Animal Body. Tier-Bilder in der deutschsprachigen Literatur [1. ed.] 9783770566426, 9783846766422


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German Pages XX, 239 [259] Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Teil I Fabelhaft
Eigenwillig und trotzig, fromm und bedacht: Der Rabe des Heiligen Oswald
Warum hat der Löwe einen langen Schwanz und schläft mit offenen Augen? Tierdarstellungen im Physiologus als Erklärungsversuch der göttlichen Schöpfung
,Animal turn‘ im 18. Jahrhundert. Georg Friedrich Meiers Abhandlung Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere
Eine deutsche Nils Holgersson. Tamara Ramsays Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott (1938–51)
Nietzsches Ansichten zum Tier- und Menschsein in Also sprach Zarathustra
Teil II Beschützt, begleitet
Der Bauer, der Hund und der Soldat. Ein Gedicht von Karl Kraus und sein Umfeld
Was auf dem Spiel steht: Neue Lebensansichten eines Katers (1974)
Thomas Hürlimanns Katzen: zu Im Gartenhaus und Der große Kater
Arnold Stadlers Tiere
Teil III Nicht menschlich
Ein Bestiarium des nationalsozialistischen Grauens. Gezeichnete Tiere in Regina Hofers und Leopold
Maurers Comic Insekten
Von Sprache, die nicht heilt, oder ein Abschied
von der anthropozentrischen Weltauffassung in Sauschlachten von Peter Turrini
Wozu die Schöpfung? Die Vergöttlichung des Tieres am Beispiel des Romans Elefant von Martin Suter
Begegnungsorte: Text, Schrift, Stimme
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Animal Body. Tier-Bilder in der deutschsprachigen Literatur [1. ed.]
 9783770566426, 9783846766422

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Animal Body

Małgorzata Kubisiak, Joanna Firaza (Hg.)

Animal Body Tier-Bilder in der deutschsprachigen Literatur

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Łódź

Umschlagabbildung: Mathias Goehr

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2022 Brill Fink, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6642-6 (hardback) ISBN 978-3-8467-6642-2 (e-book)

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii Joanna Firaza, Małgorzata Kubisiak Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xv Małgorzata Kubisiak

Teil I Fabelhaft 1

Eigenwillig und trotzig, fromm und bedacht: Der Rabe des Heiligen Oswald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Cora Dietl

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Warum hat der Löwe einen langen Schwanz und schläft mit offenen Augen? Tierdarstellungen im Physiologus als Erklärungsversuch der göttlichen Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Elżbieta Tomasi-Kapral

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,Animal turn‘ im 18. Jahrhundert. Georg Friedrich Meiers Abhandlung Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Ewa Grzesiuk

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Eine deutsche Nils Holgersson. Tamara Ramsays Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott (1938–51) . . . . . . . . . . . . . . . 59 Hargen Thomsen

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Nietzsches Ansichten zum Tier- und Menschsein in Also sprach Zarathustra  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Karolina Sidowska

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Inhalt

Teil II Beschützt, begleitet 6

Der Bauer, der Hund und der Soldat. Ein Gedicht von Karl Kraus und sein Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Sigurd Paul Scheichl

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Was auf dem Spiel steht: Neue Lebensansichten eines Katers (1974)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Carola Hilmes

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Thomas Hürlimanns Katzen: zu Im Gartenhaus und Der große Kater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Joanna Firaza

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Arnold Stadlers Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Marek Jakubów

TEIL III Nicht menschlich 10

Ein Bestiarium des nationalsozialistischen Grauens. Gezeichnete Tiere in Regina Hofers und Leopold Maurers Comic Insekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Gudrun Heidemann

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Von Sprache, die nicht heilt, oder ein Abschied von der anthropozentrischen Weltauffassung in Sauschlachten von Peter Turrini  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Krzysztof Tkaczyk

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Wozu die Schöpfung? Die Vergöttlichung des Tieres am Beispiel des Romans Elefant von Martin Suter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Joanna Bednarska-Kociołek

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Begegnungsorte: Text, Schrift, Stimme  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Kamilla Najdek



Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Vorwort „Wer jetzt kein Tier hat, kauft sich keines mehr / Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“ schreibt die Autorin Katja Lange-Müller in ihrem uns freundlicherweise im Winter 2020/21 zugeschickten Text Tiergarten, ihrem bis dahin einzigen ‚Pandemie-Text‘. In Rainer Maria Rilkes Herbsttag (1902, Paris, aus: Das Buch der Bilder) lautet die von Katja Lange-Müller paraphrasierte Stelle folgendermaßen: Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Die Anapher und der syntaktische Parallelismus am Anfang der Strophe Rilkes und im Bewusstsein der durch den Berliner Tiergarten flanierenden, kurz ihrer „Selbstisolationshaftanstalt“ in der eigenen Wohnung entkommenen Icherzählerin wirken endgültig. Sie besinnt sich darauf, indem sie mit einer großen Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt verbleibt. So beobachtet sie etwa Drosseln mit ihrem „wie poliert glänzenden Tupfen-Gefieder“, zwei Kanadagänse – „tierische Immigranten oder Flüchtlinge aus dem benachbarten Zoo“ mit jeweils einem verkrüppelten Flügel, einen Silberreiher, ebenfalls einen Flüchtling, der offenbar einem Voliere entkommen ist, und außerdem „vogelfreie“ Nebelkrähen, Möwen, Amseln, Spatzen und Tauben – und mitten unter all diesen Vögeln – die Menschen: salopp gekleidet, ziel- und strukturlos umherschlendernd, Alleingänger, die „einander in weitem Bogen auswichen“ und die scheinbar „jeden Halt […] von Haltung ganz zu schweigen“ verloren haben. Aber auch für die Tiere ist offenbar die Welt nicht mehr „okay“, jedenfalls nicht mehr so wie früher. Im Zentrum des Textes steht nun die Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis zwischen Mensch und Tier: „Können sich Säugetiere, vielleicht sogar Vögel, Reptilien und Insekten mit Corona infizieren? Da das Virus die Artengrenze vom Tier zum Menschen überwunden hat, müsste das umgekehrt ja auch möglich sein.“ Diese nicht selbstverständliche Reziprozität betrifft auch die Rolle der Menschen aus der Perspektive der Tiere: Sind sie Futterlieferanten? Oder einfach „nur“ Futter?: „Halten sie mich für fressbar, zumindest potenziell?“ fragt rhetorisch die Erzählerin. Im Tiergarten erscheinen Mensch und Tier als Gefährten in einem und demselben Universum – in der Arche Noah, wenn wir so wollen. Die Autorin beendet ihre kurze Erzählung pointiert mit einem hoffnungsvollen Triumph des Lebens

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Joanna Firaza, Małgorzata Kubisiak

und der Überwindung der Einsamkeit: Angesichts der ersten PandemieWelle und der verschärften Corona-Regeln im Land wird ein sich „intensiv und selbstvergessen“ küssendes jugendliches Paar gleichsam zu einer „echten Sensation“. Nein, das sei keine Halluzination. Und vielleicht – möchte man fast hinzufügen – ein genauso bodenfestes Erlebnis wie ein Tierkauf … Für Herbst 2020 haben wir die Tagung „Literarische Tierbilder“ geplant. Katja Lange-Müller, die unsere Einladung angenommen hat, sollte dann im Frühjahr 2021 das Highlight des Seminars zum gleichen Thema, eines Teils unseres Projekts, sein. Es ist anders gekommen. Zum Zeitpunkt der Erstellung des Bandes hoffen wir, den Besuchstermin von Katja Lange-Müller an der Universität Lodz am 2. Dezember 2021 wahrnehmen zu dürfen. Nun leben wir alle schon seit beinahe zwei Jahren in den Klauen des Corona-Virus und üben uns in Geduld und Flexibilität. Zum Teil entwerfen wir uns neu, hinterfragen, was wir für selbstverständlich hielten. „Wer jetzt kein Tier hat, kauft sich keines mehr“… Die geradezu gnadenlose Endgültigkeit dieser Zeile lässt einen nicht mehr los, färbt auf Tun und Lassen ab. Und diese vielleicht bewusster wahrgenommene Gegenwart korrespondiert sehr wohl mit dem Thema dieses Bandes, an dem sich unsere Mitarbeiter und Freunde beteiligt haben. Für diese Bereitschaft – und nicht zuletzt – für den Kontakt und Austausch bei der Fertigstellung des Buches – wollen wir uns ganz herzlich bedanken. Diese zum Teil virtuellen Stimmen haben uns begleitet, haben uns über diese Phase hinüber(hinweg?)getragen, waren ein Halt in diesem alten\neuen (Berufs) Alltag. Der vorliegende Band beinhaltet dreizehn Beiträge. Das erste Kapitel u.d.T. „Fabelhaft“ greift auf die Anfänge des Tieres als literarische Figur – auf die Fabeltradition und die allegorische Funktion der Tierfigur zurück. Auf dieser Basis baut das zweite Kapitel „Beschützt, begleitet“ auf und führt Texte vor, in denen Tiere als sie selbst, d.h. Tiere in ihrem Sosein, in ihren Qualitäten und ihrer Körperlichkeit als Begleiter des Menschen fungieren. Das dritte Kapitel dann – betitelt „Nicht menschlich“ – rekurriert auf den physiozentrischen Ansatz und die ihm inhärente Sprachreflexion. Es fokussiert das Agieren des Menschen im Allgemeinen und seine Haltung gegenüber den Tieren im Besonderen und vergegenwärtigt einerseits dessen Inhumanität, und andererseits die Anmaßung des klischeehaften, anthropozentrischen Sprachgebrauchs. Der den Band eröffnende Beitrag der Mediävistin Cora Dietl ist dem Raben des Hl. Oswald gewidmet. Die Literatur des Mittelalters ist zwar reich an Tieren, der Rabe des St. Oswalds sticht aber durch die narrativen Funktionen, die ihm in den beiden im Beitrag analysierten Texten – dem Münchner Oswald und dem Wiener Oswald – zugeschrieben werden, besonders hervor. Im Münchner Oswald schillert die als Bote des St. Oswald bei der Brautwerbung agierende

Vorwort

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Figur des Raben zwischen menschlichen (der Gebrauch der menschlichen Sprache) und tierischen Eigenschaften. Der Rabe im Wiener Oswald dagegen steht repräsentativ für das Innere des Heiligen und spiegelt dessen Persönlichkeit wider. In beiden Fällen übersteigt die Darstellung des Raben die traditionellen allegorisch-symbolischen Interpretationen und lässt ihn – das gefräßige und eitle Tier aus der Fabeltradition – ein überaus eigenständiges, ja eigenwilliges Profil gewinnen. Auf die mittelalterliche Tradition greift auch Elżbieta Tomasi-Kapral in ihrem Beitrag zum Physiologus zurück. Ihre Aufmerksamkeit fesseln sowohl die bekannten als auch weniger bekannten (Fabel)Tiere: Löwe und Einhorn, aber auch Käuzchen und Biber. Der allegorisch-sinnbildlichen Tradition in der Auslegung der Eigenheiten von Physiologus-Tieren folgend, analysiert Kapral das Widerspiel von paganer und christlicher Tradition bei der Darstellung von ausgewählten Tieren, deren Eigenheiten im Physiologus sowohl im streng christologischen als auch moralischen Sinne ausgelegt werden. Den Physiologus als ein naturwissenschaftliches Buch lesen zu wollen sei selbstverständlich falsch, betont Tomasi-Kapral; dies lasse sich aber aus dem Verständnis der Natur als einer durchgehend gedeuteten erklären, in der zwischen den einzelnen Sinnzuschreibungen nicht unterschieden werde. Gleichwohl das achtzehnte Jahrhundert primär am Menschen interessiert ist, geraten auch Tiere in den Fokus des aufklärerischen Denkens. Ewa Grzesiuk analysiert in ihrem Beitrag die Schrift Lehrgebäude von der Seelen der Thiere des damals bekannten Ästhetikers Georg Friedrich Meier. Sie führt aus, dass die Argumentation Meiers in ihren Grundzügen der monistischen Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz folgt und schon aus diesem Grund sich gegen den Dualismus von Descartes richtet, der die Tiere als seelenlos, da als reine Materie betrachtet. Weil der Begriff der Seele aber bei Meier auch das Denkvermögen mit einschließt und Tiere ein Teil der göttlichen Schöpfung sind, sieht Meier auch keinen Grund, Tiere im ontologischen Sinne anders als Menschen zu betrachten. Meiers Argumentation für die Seele der Tiere macht ihn zwar nicht – betont Grzesiuk – zu einem Vorreiter der animal studies, erinnert aber an eine Art Denken über Tiere, das in der Neuzeit aus dem mainstream der Reflexion über Tiere weitgehend verschwunden ist. Das Augenmerk des Beitrags von Hargen Thomsen gilt Tamara Ramsays dreiteiligem Kinderbuch Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. Ramsay nimmt sich an Nils Holgerssons wunderbare[r] Reise durch Schweden von Selma Lagerlöf ein Beispiel, legt aber bei allen Anleihen eine eigenständige Version einer Reise durch Zeiten und Orte, die die kleine Hauptprotagonistin ihres Buches auf dem Rücken von Vögeln unterschiedlicher Spezies unternimmt. Vor allem das Ziel des Buches von Ramsay sei

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Joanna Firaza, Małgorzata Kubisiak

aber anders als bei Lagerlöf, legt Thomsen dar, denn die Autorin gestaltet die Reise der kleinen Dott als eine metaphorische Reise zurück nach Hause, die in eine naturromantisch geprägte Vision einer friedlichen Gemeinschaft von Deutschen und Slawen mündet. Das Buch sei mithin politisch. Denn nicht nur diese utopische Vision der Autorin – so das Fazit des Beitrags – konterkariert das nationalsozialistische Geschichtsbild, das die dem ersten Band des Buches vorangestellte Zeittafel suggeriert, sondern auch die Tiere. Die eindeutig positiv gezeichneten Fischreiher, Elstern und Nebelkrähen gehören nämlich den „Ausgegrenzten und Verfolgten“: Sie stellen daher den nationalsozialistischen Rassegedanken in Frage und lassen Ramsay der Reihe der Autor*innen der Inneren Emigration zuschlagen. Einer ganzen Welt von Tieren begegnen wir in Nietzsches Also sprach Zarathustra gewidmetem Beitrag von Karolina Sidowska. Der Adler und die Schlange als Begleiter Zarathustras haben dabei eine besondere Bedeutung. Diese erschließt sich jedoch nicht – legt Sidowska dar – durch ihre körperliche Präsenz im Text, sondern ausschließlich durch Verweis auf die sich aus der Tradition herschreibenden allegorischen und symbolischen Sinngebungen. Der Stellenwert der Tiere bei Nietzsche erschöpft sich darin freilich nicht. In seinem Denken über den Menschen sind nämlich zwei Bilder zentral: das eine – vertikal: der Mensch als zwischen Tier und Übermensch stehend, und das andere – horizontal: der Mensch als ein ‚Seil über dem Abgrund‘. Beide Konstruktionen ergänzen und modifizieren einander und lassen das Tierische – seien die Tiere selbst in Nietzsches Darstellung in ihren kulturellen Bedeutungen gefangen – als unerlässliches Medium der Reflexion über den Menschen erscheinen. Ein ganz konkretes körperliches Leid eines Tieres steht im Zentrum des Beitrags von Sigurd Paul Scheichl, das dem Gedicht Der Bauer, der Hund und der Soldat (1917) des Tierliebhabers Karl Kraus gewidmet ist. Dass das auf einem wahren Vorfall beruhende Gedicht als ein Appell gegen den Krieg gelesen wird, legt dabei nicht nur der Text des Gedichtes selbst nahe, sondern auch der Kontext und zwar die das Gedicht sowohl in der Fackel als auch in der Buchausgabe umrahmenden Texte. Der namenlose Hund steht hier stellvertretend für alle – menschliche und tierliche – Opfer des Ersten Weltkrieges und legt in eindringlicher, volksliedhaft-balladesker Diktion die Sinnlosigkeit eines jeglichen Krieges dar. Auf der Grundlage eines synthetischen Forschungsberichts über Christa Wolfs Erzählung Neue Ansichten eines Katers (1974) entfaltet Carola Hilmes in Anlehnung an Roland Borgards Konzept des ‚animal reading‘ eine Relektüre Wolfs. Der Ich-Erzähler, der sprechende und schreibende Kater Max, Wissenschaftler und Dichter, gleichsam ein Repräsentant der zweckfreien Literatur

Vorwort

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und Kunst, der den Fortschritt durch Kybernetik sabotiert, wird für Christa Wolf zum Sprachrohr der Zivilisationskritik schlechthin. Als nicht-menschlicher Mitspieler leistet er aber auch in seiner ‚agency‘ (Bruno Latour) einen Beitrag zur Kritik am Anthropozentrismus und wird zudem Träger eines „ökokritischen Feminismus“. Wolfs dystopische Wissenschaftssatire hinterfragt, wie die Autorin des Beitrags argumentiert, den Begriff der Natur und damit auch des Menschen (Mann/Frau in ihrem jeweiligen Status) als autoritativ gesetzt und historisch. Carola Hilmes’ narratologisch und paratextuell eingebettete Analyse weitet die Frage einer „herrschaftsfreien Kommunikation“ über die Perspektive Mensch-Tier auch auf die Dinge aus, indem sie einen zweiten nicht-menschlichen Mitspieler – den Computer Heinrich – als Teil der dargestellten Welt in ihre Lektüre einschließt. Tiere können einerseits traditionell als menschliche Eigenschaften versinnbildlichend interpretiert werden und andererseits als ‚Akteure‘ im Sinne Bruno Latours in Erscheinung treten. Davon geht Joanna Firaza in ihrem Beitrag aus, der sich mit den Katzen bei Thomas Hürlimann beschäftigt. In der zunächst analysierten Novelle Im Gartenhaus (1989) steht die von dem Hauptprotagonisten auf dem Friedhof aufgefundene und aufgepäppelte Katze für den verdrängten Teil seines Selbst, es ist aber gerade ihr kleiner (diegetischer) Körper, der – darin der zum Vergleich herangezogenen Novelle Gottfried Kellers Spiegel, das Kätzchen ähnlich – ihn, einen Oberst – verändert. Diese im Sinne Latours einen Unterschied machende Funktion des Tieres in Hürlimanns Novelle wird mittels einer Schlüsselszene aus dem Roman Der große Kater (1998) analytisch bekräftigt. Der ‚Kater‘ genannte Protagonist wird hier als (atmend) eins werdend mit dem geschundenen Körper eines kleinen Kätzchens geschildert: Es ist eine Symbiose, die sein Leben prägt und ihn – so wie den Oberst in der Novelle – katzenartige Eigenheiten annehmen lässt. In menschliche Schicksale eingewoben sind somit die Tiere bei Hürlimann – so das Fazit des Aufsatzes – materiell als biologische Spezies und in dem Sinne ‚verkörpert‘ in der geschilderten Welt gleichermaßen anwesend und sie bestimmend. Marek Jakubów analysiert Arnold Stadlers Romantrilogie Einmal auf der Welt. Und dann so (2009), eine Auseinandersetzung mit den sich vollziehenden Modernisierungsprozessen, denen die innige Beziehung des Menschen zur Natur zum Opfer fällt. Resignation, Entfremdung und Indifferenz des Erzählers, der aus dem Rückblick den Einbruch des Faschismus und der modernen Landwirtschaft in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts reflektiert und miteinander verschränkt, parallelisiert Marek Jakubów mit Giorgio Agambens Konzept des ‚homo sacer‘, der das „nackte Leben“ als den einzigen und letzten Rest seiner Autonomie bewahren kann. Analog zu den am Ende des Beitrags

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Joanna Firaza, Małgorzata Kubisiak

erwähnten Autoren Felicitas Hoppe und Martin Mosebach verschwinden Stadlers (Hof)Tiere nicht hinter ihrer Literarizität. Wie bei Agamben stehen sie dem „nackten Leben“ am nächsten. An der Entfremdung von ihnen – den einst so geliebten Wesen und Lebensgefährten – misst der Erzähler seine Niederlage: eine Realitätsfremdheit, über die kein Joseph von Eichendorff und kein Adalbert Stifter als Paten einer ursprünglichen Einheit hinweghelfen können. Nicht verbalsprachlichen, sondern graphisch-piktoralen Charakters sind die Tiere, deren sich Gudrun Heidemann in ihrer Besprechung der Graphic Novel Insekten (2019) des künstlerischen Duos Regina Hofer und Leopold Maurer annimmt. Ausgehend von dem im Nationalsozialismus missbrauchten und pervertierten Insekten-Begriff analysiert Heidemann ekphrasisch die gewählten Panels des großangelegten Comics, der in einer Doppelperspektive die erinnerte Biographie des Großvaters aus der Nazi-Zeit mit der Zeugenschaft des Enkels bündelt und problematisiert, zumal es sich um die eigene Familiengeschichte des Co-Autors Maurer handelt. Tiere – vorwiegend Insekten, aber auch Säugetiere – agieren als Akteure, als „materiell-semiotische Mischwesen“, deren Materialität, wie die Autorin argumentiert, unmittelbarere Wirkung erzielt als in der (nur) verbalsprachlichen Literatur. Eingebettet in die ComicTradition der Darstellung der Tierfiguren – als Prätext gilt Hofer/Maurer explizit Art Spiegelmans Maus. Die Geschichte eines Überlebenden (1991) – beunruhigt Insekten durch semantische Uneindeutigkeit. Der stets präsente Gedanke der Degradierung erfasst Opfer wie Täter gleichermaßen, etwa in den Insekten-Avataren der Großeltern. Der Comic leistet also eine Umkehrung der rassistischen Zuschreibung einerseits, transportiert aber auch – vor allem in der tierlichen Selbstdarstellung des Enkels Leopold Maurer als Mistkäfer – die Frage der durchaus belastenden, aber nicht unproblematischen Zeugenschaft und Verantwortung. Wie verheerend und weitreichend die Folgen der sich von Descartes herleitenden Tradition des anthropologischen Differentialismus sein können, zeigt Krzysztof Tkaczyk am Beispiel des frühen Dramas Peter Turrinis Sauschlachten (1974). Die anfangs suggerierte Idylle erweist sich – dem Genre des neuen kritischen Volksstücks gemäß – als trügerische Fassade, hinter der sich brutale Gewalt bis hin zum Kannibalismus verbirgt. Die Abweichung von der Norm – grunzen statt sprechen – wird hier zum Anlass der letztlich faschistisch motivierten Ausschließung, Herabsetzung und Vernichtung des als fremd Empfundenen sowie zu deren Legitimierung. Im Material der Sprache verdichtet sich das Klischee vom Schwein als Inbegriff des Unmenschlichen – im Licht der neuesten Tierforschung ein Anachronismus per se, den Turrini umkehrt, indem er die scheinbar menschliche und

Vorwort

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vernünftige Gemeinschaft – uns alle – anklagt und die „Sprachlosigkeit“ des Opfers zur eigentlichen Sprache erklärt. Im Beitrag von Joanna Bednarska-Kociołek wird die narrative Funktion der Tierdarstellung im Roman Elefant (2017) von Martin Suter aus der Perspektive der ethisch-moralischen Implikationen gentechnischer Tierexperimente erörtert. Ins Zentrum eines Thrillers mit märchenhaften Zügen gestellt, wird der künstlich ins Leben gerufene rosa leuchtende kleinwüchsige Elefant bei Suter zum Spielball von Menschen, die ihn entweder kommerziell als SuperSpielzeug vermarkten oder retten wollen. Bednarska-Kociołek schließt daraus auf die Ambivalenz von Versachlichung und Verklärung resp. Vergöttlichung: Letzteres im Zusammenhang mit dem besonderen Status des Elefanten im Hinduismus. Beide Einstellungen haben Ungleichheit zur Voraussetzung, die zudem narrativ durch das konsequente Ausbleiben der Perspektive des Tieres im Roman unterstützt wird. Kamilla Najdek wendet sich in ihrem Beitrag der durch den japanischen Kulturkreis geprägten Prosa Yoko Tawadas. Während sich Franz Kafkas biologische Poetologie beim genauen Hinsehen als tief anthropozentrisch erweist, da Kafka letztlich differentialistisch denkt, indem er Menschen und Tiere trennt, was Najdek an Forschungen eines Hundes exemplifiziert, verfährt Tawada in ihren Texten ganz anders. In der japanischen (Märchen)Tradition verwurzelt, wo die zwischenartlichen Verwandlungen nicht ethisch motiviert geschehen, schreibt sie eine eigenartige, leicht befremdliche, sinnliche Prosa, die den Topos der Grenze dekonstruiert und an ihre Stelle fließende Übergänge und ebensolche Identitäten bzw. hybride Wesen setzt. In Hikon (1998) und Etüden im Schnee (2014) erweisen sich Schrift, Stimme und Erzählerfiguren als die (Denk)Räume der Grenzüberschreitung und Begegnung zwischen Menschen und Tieren. Nicht zuletzt sind aber auch Pflanzen ein genuiner Teil des literarischen Kosmos resp. der literarischen (Schrift)Körper Yoko Tawadas. Damit ist der Schluss unseres Bandes gleichsam ein neuer Anfang. Damit ist auch ein Bogen zu Katja Lange-Müller geschlagen, die ihrem Roman Verfrühte Tierliebe (1995) eine Zeile voranstellt, die das bekannte Schopenhauer-Zitat – „Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere.“ – fortschreibt. Das doch so frappierende Motto lautet: „Seit ich die Tiere kenne, liebe ich die Pflanzen. (H. Beyer, Schauspieler)“. Joanna Firaza Małgorzata Kubisiak

Einleitung Tieren in der Literatur begegnen wir auf Schritt und Tritt. Die Reihe reicht von den Tier-Bildern in der älteren (vorzugsweise auch mittelalterlichen) Literatur über die Tier-Figuren der Frühen Neuzeit (Fabel- und Märchentiere) und die Tiere der klassischen Moderne (E.T.A.  Hoffmann, Theodor Storm, Gottfried Keller, Rainer Maria Rilke, Robert Walser, Franz Kafka) bis hin zu Texten der neueren und neuesten Gegenwartsliteratur (Barbara Frischmuth, Franz Hohler, Thomas Hürlimann, Eva Menasse, Paul Nizon, Peter Turrini, Christa Wolf u.a.). Das Spektrum der in den Texten unterschiedlicher Genres erscheinenden Tierarten umfasst Säugetiere (darunter Primate) sowie Vögel bis hin zu Reptilien und Insekten; eine besonders exponierte Stellung nehmen dabei Affe, Hund und Katze ein: der eine aufgrund einer die Spezies Mensch beunruhigenden, die anderen wegen einer funktional-emotionalen Nähe, die sie an den Menschen seit Jahrtausenden bindet.1 Seit eh und je war den Tieren auch die literaturwissenschaftliche Forschung auf der Spur. Jahrhundertelanger Tradition gemäß wurden sie als allegorisierende Projektionsfiguren für menschliche Eigenschaften und symbolische Spiegelungen menschlichen Verhaltens und Wertesystems gedeutet. Seitdem aber die Wahrnehmung der Tiere in den Humanwissenschaften einen ‚Animal Turn‘ erlebt hat, der das Denken und Erforschen von Tieren auf eine neue Grundlage stellte,2 veränderte sich auch der Zugriff der literaturwissenschaftlichen Forschung auf die Tiere. Im Rahmen der sich innerhalb der ‚Cultural Animal Studies‘ (CAS)3 entwickelnden ‚Literary Animal Studies‘ (LAS)4 wurden sowohl der Anthropozentrismus im Blick auf 1 Vgl. Peter Dinzelbacher: Mensch und Tier in der Geschichte Europas. Kröner: Stuttgart 2000 und Benjamin Bühler/Dorothea Brantz/Christof Mauch (Hrsg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne. Schöningh: Paderborn 2009. 2 Zu ‚Animal Turn‘ in den einzelnen Wissenschaften vgl. Roland Borgards: Einleitung: Cultural Animal Studies. In: Ders.: Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler: Stuttgart 2016, S. 1–5. 3 Im angelsächsischen Bereich entwickelten sich die ‚Cultural Animal Studies‘ um die Jahrhundertwende und erreichten einen Kulminationspunkt in dem sechs Bände umfassenden Buch-Projekt von Linda Kalof und Brigitte Resl: A Cultural History of Animals von 2007 (Oxford, New York). Vgl. Borgards (2016) (wie Anm.  2). Im Zentrum der Cultural Animal Studies stehen insbesondere die Philosophie, die Geschichte und die Künste.“, S. 4. 4 Zu LAS vgl. Roland Borgards: Tiere in der Literatur. In: Ders.: Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler: Stuttgart 2016, S. 225–244. Vgl. auch: Frederike Middelhoff: Literarische Autozoographien. Figurationen des autobiographischen Tieres im langen 19. Jahrhundert. Metzler: Stuttgart 2020, S. 20–25. Im deutschsprachigen Raum fassten die Erkenntnisse der

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Małgorzata Kubisiak

die Tiere5 als auch der Anthropomorphismus als eine Methode, die Eigenschaften der Tieren vom Menschen her und im Blick auf den Menschen zu interpretieren,6 kritisch hinterfragt.7 Die anthropologische Differenz, mittels derer entweder differentialistisch oder assimilationistisch das Verhältnis von Mensch und Tier bisher geregelt wurde, verlor an Wirkmächtigkeit8 und ließ das Tier in seiner ‚Tierheit‘ – ‚verkörpert‘ – in die literaturwissenschaftliche Forschung einziehen.

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‚Cultural Animal Studies‘ schnell Fuß. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang aber schon auf Gerhard Neumanns Aufsatz Der Blick des Anderen. Zum Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur (1996, ursprünglich 1987 als Antrittsvorlesung), in dem die anthropomorphe Interpretation von Tieren hin zu ihrer Deutung als Medium der Selbstvergewisserung des Menschen im Blick des Anderen überschritten wird. Ders.: Der Blick des Anderen. Zum Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 40 (1996), S.  87–122. Einen Markstein setzte auch das den Tieren gewidmete, von Norbert Otto Eke und Eva Geulen herausgegebene Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie von 2007 mit dem Titel Tiere, Texte, Spuren. Norbert Otto Eke/Eva Geulen: Tiere, Texte, Spuren. Zeitschrift für Deutsche Philologie. Sonderheft zum Band  126. Erich Schmidt Verlag: Berlin 2007. Seit 2019 sind bei Metzler-Verlag in der von Roland Borgards herausgegebenen Reihe der ‚Cultural Animal Studies‘ eine Reihe von richtungweisenden Studien erschienen, darunter u.a.: Adrian Robanus: Romantiere. Zoopoetik bei Wieland und Wezel. Metzler: Stuttgart 2021; Friedrich Jaeger: Menschen und Tiere. Grundlagen und Herausforderungen der Human-Animal Studies. Metzler: Stuttgart 2020; Sebastian Schönbeck: Die Fabeltiere der Aufklärung. Naturgeschichte und Politik von Gottsched bis Lessing. Metzler: Stuttgart 2020; Frederike Middelhoff: Literarische Autozoographien. Figurationen des autobiographischen Tieres im langen 19. Jahrhundert. Metzler: Stuttgart 2020; Ina Bolinski/Stefan Rieger (Hrsg.): Das verdatete Tier. Zum Animal Turn in den Kultur- und Medienwissenschaften. Metzler: Stuttgart 2019. Vgl. Gary Steiner: Art. Anthropozentrismus. In: Arianna Ferrari/Klaus Petrus (Hrsg.): Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen. transcript: Bielefeld 2015, S. 28–32. Darin vgl. Unterscheidungen zwischen epistemischem und normativem Anthropozentrismus. Zur Kritik am Anthropozentrismus im Blick auf das Tier vgl. Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin [2006]. 2. durchgesehene Aufl. Aus dem Französischen übers. von Markus Sedlaczek. Passagen Verlag: Wien 2016. Markus Wild: Art. Anthropomorphismus. In: Ferrari/Petrus (wie Anm. 5), S. 26–28. Roland Borgards: Tiere in der Literatur. In: Borgards (2016) (wie Anm. 4), S. 225. Markus Wild: Anthropologische Differenz. In: Roland Borgards: Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler: Stuttgart 2016, S.  47–59. Zur anthropologischen Differenz im philosophischen Diskurs vgl. Dominik Perler/Markus Wild: Der Geist der Tiere – eine Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2005, 10–74, hier S.  28–43 und Markus Wild: Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume. Berlin/New York 2006.

Einleitung

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Das heißt allerding nicht, dass nun das ‚Tier an sich‘9 in der Literatur entdeckt würde. Das Tier, dem die Aufmerksamkeit der LAS gilt, ist nämlich nicht ‚nackt‘, sondern es wird als eine in ein Geflecht von kulturellen und auch politischen Bezügen eingebundene Spezies wahrgenommen.10 Eine solche Erscheinungsweise von Tieren in der Literatur reflektiert Roland Borgards in Tiere. Ein kulturwissenschaftliches Handbuch von 2016.11 Er legt dar, dass die neue Sicht auf literarische Tiere ihre Kontextualisierung, Historisierung12 und Poetisierung voraussetzt.13 Tiere in der Literatur lassen sich demzufolge nur dann angemessen interpretieren, wenn die Interpretation das jeweilige Wissen vom Tier mit berücksichtigt – rekurriert wird dabei vor allem auf die Erkenntnisse der Zoologie, aber auch anderer positiver Wissenschaften. Ein solches Wissen prägt den Blick des/r jeweiligen Autors/Autorin und entscheidet über die Weise, auf welche das Tier im Text zur Erscheinung gebracht wird. Dass ein solches Wissen historisch sistiert und in dem Sinne nicht beliebig ist, ist eine logische Konsequenz der Kontextualisierung. Borgards fasst den Sachverhalt jeweils pointiert zusammen: „Ein Tiertext kommt nie allein“14 und „Ein Tiertext steht nie außerhalb seiner Zeit“.15 Dieses Verhältnis ist aber reziprok, betont er. Denn nicht nur das Bild des Tieres in der Literatur wird durch den kulturell-historischen Kontext mit geprägt, sondern auch das tradierte zoologische Wissen durch die literarischen Darstellungen von Tieren beeinflusst. Da alle Tiere, die in Texten auftreten, literarisch sind, so lautet die dritte Regel: „Ein Tiertext versteht sich nie von selbst“.16 Eine solche Betrachtung von Tieren in der Literatur lässt die Grenzen zwischen Realität und Fiktionalität fließend und eine Unterscheidung zwischen 9

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Roland Borgards: Tiere in der Literatur. Eine methodische Standortbestimmung. In: Herwig Grimm/Carola Otterstedt (Hrsg.): Das Tier an sich. Disziplinenübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasiertem Tierschutz. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2012, S. 87–118. Zu politischen Tieren vgl. Joseph Vogl/Anne von der Heiden (Hrsg.): Politische Zoologie. Diaphanes Verlag: Zürich 2007. Roland Borgards: Nach der Wendung. Zum Stand der Cultural and Literary Animal Studies. In: Tierstudien 16 (2019), S. 117–125. Borgards (wie Anm.  4), S.  96–103. Ein eindrucksvolles Beispiel, wie eine solche Kontextualisierung und Historisierung funktioniert, legt Roland Borgards Aufsatz über Wolf und Hund in Theodor Storms Erzählung Zur Chronik von Grieshuus. Ders.: Zum Bann der Bestie in Storms „Zur Chronik von Grieshuus“. In: Norbert Otto Eke/Eva Geulen: Tiere, Texte, Spuren. Zeitschrift für Deutsche Philologie. Sonderheft zum Band 126. Erich Schmidt Verlag 2007, S. 167–194. Borgards (wie Anm. 4), S. 225–232. Ebd., S. 229. Ebd., S. 231. Ebd., S. 232.

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wirklichen und literarischen Tieren obsolet werden. Ihr ontologischer Status wird – seien sie diegetisch, d.h. Teil der erzählten Welt („fassbare Gestalten in erzählten Welten“) oder semiotisch und über Metaphern auf Menschen bezogen17 – zu einer Frage der kulturellen Übereinkunft: Literarische Tiere seien „Elemente spezifischer, aus Texten, Konzepten und Praktiken zusammengesetzter Konstellationen, in denen das Wissen von den Tieren und den mit ihnen verbundenen Fügungen (Tier/Mensch, Natur/Kultur usw.) überhaupt erst ausgehandelt wird […].“18 So gesehen würden die Tiere freilich wieder zu den auf Menschliches rekurrierenden ‚Zeichen‘ und um ihre körperliche Präsenz gebracht.19 Um diesem ‚disappearing trick‘20 zu entkommen, bieten die Verfahren des New Materialism neue Forschungsansätze: die AkteurNetzwerk-Theorie Bruno Latours (ANT)21 und das Konzept der ‚Companion Species‘22 Donna Haraways. In beiden Theorien wird die Dichotomie von Subjekt und Objekt und Natur und Kultur hin zu neuartigen Konzepten überschritten, wie das Verhältnis von Mensch und Tier anders gesehen und auch – handelt es sich um literarische Tiere – interpretiert werden kann. Bei Latour werden die gängigen Dichotomien außer Kraft gesetzt, indem dem Menschen, und folglich auch den Tieren der Status von ‚Akteuren‘ zugeschrieben wird. Ihre Wirkmächtigkeit beruht darauf, dass sie – in einem Netz von Weltbezügen handelnd – ‚einen Unterschied markieren‘.23 Mit Handlungsmacht ausgestattet sind auch Tiere bei Haraway. Sie deutet Tiere als ‚Begleiter‘ – ‚companions‘ in dem Sinne, dass Mensch und Tier als in einer gemeinschaftlich geteilten ‚contact zone‘ lebend und handelnd und einander bis ins Körperliche hinein beeinflussend gesehen werden, dabei aber zugleich ästhetisch-literarisch sind: ‚materiell-semiotische Knoten‘.24

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Ebd., S. 226. Ebd., S. 234. Ebd. Es ist eine Formulierung von Susan McHugh. Dies.: Animal Farm’s Lessons for Literary (and) Animal Studies. In: Humanimalia. A journal of human/animal interface studies 1/1 (2009). Zit. nach: Roland Borgards: Märchentiere. Ein ‚animal reading‘ der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. In: Harlinda Lox/Sabine Lutkat (Hrsg.): Macht und Ohnmacht. Erfahrungen im Märchen und im Leben. Forschungsbeiträge aus der Welt der Märchen. Königsfurt-Urania: Krummwisch 2017, S. 49–71, S. 50. 21 Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2007. 22 Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness. Chicago 2003; Donna Haraway: When Species Meet. Chicago 2003. 23 Vgl. Borgards (2016) (wie Anm. 4), S. 234–241. 24 Ebd.

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Das Erscheinen von Tieren, die in unserer menschlichen Welt zu Hause sind, so neu zu deuten, lässt die LAS neue Wege abseits der altbekannten Pfade der Genre- und Motivforschung beschreiten.25 Ihre Erträge werden dabei nicht in Frage gestellt, gleichwohl verhelfen sie den Tieren zu einer Präsenz, die ihrer Bedeutung in unserem, auch außerliterarischen Leben, gerecht zu werden scheint.

Bibliographie

Borgards, Roland: Nach der Wendung. Zum Stand der Cultural and Literary Animal Studies. In: Tierstudien 16 (2019), S. 117–125. Borgards, Roland: Märchentiere. Ein ‚animal reading‘ der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. In: Harlinda Lox/Sabine Lutkat (Hrsg.): Macht und Ohnmacht. Erfahrungen im Märchen und im Leben. Forschungsbeiträge aus der Welt der Märchen. Königsfurt-Urania: Krummwisch 2017, S. 49–71. Borgards, Roland: Tiere und Literatur. In: Ders. (Hrsg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler: Stuttgart 2016, S. 225–244. Borgards, Roland: Tiere in der Literatur. Eine methodische Standortbestimmung. In: Herwig Grimm/Carola Otterstedt (Hrsg.): Das Tier ans ich. Disziplinenübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasiertem Tierschutz. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2012, S. 87–118. Bühler, Benjamin/Brantz, Dorothea/Mauch, Christof (Hrsg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne. Schöningh: Paderborn 2009. Derrida, Jacques: Das Tier, das ich also bin [2006]. 2. durchgesehene Aufl. Hrsg. von Peter Engelmann. Aus dem Französischen übers. von Markus Sedlaczek. Passagen Verlag: Wien 2016. Dinzelbacher, Peter: Mensch und Tier in der Geschichte Europas. Kröner: Stuttgart 2000. Eke, Norbert Otto/Geulen, Eva: Tiere, Texte, Spuren. Zeitschrift für Deutsche Philologie. Sonderheft zum Band 126. Erich Schmidt Verlag: Berlin 2007. Ferrari, Arianna/Petrus, Klaus (Hrsg.): Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen. transcript: Bielefeld 2015. 25

Eine Herausforderung besonderer Art stellen die Tiere in Fabeln und Märchen dar. Zur Forschung im Sinne der LAS vgl. Jürgen von Stackelberg: La Fontane als Ethologe. In: Grenzüberschreitungen. Studien zu Literatur, Geschichte, Ethnologie und Ethologie. Universitätsverlag Göttingen: Göttingen, 2007, S. 125–136 und ders.: Fabeltiere und Tierfabeln. Studien zu La Fontaine. Walter Frey: Berlin 2011; Sebastian Schönbeck: Die Fabeltiere der Aufklärung. Naturgeschichte und Politik von Gottsched bis Lessing. Metzler: Stuttgart 2020. Zu Tieren im Märchen grundlegend: Borgards (2017) (wie Anm. 20).

