zu ähnlichen, ja teilweise identischen Einschätzungen kommen Martin Heidegger und Karl Jaspers, wobei sie freilich kritischere Positionen beziehen und andere, nämlich existenzphilosophische Begründungszusammenhänge entwickeln. Heidegger erblickt in der Massengesellschaft die »Diktatur des Man«, die alles entindividualisiert, nivelliert und egalisiert. In der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, in der Verwendung des Nachrichtenwesens (Zeitung) ist jeder Andere wie der Andere. Dieses Miteinandersein löst das eigene Dasein völlig in die Seinsart ›der Anderen‹ auf, und zwar so, daß die Anderen in ihrer Unterschiedlichkeit und Ausdrücklichkeit noch mehr verschwinden. In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur.30
Der Einzelne wird vom Man unausweichlich in die »Alltäglichkeit« getrieben, vor allem aber zur »Durchschnittlichkeit« gezwungen: Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor. [...] Die genannte Tendenz des Mitseins, die wir die Abständigkeit nannten, gründet darin, daß das Miteinandersein als solches die Durchschnittlichkeit besorgt. [...] Diese Durchschnittlichkeit in der Vorzeichnung dessen, was gewagt werden kann und darf, wacht über jede sich vordrängende Ausnahme. Jeder Vorrang wird geräuschlos niedergehalten. Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft. Die Sorge der Durchschnittlichkeit enthüllt wieder eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung aller Seinsmöglichkeiten nennen.31
Verantwortlich dafür ist nach Heidegger die Öffentlichkeit, die dem Einzelnen förmlich die Luft zum Leben nimmt, weil sie alles ergreift, darüber urteilt und zu korrigieren versucht. »Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als ›die Öffentlichkeit‹ kennen. Sie regelt [...] alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht.«32 Obwohl der Begriff der Demokratie bei Heidegger nicht fällt und nur von der »Herrschaft der Anderen«33 geredet wird, steht außer Zweifel, dass in der Konstellation von Demokratie, Öffentlichkeit, Urbanität und Massengesellschaft der eigentliche Grund für die Nivellierung und Anonymisierung des Einzelnen zu finden ist, die sich im Erscheinen des »Niemand« vergegenwärtigt. Denn »jeder ist der Andere und Keiner er selbst. Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat.«34
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Vgl. ebd., S. 126. Ebd., S. 110. Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 161986, S. 126. Ebd., S. 127 (Hervorhebungen von Heidegger). Ebd. Ebd., S. 126. Ebd., S. 128 (Hervorhebungen von Heidegger).
Anonymität als Symptom in der Literatur der Weimarer Republik
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Wo Heidegger die »Herrschaft der Anderen« erblickt, da sieht Jaspers explizit die »Herrschaft der Masse«35 und eine regelrechte »Vergötzung der Masse« am Werk,36 die in die Anonymität führt: »Aber Masse wurde das betörende Wort, um den Menschen unter der Kategorie bloßer Vielfalt gleichsam als eine einzige anonyme Einheit [...] zu denken.«37 Nichtsdestoweniger bemerkt Jaspers eine positive Ambivalenz in der Anonymität, sofern sie als Chance und existentieller Widerstand zugleich begriffen werden darf. Mit Bezug auf die eigene Gegenwart stellt er zunächst heraus, dass »für dieses Dasein anonyme Mächte als die ausschlaggebenden erscheinen«,38 zu denen man sich notwendig verhalten muss. Anonym und abstrakt haben diese Mächte Einzug in die entgötterte Welt gehalten, ja »wie Analoga der Dämonen sind die anonymen Mächte des Nichts in der entgötterten Welt«.39 Einer zunehmend abstrakter werdenden Welt, wie sie mit den »riesigen Apparaturen der Daseinsverwaltung«40 einhergeht, korreliert die Anonymisierung der Person. Dennoch ist das Anonyme [...] das eigentliche Sein, für das offen zu sein einzig die Vergewisserung schafft, daß nicht nichts ist. Das Anonyme ist aber auch das Dasein des Nichtseins [...]. Das Anonyme ist das, womit eins zu werden mich zum Aufschwung bringt, und es ist das, wogegen ich kämpfen muß, wenn ich das Sein suche.41
Die seither sprichwörtliche Anonymität der Massengesellschaft muss allerdings nicht durchweg als Verlust begriffen werden.42 Vielmehr kann der bewusste Verzicht auf den eigenen Namen als adäquater Reflex auf die Übermacht eines unwiderlegbaren Phänomens erscheinen, das sich ohnehin am Einzelnen vollzieht.43 Denn das Zeitalter des Individualismus geht zu Ende, während das »Zeitalter der Vermassung«44 längst im
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Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit (1930), Berlin/New York 81979, S. 34. Ebd., S. 67. Ebd. Ebd., S. 30 (Hervorhebung von Jaspers). Ebd., S. 163. Gehlen 2007 (wie Anm. 21), S. 81. Jaspers 1979 (wie Anm. 35), S. 162 (Hervorhebungen von Jaspers). Der von Jünger, Kracauer und anderen teils sachlich, teils lustvoll skizzierte Untergang des Individuums bietet sich ihrem spanischen Zeitgenossen Ortega y Gasset wahrlich als Verlust herausragender Qualitäten dar. Der Zusammenhang von Vermassung, Anonymisierung, Technisierung und Verstaatlichung ist dabei unübersehbar. Auf die Eingangsbeobachtung, »die Menge ist auf einmal sichtbar geworden« (S. 9), lässt er im Zuge der Argumentation eine ganze Reihe kritischer Bemerkungen folgen, die hier nicht weiter kommentiert werden müssen, da sie für sich sprechen: »Masse ist der Durchschnittsmensch« (S. 10); »Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt, erlesen ist.« (S. 15); »Andererseits sieht der Massenmensch in dem Staat eine anonyme Macht, und da er fühlt, daß er dasselbe ist – Volk –, glaubt er, der Staat sei sein Eigentum.« (S. 130f.); »Der heutige Staat und die Masse stimmen nur darin überein, daß beide anonym sind.« (S. 131). Am Ende erscheint der Staat zwangsläufig als Inbegriff »der anonymen Maschine« (S. 134). Alle Zitate nach José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen (1929), Stuttgart 1950. Ähnliche Entwicklungen beschreibt Ferry für die englische Literatur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Vgl. Ferry 2003 (wie Anm. 3), S. 198–201. Gehlen 2007 (wie Anm. 21), S. 68.
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Gange ist. Folglich legt man mit dem Namen im Grunde die Mythen vergangener oder überholter Selbstdeutungen ab. Indem man sich fortan nicht mehr qua Name als Subjekt aufspielt, das aus seiner Eigentümlichkeit irgendwelche Rechte meint ableiten zu dürfen, anerkennt man in angemessener geschichtsphilosophischer Selbstbescheidung die Stunde, welche die »Sonnenuhr des Geistes« (Georg Lukács) anzeigt. Das Individuum, so Kracauer in einer für die späte Weimarer Republik typischen dezisionistischen Wendung, sollte »sich im Interesse der erkannten aktuellen Notwendigkeiten [selber aufheben]«.45 Auf diese Weise rückt die berühmte, erkenntnistheoretisch fundierte »Unrettbarkeit des Ich«, von der bereits Her mann Bahr im Anschluss an Ernst Machs Wahrnehmungspsychologie um die Jahrhundertwende gesprochen hat,46 in einen weiteren Begründungszusammenhang ein, sofern man sich nun im Namen der Geschichtsphilosophie der Namenlosigkeit fügen und damit einer Neuformulierung des Bescheidenheitstopos zustimmen soll, als der sich der Rückzug in die Anonymität oftmals auch darbietet. In Anbetracht der von Entindividualisierung und Anonymisierung bestimmten Zeitdiagnose verwundert es schließlich nicht, dass in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre das Interesse am Sosein des Menschen wieder neu erwacht und die Philosophie eine Wende zur Anthropologie vollzieht, bei Helmuth Plessner und Martin Heidegger ebenso wie bei Karl Löwith, Max Scheler, und etwas später bei Arnold Gehlen.47 Denn, so auch Karl Jaspers, die »Frage nach den anonymen Mächten ist eine Frage nach dem Mensch-
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Kracauer 1930 (wie Anm. 23), S. 199. »Hier [in Machs Analyse der Empfindungen] habe ich ausgesprochen gefunden, was mich die ganzen drei Jahre her quält: ›Das Ich ist unrettbar.‹ Es ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen. Es gibt nichts als Verbindungen von Farben, Tönen, Wärmen, Drücken, Räumen, Zeiten, und an diese Verknüpfungen sind Stimmungen, Gefühle, Willen gebunden.« Hermann Bahr, »Das unrettbare Ich«, in: Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, hg. v. Gotthard Wunberg, Stuttgart 1990, S. 147f., hier S. 147. Dass das »Ich« womöglich eine bloße Fiktion sei, davon war freilich bereits Nietzsche überzeugt. So heißt es in Jenseits von Gut und Böse: »Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass es ›unmittelbare Gewissheiten‹ gebe, zum Beispiel ›ich denke‹, oder, wie es der Aberglaube Schopenhauers war, ›ich will‹ [...] man sollte sich doch endlich von der Verführung der Worte losmachen! Mag das Volk glauben, daß Erkennen ein zu Ende-Kennen sei, der Philosoph muß sich sagen: ›wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem Satz ›ich denke‹ ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist, – zum Beispiel, daß ich es bin, der denkt, dass überhaupt ein Etwas sein muß, das denkt, daß Denken eine Thätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, daß es ein ›Ich‹ giebt, endlich, daß es bereits fest steht, was mit Denken zu bezeichnen ist, – daß ich weiß, was Denken ist.« Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders.: Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, Berlin/New York 21988, S. 9–243, hier S. 29f. Vgl. in diesem Zusammenhang Joachim Ritter, »Über den Sinn und die Grenze der Lehre vom Menschen« (1933), in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1989, S. 36–61, sowie Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a. M. 1983, S. 263–281.
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sein selbst«.48 Und da Vermassung und Anonymisierung den Menschen zum Verschwinden zu bringen drohen, gehört Ernst Jünger zufolge »eine besondere Anstrengung dazu, den Menschen überhaupt zu sehen.«49 Bündig formuliert Max Scheler 1926 die zeitgenössisch verbreitete Sicht der Dinge: »In keinem Zeitalter sind die Ansichten über Wesen und Ursprung des Menschen unsicherer, unbestimmter und mannigfaltiger gewesen als in dem unsrigen. [...] Wir sind in der ungefähr zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos ›problematisch‹ geworden ist; in dem er nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, daß er es nicht weiß.«50
3.
Medialität
Zu den herausragenden medienhistorischen Ereignissen der Weimarer Republik zählt ohne Zweifel die Etablierung des Radios, für das bereits im Augenblick seiner Entstehung etliche Schriftsteller und Publizisten zu arbeiten begonnen haben, beispielsweise in Form von Radioessays oder Hörspielen. In diesem Zusammenhang sei lediglich auf die Aktivitäten Walter Benjamins verwiesen. Von noch größerem Einfluss ist allerdings der rasant wachsende Zeitungsmarkt gewesen, denn nie zuvor sind in Deutschland so viele Zeitungen gedruckt worden wie in den zwanziger Jahren. Das lässt sich leicht veranschaulichen, indem man daran erinnert, dass das Vorläuferblatt der heutigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung, nämlich die Frankfurter Zeitung, dreimal am Tag erschien: in einer Morgen-, einer Mittags- und einer Abendausgabe. Für diese hoch renommierte Zeitung war Kracauer über zehn Jahre als Redakteur tätig, zuständig für die Ressorts Literaturkritik und vor allem Filmkritik, als deren wahrer Begründer er in Deutschland gilt. Das paradigmatisch öffentliche Medium der Zeitung erweist sich als der adäquate Ausdruck der Masse, ja Zeitung und Masse verhalten sich korrelativ. Den Roman, so lässt sich eine berühmte Formulierung Benjamins abwandeln, liest das Individuum in seiner Einsamkeit.51 Die Zeitung hingegen lesen alle zugleich. In diesem Sinne heißt es bei Karl Jaspers: »Die Zeitung ist das geistige Dasein unseres Zeitalters als das Bewußtsein, wie es in den Massen sich verwirklicht. Anfänglich Dienerin durch Vermittlung von Nachrichten ist sie Herrscherin geworden.«52 Mit der Autorität der Zeitung als Medium wächst somit nicht nur die Autorität der Journalisten, es treten auch andere Darstellungsformen in den Vordergrund. Reportage, Bericht, Essay, Feuilleton und Pro-
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Jaspers 1979 (wie Anm. 35), S. 152. Jünger 2007 (wie Anm. 22), S. 101. Max Scheler, »Mensch und Geschichte« (1926), in: ders., Philosophische Weltanschauung, München 1954, S. 62–88, hier S. 62 (Hervorhebungen von Scheler). Vgl. Benjamin 1991 (wie Anm. 24), S. 443: »Der Romancier hat sich abgeschieden. Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit [...].« Jaspers 1979 (wie Anm. 35), S. 114.
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saminiatur gewinnen an Bedeutung, die »Zeitung tritt an die Stelle des Buches, eine stets andere Lektüre an die Stelle der das Leben begleitenden Werke«.53 Zu den Üblichkeiten journalistischer Praxis gehört es bekanntlich, Texte anonym zu publizieren oder nur durch Kürzel beziehungsweise Pseudonyme zu kennzeichnen. Von dieser Praxis hat Kracauer in allen Spielarten Gebrauch gemacht. Neben Veröffentlichungen unter dem vollen eigenen Namen gibt es eine Fülle an anonymen Publikationen, die ihm inzwischen zugeordnet werden können, außerdem Texte, die unter insgesamt sechs Pseudonymen erschienen sind, sowie mit Kürzeln gezeichnete Texte, wobei man im Rahmen bio-bibliographischer Spurensuche fast dreißig verschiedene Kürzel identifiziert hat.54 Ob unter dieser Prämisse einer völligen textuellen Dispersion noch von einem homogenen Autorsubjekt im emphatischen Sinne gesprochen werden kann, darf man bezweifeln. Zudem nutzen immer mehr Autoren die Zeitung als Ort für die Erstpublikation ihrer Texte. Das hat aufgrund des geringen Platzes in der Zeitung Konsequenzen für die Darstellungsverfahren und die unmittelbare Textgestalt. Die Zeitung als Medium erfordert Konzentration, Verdichtung, Kürze, so dass kleine Formen stärker zur Geltung kommen. Mehr noch, es wird explizit der Verzicht auf das Buch zugunsten kleiner Formen postuliert, so dass sich alte Vorstellungen von Autorschaft aufzulösen beginnen und das Bild eines sogenannten »operierenden Schriftstellers« entsteht, der mit kleinen Prosaformen schnell und beweglich auf die Wendungen der beschleunigten Gegenwart zu reagieren vermag.55 Darum bedürfen solche literarischen Kurzformen im Grunde einer eigenen Theorie der Autorschaft, die nicht zuletzt der engen Verknüpfung von Anonymität und Gattungstheorie nachzugehen und zu fragen hätte, welche Gattungen per se eher zur Anonymität neigen, welche weniger. Denn nicht nur das Medium ändert sich, sondern auch die Position des Verfassers im Verhältnis zum Medium. Programmatisch heißt es in der Eingangspassage von Benjamins 1928 veröffentlichter Einbahnstraße:
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Ebd., S. 108. Vgl. Thomas Y. Levin, »Register der Verfassersiglen Kracauers«, in: ders., Siegfried Kracauer. Eine Bibliographie seiner Schriften, Marbach 1989, S. 386–388. Das Modell vom »operierenden Schriftsteller« verdankt sich Vorträgen, die der russische Avantgardist Sergej Tretjakov um 1930 in Deutschland gehalten hat. Kracauer und Benjamin beziehen sich darauf mit großer Zustimmung. Vgl. Kracauers Aufsätze »Instruktionsstunde in Literatur. Zu einem Vortrag des Russen Tretjakow« (1931), »Der ›operierende‹ Schriftsteller« (1932), »Ein Bio-Interview« (1932) sowie Benjamins Text »Der Autor als Produzent« (1934). Gottfried Benn hingegen versteht das Interesse deutscher Autoren an Tretjakovs Vorstellungen als Symptom, dass »die Internationale des literarischen Tinnefs in hoher Blüte unter uns steht«. Gottfried Benn, »Die neue literarische Saison« (1931), in: ders., Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrukke, textkritisch durchgesehen und hg. v. Bruno Hillebrand, Bd. 3: Essays und Reden, Frankfurt a. M. 1997, S. 439–448, hier S. 441. Siehe in diesem Zusammenhang Dirk Oschmann, »Kleine Prosa – Kleine Phänomenologie. Benjamins Erkundungen der Lebenswelt«, in: Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne, hg. v. Thomas Althaus/Wolfgang Bunzel/Dirk Göttsche, Tübingen 2007, S. 235–251, hier S. 241f.
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Die bedeutende literarische Wirksamkeit kann nur in strengem Wechsel von Tun und Schreiben zustande kommen; sie muß die unscheinbaren Formen, die ihrem Einfluß in tätigen Gemeinschaften besser entsprechen als die anspruchsvolle universale Geste des Buches, in Flugblättern, Broschüren, Zeitschriftenartikeln und Plakaten ausbilden.56
Dem Medienwechsel vom Buch zur kleinen Form entspricht fast zwangsläufig ein Rollenwechsel vom Dichter zum Journalisten, ein Funktionsübergang, den Wolfgang Preisendanz schon in den 1960er Jahren am Beispiel Heines beschrieben hat.57 Er betrifft das literarische Feld in der Weimarer Republik in noch stärkerer Form, weil er eine ganze Generation von Autoren erfasst, die für Zeitung und Rundfunk arbeiten. Indem diese Medien kleinere und kleine Formen erzwingen, verändern sich die Produktionsbedingungen ebenso wie die Rezeptionsbedingungen und schließlich auch der Adressatenkreis. Doch die Medien erzwingen diese Formen freilich nicht nur, sondern es entsteht auch ein – durchaus auch finanziell begründetes – Interesse, für diese Medien zu arbeiten. Ganz auf dieser Linie heißt es in Musils Mann ohne Eigenschaften: »Der künftige Dichter [...] wird über das Laufbrett der Journalistik kommen! Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, daß unsere Journalisten immer besser und unsere Dichter immer schlechter werden?«58 In wachsendem Maße erscheint der einzelne Autor nicht länger als zweiter Schöpfergott, wie ihn die Genieästhetik mit der Projektion vom alter deus zu etablieren vermochte, vielmehr als höchst profaner Medien-Arbeiter und, nach der bekannten Prägung Karl Mannheims, als »freischwebender Intellektueller«.59 Auch in dieser Hinsicht also gibt es gute, mit dem bewusstseinsgeschichtlichen Aspekt strukturell verwandte Gründe, dem eigenen Namen im Akt der Veröffentlichung zu entsagen oder ihn zumindest im Pseudonym herunterzuspielen. Denn »es ist etwas im Gange, und ich bin auch gar nicht im Zweifel, was das ist: das Zeitalter der großen Individualitäten geht zu Ende!«60 Der medial bedingten Entzauberung des Dichterheros korreliert die tendenzielle Anonymisierung der Texte. Dabei zeigt sich der Journalist, dem offenbar die Zukunft gehört, keineswegs als defizitäre Schwundform des Dichters, sondern als Typus mit neuen, eigenen Qualitäten, wie sie etwa Ernst Jünger hervorhebt: »Das journalistische Gewissen bezieht sich hier auf ein Höchstmaß an deskriptiver Genauigkeit; es hat sich durch eine Präzision des Stiles auszuweisen, in der zum Ausdruck kommt, daß sich hinter dem Anspruch, geisti-
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Walter Benjamin, Einbahnstraße, in: ders., Gesammelte Schriften (wie Anm. 13), Bd. 4.1: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, S. 83–148, hier S. 85. Wolfgang Preisendanz, »Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik bei Heine«, in: Die nicht mehr schönen Künste, hg. v. Hans Robert Jauß, München 1968, S. 343–374. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek 1992, S. 646. Zur Vorgeschichte dieser Zusammenhänge seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. das Kapitel »Relativierung der Selbststilisierung: Autoren-Handwerker und ›geistige‹ Arbeiter« in: Rolf Parr, Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930, Heidelberg 2008, S. 22–28. Musil 1992 (wie Anm. 58), S. 646.
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ge Arbeit zu leisten, mehr als eine Redensart verbirgt.«61 Genauigkeit ersetze Seele, so Musil und Jünger, Intelligenz ersetze Geist, so Jaspers: darin bestehen die fundamentalen ideengeschichtlichen Verschiebungen der Epoche. In der für Jünger charakteristisch dekretorischen Diktion liest sich das so: »Zu erhoffen ist die Anwendung einer präzisen, eindeutigen Sprache, eines mathematischen Tatsachenstiles, wie er dem 20. Jahrhundert angemessen ist. Der Journalist erscheint in diesem Raume als ein Träger des speziellen Arbeitscharakters, dessen Aufgaben der totale Arbeitscharakter, und damit der Staat als dessen Repräsentant, bestimmt und begrenzt.«62 Unter dieser Maßgabe erscheint der Bericht zweifellos als die der Gegenwart eigentlich angemessene Form. Darüber hinaus ist der Journalist schnell, beweglich und ein Meister kleiner Prosagattungen, wodurch die »Achtung vor dem Journalisten wächst«.63 Und während der Dichter sich einen Namen zu machen sucht, verfügt der Journalist über viele Masken und Namen, die zur Konstitution seiner ästhetischen und politischen Identitäten beitragen.
4.
Poetik
Die Anonymisierung der Texte ist abschließend auch als metapoetisches Moment zu skizzieren. Denn die bewusstseinsgeschichtlichen und medialen Transformationen verändern Ansehen und Gestalt der Literatur auf grundsätzliche Weise. So führen Vergewöhnlichung, Typisierung und Anonymisierung zu ganz anderen Fragestellungen und Formen in der Literatur. Und die poetologisch-paratextuelle Anonymität bestimmt zunehmend die Performanz der Darstellung. Was andere Autoren freilich zunächst als Entwicklung nur beschreiben, erklärt Jünger in einer Mischung aus Diagnose und Befehl zur Norm: Die Neuentdeckung der Welt durch kühne Flüge, die in unsere Tage fällt, ist nicht das Ergebnis individueller, sondern typischer Leistungen, die uns heute als Rekord erscheinen und morgen zur täglichen Gewohnheit geworden sind. Ebenso gehört die Entdeckung einer neuen Landschaft, etwa der einer Stadt oder eines Schlachtfeldes, zu den typischen Erlebnissen. Daher ist auch der bedeutende Bericht nicht mehr der individuelle und einmalige, sondern der, der durch den Typus bestätigt wird. Der vielbeklagte Niedergang der Literatur bedeutet nichts anderes, als daß eine veraltete literarische Fragestellung ihren Rang verloren hat. Ganz ohne Zweifel besitzt heute ein Kursbuch größere Bedeutung als die letzte Ausfaserung des einmaligen Erlebnisses durch den bürgerlichen Roman. Wer dieses Erlebnis zum Mittelpunkt einer Arbeits- oder Kampflandschaft zu erheben sucht, macht sich lächerlich. Die Dinge liegen hier nicht so, daß der neue Raum zu einer literarischen Erfassung ungeeignet ist, sondern vielmehr so, daß jede individuelle Fragestellung an ihm abgleiten muß.64
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Jünger 2007 (wie Anm. 22), S. 276. Ebd. Jaspers 1979 (wie Anm. 35), S. 115. Jünger 2007 (wie Anm. 22), S. 147f. Der Autor »verachtet das auf seine Individualität bedachte bürgerliche Ich als einen Anachronismus und der Roman des europäischen Realismus ist ihm kaum mehr als die literarische Beschwörung dieser Bedachtsamkeit. Er sucht eine Form jenseits dieses ›kuhwarmen‹ Individualismus, ohne dabei in die Abstraktionen des ideologischen Diskur-
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Das beurteilen Kracauer und Mynona der Sache nach kaum anders. Dabei wird in ihren Fällen sogleich sichtbar, dass die von ihnen verfolgten Publikationsstrategien der Selbstmystifikation, der Verweigerung und gezielten Depotenzierung des Einzelnen sich unmittelbar auf der Figurenebene der Texte fortsetzen, beispielsweise in Form von Ironisierung und indirekter Mitteilung.65 Publikationsstrategien und Darstellungsstrategien gehen demnach Hand in Hand, Autorsubjekte und textuelle Handlungssubjekte verhalten sich korrelativ.66 Im Falle von Kracauers erstem, 1928 anonym veröffentlichtem Roman Ginster. Von ihm selbst geschrieben, zeigt sich das in dem Spiel, das mit dem Pflanzennamen Ginster getrieben wird,67 den Kracauer übrigens auch als Pseudonym im Rahmen seiner publizistischen Tätigkeit genutzt hat, ebenso wie dessen Anagramm »Stergin«. Wie sich gleich auf der ersten Seite des Romans herausstellt, handelt es sich bei Ginster nicht um den Eigennamen, sondern um den Spitznamen des Protagonisten: »Eigentlich hieß er gar nicht Ginster, der Name war ihm aus der Schule geblieben.«68 Der Eigenname aber wird dem Leser gezielt vorenthalten. Dieses Moment der Verbergung und Mystifikation setzt sich auf allen Ebenen der Darstellung fort. So beschließt Ginster etwa, niemals seine wahre Ansicht äußern zu wollen (G 86), er empfindet »sich nicht als Eigentümer richtiger Sachen. Lieber war er zu Gast« (G 38), er lebt »im Bewußtsein, den [Doktor]
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ses zu verfallen.« Joseph Peter Stern: »Das lädierte Ich und das anonyme Man – von Kleist bis Ernst Jünger«, in: »Sei mir, Dichter, willkommen!«. Studien zur deutschen Literatur von Lessing bis Jünger, hg. v. Klaus Garber/Teruaki Takahashi, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 195–215, hier S. 212. Mit großem Scharfsinn sind diese Problemlagen bereits einige Jahre zuvor von Ossip Mandelstam beschrieben worden. Das Aufkommen der Masse, wofür die kollektivistische Diktatur der frühen Sowjetunion unablässig bedrohliches Anschauungsmaterial liefert, diskreditiert den Wert des Einzelnen und wirkt sich unmittelbar auf die möglichen Erzählformen aus, insbesondere diejenige des Romans. »Wenn wir in einen Bereich mächtiger sozialer Bewegungen und organisierter Massenhandlungen gelangen, ist es ganz klar, daß die Aktien der Persönlichkeit in der Geschichte fallen müssen, und mit ihnen auch Einfluß und Macht des Romans, für den die allgemeine Anerkennung der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte gleichsam als Manometer dient, das den Druck der sozialen Atmosphäre anzeigt. Das Maß des Romans ist die Biographie eines Menschen oder ein System von Biographien. Vom ersten Schritt an fühlte der neue Romanschriftsteller, daß es ein Einzelschicksal nicht mehr gab, und bemühte sich, die ihm nötige soziale Pflanze mit allen Wurzeln, allen Trabanten und Attributen aus dem Boden zu heben.« Ossip Mandelstam, »Das Ende des Romans« (1922), in: ders., Über den Gesprächspartner. Gesammelte Essays 1913–1924, übers. und hg. v. Ralph Dutli, Frankfurt a. M. 1994, S. 159–163, hier S. 161. Zur Frage der indirekten Mitteilung als Verbergungsstrategie, wie sie von Kierkegaard in ihrer ganzen Dialektik entfaltet und namentlich von Kracauer aufgegriffen worden ist, vgl. Dirk Oschmann, Auszug aus der Innerlichkeit. Das literarische Werk Siegfried Kracauers, Heidelberg 1999, S. 250–254. Zu diesem Aspekt vgl. Michail M. Bachtin, Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, hg. v. Rainer Grübel/Edward Kowalski/Ulrich Schmid, Frankfurt a. M. 2008, S. 59–76. Zum Folgenden vgl. Oschmann 1999 (wie Anm. 65), S. 127–151. Siegfried Kracauer, Ginster. Von ihm selbst geschrieben, in: ders., Werke (wie Anm. 11), Bd. 7: Romane und Erzählungen, S. 9–256, hier S. 11. Alle weiteren Zitate aus diesem Roman werden im Text in Klammern hinter der Anführung nachgewiesen.
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titel rechtlich erworben zu haben«, möchte aber »gleichsam inkognito ohne ihn leben« (G 11), und er sucht insgesamt einen Zustand zu erreichen, der einem Leben mit »Tarnkappe auf dem Kopf« entspricht (G 26). Alle Identifikationsmechanismen sind außer Kraft gesetzt. »Eine Absicht des Buchs«, so schreibt Kracauer am 17. Januar 1928 an Ernst Bloch, »ist das Verschwinden des Privaten im Helden.«69 Dementsprechend wird alles Individuelle allmählich aufgelöst und Ginster freut sich schon darauf, eines Tages »gasförmig« zu sein (G 140). Radikalisiert wird dieses »Verschwinden des Privaten im Helden« im Schlusskapitel des Romans. Nicht nur hat Ginster hier das wichtigste Konstituens der eigenen Identität verloren, nämlich sein Gedächtnis (G 247), sondern er hat auch alle räumlichen und zeitlichen Beziehungen zu seinem früheren Dasein konsequent abgebrochen. Die gewählte Lebensform ist diejenige völliger Anonymität, mit der Selbstauslöschung als logischer, durchaus einkalkulierter Folge. Seine finale Bewusstseinslage resümiert er mit den Worten: »Am liebsten ginge ich hier unter.« (G 254) Demnach handelt dieser Roman dezidiert nicht mehr vom ebenso charakteristischen wie exempla rischen, durch Name und Herkunft bestimmten Lebensweg eines eigentümlichen Subjekts, hier geht es vielmehr um die Veranschaulichung eines geschichtsphilosophisch begründeten Habitus, einer Lebensform von absoluter Modernität, die Kracauer gegenüber Ernst Bloch auf die »Formel Ginster« bringt.70 Stellt man nun im Blick auf Mynona die Frage, wie die Reflexionen von Namentlichkeit und Anonymität konkret in Darstellungsverfahren umgesetzt werden, beanspruchen zwei seiner Texte unmittelbare Aufmerksamkeit, indem sie scheinbar ein subjektivistisches Gegenprogramm zu praktizierter und diskursiver Anonymität entwerfen, womit sich auch eine Akzentverschiebung gegenüber Kracauer ergibt. Während dieser das Ich in Anbetracht der zu Ende gehenden Epoche des Individualismus zum Verschwinden bringt, hält Mynona daran fest, weil das Ich in seinem Verständnis Kants die einzige wirklichkeitsbildende Größe ist, ja ihm ist unmittelbar an der »Kultivierung des ICHHeliozentrums inmitten des ptolemäischen Scheins«71 gelegen. In seiner autobiographischen Skizze Ich spricht er darum vom »Sonnen-Ich« oder auch von der »Zentralsonne Ich«.72 In Fichte, Stirner, Nietzsche feierte das Ich nur subjektivistische Orgien; sie verschmähten die Zuchtschule der Kritik. Nunmehr endlich [das heißt: im richtig verstandenen Kant] schickt sich das Ich, ohne sich preiszugeben, an, als zentraler Selbstherrscher in den Grenzen der Immanenz zu bleiben und seine frei aller Natur überlegene Ausnahmestellung zur in sich gegenseitigen Harmonisierung der Immanenz zu gebrauchen. (Ich 96)
Paradoxerweise ist nun dieses Ich bei Mynona zugleich absolut und anonym: denn das absolute Ich braucht keinen Namen, eben weil es Ich ist.
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Siegfried Kracauer an Ernst Bloch, 17. Januar 1928, in: Bloch 1985 (wie Anm. 17), S. 293. Kracauer an Bloch, Anfang Januar 1928, in: ebd., S. 289. Friedlaender an R. Hanf, 15. April 1942, Friedlaender/Mynona 1982 (wie Anm. 19), S. 173. Friedlaender/Mynona 2003 (wie Anm. 4), S. 26. Alle weiteren Zitate daraus erscheinen im Text in Klammern hinter der Anführung.
Anonymität als Symptom in der Literatur der Weimarer Republik
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Der erste seiner beiden auf dieser Linie verfassten Texte heißt Das magische Ich, der zweite, schon zitierte einfach Ich. Beide Texte sind im Exil entstanden und aufgrund dieser schwierigen biographischen Situation erst aus dem Nachlass in den Jahren 2001 und 2003 publiziert worden. Aus Mynonas Sicht kommt es freilich angesichts der lebensbedrohlichen Situation des Exils ohnehin mehr darauf an, dass Gedanken festgehalten als dass sie veröffentlicht werden. An Herta Samuel-Ruest schreibt er am 17. Oktober 1944: »Das Problem der Publikation ist weniger wichtig als das der sicheren Aufbewahrung, so daß lange nach unserem Tod einmal unsere Stimmen laut werden. [...] Wesentlich ist, daß diese Gedanken gedacht wurden.«73 Dass Entstehungs- und Publikationszeit so weit auseinanderliegen, ist ohne Belang für die ursprünglich gewählten, auf Anonymisierung ausgerichteten Textstrategien. Diese seien am Beispiel der autobiographischen Skizze Ich wenigstens kurz angedeutet. Sie setzt mit folgender Passage ein: Ehemals polnische, dann preußische, jetzt wieder polnische Residenz und Festung, an der Warthe, einem Nebenfluß der Weichsel. Dorthin kam ich kurz nach meiner Geburt. Von dorther hatte sich mein Vater, Arzt in einem Flecken derselben Provinz, seine Frau, meine Mutter geholt. Ihre Eltern besaßen eine Bierbrauerei; sie lag in der Altstadt, am Flusse. Mein Großvater soll Heinrich Heines Cicerone, als dieser mal durch Polen reiste, gewesen sein. Auf der Brücke über die Warthe glänzte ein goldenes Kruzifix, von den Juden ›der Tole‹ genannt. (Ich 9)
Auf den ersten Blick bedient der Abschnitt traditionelle Muster autobiographischer Darstellung. Der Ich-Erzähler beginnt ordnungsgemäß am Anfang mit der Geburt, er nennt Ort und Zeit, spricht von Mutter und Vater, dann auch von der erweiterten Familie und thematisiert schließlich mit der christlich-jüdischen Gemengelage sein soziales Umfeld. Bei genauerem Hinsehen freilich wird einem das Entscheidende jeweils vorenthalten. Weder Ort und Zeit sind präzise angegeben, noch erfährt man die Namen der Eltern, sondern lediglich jenen Heinrich Heines als öffentlicher Person, wobei die großväterliche Verbindung zu ihm auffällig spekulativ bleibt. Dieses indirekte Verfahren, welches das traditionelle Zentrum der Information jeweils ausspart, behält der Autor den gesamten Text über bei. So wie der Verfasser sich gegen eine identifi katorische Fixierung im Namen sperrt, so werden auch die Umstände nicht konkret beim Namen genannt, allenfalls in konzentrischen Kreisen erörtert und veranschaulicht. Zugleich macht der Text selber verschiedene metapoetische Deutungsangebote zum Verständnis des Verfahrens, die alle auf dem Spannungsverhältnis von Innen und Außen beruhen. Zum einen werden diese Angaben als irrelevante Äußerlich keiten abgetan, derer es nicht bedarf, wo es um die Wahrheit eines Inneren als Idealität geht. »Alle diese profanen Realien baden sich im Sonnenlicht ihrer sie durchdringenden Idealität.« (Ich 9) Damit verbunden ist zum zweiten eine gewisse Skepsis gegenüber der Sprache als Darstellungsmedium, ja überhaupt gegen sämtliche Formen von Repräsentation, die als Profanisierungen verworfen werden. »Mein Thema ist die Innenwelt, mein Ich, verglichen womit mir alles menschliche Außen [...] grotesk erscheint.« (Ich 30) Das Äußer-
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Friedlaender/Mynona 1982 (wie Anm. 19), S. 196.
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Dirk Oschmann
liche wird genauso abgelehnt wie die Äußerung, sofern sie selbst wiederum als eine Äußerlichkeit zu begreifen ist: Jeder Mensch hat es, wie man sich ausdrückt, ›in sich‹. Aber nur selten äußert sich dieses Innen möglichst adäquat. Meistens vermittelmäßigt sich die Äußerung. Immer aber ist es um dieses Innere des Menschen, sein intimes Ich, die erstaunlichste Sache. (Ich 14)
Zum dritten begegnet man einfachen Psychologisierungen als Grund für die Verbergungsstrategien, wie im Fall der folgenden Beobachtung: Die Vorstellung der eigenen Häßlichkeit wirkte fatal auf die Physis zurück. Ich schämte mich meiner Sichtbarkeit. Ich bemäntelte sie bildlich und buchstäblich. [...] längst ist mir der Mantel zur ›unablegbaren Eigentümlichkeit‹ geworden. (Ich 15)
Das vielleicht defor mier te, allemal aber wahrhaftige und elementare Ich soll, wie es heißt, »nach aller Möglichkeit vor Überrumpelungen von außen her« bewahrt werden (Ich 21). Deshalb muß es geschützt und darf nicht im Namen angerufen werden. In solcher verborgenen Verabsolutierung des Ichs steckt zugleich seine größtmögliche Verallgemeinerung. Es bekundet sich darin ein allgemein Gültiges, das durch die Beilegung eines Eigennamens auf das individuell Kontingente reduziert werden würde. Pointiert gesagt: objektive Subjektivität erscheint als autoritative Anonymität. Auf diese Weise verbürgt die Anonymität als Publikations- und Darstellungsform die eigentliche Geltung und Autorität des Textes – ganz im Sinne Hegels: Der Dichter muss ganz subjektiv werden, um ganz objektiv werden zu können. Nimmt man am Ende die vier erörterten Punkte Politik, Bewusstseinsgeschichte, Medien und Poetik noch einmal gemeinsam in den Blick, dann zeigt sich, dass zwar die Begründungszusammenhänge von Anonymität jeweils wechseln, dass aber insgesamt Namenlosigkeit als epistemisches Gebot und Signatur der Epoche zugleich erscheint. Ab Januar 1933 konnte das Überleben davon abhängen.
Heinrich Kirschbaum
»Allein der Name bleibet uns…«: Osip Mandel’štams Anonymitäten
Der Lebens- und poetische Weg des Dichters Osip Mandel’štam, der 1891 in Warschau geboren wurde, führte ihn aus der Anonymitätsatmosphäre seiner provinziellen jüdischen Kindheit in die Welt der Sankt Petersburger Moderne mit ihrem Kult des Pluralismus und des raffinierten poetischen Individualismus, der sich allerdings dem Pathos der kollektivistischen Kunst öffnet. In den 1920er Jahren wurde dieses Pathos zur Dominante des kulturellen Lebens. In der Zeit der anonymisierenden Verstaatlichung der Literatur in den späten 1920er und 1930er Jahren ist Mandel’štams literarisches und außerliterarisches Verhalten durch eine traumatische Zerrissenheit gekennzeichnet: Den mutigen selbstmörderischen Rebellionen gegen die neue repressive Anonymisierung folgen dramatische Reueanfälle und vergebliche Integrationsversuche. Schließlich wird Mandel’štam verhaftet und ins Gulag-Transitlager nach Vladivistok transportiert, wo er im Dezember 1938, erschöpft durch Unterernährung, Krankheit und Kälte, stirbt und in einem Massengrab namenlos begraben wird. Im vorliegenden Beitrag werden unterschiedliche, konkurrierende und zugleich interferierende, poetische und politische Konzeptionen von Anonymität thematisiert, die Mandel’štams Leben und Werk entscheidend mitgeprägt haben. 1. Osip Mandel’štam hat die ersten Jahre seines Lebens in einem jüdischen Kulturmilieu verbracht, das er später hart als »das jüdische Chaos«1 beschrieben hat. Das Jüdische tritt in seinen Erinnerungen und Gedichten in erster Linie als etwas Schreckliches und Formloses auf, als Atmosphäre einer Anonymität, der man entfliehen muss. Dem Vater wird »Sprachgestammel und Sprachlosigkeit« attestiert: ɍ ɨɬɰɚ ɫɨɜɫɟɦ ɧɟ ɛɵɥɨ ɹɡɵɤɚ, ɷɬɨ ɛɵɥɨ ɤɨɫɧɨɹɡɵɱɢɟ ɢ ɛɟɡɴɹɡɵɱɢɟ. Ɋɭɫɫɤɚɹ ɪɟɱɶ ɩɨɥɶɫɤɨɝɨ ɟɜɪɟɹ? – ɇɟɬ. Ɋɟɱɶ ɧɟɦɟɰɤɨɝɨ ɟɜɪɟɹ? – Ɍɨɠɟ ɧɟɬ. Ɇɨɠɟɬ ɛɵɬɶ, ɨɫɨɛɵɣ ɤɭɪɥɹɧɞɫɤɢɣ ɚɤɰɟɧɬ? – ə ɬɚɤɢɯ ɧɟ ɫɥɵɲɚɥ. ɋɨɜɟɪɲɟɧɧɨ ɨɬɜɥɟɱɟɧɧɵɣ, ɩɪɢɞɭɦɚɧɧɵɣ ɹɡɵɤ, ɜɢɬɢɟɜɚɬɚɹ ɢ ɡɚɤɪɭɱɟɧɧɚɹ ɪɟɱɶ ɫɚɦɨɭɱɤɢ, ɝɞɟ ɨɛɵɱɧɵɟ ɫɥɨɜɚ ɩɟɪɟɩɥɟɬɚɸɬɫɹ ɫɨ ɫɬɚɪɢɧɧɵɦɢ ɮɢɥɨɫɨɮɫɤɢɦɢ ɬɟɪɦɢɧɚɦɢ Ƚɟɪɞɟɪɚ, Ʌɟɣɛɧɢɰɚ ɢ ɋɩɢɧɨɡɵ, ɩɪɢɱɭɞɥɢɜɵɣ ɫɢɧɬɚɤɫɢɫ ɬɚɥɦɭɞɢɫɬɚ, ɢɫɤɭɫɫɬɜɟɧɧɚɹ, ɧɟ ɜɫɟɝɞɚ ɞɨɝɨɜɨɪɟɧɧɚɹ ɮɪɚɡɚ – ɷɬɨ ɛɵɥɨ ɜɫɟ ɱɬɨ ɭɝɨɞɧɨ, ɧɨ ɧɟ ɹɡɵɤ, ɜɫɟ ɪɚɜɧɨ – ɩɨ-ɪɭɫɫɤɢ ɢɥɢ ɩɨ-ɧɟɦɟɰɤɢ.2
1
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Ossip Mandelstam, Werkausgabe. Bd. 6: Das Rauschen der Zeit. Die ägyptische Briefmarke. Vierte Prosa. Gesammelte »autobiographische« Prosa der 20er Jahre, aus dem Russischen übertragen und hg. von Ralph Dutli, Zürich 1991, S. 23f., 27 und 38; Osip Mandel’štam, Sobranie soþinenij v þetyrech tomach, Moskau 1993, Bd. II, S. 354, 360 (russ.). Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 361f.
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Heinrich Kirschbaum
Mein Vater hatte gar keine Sprache, es war Sprachgestammel und Sprachlosigkeit. Das Russisch eines polnischen Juden? Nein. Die Sprache eines deutschen Juden? Auch nicht. Vielleicht ein besonderer kurländischer Akzent? Einen solchen habe ich nie gehört. Es war eine völlig abstrakte, erfundene Sprache, die schwülstige und geschraubte Ausdrucksweise des Autodidakten, in der Alltagswörter sich mit altertümlichen philosophischen Termini Herders, Leibniz’ und Spinozas verflochten, die wunderliche Syntax des Talmudisten, künstliche, nicht immer zu Ende geführte Sätze – es hätte alles mögliche sein können, nur keine Sprache, weder Russisch noch Deutsch.3
Im jüdischen Thema taucht bei Mandel’štam sehr oft das Motiv einer inzestoiden kulturellen Tautologie auf – dadurch bekommt Mandel’štams Selbstfindung die für den werdenden Dichter entscheidende poetologische Dimension.4 Zugleich wird diese Sprachlosigkeit seiner jüdischen Kindheit als eine Art Präsprachlichkeit konzipiert. Mandel’štams Vater versucht, sich als Autodidakt die Welt der deutschen Aufklärung anzueignen, die Mutter liest mit Eifer russische Bücher. Der Vektor ist vorgegeben: Der zu fliehenden jüdischen Namenlosigkeit wird die russischdeutsch-europäische Kultur gegenübergestellt, die für Mandel’štam zum identitätsbildenden Imperativ wird. Das betrifft auch die poetische Identität: Ʉɧɢɠɧɵɣ ɲɤɚɩ ɪɚɧɧɟɝɨ ɞɟɬɫɬɜɚ – ɫɩɭɬɧɢɤ ɱɟɥɨɜɟɤɚ ɧɚ ɜɫɸ ɠɢɡɧɶ. Ɋɚɫɩɨɥɨɠɟɧɶɟ ɟɝɨ ɩɨɥɨɤ, ɩɨɞɛɨɪ ɤɧɢɝ, ɰɜɟɬ ɤɨɪɟɲɤɨɜ ɜɨɫɩɪɢɧɢɦɚɸɬɫɹ ɤɚɤ ɰɜɟɬ, ɜɵɫɨɬɚ, ɪɚɫɩɨɥɨɠɟɧɶɟ ɫɚɦɨɣ ɦɢɪɨɜɨɣ ɥɢɬɟɪɚɬɭɪɵ. Ⱦɚ, ɭɠ ɬɟɦ ɤɧɢɝɚɦ, ɱɬɨ ɧɟ ɫɬɨɹɥɢ ɜ ɩɟɪɜɨɦ ɤɧɢɠɧɨɦ ɲɤɚɩɭ, ɧɢɤɨɝɞɚ ɧɟ ɩɪɨɬɢɫɧɭɬɶɫɹ ɜ ɦɢɪɨɜɭɸ ɥɢɬɟɪɚɬɭɪɭ, ɤɚɤ ɜ ɦɢɪɨɡɞɚɧɶɟ [...] ɇɢɠɧɸɸ ɩɨɥɤɭ ɹ ɩɨɦɧɸ ɜɫɟɝɞɚ ɯɚɨɬɢɱɟɫɤɨɣ: ɤɧɢɝɢ ɧɟ ɫɬɨɹɥɢ ɤɨɪɟɲɨɤ ɤ ɤɨɪɟɲɤɭ, ɚ ɥɟɠɚɥɢ, ɤɚɤ ɪɭɢɧɵ: ɪɵɠɢɟ ɉɹɬɢɤɧɢɠɢɹ ɫ ɨɛɨɪɜɚɧɧɵɦɢ ɩɟɪɟɩɥɟɬɚɦɢ, ɪɭɫɫɤɚɹ ɢɫɬɨɪɢɹ ɟɜɪɟɟɜ, ɧɚɩɢɫɚɧɧɚɹ ɧɟɭɤɥɸɠɢɦ ɢ ɪɨɛɤɢɦ ɹɡɵɤɨɦ ɝɨɜɨɪɹɳɟɝɨ ɩɨ-ɪɭɫɫɤɢ ɬɚɥɦɭɞɢɫɬɚ. ɗɬɨ ɛɵɥ ɩɨɜɟɪɝɧɭɬɵɣ ɜ ɩɵɥɶ ɯɚɨɫ ɢɭɞɟɣɫɤɢɣ [...] ɇɚɞ ɢɭɞɟɣɫɤɢɦɢ ɪɚɡɜɚɥɢɧɚɦɢ ɧɚɱɢɧɚɥɫɹ ɤɧɢɠɧɵɣ ɫɬɪɨɣ, ɬɨ ɛɵɥɢ ɧɟɦɰɵ: ɒɢɥɥɟɪ, Ƚɟɬɟ, Ʉɟɪɧɟɪ – ɢ ɒɟɤɫɩɢɪ ɩɨ-ɧɟɦɟɰɤɢ [...] ɗɬɨ ɨɬɟɰ ɩɪɨɛɢɜɚɥɫɹ ɫɚɦɨɭɱɤɨɣ ɜ ɝɟɪɦɚɧɫɤɢɣ ɦɢɪ ɢɡ ɬɚɥɦɭɞɢɱɟɫɤɢɯ ɞɟɛɪɟɣ.5 Der Bücherschrank der frühen Kindheit ist ein Begleiter des Menschen für sein ganzes Leben. Die Anordnung seiner Fächer, die Auswahl der Bücher, die Farbe der Buchrücken gilt ihm als die Farbe, Höhe und Anordnung der Weltliteratur selbst. Ja, jene Bücher, die nicht im ersten Bücherschrank gestanden haben, werden es nie schaffen, ins Weltgebäude einzudringen, das die Weltliteratur bedeutet […]. Das unterste Fach ist in meiner Erinnerung stets das chaotische: die Bücher standen nicht Rücken neben Rücken, sondern lagen da wie Ruinen. Rötlichbraune Sammlungen der Fünf Bücher Mose mit zerrissenen Einbänden, eine Geschichte der Juden, in der schwerfälligen und zaghaften Sprache eines russischen Talmudisten. Es war das in den Staub gestürzte jüdische Chaos […]. Über den jüdischen Ruinen begann die Ordnung der Bücher. Es waren die Deutschen: Schiller, Goethe, Kerner [bzw. Körner – H.K.] und Shakespeare in
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Mandelstam 1991 (wie Anm. 1), S. 40f. Zum »jüdischen Thema« bei Mandel’štam vgl. Kirill Taranovsky, »The Jewish Theme in the Poetry of Osip Mandelstam«, in: Russian Literature 7–8/1974, S. 133–158. Vgl. den Versuch einer Verortung Mandel’štams im jüdischen Kulturalltag der Jahrhundertwende: Leonid Kacis, Osip Mandel’štam: Muskus iudejstva, Jerusalem/Moskau 2002. Vgl. auch Holt Meyers dekonstruktivistische Deutung des jüdischen Themas in der autobiographischen Prosa Das Rauschen der Zeit (ɒɭɦ ɜɪɟɦɟɧɢ): Holt Meyer, »Das Übersetzen des chaos iudejskij in Osip Mandel’štams Rauschen der Zeit«, in: Juden und Judentum in Literatur und Film des slavischen Sprachraums, hg. v. Peter Kosta/Holt Meyer/Natascha Drubek-Meyer, Wiesbaden 1999, S. 193–226. Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 355f.
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deutscher Sprache […]. Es waren die Bücher meines Vaters, der sich als Autodidakt aus dem Talmuddickicht in die germanische Welt durchgeschlagen hatte.6
Das Deutsche tritt dabei sowohl als Teil des jüdischen kulturellen Alltags als auch als sein kultureller Imperativ auf. Eine ähnliche Funktion übernimmt neben der deutschen Kultur die Architektur Sankt Petersburgs – diese für den frühen Mandel’štam wohl wichtigste Verkörperung der gesuchten Europäizität: ȼɟɫɶ ɫɬɪɨɣɧɵɣ ɦɢɪɚɠ ɉɟɬɟɪɛɭɪɝɚ ɛɵɥ ɬɨɥɶɤɨ ɫɨɧ, ɛɥɢɫɬɚɬɟɥɶɧɵɣ ɩɨɤɪɨɜ, ɧɚɤɢɧɭɬɵɣ ɧɚɞ ɛɟɡɞɧɨɣ, ɚ ɤɪɭɝɨɦ ɩɪɨɫɬɢɪɚɥɫɹ ɯɚɨɫ ɢɭɞɟɣɫɬɜɚ, ɧɟ ɪɨɞɢɧɚ, ɧɟ ɞɨɦ, ɧɟ ɨɱɚɝ, ɚ ɢɦɟɧɧɨ ɯɚɨɫ, ɧɟɡɧɚɤɨɦɵɣ ɭɬɪɨɛɧɵɣ ɦɢɪ, ɤɨɬɨɪɨɝɨ ɹ ɛɨɹɥɫɹ, ɨ ɤɨɬɨɪɨɦ ɫɦɭɬɧɨ ɞɨɝɚɞɵɜɚɥɫɹ – ɢ ɜɫɟɝɞɚ ɛɟɠɚɥ.7 Diese ganze schöne Fata Morgana Petersburgs war nur ein Traum, eine über den Abgrund geworfene glänzende Decke, um mich herum jedoch breitete sich das Chaos des Judentums, keine Heimat, kein Haus, kein Herd, sondern ein Chaos, ein dunkler Schoß, aus dem ich hervorgegangen war, eine unvertraute Welt, die ich fürchtete, die ich verworren ahnte und vor der ich weglief, immerzu weglief.8
In dieser kulturellen und persönlichen Situation, die von Mandel’štam als eine Situation zwischen Anonymität und Individualität erlebt wird, als Situation zwischen Zugehörigkeit und Integrationszwang bzw. Integrationsdrang, wurzeln die paradox anmutenden Anonymitätskonzepte der poetischen und kulturphilosophischen Welt Mandel’štams. Das Jüdische bildet das zu entfremdende Eigene; hier vollzieht sich eine Art Selbstenteignung und entwurzelnde Anonymisierung. Aber gerade sie soll paradoxerweise die Anonymität des Jüdischen überwinden: Ein Keil treibt den anderen. Das RussischEuropäische wird seinerseits zur Verkörperung des noch fremden, aber gesuchten Eigenen. Als greifbare Metonymie des Europäischen verspricht die russische Kultur – und deren Ausprägungen bzw. Dimensionen (die russische Poesie, aber auch die Sankt-Petersburger Architektur) – Namhaftigkeit und Teilnahme an der Kultur. Diese russischeuropäische Kultur, die Mandel’štam nicht ohne Anspielung auf Goethe ›Weltkultur‹ nennt, wird als Kultur der Individualität und der Autorschaft konzipiert, und nicht wie diejenige der Autorität, wie die jüdische. Dabei bildet das Europäische, Europa eine Art Kollektivsingular (in der Terminologie Reinhart Kosellecks), Pluraletantum und Singularetantum in einem, eine polyphone Einheit der einzelnen nationalen Kulturen. Der frühe Mandel’štam wiederholt in seinen Gedichten programmatisch das Wort Vielstimmigkeit und das dahinter stehende Konzept der Polyphonie gleichberechtigter kultureller Stimmen.9 Zugleich lebt aber diese
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Mandelstam 1991 (wie Anm. 1), S. 26–28. Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 354. Mandelstam 1991 (wie Anm. 1), S. 23f. Vgl. das Gedicht Die Stimmenvielfalt wie von Mädchenchören…/ȼ ɪɚɡɧɨɝɨɥɨɫɢɰɟ ɞɟɜɢɱɟɫɤɨɝɨ ɯɨɪɚ..., in dem die europäische, »italienisch-russische Seele« der Kremlkirchen (»ɫ ɢɯ ɢɬɚɥɶɹɧɫɤɨɸ ɢ ɪɭɫɫɤɨɸ ɞɭɲɨɣ«, Osip Mandel’štam, Tristia. Gedichte 1916–1925, Zürich 1993, S. 14f.) besungen wird. Vgl. auch Mandel’štams ›Polemik‹ mit der protestantischen Konzeption der Polyphonie im Gedicht Bach (Ȼɚɯ, Ossip Mandelstam, Der Stein, Zürich 1988, S. 96f.).
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individuelle europäische Autorenkultur von der Tradition; Tradition und Individualität stehen in keinem Widerspruch zueinander, eher umgekehrt: In der Poetik der Synthese gewährleisten sie einander reziprok. So formuliert der siebzehnjährige Mandel’štam seine poetische Aufgabe: ȼ ɧɟɩɪɢɧɭɠɞɟɧɧɨɫɬɢ ɬɜɨɪɹɳɟɝɨ ɨɛɦɟɧɚ ɋɭɪɨɜɨɫɬɶ Ɍɸɬɱɟɜɚ – ɫ ɪɟɛɹɱɟɫɬɜɨɦ ȼɟɪɥɟɧɚ – ɋɤɚɠɢɬɟ – ɤɬɨ ɛɵ ɦɨɝ ɢɫɤɭɫɧɨ ɫɨɱɟɬɚɬɶ, ɋɨɟɞɢɧɟɧɢɸ ɩɪɢɞɚɜ ɫɜɨɸ ɩɟɱɚɬɶ?10 In der Ungezwungenheit des schöpferischen Austausches Tjutþevs Strenge mit Verlaines Kinderei – Sagt mir – wer könnte sie geschickt vereinigen Und dieser Verbindung seinen eigenen Stempel einprägen?11
So das Manifest von Mandel’štams synthetischer Poetik, sein poetischer Eid: Zwei konkrete Namen werden genannt; die heitere Scherzhaftigkeit bzw. (Selbst-)Ironie12 eines Verlaine soll die Strenge und den rauen Ernst eines Tjutþev ergänzen, des russischen Dichters, der zweiundzwanzig Jahre seines Lebens in Deutschland verbrachte und in der russischen Rezeption als eine Art Botschafter der deutschen Dichtung in der russischen wahrgenommen wird. Aus dieser Verbindung, aus dieser beim Namen genannten paneuropäischen – das Germanische und das Romanische vereinenden – Verdichtung soll die eigene russischsprachige Stimme Mandel’štams entstehen. Dreißig Jahre später, im verhängnisvollen Jahr 1937, wird Mandel’štam in einem Brief an den Ex-Formalisten Jurij Tynjanov Bilanz ziehen und sein Credo wiederholen: ȼɨɬ ɭɠɟ ɱɟɬɜɟɪɬɶ ɜɟɤɚ, ɤɚɤ ɹ, ɦɟɲɚɹ ɜɚɠɧɨɟ ɫ ɩɭɫɬɹɤɚɦɢ, ɧɚɩɥɵɜɚɸ ɧɚ ɪɭɫɫɤɭɸ ɩɨɷɡɢɸ, ɧɨ ɜɫɤɨɪɟ ɫɬɢɯɢ ɦɨɢ ɫɨɥɶɸɬɫɹ ɫ ɧɟɣ, ɤɨɟ-ɱɬɨ ɢɡɦɟɧɢɜ ɜ ɟɟ ɫɬɪɨɟɧɢɢ ɢ ɫɨɫɬɚɜɟ.13 Das Wichtige mit Lappalien mischend, schwimme ich nun bereits ein Vierteljahrhundert auf die russische Dichtung zu. Bald jedoch werden meine Verse mit ihr zusammenfließen und in ihr aufgehen, nach dem sie einiges an ihrem Bau und ihrer Beschaffenheit verändert haben werden.14
Es blieb erhalten sowohl das Bekenntnis zur synthetischen Poetik als auch deren Bestandteile: »Lappalien« entsprechen der Heiterkeit Verlaines, das »Wichtige« der Ernsthaftigkeit des ›russischen Deutschen‹ Tjutþev. Die Dichtung wird dabei als anonymes, aber diesmal keineswegs chaotisches Naturelement aufgefasst, worauf die individuelle poetische Stimme einen Einfluss auszuüben hat. Diese Stimme schafft den polyphonen Chor und umgekehrt, eine von (poetischer) Natur aus anonyme Stimme wird erstmal
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Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 33. Wörtliche Übersetzung [H.K.]. Das schwer zu übersetzende russische Wort »ɪɟɛɹɱɟɫɬɜɨ«, wörtlich »Kinderei«, ist bei Mandel’štam eher positiv konnotiert und wäre auch als lustiger Streich bzw. als eine Art heitere Schalkhaftigkeit zu verstehen. Mandel’štam 1993 (wie Anm.1), Bd. 4, S. 177. Ossip Mandelstam, Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David, Zürich 1999, S. 259.
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individuell und gelangt zu einer Art Namhaftigkeit bzw. Namentlichkeit, indem sie sich im Anonymen der Dichtung als dem Super- und Interindividuellen aufgibt und auflöst. In Mandel’štams impliziten und teilweise expliziten Konzeptionen der Polyphonie und der Verwicklungen zwischen dem Anonymen und dem Individuellen erweist sich der Dichter als Kind seiner Epoche. Er war ein Schüler der russischen Symbolisten mit ihren theurgisch-ökumenischen Ambitionen; man denke in dieser Hinsicht aber auch an einen anderen Altersgenossen Mandel’štams, an den religiösen ›Literaturosophen‹ Michail Bachtin mit seinem ebenfalls dem Gedankengut der Symbolisten entspringenden Konzept des Dialogs der gleichberechtigten Stimmen. Mandel’štam ist aber auch ein Zeitgenosse der Futuristen mit ihrem programmatischen Individualismus und Autorenkonstruktivismus, welcher sich allerdings seinerseits im Mysterium der Massenkunst bzw. des Massentheaters zu entfalten sucht. Mandel’štam befindet sich im Epizentrum einer utopiesüchtigen revolutionären Epoche, deren innere Triebkraft in der Verschmelzung des Individuellen und des Kollektiven, des Allgemeinen und des Privaten, des Anonymen und des Auktorialen bestand. Mandel’štam feiert seine ersten literarischen Erfolge 1912–1913, als er die Literaturszene Petersburgs im Augenblick ihrer Blütezeit und ihrer höchsten Vielstimmigkeit betritt. Zwar zerfällt langsam aber sicher der Symbolismus als Bewegung und poetische Ideologie, aber seine Ex-Anhänger – hier wären nur die für Mandel’štams Lehrjahre relevanten Valerij Brjusov, Vjaþeslav Ivanov und Andrej Belyj zu nennen – wirken weiter; auf die Bühne kommen die skandalösen Futuristen mit Vladimir Majakovskij und Velimir Chlebnikov. Mandel’štam schließt sich der Gruppe der Akmeisten um den Dichter Nikolaj Gumilev an, die eine neoklassizistische Poetik propagieren und praktizieren. In seinen Gedichten thematisiert Mandel’štam die Zitathaftigkeit der poetischen Sprache. Im Gegensatz zur Postmoderne wird diese Zitathaftigkeit aber nicht als Last und Fluch, sondern als heitere Herausforderung begriffen. Der Dichter gelangt zur eigenen namhaften Stimme, indem er andere namhafte Stimmen synthetisiert, die ihrerseits andere Namensstimmen vereinen. Die Besonderheit der Poetik Mandel’štams besteht nicht nur in der der Moderne eigenen expliziten Intertextualität, sondern vor allem in der Thematisierung der Zitathaftigkeit der poetischen Sprache selbst15. Die verdichtete, sich selbst thematisierende Subtextualität von Mandel’štams Gedichten als eine Art literarisierende Individualisierung des Anonymen stellt keineswegs ein nachträgliches Forscherkonstrukt dar. Mandel’štams Schulkamerad, der Philologe und Literaturkritiker Viktor Žirmunskij, charakterisierte die Lyrik Mandel’štams mit Schlegels Begriff der »Poesie der Poesie« und bezeichnete sie als diejenige, die »nicht das vom Dichter unmittelbar wahrgenommene Leben zum Gegenstand hat, sondern ei-
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Die Thematisierung der Zitathaftigkeit bleibt konstant im Schaffen Mandel’štams, von den Gedichten der 1910er Jahre (vgl. u. a. das Gedicht ə ɧɟ ɫɥɵɯɚɥ ɪɚɫɫɤɚɡɨɜ Ɉɫɫɢɚɧɚ.../Die Klänge Ossians, ich hab sie nie vernommen…, Mandelstam 1988 [wie Anm. 9], S. 142f.) bis zu den Texten der 1930er Jahre (intertextuelle Rätsel in ɋɬɢɯɢ ɨ ɪɭɫɫɤɨɣ ɩɨɷɡɢɢ/Gedichte über die russische Poesie, autopoetologische Äußerungen über die Zitathaftigkeit der poetischen Rede in Ɋɚɡɝɨɜɨɪ ɨ Ⱦɚɧɬɟ/Gespräch über Dante).
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ne fremde künstlerische Lebenswahrnehmung«.16 Ähnlich äußerten sich auch andere Zeitgenossen aus den formalistischen Kreisen.17 Über Mandel’štams Poetik der Reminiszenzen sprachen seine Dichterkollegen, Literaturwissenschaftler und Kritiker, seine Befürworter und seine Gegner, von den Formalisten bis zu der für die damalige Generation dichterischen Autorität Nummer eins, Aleksandr Blok, der den akmeistischen Neoklassizisten und das heißt auch Mandel’štam eher skeptisch gegenüberstand. Man sehe, so Blok, einen Artisten, dessen Gedichte aus den Träumen entstünden – und zwar aus sehr eigenartigen Träumen, welche ausschließlich im Bereich der Kunst liegen.18 Die Synthetizität und Intertextualität bildet eine verkehrte Tautologie, eine Überwindung der Tautologie und Anonymität mit ihren eigenen Mitteln. Die poetologische Dimension dieser Strategie überschneidet sich bei Mandel’štam mit derjenigen der eigenen kulturphilosophischen Identitätsfindung. Die jüdische Anonymität wird aufgehoben durch die Anonymität der Reminiszenzen und Allusionen aus der ›Weltliteratur‹ im Allgemeinen und ins Besondere aus der russischen Lyrik. So entsteht die markenzeichenhafte intertextuelle Poetik Mandel’štams19. 2. Die Hauptreferenz der Mandel’štamschen Lyrik ist die Lyrik der anderen. Eine solche Position wird in den 1910er und in den ersten Revolutionsjahren geschätzt, in denen sich die junge sowjetische Literatur durch Toleranz, Offenheit und Experimentierfreude auszeichnet. In der authentischen philologischen Sprache dieser Epoche – in der Sprache der Formalisten – sprechend, schätzt man Mandel’štams subtextuellen Archaismus als Innovation. Und Mandel’štam erlangt nach der Revolution einen viel breiteren und intensiveren Erfolg als früher, als es eher eine Zunftanerkennung war. Die Situation ändert sich allmählich seit Mitte der 1920er Jahre. Die poetologischen Diskussionen verlieren an Aktualität und Intensität. 1921 stirbt Blok, im selben Jahr wird Mandel’štams poetischer Lehrer und Freund Nikolaj Gumilev erschossen. Diese beiden Tode markieren eine Grenze im Selbstbewusstsein der russischen Literatur.
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»[…] ɢɦɟɸɳɭɸ ɫɜɨɢɦ ɩɪɟɞɦɟɬɨɦ ɧɟ ɠɢɡɧɶ, ɧɟɩɨɫɪɟɞɫɬɜɟɧɧɨ ɜɨɫɩɪɢɧɹɬɭɸ ɫɚɦɢɦ ɩɨɷɬɨɦ, ɚ ɱɭɠɨɟ ɯɭɞɨɠɟɫɬɜɟɧɧɨɟ ɜɨɫɩɪɢɹɬɢɟ ɠɢɡɧɢ«, Viktor Žirmunskij, Teorija literatury. Poơtika. Stilistika, Leningrad 1977, S. 123. Vgl. u. a. Jurij Tynjanov, Poơtika. Istorija literatury. Kino, Moskau 1977, S. 188f; Boris Ơjchenbaum, O literature. Moskau 1987, S. 448; Naum Berkovskij, Mir, sozdavaemyj literaturoj, Moskau 1989, S. 296. »ȿɝɨ ɫɬɢɯɢ ɜɨɡɧɢɤɚɸɬ ɢɡ ɫɧɨɜ – ɨɱɟɧɶ ɫɜɨɟɨɛɪɚɡɧɵɯ, ɥɟɠɚɳɢɯ ɜ ɨɛɥɚɫɬɢ ɢɫɤɭɫɫɬɜɚ ɬɨɥɶɤɨ« (Aleksandr Blok, Sobranie soþinenij, Bd. 7, Moskau/Leningrad 1963, S. 371). Zur Intertextualität in der russischen Moderne im Allgemeinen und bei Osip Mandel’štam im Besonderen siehe Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a. M. 1990. Mandel’štams eher distanzierende Haltung gegenüber seiner jüdischen Herkunft wird sich radikal nach den ersten Hetzkampagnen gegen Ende der 1920er Jahre ändern, wenn er sein »Blut, schwer geworden vom Erbe der Schafzüchter, Patriarchen und Könige« der »verschlagenen Zigeunerbrut« des sowjetischen »Schreiberstamms« gegenüberstellt: »Ɇɨɹ ɤɪɨɜɶ, ɨɬɹɝɨɳɟɧɧɚɹ ɧɚɫɥɟɞɫɬɜɨɦ ɨɜɰɟɜɨɞɨɜ, ɩɚɬɪɢɚɪɯɨɜ ɢ ɰɚɪɟɣ, ɛɭɧɬɭɟɬ ɩɪɨɬɢɜ ɜɨɪɨɜɚɬɨɣ ɰɵɝɚɧɳɢɧɵ ɩɢɫɚɬɟɥɶɫɤɨɝɨ ɨɬɪɨɞɶɹ«, vgl. Mandelstam 1991 (wie Anm. 1), S. 265, Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 175.
»Allein der Name bleibet uns …«: Osip Mandel’štams Anonymitäten
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Das Fragen danach, wie die Literatur den historischen Veränderungen gerecht wird, wird in den 1920er Jahren zentral in der Selbstbestimmung der Schriftsteller. Dichter und Prosaiker spüren, wie Tynjanov zu sagen pflegte, »neue Revolutionspflichten des Wortes«.20 Es entstehen die Forderungen nach einer neuen Revolutionsanonymität. Allmählich findet ein Prozess statt, den man als Entprivatisierung oder Kollektivierung der Schriftstellerarbeit bezeichnen könnte. Die neue Macht begreift sich im permanenten Ausnahme- bzw. (Vor-)Kriegszustand: Literaten werden zu Kriegern an der literarischen Front erklärt. Die Relationen zwischen Staat und Literatur haben noch nicht den Charakter eines Diktats von oben, eher umgekehrt, die Initiative der neuen Selbstfunktionalisierung, ja Instrumentalisierung kommt nicht zuletzt von unten, von den Schriftstellern selbst. Die Literatur sprengt den Rahmen der Kultur und tritt auf die Bühne der Revolutionswirklichkeit. Poetische Fragen bekommen ideologische und sozialgesellschaftliche Aktualität. Die Kluft zwischen der reinen Lyrik und der politischen Poesie schmilzt; die Futuristen um Majakovskij machen dabei radikale Schritte. Auch Mandel’štam versucht, sich in den neuen Literaturalltag zu integrieren. Er schreibt zwar immer weniger (zweiundzwanzig Gedichte in den Jahren 1921–1925 und kein einziges in der Zeit von 1925 bis 1930, was die Tiefe der Krise zeigt), jedoch übersetzt er, unter anderem aus dem Deutschen, denn Deutschland ist nach dem Vertrag von Rapallo (1922) einer der wenigen Freunde des jungen Sowjetstaates. Mit diesen Übersetzungen will auch Mandel’štam seinen Beitrag zur jungen sowjetischen Literatur leisten. Unter Mandel’štams Übersetzungen aus dem Deutschen nehmen die Texte von Ernst Toller und Max Barthel, quantitativ und qualitativ, eine besondere Stellung ein. In diesen Übersetzungen, die zum rhetorischen (Experimentier-)Raum von Selbst(um-)Erziehung und Integration werden, versucht Mandel’štam, sich und den anderen sein neues sozial-literarisches Engagement zu zeigen. 1922 überträgt er Ernst Tollers Stück Masse-Mensch, das im »Theater der Revolutionssatire« mit der Beteiligung von Vsevolod Meierhold aufgeführt wird.21 Mandel’štams Verhältnis zu Toller, das im Artikel Ein Revolutionär im Theater artikuliert wird, ist zwiespältig. Im Gegensatz zu seinen russischen (post-) symbolistischen Analoga habe Toller »anstatt der Intelligenzlerbleichsucht – lebendi-
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»ɪɟɜɨɥɸɰɢɨɧɧɵɟ ɨɛɹɡɚɧɧɨɫɬɢ ɫɥɨɜɚ«, Tynjanov 1977 (wie Anm. 17), S. 196. Die Popularität und Aktualität von Tollers Stück in Russland ist nicht zu überschätzen. Praktisch parallel zu Mandel’štams Übertragung erscheint auch die Übersetzung von Adrian Piotrovskij. In den 1920er Jahren ist ein regelrechter Toller-Boom in Russland zu beobachten. 1922–1923 wurden in Moskau im Theater der Revolution Die Maschinenstürmer und Masse Mensch aufgeführt. Renommierte Dichter übersetzten den deutschen Dichter und Revolutionär. So dichtet z. B. Sergej Gorodeckij 1925 Tollers Gedichte der Gefangenen (1921) nach: Das Buch erscheint mit einem Vorwort von keinem geringeren als dem Volkskommissar für das Bildungswesen Anatolij Lunaþarskij. 1926 kommt Toller nach Moskau, er trifft sich mit Meierhold und Lunaþarskij (zu den Beziehungen Lunaþarskijs zur deutschen Literatur vgl. Dora Angres, Die Beziehungen Lunaþarskijs zur deutschen Literatur, Berlin 1970), 1928 wird Tollers Stück Hoppla, wir leben! aufgeführt. Mandel’štams Übersetzung von Masse-Mensch steht somit in den Anfängen einer kurzen aber sehr heftigen »Tolleriane« im Sowjetrussland.
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ges Blut, wirkliches Pathos, eisernen revolutionären Willen«.22 Bezeichnend ist, wie Mandel’štams Toller-Einschätzungen sowohl kultur-politische als auch poetologische Dimensionen annehmen. Aus dieser Mischung von literaturkritischen Charakteristika und politisierten Losungen der Kulturrevolution konstruiert Mandel’štam seine Konzeptionen der 1920er Jahre über die ökumenische Internationale und die Zusammenarbeit von Staat und Kultur und der Position der Dichtung in diesem immer komplexere (u. a. ethische) Dimension gewinnenden Spannungsfeld. Laut Mandel’štam liegt in Tollers Massenchören »etwas Prometheushaftes und Ur-Germanisches«,23 Toller verstand es, »aus den Variationen der Internationale eine wirkliche Hymne zu schaffen«.24 Ein Beispiel des »ur- bzw. echtgermanischen« »Pathos der erhabenen Tragödie« stellen Tollers Variationen der Internationale dar.25 Zu dem Zeitpunkt, als Mandel’štam Tollers Internationale übersetzt, bildet das Lied Eugène Pottiers und Pierre Degeyter die offizielle Hymne Sowjetrusslands. Wichtige Nuancen bekommen in dieser Hinsicht Mandel’štams Visionen eines »Auswegs aus dem nationalen Zerfall« des Nachkriegseuropas zur weltweiten bzw. ökumenischen Einigkeiten, zur Internationale,26 welche ebenfalls im Jahr 1922, d. h. parallel zu seinen Toller-Übersetzungen entstehen. Mandel’štam schwankt zwischen den einander ausschließenden Bewertungen Tollers, der für ihn die neue Revolutions- und Massenkunst repräsentiert. Zwar hänge sein tragisches Pathos hilflos auf symbolischen Strohpuppen,27 man werde ihm jedoch alles für das großartige Pathos einer echten Tragödie nachsehen müssen.28 Diese Unentschlossenheit in Toller-Charakteristika stellt in vielerlei Hinsicht ein Zeugnis der Zerrissenheit von Mandel’štam selbst dar, der nach einem Kompromiss bzw. Versöhnung zwischen den Maximen des schöpferischen Individualismus und des Kollektivismus- und Anonymitätspathos der neuen Kunst sucht:
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»[…] ɜɦɟɫɬɨ ɛɥɟɞɧɨɣ ɢɧɬɟɥɥɢɝɟɧɬɫɤɨɣ ɧɟɦɨɱɢ ɠɢɜɚɹ ɤɪɨɜɶ, ɧɚɫɬɨɹɳɢɣ ɩɚɮɨɫ, ɠɟɥɟɡɧɚɹ ɪɟɜɨɥɸɰɢɨɧɧɚɹ ɜɨɥɹ«, Ossip Mandelstam, Über den Gesprächspartner, Gesammelte Essays I, aus dem Russichen übertragen und hg. v. Ralph Dutli, Zürich 1991, S. 200, und Mandel’štam 1993a (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 284. »[…] ɟɫɬɶ ɱɬɨ-ɬɨ ɩɪɨɦɟɬɟɟɜɫɤɨɟ ɢ ɢɫɤɨɧɧɨ-ɝɟɪɦɚɧɫɤɨɟ«, Mandelstam 1991b (wie Anm. 22), S. 200, Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 284. »[…] ɫɭɦɟɥ ɢɡ ɜɚɪɶɹɰɢɣ ɂɧɬɟɪɧɚɰɢɨɧɚɥɚ ɫɞɟɥɚɬɶ ɧɚɫɬɨɹɳɢɣ ɝɢɦɧ«, Mandelstam 1991b (wie Anm. 22), S. 200, Mandel’štam 1993a (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 284. Ernst Toller, Gesammelte Werke, Bd. 2, Dramen und Gedichte aus dem Gefängnis (1918–1924), München 1978, S. 99, in Mandel’štams Übersetzung: Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 284. »ɜɵɯɨɞ ɢɡ ɧɚɰɢɨɧɚɥɶɧɨɝɨ ɪɚɫɩɚɞɚ […] ɤ ɜɫɟɥɟɧɫɤɨɦɭ ɟɞɢɧɫɬɜɭ, ɤ ɢɧɬɟɪɧɚɰɢɨɧɚɥɭ«, Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 250. »[…] ɜɟɫɶ ɟɝɨ ɬɪɚɝɢɱɟɫɤɢɣ ɩɚɮɨɫ ɛɟɫɩɨɦɨɳɧɨ ɜɢɫɧɟɬ ɧɚ ɫɢɦɜɨɥɢɱɟɫɤɢɯ ɦɚɧɟɤɟɧɚɯ«, Mandelstam 1991b (wie Anm. 22), S. 201, Mandel’štam 1993a (wie Anm.1), Bd. 2, S. 284. »[…] ɜɫɟ, ɜɫɟ ɩɪɨɳɚɟɬɫɹ Ɍɨɥɥɟɪɭ ɡɚ ɜɟɥɢɤɢɣ ɩɚɮɨɫ ɩɨɞɥɢɧɧɨɣ, ɯɨɬɹ ɢ ɧɟ ɜɨɩɥɨɳɟɧɧɨɣ, ɬɪɚɝɟɞɢɢ«, Mandelstam 1991b (wie Anm. 22), S. 203, Mandel’štam 1993a (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 284f.