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Haraway, Donna: The Companion Species Manifesto: Dogs, Peoples and Significant Otherness. Prickly Paradigm Press: Chicago 2003. Haraway, Donna: When Species Meet. University of Minnesota Pres: Minneapolis 2008. Jaeger, Friedrich: Menschen und Tiere. Grundlagen und Herausforderungen der HumanAnimal Studies. Metzler: Stuttgart 2020. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2007. Middelhoff, Frederike: Literarische Autozoographien. Figurationen des autobiographischen Tieres im langen 19. Jahrhundert. Metzler: Stuttgart 2020. Neumann, Gerhard: Der Blick des Anderen. Zum Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 40 (1996), S. 87–122. Perler, Dominik/Wild, Markus (Hrsg.): Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2005. Schönbeck, Sebastian: Die Fabeltiere der Aufklärung. Naturgeschichte und Politik von Gottsched bis Lessing. Metzler: Stuttgart 2020. Stackelberg, Jürgen von: La Fontane als Ethologe. In: Grenzüberschreitungen. Studien zu Literatur, Geschichte, Ethnologie und Ethologie. Universitätsverlag Göttingen: Göttingen, 2007, S. 125–136. Stackelberg, Jürgen von: Fabeltiere und Tierfabeln. Studien zu La Fontaine. Walter Frey: Berlin 2011. Vogl, Joseph/von der Heiden, Anne (Hrsg.): Politische Zoologie. Diaphanes Verlag: Zürich 2007. Wild, Markus: Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume. Berlin/New York 2006.

Teil I Fabelhaft

Eigenwillig und trotzig, fromm und bedacht: Der Rabe des Heiligen Oswald Cora Dietl Abstract St. Oswald von Northumbria wird in der deutschen Erzähltradition des Mittelalters in Begleitung eines Raben gezeichnet, der ihm bei seiner Werbung um eine heidnische Prinzessin als Bote und Vermittler zur Verfügung steht. Der Beitrag vergleicht die Raben-Figuren in den beiden vollständig erhaltenen Verserzählungen von St. Oswald (dem Münchner Oswald und dem Wiener Oswald), die der sog. Spielmannsepik zugerechnet werden, und begreift die dort sehr unterschiedlich gestalteten Vögel als zwei gegensätzliche narrative Experimente der Übertragung von menschlichen Rollen auf Tiere. Am Anfang und am Ende der Untersuchung steht die Frage, welche Funktion der je unterschiedliche tierische Begleiter für die Darstellung des Heiligen besitzt.

Schlüsselwörter Rabe, Spielmannsepik, St. Oswald, Heilige, Begleiter, Helferfigur, Bote, Wunder, Anthropomorphismus

Abb. 1.1

Sankt Oswald in: Der Heiligen Leben, nüw getruckt mit vil schönen Figuren. Hrsg. v. Sebastian Brant. Grüninger: Straßburg, 1510 [VD16 H 1474], fol. 108r ©Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur: Res/2 P.lat. 1726 e.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/97838467

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Als König mit einem Raben ist St. Oswald von Northumbria in spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Ikonographie präsent. Über den im irischen Exil aufgewachsenen Königssohn Oswald, der die iro-schottische Mission in Northumbria förderte und um 635 das Kloster Lindisfarne als Zentrum der Mission und Bischofssitz gründete und schließlich 642 im Kampf gegen den paganen König Penda von Mercia fiel, erfahren wir zuerst von Beda (672–735) im dritten Buch seiner Historia ecclesiastica gentis Anglorum.1 Dort wird auch von der Hochzeit Oswalds mit der Tochter des zum Christentum konvertierten westsächsischen Königs Cyneburg berichtet (III,7). Von einem Raben als Begleiter und Helfer des Königs liest man bei Beda nichts. Für die Legendenbildung auf dem europäischen Festland, wo u.a. Kaiser Ottos I. Ehefrau Eadgyth den Oswald-Kult förderte, ist anfangs Bedas Darstellung prägend.2 Einen ersten Ansatz, einen Raben in die Oswald-Legende zu integrieren, mag man dann in der 1165 entstandenen Vita S. Oswaldi regis et martyris Reginalds von Durham sehen.3 Hier wird in Kap. 17f. berichtet, wie ein Rabe oder ähnlicher Vogel von der Oswald-Reliquie einen Arm stiehlt, sich damit auf einen dürren Baum setzt, der sofort zu grünen beginnt, woraufhin der Vogel den Arm fallenlässt. An dem Ort, an dem er hinfällt, entspringt eine Heilquelle.4 Mit dem lebenden Oswald hat der Rabe aber keine Berührung. 1 Bede: Ecclesiastical History of the English People. Hrsg. u. übers. v. Bertram Colgrave. 2. Aufl. Clraendon: Oxford 1991. Vgl. Claudia Händl: Art. Oswald. In: Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Bd. 9. De Gruyter: Berlin 2010, S. 15–18, hier S. 15. 2 Zur Verbreitung des Kults und der Legende vom Hl. Oswald in den deutschsprachigen Ländern vgl. Marianne Kalinke: Lost German Literatur in Icelandic Translation. The Legends of King Oswald and Emperor Henry II. In: Arthur Groos/Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.): Kulturen des Manuskriptzeitalters. V&R unipress: Göttingen 2004, S. 155–180, hier S. 155–157; Marianne Kalinke: St. Oswald of Northumbria: Continental Metamorphoses. With an Edition and Translation of ‚Osvalds saga‘ and ‚Van sunte Oswaldo deme konninghe‘. Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies: Tempe, Arizona 2005, S. 4–6; Dagmar ó Riain-Raedel: Edith, Judith, Matilda: the Role of Royal Ladies in the Propagation of the Continental Cult. In: Clare Stancliffe/Erich Cambridge (Hrsg.): Oswald. Northumbrian King to European Saint. Paul Watkins: Stamford 1995, S. 210–223; Annemiek Jansen: The Development of the St Oswald Legends on the Continent. In: ebd. S. 230–240. 3 Reginald von Durham: Vita Sancti Oswaldi Regis et Martyris. In: Symeonis monachi opera omnia. Hrsg. v. Thomas Arnold. Bd.  1. Repr. der Ausgabe von 1882. Cambridge University Press: Cambridge 2012, S. 326–385. 4 Ebd., S.  355–358. Vgl. Stephan Müller: Oswalds Rabe. Zur institutionellen Geschichte eines Heiligenattributs und Herrschaftszeichens, in: Gert Meville (Hrsg.): Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Böhlau: Wien 2001, S.  451–475, hier S.  458; Victoria Tudor: Reginald’s Life of St Oswald. In: Clare Stancliffe/Eric Cambridge (Hrsg.): Oswald. Northumbrian King to European Saint. Hrsg. v. Clare Stancliffe und Eric Cambridge. Paul Watkins:

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Ganz anders stellt sich die Situation in deutschsprachigen OswaldErzählungen dar, die ab dem 14. Jahrhundert überliefert sind: dem fragmentarisch erhaltenen Linzer Oswald,5 dem Münchner Oswald6 und dem Wiener Oswald,7 die der sog. Spielmannsepik8 zugerechnet werden, sowie verschiedenen Prosafassungen.9 Sie gehen wohl auf eine ältere deutsche Erzähltradition zurück,10 welche auch der altisländischen Osvalds saga zugrunde liegt.11 Diese nicht erhaltene deutsche „Urfassung“ ist zuweilen auf das späte 12. Jh.,12 zuweilen auf das 13. Jh. datiert worden.13 Der grobe Rahmen der Handlung deckt sich in den verschiedenen Fassungen: König Oswald möchte um die Tochter eines jenseits des Meeres lebenden paganen Königs werben. Dieser aber lässt alle Werber töten, da er seine 5

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Stamford 1995, S.  178–194, hier S.  190–191. Jansen (wie Anm.  2), S.  233–235, zählt eine Reihe von weiteren Ähnlichkeiten zwischen Reginalds Fassung der Legende und dem Münchner Oswald auf, die in ihren Augen v.a. den Schritt vom historischen Bericht zur Heiligenlegende markieren. Vgl. Michael Curschmann: Art. Linzer Oswald (Sant Oswald von Norwegen). In: Kurt Ruh/Burghart Wachinger (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon (2VL). 2. Aufl. Bd. 5. De Gruyter: Berlin 1985, Sp. 845f.; zur Überlieferung: https:// handschriftencensus.de/werke/2132 [Stand: 20.07.2021]. Im Folgenden verwendete Edition: Der Münchner Oswald. Hrsg. v. Michael Curschmann. Tübingen: Niemeyer 1974. Vgl. dazu: Michael Curschmann: Art. Münchner Oswald. In: 2VL 6 (1987), Sp.  766–772; zur Überlieferung: https://handschriftencensus.de/werke/2256 [Stand: 20.07.2021]. Im Folgenden verwendete Edition: Der Wiener Oswald. Hrsg. v. Gertrud Fuchs. Marcus: Breslau 1920. Vgl. dazu: Michael Curschmann: Art. Wiener Oswald. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1027–1031; zur Überlieferung: https://handschriftencensus.de/werke/2891 [Zugriff: 20.07.2021]. Zur Problematik dieses irreführenden Begriffes, der nicht mehr als eine Hilfskonstruktion sein kann, vgl. Rüdiger Brandt: ‚Spielmannsepik‘. Literaturwissenschaft zwischen Edition, Überlieferung und Literaturgeschichte. Ein nicht immer unproblematisches Verhältnis. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 37, H. 2 (2006), S. 9–49. Vgl. Michael Curschmann: Art. Oswald (Prosafassungen). In: 2VL 7 (1989), Sp. 126–128; zur Überlieferung jenseits von Der Heiligen Leben: Münchner Oswald (Prosaauflösung): https:// handschriftencensus.de/werke/6815; Berliner Oswald: https://handschriftencensus.de/ werke/6818; Budapester Oswald: https://handschriftencensus.de/werke/6819; Engelberger Oswald: https://handschriftencensus.de/werke/6820. Zur Schwierigkeit der Rekonstruktion evtl. verlorener Vorstufen der überlieferten Texte vgl. Müller (wie Anm. 4), S. 453. Vgl. Kalinke 2004 (wie Anm. 2), S. 161; Kalinke 2005 (wie Anm. 2), S. 37. Curschmann (wie Anm. 6), Sp. 788; Michael Curschmann: Der Münchner Oswald und die deutsche spielmännische Epik. Mit einem Exkurs zur Kultur und Dichtungstradition. Beck: München 1964, S. 181–184. Kalinke 2005 (wie Anm. 2), S. 3, bezeichnet die Datierung auf das späte 12. Jahrhundert als Konsens. Rolf Bräuer: Das Problem des „Spielmännischen“ aus der Sicht der St.-Oswald-Überlieferung. Akademie: Berlin 1969, S. 14.

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Tochter selbst heiraten will. Man rät Oswald, seinen sprechenden Raben als Boten einzusetzen. Reich ausgestattet mit vergoldetem Gefieder, einem Brief und einem Ring des Königs macht sich der Rabe auf die Reise und gelangt auf abenteuerlichen Wegen ans Ziel. Er beeindruckt v.a. die Tochter des paganen Herrschers und es gelingt ihm, ihr den Brief und den Ring zu übergeben. Mit einer entsprechenden Gegengabe fliegt er auf erneut abenteuerlichen Wegen zurück. Oswald bricht auf, um die Prinzessin zu entführen. Im fremden Land gelingt es ihm, den König durch einen goldenen Hirsch abzulenken und die Tochter zu entführen. Ein Heer des betrogenen Vaters verfolgt Oswald; in der Entscheidungsschlacht siegen Oswalds Truppen. Die Heiden werden getauft; Oswald und die Prinzessin heiraten und führen eine keusche Ehe. Die geographische Verortung des Geschehens, die Namen, die Ausgestaltung der abenteuerlichen Wege zwischen dem christlichen und dem paganen Raum sowie der Schluss der Erzählung sind in den verschiedenen Fassungen unterschiedlich gestaltet. Gemeinsam ist ihnen allen die zentrale Rolle des sprechenden Raben, der aber in den verschiedenen Fassungen sehr unterschiedliche Charakterzüge annimmt. Dies werde ich im Folgenden an drei zentralen Szenen des Münchner und des Wiener Oswald, d.h. der beiden vollständig überlieferten Verstexte, zeigen,14 um von dort aus einen Blick auf die Sinngebung im jeweiligen Text zu werfen. Zunächst aber frage ich grundsätzlich nach der Bedeutung von Raben in Heiligenlegenden.

Der Rabe als Begleiter eines Heiligen Nach vierzig Tagen tat Noah an der Arche das Fenster auf, das er gemacht hatte, / und ließ einen Raben ausfliegen; der flog immer hin und her, bis die Wasser vertrockneten auf Erden. (Gen 8,6f.)15

Noahs Rabe, der anders als die Taube nicht menschlichem Auftrag, sondern seiner eigenen Bestimmung folgt und nicht zur Arche zurückkehrt, als die Sintflut vorbei ist, gilt in der christlichen Literatur oft als Inbegriff von Eigenwillen und Ungehorsam.16 Umso bemerkenswerter sind die Raben, die bereits 14 15 16

Das Fragment des Linzer Oswald stellt nur die Entscheidungsschlacht dar, der Rabe spielt hier keine Rolle. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017. Hrsg. v. der Deutschen Bibelgesellschaft. Dt. Bibelgesellschaft: Stuttgart 2016. Zur ähnlichen Darstellung des Raben in der antiken Literatur, speziell in Ovids Metamorphosen, II, 596–632, in denen er wegen seiner Verlogenheit und Untreue die weiße Farbe verliert, vgl. Gertrud Maria Rösch: Art. Rabe. In: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. 3. Aufl. Metzler: Stuttgart und Weimar 2021,

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in der Bibel und später in verschiedenen Legenden als Begleiter von Eremiten auftreten. In 1 Kön 17,4–6 sendet Gott Raben aus, um den Propheten Elija in der Wüste zu versorgen. Die gleiche göttliche Gnade erfährt in der Legenda Aurea auch der Eremit Paulus. Seine Raben versorgen sogar auch den Hl. Antonius mit, als dieser Paulus in der Wüste besucht.17 Traditionsprägend ist auch der Rabe des Hl. Benedikt von Nursia. Er ist ebenfalls in der Legenda Aurea18 erwähnt, aber schon zuvor in der Vita Benedicti Gregors des Großen, nicht als Ernährer des Heiligen, sondern als sein treuer Begleiter, der ihm so ergeben ist, dass er sogar das vergiftete Brot, mit dem Florentinus einen Anschlag auf Benedikt verüben möchte, auf Benedikts Befehl hin entsorgt – wenn auch widerstrebend.19 „In corvi oboedientia Heliam […] video“ (II,  VIII,8: „Im Gehorsam des Raben sehe ich Elija“), bemerkt hierzu Gregor und sieht so durch den Raben Benedikts Status als bedeutender Prophet bezeugt.20 Die Treue des Raben Benedikts wird von den beiden Raben des Hl. Meinrad noch übertroffen.21 Der Benediktiner Meinrad hat die im Nest verlassenen Jungvögel bei seinem Rückzug in den Wald aufgelesen und in der Klause aufgezogen. Sie warnen ihn später nicht nur vor seinen Mördern, die ihm freilich bereits ein Engel angekündigt hat, sondern sie verfolgen auch diese und überführen sie. Damit wirkt Meinrad durch die beiden Raben sein erstes postmortales Wunder und ist sofort als Heiliger zu erkennen.22 Das wundersame Bild des Raben als einer treu ergebenen Dienerfigur dient somit als Signal, um einen Heiligen als demütigen Einsiedler zu markieren und in die Nähe der Wüstenväter oder Benedikts zu rücken. Oswald scheint als heiliger König zunächst nicht in diese Reihe zu passen, auch wenn in der Beda-Tradition die Verbindung zwischen Oswald und dem Benediktinerkloster

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S. 491f., hier S. 491. Zur negativen Rabendarstellung vgl. auch Jansen (wie Anm. 2), S. 238, die insbesondere auf Wotans Raben verweist. Jacobus de Voragine: Legenda aurea. Hrsg., übers. u. komm. v. Bruno W. Häuptli. Bd. 1. Herder: Freiburg 2014, Nr. 15, S. 332–335, hier S. 334,10. Ebd., S. 652–673, hier S. 658, 10–19. Gregor der Große: Vita Benedicti. Das Leben und die Wunder des verehrungswürdigen Abtes Benedikt. Hrsg. v. Adalbert de Vogüé, übers. v. Gisela Vollmann-Profe. Reclam: Stuttgart 2015, Buch II, VIII,3. Vgl. Manuela Puzicha: Kommentar zur ‚Vita Benedicti‘. Gregor der Große: Das zweite Buch der Dialoge – Leben und Wunder des ehrwürdigen Abtes Benedikt. EOS: St. Ottilien 2012, S. 199, wo auf den Kontrast zwischen Benedikts Raben und dem untreuen Raben Noahs hingewiesen wird. Zur Meinrad-Legende vgl. Gall Morell: Die Legende von Sankt Meinrad und von dem Anfange der Hofstatt zu den Einsiedeln. Benzinger: Einsiedeln 1861. Vgl. Cora Dietl: How to Mark A Saint on Stage. Felix Büchser’ Meinradspiel. In: European Medieval Drama 25 (2021), S. 175–200, hier S. 192.

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Lindisfarne betont wird. Spätmittelalterliche Meinradlegenden kennen zwar auch eine Verbindung zwischen Oswald und Meinrad über den angeblich mit Oswald verwandten Erneuerer der Meinradzelle Gregor.23 Um Oswalds Verhältnis zum Raben zu erklären, genügt diese Verbindung aber sicherlich nicht. Dennoch sollte der monastische oder asketische Kontext, der mit dem Raben angedeutet ist, nicht unterschätzt werden. Der Rabe deutet letztlich bereits auf die keusche Ehe Oswalds voraus, deren Ziel gerade nicht die Sicherung einer dynastischen Erbfolge, sondern die Mission ist.24 Dieser Bruch des klassischen Brautwerbungsschemas ist in der Forschung insbesondere anhand des Münchner Oswald intensiv diskutiert worden.25 Der Rabe mit seiner engen Verbindung zu Gott spielt eine entscheidende Rolle in der geistlichen Überformung der Brautwerbungserzählung.26 Kiening bezeichnet den 23

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Zur Person vgl. Rudolf Henggeler  O.S.B.: Professbuch der fürstlichen Benediktinerabtei Unserer Lieben Frau zu Einsiedeln, laufend aktualisierte Online-Ausgabe: www.klosterarchiv.ch/e-archiv_professbuch.php: Äbte, Nr.  3. Zur Verbindung mit Oswald vgl. Cora Dietl: Einsiedeln. In: Edith Feistner (Hrsg.): Klostergründungserzählungen des deutschen Sprachraums. Eine Anthologie. LIT: Münster 2021, S.  211–291, hier S.  264. Zur wiederholten gemeinsamen Überlieferung von Meinrad- und Oswaldlegenden vgl. Müller (wie Anm. 4), S. 460 und die dort angegebene Literatur. Vgl. Rabea Kohnen: ‚durch den abrahamischen garten‘. Interreligiosität in den mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen am Beispiel des Münchner Oswald. In: Ludger Lieb u.a. (Hrsg.): Abrahams Erbe. Konkurrenz, Konflikt und Koexistenz der Religionen im europäischen Mittelalter. De Gruyter: Berlin 2015, S. 599–610, hier S. 604, wonach die rein geistige Ehe auch dem Machtanspruch Oswalds entspreche, der „in der rein geistigen Bekehrung der Andersgläubigen durch Mission liegt.“ Monika Schulz: Die falsche Braut: Imperative Feudaler Herrschaft in Texten um 1200. Zur Instrumentalisierung des nudus consensus in den sogenannten ‚Spielmannsepen‘. In: Zeitschrift für dt. Philologie 121 (2002), S. 1–20, hier S. 14–18, spricht von einem Ersetzen der Kinder des Ehepaars durch neu gewonnene „Gotteskinder“. Grundlegend dazu: Nikolaus Miller: Brautwerbung und Heiligkeit. Die Kohärenz des Münchner Oswald. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52 (1978), S. 226–240. Für einen neueren Forschungsüberblick dazu vgl. Julia Weitbrecht: Häusliche Heiligkeit. Zur Transformation religiöser Leitbilder in der OswaldLegende. In: Beiträge zur Geschichte der dt. Sprache und Literatur 137 (2015), S.  63–79, hier S.  67. Neuerdings zum Problem der Vereinbarkeit von Brautwerbung und Askese: Christiane Then-Westphal: Königs Wege zum Heil. Ehe und Enthaltsamkeit in deutschen Texten des hohen und späten Mittelalters. University of Bamberg Press: Bamberg 2020, S. 180–215. Armin Schulz: Morolfs Ende. Zur Dekonstruktion des feudalen Brautwerbungsschemas in der sogenannten ‚Spielmannsepik‘. In: Beiträge zur Geschichte der dt. Sprache und Literatur 124 (2002), S. 233–249, hier S. 238 beobachtet, dass im Münchner Oswald alle entscheidenden Faktoren der Werbung aus dem feudal-weltlichen in den geistlichen Raum verschoben sind: „Dies betrifft die relevanten Aktanten – den Pilger und den göttlich begabten Raben – und die Handlungsmotivationen“.

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Raben im Wiener Oswald als den „Heilige[n] Geist der Brautwerbung“,27 der durch „konnotative Aufladungen“ wie durch die Anlehnung an den Raben des Hl. Paulus zu einem „Medium des Heils“ werde;28 Then-Westphal sieht im Raben des Münchner Oswald ein „geflügeltes Himmelswesen in struktureller Parallele zum […] Engel Gottes“.29 Trotz dieser Hochschätzung des Raben in den Oswald-Erzählungen hat er bislang in der Forschung selten eine genauere Beachtung gefunden.30

Die Investitur des Raben als königlicher Bote

Der Münchner Oswald ist die längste und wohl älteste der vollständig erhaltenen deutschen Fassungen der Oswald-Erzählung; Curschmann hat ihre Entstehung im 13. Jahrhundert in Regensburg oder Umgebung vermutet.31 Hier hatten die Welfen den Oswald-Kult eingeführt; im Schottenkloster bestand ein Interesse an der iro-schottischen Mission und an Oswald; Regensburg hat auch Oswald sehr früh unter die Vierzehn Nothelfer aufgenommen.32 Gerade an der Verbindung zwischen Adels- und monastischer Literatur könnte hier ein Interesse bestehen. In diesem Text erhält Oswald zunächst von „seinem Engel“ (V.  59) den Rat, eine pagane Prinzessin als Braut zu wählen. Auf der Suche nach einer geeigneten Braut, die der Beschreibung des Engels entspräche, hilft ihm der Pilger Warmunt. Er erzählt von Paug, der schönen Tochter König Arons. Als er Oswald rät, bei der gefährlichen Brautwerbung seinen Raben als Boten einzusetzen, der von Gott zu dieser Aufgabe auserwählt sei (V. 355: „er hat von unsrem herrn daz gepot“) und der genau zu diesem Zweck von Gott mit der Redefähigkeit begabt worden sei (V.  357: „dein rab ist redent worden“), ist Oswald erstaunt. Er beteuert, dass der Rabe in zwölf Jahren noch kein Wort gesprochen und immer nur gekrächzt habe (V. 363–365); damit bestätigt er das Wunder, das der Erzähler hier referiert: 27 28 29 30 31 32

Christian Kiening: Heilige Brautwerbung. Überlegungen zum Wiener Oswald. In: Gisela Vollmann-Profe u.a. (Hrsg.): Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug. Niemeyer: Tübingen 2007, S. 89–100, hier S. 97. Ebd., S. 98. Then-Westphal (wie Anm. 25), S. 189f. Ausnehmen möchte ich hier ausdrücklich Müller (wie Anm. 4); allerdings liegt hier das Augenmerk v.a. auf dem Münchner Oswald und der Bildkunst; der Rabe im Wiener Oswald wird in der Studie nicht berücksichtigt. Curschmann (wie Anm. 6), Sp. 767. Vgl. Curschmann (wie Anm. 12), S. 84f.; unterstützend dazu Kalinke 2005 (wie Anm. 2), S. 6; ó Riain-Raedel (wie Anm. 2), S. 225–229; Jansen (wie Anm. 2), S. 230.

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Cora Dietl der himlisch trachtein tet da sein genad schein und gab dem raben an der stund, daz er alle sprach wol reden chunt. (V. 391–394) (Der Herr des Himmels offenbarte da seine Gnade und gab dem Raben sogleich die Gabe, dass er in allen Sprachen flüssig reden konnte.)

Eine Art Pfingst-Wunder setzt den Raben, der nun auch von sich aus von der Spitze eines Turms herunterkommt, als göttlich bestimmten Boten ein. Auch der Rabe beteuert noch einmal seine göttliche Sendung, indem er erklärt: „deu genad ist mir von got her komen“ (V. 424). Damit ist die göttliche Planung der Brautwerbung dreifach bestätigt: durch den Engel, den Pilger und den Raben. Sogleich beginnt der Rabe Oswald zu beraten. Ob dies auf der Grundlage seiner ihm in literarischer Tradition zugeschriebenen Eigenschaften von Klugheit und Eigensinn, seiner langjährigen Beobachtung der Menschen aus der Vogelperspektive oder auf göttlicher Eingebung beruht, ist zunächst unklar. Er fordert zuerst vom König, dass sein Gefieder mit Gold verziert und ihm eine goldene Krone aufs Haupt gesetzt werde. Allzu deutlich scheint durch diese Forderung der aus der Fabel vom Fuchs und dem Raben bekannte Stolz des Raben durchzuscheinen,33 der den neu gewonnenen Status eines königlichen Boten ausstellen will. Bald aber offenbart sich seine Prunksucht als Strategie: […] wan ich kom under die haidmischen man, so wirt mich ein michel volk gaffen an, so mag ich desder paß einen frid gehaben (her, das wil ich dir fur war sagen) fur vahen vnd fur schiessen. (V. 445–449) ([…] denn wenn ich zu den Heiden komme, dann wird mich die Masse bestaunen, so dass ich – Herr, das will ich dir beteuern –, um so gesicherter bin vor einem Einfangen und Erschießen.)

Die Erklärung leuchtet ein, wäre da nicht der unnötige und daher besonders auffällige beteuernde Einschub. Glaubt man ihm, dann sollen ihn die mit Gold durchzogenen Federn und die Krone von einem „normalen“ Vogel abheben und vor dem „normalen“ Tod eines Vogels durch den Fang im Netz oder durch Pfeilschuss sichern. Er rechnet sich auch einen günstigeren Empfang bei König Aron aus. Der Rabe ist zwar von Gott mit Sprache begabt, scheint aber nicht unmittelbar Sprachrohr Gottes zu sein. Vielmehr denkt er in Mustern 33

Vgl. Phaedrus: Liber Fabularum. Fabelbuch. Hrsg. u. übers. v. Friedrich Rückert und Otte Schönberger. Reclam: Stuttgart 1975, Nr. 13: „Vulpes et Corvus“, S. 16f.

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eines vernunftbegabten Vogels. Oswald übersetzt den Wunsch des Raben ins Menschliche und versteht es so, dass der Zweck der Verzierung darin bestehe, „daz man sech, daz er ains reichen kunigs pot sei“ (V.  522): Aus dem Überlebenstrick ist damit ein Statussymbol geworden. Ab diesem Moment denkt der Rabe menschlich, beginnend mit seinem Rat an Oswald, der Prinzessin einen Liebesbrief schreiben zu lassen (V. 566–573), und der Bitte, ihn als Boten förmlich abzufertigen (V. 575f.: „vertig mich von hinn | zuo der edeln kunigin!“). Der Wiener Oswald ist kürzer als der Münchner Oswald und steht im Ton der Heiligenlegende näher als der sog. Spielmannsepik; Curschmann vermutet eine Entstehung im Umkreis des schlesischen Zisterzienserklosters Heinrichau oder der Person Heinrichs von Schildberg.34 Auch dies würde bedeuten, dass der Text an der Schnittstelle zwischen Hof und Kloster verfasst ist. Als Bezugsgröße für den paganen Herrscher bietet sich hier neben der islamischen Welt auch das pagane Osteuropa an, zumal der Rabe Oswald als deutschen König (V. 228) bezeichnet – allerdings als Teil einer Ausrede, auf die unten noch einzugehen sein wird. In diesem Text entspringt es keinem Wunder, dass der Rabe spricht, vielmehr hat ihn Oswald dazu erzogen (V.  112). Nicht der Rabe selbst, sondern Bruder Tragemund, der Oswald zu der Heirat mit der paganen Prinzessin Spange rät, fordert, dass Oswald das Gefieder, den Schnabel und die Klauen des Raben mit Gold und Silber verziere und ihm eine Krone anfertigen lasse (V. 115–120). Der Rabe akzeptiert die Mission als Auftrag seines Herrn, dem er treu dient (V. 157f.: „ich vorsage dirz nicht, | ich habe darzu gar gute pflicht.“). Dabei fordert er nichts für sich, sondern allein für Prinzessin Spange: Er fordert Oswald auf, ihm einen Ring für sie mitzugeben (V. 161–167). Anders als im Münchner Oswald ist das kein reines Zeichen der Verlobung, sondern ein Zauberring, der durch die Kraft seiner Steine dem Träger christliche Tugenden verleiht (V. 174–176). Diese natürlich-magische Wirkung des Rings wird später in der Handlung mehrfach sichtbar werden. Bis zum Moment des Abschieds des Raben ist nichts von göttlichen Wundern oder einem göttlichen Auftrag an den Raben zu erkennen. Der Rabe, der aufgrund seiner Erziehung und seines engen Verhältnisses zu Oswald „schon immer“ quasi-menschliche Eigenschaften besitzt, dient treu seinem Herrn Oswald. Eine Reibung zwischen der Perspektive eines Vogels und der menschlichen Perspektive eines Vasallen des Königs ist nicht zu erkennen.

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Curschmann (wie Anm. 6), Sp. 1031; Curschmann (wie Anm. 12), S. 217f.

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Die Ankunft im fremden Land

Bei seiner Ankunft im Lande des Königs Aron nutzt der Rabe im Münchner Oswald zunächst seine Vogelperspektive und beobachtet von oben das Geschehen am Hof: Er erkennt die sichere Bewachung der Prinzessin Paug und den Zornmut des Königs und sieht seine Chance, irgendwie die Werbung vorbringen zu können, erst in dem Moment, als der König durch ein üppiges Mahl wohl gesättigt ist (V. 821f.). Jetzt fliegt er herab und grüßt die Anwesenden in der Reihenfolge ihres Rangs. Er beeindruckt durch sein Auftreten den Hof, nicht aber den Hofnarren, der sofort erkennt, dass er ein Brautwerber ist (V. 851–854). In diesem Moment entgleitet dem Raben alle Höflichkeit und er schimpft laut: der teufel in der helle cloffet zuo aller stund dir aus deinem valschen mund! das dir dein maul verwachsen wär, daz tauchte mich ein liebes mär, daz du chainen rat möchtest geben die weil du hast dein valsches leben! (V. 856–862) (Der Höllenteufel spricht dir stets aus deinem verlogenen Mund! Es wäre mir lieb, wenn dir dein Maul verwachsen wäre, so dass du, solange du Verräter am Leben bist, keinen Rat geben könntest!)

Wenn sich der Rabe als „Sprachrohr Gottes“ verstehen mag, da er die gottgewollte Heirat einzufädeln versucht, so muss ihm der, der dieses Unterfangen durch seine Worte behindert, als ein Sprachrohr des Teufels erscheinen. Sein Fluch trifft allerdings den, der die Wahrheit sagt und ihm letztlich in vielem ähnlich ist. Nun biegt er sich die Wahrheit zurecht und beteuert, er sei nur wegen des ehrenvollen Rufs des Königs hergekommen, „daz mir der kung geb prot und wein | durch die grosse er sein“ (V. 869f.). Die Schmeichelei tut ihre Wirkung; der König gewährt ihm, wenn er doch um seiner Ehre willen gekommen sei (V.  873), gerne Brot und Wein, d.h. die symbolische Tischgemeinschaft. Zweimal lässt sich der Rabe den Schutz des Königs zusichern, und beim zweiten Mal wird Aron bereits argwöhnisch („ich furcht, ich werd mit dir betrogen!“, V. 916), aber er sagt ihm zwei- bzw. dreimal Sicherheit zu: bei Mohammet, und als der Rabe das als allzu unsicher ablehnt, bei der Liebe zu seiner Frau (V 935–938). In scheinbarer Sicherheit trägt der Rabe sein Anliegen vor und weckt den maßlosen Zorn des Königs. Nach kurzem vergeblichem Fluchtversuch durch die viel zu schnell geschlossenen Fenster wird er eingefangen, gefesselt und zum Tode durch Erhängen verurteilt (V. 1000–1002).

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Allein durch das Eingreifen Paugs, die den Vater ermahnt, er würde für diesen Wortbruch in künftiger Dichtung geschmäht werden („und muost sein auch immer laster haben, | wo man ez sol singen oder sagen“, V. 1017f.), und ihm droht, dass sie keinen von ihm ausgewählten heidnischen Bräutigam akzeptieren und stattdessen „mit ainem spilman aus dem land“ (V. 1053) gehen werde, gelingt es, den Raben zu retten. Unter der Bedingung, dass sie ihn nicht freilasse (V. 1071f.), darf sie ihn mitnehmen. In ihrer Kemenate richtet der Rabe der Prinzessin die Werbung Oswalds aus und übergibt ihr Brief und Ring. Er fordert sofort seine Freilassung. Als Kompromiss angesichts des Versprechens, das sie ihrem Vater gegeben hat, ringt sie ihm neun Tage Wartefrist ab. Danach ist sie zur Ehe mit Oswald und zur Bekehrung zum Christentum bereit und lässt den Raben mit einem Brief und Ring zurückfliegen. Der Rabe ist hier eine sehr schillernde Gestalt. Er ist durch sein mehrfach thematisiertes Fliegen als Vogel gezeichnet, wird aber wie ein Mensch verurteilt. Er beweist eine enorme Menschenkenntnis und weiß, wie er Aron schmeicheln kann. Auch weiß er sich weiblicher Solidarität zu versichern, indem er Aron auf die Liebe seiner Frau schwören lässt. Diese Menschenkenntnis scheint nichts göttlich Gegebenes zu sein, da sie in diesem Fall nicht genügt; sie scheint vielmehr auf der jahrelangen Beobachtung der Menschen am Hof Oswalds zu beruhen. Damit ist der Rabe letztlich dem beobachtenden und die Zusammenhänge sofort durchschauenden Hofnarren ähnlich.35 Seine barsche Reaktion auf denselben, sein großzügiger Umgang mit der Wahrheit und mit dem Versprechen Paugs an ihren Vater verdeutlichen, dass der Rabe zwar von den Menschen die Einhaltung ihrer Regeln erwartet, diese aber für sich selbst großzügig auslegt. Am Ende der Szene ist Paug dem Raben klar überlegen in ihrer Ehrenhaftigkeit36 und ihrem Verhandlungsgeschick. Ihre Argumentation wechselt auf die Metaebene, wenn sie dem Vater mit negativer Darstellung in der Literatur und mit einer eigenen Tätigkeit als spilweib droht, womit sie die Regie über den vorliegenden „spielmännischen“ Text zu übernehmen droht und es letztlich ab diesem Moment auch tut. Sie bestimmt jetzt den Fortgang der Handlung und der Rabe wird auch eine ihrer Spielfiguren. 35

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Müller (wie Anm. 6), S. 457 geht so weit zu erklären, der Rabe treibe „all den publikumswirksamen Unsinn, der den Reiz des Epos ausmacht, ohne daß dabei die Heiligkeit seines Auftraggebers berührt wird“. Er sei letztlich die Lösung, um unterhaltsame „Spielmannsepik“ mit Heiligenlegende und Brautwerbung mit Askese zu verbinden. Anders als Kragl, S. 164, sehe ich in Paugs Treueversprechen gegenüber ihrem Vater in V.  1078 keine offene Lüge, da die Bekehrung erst später erfolgt. Florian Kragl: Wer hat den Hirsch zum Köder gemacht? Der Münchner Oswald ‚spiritualiter‘ gelesen. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 63 (2007), S. 157–178.

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Im Wiener Oswald fehlt der Narr, der den Raben sofort durchschauen würde. Der Rabe wird bei seiner Ankunft bewundert und gefragt, weshalb er hergekommen sei. Bevor er antwortet, reflektiert der Erzähler, dass er nicht ehrlich antworten dürfe, um sich zu schützen (V. 223–225), womit die folgende Lüge gerechtfertigt ist: Der Rabe erklärt, er sei vom deutschen König hergeschickt, um den Heidenkönig zum Christentum zu bekehren, wofür letzterer reich beschenkt werde (V. 234f.). Wenngleich die Missionsabsicht nicht ganz gelogen ist, so unterschlägt der Rabe hier die Werbung und erfindet dafür die reichen Geschenke. Ob die Angabe seines Herrschers als des Königs „in dem dutschen lande“ (V. 228) gelogen ist, um Oswald zu schützen, oder der Lokalisierung des Geschehens im Wiener Oswald entsprechen soll, ist nicht zu entscheiden.37 Der orientalische Herrscher lehnt den Bekehrungsversuch kategorisch ab, bietet aber dem Raben an, an seinem Hof zu bleiben, und da greift der Rabe zu der für einen Orientalen passenden List,38 indem er eine Schachpartie vorschlägt und den Vasallen des Königs verspricht, sie alle mit dem Geld, das er gewinnen werde, neu einzukleiden (V.  277). Dieses Versprechen ist seine Lebensversicherung, denn als der König nach massiven Spielverlusten den Raben töten lassen will, ziehen es die Vasallen vor, sich neu einkleiden zu lassen. Prinzessin Spange hört von der Sache und möchte den Raben haben. Da sie bereits zwei gezähmte Adler besitzt (V. 346c), ist er das passende Geschenk für sie. Als sie den Raben in ihrer Kemenate herzt und ihm den Segen ihres Gottes wünscht, ergreift er das Wort: her sprach: „juncfrou daz ist nicht wolgetan daz ir di abgote betet an, geloubet an den waren got, der alle dinc geschaffen hat, und lat uch toufen balde, so werdet ir behalden und werdet davon selig unde aller sunden ledig“. (V. 389–396) (Er sprach: „Jungfrau, es ist nicht gut, dass Ihr die Götzen anbetet. Glaubt an den wahren Gott, den Schöpfer aller Dinge, und lasst Euch bald taufen, dann werdet Ihr erlöst und werdet dadurch selig und frei von allen Sünden.“) 37

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Vgl. Curschmann (wie Anm. 7), Sp. 1028. Jansen (wie Anm. 2), S. 236–237, bezweifelt die Aussage des Raben nicht und verweist drauf, dass Oswald im Linzer Oswald als Norweger bezeichnet wird. In den verschiedenen Zuschreibungen sieht sie einen Beleg für die Anpassungsfähigkeit der Legende. Vgl. das Schachspiel als Türöffner für den streng bewachten Harem in: Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur. Eine Erzählung. Hrsg. v. Emil Sommer. Basse: Quedlinburg und Leipzig 1846, V. 5055–5280.

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Getreu seiner Aussage, er sei zur Mission ausgesandt, versucht der Rabe die Prinzessin zuerst zu bekehren, und als sie als einzigen Hinderungsgrund ihre Angst vor dem Vater, der die Christen hasse (V. 399), anführt, stimmt er einen rhetorisch überhöhten Minne- oder Mariengruß an:39 her sprach „got gruze dich jungfrou, got gruze dich lilgen, ein rosentou, got gruze dich lichter morgenstern, mine ougen di sehen dich gern, got gruze dich meienris, got gruze dich bluendez pardis, got gruze dich edele kunigin vor Spange libe juncfrou min!“ (V. 411–418) (Er sprach: „Gott grüße dich, Jungfrau! Gott grüße dich, Lilie, ein Tau der Rosen! Gott grüße dich, heller Morgenstern, meine Augen sehen dich gerne. Gott grüße dich, Maienzweig! Gott grüße dich, blühendes Paradies! Gott grüße dich, edle Königin, Frau Spange, meine liebe junge Herrin!“)

Die Bilder, die sämtlich aus der Marienlyrik bekannt sind,40 in den sechsfachen Gruß geformt, verwandeln das Zwiegespräch zwischen dem Raben und Spange in ein Zitat der Verkündigungsszene. Mission und Brautwerbung überkreuzen sich in seinen Worten. An diesem Punkt ist Kienings Deutung des Raben als „Medium des Heils“ klar zuzustimmen,41 denn mit dem Gruß vermittelt er den christlichen Glauben. Spange erkennt den „englischen Gruß“ zunächst als eine Brautwerbung und weist den Raben auf die Gefährlichkeit einer solchen Werbung hin, lässt ihn aber weiterreden. Jetzt erst richtet der Rabe die Worte Oswalds aus. Als Spange erneut auf die Gefahr hinweist (schon 350 Prinzen haben durch die Brautwerbung den Tod gefunden), verbindet der Rabe nun explizit Werbung und Mission:

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40 41

Dieses Frauenlob findet sich auch in der Oxforder Handschrift des Münchner Oswald. Vgl. Stephan Müller: Des Raben Minnegruß. Neues zur Kemenatenszene im Münchner Oswald (The Morgan Library, MS B.61). In: Beate Kellner u.a. (Hrsg.): Höfische Textualität. Festschrift für Peter Strohschneider. Winter: Heidelberg 2015, S. 249–262, hier S. 251. Müller hält das Lob für eine Handlung, die „gut ins Profil des burlesken Raben“ (ebd., S. 252) passe. Die Überschneidung mit dem Wiener Oswald sieht er nicht und er geht auch nicht auf die marianischen Motive in diesem Minnegruß ein, sondern reiht ihn vielmehr in die Minnereden ein (ebd., S. 255). Kiening (wie Anm. 27), S. 97, spricht dagegen ausdrücklich von einem „Mariengruß“. Vgl. dazu Anselm Salzer: Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters. Hofdruckerei: Linz 1893. Kiening (wie Anm. 27).