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Ɉɧ ɫ ɧɟɨɛɵɱɚɣɧɨɣ ɫɢɥɨɣ ɫɬɨɥɤɧɭɥ ɞɜɚ ɧɚɱɚɥɚ: ɥɭɱɲɟɟ, ɱɬɨ ɟɫɬɶ ɭ ɫɬɚɪɨɝɨ ɦɢɪɚ – ɝɭɦɚɧɢɡɦ ɢ, ɩɪɟɨɞɨɥɟɜɲɢɣ ɝɭɦɚɧɢɡɦ ɪɚɞɢ ɞɟɣɫɬɜɢɹ, ɧɨɜɵɣ ɤɨɥɥɟɤɬɢɜɢɫɬɢɱɟɫɤɢɣ ɢɦɩɟɪɚɬɢɜ. ɇɟɞɚɪɨɦ ɫɥɨɜɨ ɞɟɣɫɬɜɢɟ, ɡɜɭɱɢɬ ɭ ɧɟɝɨ, ɤɚɤ ɨɪɝɚɧ ɢ ɩɨɤɪɵɜɚɟɬ ɜɟɫɶ ɲɭɦ ɝɨɥɨɫɨɜ.29 Mit ungewöhnlicher Kraft lässt er zwei Prinzipien aufeinander stoßen: das Beste, was die alte Welt besaß, den Humanismus, und einen den Humanismus um der Tat willen überwindenden neuen, kollektivistischen Imperativ. Nicht umsonst klingt bei ihm das Wort Tat wie eine mächtige Orgel und überdeckt den ganzen übrigen Stimmenlärm.30
Bezeichnend ist, dass auch hier Mandel’štam auf die Bilder aus dem semantischen Feld der Vielstimmigkeit zurückkommt. Die mächtige Orgel des kollektivistischen Imperativs überdeckt den Stimmenlärm – eine Weiterentwicklung seiner Polyphonie-Metaphorik, hier mit eindeutig negativen Konnotationen. Und wiederum wird Mandel’štam oxymoral bei der Behandlung von Themen, welche die Anonymitätsproblematik und -metaphorik berühren: Dieses anonyme vielstimmig schreiende Chaos wird von der einen, allerdings selbst mehrstimmigen kollektivistischen Orgel gebändigt und überdeckt. Diese Oxymoralität zeugt unter anderem von der tragischen Unentschlossenheit und Zerrissenheit des Dichters in dieser Zeit. Tollers Protagonistin, die »Frau«, mit der sich Mandel’štam implizit identifiziert bzw. ihre Problematik auf sich überträgt, geht, laut Mandel’štams Interpretation von Masse Mensch, an ihrem Gespaltensein31 zwischen der neuen Revolutionswirklichkeit, die der »Namenlose« verkörpert, und dem Humanismus zugrunde. Tollers Verdienst bestehe darin, dass er ihr die stärksten, flammendsten Worte in den Mund lege, die die alte Welt zur Verteidigung des Humanismus hat vorbringen können.32 Gemeint ist vor allem der Monolog der »Frau« vor der Hinrichtung am Ende des Stücks, der an den »Namenlosen«, an den neuen, anonymen Masse-Menschen gerichtet ist. Tollers Heldin stellt die alten »Mörder für ihren Staat« in eine Reihe mit den neuen, die »für die Menschheit« handeln.33 Zwar will Tollers Protagonistin nicht mehr in der alten Welt bleiben, sie ist aber nicht bereit, den anonymen »Willen der Massen« hinzunehmen, da der einzelne Mensch, und nicht die Masse gelte.34 Tollers Protagonistin, mit der Mandelštam in latenter Autoprojektion sympathisiert, lehnt jegliche Gewalt ab: Sie setzt sich für die Geiseln ein, die die aufgebrachte Menge
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Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 285f. Mandelstam 1991b (wie Anm. 22), S. 203. ebd. »[…] ɜɥɨɠɢɥ ɜ ɭɫɬɚ ɝɟɪɨɢɧɢ […] ɫɚɦɵɟ ɫɢɥɶɧɵɟ, ɫɚɦɵɟ ɨɝɧɟɧɧɵɟ ɫɥɨɜɚ, ɤɚɤɢɟ ɦɨɝ ɩɪɨɢɡɧɟɫɬɢ ɫɬɚɪɵɣ ɦɢɪ ɜ ɡɚɳɢɬɭ ɝɭɦɚɧɢɡɦɚ«, Mandelstam 1991b (wie Anm. 22), S. 203, Mandel’štams 1993 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 286. Toller 1978 (wie Anm. 25), S. 108, in Mandel’štams Übersetzung Mandel’štam 1993 (wie Anm.1), Bd. 4, S. 355. Vgl. auch: »Ich sehe keine Unterscheidung:/ Die einen morden für ein Land,/ Die anderen für die Länder alle./ Die einen morden für tausend Menschen,/ Die andern für Millionen./ Wer für den Staat mordet,/ Nennt Ihr Henker./ Wer für die Menschheit mordet,/ Den bekränzt ihr, nennt ihn gütig,/ Sittlich, edel, groß./ Ja, sprecht von guter, heiliger Gewalt«, Toller 1978 (wie Anm. 25), S. 108f. Toller 1978, S. 92, in: Mandel’štams Übersetzung 1993 (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 334.
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bzw. Masse hinrichten möchte. Das Menschlichkeitscredo der Heldin35 korrespondiert mit Mandel’štams Ideen von der teleologischen Wärme und der humanistischen Rechtfertigung der Gegenwart, welche er zeitgleich mit den Toller-Übersetzungen in seinem Artikel Der Humanismus und die Gegenwart formulierte. In seinem Essay kritisiert Mandel’štam die »soziale Architektur« der kommenden Epoche: Ȼɵɜɚɸɬ ɷɩɨɯɢ, ɤɨɬɨɪɵɟ ɝɨɜɨɪɹɬ, ɱɬɨ ɢɦ ɧɟɬ ɞɟɥɚ ɞɨ ɱɟɥɨɜɟɤɚ, ɱɬɨ ɟɝɨ ɧɭɠɧɨ ɢɫɩɨɥɶɡɨɜɚɬɶ, ɤɚɤ ɤɢɪɩɢɱ, ɤɚɤ ɰɟɦɟɧɬ, ɱɬɨ ɢɡ ɧɟɝɨ ɧɭɠɧɨ ɫɬɪɨɢɬɶ, ɚ ɧɟ ɞɥɹ ɧɟɝɨ. ɋɨɰɢɚɥɶɧɚɹ ɚɪɯɢɬɟɤɬɭɪɚ ɢɡɦɟɪɹɟɬɫɹ ɦɚɫɲɬɚɛɨɦ ɱɟɥɨɜɟɤɚ. ɂɧɨɝɞɚ ɨɧɚ ɫɬɚɧɨɜɢɬɫɹ ɜɪɚɠɞɟɛɧɨɣ ɱɟɥɨɜɟɤɭ ɢ ɩɢɬɚɟɬ ɫɜɨɟ ɜɟɥɢɱɢɟ ɟɝɨ ɭɧɢɠɟɧɢɟɦ ɢ ɧɢɱɬɨɠɟɫɬɜɨɦ. Ⱥɫɫɢɪɢɣɫɤɢɟ ɩɥɟɧɧɢɤɢ ɤɨɩɨɲɚɬɫɹ, ɤɚɤ ɰɵɩɥɹɬɚ, ɩɨɞ ɧɨɝɚɦɢ ɨɝɪɨɦɧɨɝɨ ɰɚɪɹ [...] ɟɝɢɩɬɹɧɟ ɢ ɟɝɢɩɟɬɫɤɢɟ ɫɬɪɨɢɬɟɥɢ ɨɛɪɚɳɚɸɬɫɹ ɫ ɱɟɥɨɜɟɱɟɫɤɨɣ ɦɚɫɫɨɣ […] ɤɚɤ ɫ ɦɚɬɟɪɢɚɥɨɦ, ɤɨɬɨɪɨɝɨ ɞɨɥɠɧɨ ɯɜɚɬɢɬɶ, ɤɨɬɨɪɵɣ ɞɨɥɠɟɧ ɛɵɬɶ ɞɨɫɬɚɜɥɟɧ ɜ ɥɸɛɨɦ ɤɨɥɢɱɟɫɬɜɟ.36 Es gibt Epochen, die erklärten, dass der Mensch sie nichts angehe, dass man ihn benutzen solle, wie einen Ziegelstein, wie Zement, dass man mit ihm, und nicht für ihn bauen solle. Die gesellschaftliche Architektur wird mit dem Maß des Menschen gemessen. Manchmal wird sie dem Menschen zum Feind und nährt ihre eigene Größe mit seiner Erniedrigung und Nichtigkeit. Assyrische Gefangene wirbeln umher wie Küken unter den Füßen eines riesenhaften Herrschers. Ägypter, ägyptische Baumeister verfahren mit der Menschenmasse wie mit einem Baumaterial, das zur Genüge vorhanden sein, in beliebiger Quantität herbeigeschafft werden muss. 37
Dem ägyptisch-babylonischen Monumentalismus wird als Alternative die soziale Architektur des Humanismus gegenübergestellt: ɇɨ ɟɫɬɶ ɞɪɭɝɚɹ ɫɨɰɢɚɥɶɧɚɹ ɚɪɯɢɬɟɤɬɭɪɚ, ɟɟ ɦɚɫɲɬɚɛɨɦ, ɟɟ ɦɟɪɨɣ ɬɨɠɟ ɹɜɥɹɟɬɫɹ ɱɟɥɨɜɟɤ, ɧɨ ɨɧɚ ɫɬɪɨɢɬ ɧɟ ɢɡ ɱɟɥɨɜɟɤɚ, ɚ ɞɥɹ ɱɟɥɨɜɟɤɚ, ɧɟ ɧɚ ɧɢɱɬɨɠɟɫɬɜɟ ɥɢɱɧɨɫɬɢ ɫɬɪɨɢɬ ɨɧɚ ɫɜɨɟ ɜɟɥɢɱɢɟ, ɚ ɧɚ ɜɵɫɲɟɣ ɰɟɥɟɫɨɨɛɪɚɡɧɨɫɬɢ ɜ ɫɨɨɬɜɟɬɫɬɜɢɢ ɫ ɟɟ ɩɨɬɪɟɛɧɨɫɬɹɦɢ.38 Doch es gibt eine andere gesellschaftliche Architektur, deren Richtlinie und Maß ebenfalls der Mensch ist, die aber nicht mit dem Menschen, sondern für den Menschen baut. Nicht auf der Nichtigkeit des Individuums baut sie ihre Größe auf, sondern auf der höchsten Zweckmäßigkeit, in Übereinstimmung mit seinen Bedürfnissen«.39
Mandel’štam ist überzeugt, dass wenn nicht eine wahrhaftig humanistische Rechtfertigung die Grundlage der künftigen gesellschaftlichen Architektur bilde, würde diese den Menschen zermalmen, wie Assyrien und Babylon es getan haben.40 Die Warnungen vor der anonymisierenden sozialen Architektur der Zukunft entstehen in der Zeit der zwiespältigen Toller-Bewunderung: Toller habe in sich selber den Humanismus durchlitten und überwunden, gerade deshalb sei sein kollektivistischer
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Toller 1978, S. 108f, in: Mandel’štams Übersetzung 1993 (wie Anm.1), Bd. 4, S. 356. Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 286. Mandelstam 1991b (wie Anm. 22), S. 175. Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 286. Mandelstam 1991b (wie Anm. 22), S. 175. »ȿɫɥɢ ɩɨɞɥɢɧɧɨɟ ɝɭɦɚɧɢɫɬɢɱɟɫɤɨɟ ɨɩɪɚɜɞɚɧɢɟ ɧɟ ɥɹɠɟɬ ɜ ɨɫɧɨɜɭ ɝɪɹɞɭɳɟɣ ɫɨɰɢɚɥɶɧɨɣ ɚɪɯɢɬɟɤɬɭɪɵ, ɨɧɚ ɪɚɡɞɚɜɢɬ ɱɟɥɨɜɟɤɚ, ɤɚɤ Ⱥɫɫɢɪɢɹ ɢ ȼɚɜɢɥɨɧ«, Mandelstam 1991b (wie Anm. 22), S. 177, Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 288.
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Elan so wertvoll.41 Der Mandel’štam des Jahres 1922 kann noch nicht in sich den Humanismus »überwinden«, aber er vergleicht ihn mit einer zu »durchleidenden« Krankheit.42 Mandel’štam verwickelt und verliert sich in Widersprüchen: 1922, zeitgleich mit der Toller-Übersetzung und dem Humanismus-Essay, erscheinen Mandel’štams Tristia – seine poetische Chronik der Trennung von der »alten Welt«. Unter Mandel’štams Übersetzungsarbeiten, die man in ihrer Funktion als Beitrag zur politisch aktuellen sowjetischen Übersetzungsliteratur als ›integrative Übersetzungen‹ bezeichnen könnte, nehmen diejenigen aus der heute zu Unrecht vernachlässigten Lyrik Max Barthels eine besondere Stellung ein. Bei der Übersetzung dieser Texten, in denen mit dem proletarisch-expressionistischen Eifer die deutsch-russische Revolutionsbruderschaft besungen und die Schrecken des Krieges expressionistisch beschrieben werden, nähert sich Mandel’štam zum ersten Mal dem für ihn immer relevanter werdenden Motiv des Unbekannten Soldaten,43 das metonymisch das Motiv des anonymen Todes in der Apokalypse des Weltkrieges impliziert.44 3. Jeder Dichter, der im Sowjetrussland geblieben ist, jeder, der ›ja‹ zu der neuen Realität sagte, musste nun auch seine Poetik umstellen, um das Intime und das Soziale, das Poetische und das Politische, das Individuelle und das Kollektive zu verbinden. Mandel’štams Poetik der allusionären Archaismen ist zum gefährlichen Anachronismus geworden, seine Intertextualität als Autorenanonymität galt nun als verbrecherische opportunistische Ignoranz der Hauptreferenz der Literatur. Mandel’štams ›Ja‹ zur neuen Realität ist unüberhörbar: So arbeitet er in der ersten Hälfte der 1920er Jahre an seinem autobiographischen Buch Das Rauschen der Zeit, in dem er zornig-nostalgisch mit seiner Vergangenheit abrechnet: Die Erinnerungen an seine Revolutionsjugend bilden einen relevanten Bestandteil dieser willigen Selbsterziehung. Auch in der Lyrik distanziert sich Mandel’štam von sich selbst als dem »Gleichnamigen« (»ɫɨɢɦɟɧɧɢɤ«) aus den »stummen« Jahren vor der Revolution: ɇɟɬ, ɧɢɤɨɝɞɚ, ɧɢɱɟɣ ɹ ɧɟ ɛɵɥ ɫɨɜɪɟɦɟɧɧɢɤ, Ɇɧɟ ɧɟ ɫ ɪɭɤɢ ɩɨɱɺɬ ɬɚɤɨɣ.
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»[…] ɩɟɪɟɛɨɥɟɥ ɜ ɫɟɛɟ ɝɭɦɚɧɢɡɦ ɜɨ ɢɦɹ ɞɟɣɫɬɜɢɹ – ɜɨɬ ɩɨɱɟɦɭ ɬɚɤ ɰɟɧɟɧ ɟɝɨ ɤɨɥɥɟɤɬɢɜɢɫɬɢɱɟɫɤɢɣ ɩɨɪɵɜ«, Mandelstam 1991b (wie Anm. 22), S. 203, Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 286. Zur Verknüpfung von kulturphilosophischen bzw. -politischen und poetologischen Fragestellungen in Mandel’štams Essayistik der 1920er Jahre s. auch Evgenij Toddes, »Poơtiþeskaja ideologija«, in: Literaturnoe Obozrenie 3/1991, S. 30–43. Vgl. Barthels Gedicht Alles Schwere, was auf meinen Händen lastet..., Max Barthel, Arbeiterseele, Werke von Fabrik, Landstraße, Wanderschaft, Krieg und Revolution, Jena 1920, S. 88; in Mandel’štams Übersetzung 1993a (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 173. Ausführlicher zu Mandel’štams Barthel-Übersetzungen siehe Holt Meyer, »Eine Episode aus Mandel’štams stummen Jahren: Die Max-Barthel-Übersetzungen«, in: Die Welt der Slaven XXXVI/1991 N. F. XV, S. 72–98 und Genrich Kiršbaum , »Organnyj golos mass: O. Mandel’štam – perevodþik nemeckoj revoljucionnoj poơzii«, in: Sochrani moju reþ’. Zapiski Mandel’štamovskogo Obšþestva. Vyp. 4/2, hg. v. Ioanna Delektorskaja, Ioanna, Moskau 2008, S. 682–707.
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Heinrich Kirschbaum Ɉ, ɤɚɤ ɩɪɨɬɢɜɟɧ ɦɧɟ ɤɚɤɨɣ-ɬɨ ɫɨɢɦɟɧɧɢɤ, Ɍɨ ɛɵɥ ɧɟ ɹ, ɬɨ ɛɵɥ ɞɪɭɝɨɣ. Nein ich war nirgendwo und niemands Zeitgenosse, Solch eine Ehre passt mir nicht. Der meinen Namen trug – zuwider mir, verstoßen: Das war ein andrer, war nicht ich.45
Aber diese mit Negationsformen überfüllte Selbst-Verleugnung ist nicht eindeutig genug: »Nein nirgendwo und niemands Zeitgenosse« (»ɧɟɬ, ɧɢɤɨɝɞɚ, ɧɢɱɟɣ [...] ɫɨɜɪɟɦɟɧɧɢɤ«) klingt nicht nur wie eine Lossagung vom vorrevolutionären Mandel’štam, sondern auch wie eine Distanzierung vom aktuellen Zeitgeschehen. Diese Zweideutigkeit, ja Persönlichkeitsspaltung zwischen den Integrationsandrängen und Protesten, die manchmal mitten in einem Vers verlaufen, bleibt auch in den 1930er Jahren bestehen. So schreibt er 1931 ein anderes ›Integrationsgedicht‹, in dem er denjenigen antwortet, die ihm Wirklichkeitsferne vorwerfen: ɉɨɪɚ ɜɚɦ ɡɧɚɬɶ, ɹ ɬɨɠɟ ɫɨɜɪɟɦɟɧɧɢɤ, ə ɱɟɥɨɜɟɤ ɷɩɨɯɢ Ɇɨɫɤɜɨɲɜɟɹ,— ɋɦɨɬɪɢɬɟ, ɤɚɤ ɧɚ ɦɧɟ ɬɨɩɨɪɳɢɬɫɹ ɩɢɞɠɚɤ, Ʉɚɤ ɹ ɫɬɭɩɚɬɶ ɢ ɝɨɜɨɪɢɬɶ ɭɦɟɸ! ɉɨɩɪɨɛɭɣɬɟ ɦɟɧɹ ɨɬ ɜɟɤɚ ɨɬɨɪɜɚɬɶ,— Ɋɭɱɚɸɫɶ ɜɚɦ — ɫɟɛɟ ɫɜɟɪɧɟɬɟ ɲɟɸ! Zeit, dass ihr wisst: auch ich bin Zeitgenosse – Ich bin ein Mensch aus Moskaus Konfektion, Schaut her, wie beulig mir die Joppe sitzt, Wie ich zu schreiten weiß, und wie zu sprechen! Versucht mal, reißt mich los von dieser Zeit – Ich geb die Hand, ihr werdet euch den Hals nur brechen!46
Anfang der 1930er Jahre tritt die Verstaatlichung der Literatur und des Literaturbetriebs in ihre entscheidende Phase.47 Kollektivierungen finden nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Literatur statt. Mandel’štam, der bereits Ende der 1920er Jahre erste Hetzkampagnen erlebt hat und ab 1932 Publikationsverbot hat, rebelliert: Nach der Reise durch die hungernde Ukraine und die Krim (1933) verfasst er eine Reihe von bissigen, NKVD und Stalin verlachenden und anklagenden Gedichten. Im Epizentrum dieses Protestes steht das so genannte Stalin-Epigramm: Ɇɵ ɠɢɜɟɦ, ɩɨɞ ɫɨɛɨɸ ɧɟ ɱɭɹ ɫɬɪɚɧɵ, ɇɚɲɢ ɪɟɱɢ ɡɚ ɞɟɫɹɬɶ ɲɚɝɨɜ ɧɟ ɫɥɵɲɧɵ, Ⱥ ɝɞɟ ɯɜɚɬɢɬ ɧɚ ɩɨɥɪɚɡɝɨɜɨɪɰɚ,
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Mandel’štams 1993 (wie Anm. 1), S. 168f. Ossip Mandelstam, Mitternacht in Moskau, Die Moskauer Hefte: Gedichte 1930–1934, Zürich 1986, S. 78f. Zur »Verstaatlichung der Literatur« Mitte der 1930er Jahre vgl. Hans Günther, Die Verstaatlichung der Literatur, Stuttgart 1984.
»Allein der Name bleibet uns …«: Osip Mandel’štams Anonymitäten
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Ɍɚɦ ɩɪɢɩɨɦɧɹɬ ɤɪɟɦɥɺɜɫɤɨɝɨ ɝɨɪɰɚ. ȿɝɨ ɬɨɥɫɬɵɟ ɩɚɥɶɰɵ, ɤɚɤ ɱɟɪɜɢ, ɠɢɪɧɵ, Ⱥ ɫɥɨɜɚ, ɤɚɤ ɩɭɞɨɜɵɟ ɝɢɪɢ, ɜɟɪɧɵ, Ɍɚɪɚɤɚɧɶɢ ɫɦɟɸɬɫɹ ɭɫɢɳɚ, ɂ ɫɢɹɸɬ ɟɝɨ ɝɨɥɟɧɢɳɚ. Ⱥ ɜɨɤɪɭɝ ɧɟɝɨ ɫɛɪɨɞ ɬɨɧɤɨɲɟɢɯ ɜɨɠɞɟɣ, Ɉɧ ɢɝɪɚɟɬ ɭɫɥɭɝɚɦɢ ɩɨɥɭɥɸɞɟɣ. Ʉɬɨ ɫɜɢɫɬɢɬ, ɤɬɨ ɦɹɭɱɢɬ, ɤɬɨ ɯɧɵɱɟɬ, Ɉɧ ɨɞɢɧ ɥɢɲɶ ɛɚɛɚɱɢɬ ɢ ɬɵɱɟɬ, Ʉɚɤ ɩɨɞɤɨɜɭ, ɞɚɟɬ ɡɚ ɭɤɚɡɨɦ ɭɤɚɡ: Ʉɨɦɭ ɜ ɩɚɯ, ɤɨɦɭ ɜ ɥɨɛ, ɤɨɦɭ ɜ ɛɪɨɜɶ, ɤɨɦɭ ɜ ɝɥɚɡ. ɑɬɨ ɧɢ ɤɚɡɧɶ ɭ ɧɟɝɨ – ɬɨ ɦɚɥɢɧɚ ɂ ɲɢɪɨɤɚɹ ɝɪɭɞɶ ɨɫɟɬɢɧɚ.48 Und wir leben, doch die Füße, sie spüren keinen Grund, Auf zehn Schritt nicht mehr hörbar, was er spricht, unser Mund. Doch wenn’s reicht für ein Wörtchen, ein kleines – Jenen Bergmenschen im Kreml, ihn meint es. Nur zu hören vom Bergmenschen im Kreml, dem Knechter, Vom Verderber der Seelen und Bauernabschlächter. Seine Finger wie Maden so fett und so grau, Seine Worte wie Zentnergewichte genau. Lacht sein Schnauzbart dann – wie Küchenschaben, Und sein Stiefelschaft glänzt hocherhaben. Um ihn her – seine Führer, die schmalhalsige Brut, Mit den Diensten von Halbmenschen spielt er, mit Blut. Einer pfeift, der miaut, jener jammert, Doch nur er gibt den Ton – mit dem Hammer. Und er schmiedet, der Hufschmied, Befehl um Befehl – In den Leib, in die Stirn, dem ins Auge fidel. Jede Hinrichtung schmeckt ihm – wie Beeren, Diesem Breitbrust-Osseten zu Ehren.49
Bezeichnend ist in diesen heroischen selbstmörderischen Versen das Pronomen Wir. Das ist keine Kritik von außen, sondern von einem Zeitgenossen, von einem, der dazu gehört. Genau diese persönliche Zugehörigkeit zur anonymen Kollektivität gibt Mandel’štam überhaupt das Recht auf seine Anklage. Mandel’štam liest dieses Gedicht sehr vielen vor, nicht zuletzt in der Hoffnung, dass man ihn denunziert: Letztendlich wird er verhaftet.50 Das Gedicht liegt auf Stalins Tisch. Es fällt aber ein mildes Urteil: kein Gefängnis, kein Lager, sondern drei Jahre
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Osip Mandel’štam, Polnoe sobranie stichotvorenij, Sankt Petersburg 1995, S. 226. Mandelstam 1986 (wie Anm. 46), S. 165. Vgl. die aktuellsten Erkenntnisse und Hypothesen im Fall des so genannten Epigramms und der ersten Verhaftung Mandel’štams bei Pavel Nerler, »Stalinskaja premija za 1934 god«, in: Novyj mir, 10/2009, S. 142–172.
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Verbannung, zuerst im Uralgebiet und später noch milder: in Voronež, nicht so weit von Moskau. Bei Mandel’štam vollzieht sich – unter anderem nach einem erneuten, diesmal konkreten gescheiterten Selbstmordversuch – eine innere Transformation, ähnlich der Umwandlung, die früher Fedor Dostoevskij erlebt hat. Wegen Mitgliedschaft in einer revolutionären Gesellschaft wurde er zum Tode verurteilt. Erst auf dem Richtplatz begnadigte Zar Nikolaus Dostoevskij: Aus einem Sozialisten wurde ein regierungstreuer russophiler Monarchist. Etwas Ähnliches sollte Mandel’štam erlebt haben. Es überwiegt nun die Dankbarkeit für das geschenkte Leben. Das Todeserlebnis stellte Mandel’štam, so die Interpretation Michail Gasparovs,51 vor eine neue ethische Wahl, deren Richtung die Dankbarkeit für das Leben bestimmte: Die Schlüsselgedichte der Voronežer Jahre sind die über die Akzeptanz: zunächst über die Akzeptanz des Regimes und dann die Stalins.52 Mandel’štam hat – in seiner eigenen Wahrnehmung – nicht mehr den Hochmut, besser zu wissen als das sowjetische Volk und sein Anführer, wohin das Land steuert. 1935 schreibt Mandel’štam Stancy (Stanzen), in denen er seinen Willen ausspricht, am Zeitgeschehen samt den aktuellen sowjetischen Diskursen – von der Eroberung der Arktis bis zum Kampf gegen den Faschismus – teilzunehmen.53 1937 schreibt er die so genannte Stalin-Ode, in der Stalin besungen wird. Dieser Versuch scheitert aber – zwar schafft er eine Hymne, aber nicht in den erwünschten abgedroschenen Klischees der sowjetischen Panegyrika, sondern in einer komplexen und daher auch zweideutig zu lesenden Metaphorik. Der Integrationsversuch misslingt: Thematisch ist Mandel’štam dabei, stilistisch jedoch macht er nicht mit.54 Am Ende dieses dramatischen Protest- und Integrationsweges stehen die Verse vom unbekannten Soldaten, in denen die Anonymitätsproblematik in Mandel’štams Werk ihren Höhepunkt erreicht.55 Das lange Gedicht stellt zum einen ein Oratorium, eine To-
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Michail Gasparov, Izbrannye stat’i, Moskau 1995, S. 361. »ɇɟɫɨɫɬɨɹɜɲɚɹɫɹ ɫɦɟɪɬɶ ɫɬɚɜɢɥɚ Ɇɚɧɞɟɥɶɲɬɚɦɚ ɩɟɪɟɞ ɧɨɜɵɦ ɷɬɢɱɟɫɤɢɦ ɜɵɛɨɪɨɦ, ɚ ɛɥɚɝɨɞɚɪɧɨɫɬɶ ɡɚ ɠɢɡɧɶ ɩɪɟɞɨɩɪɟɞɟɥɹɥɚ ɧɚɩɪɚɜɥɟɧɢɟ ɷɬɨɝɨ ɜɵɛɨɪɚ. Ʉɥɸɱɟɜɵɟ ɫɬɢɯɢ Ɇɚɧɞɟɥɶɲɬɚɦɚ ɜɨɪɨɧɟɠɫɤɢɯ ɥɟɬ – ɷɬɨ ɫɬɢɯɢ ɨ ɩɪɢɹɬɢɢ: ɫɩɟɪɜɚ ɪɟɠɢɦɚ, ɩɨɬɨɦ ɜɨɠɞɹ«, Gasparov 1995 (wie Anm. 51), S. 361. Vgl. Ossip Mandelstam, Schwarzerde. Gedichte aus den Woronescher Hefte, Baden-Baden 1986, S. 22–27. Parallel zur Stalin-Ode entstehen das ›Reue-Gedicht‹ ɋɪɟɞɶ ɧɚɪɨɞɧɨɝɨ ɲɭɦɚ ɢ ɫɦɟɯɚ.../Mitten in des Volkes Rausch und Lachen… und das Loyalitätsbekenntnis im Gedicht ȿɫɥɢ ɛ ɦɟɧɹ ɧɚɲɢ ɜɪɚɝɢ ɜɡɹɥɢ.../Wenn unsre Feinde mich verhaften würden…. Die Verse vom Unbekannten Soldaten bildeten bereits ein Objekt zahlreicher Interpretationen; hier wären nur die wichtigsten zu erwähnen: Omri Ronen, »K sjužetu Stichov o neizvestnom soldate«, in: Slavica Hierosolymitana IV/1979 S. 214–222; Jurij Levin, »Zametki o poơzii Mandel’štama 30–ch gg.: Stichi o neizvestnom soldate«, in: Slavica Hierosolymitana, IV/1979, S. 185–213; Nadežda Mandel’štam, »Kommentarij k sticham 1930–37 gg.«, in: Žizn’ i tvorþestvo O. Ơ. Mandel’štama, Voronež 1990, S. 292–301 und, Vtoraja kniga, Moskau 1990, S. 393–397; Vjaþeslav Ivanov »Stichi o neizvestnom soldate v kontekste mirovoj poơzii«, in: Žizn’ i tvorþestvo O. Ơ. Mandel’štama. Voronež 1990, S. 356–367; Leonid Kacis , »Ơschatologizm i bajronizm pozdnego Mandel’štama: k analizu Stichov o neizvestnom soldate«, in: Stoletie Mandel’štama, London 1994, S. 119–135; Viktor Živov »Kosmologiþeskie utopii v vosprijatii bol’ševistskoj revoljucii i antikosmologiþeskie motivy v russkoj poơzii 1920–1930-ch
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tenmesse in Versen für Mandel’štams Zeit- und Altersgenossen dar, die im Ersten Weltkrieg anonym starben: ɉɨɦɧɢɬ ɞɨɠɞɶ, ɧɟɩɪɢɜɟɬɥɢɜɵɣ ɫɟɹɬɟɥɶ, Ȼɟɡɵɦɹɧɧɚɹ ɦɚɧɧɚ ɟɝɨ, Ʉɚɤ ɥɟɫɢɫɬɵɟ ɤɪɟɫɬɢɤɢ ɦɟɬɢɥɢ Ɉɤɟɚɧ ɢɥɢ ɤɥɢɧ ɛɨɟɜɨɣ. Ȼɭɞɭɬ ɥɸɞɢ ɯɨɥɨɞɧɵɟ, ɯɢɥɵɟ ɍɛɢɜɚɬɶ, ɯɨɥɨɞɚɬɶ, ɝɨɥɨɞɚɬɶ, – ɂ ɜ ɫɜɨɟɣ ɡɧɚɦɟɧɢɬɨɣ ɦɨɝɢɥɟ ɇɟɢɡɜɟɫɬɧɵɣ ɩɨɥɨɠɟɧ ɫɨɥɞɚɬ.56 Ist ein Manna, ohne Bedeutung: Sämann Regen erinnert sich schwer – Wie sie Kreuze zu Wäldern verstreuten, Diese See und die Keile vom Heer. Reihen knochiger frierender Menschen Stehn zum Hungern und Töten parat – Und ins Grab, allbekannt ist das Ende, Wird gelegt, anonym, ein Soldat.57
Im Original ist das Thema der Anonymität viel expliziter als in Ralph Dutlis Übersetzung: Das Manna ist namenlos,58 und der unbekannte Soldat wird in ein berühmtes Grab gelegt.59 Der Unbekannte Soldat, mit dem sich Mandel’štam identifiziert, lag, liegt und wird liegen in seinem »berühmten Grab«. In diesem Oxymoron manifestiert sich erneut die für Mandel’štam konstitutive Vereinigung der Anonymität und der Autorschaft, des Namenlosen und des Beim-Namen-Nennens. Das Motiv einer anonymen und zugleich »namentlichen« Selbstaufopferung geht in die Thematik der Auferstehung der Toten über:
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gg.«, in: Sbornik statej k 70-letiju prof. Ju. M. Lotmana, Tartu 1992, S. 411–433. Die aktuellsten Beiträge zur »Soldatologie«, die sich langsam aber sicher zur Einzeldisziplin innerhalb der Mandel’štam-Forschung etabliert, stellen die Artikel von Oleg Lekmanov, »Stichi o neizvestnom soldate: Povod«, in: Stich. Jazyk. Poơzija. Ɇoskva 2006, S. 305–308, und Aleksandr Morozov, »K istorii Stichov o neizvestnom soldate«, in: Stich. Jazyk. Poơzija, Ɇoskva 2006, S. 425–441, dar. Osip Mandel’štam, Stichotvorenija. Proza, Moskau 2001, S. 243. Ossip Mandelstam 1986 (wie Anm. 46), S. 109. »ɛɟɡɵɦɹɧɧɚɹ ɦɚɧɧɚ«, Mandel’štam 2001 (wie Anm. 56), S. 243. Vgl. hier auch eine für Mandel’štam interlinguistische paronymische Untermauerung der Metapher des namenlosen Mannas: Manna – Imja – Name. Vgl. die jüngste deutschsprachige Publikation zu Anagrammen und Paronymien im Themenkomplex »Der Dichter und der Henker« der Moskauer Gedichte bei Dagmar Burkhart, »Der Dichter und der Henker. Kryptographische Messages in Osip Mandel’štams Gedichten der 1930er Jahre«, in: Die Welt der Slaven LV/2010, H. 1, München/ Berlin, S. 27–44. »ɂ ɜ ɫɜɨɟɣ ɡɧɚɦɟɧɢɬɨɣ ɦɨɝɢɥɟ/ ɇɟɢɡɜɟɫɬɧɵɣ ɩɨɥɨɠɟɧ ɫɨɥɞɚɬ«, Mandelstam 1986 (wie Anm. 46), S. 109.
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Heinrich Kirschbaum Ɇɢɥɥɢɨɧɵ ɭɛɢɬɵɯ ɡɚɞɟɲɟɜɨ ɉɪɨɬɨɩɬɚɥɢ ɬɪɨɩɭ ɜ ɩɭɫɬɨɬɟ, – Ⱦɨɛɪɨɣ ɧɨɱɢ, ɜɫɟɝɨ ɢɦ ɯɨɪɨɲɟɝɨ Ɉɬ ɥɢɰɚ ɡɟɦɥɹɧɵɯ ɤɪɟɩɨɫɬɟɣ.60 Millionen von leichthin Getöteten, Die betraten im Leeren den Pfad – Alles Gute euch, Nacht ohne Nöte: Senden Erdfesten hin ihren Rat.61
Die Vergangenheit und die Zukunft vermischen und vereinen sich. Aus einem Requiem wird ein eschatologischer Aufruf zum letzten Gefecht gegen alle Kriege. Die christliche Lehre von den letzten Dingen vermischt sich mit dem Pathos der Weltrevolution; die bereits erwähnte, in Mandel’štams poetischen, übersetzerischen und publizistischen Arbeiten der 1920er Jahre hervorgehobene Verbindung bzw. Vermischung von Ökumene und Internationale kulminiert in diesen metaphorisch immer undurchdringlicher werdenden Versen. Das Andenken geht ins Visionäre über, die Agitation in die Apokalypse und umgekehrt. Als Vorboten von Harmagedon erscheinen in Mandel’štams poetischen Halluzinationen62 die Schlachten der Napoleonischen Kriege und des Ersten Weltkrieges – von der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz und der Leipziger Völkerschlacht über Waterloo bis zum Gemetzel von Verdun, das bereits zu Zeiten des Krieges zum Symbol des sinnlosen Tötens geworden ist. Und hier greift Mandel’štam auf seine literarischen Erfahrungen in der Thematisierung des Ersten Weltkrieges zurück; dabei stützt er sich intertextuell nicht zuletzt auf seine Toller- und Barthel-Übersetzungen. Dem Verdun-Thema, das im metaphorischen Gewebe der Verse über den unbekannten Soldaten präsent ist, begegnete Mandel’štam zum ersten Mal bei der Übersetzung von Barthels Verdun63 mit seinen Schützengräben und Giften der Gasangriffe. Der Titel des Gedichts selbst geht zurück auf Barthels Gedicht vom Unbekannten Soldaten, das das Motiv der Totenklage beinhaltet.64 Das Oratorium endet mit einem namentlichen Soldaten- bzw. Häftlingsappell, in den die Lebensdaten Mandel’štams, den Rhythmus des Gedichts brechend und in die Prosa übergehend, eingeschrieben werden: ɇɚɥɢɜɚɸɬɫɹ ɤɪɨɜɶɸ ɚɨɪɬɵ, ɂ ɡɜɭɱɢɬ ɩɨ ɪɹɞɚɦ ɲɟɩɨɬɤɨɦ: – ə ɪɨɠɞɟɧ ɜ ɞɟɜɹɧɨɫɬɨ ɱɟɬɜɟɪɬɨɦ... ə ɪɨɠɞɟɧ ɜ ɞɟɜɹɧɨɫɬɨ ɜɬɨɪɨɦ... ɂ, ɜ ɤɭɥɚɤ ɡɚɠɢɦɚɹ ɢɫɬɟɪɬɵɣ
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Mandel’štam 2001 (wie Anm. 56), S. 245. Mandelstam 1986 (wie Anm. 46), S. 115. Mandel’štam 2001 (wie Anm. 56), S. 244. Barthel 1920 (wie Anm 43), S. 75–77, Mandel’štam 1993, Bd. 2, S. 180–182. »Alles Schwere, was auf meinen Händen lastet...«, Barthel 1920 (wie Anm. 43), S. 88, Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 173.