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Cora Dietl nim Oswalt zu einem man, daz du mit im werlich komest in daz himelrich. (V. 472–474) (Nimm Oswald zum Mann, damit du wahrlich mit ihm ins Himmelreich kommst.)

Das Gespräch bewegt sich nun zwischen religiösen Fragen und solchen zur Macht und Wehrhaftigkeit Oswalds, bis Spange nach den Gaben Oswalds fragt und der Rabe ihr Brief und Ring gibt, mit dem Hinweis, dass allein der Anblick des Rings genüge, dass sie ewig dem Himmelreich angehöre (V. 522f.). Genau das geschieht dann auch durch die Kraft der Steine, die kiusche, tugent und rechten gelouben verleihen (V. 527–529). In dem Moment, in dem sie den Ring angelegt hat und endgültig zum christlichen Glauben bekehrt ist, übernimmt Spange die Handlungsregie. Sie trägt dem Raben auf, Oswald ihren Ring zu bringen, der vor gewaltsamem Tod und Ertrinken schützt und die Kraft von 18 Fürsten verleiht (V. 541–549), und sie entwickelt bereits den Plan ihrer Entführung. Schließlich verziert sie das Gefieder, den Schnabel, das Haupt und die Beine des Raben noch einmal, so als „ob her ein engel here / uz dem pardise were“ (V. 622f.). Diente die erste Verzierung der Markierung, dass der Rabe mehr als ein gewöhnliches Tier ist, und agierte er bislang letztlich als Mensch, so wird nun der Rabe, nachdem er, vielleicht durch den Zauberring bekräftigt, die Mission über die Brautwerbung gestellt und Spange noch mehr für das Himmelreich als für eine Fürstenehe geworben und dabei bereits die Rolle Gabriels zitiert hat, ausdrücklich in die Nähe eines Engels gerückt. Indem er die Ehe vermittelt, ist er deutlich zum Heilsvermittler geworden. Für eine so positive Wertung des Raben ist es notwendig, seine Lüge am Hof des orientalischen Herrschers zu rechtfertigen – zunächst durch den Erzähler, dann aber durch das Handeln des Raben, der die angebliche Lüge (die Missionsabsicht) zur Wahrheit werden lässt.

Oswalds Weg in den Orient – der vergessene Rabe

Im Münchner Oswald trägt Prinzessin Paug dem Raben ausdrücklich auf, dass er auf keinen Fall ohne den Raben zu ihr kommen solle, um sie zu entführen (V. 1182); das richtet ihm der Rabe auch unmissverständlich aus: „chumst du an mich, dein arbait ist gar verloren“ (V. 1410). Über den vielen anderen Auflagen, die ihm die Prinzessin gemacht hat und um die sich Oswald eifrig kümmert, vergisst er den Raben (V. 1605f.), was der Erzähler ihm nachsieht, nicht aber

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der Rabe. Erst als er mit seinem Heer im Orient gelandet ist und den Raben als Boten zu Paug schicken will, fällt Oswald auf, dass der Rabe fehlt und dass damit das gesamte Unternehmen scheitern muss (V. 1706–1736). In diesem Moment hilft nur das intensive Gebet Oswalds und seiner Ritter (V.  1760–1778). Gott und Maria entsenden daraufhin einen Engel zum Raben, um ihn zum Heer zu rufen. Der Rabe antwortet dem Engel in vorwurfsvollem Ton: „engel, du solt stille dagen | und merk waz ich dir hab zuo sagen“ (V. 1801f.). Er erzählt, was er alles für seinen Herrn getan habe, welche Not er für ihn ausgestanden habe und dass er ihm gesagt habe, er müsse ihn mitnehmen. Der Rabe trage daher keine Verantwortung für einen möglichen Untergang des Heeres, nachdem man ihn zurückgelassen hat: „nimpt er nun schaden, er und sein dienstman, | wärlich, da pin ich nicht schuldig an“ (V. 1827f.). Als der Engel ihn auffordert, seinen Zorn zu begraben (V. 1833), packt der Rabe erst richtig aus: engel, merk waz ich dir sag: ich pin gewesen zwelf wochen und ain jar (engel, daz sag ich dir fur war), daz ich chainer schlacht speise (engel, des wil ich dir erweisen) zuo meinem leib nie gewan. meinem herren ich nicht gehelfen kan! (V. 1840–1846). (Engel, höre, was ich dir sage: Ich habe ein Jahr und 12 Wochen – Engel, das sage ich dir in Wahrheit – keinerlei Speise – Engel, das werde ich dir beweisen – zu mir genommen. Ich kann meinem Herrn nicht helfen.)

Dass die Behauptung, er sei derartig ausgehungert und von Kräften gekommen, unwahrscheinlich ist, ist dem Raben selbst bewusst, sonst würde er nicht gehäuft Wahrheitsbeteuerungen in seine Rede einschieben, die aber die Sache nicht wahrscheinlicher machen. Sie lenken vielmehr das Interesse des Zuhörers auf die Begründung für seinen miserablen Zustand, die er in den folgenden Versen abgibt: do mein herr von dem land was chomen, do ward mir mein pfrünt genomen von dem choch und von dem chelner. engel, merk meines herzen schwär: die begunden mein gar vergessen […]. (V. 1847–51) (Nachdem mein Herr das Land verlassen hatte, wurden mir meine Pfründe genommen – und zwar vom Koch und vom Kellner. Engel, höre meine Klage: Sie vergaßen mich ganz.)

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Das Vergessenwerden bei der Abreise also spiegelt sich im Vergessenwerden am Hof, da er nun nicht mehr am Mahl des Herrn teilnehmen kann, was er als sein „Pfründe“ bezeichnet. Koch und Kellner kümmern sich nicht um ihn und behandeln ihn nicht als menschlichen Höfling mit menschlichen Rechten, sondern verweisen ihn in sein Tier-Dasein zurück. also ward mein gar vergessen, ich muost mit den värchlein essen. also muost ich mein speis nemen, mein her muoß sich sein immer schämen! ich muost auch essen zuo allen stunden vor dem tisch mit meines herren hunden: welhem hund ich sein speis genam der grain mich dann jamerleich an. man gab mir weder wein noch prot, von hunger lait ich grosse not. mein gevider ist mir zerzerret ser, meinem herren chan ich nicht gehelfen mer: ich mag kain flug nicht gehaben, und wurden si all zuo tod erschlagen! (V. 1855–1868) (So wurde ich völlig vergessen. Ich musste mit den Ferkeln essen. So musste ich meine Speise zu mir nehmen. Mein Herr soll sich immer dafür schämen! Ich musste auch stets abseits des Tisches mit den Hunden meines Herren essen. Wenn ich einem Hund seine Speise wegnahm, knurrte er mich elend an. Man gab mir weder Wein noch Brot. Ich litt durch den Hunger große Not. Mein Gefieder ist mir arg zerzaust. Meinem Herrn kann ich nicht mehr helfen: Ich kann nicht mehr fliegen, auch wenn sie alle erschlagen werden.)

Weil er wie ein Tier und nicht wie ein Mensch behandelt wird und das Futter anderer Tiere teilen muss und weil sein ehemals mit Gold verziertes Gefieder zerzaust und wieder ein Raben-Gefieder ist, sieht er sich nicht mehr als königlicher Bote und will diese Aufgabe nicht mehr übernehmen. Dass seine vorherige Aussage über die seit über einem Jahr fehlende Speise sich nur auf seine menschliche Behandlung bezieht, deckt er durch diese Rede auf. Dass auch die Aussage, sein Gefieder sei zerzaust und nicht mehr funktionsfähig, sich ebenfalls nur auf die menschliche Verzierung des Gefieders bezieht, weist der Engel ihm im Folgenden nach. Der Gesandte Gottes rät dem Raben, doch einfach nur ein Stückchen hochzufliegen und sich dann wieder fallen zu lassen, um vor Gott seine Bereitschaft bei mangelndem Vermögen zu demonstrieren. Als sich der Rabe auf diesen Trick einlässt, lässt ihn der Engel nicht mehr absinken und trägt ihn zu Oswalds Schiff. Da stimmt der Rabe erneut seine Klage an und fordert schließlich, dass Koch und Kellner hinzurichten seien (V. 1977f.).

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Oswald geht darauf nicht ein und kann den Raben durch die Zusage lebenslanger Teilhabe an seinen Mahlzeiten besänftigen. Zu Beginn des Münchner Oswald war der Rabe durch ein göttliches Gnadenwunder vom Tier zu einem Helfer des Heiligen geworden, der wie ein Mensch behandelt wurde. Hier muss er erfahren, dass man ihn in genau dieser menschlichen Rolle doppelt vergessen und wieder in sein altes Leben als Tier zurückfallen lassen hat. Das erweckt seinen Zorn und Trotz. Da seine Mission aber noch nicht beendet ist, muss Gott noch ein zweites Mal eingreifen – diesmal nicht durch eine Gnadengabe, sondern durch einen Engel, der den sich selbst überschätzenden Raben in seine Schranken verweist, der Lüge überführt und in seinen Dienst zwingt. Der Rabe ist damit sehr deutlich als ein bei aller scheinbaren Ähnlichkeit zu einem Engel sehr irdischer Diener Gottes zu erkennen: Seine ausgeprägten körperlichen Bedürfnisse, sein Stolz und Eigensinn und sein eigenwilliges Verhältnis zur Wahrheit verweisen ihn klar in eine andere Klasse als die Engel.42 Im Wiener Oswald fehlt die klare Auflage, den Raben bei der Entführung Spanges mitzubringen. Als aber Oswald auf hoher See bemerkt, dass der Rabe fehlt, schickt er einige Männer zurück, um den Raben zu holen. Sie finden ihn „also einen armen man“ (V. 826) griesgrämig vor. Auf die Aufforderung hin, den Heeren zu folgen, weigert er sich, denn: min herre hat min vorgezzen, und ich must mit den suwen ezzen, des waren si gar vordrozzen, si haben mir zustossen min schone gefidere, wie solde ich denne hin wieder komen nact gegangen, bloz vor juncfrou Spangen? daz stunde mich nicht wol an: wil mich min herre han mit im zu sinen fromen, her mus selber na mir komen (V. 835–846) (Mein Herr hat mich vergessen. Ich musste mit den Säuen essen. Sie waren darüber verärgert und haben mir mein schönes Gefieder gänzlich zerzaust. Wie sollte ich dann jetzt so nackt und bloß vor Frau Spange treten? Das stünde mir schlecht an. Wenn mein Herr mich zu seinem Nutzen bei sich haben will, dann muss er selber zu mir kommen.)

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Dies widerspricht klar der oben zitierten Sicht Then-Westphals (wie Anm. 25).

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Ohne die im Münchner Oswald genannte Alternative zwischen der „Pfründe“ bei Koch und Kellermeister, dem Futtertrog der Schweine und dem der Hunde erscheint hier die Klage des Raben wie eine Parodie des verlorenen Sohnes, der ins Elend geraten ist und mit den Schweinen aus einem Trog essen muss, nicht weil er den Herrn vergessen hat, sondern weil dieser ihn vergessen hat. Dass dabei die ihm von Spange angefertigte Gold- und Perlendekoration regelrecht vor die Säue geworfen worden ist, beklagt er als eine Schande für seinen Herrn und vor Spange. Er verlangt jetzt den Bußgang Oswalds – und dieser erfolgt sogleich. Oswald kniet wie der verlorene Sohn vor dem Vater vor dem Raben nieder und bittet ihn, seinen Zorn zu begraben und ihm zu helfen. Der Rabe klagt noch einmal sein Leid und auch, dass ihn die Küchenknechte geschlagen haben. Als Oswald daraufhin diese zornentbrannt hinrichten lassen will (V. 870), besänftigt der Rabe Oswalds Zorn und gibt sich damit zufrieden, dass ihm sein Gefieder geordnet und seine Krone wieder aufgesetzt wird (V. 875f.). Der Rabe braucht hier keinen Engel, der ihn durch einen Trick zu Oswald zurückführt; es genügen die Reue Oswalds und die Wiederherstellung seiner Würde. Damit nimmt er sofort wieder seine Beraterfunktion ein – nicht nur durch die Besänftigung seines Herrn, sondern v.a. auch auf dem Meer. Als Oswalds Heer in einen Seesturm gerät und nach acht Jahren auf dem wilden Meer nur noch sein eigenes Schiff übrig ist, betet Oswald zu Gott und bittet dringlich um Hilfe (V. 935–940), woraufhin der Rabe zu ihm kommt und ihm erklärt: daz nu dirz jemerlichen gat, is sol werden gut rat: gelobe herre an diser frist an unsern herren Jesum Crist dri tage in der wochen vasten ungebrochen, so daz du keiner hande wis guter spise nicht embizt, so wirt dir Marien kint senden einen guten wint (V. 951–960). (Für die elende Situation, in der du dich befindest, gibt es Abhilfe: Herr, gelobe sogleich unserem Herren Jesus Christus, dass du drei Tage die Woche am Stück fasten und keinerlei gute Speise essen wirst. Dann wird dir der Sohn Marias guten Wind senden.)

Oswald setzt den Rat des Raben sofort um und sogleich kommt ein Wind auf, der das Schiff ans richtige Ufer trägt. Die rasche Abfolge von Gebet, Rat des

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Raben, Gelübde und Rettung verdeutlichen, dass der Rabe hier als Gottes Bote fungiert. Er fordert von Oswald ein Zeichen der Demut und der Askese, bevor dieser seine ihm von Gott bestimmte Braut für eine keusche Ehe gewinnen kann. Während der Rabe im Münchner Oswald deutlich vom Engel getrennt und als minderwertiger Diener Gottes erkenntlich wird, ist er hier geistlicher Berater Oswalds und Spiegelung der von Oswald geforderten Askese und ständigen Reue.

Zwei Texte – zwei Raben

Die beiden Erzählungen von St. Oswald zeichnen zwei sehr unterschiedliche Rabenfiguren: Im Münchner Oswald wird durch ein Wunder ein Tier sprechend. Ihm wird eine menschliche Rolle zugewiesen und er handelt, abgesehen von seiner Flugfähigkeit, auch weitgehend menschlich. Allerdings macht er nie einen Hehl aus seiner Randständigkeit als Mitglied des Hofs Oswalds: Er beobachtet und kennt menschliche Verhaltensmuster und -regeln. Es bemängelt Verstöße gegen Verhaltensregeln, muss sich selbst aber, ähnlich einem Hofnarren, nicht unbedingt an sie halten. Er lügt und übertreibt, er flucht und schimpft und kann es nicht ertragen, in seine ursprüngliche TierExistenz zurückverwiesen zu werden, zumal Paug, die über weite Strecken der Handlung die Regie übernimmt, seine Wichtigkeit betont hat. Auf diese beruft er sich. Er ist zwar zum Dienst an seinem Herrn bereit, verliert aber nie seine Ich-Bezogenheit, die sich auch in seiner Gefräßigkeit äußert. Neben der göttlichen Gabe der Sprache bedarf es letztlich auch der Zurechtweisung durch einen Engel, damit er seinen Dienst zu der von Gott geplanten Vermählung Oswalds beiträgt. Ähnlich wie in den Wüstenväterlegenden zeigt sich letztlich die Größe Gottes darin, dass es ihm gelingt, dieses widerspenstige Tier als den Diener des von ihm besonders gelobten Heiligen einzusetzen. Die Heiligkeit Oswalds wird im Münchner Oswald schließlich nach der Entführung Paugs mehrfach betont, wenn Gott auf Oswalds Bitte hin Zeichen wirkt und Christus schließlich dem Heiligen selbst erscheint und ihn auf seine künftige Aufnahme unter die Vierzehn Nothelfer hinweist (V. 3512f.). Das von Gott gesandte Tier ist Helfer auf dem Weg zu dem von Gott bestimmten Leben des Helden, dessen Widerborstigkeit im Kontrast Oswalds Gottesgehorsam betont. Im Wiener Oswald fehlt eine göttliche Begabung des Vogels; das Verdienst, sich diesen ungewöhnlichen Diener herangezogen zu haben, liegt bei Oswald selbst. Der außerordentlich kluge und bedachte Rabe zeichnet sich v.a. durch seine Glaubensüberzeugung aus. Er tritt als Missionar auf, noch bevor Oswald

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selbst die Chance hat, missionarisch tätig zu sein. Dadurch erscheint er als ein Alter Ego Oswalds.43 Daher ist das Vergessen des Raben ein Selbstvergessen Oswalds, das er reuig büßt. Wie sehr er den Raben braucht, wird schließlich deutlich, wenn dieser zum geistlichen Ratgeber wird, der den göttlichen Test der Enthaltsamkeit Oswalds erkennt und ihm durch die Mahnung zur Askese einen Ausweg aus dem Seesturm weist. Bereits nach Oswalds Fastengelübde verliert der Rabe Teile seiner Bedeutung; er ist jetzt nur noch der Bote zwischen der sehr gläubigen Spange, die vorschlägt, Gott um ein Wunder zu bitten, und dem endgültig heilig gezeichneten Oswald, dessen Gebete jeweils mit Wundern beantwortet werden. Sobald die beiden zueinander gefunden haben und sich ihre Frömmigkeit in der keuschen Ehe und der Heidenmission artikuliert, braucht es den Raben nicht mehr, da Oswald und Spange die Tugenden, die der Ring ausstrahlt und der Rabe einfordert, leben. Die Gestaltung der Raben-Figuren in den beiden Texten lässt sich wohl kaum durch die verschiedenen Entstehungskontexte der beiden Texte erklären. Eine Überschneidung von adeligen, missionarischen und monastischen Interessen lassen sich in beiden Texten nachweisen. Ich möchte in den beiden Texten vielmehr zwei grundsätzliche Möglichkeiten verwirklicht sehen, Tiere als Protagonisten einer narrativ ausgestalteten Heiligenlegende einzusetzen: Der Münchener Text experimentiert mit der Idee, ein Tier durch einen göttlichen Auftrag aus seiner Tier-Rolle zu reißen und seine bereits vorher erfolgte Beobachtung der Menschen und seine andere Perspektive in der neuen quasimenschlichen Rolle produktiv werden zu lassen, um einen Heiligen zu unterstützen. Den Reiz dieser Darstellung machen der immer wieder deutliche Rollenkonflikt und das Bewusstsein des Andersseins des Tiers ebenso aus wie das Spiel mit aus Fabel und Bibel bekannten Eigenschaften des Raben (Gefräßigkeit, Eigenwille, Stolz), die so wenig zur Aufgabe passen wollen und diese bzw. Oswald damit in umso hellerem Licht erstrahlen lassen. Der Wiener Oswald dagegen experimentiert mit der Idee des Tieres als Verkörperung eines Teils des menschlichen Protagonisten, wie sie z.B. auch aus der höfischen Epik44 bekannt ist, im Rahmen einer Heiligenlegende. Reizvoll 43

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Zur geläufigen Verwendung von Vögeln als „Sinnbild der menschlichen Seele“ vgl. Julia Weitbrecht: ‚mit kleiner wankels schricke‘. Die Performanz der Vogelstimme zwischen Artikulation, Imitation und Inspiration. In: Nine Miedema u.a. (Hrsg.): Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur. De Gruyter: Berlin 2017, S. 419–431, hier S. 420. Das Paradebeispiel hierfür stellt der Löwe in Hartmanns von Aue Iwein dar, der an der Oberfläche ‚nur‘ ein guter Freund des Protagonisten ist, zugleich aber für dessen Läuterung steht. Vgl. dazu: Xenja von Ertzdorff: Hartmann von Aue: Iwein und sein Löwe. In: dies. (Hrsg.): Die Romane von dem Ritter mit dem Löwen. Rodopi: Amsterdam 1994, S. 287–311, hier S. 311.

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an diesem Experiment ist, dass gerade der missionarische und der asketische Gedanke in den Raben ausgelagert werden, der hierfür als Tier mit den eben genannten „klassischen“ Eigenschaften wenig geeignet erscheint, wohl aber als tierischer Spiegel von Wüstenvätern. Beide Experimente münden in ein besonderes Lob Gottes und des Heiligen, der im Falle des Münchner Oswald eine Konstanz in seiner demütigen Heiligkeit besitzt, während er im Fall des Wiener Oswald erst allmählich die Tugenden umsetzt, welche die Erzählung in den von ihm erzogenen Vogel ausgelagert hat. Aus der Perspektive der Funktionalität einer Heiligenlegende sind beide Experimente höchst gelungen.

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Warum hat der Löwe einen langen Schwanz und schläft mit offenen Augen? Tierdarstellungen im Physiologus als Erklärungsversuch der göttlichen Schöpfung Elżbieta Tomasi-Kapral Abstract Im Zentrum des Beitrags steht Physiologus – der nach der Bibel wohl bekannteste Text im Mittelalter – und die dort präsentierten Tierbeschreibungen. Den Darstellungen der einzelnen Tiere liegt die Idee zugrunde, dass sie neben den äuβerlichen Merkmalen eines Tieres auch seine theologische Bedeutung erläutern sollten. Die Tiere und ihre Beschaffenheit sollen dem Leser auch eine moralische Lehre vermitteln und in seinen Augen als beispielhaft und nachahmenswert erscheinen. Dies ruft eine Konnotation mit den Fabeln hervor, in welchen Tiere ebenfalls eine zentrale Rolle spielen, bestimmte Charaktereigenschaften verkörpern und als mehr oder weniger nachahmenswerte Verhaltensmodelle betrachtet werden können. Im Beitrag wird nun der Frage nachgegangen, auf welche Art und Weise die allegorischen Tierdarstellungen als eine Auslegung der Welt die Logik der göttlichen Schöpfung veranschaulichen. Anhand von ausgewählten Beispielen werden Deutungsmodelle analysiert, die über die gängigen Gleichungen hinausgehen und oft facettenreiche und unerwartete Bedeutungen ans Tageslicht bringen.

Schlüsselwörter Physiologus, Exegese, Löwe, Einhorn, Käuzchen, Biber

In den Imaginationsräumen der Literatur lassen sich zahlreiche Beispiele für die Darstellung der facettenreichen Tier-Mensch-Beziehung vorfinden. In der Literatur der Antike und des Mittelalters unterscheidet man in dieser Hinsicht zwischen drei Diskursen, in welchen die Beschaffenheit der Tiere und ihre Relation zu den Menschen und der Welt zur Sprache kommt: dem magischen (der z.B. durch Zauber- und Segenssprüche bezeugt ist), naturkundlichen (der auf die antiken Abhandlungen und Studien zur Natur der Tiere zurückzuführen ist) und biblischen (in dessen Zentrum die

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/97838467

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biblischen Zeugnisse für Erschaffung und Wesen der Tiere stehen).1 Die Tiere fungieren oft als Spiegelbilder, die bestimmte Eigenschaften der Menschen veranschaulichen oder konkrete Verhaltensmuster aufdecken sollen, welche nachahmenswert bzw. zu meiden sind. Die in den literarischen Texten entworfenen Tierbilder werden, je nach der Absicht des Verfassers, für diverse Zwecke instrumentalisiert. Den Tieren werden bestimmte Bedeutungen und Funktionen zugeschrieben, sodass sie zu einer komplexen Projektionsfläche werden. Die uns heute aus der Antike und dem Mittelalter bekannten literarischen und bildlichen Tierdarstellungen sind größtenteils auf Physiologus zurückzuführen. Dieses literarische Werk gehört neben der Bibel zu den in der Antike und im Mittelalter meist gelesenen und weltweit rezipierten Texten. Seine Entstehung datiert man auf das 2. Jahrhundert und als wahrscheinlicher Entstehungsort gilt Ägypten. Das Werk wurde von einem anonymen Autor auf Griechisch verfasst.2 In den nächsten Jahrhunderten folgten zahlreiche Übersetzungen von Physiologus in alle wichtigen Sprachen des Altertums und des Mittelalters, darunter auch ins Lateinische und ins Deutsche, was zu einer breiten Rezeption des Textes beitrug. Er wurde auch mehrmals handschriftlich abgeschrieben, was zur Folge hatte, das es mehrere Versionen dieses Textes gab (und nach wie vor gibt), die sich z.B. durch die willkürlich vorgenommenen Ergänzungen oder Umschreibungen voneinander unterscheiden. Man veränderte nicht nur die Struktur des Textes, sondern auch den Inhalt – die Kapitel wurden nach Belieben gekürzt oder verlängert, manche wurden gar gelöscht und durch andere ersetzt.3 Die unüberschaubare Menge an handschriftlich verfassten Versionen war der wesentliche Grund dafür, dass der Text lange als uneditierbar galt. Dies änderte sich erst 1936, als die erste kritische Physiologus-Edition publiziert wurde,4 der auch weitere ergänzende Ausgaben folgten, die jene Handschriften berücksichtigten, welche dem Autor der ersten Edition nicht bekannt waren.5 Was die deutschen Physiologus-Fassungen anbetrifft, so basieren diese grundsätzlich auf zahlreichen Übersetzungen der griechischen Fassung in die 1 Vgl. Judith Klinger/Andreas Kraß (Hrsg.): Tiere: Begleiter des Menschen in der Literatur des Mittelalters. Böhlau: Köln/Weimar/Wien 2017, S. 10. 2 Vgl. Klaus Aplers: Pysiologus. In: TRE. De Gruyter: Berlin/New York 1996, S. 596–602. 3 Vgl. Otto Schönberger: Nachwort zum Physiologus. In: Otto Schönberger (Hrsg.): Physiologus, Griechisch/Deutsch, aus dem Griechischen von Otto Schönberger. Reclam: Stuttgart 2001, S. 152. 4 Francesco Sbordone (Hrsg.): Physiologus. Societa Anonima Editrice Dante Alighieri: Rom 1936. 5 Vgl. Aplers (wie Anm. 2), S. 596–602.

Tierdarstellungen im Physiologus

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lateinische Sprache. Bis heute sind die deutschen Physiologus-Fassungen aus dem 11./12. Jahrhundert bekannt, die auf der Dicta-Version basieren, wie auch eine aus dem 15. Jahrhundert, welche als Grundlage den Physiologus-Theobaldi (aber auch andere, weniger verbreitete und bekannte lateinische Versionen, wie z.B.  Melker  Physiologus und Celje) hatte.6 Die einzelnen deutschen Physiologus-Fassungen unterscheiden sich ebenfalls voneinander in vielerlei Hinsicht, nicht nur, was den Umfang und Anordnung der einzelnen Kapitel anbetrifft, sondern auch in Bezug auf ihre Struktur und Poetik. Von der älteren deutschen Übersetzung aus dem 11. Jahrhundert – der sog. Wiener Handschrift sind nur 12 Kapitel erhalten geblieben, während die spätere, Mitte des 12. Jahrhunderts zustande gebrachte Übersetzung vollständig erhalten geblieben ist und 29 Kapitel umfasst, die in zweifacher Form verfasst wurden – neben dem Prosatext wird derselbe Inhalt in Reimprosa dargeboten.7 Obwohl der Text im Laufe der Jahrhunderte mehrmals gründlich analysiert und interpretiert wurde, gibt es nach wie vor Fragen, die unbeantwortet bleiben, wie etwa die nach der Autorschaft oder der Intention, mit welcher der Text verfasst wurde. Der Titel, der dem Werk erst im Nachhinein verliehen wurde, weist auf eine, mehrmals im Text erwähnte Autorität – den Physiologus – hin, mit welchem wohl eine naturkündige Person, ein Naturwissenschaftler gemeint ist, der Auskunft über die Beschaffenheit und die ‚wahre‘ Natur der beschriebenen Tiere (aber auch Pflanzen und Gesteine) gibt. In dieser Hinsicht kann man Physiologus in die Reihe anderer derartigen Werke stellen, die seit der Antike bekannt waren und eine breite Wirkung hatten, wie z.B.  De historia animalium oder De partibus animalium – beide von Aristoteles, wie auch De historia et causis plantarum von Theophrast.8 Was jedoch Physiologus von ihnen unterscheidet, ist die Tatsache, dass hier der Versuch unternommen wird, bestimmte Elemente der Natur in Übereinstimmung mit der christlichen Lehre zu deuten. Die antike Naturkunde wird hier christlich ausgelegt und liefert eine Basis für die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Beziehung des Tieres zum Göttlichen. In dem mit dieser Absicht verfassten Text, „dem Evangelium der Natur“, sollte der Leser die Entschlüsselung der ihn umgebenden, oft rätselhaften und unnachvollziehbaren Welt vorfinden. Tiere stehen dabei deutlich im Zentrum, liefern reichlich 6 Vgl. Nikolaus Henkel: Studien zum Physiologus im Mittelalter. Max Niemeyer: Tübingen 1976, S. 59. 7 Zur Entstehungsgeschichte und Analyse der deutschen Physiologus-Versionen vgl. Henkel (wie Anm. 6), S. 59–72. 8 Mehr dazu siehe Horst Schneider: Tiere in symbolischer Deutung – Der Physiologus. In: Ingo Schaaf (Hrsg.): Animal Kingdom of Heaven. Antropozoological Aspects in the Late Antique World. De Gruyter: Berlin/Boston 2019, S. 59–76, hier S. 60.

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Inspiration und erweisen sich als besonders geeignet zur Versinnbildlichung des Zusammenhangs zwischen Gott und Natur. Was dabei jedoch auf den ersten Blick überraschend sein mag, ist die Tatsache, dass Physiologus neben den ganz gewöhnlichen Tieren, wie z.B. Ameise, Schwalbe, Igel, Fuchs, oder auch den – zumindest für den europäischen Leser exotischen Tieren, wie etwa Elefant, Löwe, Affe, ebenfalls jene Wesen thematisiert, die nicht mit der biblischen Überlieferung assoziiert werden, dafür aber eindeutig zur Mythenund Fabelwelt gehören, wie etwa Sirene, Einhorn, Phönix oder Onokentaur. In der Tat muss man in diesem Fall, um den christlichen Kontext herzustellen, Septuaginta konsultieren, was im weiteren Teil des Beitrags am Beispiel des Einhorns veranschaulicht wird. Es ist also festzuhalten, dass Physiologus grundsätzlich aus zwei Traditionen schöpft.9 Erstens knüpft der Text an die antike Literaturgattung, die in der nachantiken Zeit als Paradoxographoi bzw. Wundergeschichten bezeichnet wurde. Es handelt sich hierbei um meist anonym verfasste Texte, in welchen die dem Verfasser als erstaunlich oder unüblich vorkommenden Tatsachen dargestellt und als Mirabilien, d.h. sonderbare Dinge, eingestuft wurden. Die Wundergeschichten beschrieben meistens eigentümliche Verhaltensweisen der Tiere oder seltsame Naturerscheinungen, basierten jedoch stets auf der Annahme, dass es sich um wahre, in der Natur tatsächlich vorkommende Phänomene handelt, was einer deutlichen Abgrenzung der Wundergeschichten von den Mythen zugrunde lag.10 Es wurden auch Versuche unternommen, diese Paradoxien zu klären und ihnen einen Sinn zu verleihen. Ein ähnliches Verfahren findet man im Physiologus, was darauf hindeuten würde, dass der Autor mit diesem Werk eine ähnliche Strategie verfolgt. Der zweite Text, dessen Einfluss auf Physiologus unübersehbar ist, ist die Bibel. Sowohl das Alte als auch das Neue Testament fungieren hier als wichtige Bezugstexte, was vor allem in jenen Teilen der einzelnen Kapitel sichtbar ist, die der Deutung der zuvor beschriebenen Merkmale der Tiere (oder auch Fabelwesen, Pflanzen und Gesteine) im Sinne der christlichen Religion gewidmet sind. Die dem Leser dargestellten Phänomene der Natur werden im Kontext der Bibel gedeutet, wobei auf konkrete Stellen des Alten, meistens jedoch des Neuen Testaments verwiesen wird. 9 10

Vgl. Herwig Görgemanns: Der Physiologus und die Tierkunde der Griechen. In: Zbynek Kindschi Garsky/Reiner Hirsch-Luipold (Hrsg.): Christus in natura. De Gruyter: Berlin 2009, S. 17–26. Vgl. Otta Wenskus/Lorraine Daston: Art. Paradoxographoi. In: Hubert Cancik/Helmuth Schneider (Hrsg.): Der Neue Pauly (Antike): (Stand: 16.12.2020).

Tierdarstellungen im Physiologus

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Die einzelnen Kapitel des Physiologus weisen bis auf einige wenige Ausnahmen dieselbe Struktur auf: sie bestehen aus zwei Hauptteilen, die jeweils eine unterschiedliche Funktion haben. Der erste Teil des Kapitels beginnt in den meisten Fällen mit einem Zitat aus der Bibel, das mit dem thematischen Schwerpunkt des Kapitels zusammenhängt. Danach folgt eine Darlegung der Eigenart des Tieres (bzw. des mythologischen Wesens, der Pflanze oder des Steins), die einen naturkundlichen Charakter hat und meistens mit dem Satz „Der Physiologus sagte von… so“ eingeleitet wird. Während der erste Teil des Kapitels einen deutlich beschreibenden Charakter hat, wird im zweiten Teil in den meisten Fällen eine christologische, manchmal jedoch auch eine anthropologische Auslegung der beschriebenen Merkmale vorgenommen. Dabei wird oft auf relevante Bibelstellen rekurriert, wodurch eine Wechselwirkung zwischen Bibel und Natur veranschaulicht wird. Mithilfe der Bibel wird die Natur allegorisch erschlossen und für den Leser entschlüsselt. Am Ende des Kapitels findet sich meistens noch ein Satz, mit dem wiederum auf die Autorität des Naturforschers Bezug genommen wird: „Schön also hat der Physiologus von… . gesprochen“. Nun soll anhand von ausgewählten Beispielen auf unterschiedliche Deutungsmodelle von Tieren und Fabelwesen hingewiesen werden, die im Physiologus vertreten sind. Man kann sie in drei Kategorien gruppieren, je nach der Auslegungsart des beschriebenen Phänomens. Die größte Gruppe bilden Kapitel, in welchen die Tiere christologisch gedeutet werden, es gibt aber auch andere wie z.B. eschatologische und anthropologische Deutungsansätze, die einen deutlich moralisatorischen Charakter haben. Alle Physiologus-Fassungen werden mit dem Löwen-Kapitel eröffnet, was darauf hindeutet, dass diesem Tier eine besondere Stellung in der Naturwelt zugeschrieben wird. Nach Bestätigung dieser These müsste man jedoch eher in der christlichen Tradition suchen, da in den meisten antiken Texten der Löwe zwar als ein nobles, aber gleichzeitig als ein eher zahmes Tier dargestellt wird, vor welchem man sich nicht zu fürchten braucht. Aristoteles beschreibt den Löwen als ein edles Tier, das als Vorbild für die Menschen dienen sollte. Indem er das Verhalten des Tieres während der Jagd beschreibt, hebt er besonders die Tatsache hervor, dass das Tier, statt vor dem Jäger zu fliehen, sich ihm eher stolz und mutig zeigt, selber jedoch den Menschen nicht angreift.11 Ein ähnliches Bild vom Löwen entwirft Plinius in seinem Werk Naturalis historia und behauptet, dass der Löwe zu Barmherzigkeit fähig ist und die wehrlosen 11

Vgl. Aristoteles: Historia Animalium. Buch I und II. In: Ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Hrsg. v. Christof Rapp. Bd. 16: Zoologische Schriften. Aus dem Griechischen von Stephan Zierlein. De Gruyter: Berlin 2013, S. 19.

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Menschen nicht angreift.12 Die oben genannten Texte haben die antike Vorstellung vom Löwen stark geprägt. So war der Löwe in erster Linie nicht als ein wildes und gefährliches Tier wahrgenommen, sondern eher als ein zahmes Wesen, das zu hohen Gefühlen fähig war, wie etwa Erbarmen oder Dankbarkeit (wie in der Geschichte des römischen Dichters Aulus Gellius vom verletzten Löwen13). Der Autor des Physiologus wendet sich in diesem Fall deutlich der christlichen Deutungstradition dieses Tieres zu, wo der Löwe als ‚König der Tiere‘ eine wichtige Rolle spielte. Der Löwe gehört zu den Tieren, die an mehreren Stellen des Alten und Neuen Testaments erwähnt werden. Er wird jedoch nicht immer mit Gott in Verbindung gebracht, sondern auch z.B. als Symbol der Bedrohung und Lebensgefahr verwendet. Mit dem gefährlichen Löwen werden oft die gottlosen Menschen, die eine Gefahr für den Einzelnen bzw. die Gemeinschaft darstellen, verglichen: Er lauert im Verborgenen wie ein Löwe im Dickicht, er lauert, dass er den Elenden fange; er fängt ihn und zieht ihn in sein Netz.14 Du Menschenkind sprich zu ihnen: Du bist ein Land […] dessen Fürsten in seiner Mitte sind wie brüllende Löwen, wenn sie rauben; sie fressen Menschen, reißen Gut und Geld an sich und machen viele zu Witwen im Lande.15

Man findet in der Bibel auch Stellen, an welchen der Löwe direkt mit dem Teufel verglichen wird: „Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge.“16 Während das Bild des brüllenden Löwen eindeutig mit dem Bösen assoziiert wird, wird an anderen Stellen der Bibel mit Hilfe dieses Tieres ein durchaus positives Bild entworfen – ein (junger) Löwe symbolisiert nämlich Mut: Siehe, das Volk wird aufstehen wie ein junger Löwe und wird sich erheben wie ein Löwe, es wird sich nicht legen, bis es den Raub verzehrt und das Blut der Erschlagenen trinkt.17

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Vgl. Plinius der Ältere [C. Plinius Secundus]: Naturkunde. Lateinisch – deutsch. Buch VIII. Zoologie: Landtiere. Aus dem Griechischen von Roderich und Gerhard Winkler (Hrsg.). Artemis & Winkler: Düsseldorf 2007, S. 52–53. Aulus Gellius: Die Attischen Nachte. Aus dem Griechischen von Fritz Weiß (Hrsg.). Bd. 1. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Leipzig 1875, S. 294–298. Ps 10,9. In: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Deutsche Bibelgesellschaft: Stuttgart 1985. Hes 22.25. In: ebd. 1. Pert. 5.8. In: ebd. 4. Mos 23,24. In: ebd.

Tierdarstellungen im Physiologus

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Der Gottlose flieht, auch wenn niemand ihn jagt; der Gerechte aber ist furchtlos wie ein junger Löwe.18

Schließlich wird in der Bibel auch Jesus mit dem Löwen verglichen: „Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel“19. Das macht aus dem Löwen eine ambivalente Figur, deren Züge in diversen Kontexten metaphorisch umgesetzt werden. Eine ähnliche Strategie wurde im Physiologus angewendet, jedoch mit dem Unterschied, dass hier die Eigenschaften des Tieres lediglich in bonam partem ausgelegt werden. Der Autor wählt aus den alt- und neutestamentlichen Texten jene Stellen aus, die zu seinem Konzept passen und auf Parallelen zwischen dem Tier und Jesus hindeuten können. Die drei in diesem Kapitel exponierten Eigenschaften des Löwen – die Fähigkeit, seine Spuren mit dem Schwanz zu verwischen, um die Jäger in die Irre zu führen, mit offenen Augen zu schlafen und die totgeborenen Welpen am dritten Tag mit seinem Atem zu beleben – werden christologisch gedeutet. Es wird auf eine Ähnlichkeit zwischen dem auffallenden Benehmen des Tieres und der entsprechenden Episode aus dem Leben Christi hingewiesen und ausführlich erörtert, was dies zu bedeuten hat. Diese rhetorische Vorgehensweise veranschaulicht beispielsweise folgende Stelle des Kapitels, die sich auf die erste der drei oben genannten Eigenschaften des Löwen bezieht: So verbarg auch unser Erlöser, der geistliche, siegreiche Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, gesandt vom unsichtbaren Vater, seine geistlichen Spuren, nämlich sein Gottsein. Unter Engeln wurde er Engel, unter Erzengeln Erzengel, unter Thronen Thron, unter Mächten Macht, bis zu seiner Herabkunft; und er ging ein in den Schoß er heiligen Jungfrau Maria, um das verirrte Geschlecht der Menschen zu erlösen, „und das Wort ist Fleisch geworden und wohnte unter uns“, daher erkannten sie ihn nicht […].20

Nach demselben Muster werden auch die zwei weiteren Eigenschaften des Tieres in Bezug auf Jesus bzw. Gott gedeutet. Der mit offenen Augen schlafende Löwe erinnert an Jesus, dessen „Leib am Kreuz [schläft], seine Gottheit aber wacht zu Rechten Gottes des Vaters […].“21 Und die Tatsache, dass die Welpen 18 19 20 21

Spr. 28.1. In: ebd. Offb 5,5. In: ebd. Otto Schönberger (Hrsg.): Physiologus, Griechisch/Deutsch, aus dem Griechischen von Otto Schönberger. Reclam: Stuttgart 2001, S. 5. Ebd.

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des Löwen am dritten Tag nach der Geburt vom Vater zum Leben erweckt werden, wird im Kontext der Auferstehung Christi gedeutet: So hat auch unser Gott, der Allherrscher und Vater der Welt ‚ am dritten Tage seinen vor aller Schöpfung erstgeborenen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, von den Toten erweckt, auf das er das verirrte Geschlecht der Menschen erlöse.22

Die hier dargebotene Entschlüsselung der ‚wahren‘ Natur des Tieres zeugt von einer hohen rhetorischen Kompetenz des Autors. Den von ihm genannten Eigenschaften des Tieres mögen zwar die von den antiken Autoren in ihren Texten festgehaltenen Beobachtungen zugrunde liegen,23 ihre Auslegung hat jedoch einen durchaus christologischen Charakter und hat das Löwenbild in den späteren mittelalterlichen Texten wesentlich geprägt. Den Einfluss von Physiologus sieht man z.B. im Yvain des Chrétien de Troyes (im deutschsprachigen Raum dank Hartmann von Aue bekannt), wo der mit dem Drachen kämpfende Löwe eindeutig das Gute symbolisiert.24 Auch das Motiv des mit offenen Augen ‚schlafenden‘ Löwen fand Eingang in die mittelalterlichen Texte, was am Beispiel der Geschichte des heiligen Hieronymus25 zu sehen ist. Auch das Einhorn-Kapitel zeigt deutlich, wie die pagane und christliche Tradition im Physiologus zusammengefügt werden. Hier werden nämlich die antiken Motive ebenfalls im Sinne der christlichen Religion gedeutet. Das Einhorn war dem Physiologus-Autor wohl aus den vorchristlichen Überlieferungen bekannt: das Tier mit einem Horn wurde z.B.  von  Photius als ein einem einhörnigen Esel ähnelndes Tier beschrieben. Es wurde auf seine Stärke, Schnelligkeit und seine wunderbaren Eigenschaften hingewiesen, wie z.B. die Tatsache, dass die aus seinem Horn angefertigten Trinkgefäße gegen allerlei Gifte und Krankheiten schützen (sollen). Das einhörnige, pferdeähnliche Tier findet man auch bei Aristoteles, Megasthenes, Aelian und Plinius.26 Das Einhorn fand auch Eingang in die Bibel, da das in der hebräischen Fassung des Alten Testaments verwendete Wort ‚re’em‘ (= Wildstier) in der Septuaginta (der ersten Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische) als ‚monokeros‘ und in der Vulgata (der lateinischen Version der Bibel) als ‚unicornis‘ übersetzt 22 23 24 25 26

Ebd. Vgl. Friedrich Lauchert: Geschichte des Physiologus. Karl J. Trübner Verlag: Strassburg 1889, S. 4–5. Zur ausführlichen Analyse der Beziehung zwischen dem Ritter Yvain und dem Löwen vgl.: Andreas Kraß: Noble Doppelgänger. Der Löwe als Begleiter des Menschen in der Literatur. In: Klinger/Andreas Kraß (wie Anm. 1), S. 168–171. Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen von Richard Benz (Hrsg.). Lambert Schneider Verlag: Darmstadt 1984, S. 758–759. Vgl. Lauchert, S. 23–24.

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wurde.27 Im Physiologus wird das Einhorn auf eine ähnliche Art und Weise wie bei den zuvor erwähnten Autoren beschrieben: Der Physiologus sagte vom Einhorn, dass es folgende Eigenheit habe: Es ist ein kleines Tier, ähnlich einem Böcklein, ist aber sehr hitzig; ein Jäger kann sich ihm nicht nähern, weil es sehr stark ist; es hat aber ein Horn mitten auf seinem Kopf.28

Dieser Beschreibung folgt die allegorische Auslegung, laut welcher das Tier als Sinnbild des Erlösers verstanden werden soll. In der ursprünglichen, griechischen Fassung umfasst die Deutung mehrere Aspekte: Das Horn des Tieres wird mit Jesus gleichgesetzt, der metaphorisch als „Horn des Heiles“ bezeichnet wird. Die Tatsache, dass das Tier nur von einer „reine[n], schön gekleidete[n] Jungfrau“ gefangen werden kann, soll die Jungfrauengeburt Christi allegorisch veranschaulichen. Dagegen werden die Jäger, die das Einhorn erfolglos zu fangen versuchen, mit den bösen Mächten, die nach Jesus ohne Erfolg trachteten, verglichen. In den späteren Fassungen wurde diese Auslegung noch ausgebaut und um neue Eigenschaften, die alle christologisch gedeutet werden, erweitert.29 Das Einhorn wird vom Verfasser wie ein real existierendes Wesen dargestellt. Um seine Existenz zu beglaubigen, beruft er sich auf den Physiologus, von welchem die Informationen über die Beschaffenheit des Tieres stammen sollten. Die hier vorgeschlagene, durchaus kreative Interpretation des Einhorns als Symbol des Erlösers und die aus Physiologus stammende Legende von seinem Fang wurden in den darauffolgenden Jahrhunderten mehrmals literarisch und bildlich umgesetzt.30 Nicht immer ist jedoch die verwendete Argumentationsstrategie dermaßen gelungen und überzeugend, was im Folgenden am Beispiel des KäuzchenKapitels gezeigt wird. Der Autor scheint sich hier der schwachen Stellen seiner Auslegung bewusst zu sein und täuscht eine theologische Debatte vor, was ihm die Möglichkeit gibt, die zweifelnden Leser von der Richtigkeit seiner Auslegung zu überzeugen: „Doch wirst du mir entgegnen, dass das Käuzchen unrein ist nach dem Gesetz und wie kann man es dann als Sinnbild 27 28 29 30

Vgl. Jürgen Werinhard Einhorn: Spiritalis unicornis: das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters. Flink: München 1998, S. 57–59. Schönberger (wie Anm. 20), S. 39. Vgl. Christian Schröder: Der Millstätter Physiologus. Text, Übersetzung, Kommentar. Königshausen & Neumann: Würzburg 2005, S. 174–180. Vgl. Liselotte Wehrhahn-Stauch: Art. Einhorn. In: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Band  4 (1958), Sp. 1504–1544. online: http://www.rdklabor.de/wiki/Einhorn (Stand: 17.01.2021).

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des Erlösers verstehen?“31 Er bezieht sich hier deutlich auf das Gesetz über ‚reine‘ und ‚unreine‘ Tiere (3 Mose  11,17), laut welchem das Käuzchen in der Tat zu den Tieren gerechnet wird, die der Mensch verabscheuen soll. Um im folgenden Teil des Kapitels seine Frage zu beantworten und einen Zusammenhang zwischen dem Käuzchen und dem Erlöser herzustellen, bedient sich der Autor folgenden Gleichnisses: ähnlich wie das Kätzchen, das als unrein gilt, hat auch Christus die unreine und sündhafte Menschennatur angenommen, um dadurch den Menschen zu erlösen. Die Tatsache, dass das Käuzchen „Nacht mehr als den Tag [liebt]“32 wird mit Christi Liebe zu den Heiden in Verbindung gebracht. Jedoch das Bild des Erlösers, der selber sündhaft wurde, um dadurch paradoxerweise die Menschheit von der Sünde zu befreien, hatte eindeutig eine geringe Überzeugungskraft, wovon die Veränderungen in der Käuzchen-Deutung in den späteren Physiologus-Fassungen zeugen können. So wird dieses Tier in dem um 1200 verfassten, frühmittelhochdeutschen Millstätter Physiologus auf folgende Art und Weise gedeutet: „Das Käuzchen bedeutet die Juden, denn es ist ein unreiner Vogel. Es liebt die Dunkelheit mehr als das Licht.“33 Die Nachteule wird diesmal in malam partem gedeutet und nicht mehr mit Jesus in Verbindung gebracht. Sie steht allegorisch für jene, die den wahren Erlöser nicht erkannten und sich, der Nachteule ähnlich, nicht dem Licht, sondern der Finsternis zuwandten. So wie die unreinen Tiere von Menschen gemieden werden sollten, so wandte sich auch Gott von ihnen ab und „wandte sich den Heiden zu, er erleuchtete sie, die rein waren“34. Aus den oben zitierten Physiologus-Abschnitten wird ersichtlich, wie diverse Tiereigenschaften in Bezug auf Christus gedeutet werden. Das Motiv des getarnten Erlösers begleitet den Leser beinahe in jedem Kapitel. Nicht alle wurden jedoch in einem dermaßen katechetischem Ton verfasst. Manchmal steht ein moralischer Appell an den Menschen im Vordergrund, wie z.B. im Biber-Kapitel. Der Biber gehört zu den Tieren, die in der Bibel gar nicht erwähnt werden, bzw. keine wichtige Rolle in der christlichen Symbolik spielen. In dem diesem Tier gewidmeten Physiologus-Kapitel wird jedoch auf seine Eigenart hingewiesen, die sich darin manifestiert, dass sich das Tier, welches besonders gerne gejagt wird, da seine Hoden zur Herstellung der Arznei verwendet werden, im Moment der Gefahr seine Hoden abbeißt. Das Tier „wirft sie dem

31 32 33 34

Schönberger (wie Anm. 20), S. 13. Ebd. Schröder (wie Anm. 29), S. 127. Ebd.

Tierdarstellungen im Physiologus

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Jäger hin“35 und falls es erneut nach seinem Leben getrachtet wird, zeigt der Biber dem Jäger, dass er keine Hoden mehr hat, woraufhin der Jäger den so verstümmelten Biber am Leben lässt. Der Akt der Selbstverstümmelung wird dem Menschen als vorbildlich vorgeführt: Auch du also, Christenmensch, gib dem Jäger, was ihm gehört. Der Jäger ist der Teufel und sein Eigentum sind Hurerei, Ehebruch, Mord. Alles derartige reise dir aus und wirf es dem Teufel hin, und der Jäger, der Teufel, wird von dir ablassen […].36

Eine direkte Wendung an den Leser in der Du-Form verleiht dem Kapitel einen ermahnenden Charakter und eine für die Predigt charakteristische Rhetorik. Das Verhalten des Bibers symbolisiert in erster Linie eine Absage an die Sexualität, welche eindeutig als Sünde eingestuft wird. Im breiteren Kontext wird es jedoch als eine Hinwendung zur Askese und eine konsequente Absage an jene Aspekte des Lebens interpretiert, die den Menschen in irgendeiner Weise zu ‚bösen Taten‘ verleiten könnten. Das Verhalten des Tieres wird anthropologisch gedeutet und soll dem Menschen den Weg zur Erlösung zeigen. Im BiberKapitel wird hiermit auf die Weisheit des Tieres hingewiesen: die beschriebene Vorgehensweise – der Selbsterhaltungstrieb des Tieres, zeugt von seiner Vernunft und der Fähigkeit, seine Lage kritisch einzuschätzen. Der Biber ist in seinem Verhalten durchaus rational. Solche Darstellungsweise des Tieres ruft eine Assoziation mit dem antiken Philosophenstreit um die Beschaffenheit der Tiere hervor, wo es unter anderem um die Frage ging, ob Tiere über eigene Vernunft verfügen und rational denken können, weswegen sie dem Menschen als Beispiel gelten könnten. Die an dieser Auseinandersetzung beteiligten Philosophen vertraten unterschiedliche Weltanschauungen, was ihr Verhältnis zu den Tieren prägte. So sprachen die Stoiker den Tieren das Urteilsvermögen entschieden ab, da für sie Tiere keinen Verstand hatten und ihr scheinbar kluges und durchdachtes Verhalten aus ihrer, von Gott gewollten Natur resultierte und daher (als solche) nicht als Beweis ihrer Urteilskraft, sondern der göttlichen Pronoia galt. Einen ähnlichen Standpunkt vertraten die Peripatetiker, die sich auf die Lehre von Aristoteles bezogen. In ihrem Verständnis hatten die Tiere zwar eine Seele (die jedoch im Vergleich zu der menschlichen defizitär war), aber keine Denkfähigkeit. Dagegen die Pyrrhoneer – Anhänger des Skeptizismus (allen voran Sextus Empiricus) polemisierten mit der anthropozentrischen Weltsicht der Stoiker und stellten die These auf, dass es durchaus möglich ist, dass die Tiere den Menschen weder in der Vernunft noch in der 35 36

Schönberger (wie Anm. 29), S. 41. Ebd.

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Sinneswahrnehmung nachstehen.37 Was jedoch diese philosophischen Auseinandersetzungen mit Physiologus verbindet, ist die Tatsache, dass in deren Zentrum nicht das Tier und sein Verhalten stehen, sondern vielmehr die Frage danach, worauf sie verweisen: sei es Seele, Vernunft oder die göttliche Idee der Weltschöpfung. Aus den besprochenen Textpassagen geht eindeutig hervor, dass es sich im Fall von Physiologus um einen Text handelt, der nach dem Prinzip des vierfachen Schriftsinnes verfasst wurde. Während die auf der ersten Ebene des Textes präsentierte Historia (quasi naturwissenschaftliche Beschreibung des Tieres) selbst für unerfahrene, ungebildete Leser verständlich ist, erscheint die auf der zweiten Ebene vermittelte Allegoria (wie auch die auf der dritten und vierten Textebene verschlüsselten Tropologia und Anagogia) nur gebildeten, weisen Lesern als plausibel. Dies würde die Annahme rechtfertigen, dass der Autor des Physiologus ein Vorwissen und überdurchschnittliche Kenntnisse der biblischen Texte bei seinen Lesern voraussetzte. Die Analyse der einzelnen Kapitel führt zum Schluss, dass die Frage, die den Autor beschäftigt, nicht das Tier (bzw. die Pflanze, der Stein oder das mythische Wesen) als solches ist, sondern vielmehr die in seiner Eigenartigkeit verborgenen Beweise für die göttliche Pronoia. Ihre allegorische Explikation soll die bis ins kleinste Detail durchdachte Struktur der Welt und die Zweckmäßigkeit jeglicher Schöpfung bezeugen. So gesehen wundert es nicht, dass der Autor sich nicht nur der wirklich existierenden Tiere und Bestandteile der Natur bedient, sondern auch auf kaum bekannte bzw. mythologische Wesen zurückgreift, um sein Ziel zu erreichen. Nicht die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit bei der Beschreibung des gewählten Objekts ist hier in erster Linie angestrebt, sondern eine durch die alt- und neutestamentliche Lehre bekräftigte Erklärung dessen Verbindung mit dem Göttlichen.38 So ist die Bezugnahme auf solche Wesen, wie z.B. Einhorn oder Phönix rein apologetisch und nicht naturwissenschaftlich gemeint. In der älteren Forschung wurde Physiologus als „[m]ittelalterliches Lehrbuch der Zoologie“, „[m]ittelalterliches Handbuch der Zoologie“ oder sogar als „naturwissenschaftliches Buch“ bezeichnet.39 Dies ist wohl auf die falsche Annahme zurückzuführen, dass die vom Physiologus erzählten Wundergeschichten in der Wahrnehmung des mittelalterlichen Lesers eine 37 38 39

Mehr dazu vgl. Beatrice Wyss: Die Weisheit der Tiere. Konzepte paganer Philosophen zur Frage der Rationalität und Spiritualität der Tiere. In: Zbynek Kindschi Garsky/Reiner Hirsch-Luipold (Hrsg.): Christus in natura. De Gruyter: Berlin 2009, S. 27–39. Vgl. Otto Schönberger: Nachwort zum Physiologus. In: Schönberger (wie Anm.  3), S. 144–145. Vgl. Henkel (wie Anm. 6), S. 139–140.

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naturwissenschaftliche Glaubwürdigkeit besaßen. Man sollte jedoch darauf hinweisen, dass bereits bei Augustin in dessen Werk De doctrina christiana, das im Mittelalter bekanntlich eine große Wirkungskraft hatte, die Naturwissenschaft auf den rein exegetischen Gebrauch reduziert wurde, aber auch umgekehrt – um die biblischen Texte auslegen zu können, waren die Kenntnisse der Natur erforderlich. Für Augustin steht die naturwissenschaftliche Wahrheit jedoch deutlich im Hintergrund, ausschlaggebend ist für ihn, ob zwischen dem naturwissenschaftlichen Phänomen und der zu deutenden Bibelstelle similitudo besteht, d.h. eine Ähnlichkeit, die dem Naturphänomen einen gleichnishaften Charakter verleihen würde.40 Augustin unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen demonstrare und significare und begreift sie als Gegensätze. Laut seiner Auslegung kann man im Fall von PhysiologusGeschichten nicht von Texten sprechen, die etwas beweisen (im Sinne von demonstrare). Ihre Funktion besteht lediglich darin, die biblische Wahrheit als solche zu bezeichnen, zu erkennen zu geben (im Sinne von significare). Deswegen ist die Beschreibung des Tieres, die man jeweils im ersten Teil jedes Physiologus-Kapitels findet, naturwissenschaftlich irrelevant. Die PhysiologusGeschichten entfalten ihre Wirkung lediglich als Mittel der biblischen Exegese, außerhalb von diesem Kontext wurde ihre naturwissenschaftliche Glaubwürdigkeit auch im Mittelalter kritisch hinterfragt.41

Bibliographie

Klaus Aplers: Pysiologus. In: TRE. De Gruyter: Berlin/New York 1996. Aristoteles: Historia Animalium. Buch  I und II. In: Ders.: Werke in deutscher Übersetzung. Hrsg. v. Christof Rapp. Bd. 16: Zoologische Schriften. Aus dem Griechischen von Stephan Zierlein. De Gruyter: Berlin 2013. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Deutsche Bibelgesellschaft: Stuttgart 1985. Jürgen Werinhard Einhorn: Spiritalis unicornis: das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters. Flink: München 1998. Aulus Gellius: Die Attischen Nachte. Aus dem Griechischen von Fritz Weiß. Band  1. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Leipzig 1875. Herwig Görgemanns: Der Physiologus und die Tierkunde der Griechen. In: Zbynek Kindschi Garsky/Reiner Hirsch-Luipold (Hrsg.): Christus in natura. De Gruyter: Berlin 2009. 40 41

Vgl. ebd., S. 141. Vgl. ebd., S. 145–146.

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Nikolaus Henkel: Studien zum Physiologus im Mittelalter. Max Niemeyer Verlag: Tübingen 1976. Judith Klinger, Andreas Kraß: Tiere: Begleiter des Menschen in der Literatur des Mittelalters. Böhlau Verlag: Köln/Weimar/Wien 2017. Andreas Kraß: Noble Doppelgänger. Der Löwe als Begleiter des Menschen in der Literatur. In: Judith Klinger/Andreas Kraß (Hrsg.): Tiere: Begleiter des Menschen in der Literatur. Böhlau Verlag: Köln/Weimar/Wien 2017. Friedrich Lauchert: Geschichte des „Physiologus“. Karl J Trübner Verlag: Strassburg 1889. Plinius der Ältere [C.  Plinius  Secundus]: Naturkunde. Lateinisch – deutsch. Buch VIII. Zoologie: Landtiere. Aus dem Griechischen von Roderich König und Gerhard Winkler (Hrsg.). Artemis & Winkler: Düsseldorf 2007. Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen von Richard Benz (Hrsg.). Lambert Schneider Verlag: Darmstadt 1984. Francesco Sbordone (Hrsg.): Physiologus. Societa Anonima Editrice Dante Alighieri: Rom 1936. Horst Schneider: Tiere in symbolischer Deutung – „Der Physiologus“. In: Ingo Schaaf (Hrsg.): Animal Kingdom of Heaven. Antropozoological Aspects in the Late Antique World. De Gruyter: Berlin/Boston 2019. Otto Schönberger: Nachwort zum „Physiologus“. In: Otto Schönberger (Hrsg.): Physio­ logus, Griechisch/Deutsch, aus dem Griechischen von Otto Schönberger. Reclam: Stuttgart 2001. Otto Schönberger (Hrsg.): Physiologus. Griechisch/Deutsch. Reclam: Stuttgart 2001. Christian Schröder: Der Millstätter Physiologus. Text, Übersetzung, Kommentar. Königshausen & Neumann: Würzburg 2005. Liselotte Wehrhahn-Stauch: Art. Einhorn. In: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Band 4 (1958), Spalten 1504–1544. online: http://www.rdklabor.de/wiki/ Einhorn (Stand: 17.01.2021). Otta Wenskus, Lorraine Daston: Art. Paradoxographoi. In: Hubert Cancik/Helmuth Schneider (Hrsg.): Der Neue Pauly (Antike): (Stand: 16.12.2020). Beatrice Wyss: Die Weisheit der Tiere. Konzepte paganer Philosophen zur Frage der Rationalität und Spiritualität der Tiere. In: Zbynek Kindschi Garsky/Reiner HirschLuipold (Hrsg.): Christus in natura. De Gruyter: Berlin 2009.

,Animal turn‘ im 18. Jahrhundert. Georg Friedrich Meiers Abhandlung Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere Ewa Grzesiuk Abstract Die Autorin befasst sich mit einer frühen Abhandlung Georg Friedrich Meiers (1718–1777) Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere. Diese Frage war zu Meiers Zeiten keineswegs neu, aber als Meier die Metaphysik als eine Wissenschaft von den „ersten Gründen der menschlichen Erkenntnis“ und die Seele als „denckende Substanz“ definiert, erkennt er den Tieren – indem er sich zusätzlich auf die Schöpfungstheologie beruft – ihren eigenen Standort im gnoseologischen System an. Meier betont dabei, dass die menschliche Erkenntnis ihre Grenzen hat, daher bleibt die Frage nach dem Bestehen von Tierseelen eine Forschungshypothese.

Schlüsselwörter Georg Friedrich Meier, Seele der Tiere, Philosophie des 18. Jahrhunderts, Wiederbringungslehre (Apokatastasis)

In der Literatur des 18. Jahrhunderts vereinnahmen die Tiere die Gattung Fabel und Märchen, wo zum Teil der Menschen Laster durch den Kunstgriff der Theriomorphisierung kritisiert und zum Teil die Tiere durch Anthropomorphisierung dargestellt werden und denen prosopopoietisch das Wort erteilt wird. In den Robinsonaden und Abenteuerromanen werden exotische Tiere, wie etwa die Meerkatzen in Wezels Belphegor, zur Staffage des Geschehens. In der rokokohaften Liebeslyrik singt die Nachtigall ihre Weisen. In Goethes Drama huscht ein schwarzer Pudel. Überraschenderweise werden auch Biographien der Tiere verfasst.1 Die bildende Kunst verwendet sehr häufig 1 Vgl. Johann Jacob Ebert: Biographien merkwürdiger Geschöpfe aus dem Thierreiche, nebst einigen Lobreden. Andreas Seyler: Memmingen 1787 und Johann Jacob Ebert: Biographien merkwürdiger Geschöpfe aus dem Thierreiche, nebst einigen Lobreden wofür der Verfasser nicht einen Heller bekommen hat. Zweytes Bändchen. Andreas Seyler: Memmingen 1789. Diesen Hinweis verdanke ich der Abhandlung von Friederike Middelhoff: Literarische Autozoographien. Figurationen des autobiographischen Tieres im langen 19. Jahrhundert. Metzler: Stuttgart 2020.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/97838467

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Tiermotive, sei es als Sujets der Malerei, mit dem beliebten Pferde-Motiv, sei es als Sujets der Bildhauerei, mit mythischen Sphinxen oder ganz gewöhnlichen Löwen, in Stein gemeißelt, die die Residenzen bewachen. Was aber die außerliterarischen und außerkünstlerischen Bereiche angeht, dienen ausgestopfte Exemplare exotischer Tiere als Exponate in den Raritätenkammern.2 Einer der wenigen, der sich des Schicksals der Tiere philosophisch annimmt, ist Georg Friedrich Meier (1718–1777). Ein Schüler Alexander Gottlieb Baumgartens, Popularisator der von Baumgarten begründeten Ästhetik und neben Baumgarten ‚Kants Autor‘3 genannt, bestimmte er die Landschaft der vorkantischen Philosophie in Deutschland mit. Für lange Zeit aus dem philosophischen Bewusstsein des 19. und 20. Jahrhunderts als ‚Populärphilosoph‘ verdrängt, erlebt er seit ca. 40 Jahren eine Renaissance.4 Sein vielfältiges Interesse spiegelt sich in seinen zahlreichen Texten, von denen er einen der Frage gewidmet hat, ob die Tiere Seelen hätten. Diesen Text, der seinem Frühwerk angehört, veröffentlicht Meier 1749 und verleiht ihm den Titel: Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere.5 Bald folgt eine zweite Auflage (1750). Er mag aus der heutigen Perspektive als ein überraschender Text erscheinen, dem eine gewisse Vorläuferschaft der modernen Human-Animal Studies6 zugeschrieben werden kann, dennoch wird der Autor weder in dem 2 Vgl. dazu etwa Johannes Bühler: Deutsche Geschichte. Bd. 4: Das Barockzeitalter. De Gruyter: Berlin/Boston 2018. Reprint der Ausgabe 1950, S.  453–455; Christian Luz: Das exotische Tier in der europäischen Kunst. Ed. Cantz: Stuttgart/Bad Cannstatt 1987; Bettina Paust/ Laura-Mareen Janssen (Hrsg.): Das ausgestellte Tier. Lebende und tote Tiere in der Kunst. Fragen, Probleme, Perspektiven. Neofelis: Berlin 2019; Tierstudien. Animalität und Ästhetik 1 (2012) (interdisziplinäre Fachzeitschrift); Friedel Lenz: Das Tier im Märchen. Novalis-Verlag: Schaffhausen 1978; Julia Bodenburg. Tier und Mensch. Zur Disposition des Humanen und Animalischen in Literatur, Philosophie und Kultur um 2000. Rombach: Freiburg i. Br. 2012; Roland Borgards (Hrsg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler: Stuttgart 2016. 3 Vgl. Gerhard Lehmann: Kants Tugenden. Neue Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants. De Gruyter: Berlin/New York 1980, S. 271 [Nachwort, Anm. 6]. 4 Seit dem Veröffentlichungsjahr von Schenks Buch (Günter Schenk: Leben und Werk des Halleschen Aufklärers Georg Friedrich Meier. Hallescher Verl.: Halle 1994) ist eine intensivere Zuwendung zu Meiers Werk zu verzeichnen, sowohl vonseiten der Philosophie- als auch der Literaturhistoriker, vgl. dazu etwa die Meier-Bibliografie in: Frank Grunert/Gideon Stiening (Hrsg.): Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als „wahre Weltweisheit“. De Gruyter: Berlin/Boston 2015. 5 Georg Friedrich Meier: Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere. C.H. Hemmerde: Halle 1749. Im Folgenden zitiert unter der Sigle LST mit Seitenangabe. 6 Vgl. Friedrich Jaeger (Hrsg.): Menschen und Tiere. Grundlagen und Herausforderungen der Human-Animal Studies. Metzler: Stuttgart 2020.

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Konferenzband Menschen und Tiere noch in dem einige Jahre früher veröffentlichten Handbuch Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch7 erwähnt. Aus der Perspektive des 18. Jahrhunderts erweist sich Meiers Abhandlung zwar nicht als bahnbrechend, denn die von ihm aufgegriffene Problematik interessierte die Philosophen seit der Antike, worauf Meier in seinem Text auch hinweist, doch er erzielt eine Integrierung der Tiere in die Kategorie der die Welt erkennenden Schöpfung. Die Abhandlung ist schöpfungstheologisch und metaphysisch-erkenntnis‑ theoretisch8 fundiert und vor diesem Hintergrund entwickelt Meier sein „Lehrgebäude“ von der Seele der Tiere. Daraus ergeben sich zwei Grundpfeiler, die seinen Gedankengang stützen, und zwar der gemeinsame Ursprung von Mensch und Tier als Gottes Schöpfung auf der einen Seite, und die Auffassung der Seele mit ihrem fundamentalen Erkenntnisvermögen auf der anderen. Der Seelenbegriff Meiers, der in seiner Metaphysik endgültig festgelegt wird, akzentuiert das Denken als das Wesensmerkmal der Seele: Wir nennen eine iedwede denkende Substanz, die mit einem Körper in der genauesten Verbindung steht, eine Seele, wie aus dem Folgenden erhellen wird. Da wir nun zeigen werden, daß alle endliche Geister mit Körpern vereiniget sind: so verstehen wir durch die Seelen alle endliche Geister, alle menschliche Seelen, und die Seelen aller vernünftigen und unvernünftigen Thiere.9

Die erste Auflage der Metaphysik erscheint 1755 und aus diesem chronologisch gesehen späteren Text ist ersichtlich, dass das Konzept von der Seele der Tiere in das gesamte System der Metaphysik Meiers bereits integriert wurde. Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass Meier die Tiere anthropomorphisiert und ihnen ein Vermögen zuschreibt, das bisher von den Erkenntnistheoretikern lediglich dem Menschen zugeschrieben wurde. Wenn aber genauer hingesehen wird, wird dem Leser einleuchten, dass Meier, sich der 7 Roland Borgards (Hrsg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler: Stuttgart 2016. 8 Die Metaphysik definiert Meier als „die Wissenschaft, welche die ersten Gründe, oder die ersten Grundwahrheiten, der ganzen menschlichen Erkenntniß enthält. […] Die Metaphysik ist demnach als eine Quelle zu betrachten, aus welcher alle Wissenschaften, alle Künste und selbst die richtige Erkenntniß des gemeinen Lebens, als so viele Ströme, herausfliessen. Sie ist die Wurzel aller Arten der Erkenntniß, der Anfang aller Erkenntniß, und sie wird also mit Recht die Hauptwissenschaft genannt.“ Georg Friedrich Meier: Metaphysik. 1. Theil. J.J. Gebauer: Halle 1755, S. 5–6. 9 Georg Friedrich Meier: Metaphysik. Dritter Theil. Zweyte Auflage. J.J. Gebauer: Halle 1765, S. 7 „Allein die neuern Weltweisen haben erkannt, daß man am sichersten, zur Erkenntniß der endlichen Geister, auf dem Wege der Erfahrung gelange.“ S. 7–8.

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Grenzen der menschlichen Erkenntnis bewusst,10 die Ehrfurcht vor dem Menschen als ‚Krone der Schöpfung‘ ablegt und die gnoseologischen Potenzen der sonstigen Schöpfung aufwertet. Der Ausgangspunkt ist für ihn nicht die menschliche Erkenntnis, sondern die Erkenntnis sensu stricto, die mehreren denkenden Subjekten zuteilwird. Die Gründe, die Meier angetrieben haben, seiner Hypothese eine diskursive Textgestalt zu verleihen, werden in der Abhandlung an mehreren Stellen angeführt. Allen voran wird die Erkenntnispflicht eines vernünftigen Weltbeschauers und -einwohners genannt: „Ich bin ein Einwohner dieser Welt, und ich halte es für eine meiner edelsten Pflichten, das Gantze, wovon ich ein Theil zu seyn das Glück habe, auf eine demselben würdige Art zu dencken.“ (LST 3), sowie das Mitleid wegen der unangemessenen Behandlung von Tieren, die doch ein nicht wegzudenkender Teil der gesamten Schöpfung sind: „[M] ein Gemüth wird iederzeit von einem freundschaftlichen Mitleiden gerührt, wenn ich gewahr werde, daß die meisten meiner Mitbürger der Welt, sich so erstaunlich kleine und unanständige Begriffe, von dem gantzen Umfange der Schöpfung, machen.“ (LST 3–4) Ein weiterer Grund, weswegen sich Meier der Seelen-Frage zuwendet, ist die Hoffnung, die Einstellung der Menschen zu diesem vernachlässigten Teil der Schöpfung verändern zu können: „Vielleicht bin ich so glücklich, daß ich die Seelen der Thiere aus einer unverdienten und durch blosse Vorurtheile unterstützten Verachtung herausreisse.“ (LST 19) Meier ermahnt die Menschen, es bestehe kein Grund dafür, dass diese sich für den privilegierten Teil der Schöpfung ansehen, denn sie seien eine der vielen Arten der „denckenden Wesen“ (LST 17) und ihre Überzeugung, sie wären die Krone der Schöpfung, habe keine Berechtigung: „Ein Mensch muß bey diesen Untersuchungen alle seine Vorurtheile ablegen, und sich ja in acht nehmen, daß er sich selbst nicht zum Maaßstabe und Beurtheilungsgrunde der übrigen 10

Meier erinnert die Philosophen daran, dass „sie […] nicht allwissend [sind]“ und konstatiert: „und folglich sind sie in unendlich vielen Dingen unwissend. Die Unwissenheit sollte uns antreiben, neutrale Zweifler zu bleiben. Allein, die Mode will es haben, man muß entscheidend reden.“ (LST 27) Meier (genauso wie sein Lehrer Baumgarten) entwirft seine Metaphysik und zwangsläufig seine Gnoseologie auf dem Axiom des metaphysischen Übels, das die fundamentale Unvollkommenheit der Schöpfung und in der Konsequenz die des menschlichen Erkenntnisapparates voraussetzt. Zum Konzept des metaphysischen Übels bei Baumgarten vgl. Ewa Grzesiuk: Das Faszinosum Mensch. Das Interesse am Menschen im Nexus von Philosophie, Ästhetik und Literatur in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Wyd. KUL: Lublin 2013. Vgl. dazu auch: Paola Rumore: Meiers Theorie der Unsterblichkeit der Seele. In: Frank Grunert/Gideon Stiening (Hrsg.): Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als „wahre Weltweisheit“. De Gruyter: Berlin/ Boston 2015, S.  163–186, hier S.  174: Die Autorin attestiert Meier eine „Neubetrachtung der Grenzen und Möglichkeiten der Vernunft“, allerdings ohne das Axiom des metaphysischen Übels zu erwähnen.

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denckenden Wesen mache. Dieser Hochmuth ist lächerlich und ungereimt.“ (LST 17) An diesen Hochmut des Menschen, „der aus der Eigenliebe entsteht, daß die Menschen ohne gründliche und genaue Untersuchung der Seelen der Thiere, sich so weit über dieselben hinaus setzen“ (LST 94), erinnert Meier an mehreren Stellen dieses Textes (LTS 32, 80, 93, 94) und er scheint die Kritik Montaignes an der menschlichen Hybris fortzusetzen.11 Indem er auf einige Beispiele, die der allgemeinen Erfahrung entstammen, zurückgreift, versucht er zu beweisen, dass der Mensch tatsächlich keinen Grund dazu hat, sich über die Tiere zu erheben, denn „[w]ir haben Mitbrüder und Mitschwestern, die man warlich nicht für Menschen halten würde, wenn sie keine menschliche Gestalt hätten.“ (LST 33) Weil die Menschen dennoch gnoseologischen Vorrang vor den Tieren haben („Die Natur theilt ihre Gaben proportionirt aus. Sie hat den Menschen viele Vorzüge vor den Thieren gegeben“ LST 32), erinnert Meier seine Leser daran, dass für sie die Pflicht bestehe, nicht nur „die Grösse und Vortrefflichkeit der Körperwelt und ihrer Theile“, sondern auch „die Grösse und Vollkommenheit der denckenden Wesen“ kennenzulernen (LST  17), der jeder „würdige[] Bürger dieser Welt“ (LST  17) nachgehen soll. Davon, dass Tiere zu dem Teil der denkenden Wesen gehören, wird der Leser durch Meiers Argumentation überzeugt. Aber darauf, dass sein Konzept lediglich eine Hypothese sein kann, verweist er bereits in seinen einleitenden Überlegungen: Während die Körper der Tiere dem forschenden Auge des Menschen relativ gut zugänglich sind, entziehen sich die Seelen der Tiere der Menschenkenntnis, denn wir können „ihre Seelen nicht so genau kennen lernen, als ihre Körper“ (LST 18). Dies ist allerdings kein zureichender Grund, die Erkenntnismühe ganz aufzugeben und diesem Gedanken hängt Meier eine Art Loblied an, das dem Schöpfer und dessen Schöpfung gilt: Die Körperwelt ist eine aufs prächtigste ausgezierte Schaubühne. Und die Seelen der Thiere gehören auch mit zu den Beschauern und Acteurs dieser Bühne. Ein vernünftiger Zuschauer dieser Welt, dergleichen die Menschen seyn müssen, ist also verbunden, um sich einen würdigen Begrif von dem Gantzen zu machen, auch einen forschenden Blick ohne Verachtung auf die Seelen der Thiere zu werfen. Die Seelen der Thiere übertreffen, an Menge und Mannigfaltigkeit, die Seelen der Menschen. Sollte der weise Vater der Welt ein solches unzählbares Volck denckender Wesen, ohne grosse und ihm anständige Absichten, geschaffen haben? (LST 18)

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Vgl. dazu: Hans-Peter Nowitzky: Von den Seelen der Tiere und ihren Sprachen. Johann Jakob Plitts Auseinandersetzung mit Georg Friedrich Meiers „Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere“. In: Frank Grunert/Gideon Stiening (Hrsg.): Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als „wahre Weltweisheit“. De Gruyter: Berlin/Boston 2015, S. 337–376, hier S. 343–345.

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Weil das Wesen der Schöpfung in deren gnoseologischen Prädikaten besteht, allen voran die Vorstellungskraft und das Denken, breitet Meier seine Auffassung vom Telos und Zweck des Erschaffenen aus, wobei das Konzept, die Welt wäre ausschließlich um des Menschen willen erschaffen,12 revidiert wird: Einer von den größten Nutzen und Absichten der Welt besteht darin, daß sie gedacht werde. Hätte GOtt keine denckende[!] Wesen erschaffen: so würde die gantze Welt keinen erheblichen Nutzen gehabt haben. GOtt hat keinen Vortheil von der Welt; und er hat sich dieselbe eben so gut vorgestellt, da sie nichts war, als jtzo da sie etwas ist. Seine Einsichten sind, durch die Würcklichkeit der Welt, nicht vermehrt und verbessert worden. Folglich müssen, in dieser Welt, denckende Creaturen vorhanden seyn. Man nehme dieselben aus der Welt weg: so verliehrt die Welt tausend Schönheiten. (LTS 40)

Es müsse deswegen Empfänger geben, die die Schönheit der Welt sinnlich erschließen und diese gedanklich rezipieren können: Die gantze Schönheit der Welt, die Pracht der Farben, die Lieblichkeit der Töne, das reitzende des Geschmacks, des Geruchs und des Gefühls können, ohne Gedancken nicht statt finden. Umsonst würden sich die Wiesen beblümen; umsonst würde der melodiereiche Gesang der Nachtigall durch die Thäler schallen; umsonst würden die Wälder einen Ambradunst aushauchen; umsonst würde die gantze Natur wachsen, blühen, und auf tausenderley Art verändert werden; wenn keine denckende Wesen vorhanden wären, welche die Welt als Spiegel vorstellen, und die Vollkommenheit der Welt genössen. (LST 40–41)

Der Empfängerkreis beschränkt sich allerdings nicht ausschließlich auf die Menschen, die nicht imstande sind, die Pracht der Natur im ihrem ganzen Ausmaße zu erkennen: Nun ist offenbar, daß die Menschen, nicht alles schöne des Erdbodens, dencken und geniessen können. Es giebt hundert Blumen, deren honigreichen Saft der Mensch nicht einmal kennt; den aber die fleißige Biene einsamlet. Der Ueberfluß der Güter der Natur ist, für die Menschen, zu groß. Der Mensch kann nicht alles geniessen. Soll das überflüßige in Absicht auf die Menschen gantz ungebraucht bleiben? Zu dieser Verschwendung ist die weise Natur zu sparsam. Da nun die Körper der Thiere so geschicklich eingerichtet sind, daß durch sie, als durch Canäle, die Süßigkeiten der Natur in denckende Wesen strömen können: so ist 12

Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge. Die dritte Auflage. Rengerische Buchhandlung: Franckfurt/Leipzig 1737, § 242, S. 492: „Alles, was auf dem Erdboden ist, gereichet dem Menschen zu vielfältigem Nutzen, ja was er nur von himmlischen Cörpern von weitem erblicket, kan er zu einigem Nutzen anwenden, wie aus der gantzen Abhandlung gegenwärtiger Schrifft erhellet. Und in so weit kan man sagen, daß alles um der Menschen willen ist.“.

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kein Zweifel, daß in den Körpern der Thiere Seelen wohnen, welche die Welt dencken und geniessen. (LST 41)

Bevor Meier seine Argumentation entwickelt, polemisiert er gegen Descartes’ Auffassung, die Tiere wären Maschinen und daher „seelenlos“. Am Anfang der Polemik betont Meier, dass Descartes seine Meinung „nicht für gantz gewiß ausgiebt“ und „nur für wahrscheinlich“ (LST  26) gehalten habe und erklärt dessen Standpunkt, indem die Prämissen des französischen Philosophen referiert und kommentiert werden: Weil das Denkvermögen ein Akzidenz der Seele ist und sich das Vorhandensein dieses Vermögens bei Tieren weder beweisen noch nicht beweisen lässt, habe Descartes angenommen, dass die Tiere als pure Materie nicht denken können. Darüber hinaus bestehe das Problem von Descartes darin, dass man „zu seinen Zeiten […] alle unkörperliche[!] Wesen für Geister“ (LST  26) gehalten habe und selbst wenn einige Philosophen den Tieren Seelen zugesprochen hätten, doch „man konnte sich nicht überwinden zu sagen, daß diese Seelen Geister wären; folglich muste man sie für körperlich halten. Cartesius setzte dieses voraus; und da er nun überzeugt war, daß keine Materie dencken könne: so muste ers freylich für eine ausgemachte Sache halten, daß man das Dencken der Thiere nicht beweisen könne.“ (LST 26–27). Die „Weltweisen“ seiner Zeit – so Meier – würden über einen differenzierteren Geist-Begriff verfügen: „Man weiß, daß eine Substanz noch nicht ein Geist ist, wenn sie gleich unkörperlich ist und dencken kann; denn das Wesen eines Geistes erfodert Verstand, Vernunft und Freyheit“ (LST  27). Diese Frage wird Meier noch einmal an einer späteren Stelle aufgreifen. (LST 50) Sein Plädoyer für die Seele der Tiere entwickelt Meier im Rekurs auf drei metaphysische Teildisziplinen: Ontologie, Psychologie und Erkenntnistheorie, die alle durch den Kausalnexus miteinander verbunden sind. Der auf ontologische Prämissen zurückgreifende Gedankengang erklärt die Fundamentalia, und zwar den Seelenbegriff und dessen Akzidentien, worauf der jeweilige weitere Duktus der Argumentation rekurriert. Meier definiert die Seele als einfache Substanz,13 was bestimmte ontologische und gnoseologische Konsequenzen nach sich zieht. Er überprüft 13

Georg Friedrich Meier: Beweis, daß keine Materie dencken könne. Zweyte vermehrte Auflage. Carl Hermann Hemmerde: Halle i. Magd. 1751, S. 91: „Alle Substanzen sind einfache Dinge. Folglich sind alle denckende Dinge einfach. Ein Ding, welches nicht einfach ist und nicht vor sich besteht, kan nicht dencken.“ Georg Friedrich Meier: Gedancken von dem Einfluße der göttlichen Vorsehung in die freyen Handlungen der Menschen. Carl Hermann Hemmerde: Halle i. Magd. 1763, S. 24: „Nun hat die Seele, als eine unkörperliche und einfache Substanz, nur eine eintzige thätige geschäftige und substantielle Kraft.