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Ƚɨɞ ɪɨɠɞɟɧɶɹ, ɫ ɝɭɪɶɛɨɣ ɢ ɝɭɪɬɨɦ, ə ɲɟɩɱɭ ɨɛɟɫɤɪɨɜɥɟɧɧɵɦ ɪɬɨɦ: – ə ɪɨɠɞɟɧ ɜ ɧɨɱɶ ɫ ɜɬɨɪɨɝɨ ɧɚ ɬɪɟɬɶɟ əɧɜɚɪɹ ɜ ɞɟɜɹɧɨɫɬɨ ɨɞɧɨɦ ɇɟɧɚɞɟɠɧɨɦ ɝɨɞɭ, ɢ ɫɬɨɥɟɬɶɹ Ɉɤɪɭɠɚɸɬ ɦɟɧɹ ɨɝɧɟɦ.65 Von dem Blut schwellen an die Aorten Und ein Flüstern klingt hin durch die Schar: – Vierundneunzig, da bin ich geboren, – Und ich Zweiundneunzig, in jenem Jahr... Und dann preß ich, zerreibe im Fäustepaar Meine Jahrzahl, die zahllos geteilte, und ich flüstre mit blutleeren Lippen: Bin geboren zur Nachtzeit vom zweiten zum dritten Januar Einundneunzig, im glücklosen Jahr – Und wie Feuer umzingeln mich: Zeiten.66
Mandel’štam reiht sich ein in die Reihe der Namenlosen und der umsonst und doch nicht umsonst Gestorbenen. Der Plural der unbekannten namenlosen Opfer besteht aus den einzelnen, konkreten, beim Namen Genannten: Im zitierten Fragment schreit aus jedem Vers die erste Person Singular. In den zahlreichen Varianten des Gedichts gab es eine bezeichnende Fortsetzung dieses Soldatenappells: ɇɨ ɨɤɨɧɱɢɥɚɫɶ ɬɚ ɩɟɪɟɤɥɢɱɤɚ ɂ ɩɪɨɩɚɥɚ, ɤɚɤ ɜɟɫɬɶ ɛɟɡ ɜɟɫɬɟɣ, ɂ ɩɨ ɜɵɛɨɪɭ ɫɨɜɟɫɬɢ ɥɢɱɧɨɣ, ɉɨ ɭɤɚɡɭ ɜɟɥɢɤɢɯ ɫɦɟɪɬɟɣ ə – ɞɢɱɨɤ, ɢɫɩɭɝɚɜɲɢɣɫɹ ɫɜɟɬɚ, ɋɬɚɧɨɜɥɸɫɶ ɪɹɞɨɜɵɦ ɬɨɣ ɫɬɪɚɧɵ, ɍ ɤɨɬɨɪɨɣ ɩɨɩɪɨɫɹɬ ɫɨɜɟɬɚ ȼɫɟ, ɤɬɨ ɠɢɬɶ ɢ ɜɨɫɤɪɟɫɧɭɬɶ ɞɨɥɠɧɵ. [...] ɂ ɫɨɸɡɚ ɟɟ ɝɪɚɠɞɚɧɢɧɨɦ ɋɬɚɧɨɜɥɸɫɶ ɧɚ ɜɨɟɧɧɵɣ ɭɱɟɬ, ɂ ɜɫɟɥɟɧɧɨɣ ɟɟ ɫɟɦɶɹɧɢɧɨɦ ȼɫɹɤ ɠɢɜɭɳɢɣ ɦɟɧɹ ɧɚɡɨɜɟɬ...67 Aber dieser [Soldaten-]Appell ist zu Ende, er ist vermisst, wie eine Meldung ohne Meldung, Und nach der Wahl des persönlichen Gewissens, Nach dem Befehl der großen Tode, Werde ich, ein Wildling, der vor Licht erschrak, zum [gemeinen] Soldat jenes Landes, bei dem alle um Rat bitten werden, alle, die leben und auferstehen müssen.
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Mandel’štam 2001 (wie Anm. 56), S. 246. Mandelstam 1986 (wie Anm. 46), S. 123. Mandel’štam 1995 (wie Anm. 48), S. 504.
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Heinrich Kirschbaum […] Und als seiner Union Bürger Melde ich mich zum Militär, und als seines [des Landes] Universums Familienangehöriger wird mich jeder Lebende nennen…
Die apokalyptische Diktion, die per Definition eine Wir-Vorstellung ist, geht in die Topik des persönlichen poetischen »Exegi monumentum« über. Mandel’štams mit den Anspielungen auf den aktuellen politischen Diskurs untermauerte eschatologische Zukunftsvision korrespondiert hier bezeichnenderweise mit dem ebenfalls 1937 geschriebenen und am Anfang des vorliegendes Beitrages bereits zitierten Brief an Tynjanov, in dem der Dichter vom baldigen Zusammenfließen und Aufgehen seiner Verse in der russischen Sprache bzw. Dichtung spricht. Nach bzw. in dieser Selbstauflösung werden seine Gedichte »einiges an ihrem Bau und ihrer Beschaffenheit verändert haben«.68 Der Kreis der Anonymitäts- und Namhaftigskeits-Konzepte und Vorstellungen, die das Leben und Werk Mandel’štams mitbestimmt haben, schließt sich: Erst bzw. genau in der Anonymisierung wird die Anonymität durch die identitätstiftende willige Selbstauflösung und Selbstaufopferung überwunden und das potenziell Autorhafte und Persönliche wird zum Namenhaften und Individuellen, von dem »uns« jedoch letztendlich als Erinnerung, als »wundersamer Laut für lange Zeit« »allein der Name bleibet«.69
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Mandelstam 1999 (wie Anm. 14), S. 259, Mandel’štam 1993 (wie Anm. 1), Bd. 4, S. 177. »ɇɚɦ ɨɫɬɚɟɬɫɹ ɬɨɥɶɤɨ ɢɦɹ:/ ɑɭɞɟɫɧɵɣ ɡɜɭɤ ɧɚ ɞɨɥɝɢɣ ɫɪɨɤ«, Mandel’štam 1995 (wie Anm. 48), S. 135.
Anja Oesterhelt
»Verfasser unbekannt«? Der Mythos der Anonymität und Heinrich Heines Loreley
I.
Loreley unterm Hakenkreuz
Nicht jede Form von Anonymität ist auf eine Entscheidung des Autors zurückzuführen. Manche Namen wurden vergessen, andere bewusst unterdrückt. Einer der populärsten Fälle von unfreiwilliger Anonymität verbindet sich im 20. Jahrhundert mit Heinrich Heines Gedicht Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,1 das man in der Zeit des Nationalsozialismus, so ist allgemein zu lesen, weiter gedruckt, den Autor aber verschwiegen habe. Im ersten Jahrzehnt nach Zusammenbruch des ›Dritten Reiches‹2 waren es Otto Flake,3 Hannah Arendt,4 Walther Victor,5 Heinz Kamnitzer,6
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Das Gedicht trug in der ursprünglichen Fassung von 1824 keinen Titel; dieser ist erst in einer späteren Abschrift von 1838 überliefert. Ist im Folgenden der Kürze halber von der Loreley Heines die Rede, dann wird nicht die Schreibweise Heines übernommen (Lore-Ley), insofern hier Heines Gedicht als eine Variante einer ganzen Summe von literarischen Gestalten behandelt wird, die von ihren Autoren je unterschiedlich geschrieben werden (bei Brentano heißt es etwa Lore Lay oder Frau Lureley). Nur, wenn ein konkreter Titel gemeint ist, wird die je individuelle Schreibweise übernommen. Es gab in diesem Jahrzehnt nur wenige Stimmen, die Heine überhaupt gedachten. Zur nur sehr zögernden Wiederannäherung an Heine in Nachkriegsdeutschland vgl. Dietmar Goltschnigg/ Hartmut Steinecke (Hg.), Heine und die Nachwelt. Geschichte seiner Wirkung in den deutschsprachigen Ländern. Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare, Bd. 2: 1907–1956, Berlin 2008. Eine Ausnahme ist Friedrich Hirth, der sich 1946 unter dem Titel ›Der tote Heine singt noch immer‹. Der Dichter der ›Loreley‹ und die Nazizensur mit der Heine-Rezeption in der NSZeit beschäftigte; vgl. ebd., S. 128. Über den Umgang der Nationalsozialisten mit Heine schreibt Flake: »Sogar seine bittersten Feinde haben ihm bescheinigt, daß er sich nicht unterdrücken läßt. Als sie 1933 die Schulbücher ›reinigten‹, strichen sie seinen Namen unter der Lorelei, diese selbst aber nicht – sie blieb als angebliches Volkslied stehn. Eine größere Verbeugung auszudenken, fiele schwer, und ein skrupelloseres Verfahren ebenso.« Otto Flake, »Heinrich Heine«, in: Prisma (München) 1/1947, H. 4, S. 30–32, zit. n. Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 450. »Die Loreley haben die Nazis nicht aus den deutschen Gesangbüchern streichen können, wenn sie auch behaupten konnten, daß ihr Dichter ›unbekannt‹ sei.« Hannah Arendt, »Schlemihl und Traumweltherrscher«, in: Die verborgene Tradition. Sechs Essays, Heidelberg 1948, S. 84–91, zit. n. Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 462. Victor spricht von der »historischen Tatsache, daß noch vor sehr wenigen Jahren in Deutschland das bekannteste Volkslied, das seine Worte Heinrich Heine verdankt, nur mit der Feststellung ›Verfasser unbekannt‹ verbreitet werden konnte.« Walther Victor, Heine. Ein Lesebuch für unsere Zeit, Weimar 1950, S. 1, zit. n. Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 470. Kamnitzer erwähnt den Fall nur im Nebensatz: Heute sei Heine »nicht mehr ›von Amts wegen‹ [...] der unbekannte Dichter der Lorelei«. Heinz Kamnitzer, »Heinrich Heine und Deutschland«,
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Anja Oesterhelt
Carlo Schmid7 und Stephan Hermlin,8 die auf den Fall der Anonymisierung Heines hinwiesen – und noch zwei weitere Autoren: Ludwig Marcuse und Theodor W. Adorno. Sie haben den Fall 1951 bzw. 1956 wohl am folgenreichsten dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt.9 Seitdem und bis heute findet sich der Hinweis auf die nationalsozialistische Anonymisierung des ungeliebten Autors in unzähligen Beiträgen. So schreibt Heinz Politzer 1967, »daß die Machthaber des Tausendjährigen Reiches den jüdischen Verfasser dieses künstlichen Volksliedes als unbekannt erklärten«.10 Peter Hasubek notiert 1977 in einem Beitrag zu Heine als Schullektüre, dass während des Nationalsozialismus »Heines ›Lorelei‹ gelegentlich in Lesebüchern mit der Angabe ›Verfasser unbekannt‹ erscheint.«11 Klaus Briegleb bezeichnet 1986 »Dichter unbekannt« als »die vielzitierte Signierung der Loreley in NS-Anthologien«.12 Wolfgang Minaty berichtet 1988 dasselbe: »Es [das Gedicht] überdauerte selbst die zwölf braunen Jahre von 1933 an. Der Jude Heinrich Heine brannte zwar auf dem Scheiterhaufen, aber die Nazis wagten es nicht, dieses Gedicht zu eliminieren. Nur der Autor sollte aus dem Gedächtnis verschwinden.
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in: Über Literatur und Geschichte, Schwerin 1954, S. 140–152, zit. n. Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 482. Schmid spricht von den »Barbaren des Dritten Reiches, die den Deutschen die Lorelei zwar nicht nehmen konnten und sie darum in den Liederbüchern lassen mussten, aber doch mit der Bemerkung versahen: ›Dichter unbekannt...‹«. Carlo Schmid, »›Denk‹ ich an Deutschland in der Nacht‹. Eine Heinrich-Heine-Rede«, Berlin 1956, zit. n. Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 518. Über Heine schreibt Hermlin: »Er, dessen berühmte ›Lorelei‹ noch unter der Herrschaft der Schlächter nicht auszurotten gewesen war, so daß sich die Usurpatoren gezwungen sahen, sie zum anonymen Volkslied zu stempeln, womit sie ihm einen Schimpf anzutun beabsichtigten und ihm doch nur, gegen ihren Willen, die höchste Ehre erwiesen hatten, die einem Dichter widerfahren kann?« Stephan Hermlin, »Über Heine«, in: Sinn und Form 8/1956, H. 1, S. 78–90, zit. n. Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 527. »Mit vielen anderen Dichtern und Denkern wurde auch Heine verbannt [... ]. Aber auf ein Produkt Heineschen Schaffens konnten selbst die Nazis nicht verzichten: auf die populäre ›Loreley‹. Sie deklamierten sie. Sie sangen sie. Sie sandten sie durch’s Radio. Und fügten feige hinzu: ›Dichter – unbekannt‹. Inzwischen aber überlebte der ›unbekannte‹ Dichter die bekanntesten Deutschen der Jahre 1933–1945.« Ludwig Marcuse, Heinrich Heine. Ein Leben zwischen gestern und morgen, Hamburg 1951, S. 342. Marcuses Buch erschien in erster Auflage 1932 in Berlin; hier fehlt die entsprechende Passage noch. Erst in der hier zitierten zweiten Auflage von 1951 ist sie enthalten und findet sich auch unverändert in der jüngsten Ausgabe: Ludwig Marcuse, Heinrich Heine. Melancholiker, Streiter in Marx, Epikureer, Zürich 1980. Vgl. ferner Adornos Radioessay von 1956: Theodor W. Adorno, »Die Wunde Heine«, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 2: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1974, S. 95–100, hier S. 95. Heinz Politzer, »Das Schweigen der Sirenen«, in: Das Schweigen der Sirenen. Studien zur deutschen und österreichischen Literatur, Stuttgart 1968, S. 13–41, hier S. 34 (zu Heines Loreley S. 30–35). Der Aufsatz erschien zuerst 1967. Peter Hasubek, »Ausbürgerung – Einbürgerung? Heinrich Heine als Schullektüre. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte«, in: Heinrich Heine. Artistik und Engagement, hg. v. Wolfgang Kuttenkeuler, Stuttgart 1977, S. 305–332, hier S. 325, Anm. 17. Klaus Briegleb, Opfer Heine? Versuche über Schriftzüge der Revolution, Frankfurt a. M. 1986, S. 73, Anm. 4.
»Verfasser unbekannt«?
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›Verfasser unbekannt‹ hieß es in den Lesebüchern.«13 Bernd Kortländer schreibt 1990 von »Aufsehen« erregenden Fällen, »wo willfährige Herausgeber die Verfasserangabe durch den Hinweis ›Volkslied‹ oder ›Verfasser unbekannt‹ ersetzten.14 Jocelyne Kolb berichtet 1995 von der »lächerliche[n] Lösung« des Vermerks, die die Nazizeit erfunden habe. Das Gedicht sei »durch die Vertonung so tief ins nationale Bewußtsein eingedrungen, daß man seinen jüdischen Autor zu einer Zeit, da er zur persona non grata wurde, nicht mehr aus dem Gedächtnis streichen konnte.«15 Heinrich Lindlar verweist 1999 auf die Benennung des Heine-Gedichts als »Volkslied« nach 1933.16 Und, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, auch in der dritten, überarbeiteten Auflage des Heine-Handbuchs von 2004 vermerkt Gerhard Höhn: »noch heute [wird das Gedicht] im Ausland als das deutsche Volkslied zitiert [...]. Dagegen war auch die NS-Zeit machtlos, die das Gedicht einfach zum Volkslied erklärte und den Autor mit der Bezeichnung ›Verfasser unbekannt‹ zwar neutralisieren, aber nicht totkriegen konnte.«17 Exilliteratur Den möglichen Quellen des »berühmt gewordenen ›Verfasser[s] unbekannt‹«, von dem Adorno 1956 sprach, ist Bernd Kortländer 1998 erstmals nachgegangen. Seine Ergebnisse wurden 2005 von Hartmut Steinecke ergänzt.18 Zusammengenommen mit einem Fund von Katja Cza rnowski aus dem Jahr 2001 ergibt sich folgendes Bild: Schon im Juni 1934 notiert die Journalistin Bella Fromm in ihrem Tagebuch, Heine sei unter den Nazis zum ›unbekannten Verfasser‹ geworden: Ein Kollege habe ihr erzählt, »daß Heines Lorelei-Gedicht in den Schulen weiterhin gesungen werden darf. In
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Wolfgang Minaty, »Vorwort«, in: Die Loreley. Gedichte. Prosa. Bilder. Ein Lesebuch von Wolfgang Minaty, Frankfurt a. M 1988, S. 9–18, hier S. 16. Bernd Kortländer, »Nachwort«, in: Heinrich Heine, Buch der Lieder, hg. v. Bernd Kortländer, Stuttgart 1990, S. 373–402, hier S. 402 (in der Ausgabe von 2006 unverändert enthalten). Kortländer ist es dann freilich, der schon 1993 in seinem Nachwort zu einer Gedicht-Ausgabe von Heine auf die fehlende Bestätigung der entsprechenden Berichte hinweist (vgl. Bernd Kortländer, »Nachwort«, in: Heinrich Heine, Gedichte, hg. v. Bernd Kortländer, Stuttgart 1993, S. 187– 204, hier S. 192) und dann 1998 die Stichhaltigkeit der These in Zweifel zieht, wie im Folgenden gezeigt werden wird. Jocelyne Kolb, »Die Loreley oder die Legende um Heine«, in: Bernd Kortländer (Hg.), Interpretationen. Gedichte von Heinrich Heine, Stuttgart 1995, S. 52–71, hier S. 53. Kolb ist die einzige der hier aufgeführten Autoren, die darauf hinweist, dass bisher kein konkreter Beleg vorliegt, vgl. ebd., S. 53, Anm. 1. Heinrich Lindlar, Loreley-Report. Heinrich Heine und die Rheinlied-Romantik, Köln-Rheinkassel 1999, S. 139. Gerhard Höhn, Heine-Handbuch. Zeit, Person, Wirkung, dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart/Weimar 2004, S. 67. Vgl. eine ähnliche Formulierung in der ersten Auflage: Gerhard Höhn, Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk, Stuttgart 1987, S. 57. Vgl. Bernd Kortländer, »Le poète inconnu de la ›Loreley‹. Le médiateur supprimé«, in: Romantisme, 1998/n°101: Heine le médiateur, S. 29–40 und Hartmut Steinecke, Heinrich Heine im Dritten Reich und im Exil, Paderborn 2008; vgl. zugleich Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2).
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den Schulbüchern heißt es jedoch: ›Verfasser unbekannt‹.«19 Der erste publizierte Text zum Fall stammt vermutlich vom Germanisten Walter A. Berendsohn, in dessen 1935 im Exil veröffentlichtem Heine-Buch zu lesen ist: Gegenwärtig herrschen in Deutschland die Anhänger des Rassenwahns. Die Denkmäler Heines werden entfernt, seine Bücher verbrannt und verboten, sein Name in den Bann getan, obwohl man in grober Unwissenheit manchmal seine Verse im Kampf verwendet. Die ›Loreley‹ in seiner Fassung wird weiter abgedruckt und gesungen, aber darunter steht: ›Verfasser unbekannt‹.20
Im folgenden Jahr scheint sich dieser erschreckende Fall von Zwangsanonymisierung dann wie ein Lauffeuer über die europäische, russische und amerikanische Exilszene verbreitet zu haben: Ludwig Marcuse prophezeit in einem am 15. Februar 1936 in Paris erschienenen Gedenkartikel zum 80. Todestag Heines, dass »eines Tages [...] der Verfasser der ›Loreley‹ in Deutschland nicht mehr ›ein unbekannter Dichter‹ sein« werde.21 Balder Olden beginnt seinen am 17. Februar 1936 in der Moskauer Deutschen ZentralZeitung veröffentlichten Artikel damit, dass in »einer Sammlung von Gedichten, die im Dritten Reich erschien, [...] die ›Loreley‹ abgedruckt [sei] mit dem Zusatz ›Verfasser unbekannt‹.«22 Louis Aragon schreibt am 23. Februar 1936 in L’Humanité: »À tel point que le beau poème de Heine, ›Lorelei‹, que tous les enfants apprennent en Allemagne, figure dans les anthologies nazies sans nom d’auteur, comme si c’était une chanson populaire.«23 Ein Bericht über die Londoner Schriftstellerkonferenz im Juni 1936 zitiert Gustav Regler, der »die offizielle Einstellung der Nazis gegenüber der Kultur der Vergangenheit« mit dem »bitter absurde[n] Beispiel« illustriert, dass Heines »Lied von der Loreley [...] in ›korrekten‹ Anthologien als ›Altes Volkslied, Verfasser unbekannt‹ figuriere«.24 Ernst Toller, der übrigens Präsident eben dieses ›Ersten Internationalen
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Bella Fromm, Als Hitler mir die Hand küsste, Berlin 1993, S. 19. Tagebucheintrag vom 19. Juni 1934. Der Journalistenkollege heißt Richard, er wird als »Freund und Kollege bei der Zeitung« (ebd., S. 192) bezeichnet, die Anmerkungen machen keine weiteren Angaben. Vgl. den Hinweis in Katja Czarnowski, »Die Loreley«, in: Deutsche Erinnerungsorte, hg. v. Etienne François/Hagen Schulze, Bd. 3, München 2001, S. 488–502, hier S. 497. Czarnowskis Aufsatz ist der einzige mir bekannte Beitrag zur Heine-Forschung, der die Annahme, Heines Text sei im ›Dritten Reich‹ anonym erschienen, mit einer Quelle stützt – wenn diese Quelle auch unzuverlässig ist. Walter A. Berendsohn, Der lebendige Heine im germanischen Norden, Kopenhagen 1935, S. 21. Der jüdische Germanist Berendsohn exilierte 1933 aus Deutschland nach Dänemark. Das von Berendsohn selbst signierte und den »Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen Literatur in Weimar« gewidmete Exemplar, das ich eingesehen habe, war bisher noch nicht gelesen, es wurde für mich erst aufgeschnitten. Ludwig Marcuse, »Heinrich Heine aus Deutschland. Gestorben am 17. Februar 1856 zu Paris«, in: Das Neue Tage-Buch 4, Heft 7, 15.2.1936, S. 163–165, hier S. 165, zit. n. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 66. Balder Olden, »Der unbekannte Barde«, in: Deutsche Zentral-Zeitung, 17.2.1936, S. 2, zit. n. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 66f. Die Deutsche Zentral-Zeitung war das Blatt der deutschen Sektion der kommunistischen Internationale. Zit. n. Kortländer 1998 (wie Anm. 18), S. 39. Es handelt sich um das Parteiblatt der französischen Kommunisten. Derek Kahns Referat über den Beitrag Gustav Reglers zit. n. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 67.
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Schriftstellerkongresses‹ war und den Beitrag Reglers wohl gekannt hat, lässt in seinem im amerikanischen Exil entstandenen, 1939 veröffentlichten Drama Pastor Hall eine Gestalt das Gedicht Heines »Im wunderschönen Monat Mai ...« zitieren, um sie hinzufügen zu lassen: »Dichter unbekannt, wie es heute heißt.«25 Und 1939 wiederholt auch Berendsohn noch einmal in der in Oxford erscheinenden Contemporary Review seine Feststellung: »In anthologies as everywhere else his name has vanished at the foot of the Loreley, now ascribed to an ›unknown poet‹«.26 Bis auf den Tagebucheintrag von Fromm, der noch in Deutschland selbst notiert wird (will man Fromm nicht eine nachträgliche Bearbeitung der später publizierten Tagebücher unterstellen), stammen alle Quellen aus der Exilszene 1933–1945. Auch Fromms Tagebücher sind allerdings als Teil der Exilliteratur zu betrachten, insofern sie von der 1938 Emigrierten erstmals 1943 in England und den USA veröffentlicht werden. Loreley 1933–1945 In einem Punkt gleichen sich alle Beiträge zum Anonymitäts-Fall Heine von der Exilliteratur bis zur unmittelbaren Gegenwartsforschung: Niemand belegt die Behauptung der Zwangsanonymisierung mit einer Quelle. Allein Bella Fromm gibt in ihrem Tagebuch einen gewissen Richard als Informationsquelle an, einen Berichterstatter aus zweiter Hand also, der seinerseits keine konkrete Quelle nennt. In allen anderen Fällen wird wie von einer allgemein bekannten Tatsache gesprochen, die eines Beleges nicht bedarf. Bernd Kortländer ist der erste, der 1998 auf diese Sachlage aufmerksam macht und damit zugleich die Stichhaltigkeit der Behauptung in Frage stellt.27 Und Hartmut Steinecke ist bis heute der einzige, der in seinen Forschungen an diese Ergebnisse von Kortländer anschließt.28 Kortländers These, Heines Loreley sei in der NS-Zeit vermut-
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Ernst Toller, Gesammelte Werke, hg. v. John M. Spalek/Wolfgang Frühwald, Bd. 3: Politisches Theater und Dramen im Exil (1927–1939), München, 2. Auflage 1995, S. 266. Kortländer machte zuerst auf Tollers Text aufmerksam (Erstdruck 1939 auf Englisch; verfilmt wurde es 1940 in England). Walter A. Berendsohn, »Heine and our Times«, in: The Contemporary Review (Oxford), vol. 157/1939, S. 708–714, hier S. 708, zit. n. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 67. Kortländer 1998 (wie Anm. 18), nur auf Französisch publiziert. Jüngst verweist Kortländer noch einmal auf sein Ergebnis, vgl. Bernd Kortländer, »›Ich bin ein deutscher Dichter‹«. Liebe und Unglück in Heines ›Buch der Lieder‹«, in: Heine-Jahrbuch 45/2006, S. 59–73, hier S. 60. Den Hinweis auf die von Kortländer in Zweifel gezogene Echtheit der Anonymitäts-Behauptung und damit die Anregung für die Recherchen, die zu diesem Aufsatz führten, verdanke ich Martin Otto. Hinweise auf die Zweifelhaftigkeit der Behauptung gibt es seit Kortländers Beitrag in der jüngeren Forschungsliteratur vereinzelt und auch einmal außerhalb der Forschung. So verweist Wolf Biermann in seinem Gedichtband Paradies uff Erden darauf, dass es sich beim ›Dichter unbekannt‹ unter der Loreley zwischen 1933 und 1945 um eine »erfundene Legende« handele. Als Quelle benennt Biermann Bernd Kortländer. Wolf Biermann, »Loreley«, in: Paradies uff Erden. Ein Berliner Bilderbogen, Köln 1999, S. 60–61, hier S. 60. Vgl. auch das im selben Band enthaltene Gedicht »Die Rheinfahrt«, das sich mit dem Loreley-Mythos vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus auseinandersetzt; ebd., S. 62–63. Innerhalb der Forschung sind mir fol-
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lich nie gedruckt worden, weder mit noch ohne Nennung des Autornamens, bin ich in Bibliotheks- und Antiquariatsrecherchen und der historischen Schulbuchsammlung des Georg-Eckert-Instituts in Braunschweig nachgegangen, da sie von Kortländer hier und an anderer Stelle29 nur unzulänglich untermauert worden und im Detail durchaus zu modifizieren ist.30 Alle Ergebnisse stützen indes Kortländers Kernthese: Den Zusatz »Verfasser unbekannt« hat es im Zusammenhang mit Heine wahrscheinlich nie gegeben.
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gende Hinweise auf die Zweifelhaftigkeit der Behauptung bekannt: Gertrude Cepl-Kaufmann, »›ergreift es mit wildem Weh‹. Kritik, Parodie und literarische Rezeption im 20. Jahrhundert«, in: Die Loreley. Ein Fels im Rhein. Ein deutscher Traum. Ausstellungskatalog, hg. von Mario Kramp/Matthias Schmandt, Mainz am Rhein 2004, S. 131–139, hier S. 136; Joseph A. Kruse, »›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten‹. Heine und die Folgen«, in: Kramp/Schmandt 2004 (wie Anm. 28), S. 67–73, hier S. 69f. Weitere Hinweise auf die Unklarheit der Anonymitätsbehauptung gibt es in der jüngeren Forschungsliteratur, allerdings sind diese zweideutig. So schreibt Klaus F. Gille zwar von dem ausstehenden Beleg, bleibt aber dabei, dass die Nationalsozialisten »das Lied nicht verbieten« konnten (Klaus F. Gille, »›Ein Märchen aus alten Zeiten...‹. Heines ›Loreley‹«, in: Jattie Enklaar/Hans Ester/Evelyene Tax (Hg.), Schlüsselgedichte. Deutsche Lyrik durch die Jahrhunderte. Von Walther von der Vogelweide bis Paul Celan, Würzburg 2009, S. 79– 88, hier S. 86). Auch Sven Hanuschek schreibt unter Verweis auf Bernd Kortländers Darstellung von 2003 (vgl. Anm. 29) auf den bisher ausstehenden Beleg, fügt aber hinzu: »das Gedicht wurde unter dem nationalsozialistischen Regime eher ohne Namensnennung gedruckt.« Sven Hanuschek, »Ich weiß nicht was soll es bedeuten«, in: Heinrich Heine. 10 Gedichte (Erläuterungen und Dokumente), Stuttgart 2007, S. 45–67, hier S. 50. »Immerhin ist nur so zu erklären, dass der Text [die Loreley] auch noch in Liederbüchern der Hitlerjugend zu finden ist, wenngleich natürlich ohne Angabe des Verfassers. Jenes berühmte ›Verfasser unbekannt‹, das sich angeblich unter dem Abdruck des Gedichts in Lesebüchern der NS-Zeit gefunden haben soll, ist nach dem bisherigen Kenntnisstand Teil des nach Kriegsende konstruierten deutschen Entlastungsmythos. Zumindest ließ sich bislang trotz intensiver Suche noch kein Beleg nachweisen.« Bernd Kortländer, Heinrich Heine, Stuttgart 2003, S. 91f. Es werden keine Belege angeführt, auch nicht für den Hinweis auf die Liederbücher der Hitlerjugend. Dieser Hinweis wird später nicht wieder aufgegriffen, obwohl Kortländer auch an anderer Stelle auf seine Ergebnisse verweist, vgl. Kortländer 2006 (wie Anm. 27). Kortländer gibt an, über fünfzig Schulbücher eingesehen zu haben, ohne aber diese Angabe zu präzisieren: »Après une enquête effectuée sur une cinquantaine de livres, j’ai constaté qu’à partir de 1933 Heine est absent des manuels scolaires dans lesquels il était jusqu’alors représenté.« Kortländer 1998 (wie Anm. 18), S. 37. Und: »Le résultat empirique de l’enquête menée sur plus de cinquante livres de l’époque contredit cette thèse.« Ebd., S. 38. Zum Korpus der überprüften Anthologien werden keine spezifischen Angaben gemacht, vgl. ebd., S. 38. Die historische Schulbuchsammlung des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung (GEI) beherbergt aber aktuell 884 Lesebücher für das Fach Deutsch aus dem Erscheinungszeitraum 1933–1945. Aufmerksam wurde ich auf dieses Missverhältnis zwischen Kortländers Korpus und den tatsächlichen Schulbuchmengen durch die Dissertation von Jan Thiele, die Fibeln des ›Dritten Reiches‹ untersucht und allein in diesem Bereich des ersten Schuljahres auf 124 verschiedene Exemplare zurückgreifen konnte. Aktuell verfügt das GEI sogar über 208 Fibelausgaben aus dem genannten Erscheinungszeitraum. Vgl. Jan Thiele, Der Beitrag der Fibeln des 3. Reiches zur Vermittlung der nationalsozialistischen Ideologie. Eine kritische Analyse ihrer Inhalte, Oldenburg 2005. Ich danke den Mitarbeitern des Georg-Eckert-Instituts, insbesondere Frau Schattenberg, sehr herzlich für die freundliche Unterstützung meiner Recherchen.
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In den Zeugnissen aus dem Exil schwanken die Angaben, wo sich der Zusatz ›Verfasser unbekannt‹ eigentlich befunden haben soll. Im vermutlichen Initialtext von Berendsohn 1935 bleibt die Aussage völlig unspezifisch. In Fromms Tagebuch war ein Jahr früher die Rede von Schulbüchern; in den Texten von 1936 überwiegt dagegen deutlich die Rede von Anthologien, auch Berendsohn selbst spricht 1939 von Anthologien. Nach 1945 ist, sofern spezifiziert wird, teilweise von Schulbüchern, teilweise von Anthologien die Rede. Schulbücher: Heinrich Heine, der in den Schulbüchern vor dem Nationalsozialismus immer vertreten war, wenn auch zurückhaltend und in einseitiger Auswahl,31 ist in den Lesebüchern für das Fach Deutsch seit 1933 schnell verschwunden.32 Sind für 1933 noch 22 Lesebücher nachweisbar, die Texte Heines enthalten (Belsazer und Loreley sind die mit Abstand meist gewählten Gedichte),33 so sind es 1934 nur noch
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Selbst ein in Sachen Vermittlung von ›Deutschkunde‹ im Deutschunterricht kritisch eingestellter Pädagoge wie Martin Havenstein warnt in seiner Schrift Die Dichtung in der Schule von 1927 vor der Verwendung von Texten Heines: »Daß man im deutschen Unterricht Heinrich Heine keinen breiten Raum widmen wird, versteht sich von selbst. Heine ist es trotz seiner tiefen Vertrautheit mit der deutschen Sprache nicht gelungen, ganz zum Deutschen zu werden. Dies scheint überhaupt den Kindern anderer europäischer Völker, zum Beispiel den Franzosen (man denke an Fouqué, Chamisso und Fontane), leichter zu fallen als den Juden, die doch schon lange mit uns leben.« Zit. n. Horst Joachim Frank, Dichtung, Sprache, Menschenbildung. Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945, Bd. 2, München 1976, S. 948, Anm. 1253. Frank macht keine konkreten Angaben zum Umgang des nationalsozialistischen Deutschunterrichts mit Heine. Eingesehen wurden alle im Georg-Eckert-Institut vorhandenen Schulbücher für das Fach Deutsch aus der Epoche 1933–1945 vom 2. Schuljahr bis zum Abitur, von allen Schultypen – Volksschule, Mittelschule, Gymnasium, Berufsschule, Sonderschule, Tertiärer Bereich – und Zusatzliteratur, die u. a. auch Gedichtanthologien einschließt. Aktuell umfasst die historische Schulbuchsammlung 884 Lesebücher aus dem Erscheinungszeitraum 1933 bis 1945, zusätzlich 208 Fibelausgaben aus dem gleichen Zeitraum. Die erstaunlich hohe Zahl erklärt sich damit, dass bis zuletzt das Schulbuchwesen offenbar nicht vollständig zentralisiert war. Die verschiedenen Verlage boten für jede Klassenstufe eigene Schulbücher an, die sich teilweise für Jungen- und Mädchenschulen unterschieden, diese Schulbücher erleben zwischen 1933 und 1945 wiederum oft mehrere, meist veränderte Auflagen. Entgegen Kortländers Behauptung, ab 1933 hätte es keinen Text von Heine mehr in den Schulbüchern gegeben, sind es tatsächlich neun Lesebücher, in denen 1933 Heines Loreley (und teilweise zusätzlich andere Texte Heines) mit Nennung des Autornamens erscheint und dreizehn weitere Lesebücher, in denen im selben Jahr andere Texte Heines erscheinen. Die Loreley wird in folgenden Schulbüchern gedruckt: Aus der Heimat. Lesebuch für die Volksschulen Badens, 2. Teil, 4. und 5. Schuljahr, Lahr i. Br. 1933; Vaterländisches Lesebuch, Ausgabe D in 3 Teilen, Bd. 2, 5. und 6. Schuljahr, 3. Auflage, Leipzig 1933; Der Garten. Deutsches Lesebuch für höhere Mädchenschulen aller Arten, 1. Bd, hg. v. Heinrich Brinker, 3., v. Hans Röhl neu durchgesehene Auflage, Berlin 1933; O Deutschland hoch in Ehren. Eine Auswahl deutscher Gedichte für die heranwachsende Jugend besorgt von Peter Kolb, 7., unveränderte Auflage, Frankfurt a. M. 1933; Lesebuch für die evangelischen Schulen der Rheinprovinz, Ausgabe für den Regierungsbezirk Düsseldorf, 3. Teil, 5. bis 8. Schuljahr, Bielefeld /Leipzig 1933; Deutsches Gedichtbuch, hg. v. Deckelmann/Johannesson, 8. Auflage, Berlin 1933; Vom Blütenbaum. Eine Gedichtsammlung
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sieben,34 1935 noch zwei,35 1936 noch eines.36 1937 existieren keine seiner Texte mehr in deutschen Schulbüchern. In allen Fällen, in denen Heines Texte in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus gedruckt wurden, ist allerdings auch sein Name verzeichnet. Weder die Loreley noch ein anderer Text Heines erschienen also zwischen 1933 und 1945 in einem der eingesehenen Schulbücher mit dem Zusatz »Verfasser unbekannt«. Die schon in Schulbüchern des 19. Jahrhunderts zu den meist gewählten Texten Heines zählende Loreley37 ist auch 1933 noch in neun Fällen – mit Nennung des Autornamens – in den Schulbüchern vertreten,38 schon 1934 nimmt dies mit drei Fällen, 1935 zwei Fällen und 1936 einem Fall kontinuierlich ab.39 Ab 1937 gab es vermutlich kein deutsches Schulbuch mehr, in dem Heines Loreley erschienen ist. Meistens werden die Schulbücher, in denen Heine bis dahin vertreten war, als Ganze nicht mehr aufgelegt. In einem Fall wird Heines Gedicht ersatz- und kommentarlos gestrichen,40 in einem anderen durch eine andere Loreley-Version ersetzt.41 Dass dies die absolute Ausnahme ist, korrespondiert mit dem Befund, dass Schulbücher nur in sehr seltenen Fällen überhaupt das Loreley-Sujet aufgreifen. Der Abdruck der Versionen von Brentano und Eichendorff
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mit Bildern deutscher Künstler, Ausgabe B, Frankfurt a. M. 1933; Lebensgut. Ein deutsches Lesebuch für höhere Schulen, 1. Teil, Frankfurt a. M. 1933; Frische Fahrt. Eine Auswahl deutscher Gedichte für die reifere Jugend von Wilhelm Friedrich, 4., unveränderte Auflage Frankfurt a. M. 1933. Es handelt sich um drei Lesebücher, in denen 1934 Heines Loreley gedruckt wird und um vier weitere Lesebücher, in denen im selben Jahr andere Texte Heines erscheinen: Die Loreley erscheint in: Jugendland. Lesebuch für die braunschweigischen Volksschulen, bearbeitet vom amtlichen Lesebuchausschuß, Ausgabe in zwei Bänden, 1. Band für das 5. und 6. Schuljahr, Braunschweig 1934; Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, Ausgabe für Westdeutschland, 4. Teil (für Tertia), 8. Auflage, Münster in Westfalen 1934; Lebensgut. Ein deutsches Lesebuch für höhere Schulen, 1. Teil, 9. Auflage, Frankfurt a. M. 1934. 1935 sind es zwei Lesebücher, die die Loreley bringen; andere Texte sind nicht mehr zu finden: Aus der Heimat. Lesebuch für die Volksschulen Badens, 2. Teil, 4. und 5. Schuljahr, Lahr i. Br. 1935; Blumenlese deutscher Gedichte. Für höhere Schulen nach den Klassen zusammengestellt von F. Böckelmann, 9. Auflage, Bielefeld/Leipzig 1935. Lebensgut. Ein deutsches Lesebuch für höhere Schulen, 1. Teil, 12. Auflage, Frankfurt a. M. 1936. Vgl. Peter Hasubek, »Ausbürgerung – Einbürgerung? Heinrich Heine als Schullektüre. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte«, in: Heinrich Heine. Artistik und Engagement, hg. v. Wolfgang Kuttenkeuler, Stuttgart 1977, S. 305–332, hier S. 306. Vgl. Anm. 33. Vgl. Anm. 34, 35 und 36. Enthält das betreffende Lesebuch in den Auflagen von 1933, 1934 und 1936 noch die Loreley, ist sie in der 13., überarbeiteten Auflage von 1937 nicht mehr enthalten. Vgl. Lebensgut. Ein deutsches Lesebuch für höhere Schulen, 1. Teil, Frankfurt a. M. 1937. Enthält die 4. Auflage von 1933 des betreffenden Lesebuches noch fünf Gedichte Heines, sind im Nachdruck der 4. Auflage (auf eine Bearbeitung wird an keiner Stelle hingewiesen!) sämtliche Texte Heines gestrichen; an der Stelle von Heines Loreley erscheint nun die Version Clemens Brentanos. Vgl. Frische Fahrt. Eine Auswahl deutscher Gedichte für die reifere Jugend von Wilhelm Friedrich, Nachdruck der 4. Auflage, Frankfurt a. M. 1937.
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ist eher selten,42 in einem Fall wurde die Lore Lei Wolfgang Müllers von Königswinter in einer der nationalsozialistischen Ideologie gemäßen Kürzung gedruckt.43 Tatsächlich also erscheint die Loreley keinesfalls anonym, sondern der Autor und sein Text verschwinden nach und nach aus den Schulbüchern. Die Nazis lösen damit die Forderung eines Hetzartikels von 1888 mehr als ein, »der Name Heine [müsse] aus unseren Schulbüchern verschwinden«,44 indem sie eben nicht nur den Namen, sondern auch jede Erinnerung an ihn in Form seiner Texte zum Verschwinden bringen. Anthologien: Eine historische Sammlung von Lyrikanthologien gibt es leider nicht, aber immerhin eine von Dietger Pforte zusammengestellte Auswahlbibliographie deutschsprachiger Anthologien von 1800 bis 1950.45 Von allen 323 Titeln, die sie für den Zeitraum 1933–45 verzeichnet (teilweise auch verschiedene Auflagen einer Ausgabe), konnten 302 Titel schon wegen ihrer gattungsspezifischen (Prosaanthologien z. B.), ihrer zeitlichen (Dichtung des Barock z. B.) oder thematischen Ausrichtung (Anthologien zum bäuerlichen Leben z. B.) ausgeschieden werden. Von den verbleibenden 21 Titeln konnte
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Sechs Lesebücher drucken die Version Clemens Brentanos, drei Lesebücher die Joseph von Eichendorffs, eines die von Wolfgang Müller von Königswinter. Brentano wird gedruckt in: Ewiges Deutschland, Schroedels Lesebuch für Mittelschulen für den Gau Schleswig-Holstein, Gedichtsammlung, 3. Band, Klasse 3–6, Halle a. d. Saale 1942; Ewiges Deutschland, Schroedels Mittelschullesewerk. Versband für die Klassen 4–1, Halle a. d. Saale o.J. [ca. 1941]; Der Gefährte. Deutsche Dichtung aus zweihundert Jahren, hg. v. Jakob Kneip, 10., neubearbeitete Auflage, Frankfurt a. M. 1937; Ihr sollt brennen! Deutsche Gedichte, gesammelt von Rudolf Hennesthal/K. Friedrich Probst, Frankfurt a. M. 1936; Nordwestdeutsches Lesebuch. Ein deutsches Lesebuch für die höheren Schulen Niedersachsens, 5. und 6. Teil, 5., überarbeitete Auflage, Frankfurt a. M. 1937; Die deutsche Romantik. Eine Auswahl, neue, stark erweiterte Bearbeitung von Hermann Jantzen, Bielefeld/Leipzig 1937. Eichendorff wird gedruckt in: Gedichtsammlung, hg. v. Edmund von Sallwürk, 13., unveränderte Auflage Frankfurt a. M. 1933; Erbe und Auftrag. Deutsches Lesebuch für Jungen, 8. Klasse, Bielefeld und Leipzig 1940; Die deutsche Romantik. Eine Auswahl, neue, stark erweiterte Bearbeitung von Hermann Jantzen, Bielefeld/Leipzig 1937; Königswinter wird gedruckt in: Unsterbliches Deutschland, Heft 4. Rheinische Heimat. Bilder vom deutschen Wesen und Wollen, Lesestoffe für das 7. und 8. Schuljahr, o.O. o.J. (ca. 1938). Die von Königswinter selbst herausgegebene Version von 1857 umfasst zehn Strophen (vgl. Wolfgang Müller von Königswinter, Lorelei. Rheinisches Sagenbuch, 3. Auflage, Köln 1857, S. 213–215), die im nationalsozialistischen Lesebuch gedruckte Version nur noch sechs (vgl. Unsterbliches Deutschland, Heft 4. Rheinische Heimat. Bilder vom deutschen Wesen und Wollen. Lesestoffe für das 7. und 8. Schuljahr, o.O. o.J. (ca. 1938), S. 18f.). In der Kürzung wird nicht mehr die Vorgeschichte der Loreley als männermordende, mächtige Sagengestalt sichtbar; nur noch die vom männlichen Ritter bezwungene, leidende und schwache Frau bleibt in dieser Version übrig. Unverfälschte Deutsche Worte, Wien 6/1888, Nr. 1, S. 3f., zit. n. Heine und die Nachwelt. Geschichte seiner Wirkung in den deutschsprachigen Ländern. Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare, hg. v. Dietmar Goltschnigg/Hartmut Steinecke, Bd. 1: 1856–1906, Berlin 2006, S. 51. Dietger Pforte, Auswahlbibliographie deutschsprachiger Anthologien von 1800 bis 1950, in: Die deutschsprachige Anthologie, hg. v. Joachim Bark/Dietger Pforte, Bd. 1: Ein Beitrag zu ihrer Theorie und eine Auswahlbibliographie des Zeitraums 1800–1950, Frankfurt a. M. 1970, S. 1–159.
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ich 19 Titel in den Bibliotheks- oder Antiquariatsverzeichnissen ausfindig machen.46 Der Befund gleicht dem für die Schulbücher: Weder in den auflagenstarken Anthologien wie dem Echtermeyer47 oder Will Vespers Ernte der deutschen Lyrik,48 noch in kleinen Lyriksammlungen ist Heines Loreley mit dem Zusatz ›Verfasser unbekannt‹ zu finden. Sind Texte – und der Name – Heines in Lyrikanthologien von 1932 selbstverständlich noch vertreten,49
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Teilweise allerdings in anderen Auflagen, als in der Auswahlbibliographie angegeben. Folgende Titel wurden eingesehen: Ruth Andreas-Friedrich (Hg.), Lieder, die die Welt erschütterten. Historische Lieder aus vier Jahrhunderten, Leipzig 1935; Ernst Bertram/August Langen/Friedrich v. der Leyen (Hg.), Das Buch deutscher Dichtung, Bd. 5: Die Zeit der Romantik, Leipzig 1939; Theodor Echtermeyer, Auswahl deutscher Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neugestaltet v. Richard Wittsack, 48. Aufl., Halle a. d. S./Berlin 1936; Gerhard Fricke (Hg.), Volksbuch deutscher Dichtung, Berlin 1937; Ludwig Goldschneider (Hg.), Die schönsten deutschen Gedichte. Ein Hausbuch deutscher Lyrik von den Anfängen bis heute, 3., geänderte und vermehrte Auflage, Wien/Leipzig o.J. [1933]; Heinz Grothe (Hg.), Das liebste Gedicht, Königsberg 1944; Edgar Hederer (Hg.), Deutsche Gedichte, Bd. 2, München/Berlin 1944; Walther Hofstaetter/Georg Usadel (Hg.), Aus reinem Quell. Deutsche Dichtung von Hölderlin bis zur Gegenwart, 2., erw. Aufl., Leipzig 1938; Katharina Kippenberg (Hg.), Deutsche Gedichte, Leipzig 1937; Katharina Kippenberg (Hg.), Deutsche Gedichte, Leipzig 1941; Willi August Koch (Hg.), Hausschatz deutscher Dichtung. Das Buch vom deutschen Volksgut. Geleitwort von Richard Euringer, Berlin o.J. [1937]; Kurt Krippendorf (Hg.), Von Klopstock bis Anacker. Deutsche Gedichte aus zwei Jahrhunderten, Berlin 1937; Arthur Laudien (Hg.), Deutsche Lyrik von Klopstock bis zur Gegenwart, Bielefeld/Leipzig 1939; Rudolf Mirbt (Hg.), Das deutsche Herz. Ein Volksbuch deutscher Gedichte, Berlin 1934; Martin Raschke (Hg.), Deutscher Gesang, Leipzig o.J. [1940]; Wilhelm von Scholz (Hg.), Das deutsche Gedicht. Ein Jahrhundert deutsche Lyrik, Berlin 1941; Will Vesper (Hg), Die Ernte der deutschen Lyrik, Ebenhausen bei München/Leipzig 1936; Will Vesper (Hg.), Aus tausend Jahren. Deutsche Balladen und historische Lieder, Gütersloh 1938; o.Hg., Der tausendjährige Rosenstrauch. Deutsche Gedichte aus tausend Jahren. Wien/Leipzig/ Zürich 1938. −Nicht eingesehen wurden: Wilhelm Elsner (Hg.), Unvergängliche deutsche Lyrik, Hamburg 1942; J. J. Liessem (Hg.), Poesie fürs Haus. Eine Auswahl von Gedichten, besonders aus der neueren Zeit, Köln 1934. Vgl. Theodor Echtermeyer (Hg.), Auswahl deutscher Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neugestaltet von Richard Wittsack, 48. Aufl., Halle a. d. S./Berlin 1936. So auch die Ergebnisse in Elisabeth Katharina Paefgen, Der ›Echtermeyer‹ (1836–1981). Eine Gedichtanthologie für den Gebrauch in Höheren Schulen. Darstellung und Auswertung seiner Geschichte im literatur- und kulturhistorischen Kontext, Frankfurt a. M. u. a. 1990 (zu Heine S. 208–212). Heine gehörte seit der 4. Auflage von 1845 zu den aufgenommenen Dichtern im Echtermeyer; seitdem ist in allen Auflagen die Loreley enthalten. Mit der Wittsackschen Echtermeyer-Bearbeitung werden dann sämtliche Texte Heines gestrichen. Zwischen dem Erscheinen der 47. Auflage 1931 und der Wittsackschen 48. Auflage von 1936 enthält die gültige Echtermeyer-Ausgabe also noch die Loreley. Insofern drückt sich Paefgen nicht korrekt aus, wenn es bei ihr heißt, dass ab 1933 »nicht ein Gedicht dieses Autors weiterhin zum Bestand der Sammlung zählt« (ebd., S. 210). Vgl. Will Vesper (Hg.), Die Ernte der deutschen Lyrik, 38. Aufl., Ebenhausen bei München/ Leipzig 1936. Schon in der Ausgabe von 1932 taucht kein Text Heines auf; genauso wenig in der 40. Auflage von 1940. Vgl. z. B. Arthur Laudien (Hg.), Deutsche Lyrik von der Zeit des Dreißigjährigen Krieges bis zur Gegenwart, Bielefeld/Leipzig 1932. In dem Nationalsozialismus nahen Publikationen wie denen von Will Vesper fehlt Heine dagegen selbstverständlich auch schon vor 1933, vgl. Anm. 48.
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so findet sich 1933 nur noch eine neu aufgelegte50 und ab 1934 überhaupt keine Anthologie mehr mit Texten Heines. Eine Ausnahme stellen Büchmanns Geflügelte Worte dar, die noch in der Volksausgabe von 1943 auf vier Seiten insgesamt 32 Wendungen, Zeilen und Strophen Heines wiedergeben, darunter die vier ersten und beiden letzten Zeilen der Loreley. Der Hinweis auf ihren Autor fehlt nicht – und auch nicht der auf seine jüdische Herkunft.51 Denn schon in der 28. Auflage von 1937 rechtfertigen die Herausgeber Gunther Haupt und Werner Rust in ihrem Vorwort das Verbleiben von geflügelten Worten ›nichtarischen‹ Ursprungs damit, dass es »heute wichtig ist, feststellen zu können, ob eine Redensart jüdischer Herkunft ist oder nicht«.52 Am grundsätzlichen Befund, dass der Nationalsozialismus sehr vollständig und erfolgreich versuchte, nichts mehr an Heines Namen und Heines Texte erinnern zu lassen, ändert die Vergegenwärtigung Heines im Büchmann nichts. Allenfalls stößt man auf Spuren der Auslöschung Heines, etwa auf das merkwürdige Versehen, das dem Züricher Verlag Reichner im Jahr 1938 unterlaufen ist: In der Gedichtanthologie Der tausendjährige Rosenstrauch ist im Verzeichnis der Gedichtanfänge der Eintrag »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« zu lesen;53 im Verzeichnis der Autoren findet man unter dem Eintrag »Heinrich Heine« neben der Loreley sogar noch fünf weitere Heine-Gedichte.54 Schlägt man aber auf den angegebenen Seiten nach,55 findet man statt der erwarteten
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Ludwig Goldschneider (Hg.), Die schönsten deutschen Gedichte. Ein Hausbuch deutscher Lyrik von den Anfängen bis heute, 3., geänderte und vermehrte Auflage, Wien/Leipzig, o.J. [1933]. Von Heine sind neun Gedichte aufgenommen; nicht jedoch die Loreley. Im Autorenverzeichnis wird erläutert: »geistreicher, scharfer Prosaiker; stimmungsvoller, oft volkstümlicher Lyriker, vielfach durch nihilistische Ironie vergiftet.« Ebd., S. 472. Vgl. Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes gesammelt und erläutert von Georg Büchmann. Volksausgabe der von Gunther Haupt und Werner Rust neubearbeiteten 29. Auflage des Hauptwerkes bearbeitet von Werner Rust, Berlin 1943. Hartmut Steinecke weist auf die Erwähnung im Büchmann hin und stellt durch den Vergleich der Vorworte verschiedener Ausgaben den schmalen Grad zwischen Opportunismus und verdecktem Rettungsversuch überzeugend dar. Vgl. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 39–42. Das Zitat im Zusammenhang lautet: »Die Herausgeber glauben – im Gegensatz zu manchen neueren Nachschlagewerken – nicht, daß es zweckmäßig sei, solche geflügelten Worte kurzweg aus dem Büchmann zu streichen, die auf einen nichtarischen Urheber zurückgehen. Gerade weil es heute wichtig ist, feststellen zu können, ob eine Redensart jüdischer Herkunft ist oder nicht, will der Büchmann auch fernerhin über solche Worte Auskunft geben. Selbstverständlich sind die jüdischen Autoren als solche gekennzeichnet worden, und es wird auch ausdrücklich darauf hingewiesen, daß etwa das Verbleiben Heinrich Heines in dem Kapitel ›Aus deutschen Schriftstellern‹ nicht besagen soll, daß die Herausgeber ihn dem deutschen Schrifttum zurechnen. Diese Kapitelüberschriften besagen nur etwas über die Sprache, in der ein geflügeltes Wort ursprünglich entstanden ist.« Werner Rost und Gunther Haupt im Vorwort zu Georg Büchmann (Hg.), Geflügelte Worte, Berlin 1937, zit. n. Joseph Wulf, Literatur und Dichtung im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Gütersloh 1963, S. 411. o.Hg., Der tausendjährige Rosenstrauch. Deutsche Gedichte aus tausend Jahren, Wien/Leipzig/ Zürich 1938, S. 479. Der Herausgeber bleibt ungenannt, das »Geleit« ohne Unterzeichnung. Vgl. ebd., S. 463. Vgl. ebd., S. 331–334.
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Heine-Gedichte Gedichte von Friedrich Rückert, bei denen im Fall der ersetzten Loreley sogar versucht wurde, einen ähnlichen Titel zu finden. So wurde das offenbar ursprünglich vorgesehene Ich weiß nicht, was soll es bedeuten Heines gegen Ich weiss nicht, was mir die Flügel genommen von Rückert ausgetauscht. Die scheinbar im letzten Moment neu eingesetzten Gedichte Rückerts sind wiederum nicht in den Verzeichnissen am Ende des Bandes aufgeführt. Kulturpolitik der Auslöschung Gerade dieser nicht vollständig geglückte Versuch, die Spuren Heinrich Heines zu tilgen, bekräftigt den Eindruck, dass in der NS-Zeit im Hinblick auf Heine eine Kulturpolitik der Auslöschung betrieben und von Schulbuchverlagen, Anthologieherausgebern und anderen Teilen des Kulturbetriebs widerstandslos getragen wurde. Ausgelöscht werden sollte die Erinnerung an den Autor Heinrich Heine, aber auch die Erinnerung an seine Loreley. Die Beobachtung, dass in den Schulbüchern nur ein einziges Mal die heinesche gegen eine andere Loreley-Version ausgetauscht wird, ja selbst in entsprechenden Schulbuchkapiteln, die Lokalsagen versammeln, Texte zur Loreley meist fehlen, entspricht dem Befund bei Anthologien: Nur in zwei Fällen, dem Echtermeyer und Will Vespers Aus tausend Jahren, ist die Loreley in der Version Brentanos oder Eichendorffs enthalten.56 Es entsteht der Eindruck, dass die Erinnerung an den prominenten Text Heines auch nicht indirekt durch andere, weniger berühmte Versionen des Stoffes wachgerufen werden soll.57 Damit korrespondiert, dass schon 1933 der Stürmer forderte: »Nazis singen die Loreley nicht!«58 »[A]uf den reichlich gefühlsduseligen und in unser heutiges Volk, namentlich aber nicht in unsre kampfbereite Jugend passenden Text der Loreley«, so heißt es an anderer Stelle, »können wir gern verzichten, denn wir wollen nicht traurig dahindämmern, sondern frischen Mutes [...] voranstürmen«.59 Es gibt allerdings zumindest ein prominentes Gegenbeispiel gegen die These, dass die Loreley in der NS-Zeit keine Rolle einer nationalen Identitätsstifterin gespielt hat: die ab 1934 bis kurz vor Kriegsausbruch auf dem Felsplateau von St. Goarshausen, oberhalb des Loreley-Felsens, errichtete
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Vgl. Theodor Echtermeyer (Hg.), Auswahl deutscher Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von Richard Wittsack, 48. Aufl., Halle a. d. S./Berlin 1936; Will Vesper (Hg.), Aus tausend Jahren. Deutsche Balladen und historische Lieder, Gütersloh 1938. In Prosa-Sagensammlungen kommt die Loreley zwar vor, spielt aber eine auffällig untergeordnete Rolle; ein Verweis auf Heine in den teilweise vorhandenen Anmerkungen und Kommentaren findet sich nicht. Vgl. z. B. Gerhard Fricke (Hg.), Volksbuch deutscher Dichtung, Berlin 1937, S. 208f.; Goswin Peter Gath, Das Naturgeisterbuch. Gestalten und Sagen, Köln 1941, S. 143–145; Goswin Peter Gath, Rheinische Sagen. Von der Quelle bis zur Mündung, Köln 1943, S. 146–148. Dr. B., Nazis singen die Lorelei nicht!, in: Der Stürmer 11/1933, Nr. 40, zit. n. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 35, Anm. 72. Georg Spandau, »Heinrich Heine im deutschen Lied«, in: Das Deutsche Podium. Fachblatt für Ensemble-Musik und Musik-Gaststätten, München, 4, Nr. 11, 13.3.1936, S. 1f., hier S. 1, zit. n. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 36.
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völkisch-nationale Spielstätte, eine jener sogenannten ›Thingstätten‹.60 Auch existiert ein Ufa-Film von 1937, in dem die Klänge der silcherschen Heine-Vertonung zu hören waren.61 Doch diese beiden Fälle scheinen vor dem Hintergrund der sonst so mageren Ausbeute in Bezug auf die Loreley eher als Ausrutscher, nicht als Hauptlinie der nationalsozialistischen Kulturpolitik gelten zu können. Diese lief eher auf ein gänzliches Verschweigen als ein öffentliches Bekämpfen Heines hinaus. Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen, zu denen Hartmut Steineckes jüngst vorgelegte Studie zu Heinrich Heine im Dritten Reich und im Exil kommt. Sie dürften bahnbrechend für eine Heine-Forschung sein, die bisher nicht nur in Sachen Loreley, sondern grundsätzlich in Sachen Heine ihren Autor allzu ungeprüft den Stereotypen des ›Verbrannten und Verbotenen‹ überließ. Steinecke kann hier differenzieren und in Teilen auf Grundlage von Volker Dahms Studie Das jüdische Buch im Dritten Reich nachweisen, dass Heine zwar zu den unerwünschten Autoren zählte, dass er aber beispielsweise nicht auf der sogenannten ›Schwarzen Liste‹ stand, die die Grundlage der symbolischen Bücherverbrennungen bildete62 – auch wenn in der Forschung allerorten vom ›verbrannten Autor‹ die Rede ist63 – und dass es bis 1940 ebenso wenig ein offizielles Verbot für Heines Schriften gab.64 In vielen Fällen verschwand Heines Werk freilich auch ohne solche öffentlichen Verbote aus dem deutschen Buchhandel.65 Bis zum flächendeckenden Verbot sämtlichen ›jüdischen Schrifttums‹ im April 1940 wurden Werke Heines zwar
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Ausführlich zur Thing-Stätte oberhalb der Loreley vgl. Paul-Georg Custodis, »›die Wellen verschlingen am Ende Schiffer und Kahn‹. Die Loreley in der NS-Zeit«, in: Kramp/Schmandt 2004 (wie Anm. 28), S. 141–147. Im Ufa-Spielfilm Regine von 1937 wird bei einer Rheinfahrt die Loreley in der Vertonung Friedrich Silchers gespielt. Darauf verweist Volker Dahm, Das jüdische Buch im Dritten Reich, 2., überarbeitete Auflage, München 1993, S. 161. Unklar bleibt bei Dahms Ausführungen, ob nur die Melodie zu hören war oder tatsächlich auch der Liedtext Heines. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 13–17. Steineckes Studie erscheint im selben Jahr wie sein zusammen mit Dietmar Goltschnigg herausgegebener zweiter Band von Heine und die Nachwelt, in dem die selben Ergebnisse vorgestellt werden; vgl. Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2). Volker Dahms Studie erschien schon 1979 und 1981 in zwei Teilen im Archiv für Geschichte des Buchwesens und in einem Sonderdruck der Buchhändler-Vereinigung, wurde aber von der Heine-Forschung scheinbar kaum wahrgenommen. Im Kapitel zu Heinrich Heine kann Dahm detailliert belegen, »daß das im wesentlichen aus Erinnerungen gespeiste Wissen über diese Vorgänge [den Umgang der NS-Behörden mit den Schriften Heines] dem historischen Sachverhalt nicht entspricht«. Dahm 1993 (wie Anm. 61), S. 160. Zur nicht belegten Bücherverbrennung vgl. ebd., S. 160. Volker Dahm nennt Drews und Kantorowicz als Urheber dieser Ansicht, vgl. Richard Drews/ Alfred Kantorowicz, Verboten und Verbrannt. Deutsche Literatur – 12 Jahre unterdrückt, Berlin/ München 1947, hier S. 6. Vgl. Dahm 1993 (wie Anm. 61), S. 160. Vgl. auch Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 11. Vgl. ebd., S. 17. Im April 1940 wurde pauschal sämtliches ›jüdisches Schrifttum‹ indiziert und damit automatisch auch sämtliche Schriften Heines. Vgl. auch Kortländer 1998 (wie Anm. 18), S. 35. So zogen etwa der Insel-Verlag und der Prophyläen-Verlag ihre Heine-Ausgaben von sich aus zurück. Vgl. Dahm 1993 (wie Anm. 61), S. 164.
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mit Ausnahme des Judaica-Buchhandels66 (der immerhin bis zum Juli 1937 ›arisches‹ Publikum beliefern durfte) 67 nicht neu publiziert, auch wurde die Werbung für HeinePublikationen im Februar 1937 untersagt,68 die Werke selbst waren aber ohne Probleme weiter erhältlich; noch 1939 wird in einem Vermerk der Gestapo festgehalten, dass ein generelles Verbot sämtlicher Werke von Heine nicht angebracht sei.69 Die Verlautbarungen zu Heine in der Presse, in den Literaturgeschichten und anderen fachwissenschaftlichen Publikationen des ›Dritten Reiches‹, die Steinecke zusammengetragen hat,70 sind praktisch durchweg durch einen aggressiven, polemischen und herabsetzenden Ton gekennzeichnet. Dennoch konstatiert Steinecke auch hier angesichts der auffällig geringen Zahl der Zeugnisse, dass im Verhältnis zu anderen befehdeten Autoren auch in diesem Bereich das Verschweigen die Polemik bei weitem überwiegt. So erwähnt Richard Benz in seiner weit verbreiteten Darstellung Die deutsche Romantik. Geschichte einer geistigen Bewegung (1937; 4. Aufl. 1944) Heine einfach nicht und verschweigt ihn im Zusammenhang mit der Loreley71 und in der Literaturgeschichte von Franz Koch heißt es knapp: »[a]ller Streit um Heine erledigt sich mit dem Hinweis auf sein Judentum«.72 So wie also Heine von der Literaturwissenschaft mehr totgeschwiegen als offen bekämpft wird, scheint es auch mit dem schwer von ihm zu trennenden Loreley-Stoff gegangen zu sein. So dürfte es etwa auch kein Zufall sein, dass der bis heute viel zitierte Aufsatz Ernst Beutlers zum Loreley-Stoff erst 1947 in seine (erstmals 1941 erschienenen) Essays um Goethe – aus Vorsicht? erzwungenermaßen? – aufgenommen wird oder aufgenommen werden kann.73 Die Zeugnisse der sich lautstark gegen Heine wendenden Publizistik verbindet ebenfalls eine Forderung: Die Annihilierung des Autors. Will Vesper wettert in einem Artikel von 1936 darüber, dass ihm drei Literaturgeschichten bekannt seien (zwei von ihnen vor 1933, die dritte 1934 erschienen), die Heine positiv erwähnten, aber trotzdem immer
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Im jüdischen Schocken Verlag erschienen 1936 und 1937 zwei Texte Heines neu: In der Reihe ›Schocken-Bücherei‹ erscheint 1936 eine von Werner Kraft herausgegebene Auswahlausgabe mit dem Titel Gedichte und Gedanken und 1937 der Rabbi von Bacherach. Vgl. Dahm 1993 (wie Anm. 61), S. 356f. Die von Dahm genannte Auswahlausgabe Gedichte und Gedanken konnte ich leider nicht auffinden – interessant wäre natürlich, ob hier die Loreley aufgenommen wurde. Vgl. ebd., S. 184. Vgl. ebd., S. 184, Anm. 100. Vgl. ebd., S. 165. Vgl. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 20–30. Richard Benz, Die deutsche Romantik. Geschichte einer geistigen Bewegung, Leipzig 1937. Clemens Brentano habe mit seiner Version der Loreley den Mythos geschaffen, »ein Anderer« ihm später seine populäre Form gegeben (ebd., S. 168). In der Nachkriegsausgabe von 1956 »fällt Benz der Name wieder ein«, wie bei Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 174, Anm. 227 nachzulesen ist. Franz Koch, Geschichte der deutschen Dichtung, Hamburg, 5. Auflage, 1942, S. 200, zit. n. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 26f. Am Ende des Aufsatzes ist auch von Heinrich Heines Version die Rede, die zum »Volkslied geworden« sei. Ernst Beutler, »›Der König in Thule‹ und die Dichtungen von der Loreley«, in: Essays um Goethe, hg. v. Christian Beutler, Frankfurt a. M./Leipzig 1995, S. 333–388, hier S. 381.
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noch in den Schulen verwendet würden.74 Die beiden 1936 in unterschiedlichen Organen der NSDAP unter dem gleichen Titel Schluß mit Heinrich Heine! gedruckten Artikel von Otto Klein und Wolfgang Lutz scheinen mit ihrem Titel deswegen den Kern der Kulturpolitik gegenüber Heine getroffen zu haben. Otto Klein doziert: »Eine deutsche Buchhandlung, die heute Heines Bücher zum Verkauf anbietet, verdient nicht, eine deutsche Buchhandlung zu sein. Nicht minder der Volksgenosse, der Gedichte von Heinrich Heine noch immer weiter liest und schön findet.«75 Und Wolfgang Lutz fordert, den Abdruck von Heine in sämtlichen Schulbüchern einzustellen, ja ihn grundsätzlich nicht mehr zu verlegen sowie jegliche Forschungstätigkeit bezüglich Heine einzustellen.76 Nicht in allen Fällen war man sich einig, wie mit Heine umzugehen sei. Besonders problematisch stellte sich der Umgang mit den Vertonungen heinescher Gedichte durch ›arische‹ Komponisten wie Robert Schumann oder Franz Schubert da r. Ob diese nun noch gespielt werden dürften, darüber waren sich die zuständigen Dienststellen uneinig, zumal mit einem Verbot wesentliche Teile von Robert Schumanns Liederwerk so gut wie nicht mehr spielbar gewesen wären. In der anhaltenden Kontroverse, die mit den Vorschlägen eines generellen Verbots, einer Neudichtung der vertonten Texte unter Beibehaltung der Melodie oder doch einer Freigabe der Texte teilweise groteske Züge annahm und entsprechend von der Exilpresse kommentiert wurde,77 gab es auch die während eines Liederabends erprobte Variante, den Autor von drei vorgetragenen Liedern im Programmheft nicht anzugeben. Umgehend berichtet die Parteizeitschrift Das
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»Was nützen alle ›Reichsstellen zur Förderung des deutschen Schrifttums‹, Kultur- und Schriftstellerkammern, wenn so noch immer am grünen Holz gesündigt werden darf. Diese ›Literaturgeschichten zum Unterrichtsgebrauch‹ sind schuld daran, daß die deutsche Jugend und das ganze ›Volk der Dichter und Denker‹ ein so lahmes und fades Verhältnis zur echten deutschen Dichtung haben. Hier ist die Wurzel des Übels, an die man schleunigst die Axt anlegen muß. Besser gar keine Literaturgeschichte in der Schule als solcher Mottengeist!« Will Vesper, »Unsere Meinung«, in: Die Neue Literatur, Februar 1936, S. 114–116, zit. n. Wulf 1963 (wie Anm. 52), S. 409. Otto Klein, »Schluß mit Heinrich Heine! Heine ein deutscher Dichter? – Ein Blick in eines der trübsten Kapitel der deutschen Literaturgeschichte«, in: Westdeutscher Beobachter, Amtliches Organ der NSDAP und sämtlicher Behörden, 1.3.1936. Neue Zeit. Beilage zum geistigen Leben, Folge 41, zit. n. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 23. Ein Auszug des Textes von Klein ist auch zu finden in: Wulf 1963 (wie Anm. 52), S. 408. »Zum ersten: weil Heine kein Deutscher ist, hat er nie und nimmer in der deutschen Literaturkunde, die Ehrenhalle nur deutscher Dichter ist, in keinem Lese- und Lernbuch als deutscher Dichter Eingang zu finden und gar gefeiert zu werden. [... ] . / Zum anderen soll endlich alle Arbeit über den Fall Heine auf das allermindeste Maß eingeschränkt werden. Alle Kraft deutscher Forscher, die auf [... ] Heinrich Heine [... ] verschwendet und vergeudet worden ist, wäre auf wertvollere Aufgaben und Fragen, die die deutsche Literatur so reichlich stellt, besser aufgewendet. Künftig gilt deutsche Forschungsenergie deutschen Dichtern! / Zum dritten darf sich kein deutscher Verleger mehr finden, der zu den bisherigen zwei Dutzend Heine-Ausgaben noch eine weitere fügt, während gute deutsche Dichter in innerer Bangigkeit vergehen, weil ihnen kein Verleger beispringt.« Wolfgang Lutz, »Schluß mit Heinrich Heine!«, in: Nationalsozialistische Monatshefte, hg. v. Alfred Rosenberg, Zentrale politische und kulturelle Zeitschrift der NSDAP (München) 7/1936, H. 78, S. 792–818 (zur Loreley S. 799–805), hier S. 817. Vgl. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 30–36, sowie Dahm 1993 (wie Anm. 61), S. 161–163.
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Schwarze Korps am 3.6.1937 von diesem aus ihrer Perspektive unsäglichen Vorfall, denn es handele »sich bei diesen um keine Dichtungen eines unbekannten Deutschen, dessen Name von der Zeit im Laufe der Jahrhunderte verweht wurde, sondern um drei Reimereien Heinrich Heines, dessen Kunst nicht um ein Haar arischer wird, wenn man einfach seinen Namen wegläßt, sondern der nach wie vor ein ausgewachsener Jude bleibt«.78 Ein Vorfall wie dieser macht deutlich, dass die Entscheidung, den Autor Heine zu verschweigen, auch bei deutlich weniger bekannten Liedern als der Loreley nicht gelang (es handelte sich um die Lieder Die Lotosblume, Du bist wie eine Blume und Was will die einsame Träne?) und noch dazu von einem Parteiorgan aufgedeckt wurde. Gerade die Parteiorgane halten die Anonymisierung also für kein befriedigendes Mittel beim Umgang mit Heine. Die grundsätzliche Kulturpolitik der Auslöschung Heines, so lässt sich resümieren, deckt sich also mit dem Befund der zunehmend vollständigen Abwesenheit Heines in Schulbüchern und Anthologien der NS-Zeit, innerhalb derer Heine nicht einmal als ›unbekannter Verfasser‹ geduldet war.
II.
Die Genese eines Mythos
Der Befund der Absenz von Heines Loreley im ›Dritten Reich‹ steht freilich quer sowohl zum kollektiven Gedächtnis, das die Nachricht von Heines Anonymisierung bis heute für plausibel hält, als auch zur individuellen Erinnerung zahlreicher ›Zeitzeugen‹, die in ihrer Jugend eben das berühmte ›Verfasser unbekannt‹ unter Heines Loreley in ihren Schulbüchern gelesen zu haben behaupten,79 genauso wie jener ominöse Richard, von dem Bella Fromm die Nachricht zuerst erhalten haben will. Eine endgültige Aussage über die Stichhaltigkeit dieser Erinnerung ist schwer möglich, denn so wie zwei der Titel, die Pfortes ohnehin unvollständige Bibliographie verzeichnet, heute nicht mehr nachweisbar sind, so wird man auch im Schulbuchbereich mit einem gewissen Schwund rechnen müssen. Definitiv bestritten werden können nur solche Aussagen, die eine flächendeckende oder auch nur quantitativ relevante Handhabung der Verwendung von ›Verfasser unbekannt‹ suggerieren. Vor dem Hintergrund einer auffälligen Zurückhaltung bei der Verwendung des Loreley-Sujets im Nationalsozialismus könnte es sich bei einem entsprechenden Fund deswegen höchstens um eine nicht-repräsentative Ausnahme handeln. Selbst wenn es aber eine solche Ausnahme gegeben haben sollte, ist es unwahrscheinlich, dass diese im Einklang mit der offiziellen Kulturpolitik der Nationalsozialisten gestanden hätte. Sehr viel plausibler wäre es in einem solchen Falle, dass es sich um die Entscheidung eines einzelnen Verlegers gehandelt haben könnte, die dann
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Anonym, »Was will die einsame Träne?«, in: Das Schwarze Korps, 3.6.1937, zit. n. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 31. Vgl. schon den Hinweis bei Dahm 1993 (wie Anm. 61), S. 161. Davon berichtet Bernd Kortländer, »La mémoire collective de toute une génération d’élèves allemands qui viennent nous voir à Düsseldorf à l’Institut Heine en affirmant avec conviction que la mention ›poète anonyme‹ était vraiment imprimée dans leur manuels n’est pas fondée.« Kortländer 1998 (wie Anm. 18), S. 37f.
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vor dem Hintergrund einer prinzipiellen Auslöschung des Autors und seiner Texte auch als Akt der Subversion gelesen werden könnte. Geht man aber vom weitaus plausibelsten Fall aus, dass es sich bei der kollektiven Erinnerung an einen ›unbekannten Verfasser‹ um eine retrospektive Verschiebung handelt, dann drängt sich die Frage nach den Gründen für ihre Verbreitung auf. Was macht die Geschichte der Zwangsanonymisierung so attraktiv, dass sie bis heute fast unhinterfragt bestehen konnte? Die Antwort hängt mit der Geschichte von Heines Wirkung zusammen, die bereits zu Lebzeiten des Autors beginnt und von da an recht klar zu umreißende Rezeptionslinien ausgebildet hat. Zur Vorgeschichte: Wie deutsch ist Heines Loreley? Der erbitterte Streit um die Person Heines in Deutschland, der nicht denkbar ist ohne die ungeheure Popularität des Autors, kreiste von Anfang an um die Frage nach seiner Dazugehörigkeit (und so wie seine Popularität und die Frage nach deren Berechtigung vor dem Hintergrund seines Judentums entscheidend die Wirkungsgeschichte Heines beeinflussten, waren sie übrigens schon im Selbstverständnis Heines wesentliche Kriterien des eigenen Schaffens).80 Wurde es von den Heine-Verächtern immer schon als Argument gegen die Qualität seiner Texte angesehen, dass er Jude – und damit nach ihrer Auffassung nicht deutsch – war, suchten die Heine-Verteidiger zu belegen, dass Heine bzw. seine Texte gerade besonders »deutsch« seien. Die Loreley spielte in diesen Auseinandersetzungen immer eine besondere Rolle, galt es doch allgemein nicht nur als das bekannteste Gedicht Heines, sondern zugleich als das ›deutscheste‹ aller Gedichte. Besonders als Reaktion auf die deutsch-französischen Kriege ab 1870 wurde der populäre Loreley-Text Heines nationalistisch vereinnahmt. Johann Christian Glücklich etwa veröffentlichte 1875 im Selbstverlag einen »Mahn- und Weckruf an das deutsche Volk und alle deutsch Denkenden und Fühlenden nah und fern«, der für die Errichtung eines Loreley-Denkmals auf dem Loreley-Felsen stritt.81 Ihm galt die Loreley, so schreibt er im Vorwort der 2. Auflage des Textes, »als die Verkörperung rheinischer Sage, rheinischen Märchenzaubers – deutschen Sangs und deutscher Poesie«.82 Das von Glücklich betriebene Denkmal-Projekt wurde zwar zu Gunsten des Germania-Monuments auf dem Niederwald als deutschem Nationaldenkmal aufgegeben (errichtet 1877– 1883), aber die Projekte wurden immer als verwandte angesehen – zwischenzeitlich
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Zu Heinrich Heines eigenem, gerade im »Buch der Lieder« forciert vorgetragenen Anspruch, »ein deutscher Dichter« zu sein, vgl. Kortländer 2006 (wie Anm. 27), S. 59–73. Zur Popularität Heines, die auch in dessen Selbstverständnis ein Wert war, vgl. Joseph A. Kruse, »Heines Popularität und seine populären Texte am Beispiel von ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten‹ und ›Denk ich an Deutschland in der Nacht‹«, in: Wirkendes Wort, 33/1983, H. 4, S. 215–223. J. Christian Glücklich, Das Loreley-Denkmal auf dem Loreleyfelsen am Rhein. Ein Mahn- und Weckruf an das deutsche Volk und alle deutsch Denkenden und Fühlenden nah und fern, 2. Auflage, Wiesbaden 1903. Zu Glücklich vgl. auch Peter Lentwojt, Die Loreley in ihrer Landschaft. Romantische Dichtungsallegorie und Klischee, Frankfurt a. M. 1998, S. 377ff. Glücklich 1903 (wie Anm. 81), S. 4.