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das, was er für die Seele der Tiere hält, auf das Vorhandensein der die Seele konstituierenden Akzidentien:  1) die Einfachheit der Substanz induziert ihre Immaterialität (die Seelen der Tiere seien „einfache und unkörperliche Wesen“, und deswegen „unverweslich“ SLT 50), 2) ihre Verbindung mit einem Körper („Die Seelen der Thiere stehn mit ihren Körpern in der allergenauesten Uebereinstimmung, und ein Harmonist erklärt auch diese Vereinigung, durch die vorherbestimmte Uebereinstimmung“, SLT  50) und vor allem 3) die ihr innewohnende Kraft, sich die Welt vorzustellen („Hat man einmal überzeugend erkannt, daß die Thiere Seelen haben, welche in Vermögen zu dencken besitzen; hat man einmal zugestanden, daß diese Seelen eine Kraft haben, sich die Welt nach der Lage ihrers Körpers vorzustellen §.20.“ SLT 44). Die Fähigkeit zu denken („da sie [die Tierseelen] denken können, so sind sie keine Materie“14), ist eine Prämisse, von der man auf eine weitere Akzidenz der Seele schließen kann, und zwar auf deren Handlungsfähigkeit15, die in dem Vermögen gründet, ihre potentiellen Handlungen entweder nach Begehrung zu vollziehen oder wegen der Abscheu zu unterlassen: „Und ich muß nicht vergessen, daß sie [Tiere] ein Vermögen haben, nach Belieben etwas zu begehren oder zu verabscheuen, oder ein Willkühr.“ (SLT 40) Meier untermauert seine Annahme mit einem Argument, das er der allgemeinen Erfahrung entnimmt, und betont den Beitrag der Tiere zur Gestaltung der Erde: „Der gantze Erdboden ändert alle Jahrhunderte beynahe seine Gestalt. Wälder werden in fruchtbare Aecker verwandelt. Die Ströme ändern ihren Lauf. Gantze Gegenden verwildern. Und alles geschieht, durch die willkührlichen Handlungen der Thiere.“ (SLT  43) Von der Willkür der Handlungen der Tiere, die „mit den Menschen, die Arbeitsleute sind, welche

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Durch diese Kraft würckt sie alle ihre Vorstellungen, Begierden und Verabscheuungen, in so weit sie dieselben selbst hervorbringt. […] Eben die Kraft der Seele durch welche die Empfindungen gewürckt werden, würckt auch die vernünftigen Ueberlegungen bei den freyen Handlungen.“ Auch: Meier: Metaphysik, Dritter Theil, S. 23: „So viel wissen wir nun aus der Erfahrung, daß die Seele eine denkende Substanz sey. Folglich ist sie eine solche Kraft, oder sie besitzt eine solche Kraft, welche zum Denken aufgelegt ist, welche geschickt ist, Gedanken zu würken. Alle Gedanken sind Vorstellungen. Die Kraft der Seele ist demnach eine solche Kraft, welche geschickt ist, Vorstellungen zu würken.“ Was Meier dabei leistet, sei eine „Widerlegung der Hypothese der denkenden Materie“, die etwa Descartes vertrat. Vgl. Rumore (wie Anm. 10), S. 171. Vgl. dazu: Andree Hahmann: Georg Friedrich Meier über Substanz und Akzidenz. In: Frank Grunert/Gideon Stiening (Hrsg.): Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als „wahre Weltweisheit“. De Gruyter: Berlin/Boston 2015, S. 83–97, hier S. 90. Hahmann verweist auf die Tatsache, dass Meier hier auf Leibniz’ Neubestimmung der Substanz zurückgreift, die im Gegensatz zu der Aristotelischen, um die Komponente „Être capable d’action“ bereichert wurde. Hahmann, S. 84, Anm. 6.

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beständig an dem Gebäude der Welt mit zusammengesetzten Kräften arbeiten, und immer weiter fortführen“, schließt er darauf, dass „in allen Thieren ein Wesen [sei], welches begehren und verabscheuen kann; folglich eine Seele.“ (SLT 43) Die auch bei den Menschen heikle Frage nach dem Verhältnis von Körper und Seele16 entscheidet Meier nach dem harmonistischen Modell, das auf das Leibniz’sche Konzept der prästabilierten Harmonie zurückzuführen ist: „Die Seelen der Thiere stehn mit ihren Körpern in der allergenauesten Uebereinstimmung, und ein Harmonist erklärt auch diese Vereinigung, durch die vorherbestimmte Uebereinstimmung. Da sie nun dencken können: so sind sie keine Materie; folglich sind die Seelen der Thiere einfache und unkörperliche Wesen.“ (LST 50) Aus der ontologischen Bestimmung der Seele als einer einfachen Substanz ergibt sich eine brisante theologische Frage, was geschehe mit den Seelen der Tiere nach deren Tod. Wenn „die Seelen der Thiere einfache und unkörperliche Wesen“ seien, seien sie unverweslich17. „Stirbt ein Thier: so bleibt seine Seele übrig, und lebt in Ewigkeit, sie müste denn GOtt vernichtet werden, welches aber durch keinen eintzigen Grund wahrscheinlich gemacht werden kann. Warum sollte der weiseste GOtt, so viele Millionen denckender 16

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Unter den psychophysischen Modellen, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Frage nach dem Verhältnis von Seele und Körper zu lösen versuchten, sind etwa zu nennen: der Okkasionalismus in der Nachfolge Malebranches (Vgl. Rainer Specht: Art. Occasionalismus. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Schwabe: Darmstadt/Basel 1971–2007. Bd.  6 (1984), Sp. 1090–1091, die prästabilierte Harmonie Leibnizens (Vgl. Yvon Belaval: Art. Harmonie, prästabilierte. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Schwabe: Darmstadt/Basel 1971–2007. Bd.  3 (1974), Sp. 1001–1003), Influxus animae sowie der Influxus physicus (etwa Gottsched und die sog. „Philosophischen Ärzte“). Vgl. dazu: Art. Natürlicher Einfluß. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. 68 Bde. Johann Heinrich Zedler: Halle/Leipzig 1732–1754. Bd. 23 (1740), S. 980; Rainer Specht: Art. Influxus physicus. Influxionismus. In: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Schwabe: Darmstadt/ Basel 1971–2007. Bd. 4 (1976), Sp. 354–356; Katrin Löffler: Anthropologische Konzeptionen in der Literatur der Aufklärung. Autoren in Leipzig 1730–1760. Leipziger Universitätsverlag: Leipzig 2005, S.  177–185. Meier tritt in die Fußstapfen von Leibniz und Wolff. Vgl. Falk Wunderlich: Verteidigung der prästabilierten Harmonie. In: Frank Grunert/Gideon Stiening (Hrsg.): Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als „wahre Weltweisheit“. De Gruyter: Berlin/Boston 2015, S. 113–122, bes. S. 115–116. Zur Dichotomie von Verweslichkeit und Unsterblichkeit vgl. den Artikel von Paola Rumore: Meiers Theorie der Unsterblichkeit der Seele, S. 163–186, bes. S. 175. Während die antiken Philosophen, und auch Descartes, Verweslichkeit und Unsterblichkeit gleichsetzten, unternimmt Meier eine Differenzierung, die ihn menschliche und tierische Seelen unterscheiden lässt.

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Wesen, in Nichts verwandeln? Die Seelen der Thiere sind also zu einem Leben ohne Ende bestimmt.“ (LST 50) Die Liebe Gottes zu seiner Schöpfung scheint die einzige Kraft zu sein, dank deren die Seelen der Tiere erhalten bleiben. Eine frappante Lösung findet Meier allerdings, wenn erklärt werden muss, was denn mit diesen Seelen nach dem Tod der Tiere geschehe: Sie werden, nach Verlassung ihres gegenwärtigen Körpers, vermöge der Leibnitzianischen Grundsätze18, mit neuen Körpern vereiniget, und in diesem neuen Zustande entweder vollkommener und glücklicher als in diesem Leben, oder unvollkommener und elender werden (LST 50).

Meier greift nicht nur auf zwei Leibniz’sche Prinzipien evident zurück, sondern auch auf dessen Entwurf einer sozusagen göttlichen Ökonomie, die bei dem Tod eines Wesens besonders wirksam ist. Martin Hense charakterisiert die Leibniz’sche Auffassung der Ordnungsprozesse in der Natur folgendermaßen: Für Leibniz ist jeder vermeintliche Tod […] nur eine Frage der Perspektive: So wir das Mikroskop ihm die mögliche Verschärfung des optischen Erfassungsvermögens aufzeigt und deutlich macht, ‚daß es in dem kleinsten Teil der Materie eine Welt von Geschöpfen, von Lebendigem, von Tieren, Entelechien, Seelen gibt‘, so vergrößert sich für ihn im Tode ebenfalls nur der Grad der Auflösung, des Austauschs und des Zusammenhangs der Dinge untereinander. Kein Element der Welt und kein Repräsentations- und Regulationszusammenhang kann demnach verloren gehen, sondern diese bleiben als transformierte Bestandteile von kleineren und größeren Systemen immer erhalten und leben in ihnen fort. Im Hinblick auf diesen Übergang zu einem Bestandteil anderer Systeme und Zusammenhänge findet nach dem Tod zwangsläufig auch der ‚Übergang einer Seele in den Körper einer anderen Art‘ statt.19

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In seiner Monadologie definiert Leibniz die beiden obersten Prinzipien des Denkens und Seins wie folgt: „Unsre Vernunfterkenntnis beruht auf zwei großen Prinzipien: erstens auf dem des Widerspruches, kraft dessen wir alles als falsch bezeichnen, was einen Widerspruch einschließt, und als wahr alles das, was dem Falschem kontradiktorisch entgegengesetzt ist. Zweitens auf dem des zureichenden Grundes, kraft dessen wir annehmen, daß keine Tatsache wahr und existierend, keine Aussage richtig sein kann, ohne daß ein zureichender Grund vorliegt, weshalb es so und nicht anders ist, wenngleich diese Gründe in den meisten Fällen uns nicht bekannt sein mögen.“ Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Monadologie. In: Ders.: Ernst Cassirer (Hrsg.): Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Bd. 2., 3. Auflage. Meiner: Hamburg 1966, S. 435–456, hier S. 443. Martin Hense: „Jede Monade von Wahrheit wandert aus einem ungestalteten Körper von Meinungen in den andern“ – Monadologische Natur- und Kulturphilosophien um 1800. In: Wenchao Li/Monika Meier (Hrsg.): Leibniz in Philosophie und Literatur um 1800. Olms: Hildesheim/Zürich 2016, S. 131–144, hier S. 136. Das Zitat im Zitat: Leibniz: Monadologie, S. 29.

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Leibniz scheint hier eine Art ‚Substanzerhaltungsgesetz‘ entwickelt zu haben, das Meier erlaubt, in dessen Nachfolge eine „vernünftige Metempsychose“ zu entwickeln, zumal es ihm die Auffassung der Seele als einer dynamischen, handelnden Substanz ermöglicht. Außer Meier scheint der Gedanke der Seelenwanderung mehrere Anhänger gefunden zu haben, wofür der Aufsatz Martin Mulsows ein Beleg ist.20 Auf die Konsequenzen einer solchen Auffassung von dem Zustand der Seelen nach dem Tode wird an einer anderen Stelle zurückgegriffen, nachdem der psychologische und der gnoseologische Diskurs besprochen worden sind. Meier wählt einen schwierigeren Weg bei der Beschreitung des psychologischen Diskurses, obwohl er sich dessen bewusst ist, dass man im Prinzip die übliche Psychologie der Metaphysik entnehmen und die Paragraphen weglassen könnte, die den oberen Seelenkräften des Menschen gelten (vgl. LST 44f.). Er bemüht sich dagegen, „einen gantz kurtzen Grundriß zu seiner  … Psychologie der Thiere“ zu entwerfen und beginnt mit den sinnlichen Empfindungen: dem Geschmack-, Gehör-, Gesichts- Geruchsinn sowie dem Schmerzempfinden. Mit diesen verbindet sich das Vermögen, Ähnlichkeiten (Witz, LST 45) und Unterschiede (Scharfsinn, LST 46) wahrzunehmen. Hunde, aber auch Kühe, haben nach seiner Auffassung ein gutes Gedächtnis (LST  44). Meier, selbst ein Hundebesitzer, konnte einige Erfahrungen sammeln, die er nun seinem Publikum mitteilt, und attestiert den Hunden das „Dichtungsvermögen“ aufgrund der Fähigkeit, im Traum Bilder zu sehen oder schmerzhafte Empfindungen zu haben, die sich durchs Winseln manifestieren (LST 46). Darüber hinaus empfinden Tiere „Vergnügen und Verdruß, folglich stellen sie sich gutes und böses; schönes und häßliches vor und haben also eine Beurtheilungskraft“ (LST 46). Auch hier dient Meier sein eigener Hund als Beispiel, dass Hunde sich daran erinnern können, was sie falsch gemacht haben und deswegen bestraft wurden. Damit verbindet sich ein weiteres Vermögen „etwas vorherzusehen, und zu vermuthen“ (LST  46), wonach sich die Tiere an die bestehende Situation anpassen und ihr Verhalten danach ausrichten können. Per analogiam kommt Meier auch zu dem Schluss, dass Tiere „ein Vermögen 20

Martin Mulsow: Vernünftige Metempsychosis. Über Monadenlehre, Esoterik und geheime Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert. In: Monika Neugebauer-Wölk (Hrsg.): Aufklärung und Esoterik. Akten der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts. Meiner: Hamburg 1999, S. 211–273. Vgl. dazu auch: HansPeter Nowitzky: Von den Seelen der Tiere und ihren Sprachen. Johann Jakob Plitts Auseinandersetzung mit Georg Friedrich Meiers Versuch eines Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere. In: Frank Grunert/ Gideon Stiening (Hrsg.): Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als „wahre Weltweisheit“. De Gruyter: Berlin/Boston 2015, S.  337–376, hier S. 352.

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besitzen, ihre Gedancken zu bezeichnen“ (LST  46). Das „Bezeichnungsvermögen“ manifestiert sich in einer breiten Palette ihrer Reaktionen: „Die Abwechselung der Stimme, ihre Geberden, ihre Minen, alles ist ein Mittel, wodurch sie ihre Gedancken ausdrucken, und sie sind die geschicktesten Pantomimen.“ (LST 46–47). Während der Mensch über die obere und untere Erkenntniskraft verfügt, besitzen Tiere die untere Erkenntnis- und Begehrungskraft. Das sinnliche Pendant des menschlichen Willens ist den Tieren eigen und es befähigt sie, ihr Leben danach auszurichten. Tiere verfügen über „die natürlichen Triebe, der Erhaltung ihres Lebens, der Fortpflantzung ihres Geschlechts […] Es hungert sie, und sie dürsten. Sie sind den gewaltigsten Leidenschaften unterworfen.“ (LST 48) Unter den Leidenschaften ist – wie bei den Menschen21 – die Liebe die stärkste und sich am evidentesten manifestierende Emotion: „Die Liebe ist eine allgemeine Leidenschaft aller Thiere. Die Alten lieben ihre Jungen; und es giebt unter den Vögeln eben so wohl verliebte Seelen, und Jungfernknechte als unter den Menschen. Die Hunde lieben ihre Herren so sehr, daß man diese ihre Liebe beynahe für eine Tugend halten solte.“ (LST  48) Das Vorhandensein sinnlicher Empfindungen und Emotionen, die der „niederen Seele“ zugehören, dient Meier als ein weiteres Argument, den Tieren Seelen zuzusprechen. Der gnoseologischen Argumentation, die der Frage gilt, über welche Art Verstand und Vernunft die Tiere verfügen, stellt Meier die Reflexion voran, sie sei „eine von den allerverworrensten“ (LST 64). Während es zwei Gruppen von Forschern gebe, die differente Antworten geben (die eine bejaht, die andere verneint diese Frage), ist Meiers Antwort entschieden bejahend, wobei er betont, dass diese Auseinandersetzung um die welterkennenden Potenzen der Tierseelen ausschließlich akademischer Natur sei, denn einige Forscher, Rorarius etwa, „keinen bestimmten Begrif von der Vernunft festgesetzt“ (LST 64) haben. Daher bedarf es einer differenzierten Begriffsbestimmung (LST  65). Von der Vorstellungskraft als einer Grundkraft der Seele ausgehend, definiert er zweierlei Erkenntnisvermögen: das untere sinnliche, das für dunkle und klare, aber verworrene Vorstellungen, und das obere, das für deutliche Vorstellungen zuständig ist. Im Falle des Verstandes weigert er sich, ihn mit dem bloßen Denkvermögen gleichzusetzen („das Vermögen der Erkenntniß und das Vermögen zu dencken 21

Das Fundament der Meier’schen Ethik ist die „allgemeine Menschenliebe“. Vgl. Ewa Grzesiuk: Georg Friedrich Meier und das Paradigma der Menschenliebe im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur historischen Emotionsforschung. In: Anna Rutka/Magdalena Szulc-Brzozowska (Hrsg.): Werte und Paradigmen zwischen Wandel und Kontinuität. Literatur- und sprachwissenschaftliche Perspektiven. V&R unipress: Göttingen 2019, S. 41–62.

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[sei] noch kein Verstand“ LST  69), denn ihn bestimmt Meier als die Quelle der Deutlichkeit der Vorstellungen (LST 70) und setzt voraus, dass es mehrere Grade des Verstandes gibt, und zwar insgesamt vier, von denen zwei unterste Grade den Tieren zukommen. Der erste Grad gilt der Deutlichmachung eines „gantze[n] Feld[es] der Vorstellungen“ (LST 70), also der Entstehung von vielen klaren Vorstellungen; fügt sich ein weiteres Feld hinzu, das auch deutliche Vorstellungen induziert, entsteht der zweite Grad des Verstandes, der auch für die Bildung von Begriffen (abstrakte Begriffe ausgenommen) zuständig ist. Den dritten Grad macht das Vermögen aus, abstrakte Begriffe zu bilden, während der vierte im Urteilsvermögen besteht. Daher kritisiert Meier all diejenigen Forscher, die den Tieren, und den Hunden insbesondere, den ersten Grad des Verstandes (LST  78–79) absprechen, während die Erfahrung genug Beispiele liefert, dass Tiere manchmal beim Gebrauch dieses ersten Grades die Menschen übertreffen. Was den Gebrauch des ersten und zweiten Grades des Verstandes angeht (LST 83–84), verringert sich dann die Gruppe der Tiere, die über dieses Vermögen verfügen. Danach geht Meier zur Erläuterung der Vernunft über, die als ein evident logisches Vermögen definiert wird: „Die Vernunft ist das Vermögen den Zusammenhang der Dinge deutlich zu erkennen; sie ist also nichts anders als der Verstand §32. wenn derselbe den Zusammenhang der Dinge vorstellt.“ (LST  73) Meier unterscheidet zwei Grade der Vernunft: „Der erste Grad ist das Vermögen, den Zusammenhang eintzelner Dinge (individua) deutlich zu erkennen. […] Der zweyte Grad ist das Vermögen, den Zusammenhang allgemeiner Sätze deutlich einzusehen, oder mit einem Worte, Schlüsse nach der Vernunftlehre zu machen“ (LST 74) und führt zwei konkrete Beispiele an, die belegen, dass auch Tiere über vernunftaffine Vermögen verfügen. Das eine Beispiel ist eine Kuh („Die Kühe sind nicht eben in einem besondern Rufe, was die Vernunft betrift; unterdessen nehmen sie doch Handlungen vor, wodurch sie ihre Vernunft allen unpartheyischen Leuten beweisen“ LST 81), die es gelernt hat, ein Schloss zu öffnen, das ihr den Zugang zu besserem Futter versperrt hat und das andere Beispiel ist die Geschichte eines Hundes, der während des polnischen Krieges seinen adeligen Herrn nach Polen begleitete und, nachdem sein Herr gefallen war, wieder nach Sachsen zurückkehrte (LST 83). Was die gnoseologischen Vermögen angeht, werden einigen Tieren zwei untere Grade des Verstandes und ein unterster Grad der Vernunft zugeschrieben (LST 83–84). Die höheren Grade, wie abstraktes Denken und höhere Einsicht in logische Zusammenhänge bleiben nach wie vor dem Menschen vorbehalten, dessen denkende Substanz im Unterschied zu der denkenden Substanz der Tiere als „Geist“ qualifiziert wird, denn „man weiß, daß eine Substanz noch nicht ein Geist ist, wenn sie gleich unkörperlich ist und dencken kann; denn das

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Wesen eines Geistes erfodert Verstand, Vernunft und Freyheit“ (LST 27), wobei an einer anderen Stelle präzisiert wird, das es sich dabei um alle Grade des Verstandes und der Vernunft handele (vgl. LST 109). Daher sind die Tierseelen im Vergleich mit den Seelen der Menschen, die ihre Handlungen frei vornehmen, defizitär, zumal nicht allen Tieren die erforderlichen Grade des Verstandes und der Vernunft zukommen. Diese Tatsache veranlasst Meier, eine Klassifikation vorzunehmen, und zwar in die Kategorie der vernünftigen und unvernünftigen Tiere. Die letztere wird wieder in drei Klassen unterteilt: die unterste bilden Tiere, lauter körperliche Wesen, die keinen Gebrauch vom ersten Grad des Verstandes machen, die zweite Klasse besitzt den ersten Grad des Verstandes und die dritte besitzt den dritten Grad des Verstandes, so dass sie imstande ist, „viele deutliche eintzelne Begriffe“ (LST 109) zu bilden, sowie den ersten Grad der Vernunft. Die Angehörigen der dritten Klasse stehen in der Hierarchie der Wesen den Geistern am nächsten („Diese Thiere stehen zunächst unter den Geistern, und haben die nächste Anwartschaft in die Geisterwelt versetzt zu werden“ LST  109). Weil hier der Perfektibilitätsgedanke22 mitschwingt – ein wesentliches Prinzip der Leibniz’schen Monadologie und dessen anderer Texte – wäre es nun an der Zeit, an das vorhin angedeutete Problem anzuknüpfen, was mit den Seelen der Tiere nach ihrem Tod geschehe. Den Tierseelen wird zwar in Meiers Text ein Vervollkommnungspotential zugesprochen, aber die Vervollkommnung kann ausschließlich um den Preis des Todes geschehen, denn er ist die Garantie für die Möglichkeit, in die höhere Klasse aufzusteigen (LST  113). Und Meier – der sich zum Verteidiger der Tiere stilisiert und von der edlen Regung, die Tiere vor dem Hochmut der Menschen zu retten, angetrieben wird – erlaubt sich eine aus der heutigen Perspektive verblüffende Meinung: Nimt man also an, daß die Seelen der Thiere durch den Tod an Verstand und Vernunft zunehmen: so wird ihnen alles das Uebel, so sie bey ihrem Tode ausstehen, reichlich ersetzt. GOtt ist ein gütiger aller seiner Geschöpfe; und es ist in Wahrheit eine anstößige Sache, wenn man sieht, wie viel Tausend Thiere, die keine Strafe verwürckt haben, alle Augenblicke öfters mit den grösten Schmertzen sterben müssen. Gewinnen sie nun durch den Tod so viel: so ist das der Güte und allgemeinen Liebe GOttes so gemäß, daß durch diese eintzige Betrachtung meine Meinung annehmungswürdig wird. Den Thieren kann keine grössere Wohlthat widerfahren, als wenn sie getödtet werden. (LST 118)

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Hornig korrigiert die verbreitete Meinung, es wäre Leibniz gewesen, der diesen Begriff eingeführt hätte. Die frühesten Belege für die Verwendung des Wortes stellt er bei Lessing, Mendelssohn, Reimarus und Tetens fest. Vgl. Gottfried Hornig: Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriffes in der deutschsprachigen Literatur. In: Archiv für Begriffsgeschichte 24 (1980), S. 221–257, hier S. 224.

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Selbst wenn eine solche Konstatierung bei dem heutigen Leser Befremden hervorruft, darf nicht vergessen werden, dass Meier diese Frage als Philosoph behandelt und sie ganzheitlich, aus der Perspektive des Weltganzen, der gesamten Schöpfung, teleologisch betrachtet: „Der Tiertod wird eschatologisch gerechtfertigt als Dispensation eines unzureichenden irdischen Daseins zugunsten eines ersehnten vollkommeneren Zustandes“23 – so HansPeter Nowitzki. Deswegen hat Meier seiner philosophischen Hypothese eine literarisch anmutende Einleitung vorangestellt, die – wie Nowitzki zu Recht betont24 – der Tradition der geistigen Weltreisen, wie sie etwa Fontenelle kreierte und in der deutschen Literatur Brockes25 poetisch gestaltete, zu sehen ist, die die Vollkommenheit des erschaffenen Weltalls preist. Und mit logischer Stringenz integriert Meier die Tierseelen in die Ordnung der vollkommenen Natur, die ‚große Kette der Wesen‘, die durch die Vervollkommnung ihrer Teile vervollkommnet wird (SLT 116). In diesem Konzept hat die Meier-Forschung nicht nur die Spuren Leibnizens, sondern auch die Aufnahme der antiken Wiederbringungslehre (Apokatastasis panton) des Origenes26 erkannt. Meier, der dem Leser „gleichgültige[] Unpartheylichkeit“ (SLT 119) bei der Lektüre seines Textes empfiehlt, verweist auf die Tatsache, dass eine Hypothese als wahrscheinlich gelten darf, solange ein Wissenschaftler deren Unhaltbarkeit nicht beweist: „Unterdessen gestehe ich, daß meine Meinung falsch sey: so bald man diese wesentlichen Einschränkungen anderwärts bewiesen hat; das hat aber, meines Willens, noch kein Weltweiser gethan.“ (SLT  111) Mit diesem Satz fordert Meier Kritiker heraus, etwa Johann Jakob Plitt, der etwa an der Einteilung in vier Grade des Verstandes und in zwei der Vernunft Anstoß nimmt, Meiers auf Erfahrung gründende Argumentation in Frage stellt, und die von Meier forcierte ontologische Gleichheit aller Kreatur ganz ablehnt. Das gilt allerdings auch für das Konzept der Zurückführung der Schöpfung zu ihrem Schöpfer.27

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Nowitzki, S. 353. Vgl. ebd., S. 344. Vgl. dazu. Ewa Grzesiuk: „Spectatores caeli“. Himmelsbetrachter in der Lyrik Brockes’. In: Małgorzata Dubrowska/Ewa Grzesiuk (Hrsg.): „Imago Dei“. Der Schöpfer und seine Schöpfung in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte. Wyd. KUL: Lublin 2018, S. 17–33. Vgl. Nowitzki, S. 352. Vgl dazu auch: Ilaria Ramelli: The Christian doctrine of Apokatastasis. A critical Assessment from die New Testament to Eriugena. Brill: Leiden 2013. Vgl. Nowitzki, S. 358 und S. 361.

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Meiers Abhandlung wird zur Inspirationsquelle für andere Denker und bis zum Ende des Jahrhunderts entsteht eine Reihe von Abhandlungen, die sowohl die Frage der Tierseelen28 als auch die der Metempsychose29 aufgreifen, dennoch darf Meiers Einfluss auf das Umdenken der Menschen im 18. Jahrhundert hinsichtlich der Behandlung von Tieren für eingeschränkt gehalten werden.

Bibliographie

Art. Natürlicher Einfluß. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. 68 Bde. Johann Heinrich Zedler: Halle/Leipzig 1732–1754. Bd. 23 (1740), S. 980. Belaval, Yvon: Art. Harmonie, prästabilierte. In: Ritter, Joachim/Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Schwabe: Darmstadt/Basel 1971–2007. Bd. 3 (1974), Sp. 1001–1003. Bodenburg, Julia: Tier und Mensch. Zur Disposition des Humanen und Animalischen in Literatur, Philosophie und Kultur um 2000. Rombach: Freiburg i. Br. 2012. Borgards, Roland (Hrsg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler: Stuttgart 2016. Bühler, Johannes: Deutsche Geschichte. Bd. 4: Das Barockzeitalter. De Gruyter: Berlin/ Boston 2018. Reprint der Ausgabe 1950, S. 453–455. Ebert, Johann Jacob: Biographien merkwürdiger Geschöpfe aus dem Thierreiche, nebst einigen Lobreden. Andreas Seyler: Memmingen 1787. Ebert, Johann Jacob: Biographien merkwürdiger Geschöpfe aus dem Thierreiche, nebst einigen Lobreden wofür der Verfasser nicht einen Heller bekommen hat. Zweytes Bändchen. Andreas Seyler: Memmingen 1789. Grunert, Frank /Gideon Stiening (Hrsg.): Georg Friedrich Meier (1718–1777). Philosophie als „wahre Weltweisheit“. De Gruyter: Berlin/Boston 2015. Grzesiuk, Ewa: Das Faszinosum Mensch. Das Interesse am Menschen im Nexus von Philosophie, Ästhetik und Literatur in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Wyd. KUL: Lublin 2013. 28 29

Nowitzki nennt einige Abhandlungen, die in der Nachfolge von Meiers Schrift entstanden sind, etwa: Johann Friederich Scholz, Johann Gottlob Krüger, Samuel Reimarus (S. 343) und Martin Wieland (S. 362). Vgl. dazu Hense, der unter anderem Johann Gottfried Herder (Über die Seelenwandrung[!]. Drei Gespräche. In: Der Teutsche Merkur, Februar 1782, S. 12–54 u. 96–123) nennt.

,Animal turn‘ im 18. Jahrhundert

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Eine deutsche Nils Holgersson. Tamara Ramsays Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott (1938–51) Hargen Thomsen Abstract Während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erscheint in drei Bänden ein Kinderbuch, das sich in Form, Fabel und Anspruch unübersehbar an Selma Lagerlöfs Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden anlehnt, dabei jedoch auch deutlich eigene Wege einschlägt. Das zeigt sich besonders im Verhältnis der Heldin zu den Tieren, mit denen sie durch den Osten Deutschlands (bzw. den Westen des heutigen Polen) reist. Nicht auf dem Rücken von Wildgänsen, sondern von Fischreihern, Elstern und Nebelkrähen fliegt sie von Brandenburg bis Schlesien und zurück. Die Tiere stellen ihr Aufgaben, prüfen sie, entführen und manipulieren sie – und gleichzeitig suchen sie Erlösung durch den Menschen. Sie akzeptieren seine Rolle als Krone der Schöpfung. „Aber nur darum ist er über uns gesetzt, damit er die Erde, die er verdorben hat, wieder von allem erlöst, was nicht sein soll. […] Er kann uns verderben, er kann uns erlösen.“ Die Autorin, die russische, schottische, baltische und dänische Vorfahren hatte und in Deutschland aufwuchs und lebte, nutzt Ideen der romantischen Naturphilosophie und eines katholischen Geschichtsbildes, um eine große Parabel über die Verwobenheit von Mensch und Natur ebenso wie von Deutschen und slawischen Völkern zu schreiben und sie dem Rassismus der Nationalsozialisten ebenso wie der ideologischen Spaltung Europas in der Nachkriegszeit entgegenzusetzen.

Schlüsselwörter Nils Holgersson, Innere Emigration, Prignitz, Kinderbuch, tiersprachkundiger Mensch, deutsch-polnische Akkulturation, Verzauberung und Erlösung, Rübezahl, Heimatlosigkeit

Als Lesebuch für Volksschulen konzipiert und als solches auch jahrzehntelang benutzt, war Selma Lagerlöfs 1906/07 erstmals erschienene Nils Holgerssons underbara Resa genom Sverige (dt. Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden oder Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen) ein Erfolg, der sehr rasch den Rahmen eines Kinderbuchs sprengte und in ca. 30 Sprachen übersetzt wurde. Zu verdanken ist das in erster Linie der Erzählkunst der Autorin, die es vermochte, selbst trockene geographische

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/97838467

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Daten erzählerisch aufzulösen und damit aus einem landeskundlichen Lehrbuch ein literarisches Meisterwerk zu machen. Der narrative Kniff, mit dem sie ganz unterschiedliche Informationen aus ganz unterschiedlichen Regionen zu einer einheitlichen Struktur verband, ist die Reise des magisch verkleinerten Helden auf dem Rücken von Wildgänsen. Das bietet den ganz praktischen Vorteil, dass der Held auf diese Weise rasch von einer Region in die nächste reisen und die Welt buchstäblich aus der Vogelperspektive betrachten kann. Dem Vogelzug folgend durchquert er das Land vom Süden in den Norden und wieder zurück, so dass sich die Verkettung der verschiedenen geographischen Haltepunkte und ihrer Geschichten daraus ganz einfach und natürlich ergibt. Als zweite narrative Klammer fungiert die Läuterungsgeschichte des Nils Holgersson, der am Anfang wegen seiner Unarten verzaubert und im Laufe der Reise zu einem besseren Menschen wird. Als seine Lehrmeister fungieren dabei die Wildgänse (und einige andere Tiere). Man sollte meinen, dass eine Übertragung dieser genial einfachen Fabel auf deutsche Verhältnisse nahegelegen hätte. Bei genauerer Überlegung stehen dem aber einige außerliterarische Hindernisse entgegen. Denn zum einen ist Deutschland als Kulturraum nicht so einheitlich wie Schweden, sondern zersplittert in Regionen mit jeweils eigener Geographie und eigenen kulturgeschichtlichen Entwicklungen, so dass die politischen Einheitsbestrebungen des 19. Jahrhunderts, die 1871 zur Reichsgründung führten, paradoxerweise den Effekt hatten, dass Kultur und Literatur nicht das einheitliche Deutschland, sondern die einzelnen Regionen entdeckten und erkundeten und eher das Trennende zu anderen Regionen als das gemeinsam Deutsche hervorhoben. Deutliches Kennzeichen dafür ist die Blüte der Mundartliteratur in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Obendrein gibt es ein zoologisches Hindernis: Wo wäre eine Tierart – Vogel oder Säugetier – zu finden, das auf seinen Wanderungen ganz Deutschland von Süd nach Nord und von Ost nach West durchquert? So wundert es nicht, dass es bis ins Jahr 1938 dauerte, ehe mit Tamara Ramsays Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott ein Versuch unternommen wurde, den Nils Holgersson in ein deutsches Milieu zu übertragen. Den angedeuteten Schwierigkeiten ist es wohl geschuldet, dass die Reise der kleinen Dott nur durch einen regional abgegrenzten Teil Deutschlands führt, und dass es mehrere – teilweise sogar verfeindete – Tierarten sind, die sich als ihre Reisegefährten anbieten. Hinzu kommt, dass das Buch während der nationalsozialistischen Diktatur begonnen und erst in der Zeit des Kalten Kriegs beendet wurde, was, wie man noch sehen wird, einen ganz unmittelbaren Einfluss auf Inhalt und Struktur des Buches haben sollte. Und wenn obendrein die Autorin ihre wahrhaft europäische Biographie einbringt, entsteht am Ende ein Werk, das in sich ebenso zerklüftet und zerrissen zu sein scheint, wie Zeit und Autorin, deren Produkt es ist.

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Philologisches und Biographisches

Die Publikationsgeschichte ist etwas verworren und kann hier nur unter Vorbehalt dargestellt werden, da mir nicht alle Einzelausgaben vorliegen und auch kein Abgleich mit Handschriften möglich war.1 Der erste Band von Tamara Ramsays Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott erschien 1938, in zweiter Auflage 1941 im Stuttgarter Union-Verlag mit 90 Zeichnungen der Verfasserin.2 Er war auf dem Titel als Band 1 ausgewiesen, aber die Bände 2 und 3 kamen erst 1950/51 heraus, jetzt mit neuen Illustrationen des Zeichners Alfred Seidel.3 Das ergibt zusammen einen Textkorpus von ca. 900 Seiten, inklusive über 250 Zeichnungen. Es deutet einiges darauf hin, dass das Gesamtwerk schon vor dem Krieg konzipiert und zum Teil auch geschrieben worden war, doch lässt sich darüber nichts Genaueres sagen. Die dreibändige Ausgabe erschien in mindestens 20–30.000 Exemplaren, war also durchaus erfolgreich. Dem Verlag dürfte das Werk aber als zu gewichtig (in mehr als einer Hinsicht) für ein Kinderbuch erschienen sein, deshalb wurde es 1962 in einer neuen, einbändigen Fassung4 von 350 Seiten herausgegeben – also um fast zwei Drittel seines Umfangs gekürzt! Im Union-Verlag erschienen von den 1970ern bis in die 1990er Jahre mehrere Auflagen einer „neubearbeiteten Ausgabe von Maria Friedrich“ (also nicht von der Verfasserin selbst),5 die auch Grundlage einer dtv-Taschenbuch-Edition von 19776 war. Erst 2007/08 erschien eine zweibändige Ausgabe, die den ursprünglichen 1. Band komplett, die Bände 2 und 3 allerdings wieder nur gekürzt und auf einen Band zusammengezogen publizierten;7 letzterer brachte auch zum ersten Mal die ursprünglich für diesen Teil vorgesehenen Illustrationen der Verfasserin. Da diese Edition allerdings in einem Prignitzer Kleinverlag erschien, konnte 1 Auch der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek bietet keine lückenlose Bibliographie. 2 Tamara Ramsay: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. Band  1: Aufbruch. Mit neunzig Zeichnungen der Verfasserin.  9.-14. Tsd. Union Deutsche Verlagsgesellschaft: Stuttgart 1941. [zitiert als: KD 1] 3 Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. Band  2. Illustriert von Alfred Seidel.  22.–29. Tsd. Union Deutsche Verlagsgesellschaft: Stuttgart 1954. [zitiert als: KD  2]; Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. Band  3. Illustriert von Alfred Seidel. 14.–21. Tsd. Union Deutsche Verlagsgesellschaft: Stuttgart 1951. [zitiert als: KD 3] 4 Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. [1. gekürzte Fassung in einem Band] Union Verlag: Stuttgart 1962. 5 Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. Neubearbeitete Ausgabe von Maria Friedrich. 4. Aufl. Union Verlag: Stuttgart 1993. 6 Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. Neubearbeitete Ausgabe. dtv junior: München 1977. 7 Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. [1. Band] prignitz-pur Verlag: Meyenburg 2007. – Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. Fortsetzung. prignitz-pur Verlag: Meyenburg 2008.

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sie keine Renaissance oder Neuentdeckung des Werks einleiten. Immerhin, wenn das Buch auch nie ein Bestseller war, so hatte es über die Jahrzehnte hinweg doch immer wieder Freunde und Liebhaber gefunden, so dass 2012 sogar eine englische Übersetzung in einem US-Verlag erschien, der das Buch als „Beloved German Children’s Classic for over Seventy Years“ bewarb.8 Natürlich beruht auch sie auf der gekürzten Fassung. In diesem Aufsatz wird mit der dreibändigen Ausgabe als dem vollständigsten Text gearbeitet. Der erste Band wird in der 2. Auflage von 1941 benutzt. Die wenigen biographischen Angaben, die über die Autorin zu finden waren, stammen aus den Nachworten der zuletzt erschienenen Ausgaben:9 Tamara Ramsay wurde am 15. September  1895 in Kiew als zweites von drei Kindern eines Vaters geboren, der von schottisch-baltischer Herkunft, und einer Mutter, deren Vater russisch-orthodoxer Priester und deren Mutter von deutsch-dänischer Herkunft war. Der Vater starb früh und die Mutter zog mit ihren Kindern (ca. 1905) nach Hamburg. Nach einer Lehrerausbildung und Anstellungen als Hauslehrerin in England und Dänemark begann sie in den 1920er Jahren Kinderbücher zu illustrieren. 1931 erschien das erste eigene Kinderbuch, Die goldene Kugel. Eine populäre Biographie über Annette von Droste-Hülshoff folgte 1938, ein Jahr später ging sie mit Eliwagar bis in die Eiszeit zurück (1958 neu herausgegeben unter dem Titel Kel – Bei den Eiszeitjägern zwischen Steppe und Tundra). 1952 legte sie eine (mehrfach wiederaufgelegte) Übersetzung von Andersens Märchen vor und arbeitete weiter als Illustratorin für andere Kinderbuchautoren. Ramsay konvertierte 1932 zum Katholizismus. Zu der Zeit, als sie an ihrem Hauptwerk schrieb, lebte sie in Berlin. 1943 floh sie vor dem Bombenkrieg nach Österreich, nach dem Krieg zog sie nach Stuttgart, wo sie am 7. März 1985 starb. Die Abenteuer der kleinen Dott blieben, was den Umfang wie auch den intellektuellen und künstlerischen Ehrgeiz angeht, eine Ausnahme und singulärer Höhepunkt in ihrem Werk.

Die Geschichte

Die zwölfjährige Dorothea Kersting lebt mit ihren Eltern und zwei kleinen Geschwistern im Dorf Mellen im äußersten Westen der Prignitz. „Weil sie aber

8 Dies.: Rennefarre. Dott’s wonderful Travels an Adventures. Translated and adapted by Malve von Hassel. Illustrations by Monica Minto. Two Harbors Press: Minneapolis 2012. 9 Vgl. Anm. 7, Bd. 1, S. 250 und Anm. 8, S. 290.