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bestand sogar der Plan, das Germania-Denkmal auf dem Loreley-Felsen zu errichten.83 Für Glücklich jedenfalls, den Verfechter des Loreley-Denkmals, war das eine mit dem anderen untrennbar verbunden: Aber nicht das Schwert allein schmückte die Barden, schmückte die Heldengestalten unserer Ahnen – Leyer und Schwert waren unzertrennlich schon in jenen Zeiten, wo die Ritter die nun zerfallenen Ruinen, die Burgen am grünen Rheinstrome bewohnten, und Leyer und Schwert sind im Leben des deutschen Volkes noch heute ebenso unzertrennliche Gefährten wie damals: darum, wie ›Germania, die Stolze‹ das Ideal deutscher Kraft, deutscher Einheit ist, so wie ihre Schwester, die ›Loreley‹, das Ideal deutschen Kunstsinns, deutschen Sangs und deutscher Poesie!84
Die Loreley wird bei Glücklich zum Inbegriff des ›Deutschen‹ und steht durchaus nicht im Gegensatz zur kriegerischen Germania, sondern hält als Schutzpatronin des Vaterlandes »Wacht am Rhein«, wie Glücklich in einem Gedicht schreibt, in dem er sich die »Saiten« und das »Streiten« ebenso zusammenreimt wie das »Schwesternpaar Germania-Loreley«.85 Deutsch-national umgedeutet wird die Loreley auch bei Siegbert Meyer. Ähnlich wie bei Glücklich wird sie zur wehrhaften Schutzpatronin der Deutschen gegen die ›welsche Gefahr‹: Seine Neue Loreley (1871–1876) ist nicht mehr die ›schönste‹, sondern die »deutscheste Jungfrau« und trägt statt goldener Locken einen »leuchtende[n] Harnisch«, mit dem sie – wie bei Glücklich in Anspielung auf Max Schneckenburgers populären Text – »die Wacht am Rhein«86 hält:
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Vgl. Clemens Weiler, Von der Loreley zur Germania. Die Geschichte des Niederwalddenkmals, Wiesbaden 1963. Dazu Lentwojt 1998 (wie Anm. 81), S. 384 und S. 387. Glücklich 1903 (wie Anm. 81), S. 8. [...] Denn hoch und herrlich seh ich aufgerichtet Das Loreleydenkmal dort bei St. Goar. Erhebt die Hand zum Schwur – zum Schwur der Treue, Zum Schwur für Kaiser, König, Vaterland, Wie einst am Niederwald, so schwören wir auf neue: ›Deutsch sei und bleib’ der heil’ge Rheinesstrand!‹ Der ›Wacht am Rhein‹ ›die Loreley‹ sich einet, Wie Sphärenklänge tönt die Melodei, Im Strahlenglanz die Morgensonn’ umscheinet Das Schwesternpaar Germania – Loreley. [...] Und wenn Germania ruft aufs neu’ zum Streiten, Zu Sieg, zu Tod für dich, du schöner Rhein, Dann greift die Loreley mächtig in die Saiten, Und unsre Waffen werden immer sein«. Ebd., S. 19. Alle Zitate: Siegbert Meyer, »Die neue Loreley«, in: Deutsches Kommersbuch. Historisch-kritische Bearbeitung, besorgt v. Karl Reisert, 9. Auflage, Freiburg i. Br. 1904, S. 60, zit. n. Jürgen Kolbe, »Das hat mit ihrem Singen die Loreley getan. Ein sagenhafter Einfall und einige Folgen«, in: Balladenforschung, hg. v. Walter Müller-Seidel, Königstein im Taunus 1980, S. 204–215, hier S. 211f. (der Text erschien ursprünglich in: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten. Heinrich Heines Loreley. Bilder und Gedichte, zusammengestellt v. Jürgen Kolbe, München 1976, S. 29–47).
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Es kamen zum Rhein die Franzosen, ein kampfesmutiger Troß, mit übermütigem Tosen, mit Sturm- und Donnergeschoß! Da klang die goldene Leier, da sang die Loreley, da stürmte Arnim, der Befreier, mit Deutschlands Helden herbei.87
Weist bei Glücklich schon das Motto seines Aufrufes »Ich weiß nicht was soll es bedeuten« eindeutig auf Heinrich Heine hin und möchte er das Denkmal der Loreley ausdrücklich »dem Sänger der Loreley Heinrich Heine«88 widmen, so verwendet Meyer bei dem Versuch, den Loreley-Stoff für die deutsch-nationalen Interessen umzuinterpretieren, im Gegensatz dazu zwar noch Elemente der Version Heines,89 vermutlich aber ohne damit an ihn erinnern zu wollen. Auch ein drittes hier exemplarisch genanntes Beispiel für eine nationalistische Vereinnahmung des Gedichts versucht, den Loreley-Stoff unabhängig von seinem prominentesten Autor zu verwenden. Wolfgang Müller von Königswinter bietet in seinem nur aus eigenen Texten bestehenden Rheinischen Sagenbuch auch ein Loreley-Gedicht; ja, das Sagenbuch als Ganzes trägt den Titel Lorelei. Aber in seinen Anmerkungen erwähnt er mit keiner Silbe den Autor Heine. Vor dem Hintergrund seiner deutschtümelnden parodistischen Angriffe auf Heine an anderer Stelle90 und seiner Bemerkungen im Anhang des Rheinischen Sagenbuchs, in denen es um seine »deutsch-nationale Dichtung« geht, die nur »aus dem Grund und Boden echt deutschen Wesens aufwachsen«91 könne, ist es zudem nicht unplausibel, seine Loreley-Version als indirekten Angriff auf Heine zu begreifen. Denn wird in seiner Fassung (wie bei Brentano) die Vorgeschichte der Frauengestalt erzählt, so wird nicht die ihrer Unschuld beraubte Loreley, sondern der verführende Ritter als die überlegene Figur gezeichnet und so nicht nur das Geschlech-
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Ebd. Glücklich 1903 (wie Anm. 81), S. 9. Vgl. etwa den Sitz der Frauenfigur auf dem Felsen und ihr Attribut der Leier, aber auch das Metrum des Gedichts. Wolfgang Müller von Königswinter, Höllenfahrt von Heinrich Heine, Hannover 1856. Parodistisch wird hier in Anlehnung an verschiedene Texte und den Duktus von Heine eine Abrechnung mit der deutschen Literatur gegeben. Wenige Dichter können darin vor der Forderung des wahren ›Deutschtums‹ bestehen; selbst Goethe wird vorgeworfen, mit dem Orient zu liebäugeln, statt deutsche Werte zu vertreten (vgl. ebd., S. 45ff.). Vgl. »Du süßes tiefes deutsches Lied / Von Lenzen und Trinken und Lieben, / Du Lied aus dem schönen Herzen des Volks, / Wo bist du denn geblieben? // Wir wollen echte Deutsche sein, / Nicht Griechen, Römer, Romanen, / Nicht Slaven und Kinder Mahomeds, / Chinesen und Hindostanen! // Wir wollen echte Deutsche sein / Und auf des Volksthums Grunde / Die große gewaltige Poesie / Aus echter Dichter Munde! // [...] / O von der Fremde lasset ab, / Bleibt was Ihr wart, Germanen! / So leitet Ihr die Poesie / In neue helle Bahnen!« Ebd., S. 71–73. Wolfgang Müller von Königswinter, Lorelei. Rheinisches Sagenbuch, 3. Auflage, Köln 1857, S. 465.
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terverhältnis umgekehrt, sondern zugleich auch die Macht der Loreley, wie sie Heines Gedicht beschreibt und zugleich selbst verkörpert, gebrochen.92 Gerade die – weder von Königswinter noch von Meyer, aber wohl auch nicht von Glücklich pro-semitisch gemeinte – nationalistische Umdeutung von Heines Text forderte die Antisemiten heraus, die die in ihren Augen ureigene nationale Sache unmöglich einem Juden überlassen konnten. Der Vorwurf entsprechender Pamphlete gegen Heine ist deswegen immer wieder der, dass Heine »eben durch und durch Jude« sei, und damit »kein echter Deutscher«.93 Speziell ist es wieder die Loreley, an der der Beleg für das nur scheinbar Volkstümliche oder das nur scheinbar Deutsche erbracht wird. Schon 1838 notiert Wolfgang Menzel im Morgenblatt für gebildete Leser in einer Anzeige der von Friedrich Silcher vertonten Deutschen Volkslieder zur Vertonung der Loreley: »Heines Lied von der Loreley ›Ich weiß nicht was soll es bedeuten.‹ Auch Saul unter den Propheten? Das Lied ist bei aller scheinbaren Simplicität doch viel zu raffinirt, viel zu sehr Produkt der Kunst, um je Volkslied werden zu können. Die Melodie klingt indeß ganz volksthümlich«.94 Durchaus richtig ist hier die Raffiniertheit und Artifizialität des Heineschen Gedichts der sehr viel simpleren Vertonung gegenübergestellt, jedoch wird dieser Befund gegen den Autor gewendet: Er könne eben nie Vertreter der Volkskunst werden – und dass dieses Urteil ein antisemitisch geprägtes ist, wird mit dem alttestamentlichen Verweis und dem für das 19. Jahrhundert topischen Bild des sich nur oberflächlich assimilierenden, deutsche ›Tiefe‹ nur vortäuschenden Judens mehr als nahe gelegt. ›Raffiniertheit‹ und ›Künstlichkeit‹ ist hier im Sinne dieses Topos abwertend als ›Falschheit‹ gemeint. Auch in Adolf Bartels’ Pamphlet gegen Heine von 1906, einer ausführlicheren Variante des schon in seiner Geschichte der deutschen Literatur vorgelegten Heine-Verrisses, geht es um den Beleg, dass Heine niemals volkstümlich – und das heißt inzwischen auch entschieden: niemals deutsch – sein könne. Bartels konstatiert: »Für die breiteren Kreise in Deutschland, die gebildeten eingeschlossen, darf man stets noch Unklarheit über Heinrich Heine und seine Stellung zum deutschen Volke [...] annehmen«.95 Er sieht es deshalb als seinen Auftrag an zu widerlegen, »daß unser deutscher Dichterbegriff auf Heinrich Heine anzuwenden ist.«96 Heine ist in der Argumentation Bartels’ ganz ähnlich wie in der Menzels und in unzähligen folgenden Argumentationen97 nicht des authentischen Erlebens und Dichtens fähig. Was bei Menzel das ›Raffinierte‹ und ›Künstliche‹ sind bei Bartels die »Salongra-
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Ebd., S. 213–215. Xanthippus (=Franz Sandvoß), Was dünket euch um Heine? Ein Bekenntnis, Leipzig 1888, zit. n. Goltschnigg/Steinecke 2006 (wie Anm. 44), S. 282. Morgenblatt für gebildete Leser. Literaturblatt Nr. 83, 17.8.1838, S. 331. Der hier angegebene Titel des besprochen Bandes lautet: »XII deutsche Volkslieder mit Melodien, gesammelt und für eine oder zwei Singstimmen mit Begleitung des Pianoforte und der Guitarre gesetzt von Fr. Silcher (Op. 28), 3tes Heft. Tübingen, Fues«. Den Hinweis auf die Textstelle verdanke ich Kortländer 1998 (wie Anm. 18), S. 31. Adolf Bartels, Heinrich Heine. Auch ein Denkmal, Dresden/Leipzig 1906, S. VIII. Ebd., S. 137. Vgl. z. B. Alfred Rosenbergs Urteil über Heines Loreley, »fast buchstäbliche Nachdichtung«
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zie« und der »Kulturpoesiecharakter«98 seines Schaffens. Die Beziehung zur volkstümlichen Dichtung muss Heine deshalb äußerlich bleiben: Wie das Gefühl, fehlt Heine beim Schaffen natürlich auch die Gelegenheit, der subjektive Anreiz nicht, er ist ein geborener Dichter, aber dieser Anreiz ist meist weit äußerlicherer Natur als beim Dichten anderer aus dem Volkstum heraus; nicht der gleichsam metaphysische Drang, der aus dem Leben im eigenen Volke erwächst und zum unmittelbarsten Ausdruck ringt, nicht die starke dichterische Anschauung, die der Dichter als Sohn seiner Heimat hat, und die sich aus jenem Drang und dieser Anschauung ergebenden Gelegenheiten bringen das Heinische Gedicht hervor, sondern der bloße Gedanke, die bloße Beobachtung, und demgemäß sind auch die spezifischlyrischen Gedichte, die aus dem Tiefsten kommen und wie Naturgewalt wirken, die vom Volkstum aus gewissermaßen durch den Dichter nur hindurchgehen, äußerst selten bei Heine, wenn sie ihm auch als dem Sohn des jüdischen Volkes nicht völlig fehlen.99
Gegen Heines Intellektualität und Individualität wird die »Naturgewalt« des angeblich authentischen deutschen Dichtens gestellt. Heine wird als letztlich unschöpferischer, auf die »Naturanschauung«100 anderer – deutscher – Dichter angewiesener Plagiator diffamiert. Gerade die Loreley sei das bekannteste Beispiel »für die Übernahme eines ganzen Gedichts«, »die [die Loreley] man uns noch immer als Zeugnis für das deutsche Dichten Heinrich Heines entgegenhält«. Dem entgegnet Bartels: »Von ihr [der Loreley] gehört Heine wirklich nur die Mache, und die taugt nicht einmal viel.«101 Mit Verweis auf die Loreley-Versionen von Clemens Brentano, Nikolaus Vogt, Heinrich von Loeben und Eichendorff will Bartels dies belegt wissen (trotz der Tatsache, dass Eichendorffs Gedicht nach dem von Heine erscheint).102 Gerade Eichendorff dient Bartels als Nachweis, dass Heine nicht nur die Motive, sondern auch seinen Stil ›deutschen‹ Autoren entlehnt. Eichendorffs ›einfach rührender Ton‹ sei aber wahr, der Heines falsch.103 Eine Detailanalyse des Gedichts ergibt für Bartels, »daß der Unterschied zwischen deutscher und jüdischer Poesie nirgends deutlicher als hier zu tage tritt«.104 Durch die nationalsozialistische Setzung ›völkischer‹ Deutungs- und Wertungsperspektiven, mit der auch die Romantik vereinnahmt werden sollte, wurde das ›Volkstumserlebnis der Romantik‹ und die Herausbildung eines Nationalbewusstseins der
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vorgängiger Versionen zu sein; Alfred Rosenberg, Die Spur der Juden im Wandel der Zeit, München 1920, zit. n. Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 277. Beide Zitate ebd., S. 96. Ebd., S. 95f. Ebd., S. 96. Alle Zitate ebd., S. 97. Eine (zeitlich durchaus mögliche) Rückwirkung Heines auf Eichendorffs spätere Lyrik wird von Bartels ausgeschlossen, da »freilich auch dieser echt deutsche Sänger im Kerne selbstverständlich von Heine unbeeinflußbar war.« Ebd., S. 105. Vgl. ebd., S. 104. Ebd., S. 100. Vgl. beispielsweise die ›Detailanalyse‹ der letzten Strophe: »Geradezu greulich ist aber die letzte Strophe: [...] Ich glaube! Ein allwissender Dichter, der glaubt! Und dann der Pleonasmus Ich glaube – am Ende! Und dann zum Schluß der auch in der Form geradezu marktschreierische Hinweis auf die Schuld der Lorelei – Ramschbasar, würde unser Freund Xanthippus sagen. Es ist aber auch sicher, daß unbeirrtem deutschen Empfinden diese wie so viele andere Heinische Pointen durchaus widerstehen, [...].« Ebd.
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Romantik zum bevorzugten Forschungsgegenstand der NS-Zeit. Ralf Klausnitzer führt in seiner Studie Blaue Blume unterm Hakenkreuz zahlreiche Dokumente auf, in denen der Mythos von der romantischen Entdeckung des Volkes dazu benutzt wurde, eine angebliche Kontinuität zwischen der Romantik und dem »Aufbruch« der nationalsozialistischen Bewegung herzustellen.105 Aber die Nationalsozialisten brauchen Heine nicht fürs Volkstum. Wird beispielsweise in Paul Fechters Literaturgeschichte von 1932 Heine noch ausführlich, wenn auch mit Vorbehalten behandelt – die Loreley gilt hier als »das volkstümlichste Volkslied der Deutschen«, das »bei aller Fremdheit Beziehungen zu deutschem Volkstum«106 zeige – so wird in der Neuauflage von 1941 Heine nicht einmal mehr erwähnt. Wird Heine in der nationalsozialistischen Literaturwissenschaft behandelt, dann ist Bartels der Stichwortgeber. Emil Schneemann will in seinem Artikel Der Schmutzfink im deutschen Dichterwald unter Berufung auf Bartels aufzeigen, wie »Juden und deren Hörige« versucht hätten, »ihren Rassegenossen [Heine] zum ›Heros‹ deutscher Dichtkunst hinaufzumogeln«.107 An Heines »bekanntesten Liede, der ›Loreley‹«, sucht Schneemann zu belegen, wie Heine nur mithilfe der früheren Loreley-Versionen anderer Dichter sein Gedicht habe »fabrizieren« können. Eine »derartige Volkstümlichkeit« habe Heines Version also nur aufgrund dieses Plagiats erlangen können und aufgrund der Tatsache, »daß Heine es ausgezeichnet verstanden hat, für sich und seinen Ruhm die Werbetrommel recht kräftig zu schlagen«.108 Auch Wolfgang Lutz beruft sich in seinem Artikel Schluss mit Heinrich Heine! von 1936 auf Bartels, der als erster das laut Lutz stichhaltigste Argument gefunden habe, warum sich jede weitere Beschäftigung mit ihm erübrige: »Heine ist Jude.«109 Lutz argumentiert – wenngleich sprachlich etwas unsicher – in seinem Aufsatz wie seine Vorgänger gegen das Heine-Bild als großem deutschen Dichter: »Seit nunmehr über ein volles Jahrhundert steht Heinrich Heine in weitesten Kreisen des deutschen Volkes wie auch des Auslandes im Rufe, einer der größten deutschen Dichter, ja sogar des größten neben Goethe, zu sein.« Überall werde er so bezeichnet; »was das Verderblichste ist, auch Schul- und Lehrbücher« würden entsprechendes verbreiten.110 Die gefährliche Seite des
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Rolf Klausnitzer, Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich, Paderborn u. a. 1999; vgl. etwa S. 128–135. Klausnitzer behandelt in seiner Studie nationalsozialistische Arbeiten zum ›Volkstumserlebnis‹ bei Achim von Arnim, Joseph Görres, Friedrich Daniel Schleiermacher und Henrich Steffens. Die Rolle Heinrich Heines im ›Dritten Reich‹ wird bei Klausnitzer, so weit ich sehe, nicht behandelt. Paul Fechter, Dichtung der Deutschen. Eine Geschichte der Literatur unseres Volkes von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1. Aufl., Berlin 1932, S. 579, zit. n. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 25f. Ausführlich zu den Befunden in Literaturgeschichten des Nationalsozialismus vgl. ebd., S. 24–27. Emil Schneemann, »Der Schmutzfink im deutschen Dichterwald«, in: Deutsche Turnzeitung. Blätter der deutschen Turnerschaft, Berlin 79/1934, Nr. 47, S. 6f., und Nr. 48, S. 6f., hier Nr. 47, S. 6. Ebd., Nr. 48, S. 7. Lutz 1936 (wie Anm. 76), S. 794. Ebd., S. 792.
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»Judenproblem[s]« für die Deutschen sei das Vermögen der Juden, sich »anzupassen« und »sich so zu tarnen«. Auch Heine habe »sich geschickter als andere Juden an sein Gastvolk, das deutsche, anzugleichen vermocht, und von ihm vieles anzueignen verstanden, was später als sein Eigen gegolten hat. – Darum nun haben viele Deutsche [...] in Heine etwas Deutsches gesehen.«111 Hatte Bartels den Lyriker Heine noch teilweise gelten lassen, will Lutz nun die Demontage Heines auch auf diesem Gebiet nachholen: Heine ist kein deutscher Lyriker! Sein Dichten ist nur ein launisches Zusammensuchen, Kleben, Klittern von nicht zusammengehörigen Elementen, Motiven, Stimmungen, Anschauungen, Ansichten, Beobachtungen und dergleichen mehr, und darum nicht echt, organisch geschlossen, gewachsen, zutiefst in Erleben bedingt, sondern Mache, Talmi, Effekt, Schein!112
Wieder also wird die Polarität von Künstlichem und Natürlichem, von nur Angeeignetem und authentisch Erfahrenem aufgemacht, wieder ist es Heine, der auf der Seite des Künstlichen, Angeeigneten und damit Unschöpferischen steht: Lutz will Heine »vollständig in seiner nackten jüdischen Unfähigkeit zeigen, schöpferisch zu wirken; er ist ein armseliger Stümper, der bar jedes echten deutschen künstlerischen Empfi ndens, selbst in dichterischen Kleinwerken nicht zu gehaltlicher und gestaltlicher Geschlossenheit, zu reiner (weil organischer, blutsmäßig deutschbedingter!) Harmonie von Gefühl und Reflexion« komme.113 Lutz sucht seine Behauptung unter anderem anhand der Analyse der Loreley zu belegen, des Gedichtes, das immer wieder »zum Zeugen für Heines Deutschheit gerufen worden« sei. Er werde dagegen beweisen, dass entgegen dem Anschein gerade die Loreley »ein Muster für Heines undeutsches Dichtertum« sei.114 Heine habe sich die Fassungen von Brentano, Vogt, Loeben und Eichendorff angeeignet, um doch nicht mehr zu schaffen, als ein »banales, weinerliches Gedicht des Alltags«.115 In einer eingehenden Analyse der zweiten Gedichtstrophe sucht Lutz zu belegen, dass Heine gegenüber dem wahr und tief erlebenden Eichendorff, der Lutz als Prototyp des echten deutschen Dichters gilt, immer sprunghaft und unwahr bleiben müsse.116 Unter dem Eindruck solcher das Undeutsche von Heine betonenden Pamphlete, deren Traditionslinie bis in die Lebenszeit Heines zurückreicht, ist der Versuch von den liberalen Heine-Verteidigern zu bewerten, weniger die jüdische als die deutsche Identität Heines zu betonen. Richard Schaukal etwa beschreibt Heine 1897 in seinem »GeleitWort« zu einer von ihm herausgebrachten Heine-Anthologie ausdrücklich als »deutschen Liedersänger«, der »die blassblauen Blumen der thränenzitternden deutschen Frühlingsworte zum duftenden Strausse des deutschen Liebesliedes band« und »der mit seinem ewigen Jünglingsherzen an der Heimat hing, sich in der Fremde verblutete, die
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Alle ebd., S. 795. Alle ebd., S. 798. Alle ebd., S. 799. Alle ebd., S. 800. Alle ebd., S. 801. Vgl. ebd., S. 801f. »[N]ur die Eichendorffsche [2. Strophe] ist echt, wahr, erlebt und künstlerisch gestaltet« (ebd., S. 804), während Heines Lyrik durch »Kraftlosigkeit« und »triviale Sentimentalität« (ebd., S. 805) gekennzeichnet sei.
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ihm immer die Fremde blieb«.117 Eduard Pötzl, um ein zweites Beispiel zu nennen, unternimmt 1900 den Versuch, die jüdische Abstammung Heines (die dieser »ja nach Kräften gutzumachen versucht« habe, »indem er sich [...] taufen ließ«118) zu Gunsten seiner Volksliedpoesie zu marginalisieren, da sie in ihren Vertonungen – genannt wird explizit auch die Loreley – »das deutsche Nationalgefühl mehr angefacht« hätte, als vieles andere. Heine sei einer der größten »deutsche[n] Liederdichter [...], denn in seinem Liede war er fromm, innig, treu und rührend, wie es der Deutsche will, und er hat um alle die süßen Geheimnisse der deutschen Volksseele gewusst, die nur ein wahrer Deutscher verstehen« könne.119 All diese antisemitischen, genauso wie die darauf reagierenden, das ›Deutsche‹ von Heines Text betonenden Beiträge vom 19. Jahrhundert bis zur NS-Zeit verbindet, so lässt sich resümieren, ein bestimmter detektivischer Impuls, das angeblich typisch ›jüdische‹ bzw. besonders ›deutsche‹ im Text Heines nachzuweisen. Dass solch gerade auf Aufdeckung der ›wahren‹ Identität des Autors bedachter Diskurs sich schwer vereinbaren lässt mit dem hier in Frage stehenden Anonymitätsdiskurs, ist ein weiteres Indiz, dass die Ursachen für letzteren andere Ursprünge haben muss. Und so führen die bisher beschriebenen unterschiedlichen Rezeptionslinien der Person Heinrich Heines und seiner Loreley unter dem Vorzeichen des Deutschen auch zu einer weiteren, von den bisherigen Linien unterschiedenen Loreley-Rezeption, die direkt mit der Frage nach der Attraktivität der Anonymitätsthese in Zusammenhang steht. Die Loreley Heines wurde aufgrund von chauvinistischen Vereinnahmungen, wie sie mit Siegbert Meyer und J. Christian Glücklich vorgeführt wurden, genauso wie aufgrund so ungeschickter Rettungsversuche wie den oben erwähnten seitens der Heine-Verehrer für viele liberal Gesinnte als Anlass zum Spott über Spießer und Chauvinisten genommen. In den oft satirischen Texten dieser Stoßrichtung von links fällt dabei nicht immer, aber immer wieder die Unterstellung eines Selbstwiderspruchs der Feinde Heines auf, insofern diese Heine zwar hassen, trotzdem aber vom Loreley-Gedicht nicht lassen könnten. Schon bei Plötzl deutet sich dieses Zielen auf einen inneren Widerspruch der HeineGegner an, wenn es heißt: Ich frage meine Altersgenossen, ob sie in ihren Jugendjahren oder später, das ›Buch der Lieder‹ in der Hand, je die Empfindung gehabt haben, das sei nicht so deutsch wie unsere Wälder, unsere Berge, unser Meer und unser Herz im tiefsten Grunde. Sogar die heranwachsende Jugend, obgleich schon mehr im Banne gewisser politischer Schlagworte stehend als wir Aelteren, vermag sich dem Eindruck der Heine’schen Lyrik nicht zu entziehen; fast mürrisch gibt sie die Bedeutung des Dichters zu, gegen den frühzeitig ein sogenannter nationaler Haß in ihr aufgerufen wurde. Es geschieht dabei oft genug, daß in Augenblicken hoher schöner Stimmung, deren nur der Deutsche fähig ist, als der richtigste Ausdruck sich den jugendlichen Kehlen ein Lied entringt, das zu spät als Contrebande erkannt wird: klingt wie ein schlichtes altes Volkslied und ist doch von dem Juden Heinrich Heine.120
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Richard Schaukal (Hg.), Heinrich Heine. Sein Leben in seinen Liedern (1797–1856). Ein Breviarium zum 100. Geburtstage (13. Dezember 1897), Berlin 1897, S. IX, zit. n. Goltschnigg/ Steinecke 2006 (wie Anm. 44), S. 88. Eduard Plötzl, »Ein Kranz für Heine«, in: Neues Wiener Tagblatt, 24.6.1900, S. 1f., zit. n. Goltschnigg/Steinecke 2006 (wie Anm. 44), S. 460. Ebd., S. 459. Ebd.
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Zum 50. Todestag Heines, am 12. Februar 1906, erscheint im Simplicissimus eine Karikatur von Wilhelm Schulz. Gezeigt wird eine Runde von Philistern erst lamentierend, dann bei Mondschein singend, begleitet von vier Strophen, in denen auf die langjährige erbitterte Diskussion um ein Denkmal zu Ehren Heines angespielt wird: »Von Heinrich Heine, dem Dichter, / Sie fühlen sich grob verletzt, / Laut alle Philister schwören: / Kein Denkmal wird ihm gesetzt!« Doch im weiteren Verlauf des Abends »ward von dem vielen Biere / Das Herz den Philistern weich«. Sie fingen leise an zu singen »[u]nd seufzten so still dabei. / Sie sangen mit süßer Stimme / Das Lied von der Lorelei.«121 Im selben Jahr erscheint eine weitere Streitschrift für Heine, die den gleichen Vorwurf des widersprüchlichen Verhaltens erhebt. Richard A. Bermann schreibt über die Heine-Feinde, sie würden Heine schmähen und zu gleicher Zeit seine Loreley pfeifen: Seine Feinde verachten und beschimpfen ihn. Aber seine Gedichte können sie nichtsdestoweniger auswendig. Und dabei haben sie sie nicht etwa in der Schule memorieren müssen, denn in der Schule ist Heine ja verpönt. Offiziell verkehrt unsere Kultur mit Heine nicht; auf den Strassen stehen seine Denkmäler nicht, in den Schulbüchern wird er höchstens kurz erwähnt, seinem Jubiläum zu Ehren gibt es keine Volksfeste und Parademärsche. Wenn man erklärt, daß er ein Schweinekerl war, wird man nicht gesteinigt. Ganz im Gegenteil. Wenn man sagt, daß er ein elender, wertloser Sudler war, ist man eine Stütze von Thron und Altar. Aber merkwürdig – man vergisst den Sudler nicht. Er bleibt populärer als andere gottbegnadete Dichter, deren Jubiläen man mit Paradeaufzügen ehrt. Wie oft hat man ihn in den letzten fünfzig Jahren totgeschlagen! Und er lebt doch noch. Nicht einmal seine Verehrer haben ihn umbringen können. Und das ist mehr, als man von den Verehrern anderer Dichter sagen könnte. Man spuckt ihn an, wischt sich den Mund und pfeift seine Lorelei.122
1925 schreibt Hermann Hesse über die »Gegner Heines«: »Denn wenn sie auch seine Schriften nicht lesen mögen, so müßten sie doch keine Deutschen sein, wenn sie nicht schon als Kinder hundertmal das Lied von der Lorelei mitgesungen hätten«.123 Hermann Bahr schreibt 1926, dass »mancher Mund«, der Heine verabscheue, zugleich in seine Lieder einstimme, »ohne daran zu denken, von wem sie sind«.124 Bald darauf sind es nicht mehr unspezifisch die Heine-Gegner, sondern die Faschisten, die ihrer tiefen inneren Abhängigkeit von Heine überführt werden sollen. So plädiert Fritz von Unruh 1927 für die Errichtung eines Heine-Denkmals am Rhein, da dies »allen den Hakenkreuzrittern, die weinselig an der Lorelei vorüberfahrend ihrer Sentimentalität keinen anderen Ausdruck zu verleihen wissen als ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten‹, eine heilsame
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Wilhelm Schulz, »Zu Heinrich Heines 50. Todestag«, in: Simplicissimus, 12.2.1906, zit. n. Goltschnigg/Steinecke 2006 (wie Anm. 44), S. 114f. Karl Kraus nimmt an verschiedenen Stellen Bezug auf die Karikatur, vgl. ebd., S. 114. Richard A. Bermann, »Heine, der Journalist«, in: Der Weg. Wochenschrift für Politik und Kultur, Wien 1/1905/06, H. 21 (17.2.1906), S. 13f., zit. n. Goltschnigg/Steinecke 2006 (wie Anm. 44), S. 518. Hermann Hesse an Rudolf Schröder, Dezember 1925, in: Gesammelte Briefe, Bd. 2: 1922–1935, in Zusammenarbeit mit Heiner Hesse hg. v. Ursula und Volker Michels, Frankfurt a. M. 1979, S. 98; hier zitiert nach: Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 35. Hermann Bahr an Adolf Hatzfeld, 1.3.1926, zit. n. Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 608, Anm. 5.
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Lehre« wäre.125 Und in Ödon von Horváths Theaterstück Italienische Nacht von 1930 vermengen sich Heine-Verse und nationalistische Kampfeslieder dumpf miteinander, wenn betrunkene Faschisten Heines »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« und Max Schneckenburgers »Wacht am Rhein« zu einer unauflösbaren Mixtur von Rheinromantik und Chauvinismus zusammengrölen.126 Kann Horváths Szene noch als Darstellung des fließenden Übergangs von einem zum anderen gelesen werden, so ist in Erich Kästners Gedicht Der Handstand auf der Loreley von 1932 der Hinweis auf einen damit verbundenen Widerspruch im Selbstverständnis der Deutsch-Nationalen deutlicher enthalten. Das Gedicht nimmt auf eine nationalistische Vereinnahmung der Loreley im ganz handgreiflichen Sinne Bezug, nämlich auf die Errichtung eines jahnschen Turnplatzes auf dem Felsplateau von St. Goarshausen 1921. Die Loreley, bekannt als Fee und Felsen, ist jener Fleck am Rhein, nicht weit von Bingen, wo früher Schiffer mit verdrehten Hälsen, von blonden Haaren schwärmend, untergingen. Wir wandeln uns. Die Schiffer inbegriffen. Der Rhein ist reguliert und eingedämmt. Die Zeit vergeht. Man stirbt nicht mehr beim Schiffen, bloß weil ein blondes Weib sich dauernd kämmt. Nichtsdestotrotz geschieht auch heutzutage noch manches, was der Steinzeit ähnlich sieht. So alt ist keine deutsche Heldensage, daß sie nicht doch noch Helden nach sich zieht.
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Publiziert am 3.1.1927 in der Frankfurter Zeitung, S. 1; hier zitiert nach Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 164, Anm. 34. DIE FASCHISTEN trinken Bier und singen: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, Daß ich so traurig bin, Ein Märchen aus uralten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn. Die Luft ist kühl, und es dunkelt, Und ruhig fließet der Rhein – EIN FASCHIST Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein – ALLE FASCHISTEN Wir alle wollen Hüter sein! Lieb Vaterland magst ruhig sein, Lieb Vaterland magst ruhig sein, Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein, Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein! DIE FASCHISTEN mit dem Bierkrug in der Hand: Heil! Heil! Heil! Saufen. Musik spielt nun: ›Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot‹.« Ödön von Horváth, Italienische Nacht. Gesammelte Werke. Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden, hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit v. Susanna Foral-Krischke, Bd. 3, Frankfurt 2001, S. 61–124, hier S. 88.
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Erst neulich machte auf der Loreley hoch überm Rhein ein Turner einen Handstand! Von allen Dampfern tönte Angstgeschrei, als er kopfüber oben auf der Wand stand. Er stand, als ob er auf dem Barren stünde. Mit hohlem Kreuz. Und lustbetonten Zügen. Man frage nicht: Was hatte er für Gründe? Er war ein Held. Das dürfte wohl genügen. Er stand, verkehrt, im Abendsonnenscheine. Da trübte Wehmut seinen Turnerblick. Er dachte an die Loreley von Heine. Und stürzte ab. Und brach sich das Genick. Er starb als Held. Man muß ihn nicht beweinen. Sein Handstand war vom Schicksal überstrahlt. Ein Augenblick mit zwei gehobnen Beinen ist nicht zu teuer mit dem Tod bezahlt! P.S. Eins wäre allerdings noch nachzutragen: Der Turner hinterließ uns Frau und Kind. Hinwiederum, man soll sie nicht beklagen. Weil im Bezirk der Helden und der Sagen die Überlebenden nicht wichtig sind.127
Der Tod des Turners mit seinem mutmaßlich am jahnschen Geist geschulten militärischen Helden-Ethos wird in karikierender Absicht gegen den Tod des von Liebesweh ergriffenen Schiffers gehalten, wie ihn die Loreley Heines zeichnet. Es bleibt offen, warum der zeitgenössische Held beim Gedanken an Heine in den Tod stürzt: Provoziert die Erinnerung an Heines Gedicht eine sentimentale ›Wehmut‹, die dem eigenen Heldenethos der Härte abträglich ist? Oder beschleicht ihn beim Gedanken an den Juden Heine eine Ahnung, wie schwankend der vermeintlich deutscheste Boden ist, auf dem er steht, und reißt ihn deshalb in den Tod? Die zweite Deutung ist nicht zwingend, erscheint aber vor dem Hintergrund der Rezeptionslinie der Loreley als Ausdruck der inneren Paradoxie des Heine-Gegners, der wahlweise als Philister, Spießer, Deutsch-Nationaler oder Faschist erscheint, durchaus plausibel. Diese Deutungslinie wird auch nach 1933, nun mit klarem Bezug auf die Nationalsozialisten – und natürlich nur noch außerhalb Deutschlands – fortgesetzt, etwa wenn Johannes R. Becher in seinem Gedicht Goebbels’ Stahlgesang und Loreley von 1934 die goebbelsche Rhetorik als willkürlich vorgenommene eklektizistische Mischung aus martialischen und romantischen Elementen demaskiert128 oder wenn 1935 in der Prager
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Erich Kästner, »Der Handstand auf die Loreley. Nach einer wahren Begebenheit«, in: Werke, hg. v. Franz Josef Görtz, Bd. 1: Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte, hg. v. Harald Hartung in Zusammenarbeit mit Nicola Brinkmann, München 2004, S. 182f. »Wir hören zu, wenn Goebbels spricht«, setzt das Gedicht ein. »Romantik tut vor allem not, / Um wieder Krieg zu führen. / Romantik schmiert aufs trockene Brot. / Sie läßt sich gut ver-
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Zeitschrift Der Simpl eine Karikatur von Antonín Pelc mit dem Titel Die geschändete Loreley erscheint: Am Fuß des Loreley-Felsens stehen in einem Boot zwei Nationalsozialsten, mit erhobenem rechten Arm die Loreley grüßend. Diese sitzt weinend auf ihrem Fels und schluchzt, mit der Hand ihr Gesicht verdeckend: »...und mich hat ein Jude gedichtet!«129 Seit 1933 bleiben die Arme der Faschisten beim Anblick der Loreley unten. Dafür gewinnt Heines Text in der Exilszene an Bedeutung. Gerne wird er in der hier entstandenen politischen Lyrik aufgegriffen.130 Das scheint zum einen daran zu liegen, dass der Text eine Rezeptionsgeschichte hinter sich hat, in der er immer schon zum Spott über die Spießer, die Deutschnationalen oder die Faschisten diente. Das liegt zum anderen daran, dass auch für die linke Rezeption die Loreley ein wichtiges Symbol der Heimat bleibt und man sich wahrscheinlich deshalb gegen Kriegsende Erfolg von Flugschriften verspricht, die mit einer umgedichteten Loreley die deutschen Soldaten auf russischem Gebiet zur Desertation aufruft.131 Die Attraktivität des Mythos Anonymität Diese dritte Argumentationslinie hängt mit der Frage nach der Anonymitätsbehauptung unmittelbar zusammen. Denn auch die Texte des Exils und der Nachkriegszeit, die von Heines Zwangsanonymisierung im ›Dritten Reich‹ wissen wollen, zielen ja genau auf dieses paradoxe Verhalten der Faschisten, die den Namen des Juden Heine nicht mehr in den Mund nehmen, aber auf seine Loreley doch nicht verzichten. Friedrich Sieburg stellt 1952 explizit den größeren, weit über die NS-Zeit hinausreichenden Zusammenhang dieses widersprüchlichen Verhältnisses zu Heine her, wenn er bemerkt, dass Heine derselben »Welt von Männerchören und Gesangsvereinen«, »denselben Spießern, die sich an seiner Rasse stoßen, die Welt poetisiert« habe. Sieburg sieht es als das »Tragischste« an, dass Heine »jenem Bürgertum, das sich die ›Lorelei‹ so willig hat ausreden lassen, im Grund als erster die Zunge gelöst« habe.132
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schmieren!«. »Ob Stahlgesang, ob Loreley« – Goebbels »Muse« sei ein »Zwitter«. Johannes R. Becher, »Goebbels’ Stahlgesang und Loreley«, zit. n. Lentwojt 1998 (wie Anm. 81), S. 395f. Antonín Pelc, »Die geschändete Loreley«, zit. n. Lentwojt 1998 (wie Anm. 81), S. 397. Vgl. etwa Klaus Mann, »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«, in: Helga Keiser-Hayne, Beteiligt euch, es geht um eure Erde. Erika Mann und ihr politisches Kabarett die ›Pfeffermühle‹ 1933–1937, München 1990, S. 147), oder Siegfried Blumenthal, »Hitlers Lorelei Gesänge«, in: Blumenthals Neueste Nachrichten / Jedoth Chadashot (Tel Aviv), 10.11.1942, teilweise abgedruckt in: Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 118. Flugblatt »Wir müssen marschieren, marschieren...« 394, Einsatzbeginn: Anfang Oktober 1941 (Archiv St. Goarshausen). Katja Czarnowski weist auf das Flugblatt hin und gibt alle fünf Strophen wieder. Vgl. Czarnowski 2001 (wie Anm. 19), S. 498. Friedrich Sieburg, »Heinrich Heine«, in: Die Gegenwart 7/1952, S. 470f., zit. n. Goltschnigg/ Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 480. Und auch bei Sieburg findet sich der topische Vorwurf des Widerspruchs: »Aber zum Schluß fanden sich dann die Schmälenden doch wieder im seligen Zitieren Heinescher Liebesgedichte und Heinescher Kalauer«. Ebd., S. 481.
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Von der Vorstellung der Anonymisierung Heines ist, und deshalb hat sie sich wohl durchgesetzt, der größere Reiz ausgegangen als von der Tatsache, dass man recht erfolgreich versuchte, den Autor Heine und seine Texte aus dem Gedächtnis der Deutschen endgültig zu löschen. Hätte der Nationalsozialismus mehr als zwölf Jahre gewährt, wäre dies möglicherweise geglückt. Steineckes Annahme, dass mit der Anonymisierungsbehauptung die Kulturbarbarei der Nationalsozialisten habe belegt werden sollen, wäre deshalb zu präzisieren.133 Als Barbarei ließe sich schließlich mit größerem Recht die vollständige Auslöschung bezeichnen. Es verbirgt sich aber eben nicht nur Entsetzen über die Praktiken der NS-Zeit hinter der Anonymitätsthese, sondern auch der Versuch, die nationale und rassistische Logik der Nationalsozialisten jener inneren Paradoxie zu überführen, die bereits vor 1933 in einer bestimmten Linie der Heine-Rezeption topisch geworden war. Deswegen kann sie als »bitter-absurdes Beispiel«134 für den nationalsozialistischen Staat dienen. Das Deutsche, so das in der Anonymitätsthese verborgene Argument, ist eben nicht ohne den deutschen Juden Heine zu haben. So drückte es schon Friedrich Nietzsche ironisch aus: »Deutschland hat nur einen Dichter hervorgebracht, außer Goethe: das ist Heinrich Heine – und der ist noch dazu Jude.«135 Der Versuch, das Deutsche und das Jüdische als Eigenes und Fremdes voneinander zu trennen – so der implizite Vorwurf der Legende – muss in die Paradoxie führen. Im Vorwurf der Paradoxie steckt zu einem nicht geringen Anteil – und das auch schon vor 1945! – Spott über die Nationalsozialisten, die als die eigentlich Unterlegenen erscheinen. Denn indem sie Heines Text weiter drucken, zeigt sich, wie »machtlos«136 sie gegenüber der »Unsterblichkeit«137 des Autors sind: Sie »wagten es nicht, dieses Gedicht zu eliminieren«.138 Der anonyme Text wird in dieser Lesart zum Widergänger des verschwiegenen Autors und zum Symbol für dessen heimlichen Sieg.139 Nach 1945 enthält
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Vgl. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 67. Steinecke vermutet eine geänderte Funktion der Rede vom ›unbekannten Verfasser‹. Während sie im Exil dazu gedient hätte, »die Kulturbarbarei des Nationalsozialismus in einem anschaulichen Bild anzuprangern«, wäre sie nach 1945 dazu benutzt worden, den Sieg »der Kunst über die Macht« zu feiern. Ebd., S. 67. Auch Bernd Kortländer geht von einer unterschiedlichen Funktion der Anekdote vor und nach 1945 aus: »Die Anekdote [...] diente im Nachkriegsdeutschland dazu, die Scham über den eigenen Verrat an diesem Dichter zu kaschieren.« Kortländer 2006 (wie Anm. 27), S. 60. Ich meine dagegen, dass es zugleich eine Kontinuität der Funktion gibt, die sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Derek Kahns Referat über den Beitrag Gustav Reglers zit. n. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 67. Friedrich Nietzsche (1884/85), zit. n. Goltschnigg/Steinecke 2006 (wie Anm. 44), S. 206. »noch heute [wird das Gedicht] im Ausland als das deutsche Volkslied zitiert [...]. Dagegen war auch die NS-Zeit machtlos, die das Gedicht einfach zum Volkslied erklärte und den Autor mit der Bezeichnung ›Verfasser unbekannt‹ zwar neutralisieren, aber nicht totkriegen konnte«. Höhn 2004 (wie Anm. 17), S. 67. Bella Fromm kommentiert im Tagebucheintrag vom 19. Juni 1934 den Bericht über ›Verfasser unbekannt‹ wie folgt: »Auch ein Versuch, die Unsterblichkeit auf gesetzlichem Wege totzuschweigen.« Fromm 1993 (wie Anm. 19), S. 19. Minaty 1988 (wie Anm. 13), S. 16. So argumentieren auch Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2) und kommentieren: »Dies ist
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der Vorwurf des Selbstwiderspruchs dann die sichere Gewissheit, dass dieser notwendig auch zur Selbstdemontage führen musste und dass die Prophezeiung Ludwig Marcuses von 1936, dass »eines Tages [...] der Verfasser der ›Loreley‹ in Deutschland nicht mehr ›ein unbekannter Dichter‹ sein«140 werde, eingelöst sei. So dichtet Horst Lommer 1946: »Liebe kleine Loreley, / ich bleib dir ergeben. / Dritte Reiche gehn vorbei, / du bleibst ewig leben.«141 Nun kann sich die Legende eindeutig als Allegorie auf die notwendige Niederlage des Nationalsozialismus, der an seinen inneren Widersprüchen zugrunde ging, lesen lassen. Für eine Dissertation über das Loreley-Motiv von 1948 ist es dann völlig selbstverständlich, dass allein Heines Version zur »Weltliteratur«142 zu rechnen sei. Ein zweiter Faktor musste neben dem topischen Vorwurf des Selbstwiderspruchs und der damit verbundenen Schwäche der Heine-Gegner aber noch hinzukommen, um der These der Anonymität zu ihrer Durchschlagskraft zu verhelfen. Denn zur scheinbar treffenden Pointe wird ›Verfasser unbekannt‹ erst im konkreten Fall des Gedichts, das auf den Elementen des Volksliedes, und damit auch der Prämisse der Anonymität, beruht. Vor dem Hintergrund des Volksliedcharakters erhält die These der Anonymität also besondere Plausibilität. Und zwar auf mehreren Ebenen: Zum einen wurde das Gedicht in seiner Vertonung durch Friedrich Silcher tatsächlich mehrheitlich als Volkslied wahrgenommen. Heines Lied bekam im Kontext der Rheinromantik und des Männergesangsvereins des 19. Jahrhunderts den Status eines Volksliedes, jeder kannte den Text und die zugehörige Melodie. So ist das wiederkehrende Argument im Zusammenhang mit der Anonymitätsbehauptung zu erklären, dass »das Loreley-Lied so sehr in der deutschen Popularkultur verwurzelt [gewesen sei], daß es selbst den Ideologiestrategen des NaziRegimes nicht gelingen wollte, es samt seines Autors aus dem Gedächtnis der Menschen zu streichen.«143 Gerade seine Popularität hätte dem Autor und seinem Text zum »Überleben« verholfen.144 Wie vielen deutschen Schulkindern und Anthologielesern sich in der NS-Zeit mit der Loreley tatsächlich der Name Heines verband, ist schwer zu beurteilen. Steinecke ist sich sicher, dass sich die Nationalsozialisten lächerlich gemacht hätten, wenn sie ein ›Dichter unbekannt‹ unter die Loreley gesetzt hätten und dass ihnen
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eine schöne und sehr idealistische Sicht auf das Verhältnis von Kunst und Macht – was im Exil eine Strategie der Selbstbehauptung war, führt nach dem Ende der Diktatur (bei den meisten wohl unwillentlich) zu deren Verharmlosung.« Ebd., S. 162. Marcuse 1936 (wie Anm. 21), S. 165. Horst Lommer, Das tausendjährige Reich, Berlin 1946, S. 25, zit. n. Peter Horst Neumann, »Kleines Privatissimum zur deutschen Nachkriegsliteratur«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 62/2008, S. 1019–1027, hier S. 1025. Rotraud Ehrenzeller-Favre, »Loreley. Entstehung und Wandlung einer Sage«, Zürich (Diss) 1948, S. 136. Czarnowski 2001 (wie Anm. 19), S. 497. »Die wenig erfreuliche Tatsache, daß das Gedicht durch seine Isoliertheit von Heines Werk und durch Silchers Sentimentalität ständig mißverstanden worden ist, wird dadurch erträglich, daß eben dieses Lied seinem Autor während des Dritten Reichs zum Überleben verhalf.« Kolb 1995 (wie Anm. 15), S. 53.
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das bewusst gewesen sei.145 Direkt nach 1945 ist allerdings durchaus die Rede davon, dass »unsere Kinder dieses Lieblingslied ihrer Väter nicht mehr« kennen würden.146 Immerhin käme ein entsprechender Eintrag der Logik des Volksliedes entgegen. Die erstaunliche Erfolgsgeschichte des Loreley-Stoffes beruht ja von Anfang an auf einem Verschweigen seines Erfinders Clemens Brentano147 und auch lange nachdem die Urheberschaft geklärt war, gab es während des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder hartnäckige Versuche, die Loreley doch ins Reich des Mythos heimzuholen.148 Die These der Anonymität erhält vor dem Hintergrund des Volksliedstatus von Heines Gedicht aber auch auf einer zweiten Ebene besondere Plausibilität. Denn insofern es den eigenen Volksliedcharakter ausstellt und zugleich unterläuft, scheint Heines Gedicht in gewisser Weise seine spätere Anonymisierung schon ironisch zu antizipieren. Die Distanz gegenüber dem »Märchen aus alten Zeiten«,149 dessen Ende das lyrische Ich nur
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Vgl. Steinecke 2008 (wie Anm. 18), S. 35. Rudolf Pechel, »Heinrich Heine«, in: Aufbau. Kulturpolitische Monatsschrift 2/1946, H. 7, S. 726–732, zit. n. Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 444. Beim Loreley-Stoff handelt es sich um eine der erfolgreichsten Mythenkonstruktionen der deutschen Literaturgeschichte. Clemens Brentano hatte die Gestalt der Loreley 1801 mit seiner Ballade Zu Bacharach am Rheine erfunden und danach verschiedentlich variiert (vgl. etwa die Erläuterungen in Clemens Brentano, Sämtliche Werke, Bd. 16, Stuttgart u. a. 1978, S. 772–774). 1811, zehn Jahre später, enthält ein Sagenbuch ›echter‹ mittelrheinischer Sagen eine Prosafassung der Ballade und 1818 gelangte die vermeintliche Volkssage in einen Reiseführer für Rheinreisende, Auftakt zu unzähligen Varianten in Rheinsagen-Anthologien, die die Loreley in kürzester Zeit in einen festen Sagenkanon integrierten und wiederum zu literarischen Bearbeitungen anregten, deren berühmteste die Heines wurde (vgl. Kommentar in: Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Manfred Windfuhr, Bd. I.2, Hamburg 1975, S. 877–888, sowie Kommentar in: Heinrich Heine, Buch der Lieder, hg. und kommentiert v. Klaus Briegleb, S. 364–369). Für das 19. Jahrhundert vgl. die Erläuterungen in: Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 17, Stuttgart u. a. 1983, S. 399–401, hier S. 400; Kolbe 1980 (wie Anm. 86), S. 205. Auch für die NS-Zeit habe ich einen Beleg solch einer Mythisierung gefunden: »Der Ursprung der Loreleysage, zu der es übrigens eine ostmärkische Entsprechung gibt, ist vor wie nach [sic] dunkel. Als gesichert kann bisher nur gelten, daß der gleichnamige Fels schon vor Jahrhunderten im Volksglauben eine wesentliche Rolle gespielt hat. Die Humanisten des 16. und 17. Jahrhunderts bezeugen, daß das Volk dort »Pane, Sylvane und Oreaden«, also Wald- und Feldgeister vermutete. Zwerge oder Hanselmännchen sollen in einer Höhle des Felsens gehaust haben. Wahrscheinlich ist die Loreley selbst keineswegs, wie immer noch angenommen wird, der dichterischen Phantasie Cl. Brentanos entsprungen, sondern eine durchaus volkstümliche Gestalt, wenn auch der Inhalt der hier erzählten Sage größtenteils erdichtet sein mag.« Goswin Peter Gath, Rheinische Sagen. Von der Quelle bis zur Mündung, Köln 1943, S. 282. Noch 1986 wird in einer Neuauflage populärer Reiseliteratur im Abschnitt »Zur Echtheit der Sage« zwar angegeben, dass es keinerlei Beweis gebe, »daß eine an den Fels gebundene Sage als alte Volksüberlieferung bestanden« habe (Gerhard Bürger, Im Zauber der Loreley, Oberwesel am Rhein 1986, S. 56 – die erste Auflage erschien 1952 im Loreley-Verlag. St. Goarshausen). Trotzdem muss auch hier noch der Volksgeist herhalten: »Der Dichter als der berufene Vertreter des Volksgeistes darf mit vollem Recht alte Überlieferungen nach Belieben umbilden und versetzen, falls die äußeren und inneren Bedingungen dafür vorhanden sind. So betrachtet ist auch die Lureleysage aus dem Volke hervorgegangen.« Ebd., S. 57. Zur Bedeutung des »Märchens« in Heines Loreley vgl. Dieter Arendt, »Heinrich Heine. ›...Ein
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noch unzuverlässig erinnert, ist ihm, entgegen seiner weit verbreiteten Wirkung, schon eingeschrieben.150 Das haben schon die Feinde Heines immer wieder richtig, wenngleich mit verdrehten Wertungen, hervorgehoben.151 Auch einige Vertreter der AnonymitätsThese machen die Koinzidenz der ironischen Reflexion des heineschen Gedichts auf den eigenen, notwendig unerfüllt bleibenden Volksliedstatus, und dessen offizieller Erhebung zum anonymen Volkslied im ›Dritten Reich‹ zum Zielpunkt ihrer Argumentation. Es ist nach dieser sarkastischen Logik dann gerade derjenige Autor, der mit seinen nur scheinbar volksliedhaften Gedichten letztlich das Volkslied reflektiert und überwunden hat, es ist der Autor, der den Deutschen immer schon »durch den ganzen Klempnerladen von Hakenkreuzen, Orden und Fangschnüren, durch die Glasur [ihrer] verlogenen Idealistik geblickt«152 hat, dessen künstlerisches Spiel mit dem Volkslied nun von den Nationalsozialisten retrospektiv legitimiert wird. Die Nationalsozialisten erscheinen als ungewollte Erfüllungsgehilfen einer Regression, die Heine selbst als unerfüllbar markiert hatte. Dies charakterisiert nicht nur die Faschisten in ihrer »groben Unwissenheit«,153 sondern ist zugleich ein »artistischer Triumph« Heines, wie es in Heinz Politzers Interpretation heißt, denn so, wie »der Autor eines echten Volksliedes« unbekannt sei, bestünde »eine der poetischen Gerechtigkeiten, die Heines Ironie widerfuhren«, eben in der Behauptung der Anonymität der Loreley.154 Auch Adorno erklärt 1956 die Diffamie-
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Märchen aus alten Zeiten...‹. Dichtung zwischen Märchen und Wirklichkeit«, in: Heine-Jahrbuch 8/1969, S. 3–20. Am forciertesten vertritt diese Deutung Heinz Wezel, »Heinrich Heines Loreley. Stimmungszauber oder Bewusstseinsbildung?«, in: Germanisch-romanische Monatsschrift, N.F., Bd. 20/1970, H. 1, S. 42–54. Vgl. auch die jüngste Interpretation des Gedichts: Nikolas Immer, »Schiffbruch mit Zuschauerin. Spielarten der Ironie in Heinrich Heines ›Loreley‹«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 129/2010, H. 2, S. 185–200. Neben den schon angeführten Beispielen vgl. etwa auch Wilhelm Stapels Versuch, durch einen Vergleich mit Eichendorffs Loreley das typisch Jüdische von Heines Gedicht zu beweisen: »Bis auf das etwas nüchtern-sentimentale (da hier noch unmotivierte, nur gesagte) Traurig-sein, sind es lauter intellektuelle Verhaltungsweisen. Der Dichter teilt uns sein subjektives Meinen oder Nicht-Wissen mit. Es ist ein völlig anderes Ich als bei Eichendorff. Dieser [Eichendorff] steht darin, jener [Heine] verhält sich wie ein sentimentaler Intellektueller. [...] Und der Schluß [...] ist ein Musterbeispiel der jüdischen Sentimentalität, der Sentimentalität des schräggehaltenen (ein wenig nach hinten geneigten) Kopfes mit dem verlorenen Blick, aus welcher Stellung der Jude sofort mit einem Sprung, mit einem Witzwort heraushüpfen kann; denn diese Sentimentalität ist der Ironie benachbart, sie hat nicht das Schwerblütige der deutschen Sentimentalität.« Wilhelm Stapel, Volk – Untersuchungen über Volk und Volkstum, Hamburg 1942, S. 267–269, zit. n. Wulf 1963 (wie Anm. 52), S. 413; vgl. auch Goltschnigg/Steinecke 2008 (wie Anm. 2), S. 326–331. Olden 1936 (wie Anm. 22), S. 2. Der Artikel fährt fort: »Wie seltsam, der Mann ist euch unbekannt, der euch durch den ganzen Klempnerladen von Hakenkreuzen, Orden und Fangschnüren, durch die Glasur eurer verlogenen Idealistik geblickt.« (ebd.) Berendsohn 1935 (wie Anm. 20), S. 21. »Schon für Heine schwiegen die Sirenen. Er hörte ihren Gesang nicht mehr, er sah ihn bloß in der Gebärde, die ihn begleitete, und beschrieb, was er sah. Sein artistischer Triumph besteht darin, daß er diesem Schweigen eine Melodie abgewann, die als Melodei zu hohem, aber missverständlichem Ruhm gelangte. Denn der Autor eines echten Volkslieds ist unbekannt, und eine der poetischen Gerechtigkeiten, die Heines Ironie widerfuhren, besteht darin, daß die Machthaber
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rung Heines zugleich als ungewollte Ehrung des Autors, indem die NS-Zeit sein Gedicht als Volkslied bestätigte.155 Die »Unmittelbarkeit« der Heineschen Lyrik wird von Adorno als »zugleich überaus vermittelt«,156 und, mit Bezug auf das eigene, gegenwärtige Dasein, als Transzendierung einer notwendigen Entfremdungserfahrung charakterisiert.157 Der Exilant Heine war für die Exilanten seit 1933 eine der zentralen Identifikationsfiguren.158 Nicht zuletzt diese Identifizierung der Exil- und später auch der Nachkriegsautoren mit dem »Ausgestoßene[n]«159 ermöglichte es Adorno, das vermeintliche Verschweigen des Namens als unwillentlichen Ausdruck des tatsächlich Angemessenen zu deuten. Anonymität ist dann der einzig mögliche Ausdruck der ›Entfremdung‹, des Exils als poetischer Lebensform, in dem der Autor genauso wenig mit seinem Text wie mit der Welt, auf die er sich bezieht, in offene Verbindung treten kann. Zugleich ist Anonymität aber auch Ausdruck der Hoffnung, nie wirklich exiliert werden zu können.
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des Tausendjährigen Reiches den jüdischen Verfasser dieses künstlichen Volksliedes als unbekannt erklärten und ihm dadurch die Legitimität zuerkannten, die er nicht beanspruchte und die er doch als ein früher Artist der deutschen Lyrik besaß.« Politzer 1968 (wie Anm. 10), S. 34. Der Aufsatz erschien zuerst 1967. »Nicht erst von den Nationalsozialisten ist Heine diffamiert worden. Ja diese haben ihn beinahe zu Ehren gebracht, als sie unter die Loreley jenes berühmt gewordene »Dichter unbekannt« setzten, das die insgeheim schillernden Verse, die an Figurinen der Pariserischen Rheinnixen einer verschollenen Offenbachoper mahnen, als Volkslied unerwartet sanktionierte.« Adorno 1974 (wie Anm. 9), S. 95. Beide ebd., S. 96. »Hundert Jahre hat es gebraucht, bis aus dem absichtsvoll falschen Volkslied ein großes Gedicht ward, die Vision des Opfers. Heines stereotypes Thema, hoffnungslose Liebe, ist Gleichnis der Heimatlosigkeit, und die Lyrik, die ihr gilt, eine Anstrengung, Entfremdung selber hineinzuziehen in den nächsten Erfahrungskreis. Heute, nachdem das Schicksal, das Heine fühlte, buchstäblich sich erfüllte, ist aber zugleich die Heimatlosigkeit die aller geworden; alle sind in Wesen und Sprache so beschädigt, wie der Ausgestoßene es war. Sein Wort steht stellvertretend ein für ihr Wort: es gibt keine Heimat mehr als eine Welt, in der keiner mehr ausgestoßen wäre [...].« Ebd., S. 100. Ludwig Marcuse schreibt selbstkritisch im Rückblick: »Heine wurde der deutsche Kronzeuge der Welt gegen Deutschland. [... ] Ganz besonders liebten ihn natürlich die deutschen Emigranten, vor allem die Schriftsteller.« Marcuse 1980 (wie Anm. 9), S. 220. Adorno 1974 (wie Anm. 9), S. 100.
Gunda Dreyer
Anonymität und Autorschaft heute – Aktuelle Probleme anonymer Publikationen im Internet
I.
Einleitung
Fragen im Zusammenhang mit anonymer Autorschaft sind nicht nur wiederholt Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen der letzten Jahre gewesen. Sie sind heute mehr denn je in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Das zeigt der nachfolgende Blick auf eine aktuelle Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Frage der Zulässigkeit des Internet-Bewertungsportals www.spickmich.de. Internet-Bewertungsportale, die etwa ab dem Jahre 2007 vermehrt ins Leben gerufen werden, sind Internet-Plattformen, auf denen die Nutzer Bewertungen über Angehörige bestimmter Berufsgruppen abgeben können. Ihre Kritiken werden dann entweder unmittelbar auf der Website veröffentlicht oder mit denen anderer Nutzer zu Sammelbewertungen zusammengefasst und veröffentlicht. Betroffen von derartigen Evaluierungsverfahren waren bislang vor allem Pädagogen und Hochschulprofessoren, deren Bewertung unter Internet-Adressen wie www.meinprof.de oder www.spickmich.de erfolgte. Das Pikante daran: Während der bewertete Lehrer oder Professor namentlich und unter Angabe von Funktion und Dienstort kenntlich gemacht wird, dementsprechend der öffentlichen Kritik als Person ausgesetzt ist, bleibt der Urheber der Bewertung anonym. An eben diesem Punkt setzt auch die Kritik der Pädagogen und Hochschullehrer bzw. ihrer Verbände an. Sie rügen neben einem von ihnen erkannten Verstoß gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen an der Bewertung vor allem die Anonymität des Bewertenden. Da Letzterer unbekannt bleibe, könne es nicht nur zu einer Verfälschung von Eintragungen kommen, sondern fehle es auch an der erforderlichen »Waffengleichheit« zwischen Kritisierendem und Kritisiertem. Dem Bewerteten fehle letztlich jede Handhabe, die Evaluierung zu verifizieren und gegen unrichtige, ungerechte oder verfälschende Bewertungen vorzugehen. Dies war Anlass für eine Welle von Prozessen gegen die Betreiber entsprechender Internet-Bewertungsportale. Während in England, den USA und Kanada »Rate-myteacher«-Seiten unbeanstandet blieben, wurde die Lehrerbewertungseite www.Note2be. com in Frankreich verboten. In Deutschland urteilten die angerufenen Gerichte überwiegend für die Zulässigkeit derartiger Internet-Bewertungsportale.1 Sie argumentierten, im beruflichen Bereich müsse sich der Einzelne auf die Beobachtung seines Verhaltens
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Siehe nur LG Berlin, Urt. v. 31. Mai 2007 – 27 S 2/07; LG Regensburg, Urt. v. 2.2.2009, 1 O 1642/08; LG Köln, Urt. v. 27. Juni 2007 – 28 O 263/07; v. 22. August 2007 – 28 O 333/07; v. 30. Januar 2008 – 28 O 319/07; LG Duisburg, Urt. v. 18. April 2008 – 10 O 350/07; OLG Köln, Urt.
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Gunda Dreyer
durch eine breite Öffentlichkeit einstellen und Kritik hinnehmen. Die Benotung bzw. Bewertung der Person und der Leistungen der Lehrperson dienten dem Informationsinteresse der Schüler und Studenten bzw. deren Eltern und seien nicht als Schmähkritik zu werten. Dem schloss sich inzwischen auch der in letzter Instanz angerufene Bundesgerichtshof im Ergebnis an. In seinem mit großer Spannung erwarteten Urteil in Sachen www. spickmich.de vom 23. Juni 2009 bestätigte er für das namensgleiche Community-Portal die Einschätzung, dass die Veröffentlichung der dort anonym erfolgenden Lehrerbewertung im konkreten Fall zulässig sei.2 Zur Orientierung: Das Portal www.spickmich.de bietet neben weiteren Funktionen eines sozialen Netzwerks die Möglichkeit, nach Registrierung als Schüler der betreffenden Schule in bestimmten Einzelkategorien (»fachlich kompetent«, »gut vorbereitet«, »faire Prüfungen« und »vorbildliches Auftreten«) die dort tätigen Lehrer anonym zu bewerten. Einsehbar ist die Bewertungsseite für alle als Schüler oder Interessierte registrierten Benutzer. Eine sich durch die Veröffentlichung in ihren Rechten beeinträchtigt sehende Lehrerin, deren Leistungen mit der Note 4,3 bewertet worden waren, hatte vor dem Landgericht Köln gegen die Websitebetreiberin und deren Geschäftsführer auf Löschung und Unterlassung der Veröffentlichung ihrer Daten geklagt – und war unterlegen. Ihre Berufung zum Oberlandesgericht Köln blieb erfolglos.3 Der gegen die Entscheidung angerufene Bundesgerichtshof wies die Revision zurück. Ansprüche auf Löschung oder Unterlassung der Veröffentlichung der Daten aus § 35 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 BDSG bzw. § 823 Abs. 2, 1004 BGB analog in Verbindung mit § 4 Abs. 1 BDSG bestünden nicht, weil die Beklagten gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 BDSG, der die geschäftsmäßige Datenerhebung und -speicherung zum Zweck der Übermittlung unter bestimmten Voraussetzungen aufgrund einer Interessenabwägung zulässt, zur Nutzung berechtigt seien. Äußerungen im beruflichen Bereich, in dem sich die persönliche Entfaltung von vornherein im Kontakt mit der Umwelt vollziehe, dürften nur im Fall schwerwiegender Auswirkungen auf das Persönlichkeitsrecht mit negativen Sanktionen verknüpft werden, so etwa bei einer – im konkreten Fall jedoch nicht gegebenen – drohenden Stigmatisierung, sozialen Ausgrenzung oder Prangerwirkung. Es bestehe ein schützenswertes Informationsinteresse der Schüler und deren Eltern, denen die Daten über das berufliche Auftreten der Lehrkraft stärker als im Rahmen beispielsweise von Elternsprechtagen und Schulhofgesprächen zum Meinungsaustausch und zur Orientierung dienen könnten. Die Veröffentlichung der Bewertung sei nicht schon deshalb unzulässig, weil sie anonym abgegeben werde. Die anonyme Nutzung sei dem Internet immanent. Auch müsse der Gefahr einer Selbstzensur entgegengewirkt werden. Die Gefahr des Entstehens eines unzutreffenden Eindrucks vermeintlich nicht gegebener Neutralität und Objektivität erachtete der Bundesgerichtshof gering. Abgesehen davon, dass im konkreten Fall anderen Nutzern die Möglichkeit eingeräumt war, über eine
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v. 27. November 2007 – 15 U 142/07; v. 3. Juli 2008, 15 U 43/08; nunmehr BGH, Urt. v. 23. Juni 2009 – VI ZR 196/08, VersR 2009, 1131, 1135 – www.spickmich.de. BGH, Urt. v. 23. Juni 2009, Az.: VI ZR 196/08, VersR 2009, 1131 – www.spickmich.de. OLG Köln, Urt. v. 3. Juli 2008, Az.: 15 U 43/08, ZUM 2008, 869ff.
Anonymität und Autorschaft heute – Aktuelle Probleme anonymer Publikationen im Internet
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Schaltfläche »Hier stimmt was nicht« auf Unstimmigkeiten aufmerksam zu machen, sei den Nutzern eines Schülerforums auch bewusst, dass die Bewertung nicht die gleiche Bedeutung haben könne wie beispielsweise ein Warentest für ein bestimmtes Produkt, der von neutralen, objektiven und sachkundigen Testern durchgeführt werde. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs hat nicht nur Zustimmung erfahren.4 Die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil wurde jedoch, gemäß § 93d Abs. 1 S. 3 BVerfGG ohne Begründung, nicht zur Entscheidung angenommen. Die Kritiker bemängeln insbesondere, dass die sogenannte Prangerwirkung des Internet nicht hinreichend berücksichtigt worden sei. Die im Internet veröffentlichen Informationen sind weltweit für jedermann abrufbar und recherchierbar. Auch eine gerichtlich angeordnete Löschung ist für den Betroffenen faktisch kaum kontrollierbar. Ist ein Reputationsverlust für den Betroffenen erst einmal eingetreten, lässt er sich aufgrund der Streuwirkung des Mediums kaum mehr kompensieren.5 Internetveröffentlichungen personenbezogener Informationen können daher enorme Macht und erheblichen Einfluss ausüben. Dabei geht es nicht so sehr um die konkret vergebene Note. Zu beachten ist vielmehr, dass mit der Rezeption einer nachteiligen, u.U. nur die Auffassung einiger weniger Schüler oder Studenten widerspiegelnden Bewertung negative Assoziationen verbunden sein können, die auszuräumen dem Pädagogen oder Hochschulprofessor schwer fallen wird, zumal die Bewertungen häufig so ungenau sind, dass kaum erkennbar wird, wo der Betroffene überhaupt ansetzen muss.
II.
Schutz personenbezogener Daten gegen anonyme Kritik auf europäischer Ebene
Dem daher bestehenden Interesse der Bewerteten gegen eine Internet-Bewertung tragen im Ansatz datenschutzrechtliche Vorschriften Rechnung. Auf nationaler Ebene setzen die datenschutzrechtlichen Regelungen der Veröffentlichung personenbezogener Daten im Internet Grenzen. Auf europäischer Ebene ist der Schutz personenbezogener Daten u. a. durch die bei der Auslegung dieser Bestimmungen zu beachtende Richtlinie 94/46/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr6 gewährleistet. Die Problematik besteht jedoch darin, dass die Bestimmungen der Richtlinie verhältnismäßig allgemein gehalten sind, da sie auf viele unterschiedliche
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Siehe z. B. die Kritik von Ralph Oliver Graef, »Lehrerbewertung in einem Schüler-Internetportal – ›spickmich.de‹«, in: ZUM, 2009, S. 759ff.; Walter Haensle/Rahel Reichold, »Zur Frage der Zulässigkeit der Erhebung, Speicherung und Übermittlung von personengebundenen Daten im Rahmen eines Bewertungsforums im Internet – Anmerkung zur Entscheidung des BGH v. 23.06.2009«, in: DVB, l/2009, S. 1329; Arnd-Christian Kulow, Die Spickmich-Entscheidung des BGH, K & R 2009, S. 678; Karl-Heinz Ladeur, Anmerkung zu BGH JZ 2009, 961ff. – Spickmich, JZ 2009, 966ff. Vgl. BVerfG, DB 2002, 2588. ABl. L 281 v. 23.11.1995, S. 31–50.
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Situationen in allen Mitgliedstaaten Anwendung finden sollen. Dementsprechend geben sie den nationalen Gerichten kaum Anhaltspunkte, anhand welcher Kriterien sich die Abwägung zwischen den Interessen des Bewertenden und denen des Bewerteten zu vollziehen hat. Eine zusätzliche Schwächung der Wirkungen der Richtlinie ist durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bewirkt worden. In seinem »Lindquist«Urteil7 hat er entschieden, die Bestimmungen der Richtlinie 95/46 enthielten als solche keine Beschränkungen, die im Widerspruch zum allgemeinen Grundsatz der Meinungsfreiheit oder zu anderen innerhalb der Europäischen Union geltenden Rechten und Freiheiten stehen, die u. a. dem Recht aus Art. 10 EMRK entsprechen. Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs ist es demgemäß Sache der nationalen Behörden und Gerichte, die für die Anwendung der die Richtlinie 95/46 umsetzenden nationalen Regelung zuständig sind, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den betroffenen Rechten und Interessen einschließlich der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechte sicherzustellen.8
III. Nationaler Rechtsrahmen für anonyme Kritik Als Folge dieser Rechtsprechung gibt es für die Zulässigkeit meinungsgeprägter Bewertungen im Internet keine klare Grenze. Vielmehr erfordert der wertausfüllende Begriff des »schutzwürdigen Interesses« nach § 29 BDSG eine Abwägung des Interesses des Betroffenen an dem Schutz seiner Daten und des Stellenwerts, den die Offenlegung und Verwendung der Daten für ihn hat, mit den Interessen der Nutzer, für deren Zwecke die Speicherung erfolgt, unter Berücksichtigung der objektiven Wertordnung der Grundrechte. Da sich das Vorliegen von schutzwürdigen Interessen des Betroffenen nur in Bezug auf den zukünftigen Verwendungskontext der Daten bestimmen lässt, wobei schutzwürdige Interessen des Betroffenen in der Wahrung seines Persönlichkeitsrechts, aber auch in der Abwehr von wirtschaftlichen Nachteilen liegen können, die bei der Veröffentlichung der Daten zu besorgen sind,9 hat die Abwägung Einzelfallcharakter. Liegen mögliche schutzwürdige Interessen des Betroffenen in der Wahrung seines Persönlichkeitsrechts, hat sie zwischen dem Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung des Bewerteten nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Recht auf Kommunikationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG zu erfolgen.
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Urt. v. 6. November 2003, Rs. C–101/01, Tz. S. 84ff., abgedruckt in AfP 2004, S. 248ff.; bestätigt in EuGH Urt. v. 29. Januar 2008, Rs. C–275/06, Tz. 67f., abgedruckt in GRUR 2008, S. 241ff. – Productores de Música de Espana/Telefónica de Espana SAU, Promusicae/Telefónica. Urt. v. 6. November 2003, Rs. C–101/01, Tz. 84ff., abgedruckt in AfP 2004, S. 248ff.; bestätigt in EuGH Urt. v. 29. Januar 2008, Rs. C–275/06, Tz. S. 67f., abgedruckt in GRUR 2008, S. 241ff. – Productores de Música de Espana/Telefónica de Espana SAU, Promusicae/Telefónica. BGH VersR 2009, S. 1131, S. 1134 – www.spickmich.de.
Anonymität und Autorschaft heute – Aktuelle Probleme anonymer Publikationen im Internet
IV.
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Medienspezifische Besonderheiten anonymer Kritik
Der Bundesgerichtshof stellt für die Schwere des Eingriffs in das Recht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung maßgeblich darauf ab, ob es sich um Äußerungen über die Sozialsphäre des Betroffenen handelt. Während Daten, die der Intim- oder Geheimsphäre zuzuordnen sind, besonders hohen Schutz genießen, dürften Äußerungen im Rahmen der Sozialsphäre nur im Fall schwerwiegender Auswirkungen auf das Persönlichkeitsrecht mit negativen Sanktionen verknüpft werden, etwa wenn eine Stigmatisierung, soziale Ausgrenzung oder Prangerwirkung zu besorgen ist. Die berufliche Tätigkeit des Betroffenen gehöre zu seiner Sozialsphäre. Hier müsse er regelmäßig damit rechnen, dass sein Verhalten wegen der Wirkungen, die seine Tätigkeit für andere hat, beobachtet und in der Öffentlichkeit diskutiert und auch kritisiert werde. Ferner wird berücksichtigt, dass es sich bei den Daten um allgemein zugängliche Informationen aus öffentlichen Quellen handelt, bei denen der Betroffene ebenfalls mit einer Verwertung rechnen müsse. Es stehe der Zulässigkeit der Internet-Bewertung bei dieser Sachlage nicht entgegen, dass die Evaluierung anonym auf der Grundlage einer begrenzten Anzahl von Bewertungen erfolge. Die anonyme Nutzung sei dem Internet immanent. Eine Verpflichtung der Bewerter, sich zu ihrer Meinung zu bekennen, begründe die Gefahr einer Selbstzensur, der durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung entgegengewirkt werden solle. Diese Argumentation ist angreifbar. Sie beruht auf der Erwägung, dass der Anonymität der Bewertung im Internet eine andere Bedeutung zukommt als bei Printbewertungen. Dem kann nicht zugestimmt werden. Das Argument, dass die anonyme Nutzung dem Internet immanent sei, spielt für die Zulässigkeit der Internet-Bewertungssysteme keine Rolle. Die Regelungen in §§ 12 ff. TMG bzw. § 4 Abs. 4 Nr. 10 TDG a.F. zum Schutz der Nutzerdaten dienen nur dem Schutz der Nutzerdaten gegenüber dem Diensteanbieter. Für das Verhältnis von Nutzern zu anderen Nutzern lässt sich daraus nichts herleiten.10 Der Internet-Nutzer verliert den eigenen Schutz vor Persönlichkeitsrechtsverletzungen nicht dadurch, dass er eigene Beiträge anonym oder unter einem Pseudonym ins Internet einstellt.11 Wer im Internet andere verunglimpft, kann sich umgekehrt nicht darauf zurückziehen, zur Geheimhaltung seiner Daten berechtigt zu sein. Ein Recht des Nutzers gegenüber Lehrern, Professoren oder anderen Personen, deren Person und Leistungen im Internet unter erleichterten Voraussetzungen anonym abgeben zu dürfen, gibt es nicht. Ein »Internet-Bonus« für den Kritiker ist abzulehnen. Ganz im Gegenteil bestehen bei anonymer Kritik im Internet sogar besondere Gefahren für den Kritisierten, denen im Rahmen der Interessenabwägung Rechnung zu tragen ist. Ihren spezifischen Charakter erhält die anonyme Internet-Äußerung durch das Zusammenwirken der charakteristischen Merkmale einerseits anonymer Äußerungen und
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Karl-Heinz Ladeur, Anmerkung zu BGH JZ 2009, S. 961ff. – Spickmich, JZ 2009, S. 966, S. 967. Vgl. BGH VersR 2007, S. 1004.
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andererseits des zur Veröffentlichung gewählten Mediums: Im Internet veröffentlichte anonyme Äußerungen sind in erheblich geringerem Maße Kontrollmechanismen unterworfen als im Gespräch gegenüber Dritten oder durch Veröffentlichung in Printmedien abgegebene kritische Erklärungen. Regelmäßig wird der Kritiker davon ausgehen, dass die Äußerung angesichts der Anonymität des Netzes nicht zu ihm zurückverfolgt werden kann. Eine inhaltliche Kontrolle wie bei Veröffentlichungen in Printmedien findet nicht statt. Auch die bei Äußerungen im Gespräch mit Dritten zumindest bestehende soziale Kontrolle entfällt. Vielmehr verführt die Situation der Äußerung – der Handelnde sitzt allein vor dem Computer – unter Umständen sogar dazu, sich diffamierend über unliebsame Personen zu äußern.12 Zudem besteht ein erheblich größeres Risiko übereilter Äußerungen als bei der Veröffentlichung in Printmedien, weil der dort übliche Verfahrensgang nicht eingehalten werden muss, sondern die Veröffentlichung durch bloßen Mausklick erfolgt. Schließlich sind im Hinblick auf die Streuweite einer Internet-Veröffentlichung häufig auch die Gefahren einer Rufschädigung für den Bewerteten größer als bei der Bewertung in Printmedien.
V.