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so klein und zierlich war, wurde sie im ganzen Dorfe nur Dott genannt.“10 In der Johannisnacht schleicht sie sich, statt auf ihre kleinen Geschwister aufzupassen, aus dem Haus, um das Johannisfeuer zu beobachten. Beim Weg durch die Wiesen rutscht die Blüte einer „Rennefarre“ (ein lokaler Ausdruck für Rainfarn11) in ihren Schuh. Dadurch gerät sie in den Bannkreis magischer Kräfte, die sie für Menschen unsichtbar machen. Das hat zunächst den Effekt, dass sie aus der menschlichen Gemeinschaft, die sie nur noch als „Poltergeist“ wahrnimmt, ausgestoßen wird: „[…] wehe mir, wenn ich um ein Kind weinen müßte, das zum Schrecken und Abscheu der Menschen geworden ist!“12, sagt die Mutter, während ihre Tochter unsichtbar danebensteht. Auch die Dorfgemeinschaft – bisher ihre Freunde und Nachbarn – jagt „mit Stangen und Bootshaken in den Händen“13 hinter ihr her, eine traumatisierende Art von ‚Ausgrenzung‘ und ‚Vertreibung‘, die in der gekürzten Fassung weggelassen ist. Wie sie sich aber aus der menschlichen Gemeinschaft verstoßen findet, so wird sie in die der Tiere und Geister aufgenommen. Denn nicht nur kann sie durch den Zauber der Rennefarre die Sprache der Tiere verstehen, sie nimmt auch die Naturgeister wahr, die die Welt zusammen mit Menschen und Tieren bewohnen, aber nur für die letzteren sichtbar sind. Die Tiere begrüßen das „Menschenkind“ zunächst durchaus nicht freundlich, aber nach einer Reihe von Prüfungen, bei denen sie verschiedenen Tieren in Not beistehen muss, wird sie vor den Hochsitz der Frau Harke14 berufen, einer Naturherrscherin, die in verschiedenen Manifestationen an verschiedenen Stellen des Buches in Erscheinung tritt. Dort wird sie im Beisein aller Tiere gleichsam offiziell in das Naturreich aufgenommen: „Dieses ist das Menschenkind, das eure Sprache spricht und das euer Bruder [sic!] war. […] Schützt es von heute ab, wo ihr es findet, helft ihm, wie ihr könnt, und haltet ihm die Treue, wie es euch die Treue gehalten hat.“15 Außerdem erhält sie von Frau Harke einen magischen Becher, mit dessen Hilfe sie sich nach Wunsch klein oder groß machen kann, so dass sie (in ihrer verkleinerten Form) auf dem Rücken der Vögel reisen kann. Auf ihrer nun erst wirklich beginnenden Reise tritt eine weitere magische Eigenschaft der Rennefarre mehr und mehr in den Vordergrund: Sie ermöglicht Reisen durch die Zeit, so dass die kleine Dott – meistens ohne Vorbereitung und 10 11 12 13 14 15

KD 1, S. 9. Vgl. Wikipedia-Artikel „Rainfarn“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Rainfarn vom 16. Juli 2021). KD 1, S. 28. KD 1, S. 30f. Vgl. Art: Frau Harke. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Hrsg. von Johannes Hoops. 4 Bde. K.J. Trübner: Straßburg 1911–1919; hier Bd. 2, S. 348. KD 1, S. 171.

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gegen ihren Willen – verschiedene Perioden und Ereignisse der Vergangenheit durchlebt, die immer an den Ort gebunden sind, an dem sie sich gerade aufhält. Diese Zeitsprünge decken Epochen vom 18. Jahrhundert bis ins Frühmittelalter ab und spielen unter verschiedenen Völkern und allen Schichten von Bettlern und Bauern bis zu Königen. Manchmal sind es Friedenszeiten, noch häufiger aber Kriegszeiten, und immer ist die kleine Dott als Teilnehmerin mit einbezogen, denn auf diesen Zeitreisen wird sie – anders als in der Gegenwart – von den Menschen wahrgenommen und in ihre Sorgen und Nöte einbezogen. Historische Persönlichkeiten wie Karl der Große, August der Starke oder Friedrich der Große treten auf, meist aber sind es namenlose Alltagsmenschen, die Geschichte eher erleiden als gestalten. Damit sind die magischen Ingredienzien der Geschichte – und die erzählerischen Instrumente der Autorin – beieinander, und die Handlung kann sich entfalten. Sie ist gekennzeichnet durch eine ständige Vorwärtsbewegung, die sich im ersten Band noch im relativ engen Rahmen der Prignitz bewegt, im zweiten Band darüber hinaus geht, nach Berlin, in den Oderbruch, den Spreewald, dann über Sachsen hinweg mit Stationen in Dresden und Leipzig. Im dritten Band geht es über das Elbsandsteingebirge und das Riesengebirge nach Schlesien, wo Breslau – buchstäblich – zum Dreh- und Angelpunkt wird, von dem aus die Reise wieder zurück in die Prignitz und zur schlussendlichen Erlösung und Wiederaufnahme in die Menschenwelt führt. Als ‚Transportmittel‘ fungieren verschiedene Vogelarten, zunächst die Reiher, dann die Elstern (die die kleine Dott mit Gewalt rauben) und schließlich die Krähen. Zur Triebkraft wird dabei die Suche nach einem Sinn der Reise. Die kleine Dott, zunächst nur ums Überleben in einer fremden Welt bemüht, muss sich, sobald sie von den Tieren anerkannt wird und in ihrer bloßen Existenz gesichert ist, selbst die Frage stellen, welches Ziel sie sich setzen, welchem Zweck ihre magische Existenz dienen könnte. Sie überlässt sich zunächst nur dem Willen der Tiere, sie hierhin oder dorthin zu bringen – die auch meistens gar nicht darüber diskutieren, welche Richtung sie gerade einschlagen und oft auch bestimmte Absichten verfolgen und bestimmte Erwartungen an das „Menschenkind“ haben, ohne sie je laut zu äußern. Und so muss sie sich selbst sagen: „[…] es scheint, als ob dein Wille nicht allzuviel bei deinen Gefährten gilt, Dorothea Kersting!“16 Immer wieder im Verlauf ihrer Reise muss sie auch gegen depressive Stimmungen kämpfen, wenn ihr die eigene Isolation bewusst wird: Ja, alle wußten ganz sicher, was sie wollten, die Enten, die Menschen, der Spitz und die Reiher. Nur sie allein mußte schweigen und abwarten, was mit ihr 16

KD 1, S. 193.

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geschehen würde. Zu niemandem gehörte sie, und alle konnten ebensogut ohne sie fertig werden. Das aber schien der Kleinen plötzlich das Schlimmste zu sein, wenn man zu niemandem gehört und wenn uns niemand nötig hat!17

Zum Motor der Handlung wird jetzt diese Suche: die Suche nach einem Zweck der Reise und die Suche nach Jemandem, zu dem sie gehört. Zwar freundet sie sich mit ihren Reisegefährten, den Vögeln, an, muss aber letzten Endes erkennen: „Ganz glücklich konnte ein Mensch nur da sein, wo es Menschen gab.“18 Und so ist es nur folgerichtig, dass die Reise mit der Rückkehr zur eigenen Familie endet, weil der Zauber, unter dem sie steht, sich nur dadurch lösen kann.

Das Vorbild

Das Vorbild von Selma Lagerlöfs Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden19 ist überdeutlich zu erkennen, und in der Einleitung zum 3. Band weist Ramsay selbst darauf hin. Da ist als Grundstruktur der Erzählung die Reise, die sich in Form einer langgestreckten Ellipse über das Land erstreckt und dort endet, wo sie begonnen hat. Da ist die Verzauberung und Miniaturisierung, die den Helden aus der menschlichen Gemeinschaft ausstößt, da ist die Fähigkeit mit Tieren zu kommunizieren, durch die er in eine neue, nichtmenschliche Gemeinschaft aufgenommen wird. Da ist der Flug mit den Vögeln, der es – zur Bequemlichkeit der Autorin – ermöglicht, rasch von einem Handlungsort zum nächsten zu gelangen, jedoch auch einen neuen Blick auf die Welt – buchstäblich aus der Vogelperspektive – gestattet. Es gibt die moralische Läuterung des Helden durch den Kontakt zu den Tieren und durch die Aufgaben, die sie ihm zu lösen auftragen. Es gibt am Ende die Entzauberung und Wiederaufnahme in die menschliche Gemeinschaft, was zugleich aber einen bittersüßen Abschied von den tierischen Freunden bedeutet, mit denen eine Kommunikation von da an nicht mehr möglich ist. Und über allem steht natürlich bei Lagerlöf wie bei Ramsay die pädagogische Absicht, jugendliche Leser mit der Geographie und Landesgeschichte ihrer Heimat vertraut zu machen. Die Abhängigkeit lässt sich noch weiter bis in einzelne Handlungszüge und Motive verfolgen. Wenn zum Beispiel parallel zur Reise des Nils Holgersson 17 18 19

KD 2, S. 35. KD 3, S. 69. 1906/07 im Original, 1907/08 erstmals in deutscher Übersetzung erschienen. Hier wird die erste vollständige deutsche Ausgabe zugrunde gelegt: Selma Lagerlöf: Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden. Übersetzung und Nachwort von Thomas Steinfeld. Berlin 2014.

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die Gänsemagd Åsa durch Schweden wandert, so begegnet die kleine Dott im zweiten und dritten Band wiederholt einem ebenfalls verzauberten Jungen namens Klaus Petersen, der auf der Suche nach der Magie der Musik auf gleichem Weg mit ihr zieht. Und wenn Åsa es ist, die Nils Holgerssons Eltern am Ende von der Besserung ihres Sohnes berichtet und damit seine glückliche Heimkehr vorbereitet, so tut Klaus Petersen ein Gleiches bei den Eltern der kleinen Dott. Sogar einzelne anekdotische Ideen werden übernommen: In Karlskrona wird Nils Holgersson vom lebendig gewordenen Denkmal Karls XI. verfolgt, in Potsdam erlebt die kleine Dott dasselbe mit dem lebendig gewordenen Alten Fritz.20 Schließlich und endlich teilen die schwedische und die deutsche Autorin auch ein grundsätzlich optimistisches Menschenbild, das die verschiedenen Stufen der Zivilisierung und Modernisierung, die auf ihren Reisen gezeigt werden, bei Kritik im Einzelnen doch im Ganzen positiv bewerten. So eng die Anlehnung an das Vorbild also ist, so zeigen sich in Ramsays Werk doch signifikante Unterschiede, die nicht nur die Vogelarten betreffen, die als Transportmittel fungieren. Ein bedeutender Unterschied liegt in dem viel weiter gezogenen Umkreis der magischen Welt, in die der Held hineingezogen wird. In Nils Holgersson gibt es im Grunde nur einen Zauber, nämlich den, der den Helden am Anfang verwandelt und der am Ende wieder aufgehoben wird. Ansonsten bewegt der Held sich in einer realistisch wahrgenommenen Welt, die Menschen und Tieren gehört, wohingegen übernatürliche Wesen, wie zum Beispiel Riesen, nur in einer erzählerisch gebrochenen Perspektive als Sagenfiguren auftreten. Die Welt der kleinen Dott dagegen ist, außer von Tieren und Menschen, auch bevölkert – man könnte fast sagen überbevölkert – von magischen Wesen aller Art: Geister, Kobolde, Zwerge, Nixen, Riesen und Elementarwesen verschiedenster Form, Macht und Provenienz treten auf, wobei die Autorin sich als intime Kennerin des mittel- und ostdeutschen Sagenschatzes erweist. Nicht nur zitiert sie populäre Geister wie den Rübezahl des Siebengebirges, sondern auch viele nur lokal bekannte Zauberwesen, die selbst Kennern der Materie nicht immer geläufig sein dürften. Und sie bilden nicht nur die Dekoration dieser magischen Welt, sie greifen auch handelnd ein, sie prüfen die kleine Dott, belohnen sie, erteilen ihr Aufträge und geben ihrer Reise damit oft im entscheidenden Moment eine neue Richtung. Die Welt Selma Lagerlöfs ist geprägt von der Naturauffassung des späten 19. Jahrhunderts, sie bewegt sich also in einem durchaus diesseitigen Rahmen. Tamara Ramsay dagegen ist von der magischen Weltsicht der deutschen 20

Lagerlöf, ebd., S. 122f. bzw. KD 2, S. 52f.

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Romantik geprägt – nicht umsonst lässt sie am Ende den großen schlesischen Romantiker Joseph von Eichendorff persönlich auftreten.21 Und wie Eichendorff, wie die Romantiker, ist sie überzeugt, dass die Welt verwunschen ist und des Menschen zur Erlösung bedarf: „[…] alle Wesen der ganzen Schöpfung richten ihr Auge auf alles, was ihr tut“22, mahnt eine weise alte Krähe die kleine Dott. Und an anderer Stelle ist von einer „uralten Verheißung“ die Rede, die in Erfüllung gehe, „wenn sie, die Beseelten [das heißt die Menschen, HTh] einst die seelenlosen Wesen der Natur in das Reich der himmlischen Herrlichkeit führen werden!“23 Man meint hier, auch ohne dass sie wörtlich zitiert werden, Eichendorffs berühmte Verse herauszuhören: Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst Du nur das Zauberwort.24

In diesem Sinne auch versichert Dott ihren Krähenfreunden in einem enthusiastischen Ausbruch, wenn sie erst wieder ein Mensch sei, werde sie so heilig leben, dass sie in den Himmel komme, und dann – „dann werde ich euch alle zusammen mit hineinnehmen!“25 Ein weiterer wichtiger Unterschied zum schwedischen Vorbild liegt im Charakter der Hauptfigur. Denn Nils Holgersson, der Held des nach ihm benannten Buches, hat eigentlich keinen Charakter, oder zumindest nicht mehr, als er unbedingt braucht. Er ist weniger der Held, als der Katalysator der Handlung, dessen Aufgabe nur darin besteht, von einem Handlungsort zum anderen überzuleiten. Seine Entwicklung vom jugendlichen Delinquenten zum verantwortungsbewussten, mitfühlenden jungen Mann ist bestenfalls angedeutet und im Grunde schon nach dem ersten Drittel der Geschichte vollendet. Die Wunderbaren Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott lassen sich dagegen auch als deutscher Bildungsroman lesen, als Entwicklungsgeschichte eines Mädchens zur jungen Frau. Anfangs ist es kindliche Neugier und kindlicher Trotz gegen die Gebote der Eltern, die sie aus dem Haus treiben, um verbotenerweise das Johannisfeuer zu beobachten. Doch aus der Gemeinschaft der Menschen verbannt sieht sie sich vor die Notwendigkeit gestellt, für sich 21 22 23 24 25

KD 3, S. 305–312. KD 3, S. 176. KD 2, S. 274. Joseph von Eichendorff: Werke. Band 1. Hrsg. von Jost Perfahl und Ansgar Hillach. Winkler: München 1981, S. 132. KD 3, S. 182.

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selbst zu sorgen, Freunde zu erwerben, Aufgaben zu erfüllen und ihrem Leben ein Ziel zu setzen. Immer wieder trifft sie Fehlentscheidungen, etwa, wenn sie die Reiher verlässt, weil sie glaubt, es würde dem Ruf ihres Freundes Gurian, des Reiherfürsten, schaden, wenn er sich von einem Menschen begleiten lässt – woraufhin sie stracks von den Elstern geraubt, quer durch Sachsen verschleppt und auf einer einsamen Felsnadel im Elbsandsteingebirge ausgesetzt wird. Später wird sie sich sagen lassen müssen, dass sie ihrem Freund Gurian mit ihrem „Liebesopfer“ durchaus keinen Gefallen getan hat. „Da hatte sie also schon wieder alles verkehrt gemacht!“26 An anderer Stelle, als sie sich gezwungen sieht, ein Wort zu halten, dass sie in eine zwielichtige Position bringt, heißt es: „Denn die Kleine erkannte wohl, daß keine Not größer sein kann als die, in der man gemeinsame Sache mit dem Bösen gemacht hat.“27 Eine Maxime, die wohl in einem weiteren Sinne gemeint ist, als in der konkreten Situation Sinn macht. Sie lernt aber auch: „Solange wir noch unseren freien Willen haben und unseren Mut, kann noch alles gut werden. Und das will ich mir merken.“28 Und schließlich lernt sie auch, „daß alle Menschen nur leben konnten, wenn der eine für den anderen arbeitete.“29 Dass in Nils Holgerssons wunderbarer Reise durch Schweden solche moralischen Erkenntnisse nicht formuliert werden, spricht nicht gegen das Werk, das ja ein Bildungsroman gar nicht sein will, sondern eine poetische Landeskunde. Es zeigt aber die Vielschichtigkeit, die Tamara Ramsay ihrem Buch gegeben hat.

Doppelter Boden

Die, soweit ich sehen kann, einzige selbständige Arbeit, die Tamara Ramsay und ihrem Werk gewidmet ist, stammt von Regina Wöllfert-Stockmann aus dem Jahr 2003.30 Allerdings scheint der Zweck dieses Aufsatzes eher die Hinrichtung als die Erforschung der Autorin zu sein. In einem unerquicklichen Gemisch aus moralischen Entrüstungsgesten, Verschwörungstheorien und Enthüllungsjournalismus wird die Kleine Dott als „ein vom Geist des Nationalsozialismus inspiriertes Jugendbuch“ bezeichnet, ein „faschistisch 26 27 28 29 30

KD 2, S. 300. KD 2, S. 260. KD 2, S. 242. KD 3, S. 301. Regina Wölffert-Stockmann: Auf den Spuren der Schöpferin der Kleinen Dott. Untersuchungen zu Leben und Werk Tamara Ramsays (1895–1985). In: Bernd Dolle-Weinkauff et. al.: Kinder- und Jugendliteraturforschung 2002/2003. Berlin 2003, S. 31–41.

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angehauchtes Erfolgsbuch“, das dank späterer Überarbeitungen und der ominös angedeuteten „Verstrickung so mancher Rezensenten in die deutsche Geschichte“ auch im Nachkriegsdeutschland ein Erfolg wurde.31 Andererseits muss Wölffert-Stockmann zugeben, dass für die Nachkriegsausgaben nur „geringfügige Retuschen“32 nötig waren und dass schon in der Ausgabe von 1938 Passagen stehen, die dem Geist des Nationalsozialismus direkt zuwiderlaufen. Um dies erklären zu können, erfindet sie einen verfolgten Juden namens Ezra Israel [!!], der der eigentliche Autor des ersten Teils gewesen und für den „ursprünglichen pazifistischen Text“ verantwortlich sei, während Ramsay selbst die „faschistisch getönten Passagen“ hinzugefügt habe.33 Obwohl aber Wölffert-Stockmann Zugriff auf den Nachlass Ramsays hatte, kann sie keinen faktischen Beweis für diese, wie sie selbst sagt, „zugegebenermaßen abenteuerliche Hypothese“34 beibringen, beruft sich stattdessen auf Hörensagen und wirft mit rhetorischen Fragen im Stile von: „Könnte es nicht sein, dass …“ oder: „Wäre es nicht denkbar  …“ argumentative Rauchbomben, die das Haltlose ihrer Behauptungen verdecken sollen. Wahr ist, dass die Kleine Dott ein strukturell und inhaltlich sehr heterogenes Gebilde ist, in dem es auch qualitativ sehr große Schwankungen gibt. Das lässt sich allerdings durch die schwierige Entstehungsgeschichte vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg erklären, ohne dass man auf einen zweiten Verfasser zurückgreifen muss.35 Denn so leicht, wie Wölffert-Stockmann meint, sind die „guten“ und die „schlechten“ Passagen nicht voneinander zu trennen, weder strukturell noch stilistisch. Der hypothetische Mitautor Ezra Israel sei im Krieg umgekommen, doch auch in den erst nach Kriegsende entstandenen Bänden 2 und 3 finden sich noch qualitativ starke Abschnitte, auch wenn sie im Ganzen nicht mehr die Dichte des ersten Bandes erreichen. Überhaupt kann man dem Werk bei aller Disparität eine innere Geschlossenheit und gedankliche Einheitlichkeit nicht absprechen (wie dieser Aufsatz zu zeigen versucht). Und schließlich: Wenn Ramsay, wie Wölffert-Stockmanns Hypothese vorsieht, dem verfolgten Juden in ihrer Berliner Wohnung Unterschlupf gewährt hätte, dann hätte sie in der Tat jene „öffentliche Anerkennung und Ehrung als 31 32 33 34 35

Ebd., S. 33f. Ebd., S. 34. Ebd., S. 38. Ebd. Wölffert-Stockmann zitiert Freunde der Autorin, denen zufolge aufgrund der Bombardierungen im Krieg „alle Unterlagen […] vernichtet worden seien“, so dass „für die Neuauflage alles ganz neu“ bearbeitet werden musste (ebd. S. 31). Aber diesen Freunden mag Wölffert-Stockmann nicht recht glauben, weil sie zu viel Positives über die Autorin zu berichten wissen, die sie nun mal nicht positiv sehen will.

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mutige Kämpferin gegen den Nationalsozialismus“36 verdient, die WölffertStockmann ihr doch gerade absprechen will. Ihre Argumentation muss sich ständig selbst widersprechen, weil sie von Anfang an ein falsches Ziel verfolgt, nämlich die moralische Diskreditierung Ramsays. Autoren, die unter dem Nationalsozialismus – oder in anderen autokratischen bzw. totalitären Systemen – publizieren mussten, bedienten und bedienen sich noch heute häufig einer Technik des „doppelten Bodens“. D.h. sie orientieren sich einerseits an der Sprachregelung des jeweiligen Systems, unterwandern es aber gleichzeitig, indem sie ihm einen anderen, oft geradezu konträren Sinn unterschieben. Man wird Ramsay eher gerecht, wenn man sie aus dieser Perspektive betrachtet. Der Begriff der ‚Inneren Emigration‘ ist zwar „ebenso vieldeutig wie umstritten“,37 doch Ramsay gehört, wie mir scheint, in den Kreis der damit gemeinten Autoren. Im Angesicht des Vernichtungskriegs gegen die slawischen „Untermenschen“ unternimmt sie – in einem Kinderbuch! – den Versuch, eine Art alternativer Geschichte OstMitteleuropas zu schreiben, die die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und slawischen Völkern zwar nicht verschweigt, letztlich aber als friedliche kulturelle Durchdringung darstellt. Damit widerspricht sie vor, während und nach dem Krieg der jeweils herrschenden Ideologie auf doppelte Weise: der rassistischen Weltsicht der Nationalsozialisten ebenso wie der nach dem Zweiten Weltkrieg dominierenden Kalter-Kriegs-Mentalität, die im Endeffekt beide trennen, was geschichtlich und kulturell zusammengehört. Dem 1938 erschienenen ersten Band ist eine Zeittafel beigegeben, die das Geschichtsbild der NS-Zeit wiedergibt: Der ‚Osten‘ wird schon in der Bronzezeit von Germanen besiedelt, die in der Völkerwanderungszeit abziehen. „Das ganze östliche Gebiet bis zur Elbe ist für die Germanen verloren.“38 Die verschiedenen Vorstöße auf ostelbisches Gebiet seit Karl dem Großen und die deutsche Ostkolonisation im 12. Jahrhundert werden als e i n e geschichtliche Bewegung verstanden, als „Rückeroberung des germanischen Ostens durch das Reich.“39 Es ist hier nicht der Ort, die Absurdität dieses Geschichtsbildes, das eine germanische Kontinuität konstruiert, die es nie gegeben hat, nachzuweisen. Es geht vielmehr darum, wie Ramsay solche chauvinistischen Geschichtsdogmen 36 37 38 39

Ebd., S. 31. Ralf Schnell: Art. Innere Emigration. In: Walther Killy: Literaturlexikon. Bd.  13. Bertelsmann-Lexikon Verlag: Gütersloh & München 1992, S. 436. KD 1, S. 271. Ebd.

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unterwandert und den Osten des damaligen Deutschlands als Begegnungsstätte der Völker umdeutet. Das beginnt schon damit, dass die Heldin selbst ein Produkt friedlicher Völker-Begegnung ist: „Und die Kleine wußte auch, daß sie selbst durch ihren Vater, dessen Vorfahren vor Jahrhunderten mit den fränkischen Siedlern aus dem Westen über die Elbe gekommen waren, zum Westen gehörte. Aber durch ihre Mutter, die aus dem Spreewald im Süden der Mark stammte, gehörte sie ebensogut auch zu den Wenden im Osten.“40 Zu den wichtigen Bezugspersonen, die bereit sind, sie auch in ihrer verzauberten Form noch als Mensch zu akzeptieren, zählen auf wendischer Seite der Schäfer ihres Heimatdorfes, Vater Gnilica, und ihre wendische Großmutter, die im Spreewald lebt, andererseits, als Vertreter westlicher Aufklärung, ein kluger Doktor, der ihr in Havelberg Zuflucht gewährt. Es sind Menschen, die sich eine geistige Offenheit bewahrt haben, dank derer sie auch die verzauberte Dott akzeptieren, ihr helfen, sie bei sich aufnehmen und sogar das Positive an diesem scheinbaren Fluch sehen können. „Aber du bist ja ein Glückskind!“ ruft etwa der Doktor aus. „Die Natur öffnet ihre Geheimnisse vor dir, die Vergangenheit enthüllt sich dir, die Geister der Wälder und Seen halten Zwiesprache mit dir, du wirst allen Geschöpfen zur Bruderseele!“41 Von ihrer Großmutter hat die kleine Dott auch das Wendische gelernt,42 so dass sie auf ihren Reisen durch die Vergangenheit in der Lage ist, buchstäblich auch die wendische Seite zu verstehen, etwa, wenn sie im Laufe der vielen kriegerischen Auseinandersetzungen einen der deutschen Siege auf wendischer Seite miterlebt und dadurch in einen emotionalen Zwiespalt gerät.43 Und als man ihr von den Schreckenstaten heidnischer Wendenstämme erzählt, die früher einmal in „den Dörfern ihrer Heimat“ stattgefunden haben sollen, glaubt sie solchen Erzählungen nicht, denn „da wußte sie, dass kein Wende in der ganzen Umgebung so war, dass er einen Menschen auf dem großen Dolmen von Mellen opfern konnte, weder der gute Vater Gnilica noch der Fischer Majewski oder all die andern, die wendischer Abstammung waren, und sie glaubte auch nicht, daß ihre Vorfahren solche Greueltaten hatten ausführen können.“44 Die Vermischung der kulturellen Sphären wird dabei nicht nur in geschichtlicher Hinsicht gezeigt, sie wird auch in der Schicht der Volkspoesie gleichsam 40 41 42 43 44

KD 2, S. 107. KD 1, S. 151. KD 1, S. 244. KD 1, S. 258f. KD 1, S. 240.

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konspirativ betrieben, denn hier vermischt die Autorin deutsches, wendisches und polnisches Sagenmaterial auf eine Weise, dass es sich nicht mehr trennen lässt, sondern im Rahmen ihres Buches ein Ganzes bildet. Das Motiv des Farnkrauts etwa, das in der Johannisnacht magische Kräfte entfaltet, stammt aus polnischer Überlieferung – aus der Gegend von Krakau, um genau zu sein45 –, nur dass es dabei ursprünglich nicht um das Verstehen der Tiersprache oder Reisen in die Vergangenheit geht, sondern um die Fähigkeit, verborgene Schätze in der Erde zu entdecken. Ein Beispiel dafür, wie Ramsay Sagenmaterial nicht einfach übernimmt, sondern für ihre Zwecke umarbeitet und umdeutet. Die kriegerische Begegnung von Deutschen und Wenden wird in einem Kapitel des ersten Bandes auf eine groteske Spitze getrieben, wenn die kleine Dott nachts bei Donner und Blitz zwei Riesen beobachtet, die sich an der Elbe bei Lenzen drohend gegenüberstehen. Der eine, der als Karl der Große identifiziert wird, ruft „All min!“ ins Prignitzland, worauf der andere, der sagenhafte Wendenkönig, ihm „Nicht dett!“ entgegenbrüllt46 und damit sein Revier abgrenzt. Ramsay benutzt hier eine Riesensage, die ursprünglich nichts mit geschichtlichen Ereignissen zu tun hatte, sondern nur die Existenz der Hünengräber erklären sollte, deren mächtige Decksteine den Riesen als Wurfgeschosse gedient hätten.47 Auch diese Sage wird umgeformt und neu gedeutet im Sinne einer Konfrontation der Völker, die hier aber ans Komisch-Absurde streift.48 Die Geister jedoch, die in diesem Buch so zahlreich in Erscheinung treten, folgen letztendlich doch dem Beispiel der Menschen und schließen sich friedlich zusammen: „Seit aber auf dieser Erde zuerst die Germanen und dann die Slawen und zuletzt beide zusammen als ein neuer Stamm im deutschen Volk gelebt haben, ist auch das ganze Land im Osten von all den Geisterscharen bevölkert, die diesen Stämmen und Völkern auf ihren Wanderzügen gefolgt

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Polnische Märchen. Hrsg. von Ewa Bukowska-Grosse und Erwin Koschmieder. München 1967, S. 243–245 [Märchen der Weltliteratur]. KD 1, S. 214f. Elisabeth von Falkenhausen: Die Prignitz entdecken. Natur und Kultur einer Region. 5. aktualisierte Auflage. Berlin 2013, S. 197. Wölffert-Stockmann zitiert diese Episode als Beweis für das „völkische Sendungsbe­ wußtsein“ der Autorin (Wölffert-Stockmann, wie Anm. 30, S. 32), wobei sie – wie stets – das Entscheidende überliest, nämlich, dass die beiden Riesen als gleich groß und gleich mächtig geschildert werden und dass die kleine Dott sich vor beiden ängstlich verkriecht. Erst im Zeichen des Kreuzes – nicht des Hakenkreuzes! – wächst Karl der Große in den Himmel hinein (KD 1, S. 216), was deutlich auf das katholische, nicht das nationalsozialistische Geschichtsbild Ramsays hinweist.

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sind.“49 Aus getrennten, einander zunächst feindlichen Völkern wächst also ein einheitlicher Kulturraum zusammen. Diese Überwindung einer zunächst feindseligen Haltung hin zu einem friedlichen Zusammenleben wird erzählerisch auch bis in die Tierwelt hinein erweitert. Hier sind die wichtigsten Verbündeten der kleinen Dott die Fischreiher und die Nebelkrähen, die gleichsam für Deutsche und Wenden stehen, was schon daran erkennbar wird, dass Cornix, der Anführer der Nebelkrähen, immer als „Knese“ bezeichnet wird, dem slawischen Wort für ‚Fürst‘. Am Anfang stehen diese beiden Tierarten sich zwar nicht offen feindlich, aber doch ablehnend gegenüber, doch schon am Ende des ersten Bandes haben Gurian, der Reiher, und Cornix, die Krähe, Freundschaft miteinander geschlossen, indirekt vermittelt durch die kleine Dott, der beide Vogelvölker zu helfen versuchen. Zieht man diese Interpretationslinie weiter, wären die Elstern, die die kleine Dott verschleppen, diejenigen, die aus egoistischen, chauvinistischen Gründen das friedliche Zusammenleben zu stören versuchen. Im dritten Band schließlich, wenn die kleine Dott auf dem Rücken der Nebelkrähen bis nach Schlesien zieht, wird das Prinzip der Akkulturation auch auf Deutsche und Polen ausgeweitet. In einem zentralen Kapitel erzählt die uralte Krähe Kra (die Krähen werden hier gleichsam zu Hütern der Geschichte) von der heiligen Hedwig, der Herzogin von Schlesien (ca. 1180–1243, kanonisiert 1267), die durch ihr karitatives Wirken zur „Mutter zweier Völker“ geworden sei, „zur Mutter der Deutschen und Slawen“.50

Verzauberung und Erlösung

Zu den wichtigsten Verbündeten der kleinen Dott unter den Tieren zählen Cornix die Nebelkrähe und Gurian der Fischreiher. Und das, obwohl beide Gründe genug hätten, die Menschen zu meiden oder gar zu hassen, denn beide zählen zu den Tierarten, die bei den Menschen als Schädlinge gelten und frei bejagt werden dürfen – „vogelfrei“ sind, wie es doppeldeutig auf einer Versammlung der Vögel heißt.51 Es ist aufschlussreich für Ramsays Konzeption, dass sie als Begleiter ihrer Heldin Tierarten wählt, die (im Gegensatz zu Nils Holgerssons Wildgänsen) zu den Ausgegrenzten und Verfolgten zählen und

49 50 51

KD 3, S. 30. KD 3, S. 180. KD 1, S. 37.

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auch beim Leser nicht spontan positive Konnotationen wecken werden.52 Andererseits wollen auch die Vögel zunächst nichts mit der kleinen Dott zu tun haben, ihr erstes Hilfsangebot wird kühl ignoriert. „Ein einziger Gutsherr schoß in diesem Jahr fünfhundert Angehörige unseres Stammes ab“, berichtet Cornix, der zunächst nur als „struppige alte Krähe“ vorgestellt wird, und setzt bitter hinzu: „es gilt sogar als besonderes Verdienst, uns zu hunderten niederzuknallen.“53 Gurian findet wenig später sein Nest geplündert vor: „Es war keine Anmut und Schönheit mehr in ihm an diesem Tage, als der Mensch sein Weib und seine Brut erschossen hatte.“54 Er verliert fast den Verstand darüber, und erst Dotts Bitte, sie auf seinem Rücken reisen zu lassen, bringt ihn wieder zu sich. Sie macht sich so klein, „daß er sie mit einem einzigen Hieb [seines Schnabels] hätte zerschmettern können“,55 aber gerade indem sie sich ihm völlig ausliefert, erringt sie seine Freundschaft. Am Anfang des zweiten Bandes wird diese scheinbar widersprüchliche Freundschaft näher begründet: Ja, schon im Horste der Eltern wußte Gurian, daß es keinen Feind für die Reiher gab, der so gefährlich und listig, so töricht und über alle Maßen klug, so flügellos ohnmächtig und gleichzeitig so mächtig war wie der Mensch. […] Gewiß, Gurian wußte schon, was er wagte, wenn er mit dem Menschenkinde reiste, und niemand brauchte ihn mehr vor dem Menschen zu warnen. […] Trugzeit, Streitzeit, Neidzeit, Leidzeit schuf der Mensch, wohin er auch kam. Die Drachenbrut der bösen Geister, sie wurde frei durch ihn!56

Zugleich aber wird der Mensch als König der Schöpfung anerkannt: „Von Urbeginn wurde er zum Herrn der Erde gesetzt, und ihm allein unter allen Geschöpfen wurde eine Seele gegeben. […] Der Mensch ist es, durch den der finstre Bann gebrochen werden kann! Er ist es, der Heil aus Unheil wirken soll.“57 Und noch einmal im dritten Band wird das Thema wiederaufgenommen, diesmal von den Krähen: „Aber nur darum ist er [der Mensch] über uns gesetzt, damit er die Erde, die er verdorben hat, wieder von allem erlöst, was nicht sein 52 53 54 55 56

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Bei Selma Lagerlöf gehören die Krähen ganz eindeutig zu den Schurken, vgl. Lagerlöf (wie Anm. 19), Kapitel 16 „Die Krähen“, S. 184–204. KD 1, S. 35. KD 1, S. 179. KD 1, S. 185. KD 2, S. 14. – „Das ist es, was uns alle Mären und Urzeitsagen künden“, heißt es an dieser Stelle weiter, womit zugleich die Einbindung so vieler Volksüberlieferungen begründet wird. Dieser Bedeutungsschicht, die einen wichtigen Bestandteil im Gesamtkonzept der Kleinen Dott ausmacht, kann hier aber nicht weiter nachgegangen werden. KD 2, S. 16.

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soll.“58 In diese Formulierung fließen schon die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges mit ein, die gezeigt haben, wie sehr der Mensch die Erde „verdorben“ hat, aber umso mehr auch, wie sehr sie der Erlösung bedarf. Ramsay fügt folglich den verschiedenen Schichten von Geschichte, Kultur, Natur und Volksüberlieferung noch eine weitere eschatologische hinzu, durch die sie die reichlich disparaten Elemente ihres Buches zu verklammern hofft. Schon sehr früh, als Dott sich gerade erst ihrer Verzauberung bewusst wird, begegnet sie einem Feuerkobold, der sie belehrt: „Denn wisse, Menschenkind, daß alle Geister des Wassers und der Erde und alle Tiere und Pflanzen im Zauberbanne liegen und nach ihrer Erlösung seufzen.“ Und der Mensch, der in der Schöpfung durch seine Beseelung eine Sonderrolle einnimmt, ist derjenige, durch den sie diese Erlösung erhoffen, „nur ein Mensch, der ihnen von Herzen wohl will, kann sie erlösen.“59 Damit ist ein Grundthema des ganzen Buches angegeben, auf das an verschiedenen Stellen immer aufs Neue hingewiesen wird. Die kleine Dott lernt im Verlauf der Handlung, sich ihrer Verantwortung als jemand, der allen Wesen „von Herzen wohl will“, bewusst zu werden und sie anzunehmen. Ihre eigene Erlösung bedeutet letztlich also, dass sie fähig wird, die Natur zu erlösen. Zu erlösen von dem, was der Mensch über sie gebracht hat.

Heimatlos

Bei dem wenigen, was wir über die Biographie Tamara Ramsays sagen können, wissen wir doch genug, um uns darüber zu wundern, warum sie ausgerechnet die Prignitz zum zentralen Handlungsort ihrer Geschichte gemacht hat, denn ein biographischer Bezug zu dieser Region ist nicht zu entdecken. Bestenfalls kann sie die Landschaft auf längeren Ferienaufenthalten kennengelernt haben, und Prignitzer Heimatforscher werden wohl einiges an der Faktizität ihrer Darstellung einzuwenden haben, z.B. dass viele der Sagenstoffe, die sie für ihre Darstellung verwendet, aus ganz anderen Regionen oder Kulturkreisen stammen. Die wunderbaren Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott sind also keine Heimatdichtung in dem Sinne, dass ein Autor sich darin der eigenen Herkunft versichert. Vielmehr haben wir es mit einer poetischen Utopie zu tun, die gerade den Heimatverlust thematisiert – und seine mögliche Überwindung durch Einbindung geschichtlicher, kultureller und biologischer Elemente in die eigene Biographie. 58 59

KD 3, S. 181. KD 1, S. 26f.

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Es bedarf keiner tiefschürfenden psychologischen Analyse, um in der kleinen Dott die Autorin selbst wiederzuerkennen, deren Gespaltenheit zwischen West und Ost sich schon in ihrem Namen abspiegelt, die ihre eigentliche Heimat im zaristischen Russland schon als Kind verlor und in Deutschland vielleicht nie ganz heimisch wurde. Insofern ist ihr Buch ein wahres Lebensprojekt, ein Versuch, in Literatur eine Heimat zu erschaffen, in dem ihre ganze kreative Energie sich erschöpfte. Die Prignitz mag sie zum einen ausgewählt haben, weil hier noch eine unberührte Natur vorhanden war, in die ihre Heldin eintauchen konnte, nachdem sie, von den Menschen vertrieben, ihre Heimat verloren hatte. Zum anderen – und vielleicht noch wichtiger –, weil die Prignitz zu den westlichsten Gebieten zählt, in denen die Auseinandersetzung, aber auch die Akkulturation, von Slawen und Germanen einen geschichtlichen Raum fand. Die tragische Ironie der (Welt-)Geschichte brachte es mit sich, dass Tamara Ramsays Projekt durch den Zweiten Weltkrieg und die darauffolgende Spaltung Europas in West- und Ost-Blöcke vollends ins Irreale entglitt. Der zweite und dritte Band der Kleinen Dott unternahmen es, Ost-Mitteleuropa als einheitlichen Kulturraum zu entwerfen, aber die politische Realität stand dem entgegen, und heute wirkt ihr – stark katholisch geprägtes – Geschichtsbild überholt. Andererseits war ihr Buch auch nie für die revisionistischen Ziele der deutschen Vertriebenenverbände nutzbar, denn einer Restitution deutscher Ansprüche wird nirgendwo das Wort geredet. Die kleine Dott und ihre Schöpferin bleiben heimatlos, aber ihr Vermittlungsversuch ist zumindest aufrichtig gemeint. Wenn Dott auf dem Zobtengebirge steht und über Schlesien blickt, versucht sie zu verstehen, was „Osten“ bedeutet: Das bedeutet: Erde der slawischen Völker, Heimat der östlichen Brudervölker, auf deren Freundschaft und Liebe das Abendland nun schon seit tausend Jahren vergeblich wartet. Das bedeutet: Wache und Schutzwall hüben und drüben, Mißtrauen und Gewalt hüben und drüben, Mord und Haß und Rache, Jammer und Elend und Schuld auf beiden Seiten seit tausend Jahren. Ja, das alles bedeutet die Erde, wo der Westen den Osten berührt.60

Man kann mancherlei kritisieren an den Wunderbaren Fahrten und Abenteuern der kleinen Dott, man kann das Buch zu lang, zu spröde, zu komplex finden – zumal für ein Kinderbuch. Man kann sagen, die Autorin hat mehr gewollt als vermocht, dass ihre Gestaltungskraft nicht ausreichte für ihr überambitioniertes Projekt, dass die geschichtlichen Passagen zum Ende hin immer trockener und lehrhafter werden oder dass die Nebenhandlung um Klaus Petersen sich 60

KD 3, S. 142.

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nicht ins Ganze einfügen will. Der Versuch jedoch, den Ramsay in ihrem Buch unternimmt und der in diesem Aufsatz zu skizzieren versucht wurde, ist aller Ehren wert und verdient keinesfalls die Denunziation als „ein vom Geist des Nationalsozialismus inspiriertes Jugendbuch“. Diesem Geist stand Tamara Ramsay immer fern. Ihre Kleine Dott ragt auf wie eine riesige Ruine in verlassener Landschaft, unfertig, aber eindrucksvoll. Einige Monate nach Abschluss dieses Aufsatzes erschien die dreibändige Originalausgabe mit den Illustrationen von Alfred Seidel „leicht gekürzt“ und sprachlich „behutsam modernisiert“ (so die Verlagsankündigung) im Verlag Berlinica Publishing (Berlin 2020). Ob diese Neuausgabe eine Neuentdeckung des Werkes einleiten wird, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall zeigt sie, dass Ramsays Versuch einer erzählerischen Verbindung von West und Ost noch immer Interesse erregt.

Bibliographie

Art. Frau Harke. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Hrsg. von Johannes Hoops, 4 Bde., K.J. Trübner: Straßburg 1911–1919. Bd. 2, S. 348. Eichendorff, Joseph von: Werke Band  1. Hrsg. von Jost Perfahl und Ansgar Hillach. Winkler: München 1981. Falkenhausen, Elisabeth von: Die Prignitz entdecken. Natur und Kultur einer Region. 5. aktualisierte Auflage. Berlin 2013. Lagerlöf, Selma: Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden. Übersetzung und Nachwort von Thomas Steinfeld. Berlin 2014. Ramsay, Tamara: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. Bd. 1: Aufbruch. Mit neunzig Zeichnungen der Verfasserin. 9.-14. Tsd. Union Deutsche Verlagsgesellschaft: Stuttgart 1941. [zitiert als: KD 1] Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. Bd. 2. Illustriert von Alfred Seidel. 22.-29. Tsd. Union Deutsche Verlagsgesellschaft: Stuttgart 1954. [zitiert als: KD 2] Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. Bd. 3. Illustriert von Alfred Seidel. 14.-21. Tsd. Union Deutsche Verlagsgesellschaft: Stuttgart 1951. [zitiert als: KD 3] Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. [1. gekürzte Fassung in einem Band] Union Verlag: Stuttgart 1962. Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. Neubearbeitete Ausgabe. dtv junior: München 1977. Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. Neubearbeitete Ausgabe von Maria Friedrich. 4. Aufl. Union Verlag: Stuttgart 1993.

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Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. [1. Bd.] prignitz-pur Verlag: Meyenburg 2007. Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. Fortsetzung. prignitz-pur Verlag: Meyenburg 2008. Dies.: Rennefarre. Dott’s wonderful Travels an Adventures. Translated and adapted by Malve von Hassel. Illustrations by Monica Minto. Two Harbors Press: Minneapolis 2012. Dies.: Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott. 3 Bde. Berlinica Publishing: Berlin 2020. Schnell, Ralf: Innere Emigration. In: Walther Killy: Literaturlexikon. Bd. 13. BertelsmannLexikon-Verlag: Gütersloh & München 1992, S. 436. Polnische Märchen. Hrsg. von Ewa Bukowska-Grosse und Erwin Koschmieder. München 1967 [Märchen der Weltliteratur]. Wölffert-Stockmann, Regina: Auf den Spuren der Schöpferin der Kleinen Dott. Untersuchungen zu Leben und Werk Tamara Ramsays (1895–1985). In: Bernd DolleWeinkauff et. al., Kinder- und Jugendliteraturforschung 2002/2003. Berlin 2003, S. 31–41.

Nietzsches Ansichten zum Tier- und Menschsein in Also sprach Zarathustra Karolina Sidowska Abstract In Nietzsches Also sprach Zarathustra wird bekanntlich nach der Überwindung des Menschen verlangt, und zwar auf dem Weg vom Tier zum Übermenschen. In meinem Beitrag versuche ich diese Entwicklungsrichtung in Frage zu stellen und auf die Notwendigkeit der Überwindung des Menschlichen auch in Bezug auf die Tierwelt hinzuweisen. Dass eine solche Umkehrung im Kontext dieses Werks denkbar ist, davon zeugt die durchaus ambivalente Position der Tiere in Zarathustra: Das Tier ist einerseits eine schamvolle Erinnerung an die menschlichen Ursprünge, andererseits steht es für Unschuld, Aufrichtigkeit, ja Klugheit, auf die der Mensch wohl aspirieren kann (und soll). Vor diesem Hintergrund werden Zarathustras Tiere präsentiert und sein Verhältnis zu ihnen mit der Haltung des tierliebenden heiligen Franziskus verglichen.

Schlüsselwörter Friedrich Nietzsche, Zarathustra, der Adler, der Löwe, die Schlange, das Raubtier

„Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde“1 – diese Formel findet der Leser von Nietzsches Lebenswerk Also sprach Zarathustra gleich am Anfang des Buches, noch vor den Reden Zarathustras, die den eigentlichen Korpus des Textes bilden. Auch in diesem Beitrag möchte ich die obige Feststellung zum Ausgangspunkt der Ausführungen machen, die die verschiedenen Tierbilder in dem besagten Werk, ihre kulturellen Konnotationen und ihre Aussage über die conditio humana fokussieren. Obwohl die Schlussfolgerung aus dem Zitat wäre, dass das Tier nur eine Vorstufe in der phylogenetischen Entwicklung zum Menschen und dann zum Übermenschen darstelle – eine Stufe, die eigentlich überwunden worden sei (genauso wie der Mensch etwas ist, das auf dem Weg zum Übermenschen 1 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Kritische Studienausgabe  4. Hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. dtv/De Gruyter: München 2005, S. 16. Alle Zitate aus diesem Werk stammen aus der obigen Ausgabe und werden weiter im Text mit der Sigle ‚Za‘ und Seitennummer in Klammern markiert.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/97838467

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„überwunden werden soll“ – und niemals wird2) – scheint an vielen Stellen in Zarathustra eine Überzeugung zum Vorschein zu kommen, dass die Natur des Menschen immer noch recht tierisch ist und dass der Mensch sich von seinem inneren Tier noch nicht emanzipiert hat und vielleicht nie emanzipieren wird. Zarathustra mahnt: „Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe.“ (Za, 14) Der Affe steht für die frühere Etappe der Entwicklung, aber auch für die immanent animalische Komponente im Wesen des Menschen; demzufolge sei er für den Menschen „ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham“ (ebd.), eine peinliche Erinnerung, so etwa wie ein kompromittierendes Nacktfoto aus der frühen Kindheit. Der Mensch als Affe3 erscheint als unvollkommen, unreif, fast wie eine Rückentwicklung. Soll man daraus schließen, dass das Animalische in Nietzsches Werk generell mit Anti-Werten wie Rückständigkeit, Unterentwicklung, Trieb-Determiniertheit und Stumpfsinnigkeit einhergeht? Muss sich der Mensch ewig der tierischen Verwandtschaft schämen?

Mehrfachkodierung in Also sprach Zarathustra

An der Stelle muss klar gesagt werden: an der objektiven Tatsache, dass die Gattung homo sapiens ein Vertreter der Tierwelt, genau: der Klasse Säugetiere des Unterstamms Wirbeltiere ist, besteht kein Zweifel. Hier und im Folgenden wird eine subjektive, historische Auffassung des Philosophen Nietzsche am Ende des 18. Jahrhunderts präsentiert, der keine naturwissenschaftliche Abhandlung zur Herkunft des Menschen schreiben, sondern durch 2 Der Übermensch ist nur ein projiziertes, nicht wirklich erreichbares Ziel, etwas, was ewig angestrebt werden soll. Deutlich wird diese Auffassung in Nietzsches Der Antichrist, worauf Andreas Urs Sommer Bezug nimmt: „‚Nicht, was die Menschheit ablösen soll in der Reihenfolge der Wesen, ist das Problem‘ (AC, KSA 6, 170). Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, zu denen namentlich der ‚Übermensch‘ in Also sprach Zarathustra Anlass gegeben hatte, wird klargestellt, die Evolution des Menschen zu einer neuen Gattung sei nicht intendiert. Eine Vorarbeit zu Antichrist  3 ist noch expliziter: ‚Was für ein Typus die Menschheit einmal ablösen wird? Aber das ist blosse Darwinisten-Ideologie. Als ob je Gattung abgelöst wurde! Was mich angeht, das ist das Problem der Rangordnung innerhalb der Gattung Mensch.‘ (NF, KSA 13, 481).“ Andreas Urs Sommer: Große Menschen züchten? Nietzsche anti Darwin. In: Volker Caysa/Konstanze Schwarzwald (Hrsg.): Nietzsche–Macht– Größe. De Gruyter: Berlin/Boston 2012, S. 171–187, hier S.185. 3 Vgl. Antonia Ulrich: Äffen und NachschAffen. Online: kunsttexte.de 2/2005, https://www. academia.edu/23327270/_%C3%84ffen_und_NachschAffen_in_kunsttexte_de_2_2005_. (Zugriff: 27.12.2020).

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Tiermetapher und -verweise die Menschheit über sie selbst aufklären wollte. Dabei sind die von Nietzsche verwendeten Tierbilder keineswegs neutral, sondern lösen – zwangsläufig und absichtlich – eine Flut von stereotypen Vorstellungen und Assoziationen zur mythologischen, religiösen und literarischen Tiersymbolik aus, mit der dann meistens gespielt wird. Die Tiere in Zarathustras Welt können wie Fabelwesen sprechen und weisen überhaupt viele menschliche Merkmale auf. Nicht die faktischen, naturwissenschaftlich erforschten Besonderheiten von bestimmten Tierarten sind entscheidend für ihre Verwendung als anschauliches Material, sondern ihre kulturelle Bedeutung oder eher Bedeutungen, die manchmal auch widersprüchlich sind.4 Diese werden beim Leser nicht nur aktiviert, sondern ins neue Licht gestellt oder axiologisch anders aufgewertet, wie z.B. der biblische Topos des Lamms, mithilfe dessen die christliche Lehre über das Opfer Jesu als Lamm Gottes höhnisch devaluiert wird: „Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch vom Fleische guter Lämmer, deren ich zwei habe: – die soll man geschwinde schlachten und würzig, mit Salbei, zubereiten: so liebe ich’s.“ (Za, 354) Die vielen oszillierenden symbolischen Bedeutungen verankern einerseits Nietzsches Werk in der jahrhundertelangen literarischen Tradition, andererseits machen sie die Predigten Zarathustras lebhaft und plakativ, indem sie stark auf die Vorstellungskraft und Emotionen des Lesers wirken.5 Der Mensch erscheint also in Nietzches Werk als ein halbwegs überwundenes, aber auch als „das grausamste Thier“ (Za, 273) und generell als ein Wesen, dass „krank“ und lernbedürftig sei, und die Tiere fungieren in Zarathustras Parabeln und Vergleichen als hervorragendes Lehrmaterial – als Vorbilder, Anti-Vorbilder, ja fast als die Lehrer selbst. Gewisse Tiere – exemplarisch sind hier die Topoi des Löwen, des Adlers und der Schlange – repräsentieren die Eigenschaften, die als Tugenden kategorisiert werden, auf die der Mensch aspirieren kann und soll. Daher, obwohl die Richtung der menschlichen Entwicklung von Zarathustra klar vorgegeben ist: „Nicht nur fort euch zu pflanzen, sondern hinauf […]“ (Za, 264), scheint nicht nur die Überwindung der Gattung Mensch in Richtung des Übermenschen nötig, sondern auch die Revision der Haltung den Tieren gegenüber. Neben vielen kritischen und abwertenden Aussagen kann man aus Zarathustras Reden wohl auch eine Rehabilitierung und Würdigung der tierischen Art herauslesen.

4 Vgl. Olga Kłosiewicz: Zwierzęta Zaratustry. Symbolika świata zwierzęcego w pismach Friedricha Nietzschego. Uniwersytet Warszawski: Warszawa 2011, S. 50. 5 Ebd., S. 47.

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Die Lehre von den drei Verwandlungen

Parallel zu der Vorstellung des Fortschritts der Menschheit vom Menschen zu Übermenschen entwirft Nietzsche durch Zarathustra eine andere Entwicklungsvision: „Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.“ (Za, 29) Das Kamel, ähnlich wie an anderen Stellen der Esel, symbolisiert hier die Duldsamkeit, Genügsamkeit, Opferbereitschaft, bis zur Selbsterniedrigung. Suggestiv ist v.a. das stereotype Bild des Tieres, wenn es niederkniet, um „gut beladen“ zu werden und mit der schweren Last gehorsam in die Wüste zu gehen – der Kniefall wird anthropomorphisierend als Ausdruck der tiefen Ehrfurcht gedeutet und moralisch gewertet. Die genannten Tugenden, gepriesen durch die traditionelle christliche Moral, finden natürlich keine Hochachtung in den Augen des Autors als ihres entschiedensten Gegners und Kritikers. Der Geist, der sich in ein Kamel verwandelt, d.h. niederkniet und sich erniedrigt, erweckt kein Respekt, auch kein Mitleid für seine Qual, stattdessen eine leichte Verachtung: Sein Tun zeugt von fataler Schwäche des Charakters und fungiert als Ausdruck einer demütigenden Knechtschaft. Die Haltung des Kamels geziemt sich dem Menschen keinesfalls. In der Wüste findet die zweite Verwandlung statt:6 aus dem Kamel wird ein Löwe, der als Inbegriff des Mutes und der Freiheit, bzw. des Mutes zur Freiheit erscheint. Der Löwe ist ein sehr verbreiteter und mehrdeutiger Topos; man verbindet ihn mit Furcht und Schrecken, die das Tier lange Zeit den Menschen eingejagt hat, aber auch mit Erhabenheit, ja Königlichkeit, Fruchtbarkeit und der unnachgiebigen Kraft des Instinkts. Wegen der Stärke der vitalen Kräfte wurde das Symbol des Löwen in der Bibel in Bezug auf den auferstandenen Christus verwendet, aber an anderen Stellen ist Christus als Bezwinger der Bestie – des Löwen oder des Drachen – dargestellt, und darin anderen mythischen Göttern und Heroen wie z.B. Herkules ähnlich. Generell kann der Löwe symbolisch für Extreme stehen: ebenso für den Helden, wie für den bösen Feind, etwa den Teufel.7 Der Männchen-Löwe wird auch mit der Einsamkeit assoziiert, sowie – dank seiner goldfarbenen Mähne – mit der Sonne; er sollte wie der Adler angeblich imstande sein, ohne Augenzwinkern in die Sonne zu schauen. Die lateinische Bezeichnung des Löwen flava bestia wurde in Nietzsches Schriften als „blonde Bestie“ übersetzt; direkte 6 Das Motiv der Verwandlung oder der Versuchung in der Wüste ist eine deutliche BibelAnspielung u.a. an die Versuchung Christi (Mt 4, 1–11). 7 Hans Biedermann: Leksykon symboli (Org. Knaurs Lexikon der Symbole). Aus dem Deutschen von Jan Rubinowicz. Muza: Warszawa 2003, S. 189.

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(und eher naive) Übertragung dieser Bezeichnung samt allen mit ihr zusammenhängenden Implikationen auf die Germanen oder die arische Rasse machte daraus ein Un-Wort und sorgte für viele Missverständnisse, obwohl die Verwendung dieser Metapher vielmehr auf geistige Kompetenzen, quasi auf die Löwenstärke des Geistes hindeutet, ohne Verweis auf konkrete Nationen oder Ethnien. Um Henning Ottmann zu zitieren; „Zwar mag auch dies noch auf den Löwenmut und die Angriffslust der Germanen verweisen. Jedoch ist von größerer Bedeutung, wofür ‚der Löwe‘ in Nietzsches Philosophie selber steht.“8 Im Kontext der drei Verwandlungen des Geistes wird, ähnlich wie im Fall des Kamels, auf stereotype Vorstellungen des Löwen verwiesen: Als ein stolzer Jäger, ein starkes Raubtier (auf die besondere Rolle des Raubtiers und insbesondere der Raubkatze bei Nietzsche werde ich noch später eingehen), symbolisiert er eisernen Willen, Entschlossenheit und die für den Bruch mit bürgerlichen und moralischen Regeln notwendige Kraft: „Freiheit sich schaffen und ein heiliges Nein auch vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des Löwen.“ (Za, 30) Obwohl zur vollen Befreiung noch die dritte Verwandlung nötig ist – in ein Kind, das neue Werte zu schaffen vermag – bleibt der Löwe mit seiner stolzen Haltung definitiv ein Vorbild für den Menschen, der erst am Anfang seines emanzipatorischen Weges zu sein scheint.

Die Lehre von ewiger Wiederkunft: die Tiere Zarathustras

Die Untersuchung der Tierbilder bei Nietzsche müsste eigentlich mit den berühmten Tieren Zarathustras beginnen. Der Adler und die Schlange fungieren als treue Begleiter des Titelhelden in seinem Einsiedlerdasein, und zwar nicht als domestizierte Lebewesen, nicht als ‚Haustiere‘ wie Katzen oder Hunde, die auf menschliche Pflege angewiesen sind, sondern eher umgekehrt als seine Betreuer und Beschützer. Dies wird z.B. in der Szene deutlich, wo sie bei dem ohnmächtigen Zarathustra wachen und der Adler immer wieder ausfliegt, um für den Kranken Essen zu besorgen: „Und was er holte und zusammenraubte, das legte es auf Zarathustra’s Lager: also dass Zarathustra endlich unter gelben und roten Beeren, Trauben, Rosenäpfeln, wohlriechendem Krautwerke und Pinien-Zapfen lag.“ (Za, 271) Diese Fürsorge der Tiere für den Menschen weist in vielen Mythen und Sagen auf einen Auserwählten hin, der zu revolutionären Taten berufen ist, um exemplarisch nur an Romulus und Remus zu erinnern. Zarathustra wird durch diese merkwürdige Behandlung, die auch andere Tiere 8 Henning Ottmann (Hrsg.): Nietzsche-Handbuch. Metzler: Stuttgart 2011, S. 205.

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ihm erweisen, zu einem Heiligen, Propheten oder Helden mit besonderem Status. Aber auch seine Tiere selbst sind etwas Besonderes und Verkörperungen hoher Tugenden: „das stolzeste Tier unter der Sonne und das klügste Tier unter der Sonne“ und der Held beneidet sie ausdrücklich um diese Vorzüge: „Möchte ich klüger sein! Möchte ich klug von Grund aus sein, gleich meiner Schlange! Aber Unmögliches bitte ich da: so bitte ich denn meinen Stolz, dass er immer mit meiner Klugheit gehe!“ (Za, 27) Der Adler, ähnlich wie der Löwe ein solares Symbol, steht ebenso für Stolz und Kraft, für die Jugend und den Vitalismus. Interessanterweise erscheinen die beiden Tiere in Nietzsches Briefen als Bezeichnungen für Lou Andreas-Salomé, für die er einen starken Affekt gehegt hat und mit der zu seiner bitteren Enttäuschung bald der Kontakt verloren ging,9 gerade als die Arbeit am ersten Teil von Also sprach Zarathustra im Winter 1882/3 begonnen hat. „(S)ie ist scharfsinnig wie ein Adler und muthig wie ein Löwe“, schrieb er am 13. Juni 1882 und am 4. August desselben Jahres notierte er in einem Briefentwurf eben an Andreas-Salomé: „Ich wollte allein leben. -/ Aber da flog der liebe Vogel Lou über den Weg, und ich meinte, es sei ein Adler. Und nun wollte ich den Adler um mich haben.“10 Der Adler ist quasi der Löwe unter den Vögeln. Auch er symbolisiert Stärke und (königliche) Macht, daher haben zahlreiche Völker auf der ganzen Welt ihn eben zum Wappentier gewählt,11 besonders in der europäischen Heraldik hatte dieses Motiv eine große Karriere gemacht.12 Im alten Glauben wurde dem Adler auch die Fähigkeit zur Sich-Verjüngung zugesprochen, in der christlichen Ikonographie wird er dem hl. Johannes zugeordnet, kann aber auch die Wiederauferstehung Christi versinnbildlichen. Das Paar Adler und Schlange scheint höchst unharmonisch – falls sie zusammengehören, dann eher als Feinde im tödlichen Kampf. So steht z.B.  im  Wappen von Mexiko (als Überbleibsel alter aztekischer Symbolik) der Adler mit der Schlange im Schnabel und in den Krallen als Sinnbild des Sieges des Lichts über die Macht des Dunkels. Die Schlange, bei Nietzsche zumindest im Fall von Zarathustras Schlange positiv gedeutet, wird 9

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Nach dem Besuch von Lou Andreas-Salomé in Nietzsches Ferienhaus in Tautenburg im August  1882 war diese enttäuscht über nicht gerade partnerschaftliche intellektuelle Relation mit Nietzsche, dazu kam das gespannte Verhältnis zu Nietzsches Schwester Elisabeth. Vgl. Nietzsche-Handbuch (wie Anm. 8), S. 51. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli/ Mazzino Montinari. München/New York 1986. Zit. nach: Stephan Braun: Nietzsche und die Tiere oder: Vom Wesen des Animalischen. Königshausen & Neumann: Würzburg 2009, S. 26. Biedermann (wie Anm. 7), S. 256. Der zweiköpfige Adler zierte u.a. das Wappenschild des Römischen Reiches des Deutschen Nation, des Kaisertums Österreichs oder des Russischen Zarenreichs. Ebd.

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stereotyp überwiegend mit negativen Eigenschaften wie Listigkeit und Falschheit konnotiert, obwohl dies ein Symbol ist, bei dem die Widersprüchlichkeit der Bedeutungen besonders krass auffällt. Die Schlange wird mit dem Element der Erde (manchmal auch des Wassers) verbunden, daher steht sie manchmal für das Schwere und Niederdrückende; als chthonisches Wesen vertritt sie die Unterwelt und das Universum der Toten, aber zugleich wird das für Schlangen charakteristische Häuten zur Allegorie der Erneuerung und Wiedergeburt. Dank der phallischen Form wurde das Tier zum Symbol der Fruchtbarkeit – man findet es u.a. in graphischen Darstellungen des Dionysos-Gefolge. In vielen Kulturen (z.B. in Indien) wurden die Schlangen als Verkörperungen der göttlichen Kräfte betrachtet.13 Die biblische Topik identifiziert die Schlange in erster Linie mit dem bösen Geist, der die Urmutter Eva im paradiesischen Garten erfolgreich in Versuchung geführt hat; das Tier, unter dessen Gestalt der Teufel selbst agiert, wird unmittelbar mit der Sünde und dem Bösen verknüpft und zugleich zu einem erbärmlichen Dasein im Staub der Erde und zu endgültiger Niederlage verurteilt, worauf die Worte aus dem Buch Genesis hinweisen: „Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf und du triffst ihn an der Ferse.“ (Gen 3, 15) Und nicht zuletzt gibt es noch eine symbolische Darstellung der Schlange, die im Kontext von Also sprach Zarathustra womöglich von größter Relevanz ist, nämlich den Ouroboros (Uroboros): aus dem Altgriechischen Selbstverzehrer bzw. wörtlich Schwanzverzehrender – ein schon in der Ikonographie des Alten Ägypten vorhandenes Bild der Schlange, die den eigenen Schwanz verschlingt und dadurch einen ideellen Kreis bildet, der Unendlichkeit, Ewigkeit, eventuell die ständige Wiederkehr und die Wiederholbarkeit aller Dinge veranschaulicht. Diese schmerzhafte (das Tier beißt sich selbst) Erkenntnis14 legt Nietzsches Idée fixe über die ewige Wiederkehr des Gleichen unverkennbar nahe. Die Anspielung darauf findet man gleich auf den ersten Seiten von Zarathustra, doch – wie denn sonst – in der leicht von tradierten Überlieferungen abweichenden Form: erstens erscheint die Schlange nicht allein, sondern immer in Begleitung seines natürlichen Erzfeindes, des Adlers, mit dem sie jedoch in ungestörter Friedlichkeit und Freundschaft lebt, zweitens beißt sie sich nicht in den Schwanz, um den symbolischen geschlossenen Kreis 13 14

Ebd., S. 390–392. Stephan Braun assoziiert in seiner Analyse die Schlange mit der „[…] Weisheit im Schmerze: Sie entwickelt sich zum Denkbild für die Leidenschaft der Erkenntnis im doppelten Sinne. Einer solchen bedarf es auch, um den Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen zu bejahen.“ Braun (wie Anm. 9), S. 26.

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zu formen, sondern sie „ringelt sich“ eigenwillig und fast gutmütig um des Adlers Hals: „Und siehe! Ein Adler zog in weiten Kreisen durch die Luft, und an ihm hieng eine Schlange, nicht einer Beute gleich, sondern einer Freundin: denn sie hielt sich um seinen Hals geringelt.“ (Za, 27) Aus der Zusammenstellung dieser beiden, symbolisch komplementären Tiere, die Zarathustra zur Seite gestellt werden, ergibt sich der Eindruck der Totalität und der Einweihung in die Weisheit der sich ewig erneuernden Natur; die Sphäre der Erde und die Sphäre der Luft stehen im Einklang und in der Mitte befindet sich der Prophet Zarathustra,15 der nach dem Ringen mit tiefer Enttäuschung und Ekel letztendlich die Idee der ewigen Wiederkehr – die im Bild der sich freundschaftlich umarmenden Tiere jede Spur von Qual entbehrt – tanzend und singend bejaht.

Die Lehre gegen das Christentum

Zarathustras Schlange ist nicht die einzige Repräsentantin dieser Gattung in Nietzsches Buch; die übrigen Exemplare erscheinen nicht mehr so friedlich und harmlos und entsprechen dadurch eher den gängigen Vorstellungen – sie beißen mit mörderischer Absicht und töten mit ihrem Gift. Einem solchen Schicksal entgeht knapp der junge Hirte, dem während des Schlafes eine schwarze Schlange in den Mund gekrochen ist und sich festgebissen hat. Sie versinnbildlicht „alles Schwerste, Schwärzeste“, woran der Mensch fast ersticken muss, es sei denn, er befreit sich selbst dank der plötzlichen Überwindung des Ekels und des Grauens – so wie der arme Hirte sich durch das Abbeißen des Schlangenkopfes befreit hat (vgl. Za, 201f). Die Szene mit dem Hirten ist eine Widerspiegelung der Episode aus dem ersten Teil, wo der schlafende Zarathustra einer Natter zum Opfer fiel. Als die Schlange ihn erkannte, wollte sie ungeschickt fliehen und verkündete „traurig“, dass ihr Gift tödlich sei: „Zarathustra lächelte. ‚Wann starb wohl je ein Drache am Gift einer Schlange?‘ – sagte er. ‚Aber nimm dein Gift zurück! Du bist nicht reich genug, es mir zu schenken.‘ Da fiel ihm die Natter von Neuem um den Hals und leckte ihm seine Wunde.“ (Za, 87) Das seltsame Verhalten der Natter ist ein Verweis auf den besagten Ausnahmestatus von Zarathustra – aber nicht nur das: Das ‚böse‘ Tier, das in Anerkennung der eigenen Schuld, wider seine Natur, das Gift beseitigt und die Wunde zu heilen versucht, ist ein Inbegriff der christlichen Tugend der Barmherzigkeit. Die wunderliche Genugtuung wird jedoch von Zarathustra nicht als solche gewürdigt und geschätzt; die 15

Vgl. Kłosiewicz (wie Anm. 4), S. 61.

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neutestamentarische Regel, das Böse mit Gutem zu vergelten, empfindet er nämlich als beleidigende Verachtung und rät eher dazu, auf großes Unrecht mit fünf kleinen zu antworten, bloß um das Gegenüber nicht zu beschämen. Solchen Prinzipien verdankt er den Ruf des „Vernichter(s) der Moral“ (ebd.). Das unnatürliche Verfahren der Schlange erinnert an die Szene, die unverkennbar an die biblische Vorstellung des paradiesischen Friedens im Buch Jesaja (Jes 11, 6–9) anspielt: Zarathustra findet sich plötzlich von einem riesigen Schwarm von Vögeln umgeben, die sich zärtlich um seinen Kopf drängen16 und unter den Fingern spürt er das dichte, warme Fell eines Löwen: „Das Zeichen kommt“, sprach Zarathustra, und sein Herz verwandelte sich. Und in Wahrheit, als es helle vor ihm wurde, da lag ihm ein gelbes mächtiges Gethier zu Füssen und schmiegte das Haupt an seine Knie und wollte nicht von ihm lassen vor Liebe, und that einem Hunde gleich, welcher seinen alten Herrn wiederfindet. Die Tauben aber waren mit ihrer Liebe nicht minder eifrig als der Löwe; und jedes Mal, wenn eine Taube über die Nase des Löwen huschte, schüttelte der Löwe das Haupt und wunderte sich und lachte dazu. (Za, 406)

Trotz auffallender Ähnlichkeit verbirgt das idyllische Bild einen anderen Sinn als sein biblisches Vorbild: erstens – das Wunder ist kein allgemeines, sondern passiert nur Zarathustra allein, zweitens – es passiert, da der Held den endgültigen Sieg erreicht hat: er hat seine letzte Sünde, nämlich das Mitleiden mit dem höheren Menschen überwunden. Diese Passage, die zugleich den Abschluss von Also sprach Zarathustra markiert, hat viel stärkere, absichtlich blasphemische Aussage als die berühmte Formel „Gott ist tot“: Als paradiesischer Neuanfang wird hier nicht der Sieg über den Tod bejubelt, wie im christlichen Glauben an die Auferstehung Christi, sondern die Bekämpfung des Mitleids, das den Kern der christlichen Moral bildet.17 Außer von der letzten und daher besonders aussagekräftigen Szene findet man im ganzen Werk mehrere Stellen, wo gegen das Christentum polemisiert wird, gerne mithilfe von Tiermetaphern, die die vom Autor beabsichtigten Assoziationen und Emotionen hervorrufen. Meistens werden „die Guten und Gerechten“, also die Priester und die Gläubigen, mit pejorativ konnotierten Tierarten verglichen – oft sind es Insekten wie Fliegen, Kreuzspinnen (hier spielt sowohl das charakteristische Zeichen am Rücken sowie auch das Netz-Bilden eine relevante Rolle), Taranteln oder Skorpione. Sie kommen oft massenhaft vor und verfolgen die eigenwilligen Individuen mit Regeln, 16 17

Zarathustra, umschwärmt von Tauben, die ohne Angst und liebevoll sich um ihn sammeln, ähnelt dem heiligen Franz von Assisi, der der Sage nach u.a. den Vögeln gepredigt hat. Vgl. Klosiewicz (wie Anm. 4), S. 79.

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Strafen und moralischen Vorsätzen, die aus Ressentiment und unterdrückten Rachegefühlen entstehen. Auch wenn manche giftig sind, liegt ihre eigentliche Macht in der großen Anzahl, aber ob einzeln, oder en masse erwecken sie Abscheu und Abneigung. Eine weitere Tier-Allegorie kommt zum Einsatz in der Darstellung der Versammlung der höheren Menschen in der Höhle Zarathustras, die übrigens deutlich an das letzte Abendmahl im Neuen Testament erinnert, und die zur Parodie der heiligen Messe wird, indem der Esel anstelle Gottes angebetet wird. Der Esel, der zu allem „I–A“ sagt, bestätigt voll das stereotype Bild eines dummen und einfältigen Wesens, und diese Dummheit, Reflexionslosigkeit und Naivität werden automatisch auf seine Verehrer übertragen, an die Zarathustra im ersten Augenblick denkt: „Sie sind alle wieder fromm geworden, sie beten, sie sind toll!“ (Za, 388). Doch letztendlich erkennt er das subversive Potential dieses parodistischen Spektakels und befiehlt, das Eselsfest weiterhin zu seinem Angedenken zu feiern, wodurch die liturgische Formel der Konsekration18 ironisch travestiert wird. Auf diese Weise werden nicht nur die biblischen Sprüche verspottet, sondern auch die Sakramente (ex definitione heilig für die Gläubigen) und generell der Glaube an die Präsenz Gottes im Gottesdienst und jenseits davon. Die exzellenten Bibelkenntnisse und die Treffsicherheit von Nietzsches Angriffen auf das Christentum lassen in ihm einen latenten Christen vermuten,19 dessen leidenschaftliche Polemik womöglich auch einem Ressentiment und tiefer Enttäuschung entspringt.

Die Lehre von der Misere der Herdenmentalität und der Vornehmheit der Raubtier-Instinkte

Zarathustra liebt seine Tiere, er spricht mit ihnen und überhaupt – obwohl er mehrmals aufbricht und die Berghöhle verlässt, um im Tal seine Lehren zu predigen und Jünger zu sammeln – scheint ihm die Gesellschaft der Tiere deutlich lieber als die der Menschen,20 die in ihrer Masse in seinen Augen zur Herde werden:21 „Kein Hirt und Eine Herde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist 18 19 20 21

Es geht um die Transsubstantiation – die Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi während des Hochgebets (in der römisch-katholischen Theologie). Die Schrift Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum wäre keine Widerlegung, sondern eher Bekräftigung dieser These. Vgl. die ausdrückliche Warnung: „Gefährlicher fand ich’s unter Menschen als unter Thieren, gefährliche Wege geht Zarathustra. Mögen mich meine Thiere führen!“ (Za, 27) Davon zeugt auch die Art und Weise, wie Zarathustra vom Anlocken seiner Zuhörer spricht: er verwendet Ausdrücke wie „ködern“ und angeln von „Menschen-Fischen“. (Za, 298)

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gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.“ (Za, 20) Dies ist das Bild „der letzten Menschen“, die jegliche höhere Ansprüche aufgegeben hatten und die sich nicht mehr als Individuen aus der Menge hervorheben wollen, sondern ‚bequem‘ und genüsslich in eigener Schar vor sich hin leben. Die Vorstellung erinnert stark an die Szene, wo Zarathustra auf einer Anhöhe einer Herde Kühe begegnet, in deren Mitte ein freiwilliger Bettler sitzt, der das Glück auf Erden in der Lebensweise dieser Tiere entdeckt zu haben glaubt: So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich. Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen: das Wiederkäuen. […] Am weitesten freilich brachten es diese Kühe: die erfanden sich das Wiederkäuen und In-der-Sonne-Liegen. Auch enthalten sie sich aller schweren Gedanken, welche das Herz blähn. (Za, 334–337)

In der Bewunderung des Bettlers für die Kühe schimmert die Bequemlichkeit des letzten Menschen, der Wunsch nach dem einfachen und angenehmen Leben durch, was Zarathustra wiederum als „das Verächtlichste“ entschieden ablehnt. Eine solche Vereinfachung der menschlichen Existenz wäre Feigheit und Selbstverleugnung, ein Verrat der eigentlichen Natur des Menschen, die sich doch von der tierischen unterscheidet. Eine Erklärung zu dieser Differenzierung liefert Nietzsche in der Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben: Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiss nicht was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflog des Augenblicks und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er sich seines Menschenthums vor dem Thiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Thiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und er will es doch vergebens, weil er nicht will, wie das Thier.22

Was laut Nietzsche Menschen von Tieren unterscheidet, ist also, dass die ersteren ihr Dasein in zeitlicher Perspektive betrachten und sich erinnern können, während die Tiere in der Gegenwart leben, ohne Erinnerungen und Sehnsüchte.

22

Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Ders.: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1970–1873. Kritische Studienausgabe 1. Hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. dtv/De Gruyter: Berlin/New York 1988, S. 248.

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Die Herden-Mentalität der letzten Menschen kommt aber nicht nur von der Eifersucht auf das angebliche Glück des animalischen Daseins – ohne Bedenken, Entscheiden-Müssen, Verantwortung-Tragen etc. – sondern sie ist auch Effekt der christlich-moralischen Erziehung, deren rhetorische Spuren in der zitierten Aussage des Bettlers erkennbar sind („so kommen wir nicht in das Himmelreich“). Die christliche Moral, mit ihren asketischen Grundsätzen, mit den Parolen der Nächstenliebe und des Mitleids für die Schwachen, war von dem Philosophen als Zucht der „kranken Tiere“ betrachtet. „Die Gewissens-Tierquälerei des Christentums habe zwar zu einer Vertiefung, doch in die falsche Richtung geführt; kultiviert worden seien ‚HeerdenInstincte‘, ‚Heerden-Denkweise‘, ‚Heerden-Maximen‘, ‚Heerden-Begierden‘, ‚Heerdenthier-Europäer‘.“23 Als Remedium gegen eine solche Entartung der Gattung Mensch wird die Rückkehr zu Raubtierinstinkten angedeutet, die im Menschen noch wohl schlummern, wenn auch nicht in jedem Exemplar in demselben Ausmaß. Die ursprünglichen, wilden Triebe sind noch am stärksten bei „Weibern“ und Dichtern, die mit großen Raubkatzen verglichen werden; auf die letztgenannten bezieht sich das Lied des alten Zauberers: […] Feindselig solchen Wahrheits-Standbildern, in jeder Wildnis heimischer als vor Tempeln, voll Katzen-Muthwillens, durch jedes Fenster springend husch! in jeden Zufall, jedem Urwalde zuschnüffelnd, süchtig-sehnsüchtig zuschnüffelnd, dass du in Urwäldern unter bunt gefleckten Raubthieren sündlich-gesund und bunt und schön liefest, mit lüsternen Lefzen, selig-höhnisch, selig-höllisch, selig-blutgierig, raubend, schleichend, lugend liefest: – (Za, 372)

In diesen Worten, die zwar vom Zauberer, und nicht von Zarathustra als eigentlichem Sprachrohr Nietzsches stammen, offenbaren sich Bewunderung und Respekt für die Stärke des Instinktes, die in dem ganzen Werk deutlich zum Ausdruck kommen. Manche Aspekte der Lehren Zarathustras erinnern an Darwins Theorie – in ihrer vereinfachten, gängigen Form, in der auch Nietzsche (eigentlich Anti-Darwinist) sie rezipiert hat24 – d.h. sie erinnern an die These, dass die starken und anpassungsfähigen Individuen die Entwicklung 23 24

Braun (wie Anm. 9), S. 72. Ottmann (wie Anm. 8), S. 212–213.

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ihrer Gattung bestimmen. Eine solche bewusste oder unbewusste Anspielung wäre z.B. der Ausruf: „O meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stossen!“ (Za, 261) oder die Passage, in der tatkräftige, ja kampflustige Menschen gelobt und aufgemuntert werden: „Bessere Raubthiere sollen sie also werden, feinere, klügere, menschen-ähnlichere: der Mensch nämlich ist das beste Raubthier.“ (Za, 263) Das Besondere an dieser Behauptung ist nicht die Feststellung, dass die menschliche Natur trotz jahrhundertelanger Zivilisation den ursprünglichen Reflexen ausgeliefert ist, auch nicht, dass diese Regungen als das Animalische im Menschen25 aufgefasst sind, sondern die Entschiedenheit, mit der die natürlichen, unreflektierten Triebe v.a. der Jagd und des Kampfes bejaht werden. Zum Teil ist es durch den Widerstand gegen den Herden-Instinkt zu erklären, in dessen Folge starke, selbstständige, einsam lebende Tierexemplare als vorbildhaft angeführt werden. Ihre Selbstgenügsamkeit wird in anthropomorphischen Kategorien als Stolz, Würde und Vornehmheit gedeutet, die dazu noch angeboren und dadurch voller Grazie sind (im Sinne der Auffassung Kleists in Über das Marionettentheater). Das trifft vor allem auf die flinken Raubkatzen zu, wie Löwe und Panther, aber auch auf alle Raubtiere, die in ihrem Verhalten die „Unschuld in der Begierde“, „Unschuld des Raubtier-Gewissens“ demonstrieren, auf die Menschen-Heuchler neidisch und voll Ressentiments reagieren, weswegen sie von Zarathustra zurechtgewiesen werden: „Euch fehlt die Unschuld in der Begierde: und nun verleumdet ihr drum das Begehren!“ (Za, 157). Die Behauptung, der pure Raub-Instinkt sei die eigentliche Reizquelle, wäre nicht ganz richtig, so wie auch die Aufforderung, „bessere Raubtiere“ zu werden, kein Aufruf zur Grausamkeit und Bestialität ist, sondern zum Mut und autonomen Handeln: Nietzsche plädiert zwar für eine Überwindung von Herdenmentalität und Hundenatur, jedoch propagiert er, anders als auf den ersten Blick zu vermuten, keine Rückkehr zur Wolfsnatur. […] Die höheren Typen sind nicht bestialischer im Sinne von ursprünglicher, ihr Handeln ist viel eher Ausdruck einer größeren Souveränität; hierzu bedarf es vor allem der Distanz.26

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Es gibt in Also sprach Zarathustra mehrere Beispiele dafür, dass durch die Tier-Metapher das Unbewusste des Menschen versinnbildlicht wird: „Was ist dieser Mensch? Ein Knäuel wilder Schlangen, welche selten bei einander Ruhe haben, – da gehn sie für sich fort und suchen Beute in der Welt.“ (Za, 46) „In die freie Höhe willst du, nach Sternen dürstet deine Seele. Aber auch deine schlimmen Triebe dürsten nach Freiheit. Deine wilden Hunde wollen in die Freiheit; sie bellen vor Lust in ihrem Keller, wenn dein Geist alle Gefängnisse zu lösen trachtet.“ (Za, 53). Braun (wie Anm. 9), S. 91–92.