Anonyme Kritik als Mittel des Machtausgleichs
Entscheidend ist daher bei Internet-Bewertungssystemen im Rahmen der Abwägung der tangierten Grundrechte, ob die belastenden Wirkungen für den Bewerteten trotz der Anonymität des Bewertenden und der Belastungen, die eine Internet-Bewertung per se für den Bewerteten mit sich bringt, angesichts des an den Bewertungen bestehenden Informationsinteresses noch hinzunehmen und zuzumuten sind. Die Befürworter der Internet-Bewertungssysteme können sich dabei darauf berufen, dass das Grundrecht der Meinungsfreiheit gerade aus dem besonderen Schutz der Machtkritik erwachsen ist und diesem weiter dient. Daher darf ein zwischen Kritisierendem und Kritisiertem bestehendes Machtungleichgewicht nicht dazu führen, dass eine Bewertung aus Angst vor Repressionen ganz unterbleibt.13 Der Schutz des Grundrechts der Meinungsfreiheit würde jedenfalls bei Lehrer- und Professorenbewertungen nicht erreicht, wenn der Publizierende seine Kritik in einer Weise äußern müsste, die eine Rückverfolgung auf seine Person ohne weiteres erwarten ließe, weil er in diesem Fall durch die Befürchtung einer »do ut des« negativen Bewertung seiner Leistungen in der Anbringung der Kritik gehemmt wäre. Einer uneingeschränkten Zulässigkeit von Internet-Bewertungssystemen steht jedoch entgegen, dass es vielfältige ungleich weniger belastende Möglichkeiten gibt, Kritik an Lehrpersonen zum Ausdruck zu bringen und das Interesse der betroffenen Öffentlichkeit an wahrheitsgemäßer und vollständiger Information über die betreffende Lehrperson zu befriedigen. Dies kann z. B. im Gespräch mit dem Vertrauenslehrer oder
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Vgl. Susanne Beck, »Internetbeleidigung de lege lata und de lege ferenda – Strafrechtliche Aspekte des ›spickmich‹-Urteils«, in: MMR, 2009, S. 736, S. 739. BGH NJW 2009, S. 915f.
Anonymität und Autorschaft heute – Aktuelle Probleme anonymer Publikationen im Internet
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dem Direktor oder im Diskurs mit anderen Schülern, Studenten oder Eltern geschehen. Internet-Bewertungsforen bieten insoweit lediglich eine zusätzliche, die herkömmlichen Methoden ergänzende Möglichkeit, Kritik an Lehrpersonen zu äußern und wahrzunehmen.
VI. Eingriffsschwere anonymer Kritik Eine anonyme Kritik greift unabhängig davon, ob anonyme Meinungsäußerungen in dem entsprechenden Medium üblich sind, regelmäßig erheblich stärker in das Recht des Bewerteten auf informationelle Selbstbestimmung ein, als die einem bestimmten Kritiker namentlich zuzuordnende Bewertung. Gegen anonyme Angriffe gegen seine Person oder seine Leistungen kann sich der Bewertete im Ergebnis nicht wirksam zur Wehr setzen. Er kann weder einen Richtigkeitsabgleich vornehmen noch überprüfen, ob die Bewertung einer subjektiven Verärgerung des Bewerters, etwa über die eigene Benotung durch den Bewerteten, entspringt. Er hat selbst dann, wenn die Bewertung unzutreffend oder verfälschend ist, im Ergebnis auch keine Handhabe, gegen einzelne Bewerter persönlich vorzugehen, was letzteren bei der Abgabe der Bewertung durchaus bewusst ist und die Bewertung beeinflusst. An einer unrichtigen oder verfälschten Darstellung besteht kein schutzwürdiges Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Die Aussagekraft von Lehrer- und Professorenevaluierungen in Internet-Bewertungssystemen ist jedoch zweifelhaft. Häufig, so auch in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Sachverhalt, erfolgt die Evaluierung auf der Grundlage der Angaben nur einiger weniger Personen und ist daher nicht geeignet, einen Überblick über die allgemeine Meinung der Schüler bzw. Studenten zu geben. Dass die Ergebnisse, wie die Befürworter der Internet-Bewertungssysteme anführen, zumindest den allgemeinen Trend der Meinung der Schüler bzw. Studenten zutreffend wiedergeben, ist bislang noch nicht belegt. Angesichts des häufig geringen Prozentsatzes der Teilnehmer einer Lehrveranstaltung, die im Anschluss die Bewertung vornehmen, drängt sich im Gegenteil das Risiko von Verfälschungen der Evaluation bis hin zum Missbrauch der Bewertungsmöglichkeiten auf. Letzterem versuchen die Betreiber der Bewertungsportale dadurch Rechnung zu tragen, dass sich die Bewerter vor Abgabe einer Bewertung registrieren müssen. Dies und der Einsatz eines sogenannten »AbuseButtons«, durch den der Betreiber auf etwaige Rechtsverstöße aufmerksam macht, sowie Hinweise an den Bewerter vor Registrierung auf die mögliche Strafbarkeit der Abgabe falscher Bewertungen, sollen die Missbrauchsgefahr senken. Die Registrierung und ein Korrektiv möglicher Manipulationen – in Form einer Schaltfläche »Hier stimmt etwas nicht« – können jedoch nur auf offensichtliche Unstimmigkeiten etwa bei Mehrfachbewertungen eines einzelnen Nutzers oder von Bewertungen durch kursfremde Nutzer aufmerksam machen. Das systemimmanente Problem, dass nämlich die Bewertung nur durch einzelne, in verschiedenster Weise hierzu motivierte Besucher der entsprechenden Lehrveranstaltung erfolgt, deren Bewertungen in keiner Weise verifizierbar oder auch nur nachvollziehbar gemacht werden müssen, lässt sich dadurch aber nicht lösen. Dies lässt den Schutz der Bewertenden aus Art. 5 Abs. 1 GG zwar nicht entfallen, weil es sich
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schwerpunktmäßig nach wie vor um Meinungsäußerungen handelt, zudem die Unwahrheit beziehungsweise bewusste Unrichtigkeit auch nicht unzweifelhaft feststeht,14 darf aber im Rahmen der Interessenabwägung nicht unberücksichtigt bleiben. Kritische Äußerungen in der beruflichen Sphäre können je nach den Umständen des Einzelfalls unterschiedlich starke Eingriffsintensität haben.15 Zu geringes Gewicht wurde in der »spickmich«-Entscheidung dem Umstand beigemessen, dass die in Rede stehenden Internet-Kritiken wegen ihrer Art und Zielwirkung besonders belastende Auswirkungen für die kritisierten Personen haben. Insoweit unterscheiden sie sich wegen ihres persönlichen Charakters und der damit verbundenen Langzeitwirkung der Bewertung auch von Unternehmensbewertungen. Hier wird gerade nicht nur die Leistung des Betreffenden, sondern auch seine Person bewertet, also das, was ihn dauerhaft als Einzelnen ausmacht. Wer z. B. wie in dem vor dem Landgericht Regensburg verhandelten Rechtsstreit zur Bewertungsplattform www.MeinProf.de mit »Seine Unwissenheit versucht er meist durch viel Blabla zu verbergen. Aber netter leicht verwirrter Prof« bewertet wird,16 wird dadurch nicht nur als Dozent, sondern auch als Person abgewertet. Die Abwertung ist dauerhaft, weil Charakteristika wie »leicht verwirrt« anders als der Lehrstil Bestandteil der Persönlichkeit sind und sich nicht ohne weiteres ändern lassen. Dass den Nutzern einer derartigen Plattform bewusst sein wird, dass die Bewertungen nicht die gleiche Bedeutung haben wie beispielsweise ein Warentest, der von neutralen, objektiven und sachkundigen Testern durchgeführt wird, ändert daran nichts. Beide Bereiche sind schon deshalb nicht vergleichbar, weil es nicht um die Bewertung eines Produkts, sondern um die einer Person geht. Hinzu kommt, dass es sich bei der Bewertung von Pädagogen und der Rezeption derartiger Bewertungen um einen erheblich stärker emotional besetzten Bereich handelt, bei dem rationale Erwägungen wesentlich schneller in den Hintergrund treten werden als etwa bei einer Kaufentscheidung für ein Produkt. Das Wissen darum, dass die Bewertung nur die Meinung Einzelner wiedergibt, erscheint daher kaum geeignet, negative Assoziation der Nutzer durch eine abwertende Kritik zu vermeiden.
VII. Anonyme Kritik als Träger eines schutzwürdigen Informationsinteresses Hinzu kommt, dass eine echte Begrenzung der Kenntnisnahmemöglichkeiten der Öffentlichkeit auf den Kreis der Nutzer, die ein berechtigtes Informationsinteresse an der Bewertung haben, nicht gewährleistet erscheint. Auch wenn grundsätzlich Form und Umstände einer Meinungskundgabe so gewählt werden können, dass damit die größte Verbreitung oder die stärkste Wirkung erzielt wird,17 ist das Recht auf freie Wahl der Form der Meinungsäußerung nicht schrankenlos gewährleistet. Damit verbundene
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Vgl. BVerfG, NJW-RR 2000, S. 1209, S. 1210; BGH VersR 2008, S. 1081, S. 1082. Vgl. Karl-Heinz Ladeur 2009 (wie Anm. 10), S. 961 – www.spickmich.de, JZ 2009, S. 966f m.w.N. Vgl. LG Regensburg, Urt. v. 2.2.2009, Az.: 1 O 1642/08. BVerfGE 93, 266, 289; 97, 391; BVerfG, NJW 2003, 1109, 1110.
Anonymität und Autorschaft heute – Aktuelle Probleme anonymer Publikationen im Internet
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Beeinträchtigungen der Rechte Dritter müssen zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet18 sowie erforderlich und das Verhältnis zwischen Rechtsgüterschutz und -beschränkung muss insgesamt angemessen sein.19 Das erfordert hier angesichts der erheblichen Breitenwirkung des Internets und der Beeinträchtigungen des gesellschaftlichen Ansehens, die mit einer negativen Bewertung für den Bewerteten verbunden sind, dass die Veröffentlichung der Information auf solche Benutzerkreise wirksam beschränkt wird, die ein berechtigtes Interesse an der Kenntnisnahme von der Bewertung haben. Dies sind jedoch lediglich die unmittelbar an der Schule bzw. Universität eingeschriebenen Schüler bzw. Studenten und deren Eltern oder nahestehenden Personen, nicht hingegen die übrige Öffentlichkeit. Ein Informationsinteresse der Allgemeinheit an den Bewertungsergebnissen derartiger Internet-Bewertungssysteme kann nach dem bisherigen Stand der Organisation derartiger Systeme nicht anerkannt werden. Die Bewertung einzelner Lehrkräfte bzw. Dozenten stellt keinen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage dar. Bei der kritisierten beruflichen Tätigkeit handelt es sich weder per se um eine öffentlichkeitsinteressierende Tätigkeit, noch besteht ein Zusammenhang zu aktuellen Fragen des öffentlichen Interesses. Regelmäßig wenden sich die Lehrer bzw. Dozenten bei ihrer kritisierten beruflichen Tätigkeit auch nicht selbst an die Öffentlichkeit und ziehen dadurch das Interesse der Medien auf sich. Angesichts der unsicheren Grundlage der Evaluierungsergebnisse, die lediglich die Meinung einzelner Schüler bzw. Studenten wiedergeben und daher allenfalls einen gewissen Trend der Bewertung wiederspiegeln, können an die in derartigen Evaluierungsverfahren gewonnenen Bewertungen schließlich auch keine Konsequenzen anderer Art geknüpft werden, etwa was mögliche Veränderungen des Systems oder der Besetzung des Lehrkörpers angeht. Um derartige Veränderungen auch nur in Erwägung zu ziehen, sind die Informationen zu vage und ist die Bewertungsgrundlage zu unsicher. Eine statistische Validität besteht nicht.20 Ein schützenswertes Interesse an dem Bewertungsergebnis können daher lediglich diejenigen Personen haben, die in unmittelbarem Kontakt mit den betreffenden Lehrpersonen stehen und die Einschätzung bei der Entscheidung für die Belegung einzelner Kurse mit berücksichtigen wollen, mithin die Schüler bzw. Studenten und deren Eltern. Umgekehrt ist auch die Beeinträchtigung, die von der Bewertung für den Betroffenen ausgeht, umso höher, je größer der Kreis der Personen ist, denen die Bewertung zugänglich gemacht wird. Diesem Interessenkonflikt tragen die meisten Bewertungssysteme dadurch Rechnung, dass die Information über allgemeine Suchsysteme wie Google nicht aufgefunden werden kann, vielmehr der Informationssuchende die Internetseite selbständig aufsuchen und sich dort registrieren muss, bevor er die Bewertungsinformation einsehen kann. Ob dadurch ein angemessener Interessenausgleich gefunden ist, muss jedoch bezweifelt werden. Eine nennenswerte Hürde für Dritte, die kein berechtigtes Informationsinte-
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BGH, VersR 1994, 1116, 1117. BGHZ 91, 233, 240 m.w.N.; BGH VersR 2005, 274. Karl-Nikolaus Peifer/Johannes Kamp, »Datenschutz und Persönlichkeitsrecht – Anwendung der Grundsätze über Produktkritik auf das Bewertungsportal www.spickmich.de?«, ZUM, 2009, S. 185, S. 189f.
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resse habe, dürfte die Registrierungsverpflichtung inzwischen kaum mehr darstellen: Das Auffinden der Plattform stellt den versierten Internetnutzer vor keinerlei Schwierigkeiten, da inzwischen die Kenntnis von der Existenz derartiger Bewertungsplattformen zum Allgemeinwissen gezählt werden muss. Zur Erlangung der Registrierung sind zumeist, mit Ausnahme der Angabe einer E-Mail-Adresse, keine persönlichen Nachweise erforderlich. Abgesehen davon sind bei vielen Internet-Bewertungsplattformen Teile der Bewertung auch ohne Registrierung einsehbar. So werden z. B. auf einer bekannten Dozentenbewertungsplattform die jeweils neusten Bewertungen unter dem Namen des jeweiligen Dozenten schlagwortartig (»ein Nutzer bewertet den Kurs ... mit mangelhaft«) wiedergegeben. Es sind daher Zweifel angebracht, ob die derzeit bestehenden Einschränkungen der Kenntnisnahmemöglichkeit der Gefahr einer gesellschaftlichen Abwertung der Betreffenden noch wirksam entgegenwirken können. Zudem gehören gerade hier häufig Ehepartner, Freunde und Bekannte dem beruflichen Umfeld des Bewerteten an, sodass sich die öffentlich zugängliche Kritik in der Sozialsphäre zusätzlich belastend auf die Privatsphäre auswirken kann.
VIII. Fazit Das Thema Anonymität und Autorschaft ist heute also auch in seinen rechtlichen Bezügen aktueller denn je. Die aktuelle Relevanz und Medienwirksamkeit des Themas hängt mit der gestiegenen Bedeutung des Mediums Internet zusammen. Der anonyme Autor kann offen sagen, was er denkt, ohne dadurch Repressionen oder sonstige Nachteile befürchten zu müssen. Der bei der Nutzung des Mediums Internet von Rechts wegen gewährleistete Schutz der Anonymität der Daten des Internet-Nutzers gegenüber dem Dienstleistenden führt dazu, dass die anonyme Nutzung, wie der Bundesgerichtshof es jüngst ausgedrückt hat, dem Internet immanent ist.21 Dies und der Umstand, dass über das Internet mit großer Streuwirkung die unterschiedlichsten Nutzerkreise einfach und schnell erreicht werden, lassen das Internet als ideales Medium für den anonymen Austausch kommunikativer und meinungsbildender Inhalte erscheinen. Dass die Zulässigkeit immer neuer Formen dieses Austauschs dabei konträr beurteilt wird, liegt in der Natur der Sache. In der Frage der Zulässigkeit des Betreibens von sogenannten InternetBewertungsplattformen ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Das Spickmich-Urteil erweitert die Möglichkeiten anonymer Publikationen im Internet. Der Bundesgerichtshof hat aber auch deutlich gemacht, dass die in Sachen www.spickmich.de getroffene Entscheidung auch auf den besonderen Umständen des Einzelfalls beruht und nicht alle Internet-Bewertungssysteme über einen Kamm geschoren werden können.
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BGH Urt. v. 23. Juni 2009 – VI ZR 196/08, VersR 2009, S. 1131, S. 1135 – www.spickmich.de; vgl. schon BGH VersR 2008, S. 1004f.
Namensregister
Abälard, Pierre 35 Abegg, Justus Friedrich 253 Addison, Joseph 91, 179 Adorno, Theodor W. 326f., 356f. Aelst, Paul von der 22, 33 Alanus ab Insulis 39 Albrecht 71 Albrecht von Kemenaten 59 Albrecht, Wilhelm Eduard 253f. Alexis, Willibald (siehe Häring, Georg Wilhelm) Allfeld, Philipp 276 Andreas-Friedrich, Ruth 334 Anonyma [Hillers, Marta] 12, 15ff. Anonymus passim Apollinaire, Guillaume 51 Aquin, Thomas von 47, 135 Aragon, Louis 328 Archipoeta 64 Arendt, Hannah 325 Aretino, Pietro 14 Aristoteles 261 Arnim, Achim von 3, 22, 30f., 56, 58, 236, 239, 241ff., 260, 346 Arnim, Mary Anette Gräfin von 274 Arp, Jean 51 Äsop 43, 51 Astruc, Jean 226 August III. 155, 170 Augustinus 142 Bachtin, Michail 303, 311 Baggesen, Jens Immanuel 13 Bahr, Hermann 298, 349 Balthasar, Joseph Anton Felix von 201 Barbier, Antoine-Alexandre 27 Barbin, Claude 238 Bartels, Adolf 344ff. Barthel, Kurt 285 Barthel, Max 313, 317, 322 Barthes, Roland 6f., 51 Bassi, Laura 90 Baudelaire, Charles 294, 301
Baudissin, Wolf Graf von 274 Baumbach, Rudolf 273 Baumgarten, Alexander Gottlieb 177 Beauchamp, Mary (siehe Arnim, Mary Anette Gräfin von) Becher, Johannes R. 351f. Beckett, Samuel 24 Beissel, Rudolf 276ff., 284 Belyj, Andrej 311 Benjamin, Walter 3f., 292, 295, 299ff. Benn, Gottfried 300 Benz, Richard 338 Berdyczewski, Micha Joseph 273 Berendis, Hieronymus Dietrich 151, 157, 159, 162, 164f., 167f., 171 Berendsohn, Walter A. 328f., 356 Berkovskij, Naum 312 Bermann, Richard A. 349 Berthold von Regensburg 40 Bertram, Ernst 334 Beseler, Georg 253, 255f. Beutler, Ernst 338 Biermann, Wolf 329 Biester, Johann Erich 190 Bin-Gorion, Micha (siehe Berdyczewski, Micha Joseph) Bishopfield, Alexander Macphail Baron de 165 Bisky, Jens 16 Bismarck, Otto von 269 Bloch, Ernst 293, 304 Bloch, Iwan 275 Blok, Aleksandr 312 Blumenthal, Siegfried 352 Boccaccio, Giovanni 14 Bodmer, Johann Jakob 30, 236, 241 Böckelmann, Friedrich 332 Bohatta, Hanns 4, 250 Bolland, Brian 312 Bollhagen, Laurentius David 272 Bonnet, Charles 179f. Borchardt, Georg Hermann 273 Bougeant, Guillaume-Hyacinthe 90, 99, 101f., 105
370 Bouvet, Honoré 45 Braun, Adolf 18, 23, 29 Breitinger, Johann Jakob 201, 236 Breitkopf, Bernhard Christoph 91, 96, 102f., 108, 118 Brentano, Clemens 22, 30f., 236, 241, 260, 332f., 336, 338, 343, 345, 347, 355 Breton, André 51 Brjusov, Valerij 311 Bruckner, Ferdinand 384 Bruno, Giordano 14 Büchmann, Georg 335 Bürkli, David 201ff. Burton, Tim 212 Busch, Wilhelm 279, 284, 286 Campanella, Tommaso 14 Canby, Henry Seidel 24 Canterbury, Anselm von 222f. Carl August 207f., 237 Cato 43, 93, 109 Caxton, William 46 Ceram, C. W. 17 Chamisso, Adelbert von 331 Chartier, Roger 7f. Chiaveri, Gaetano 170f. Chlebnikov, Velimir 311 Chréstien de Troyes 54 Christine de Pizan 45 Collins, Anthony 218 Corvinus, Jacob (siehe Raabe, Wilhelm) Creuzer, Georg Friedrich 259 Cronawetter, Johann 163 Crugot, Martin 18, 186 Curtius, Ernst Robert 38, 59, 186 Dahlmann, Peter 4, 58 Dambach, Otto 276f., 281f. Danz, Friedrich 252 Darmancour, Pierre Perrault 238 Davidis, Henriette 274 Degeyter, Pierre 314 Deinzer, Johannes 273 Deutsch, Ernst (siehe Pudor, Heinrich) Dionysius Areopagita 135ff. Dostoevskij, Fedor 320 Drews, Richard 337 Duchamp, Marcel 51 Dühren, Eugen (siehe Bloch, Iwan) Eberhard der Deutsche 43f. Ebernand von Erfurt 66f.
Namensregister Ebner-Eschenbach, Marie von 278 Ebrard von Béthune 44 Echtermeyer, Theodor 334, 336 Eggers, Christian von 266 Ehlers, Martin 210 Eichendorff, Joseph von 332f., 336, 345, 347, 356 Eichhorn, Karl Friedrich 254f. Eilhart 61 Ėjchenbaum, Boris 312 Elster, Alexander 274, 276ff. Elvers, Christian Friederich 251 Enzensberger, Hans Magnus 12 Epikur 35, 326 Erasmus von Rotterdam 37 Ernst, Otto (siehe Schmidt, Otto Ernst) Ersch, Johann Samuel 4 Euringer, Richard 334 Fallada, Hans 384 Fechter, Paul 346 Fernow, Carl Ludwig 161 Felseneck, Marie von (siehe Mancke, Maria) Fichte, Johann Gottlieb 13, 15, 220, 228, 304 Fischer, Gustav 276 Flake, Otto 327 Fleck, Konrad 65 Fontane, Theodor 331 Forster, Edward Morgan 24, 32, 232, 234 Forster, Georg 29, 158 Foucault, Michel 1ff., 7f., 27, 52, 80, 99, 136, 177, 235, 289 Fouqué, Friedrich de la Motte 331 Francke, August Hermann 108 Freiesleben, Gottfried Christian 121 Freytag, Gustav 278f., 281, 286 Friedlaender, Salomo 290ff., 294, 304 Friedrich der Große 109, 141, 163, 240 Friedrich, Wilhelm 332 Friedrich Wilhelm I. 104, 109 Fries, Jakob Friedrich 260 Fromm, Bella 327ff., 331, 340, 353 Fuld, Ludwig 278 Füssl, Wilhelm 255 Fyner, Konrad 41 Galfried 43 Gans, Eduard 253f., 258, 262 Garve, Christian 183f., 191f. Gasset, José Ortega y 297 Gast, Peter (siehe Köselitz, Heinrich) Gath, Goswin Peter 336, 355
Namensregister Gaunilo von Marmoutiers 223 Gaupp, Ernst Theodor 253 Gedike, Friedrich 190 Genette, Gérard 2, 4, 22, 40, 53, 290 Gehlen, Arnold 294, 297f. Geiler von Kaysersberg, Johann 36 Gellert, Christian Fürchtegott 188 George, Stefan 15, 159, 273 Geßner, Salomon 30, 201f. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 240 Glücklich, Johann Christian 341ff., 348 Gmelin, Christian Gottlieb 252 Gnaeus Flavius (siehe Kantorowicz, Hermann) Goebbels, Josef 351f. Goethe, Cornelia 207 Goethe, Johann Wolfgang 19, 22, 31ff., 137, 159, 173, 205ff., 214, 236, 240ff., 267, 271, 279, 308f., 338, 343, 346, 353 Goethe, Walther 271 Goethe, Wolfgang 271 Goetz, Leopold Karl 273 Goeze, Johann Melchior 221f. Goldschneider, Ludwig 334f. Gorbatschow, Michail 56f. Gorch Fock (siehe Kinau, Johann Wilhelm) Gorodeckij, Sergej 313 Göschen, Johann Friedrich Ludwig 271 Gossler, Christoph 266 Gottfried von Straßburg 64 Gottsched, Johann Christoph 89ff., 96f., 98ff., 103ff., 113ff., 151, 156ff., 166f., 169, 172, 175 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 14, 32, 89ff., 95ff., 98ff., 105f., 121 Grabbe, Christian Dietrich 159 Gracián, Balthasar 164 Gregor der Große 38 Gregor von Nazianz 137 Greiling, Johann Christoph 28 Grimm, Jacob 3f., 22, 30, 56ff., 96, 235, 237ff., 254 Grimm, Wilhelm 4, 22, 56, 96, 235, 237ff., 243ff., 254 Grolmann, Karl von 251 Gumilev, Nikolaj 311f. Gundolf, Friedrich (Gundelfinger, Friedrich) 273 Hadlaub, Johannes 84 Hagedorn, Christian Ludwig von 13, 156ff., 160, 163 Hagedorn, Friedrich von 156
371 Hamann, Johann Georg 32, 129f., 141ff., 149f., 159 Harden, Maximilian 278 Häring, Georg Wilhelm 272 Hartlieb, Johannes 47f. Hartmann von Aue 60 Hartung, Gottfried Leberecht 13 Hasenkamp, Johann Georg 182 Hatzfeld, Adolf 349 Haupt, Gunther 335 Havenstein, Martin 331 Heck, Philipp 284 Hederer, Edgar 334 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 146, 242, 251, 253f., 256, 258, 262f., 306 Heidegger, Johann Heinrich 194f., 203 Heidegger, Martin 296ff. Heine, Heinrich 22, 137, 301, 305, 325ff. Heinecken, Carl Heinrich von 163f., 167, 171 Heinrich von Langenstein 41 Heinrich von Veldeke 60, 68f. Herder, Johann Gottfried 22, 32f., 129f., 139, 141, 144ff., 193, 208, 236, 267, 308 Hermann, Georg (siehe Borchardt, Georg Hermann) Hermlin, Stephan 326 Herwegh, Georg 271 Herz, Henriette 227 Herz, Johann Daniel 157 Hess, Felix 189 Hesse, Ferdinand 279 Hesse, Hermann 349 Heyne, Christian Gottlob 158, 187 Hilbig, Wolfgang 24f. Hillig, Curt 281 Hippokrates 51 Hirth, Friedrich 325 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 18f., 177 Hoffmann, Heinrich 277 Hofstaetter, Walther 334 Höhne, Ernst 255 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 137, 334 Holzmann, Michael 4, 250 Homer 51, 207, 242ff. Honorius von Autun 42 Hopkins, Tighe 29, 32 Horaz 100 Horn, W. O. von (siehe Oertel, Friedrich Wilhelm) Horváth, Ödon von 350 Hufeland, Christoph Wilhelm 260 Hug-Hellmuth, Hermine 17
372 Hugo, Gustav 251f., 257, 260f. Hugo von Montfort 84 Hume, David 159 Huschke, Philipp Eduard 253 Hyginus 51 Isidor von Sevilla 42 Ivanov, Vjačeslav 311, 320 Jacobi, Friedrich Heinrich 205ff., 211f. Jacobus Publicius 44 James, Henry 29 Jantzen, Hermann 333 Jaspers, Karl 289, 296ff., 302 Jaup, Heinrich Karl 255f. Jean Paul 13, 28, 159, 177, 237, 267 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 223ff., 233f. Jhering, Rudolf von 249, 283f. Jochmann, Carl Gustav 31 John, Euginie 273 Jünger, Ernst 295, 297, 299, 301ff. Justi, Carl 156, 161, 163f., 170f. Kaczinsky, Theodor J. 4 Kamnitzer, Heinz 325 Kane, Bob 212f. Kant, Immanuel 13, 106, 178, 228, 250, 163, 291, 304 Kantorowicz, Alfred 337 Kantorowicz, Hermann 249 Karl der Große 241 Karl V. 45, 241 Kästner, Erich 285, 350f. Keaton, Michael 213 Kent, Paul 277 Kerner, Justinus 308 Kierkegaard, Søren 303 Kinau, Johann Wilhelm 274 Kinderlieb, Reimerich (siehe Hoffmann, Heinrich) Kippenberg, Katharina 334 Kittl, Johann Friedrich 272 Klein, Otto 339 Kleist, Heinrich von 188, 303 Klemm, Hermann 279 Klenze, Clemens August Karl 262 Klopstock, Friedrich Gottlieb 19, 31f., 129f., 137ff., 150, 159, 334 Klotz, Christian Adolf 146 Klüber, Johann Ludwig 252 Koch, Franz 338
Namensregister Koch, Willi August 334 Kohler, Josef 277f., 281ff., 286 Kolb, Peter 331, 354 Konrad von Würzburg 54, 64, 69 Köselitz, Heinrich 273 Kneip, Jakob 333 Kneipp, Sebastian 271 Kneller, Gottfried 163 Kracauer, Siegfried 31f., 290ff., 297ff., 303f. Krakauer, Isidor 293 Kraft, Werner 338 Kremnitz, Marie 274 Kulmus, Luise Adelgunde Victorie (siehe Gottsched, Luise Adelgunde Victorie) Künneke, Eduard 285 Kunz, Carl Friedrich 19 Küttner, Karl Gottlob 185 Lachmann, Karl 243 Lairesse, Gérard de 167 Langbehn, Julius 18, 70 Langenstein, Heinrich von 41 Laudien, Arthur 334 Lautréamont, Comte de 51 Lavater, Johann Caspar 12, 14f., 32, 177ff. Leberecht, Peter (siehe Tieck, Ludwig) Leibniz, Gottfried Wilhelm 177, 308 Leisewitz, Johann Anton von 182 Lejeune, Philippe 6, 17, 27, 188 Leo, Heinrich 256 Lenau, Nikolaus (siehe Nikolaus Niembsch Edler von Strehlenau) Lenz, Jakob Michael Reinhold 93, 159 Lessing, Gotthold Ephraim 11, 21, 31, 142, 158, 205f., 208f., 221, 225, 233, 235, 240f., 303 Lessing, Karl 160 Leyen, Friedrich von der 334 Liessem, Johann Josef 334 Lindner, Johann Gotthelf 111 Lips, Hermann von 133 Liscow, Christian Ludwig 164f. Loeben, Heinrich von 345, 347 Löhe, Wilhelm 273 Lommer, Horst 354 Löwith, Karl 298 Lucilius 35ff., 47 Ludwig der Strenge 71 Lukian 112f. Lunačarskij, Anatolij 313 Luther, Martin 94, 97, 103f., 106f., 129, 131, 138, 142, 272f.
373
Namensregister Lutz, Wolfgang 339, 346f. Mach, Ernst 298 Mahn, Anny 274 Majakovskij, Vladimir 23, 311, 313 Mallarmé, Stéphane 51 Mancke, Maria 284 Mandelstam, Ossip 23, 32, 303, 307ff. Manes, Alfred 274 Mandry, Gustav von 268f., 276f., 281 Mann, Erika 352 Mann, Klaus 352 Mann, Thomas 50, 61, 291 Mannheim, Karl 301 Marcuse, Ludwig 326, 328, 354, 357 Marlitt, Euginie (siehe John, Euginie) Martin von Braga 37 Marwitz, Bruno 25 Matthäus von Vendôme 43 Maurenbrecher, Romeo 253, 264 May, Karl 284 McKean, Dave 212 Meierhold, Vsevolod 313 Meinet, Karl 65 Mencke, J. Burkhardt 160f. Mengs, Anton Raphael 151, 173ff. Menzel, Wolfgang 344 Merck, Johann Heinrich 205, 214 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 266f., 269 Meusel, Johann Georg 4, 225 Meyer, Siegbert 342ff., 348 Michaelis, Johann David 225 Miller, Frank 212 Milton, John 149 Minaty, Wolfgang 326f., 353 Mirbt, Rudolf 334 Mittermaier, Karl Josef Anton 257 Mohl, Robert von 253, 263 Möhring, Philipp 26 Moore, Alan 212 Moritz, Karl Philipp 179 Morrison, Grant 212 Moses Mendelsohn 205 Mosheim, Johann Lorenz 225 Müller, Adam 266 Müller, Johann Joachim 14 Müller von Königswinter, Wolfgang 333, 343 Musäus, Johann Karl August 237f. Musil, Robert 301f. Mutzenbacher, Josephine 275, 286 Mylius, Johann Christoph 4
Mynona, (siehe Friedländer, Salomo) Neumeister, Erdmann 103ff. Newton, John 186 Nicolai, Carl August 237f. Nicolai, Christoph Friedrich 159, 169, 186, 188, 265 Niebuhr, Barthold Georg 260 Niedner, Julius 271 Nietzsche, Friedrich 273, 291, 294, 298, 304, 353 Nikolaus Magni von Jauer 47 Nikolaus von Dybin 43 Niune 77 Oertel, Friedrich Wilhelm Philipp 271 Oesterreich, Matthias 163 Olden, Balder 328, 356 Oswald von Wolkenstein 78, 84, 87 Otfrid 69 Ovid 43, 130 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 263 Paulus (Apostel) 37, 144, 219 Pechel, Rudolf 355 Peisistratos 242 Pelc, Antonín 352 Perrault, Charles 238 Petrarca, Francesco 37 Petrus Hispanus 53 Peuntner, Thomas 41 Pilgrim von Passau 63 Pistorius, Hermann Andreas 189 Placcius, Vincentius 4 Platon 136 Plessner, Helmuth 298 Plötzl, Eduard 348 Pottier, Eugène 314 Priester Konrad 39 Puchta, Georg Friedrich 251ff., 255, 259, 261ff. Pudor, Heinrich 273 Pückler-Muskau, Hermann Fürst von 271 Puttenham, George 14 Quintilian 138 Raabe, Wilhelm 279, 286 Rabelais, François 14 Raschke, Martin 334 Rauch, Leo 164, 167 Regler, Gustav 328f., 353 Reich, Philipp Erasmus 183
374 Reimarus, Hermann Samuel 11 Reinhold, Carl Leonhard 13 Reinmar von Zweter 76, 81 Reissiger, Carl Gottlieb 272 Reyscher, August Ludwig 251, 253 Ribow, Georg Heinrich 224 Richter, Aemilius Ludwig 253, 258, 263f. Richter, Johann Gottfried 163 Ricœur, Paul 131, 133 Roemmer-Stoll, Katharina 285 Röhl, Hans 331 Rosenberg, Alfred 339, 344f. Roßhirt, Conrad Franz 256 Rothe, Richard 272 Rotteck, Carl von 255f. Rousseau, Jean-Jacques 28f., 196 Rückert, Friedrich 336 Rudeck, Wilhelm 277ff. Rudolf von Ems 64f. Ruge, Arnold 254 Runckel, Dorothee Henriette von 89 Runkel, David 238 Rupert von Deutz 39 Rust, Werner 335 Sack, Friedrich Samuel Gottfried 227 Sallwürk, Edmund von 333 Salten, Felix 275 Samuel-Ruest, Herta 305 Sandvoß, Franz 344 Sarraute, Nathalie 24 Savigny, Friedrich Carl von 249, 251f., 254, 259ff. Scham, Heinrich (siehe Pudor, Heinrich) Schaukal, Richard 347f. Scheffel, Joseph Victor von 279 Scheler, Max 298ff. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 228, 243f., 261, 263 Schiller, Friedrich 158f., 235, 241f., 267, 308 Schillings, Max von 272 Schlegel, Friedrich 252, 311 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 217, 226f., 230, 232f., 346 Schlicht, Freiherr von (siehe Baudissin, Wolf Graf von) Schlosser, Johann Georg 207, 257 Schmid, Carlo 326 Schneckenburger, Max 342, 350 Schneemann, Emil 346 Scholz, Wilhelm von 334 Schopenhauer, Arthur 12, 30, 298
Namensregister Schubert, Franz 339 Schulz, Wilhelm 349 Schumann, Robert 339 Schunck, Friedrich Christoph Karl 252f., 258, 262 Schupp, Johann Balthasar 19 Schwitters, Kurt 51 Semler, Johann Salomo 223, 225 Seneca 35ff., 41f., 44ff. Seyffert, Georg Gottlob 165 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of 228 Shakespeare, William 4, 286, 308 Sieburg, Friedrich 352 Silcher, Friedrich 337, 344, 354 Simmel, Georg 291 Sinclair, Upton 294 Sintenis, Karl Friedrich Ferdinand 253 Šklovskij, Victor 3 Spalding, Johann Joachim 186, 220ff., 233 Spee, Friedrich von 249 Spengler, Owald 289, 294 Spinoza, Baruch de 11, 15, 205ff., 308 Soupault, Philippe 51 Stahl, Friedrich Julius 255 Stalin, Josef 23, 318ff. Stapel, Wilhelm 356 Steele, Richard 179 Stein, Charlotte von 208 Stirner, Max 282, 304 Streissler, Friedrich 278 Surgant, Johann Ulrich 36 Tafinger, Wilhelm Gottlieb 252 Tagger, Theodor (siehe Bruckner, Ferdinand) Tersteegen, Gerhard 139 Tieck, Ludwig 6, 159, 236ff. Tindal, Matthew 218 Thibaut, Anton Friedrich Justus 252f., 259ff. Thomas von Aquin 47, 135 Thomasin von Zerclaere 60 Thomasius, Christian 20, 217, 232 Tjutčev, Fjodor Iwanowitsch 310 Toland, John 11, 217ff. Toller, Ernst 313ff., 322, 328f. Tomaševskij, Boris 3, 289f., 293 Traven, B. 284 Tretjakov, Sergej 300 Tynjanov, Jurij 310, 312f., 324 Uden, Konrad Friedrich 162ff., 172
Namensregister Ulrich von Liechtenstein 87 Ulrich von Türheim 61 Unruh, Fritz von 349 Usadel, Georg 334 Valdés, Alfonso de 5 Vangerow, Karl Adolph von 263f. Vergil 43, 130 Verlaine, Paul 310 Vesper, Will 334, 336, 338f. Victor, Walther 325 Vogt, Nikolaus, 345, 347 Voss, Marie 274 Voß, Johann Heinrich 242 Wächter, Carl Georg von 252 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 148 Wagner, Richard 272, 286 Walther, Georg Conrad 151, 163, 166 Walter von der Vogelweide 75f., 330 Warnkönig, Leopold August 253, 261 Wartenburg, Maximilian Yorck von 274 Weber, Adolph Dieterich 20, 255, 257 Weber, Max 291 Weller, Emil 5 Welcker, Karl Theodor 255f. Wernher der Gartenaere 69f.
375 Wieland, Christoph Martin 18f., 21, 139, 158, 160, 235, 267 Wilamowitz, Ulrich von 51 Wilda, Wilhelm Eduard 251, 253 Wilhelm I. 104, 109, 270 Wilhelm II. 275 Wille, Johann Georg 169 Willibald Alexis (siehe Häring, Georg Wilhelm) Wimmer, Richard 272 Winckelmann, Johann Joachim 13ff., 32, 151ff., 175 Windscheid, Bernhard Joseph Hubert 283 Wirnt von Grafenberg 68f. Wittsack, Richard 334, 336 Wolf, Friedrich August 242ff. Wolff, Christian 104, 177 Wolfram von Eschenbach 60f., 71, 74, 81 Woolf, Virginia 3, 9, 15 Wordsworth, William 294 Wothe, Anny (siehe Mahn, Anny) Zauner, Judas Thaddäus 20 Zedler, Johann Heinrich 95, 103f., 108, 161 Ziegler, Christiana Mariana von 89 Zimmermann, Johann Georg 177, 184, 200ff. Zollikofer, Georg Joachim 177, 183ff., 191f., 202