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Am Beispiel von Raubtieren ist diese Souveränität womöglich besser sichtbar, aber die Unschuld und zugleich eine gewisse Vollkommenheit des Daseins ist etwas, was Nietzsche durch Zarathustra den Tieren generell zuerkennt. Zwar ist diese Vollkommenheit, verstanden als Freiheit von quälendem Grübeln und Zweifeln, ein Resultat der Unfähigkeit zur vertieften (oder jeglichen) Reflexion, wie bei besagten Kühen, und als solche nicht sehr ansprechend, doch die Freiheit zu ungebändigtem sinnlichem Erlebnis fällt durchaus positiv aus: „Dass ihr doch wenigstens als Thiere vollkommen wäret! Aber zum Thiere gehört die Unschuld. Rathe ich euch, eure Sinne zu tödten? Ich rathe euch zur Unschuld der Sinne“ (Za, 69) Diese Unschuld, die man auch Natürlichkeit, Naivität im positiven Sinne nennen könnte, wäre aus der Perspektive des Menschen sogar beneidenswert. Zu diesem Naturzustand zurückzukehren ist aber nicht möglich, zu sehr ist das innere Tier im Menschen kulturell gezähmt und überformt worden. Doch die Sehnsucht danach hält die Erinnerung an das Animalische und Naturhafte wach, zugleich ist sie das genuine Merkmal des Menschen: „[…] er ist ein sich selbst sehnsüchtig transzendierendes Tier […].“27 Der Trieb zu Über-Sich-Hinaus-Gehen bestätigt die menschliche Position im Dazwischen – zwischen Tier und Übermensch – von der wir ausgegangen sind. Als Tier nicht mehr „vollkommen“ und mit dem Übermenschen als einem unerreichbaren Ziel vor Augen wird er wohl immer in diesem Zwiespalt verharren. Seine Sehnsüchte richten sich dabei nicht nur hinauf, sondern auch hinab. Die vertikal aufgebaute Wertehierarchie ist bei Nietzsche ziemlich konsequent beibehalten: Zarathustra lebt auf dem Berg, zu ihm und seiner Lehre steigen nur einzelne „höhere Menschen“ usw. Die Tiere würden sich in dieser Konstellation auf dem Gegenpol zu Über-Menschen, also unten befinden. Doch das Bild des Menschen als des Seils „über dem Abgrunde“, mit dem dieser Artikel anfängt, relativiert diese Sicht und lässt die Relation Mensch-Tier auch ‚horizontal‘, auf der gleichen Ebene sehen. Das Animalische kann nicht einfach als etwas Rückständiges, Nicht-Mehr-Brauchbares, Schamhaftes, kurz gesagt: Negatives abgetan werden. Und auch was die menschliche Natur angeht, so erweist sich ihre animalische, sinnliche Komponente wohl nicht als die schlechteste; statt sie zu verleugnen, sollte man sie vielleicht lieber pflegen und hüten und auf die Tiere nicht von oben herabsehen. Die gerechtere, ausbalancierte Haltung gegenüber den Tieren – ohne Anthropomorphisierung auf der einen und Reifizierung auf der anderen 27

Konstanze Schwarzwald: Die Sehnsucht nach dem Großen. In: Volker Caysa/ Konstanze Schwarzwald (Hrsg.): Nietzsche–Macht–Größe. De Gruyter: Berlin/Boston 2012, S. S. 247–257, hier S. 252.

Nietzsches Ansichten zum Tier- und Menschsein

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Seite – ist aber nur dann möglich, wenn sie als autonome, lebende und fühlende Subjekte wahrgenommen werden. Dafür ist die Perspektive in Also sprach Zarathustra viel zu einseitig. Die vorgenommene Poetik moralisierender Rede, mit den vielen Parabeln und Gleichnissen, bestimmt die Sicht- und Sprechweise und lässt die Tiere zu flachen allegorischen Bildern verkrüppeln.28 Auch die stolzen, freien und klugen Tiere Zarathustras sind keine souveränen, auf tierische Art handelnden Subjekte, sondern dienen bloß als Mittel zur Figuration bestimmter Ideen, wie derjenigen der ewigen Wiederkunft des Gleichen. In diesem Sinne, obwohl manche sogar menschliche Sprache sprechen, kommen die Tiere in Nietzsches Werk an keiner Stelle richtig zu Wort. Die durchgehend rhetorische Diktion des Textes instrumentalisiert und beraubt sie aller individualisierender Merkmale. Auch wenn ihre stereotype Bedeutung (selten) hinterfragt wird, entwickeln sie sich nie zu vollblütigen Lebewesen, sondern bleiben flach skizziert, nur Mittel zu einem übergeordneten Zweck – der Belehrung des Menschen in seinem Menschsein.

Bibliographie

Acampora, Christa Davis / Acampora, Ralph  R. (Hrsg.): A Nietzschean Bestiary: Becoming Animal Beyond Docile and Brutal. Rowman & Littlefiled Publishers: Lanham Md 2003. Biedermann, Hans: Leksykon symboli (Org. Knaurs Lexikon der Symbole). Aus dem Deutschen von Jan Rubinowicz. Muza: Warszawa 2003. Braun, Stephan: Nietzsche und die Tiere oder: Vom Wesen des Animalischen. Königshausen & Neumann: Würzburg 2009. Kłosiewicz, Olga: Zwierzęta Zaratustry. Symbolika świata zwierzęcego w pismach Friedricha Nietzschego. Uniwersytet Warszawski: Warszawa 2011. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Kritische Studienausgabe  4. Hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. dtv/De Gruyter: München 2005. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Giorgio Colli/ Mazzino Montinari. dtv/De Gruyter: München/New York 1986. 28

In diesem Sinne erinnert die Präsentation der Tierwelt bei Nietzsche, besonders in Also sprach Zarathustra, an mittelalterliches Bestiarium (wenn auch ohne deutlich fiktive und märchenhafte Exemplare), was in der Forschung u.a. in folgenden Werken mit bezeichnenden Titeln hervorgehoben wurde: Richard Reischka: Nietzsches Bestiarium. Omega: Stuttgart 2003; Christa Davis Acampora/Ralph R. Acampora (Hrsg.): A Nietzschean Bestiary: Becoming Animal Beyond Docile and Brutal. Rowman & Littlefiled Publishers: Lanham Md 2003.

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Karolina Sidowska

Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Ders.: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1970–1873. Kritische Studienausgabe 1. Hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. dtv/De Gruyter: Berlin/New York 1988. Ottmann, Henning (Hrsg.): Nietzsche-Handbuch. Metzler: Stuttgart 2011. Reischka, Richard: Nietzsches Bestiarium. Omega: Stuttgart 2003. Schwarzwald, Konstanze: Die Sehnsucht nach dem Großen. In: Volker Caysa/ Konstanze Schwarzwald (Hrsg.): Nietzsche–Macht–Größe. De Gruyter: Berlin/ Boston 2012, S. 247–257. Sommer, Andreas Urs: Große Menschen züchten? Nietzsche anti Darwin. In: Volker Caysa/Konstanze Schwarzwald (Hrsg.): Nietzsche–Macht–Größe. De Gruyter: Berlin/Boston 2012, S. 171–187. Ulrich, Antonia: Äffen und NachschAffen. kunsttexte.de 2/2005, Online: https:// www.academia.edu/23327270/_%C3%84ffen_und_NachschAffen_in_kunsttexte_ de_2_2005_. (Zugriff: 27.12.2020).

Teil II Beschützt, begleitet

Der Bauer, der Hund und der Soldat. Ein Gedicht von Karl Kraus und sein Umfeld Sigurd Paul Scheichl Abstract Karl Kraus liebte Tiere und insbesondere Hunde; sie kommen in seiner Lyrik mehrfach vor. Er rechnete auch mit der Tierliebe seiner Leserinnen und verwendete daher das sinnlose Leid der Tiere im Weltkrieg in seiner Antikriegsdichtung. Ein Beispiel dafür ist das Gedicht Der Bauer, der Hund und der Soldat (1917), in dem er einen Vorfall soldatischer Grausamkeit gegen einen wolhynischen Hirtenhund mit einem virtuosen Reimschema, mit einer Anspielung auf Matthias Claudius und mit anderen Stilelementen zu einer hochpathetischen Anklage gegen den Krieg stilisiert.

Schlüsselwörter Tierliebe, Tierquälerei, Erster Weltkrieg, Antikriegslyrik, Reim Der Bauer, der Hund und der Soldat (Wolhynien) „Der Hund ist krank! Was fehlt dem armen Hunde?“ „Er ist verwundet, Herr. Das ist der Krieg, und davon eben hat er seine Wunde.“ Der Bauer sprach’s und streichelt’ ihn und schwieg. „Wie aber, wann und wo empfing die Wunde der arme Hund? Er kann ja gar nicht gehn!“ „Herr, es ist Krieg und da ist es dem Hunde, er stand so da, da ist es ihm geschehn. Der Hund stand da und da kam ein Soldat, der ging vorbei und stach nach meinem Hunde, der keinem Menschen was zu leide tat, nie biß er wen, nun hat er seine Wunde. Seht ihn nur an, es war ein gutes Tier, er dient mir lang’, und in der weiten Runde der beste Schäferhund, er führte mir das Vieh allein, nun hat er seine Wunde.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/97838467

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Sigurd Paul Scheichl Seht, wie er hinkt. Das tut er seit der Stunde, da der Soldat vorbeikam, der Soldat, der stach nach meinem alten Schäferhunde, der keinen Menschen noch gebissen hat.“ „Und warum, glaubt ihr, bracht’ er ihm die Wunde, der Mann dem Hund die schwere Wunde bei? Der Hund ist stumm, sein Blick befiehlt dem Munde für ihn zu sprechen, sprecht nur frank und frei.“ „Wir wissen’s nicht. Doch wißt ihr’s selbst wie wir, daß Krieg ist. Mir und meinem armen Hunde und Gott und jedem Kind und auch dem Tier ist es bekannt, und Krieg schlägt jede Wunde. Ich sagt’s euch Herr, der Mann war ein Soldat und wer die Waffe hat, der schlägt die Wunde. Wißt ihr denn nicht, wie viel’s geschlagen hat in dieser gottgesandten Zeit und Stunde?“ „So solltet ihr, daß er vom Schmerz gesunde, das arme Tier sogleich mit Gift vergeben. Erschießt ihr ihn, wißt ihr, daß eine Wunde auch Wohltat sei, und helft ihm aus dem Leben!“ „Ach Herr, ich ließ’ es nimmermehr geschehn, ich kann nur leiden mit dem armen Hunde. ’s ist Krieg, ich kann ein Huhn nicht sterben sehn, ’s ist Krieg, da, wißt ihr, gibt es manche Wunde. Der Hund war gut, vorbei ist’s mit dem Hunde, seit der Soldat vorbeiging, ’s ist der Krieg. Man muß es nehmen, was sie bringt die Stunde.“ Der Bauer sprach’s und streichelt’ ihn und schwieg.

*** In seiner Zeitschrift Die Fackel1 berichtete Kraus regelmäßig über seine Vorlesungen, deren Ertrag er manchmal teilweise, oft zur Gänze wohltätigen Zwecken widmete. Im Sommer 1914 hieß es über seine Vorlesung vom 9. Juni: „Der gesamte Reinertrag dieser Sondervorlesung – 559  Kronen  18  Heller – floß dem Tierschutzverein zu.“ (F 400–03, 1914, S. 48). Solche Spenden an den

1 Aus der Fackel wird mit F, Angabe der Nummer, des Jahrs und der Seitenzahl zitiert.

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Wiener Tierschutzverein werden bis 1926 noch mehrfach dokumentiert,2 der allerdings nie mehr der alleinige Empfänger solcher Spenden gewesen ist. Warum er nach 1926 nicht mehr bedacht worden ist, wissen wir nicht. In Kraus’ Wohnung befand sich eine Dankurkunde des Vereins für seinen Förderer.3 Jens Malte Fischer hat in seiner großen Kraus-Monografie als erster in einiger Ausführlichkeit auf Kraus’ Liebe zu Tieren als Motiv seines Werks aufmerksam gemacht und ihr einen kleinen Abschnitt gewidmet.4 Kraus mochte Tiere nicht nur abstrakt, sondern er liebte auch ganz bestimmte Tiere, insbesondere Hunde und da wieder besonders die Hunde seiner Freundin, der böhmischen Schlossherrin Sidonie von Nádherný. Bei seinen häufigen Besuchen auf Schloss Janowitz lernte er diese Tiere kennen und lieben, sie kommen auch in seinen Briefen an die Baronin vor. Auf den Tod ihres Leonbergers Bobby hat er 1917 das Gedicht Als Bobby starb geschrieben, in dem er sich als genauer Beobachter des verstorbenen Hunds zeigt.5 Er selbst hat nie einen Hund besessen. Als Bobby starb hat Kraus bis 1925 fast 20 Mal in seine Vorlesungsprogramme aufgenommen, sehr oft in Verbindung mit anderen „Worten in Versen“, die einen Bezug zu Bobbys Herrin haben – was dem Publikum, mit Ausnahme einiger weniger Freunde, selbstverständlich nicht bewusst war. Ich konzentriere mich auf ein anderes Hunde-Gedicht von Kraus,6 ein Antikriegsgedicht, das sich auf einen Hund bezieht, den Kraus nicht gekannt hat. Er verarbeitet einen Bericht seines Bekannten Max Lobkowitz, eines böhmischen Hochadligen, der während seines Frontdiensts von der sinnlosen Grausamkeit eines Soldaten gegenüber dem Tier gehört hat. Später erwähnt Kraus ausdrücklich, wem er „das Kriegserlebnis des Gedichtes“ verdankt.7 Für die Analyse von Werken Kraus’ ist immer ein Blick auf ihre Stellung in den sehr bewusst aufgebauten Fackel-Heften bzw. in den ebenso genau 2 Vgl. F 508–13, 1919, S. 29 über die Vorlesung V 126 vom 10.11.1918; F 601–07, 1922, S. 93 über den Ertrag der Vorlesung V 249 vom 22.10.1922; F 640–48, 1924, S. 102, über V 275 vom 18.10.1923; F 679–85, 1923, S. 50, über V 320 vom 08.02.1925; F 706–11, 1925, S. 94 über die gespendeten Erträgnisse des Vorlesungszyklus (V 350 – V 359) im Oktober/November 1925 u.a. an den Tierschutzverein; F 717–23, 1926, S. 39; über Spenden aus dem Ertrag mehrerer Vorlesungen vom Jänner 1926. Die auf Christian Wagenknecht beruhende Nummerierung der Vorlesungen folgt https://www.kraus.wienbibliothek.at/der-vorleser/700%20Vorlesungen. Dort auch Faksimiles der gedruckten Vorlesungsprogramme. 3 Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher. Biografie. 2. Aufl. Zsolnay: Wien 2020, S. 22. 4 Ebd., S. 607–611. 5 Als Bobby starb. In: F 454–56, 1917, S. 63f. Wieder in Worte in Versen II, 1917; jetzt in: Karl Kraus: Gedichte. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1989, S. 116f. = Werke 9. 6 Der Bauer, der Hund und der Soldat, in: Gedichte, ebd., S. 163f. 7 F 531–43, 1920, 119; vgl. Fischer (wie Anm. 3), S. 468.

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geplanten Büchern wichtig. Das lässt sich an Worte in Versen III (Ende Dezember 1917) exemplarisch zeigen. Genau im Zentrum des Buchs steht Die letzte Nacht (Aus dem Epilog zu der Tragödie „Die letzten Tage der Menschheit“) – eine für den Zeitpunkt des Erscheinens sehr kühne Veröffentlichung. Unmittelbar vor diesem 15. Text des Bands steht Meinem Franz Grüner, Verse zum Gedenken an einen gefallenen Freund, unmittelbar nach ihm Meinem Franz Janowitz, ein Sonett auf den gefallenen Dichter, der ebenfalls Kraus nahe stand. Ebenso entsprechen einander Vision des Erblindeten und Zwei Soldatenlieder und schließlich Der Bauer, der Hund und der Soldat, das diese Gruppe von Versen gegen den Krieg eröffnende Gedicht, und Krieg, das sie abschließt. Der Bauer, der Hund und der Soldat und Krieg sind überdies durch ihr Motiv eng verbunden: In beiden spricht ein Bauer, jener klagt über die schwere Verletzung seines Hundes (wie man angesichts der Wortformen im Gedicht den Genitiv zu schreiben geneigt ist), dieser über die willkürliche Zerstörung seines Bienenstocks durch Soldaten. Die Stellung des Gedichts an der Spitze dieser Anklagen gegen den Krieg, die das Zentrum des Buchs bilden, unterstreicht das Gewicht der Verse für den Satiriker, hebt ihre Bedeutung hervor. Die Anordnung des Fackel-Hefts, in dem das Gedicht – nach dem Erscheinen im Gedichtband – gedruckt wurde (F 484–98, Oktober 1918), ist ähnlich: Auch da stehen Meinem Franz Janowitz, Die letzte Nacht und Meinem Franz Grüner im Zentrum; vor und nach dieser Gruppe stehen jeweils ein anderer Text und dann, einander entsprechend, Krieg und Der Bauer, der Hund und der Soldat, also gegenüber dem Gedichtband in umgekehrter Anordnung. An beiden Orten, in der Zeitschrift wie im Buch, steht Der Bauer, der Hund und der Soldat eindeutig im Zusammenhang mit anderen Anklagen gegen den Krieg, gegen den Krieg als Ursache unendlichen Leids, zu dem auch das Leid der Tiere gehört. Bis zu einem gewissen Grad legt bereits dieser Kotext die Thematik der Verse fest. Es wäre zu aufwändig, die Programme der – zahlreichen (etwa 30) – Vorlesungen zu analysieren, in denen der Autor dieses Gedicht vorgetragen hat;8 die Vorlesungen waren kaum weniger bewusst strukturiert als die Hefte der Zeitschrift und die Bücher. In der ersten Vorlesung, in der Kraus das noch ungedruckte Gedicht gesprochen hat, folgt es auf das politische Gedicht gegen den Krieg Mit der Uhr in der Hand und auf Krieg; nach Der Bauer, der Hund und der Soldat wurde das bereits gedruckte Als Bobby starb vorgetragen, wegen des gemeinsamen Motivs ‚Hund‘. Mehrfach hat Kraus Der Bauer, der Hund und der Soldat mit anderen Texten an das Ende von Vorlesungen gestellt, also an eine 8 Zuerst aus dem Manuskript in V 109 am 02.12.1917 in Wien, zum letzten Mal in V 587 in Breslau am 15.03.1931.

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besonders ausgezeichnete Stelle, einige Male in Verbindung mit dem KantGedicht Zum ewigen Frieden, nicht selten mit Gedichten, mit denen es in Worte in Versen III erschienen ist. Der Kontext des Gedichts in den Vorlesungen ist somit der gleiche wie in Buch und Zeitschrift. Dass er dieses Gedicht so gerne vorgetragen hat, ist wohl nicht nur mit seinem kriegsfeindlichen Thema zu erklären, sondern auch mit der kalkulierten Klangwirkung der Verse, die auf der häufigen Wiederholung der Reimwörter und der Dominanz eines Reims beruht. Wer die erhaltenen Aufnahmen von Kraus’ Lesungen – besonders die von Zum ewigen Frieden und von Die Raben – gehört hat,9 kann sich die Wirkung des Gedichts in den Vorlesungen annähernd vorstellen, so fremd uns an sich der Rezitationsstil von Karl Kraus geworden ist. Das Umfeld, in dem das Gedicht steht, ist eindeutig: Der Bauer, der Hund und der Soldat ist vor allem ein Antikriegsgedicht. Die Grausamkeit gegen ein Tier steht stellvertretend für alle Grausamkeit des Kriegs. Wie das im Einzelnen gestaltet ist, wird nun zu zeigen sein. Das Gedicht hat eine sehr einfache traditionelle Form: Es besteht aus 11  vierzeiligen Strophen mit dem Reimschema abab. Die Verse sind fünfhebig jambisch; alle halten sich genau an diesen metrischen Rahmen. Dass sich in jeder Strophe der Reim auf „Wunde“ findet, manchmal in den geraden, manchmal in den ungeraden Zeilen, weicht allerdings von der Tradition ab, die solche Reimhäufungen nicht kennt. Die Versschlüsse, die nicht auf „Wunde“ reimen, teils in geraden, teils in ungeraden Zeilen, enden mit betonten Silben. Der mit Ausnahme der Reime recht einfache metrische Bau stimmt zur Annäherung des Gedichts an die Form der Volksballade; neben dem durch das Motiv verwandten Krieg ist Der Bauer, der Hund und der Soldat als eines der ganz wenigen Gedichte von Kraus mit einem erzählenden Element eine Ausnahme in seinem lyrischen Schaffen. Die einfache Syntax, die Dialogform und die Wiederholungen, insbesondere die Wiederholung von „Der Bauer sprach’s und streichelt’ ihn und schwieg.“ am Ende der ersten und der letzten Strophe, aber auch die variierende Wiederholung von „’s ist Krieg“ in Z. 2, 7, 26, 39, 40, 42 erinnern ebenfalls an die Ballade. Zum Balladenton passt ferner die Verwendung von „vergeben“ (Z. 34) mit der alten Bedeutung ‚vergiften‘. Das Claudius-Zitat „’s ist Krieg“ – aus Kriegslied – stellt eine Verbindung zu einem Lyriker her, dessen Einfachheit Kraus liebte und den er gelegentlich auch in seine Vorlesungsprogramme aufnahm; Kriegslied hat er zuerst 1916

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Karl Kraus liest aus seinen Schriften. Preiser Records: Wien 1989.

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vorgetragen,10 1917 und später übrigens in Verbindung mit Claudius’ Gedicht Als der Hund tot war. Indirekt könnte Der Bauer, der Hund und der Soldat also auch auf diese Verse anspielen. Die Wendung „’s ist leider Krieg“ aus Kriegslied hat Kraus in der Werfel-Satire Dorten von 1917 ausdrücklich hervorgehoben.11 Zur bewussten Einfachheit stimmt die Vorliebe für kurze, ein- und zweisilbige Wörter; ich habe nur acht Wörter mit mehr als zwei Silben gefunden. Das steht allerdings in einem gewissen Gegensatz zum Gebrauch der alten und poetischen nicht-apokopierten Dativform „Hunde“, die für den Reim notwendig ist. Vielleicht soll dieser Gegensatz aber „Hunde“ noch mehr hervorheben. Die Dominanz des Reims auf „Wunde“ sichert dem Gedicht eine besondere Klangwirkung; angesichts der grundsätzlichen Bedeutung, die der Reim für Kraus hatte – Fischer sieht in ihm sogar das „Zentrum seines Sprachdenkens“12 – ‚ darf man darin nicht nur einen äußeren Effekt sehen. Zur Klangwirkung trägt bei, dass die Reimwörter auch im Inneren der Verse vorkommen, „Hund“ und „Schäferhund“ auch im Nominativ, „Wunde“ im Partizip „verwundet“ (2). Zumal „Hunde“ und „Wunde“ entsprechen einander auch gedanklich; der Reim hebt insbesondere die Bedeutung der „Wunde“ zusätzlich hervor, um die es ja vor allem geht. Insgesamt kommen die Reimwörter 31 Mal vor, im Versinneren zumeist ohne das auslautende -e. Dazu kommt noch die Konjunktion „und“, die in Z. 26–28 sogar gehäuft auftritt. Auch andere Reime wiederholen sich: In der Strophe  I und XI, also am Beginn und am Schluss, reimen „Krieg“ und „schwieg“, in III, V und VIII steht „Soldat“ im Reim. Mit wenigen Ausnahmen sind alle Reimwörter für die Thematik des Gedichts wichtig. Klanglich fällt noch die w-Alliteration in Z.  5 auf, die die Interrogativadverbien in Verbindung mit der „Wunde“ bringt, und noch einmal in der VII. und VIII. Strophe. Das „Wir wissen’s nicht.“ (25) – „wissen“ wird in dieser Zeile und noch einmal in Z. 31 wiederholt – ist durch die Alliteration mit dem zentralen Satz „und wer die Waffe hat, der schlägt die Wunde“ (30) verbunden, dessen Bedeutung durch dieses klangliche Mittel besonders unterstrichen wird. Ein weiteres Mittel klanglicher Hervorhebung ist es, wenn Kraus in einer Zeile auf eine Reihe einsilbiger Wörter am Ende des Verses ein zweisilbiges 10 11 12

In V 94 vom 04.12.1916; das Gedicht hat er auch nach dem Krieg mehrfach gelesen, zuletzt 1933. F 445–54, 1917, S. 137. Fischer (wie Anm. 3), S. 378.

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folgen lässt, wie in Z. 9 („Der Hund stand da und da kam ein Soldat“) und Z. 29, wo ebenfalls „Soldat“ nach acht einsilbigen Wörtern am Ende des Verses steht. In Z. 18 wird das Wort „Soldat“ wiederholt; nur in Z. 42 verzichtet Kraus auf ein besonderes Unterstreichen dieses Worts (will man nicht das Aufeinanderfolgen von „vorbei“ und „vorbeiging“ so verstehen). Zu den wenigen metrischen Besonderheiten von Der Bauer, der Hund und der Soldat gehört es, dass vor „Soldat“ jeweils eine Silbe steht, die in der Skansion betont sein müsste, in der Rezitation aber nicht betont wird. Sonst arbeitet Kraus in diesem Gedicht nur wenig mit den Möglichkeiten, die das Metrum bietet. Allenfalls ist Z. 28 zu beachten, in der „schlägt“ eigentlich an der Position einer Senkung steht, aber doch wohl betont gesprochen werden muss, so dass mit „Krieg schlägt jede Wunde“ drei betonte Silben aufeinander folgen, was die Wichtigkeit der Stelle herausarbeitet; obendrein wird „schlägt die Wunde“ (30) zwei Zeilen später wiederholt und dort durch die schon erwähnte Alliteration zusätzlich hervorgehoben. Dass hier die Bedeutung von „Wunde“ viel umfassender ist als die Verletzung des Hundes, versteht sich von selbst. Die Grundstruktur des Gedichts ist ein Gespräch zwischen einem nicht näher bestimmten wohlmeinenden und Tiere liebenden Menschen – man kann, da Max Lobkowitz dahinter steht, aber auch wegen des genannten Schauplatzes Wolhynien an einen österreichischen Offizier denken – und einem Bauern über dessen von einem Soldaten schwer verletzten Schäferhund. Der Untertitel, der dieses Gespräch räumlich situiert, gestattet nicht nur eine Vermutung über den Gesprächspartner des Bauern, sondern die ausdrückliche Nennung dieser Landschaft betont auch, dass der im Gedicht erzählte Vorfall authentisch ist; Wolhynien, ein Gebiet des damaligen Russisch Polen (heute in der Ukraine), war ein wichtiger Kriegsschauplatz an der Ostfront. Der Wohlmeinende stellt zunächst Fragen; der Bauer antwortet ausführlich, wobei er sich mehrfach wiederholt. Den Vorfall, bei dem der Hund verletzt worden ist, stellt er in den Strophen VII und VIII dar. Für eine Deutung der Verse möchte ich vom Wort „verwundet“ (2) ausgehen, damals ein häufiges Wort, denn von verwundeten Soldaten war seit 1914 in den Medien und im alltäglichen Gespräch jeden Tag die Rede. Durch die Wahl dieses Partizips, das sich in der Regel – und erst recht in Kriegszeiten – auf Menschen bezieht, wird das verletzte Tier mit den menschlichen Opfern militärischer Gewalt gleichgesetzt. Das nimmt die Strophen IX und X vorweg, in denen sich der Bauer weigert, seinen Hund durch einen Gnadentod von seinen Schmerzen zu erlösen. Dass „verwundet“ in Z. 2, „Wunde“ erst in Z. 3 steht, stellt von vornherein eine Beziehung des dominanten Reimworts – es

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kommt 10 Mal vor,13 davon nur einmal (22) im Versinneren – zum Menschen her, nicht nur zum „Hunde“, mit dem es durch den Reim so eng verbunden ist. Die Verallgemeinerung des Einzelfalls auf das Leiden aller im Krieg ist so schon in diesem „verwundet“ am Beginn des Gedichts angelegt. Verursacher der Wunde ist „ein Soldat“ (9); er wird 5 Mal genannt, mehrfach im Reim. Auf ihn bezieht sich, verallgemeinernd, der schon erwähnte V. 30: „und wer die Waffe hat, der schlägt die Wunde“. Die Zeile ist durch Reimwort und Alliteration als besonders wichtig markiert; sie ist auch eine Verallgemeinerung zu „der Mann war ein Soldat“ in der vorhergehenden Zeile. Dazu kommt die Parallele zu Z. 28: „und Krieg schlägt jede Wunde“ und die Wiederaufnahme von „schlagen“ mit einer anderen Bedeutung in Z. 31: „wie viel’s geschlagen hat“. Denn „Wunde“ reimt nicht nur auf „Hunde“, sondern auch auf „Stunde“ (17, 36, 43). Die „Stunde“ gehört damit ganz eng zum „es ist Krieg“ (7) und dessen Variationen; der Reim auf „Wunde“ drückt durch die klangliche Gemeinsamkeit eine gedankliche Beziehung zwischen der Zeit und ihren Folgen aus. „Stunde“, zumal in der pathetischen Formel „in dieser gottgesandten Zeit und Stunde“ (32), ist ein Wort, dessen Bedeutung im Gedicht nicht unterschätzt werden darf. Es bezeichnet einerseits den Augenblick der Verletzung (17), andererseits aber überhaupt die Zeit des Kriegs (32, 43); man muss wissen, „wie viel’s geschlagen hat“ (31). Grunderfahrung in dieser Zeit ist eben das Leiden – sowohl das des Bauern (besonders Strophe X und XI) als auch und vor allem das des „guten Tiers“ (13). Der Schmerz des grund- und sinnlos verwundeten Hundes ist für den Dichter Mittel der Anklage gegen die Gewalt: „wer die Waffe hat, der schlägt die Wunde“ (30). Und er schlägt sie eben nicht nur dem ‚Feind‘ (von dem hier übrigens gar nicht die Rede ist), dem anderen Menschen, sondern er schlägt sie auch dem ganz unbeteiligten, friedlichen Tier, dessen Leid ein weiterer Grund für die Anklage des Kriegs ist. Wichtig – auf dem Hintergrund von Kraus’ Bild des Kriegs – ist das mehrfach herausgearbeitete Zufällige an der Verletzung des Hundes. Das wird in Z. 9f. explizit gesagt; nirgends wird ein Grund für die Untat des Soldaten angegeben; noch in Z.  42 heißt es: „seit der Soldat vorbeiging“. Ausdrücklich wird auch von der Harmlosigkeit des Tiers gesprochen (12, 20) – auch mögliche Angst vor einem Biss wird als Ursache für das Handeln des Soldaten ausgeschlossen. Zur Atmosphäre der apokalyptischen „Stunde“ gehört auch der Gegensatz zwischen Bauer und Soldat: Dieser „ging vorbei und stach nach meinem Hunde“ (10), ohne Grund, zufällig, eben im Vorbeigehen. Ganz anders das Verhältnis des Bauern zu seinem Schäferhund, der die Leistung des Tiers preist 13

„Hunde“ kommt sechs  Mal vor, ein Mal „Schäferhunde“; „Hund“ sechs Mal, ein Mal „Schäferhund“.

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(IV), seine Gutmütigkeit (12, 20) lobt, der mit dem Tier leidet (38) und der sich nicht vorstellen kann, das geliebte Tier zu töten, um es von seinem Schmerz zu erlösen. Diese Kontrastierung des Bauern und des Soldaten geht über die Anklage des Kriegs hinaus; da geht es um ein richtiges und ein falsches Verhältnis zwischen Mensch und Tier, eine Dimension von Der Bauer, der Hund und der Soldat, die man nicht übersehen sollte; es spiegelt sich auch im Reimen von „Tier“ auf die Personalpronomina „mir“ (15) und „wir“ (25). Dass der Bauer, der mit seinem Hund leidet, in Wolhynien lebt, soll nicht nur die Authentizität dieses Kriegserlebnisses unterstreichen; denn das arme Wolhynien war ein Gebiet mit archaischen Lebensformen, in dem das Verhältnis von Mensch und Tier noch als ‚natürlich‘ gelten konnte. Das Streicheln – im Gegensatz zum Stechen –‚ das noch einmal im letzten Vers steht, bezeichnet den richtigen Umgang mit dem Tier, das dem Bauern so viel geholfen hat. Insofern nützt Kraus das Schicksal eines der unschuldigsten Opfer des Kriegs nicht nur zur emotional besonders eindringlichen Anklage gegen diesen, sondern es geht ihm auch um ein sensibles Verhältnis des Menschen zum Tier; was für den Bauern noch selbstverständlich ist, versteht der Soldat nicht mehr. Kraus geht davon aus, dass seine Leserinnen und Hörerinnen tierlieb genug waren, um noch mehr Abscheu vor dem Krieg zu empfinden, der den Tieren so viel Leid brachte. Daher schaffen einige Stellen des Gedichts Sympathie für den Hund. Dazu gehört wohl, dass er ein Schäferhund ist, also einer bekannten und beliebten Hunderasse zugehört. Er wird ausdrücklich liebevoll „ein gutes Tier“ (13), vom Wohlmeinenden ein „armes Tier“ (34) genannt, er lässt sich streicheln. Nicht zuletzt ist von seinem „Blick“ (23) die Rede, denn der Blick des Hunds gilt allgemein als besonders berührend. Zugespitzt könnte man sagen, dass der Hund stärker individualisiert ist als die Menschen in diesem Gedicht, im extremen Gegensatz vor allem zum völlig schattenhaft und anonym bleiben­ den Soldaten. Schließlich eröffnet die Anspielung auf Claudius’ Kriegslied, das mit der Zeile „’s ist Krieg! ’s ist Krieg!“ beginnt, eine weitere Dimension. Kraus ordnet sein Gedicht in eine Tradition kriegsfeindlicher Lyrik ein, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Wo er an einem Einzelfall zeigt, welche Wunden der Krieg schlägt, malt Claudius ein viel umfassenderes, allerdings weniger konkretes Panorama der Schrecken des Kriegs, das durch dieses Zitat auch in Der Bauer, der Hund und der Soldat präsent ist. Es sei noch kurz auf einige wenige von den Paralleltexten hingewiesen, in denen Kraus das Leiden der Tiere zum Anlass seiner Anklage gegen die Grausamkeit des Kriegs nimmt. Oft ist vom Quälen der Pferde die Rede,14 die ja 14

Einschlägige Stellen findet man in der digitalisierten Fackel: https://fackel.oeaw.ac.at/.

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im Ersten Weltkrieg noch militärisch wichtig gewesen sind. (Es gab übrigens auch an der Front eingesetzte ‚Kriegshunde‘.) Eindringlich ist die Glosse Vom Glück,15 die von einem Grafen Dohna-Schlodien ausgeht, der sich vor der Presse rühmte mit seinem Hilfskreuzer mehrere feindliche Schiffe mit kriegswichtiger Fracht versenkt zu haben, darunter eines mit einer Ladung von 1200 Pferden. Der Kommentar Kraus’ zum Zitat der Worte des Grafen vor der Presse: Hui, wenn der Graf Dohna-Schlodien erst das Glück haben wird, statt vor Vertretern der Presse vor solchen der Ewigkeit den Tod von 1200 Pferden zu verantworten und plötzlich vor diesen zweimal so viel erstarrten Augen, aus denen Wasser strömen wird, zu stehen und zu bekennen, er hab es den Vertretern der Presse berichtet! Wenn sie sich an ihn heranmachen werden, die 1200 toten Pferde! Wie wird dem Mute da zumute sein!

Möglicherweise gleichzeitig mit der Glosse hat Kraus die Szene IV, 45 der Letzten Tage der Menschheit geschrieben, in der er das Gespräch DohnaSchlodiens mit den Journalisten dramatisiert. Diese Szene hat er an das Ende eines Akts, des IV., gestellt, was beweist, wie wichtig ihm das Anklagen eines Seehelden gewesen ist, der auf seine grausame Tat stolz gewesen ist – und das Anklagen einer Presse, die eine solche Tat rühmt. In den Erscheinungen des letzten Akts (V, 55) kommen die versunkenen Pferde noch einmal vor;16 hier gestaltet Kraus die Vision am Ende der Glosse als szenische Vision: Die Pferde „tauchen aus dem Meer“ und sprechen Verse: „[…] Oh, Dohna, wir suchen dich auf im Traum […]“, dann verwandeln sich die zwölf Vertreter der Presse, von denen Graf Dohna umgeben ist, in zwölf Pferde; „Sie dringen auf ihn ein und töten ihn.“ Die Ordnung ist wiederhergestellt. Fast noch mehr als in Der Bauer, der Hund und der Soldat ist in der DohnaGlosse bzw. -Szene zu spüren, dass für Kraus die leidende Kreatur nicht nur ein Medium der Anklage gegen die kriegführende Menschheit ist, sondern dass er das Leid der gequälten Tiere wirklich mitfühlt. Ich nenne noch ein hochpathetisches, sehr langes Gedicht aus Worte in Versen  II (Juli 1917): Die Fundverheimlichung.17 Wie wichtig das Thema, die Grausamkeit von Menschen in Wien gegenüber einem zugelaufenen Hund, den sie grundlos töten, Kraus gewesen ist, beweist wiederum die Stellung des Gedichts in der Fackel: Es steht an ausgezeichneter Stelle, als letzter Beitrag in F 445–53, 1917 – wie die Glosse gleichen Titels, die vom Pressebericht über den Vorfall ausgeht, ebenfalls an die besonders gewichtige letzte Stelle 15 16 17

F 462–71, 1917, S. 133. Die Szene steht auch in Worte in Versen V; Kraus, Gedichte (wie Anm. 5), S. 328. Ebd., S. 108–115.

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des betreffenden Hefts gestellt worden ist.18 Hier geht es weniger um den Umgang mit Tieren im Krieg als um das Verhältnis von Mensch und Tier im Allgemeinen. Ich zitiere nur die letzten Verse über den „Mörder“, der Gottes Geschöpf mir dennoch töten würde, weil es ein Tier ist, er aber ein Mensch!

Diese Perspektive auf das Verhältnis von Mensch und Tier ist in Der Bauer, der Hund und der Soldat durch die Perspektive der Anklage gegen den Krieg ein wenig verdeckt, muss aber auch in diesem Gedicht mitbedacht werden. Abschließend noch ein paar kritische Beobachtungen zu ästhetischen Schwächen, aber auch Stärken von Der Bauer, der Hund und der Soldat. Einerseits beeindruckt Kraus’ Arbeit mit den Reimen auf „Wunde“; sie verstärkt zweifellos vor allem die klangliche Wirkung des Gedichts und hebt auch inhaltlich die für die Zeit so charakteristische Wunde hervor. Andererseits kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass Kraus hier den Reim überanstrengt. Auf jeden Fall besteht ein gewisser Widerspruch zwischen der an sich gewollten Schlichtheit des balladenähnlichen Gedichts und dem ausgebauten Reimsystem, für das vor allem die alte und eben nicht einfache Dativform „Hunde“ ganz wichtig ist, die aber – wie der Konjunktiv „gesunde“ (33) – nicht ganz zur sonst angestrebten Einfachheit der Verse passt. So scheint mir der Ton des Gedichts nicht ganz einheitlich zu sein. Vielleicht hat die Faszination durch den Reim auch dazu geführt, dass das Gedicht um eine oder zwei Strophen zu lang geworden ist. Zwar gelingt es durch diese kühne Reimkonstruktion, auch die „Stunde“, die Kriegszeit, in die Reihe der zentralen Wörter zu integrieren; andererseits wird die Leserin wegen dieser Häufung von „Wunde“-Reimen zur Ansicht gelenkt, auch „Munde“ (23) gehöre zu diesen wichtigen Wörtern, was sich aber von der Thematik her schwer begründen lässt. Ich habe den Eindruck, dass dieses Wort nur um des Reimes – doch auch des Klanges! – willen gewählt worden ist. Das gilt wohl auch für „gesunde“ (33), wenn auch in geringerem Ausmaß, da es dem Wortnetz von „Wunde“ zuzuordnen ist. Die zentralen Aussagen der Strophen VII und VIII werden durch mehrfachen Gebrauch des Verbs „wissen“ und durch „ist es bekannt“ (28) in der direkten Rede des Bauern eingeleitet. Das erscheint ein wenig zu lehrhaft, schwächt die Wirkung dieser wichtigen Verse ab. Sehr überzeugend dagegen ist die Gruppierung der drei Menschen um den im Mittelpunkt stehenden Hund. Der Bauer hat ein geradezu existenzielles 18

F 426–30, 1916, S. 90–96.

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Verhältnis zu dem Tier, das zu ihm und zu dem er gehört; der Wohlmeinende (dessen denkbare, ja wahrscheinliche Zugehörigkeit zur Armee offen gelassen wird, um ihn nicht zur Gegenfigur zum Soldaten zu machen) mag zwar Hunde und den Hund, versteht aber den Bauern nicht ganz. Der vorbeigehende und zustechende Soldat bleibt schattenhaft-unheimlich, der Repräsentant des Bösen in der „Stunde“ des Kriegs. Dass wir von ihm nur wissen, dass er Soldat ist, und sonst nichts, nicht einmal, ob er Hunde nicht mag, macht die Anklage gegen den Krieg noch wirksamer. Auch wenn das Gedicht nicht ganz perfekt scheint, gelingt Kraus doch zweierlei: das Bild der Grausamkeit des zufällig und ziellos verletzenden und tötenden Kriegs an einem scheinbar ganz belanglosen Beispiel; eine Erinnerung an eine gleichsam natürliche, selbstverständliche Beziehung von Mensch und Tier – die wie so vieles durch den Krieg gestört wird. Denn „wer die Waffe hat, der schlägt die Wunde“, „und Krieg schlägt jede Wunde“, „in dieser gottgesandten Zeit und Stunde“.

Bibliographie

Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher. Biografie. 2. Aufl. Zsolnay: Wien 2020. Karl Kraus: Gedichte. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1989. Karl Kraus liest aus seinen Schriften. Preiser Records: Wien 1989.

Internetressourcen

Karl Kraus: Die Fackel. https://fackel.oeaw.ac.at/. https://www.kraus.wienbibliothek.at/der-vorleser/700%20Vorlesungen.

Was auf dem Spiel steht: Neue Lebensansichten eines Katers (1974) Carola Hilmes Abstract Ausdrücklich nimmt Christa Wolfs ‚unwahrscheinliche Geschichte‘ Bezug auf den durch E.T.A.  Hoffmann bekannten Kater Murr; dessen Geschichte transformiert sie aktualisierend als Wissenschaftssatire, die den Kybernetik-Hype der frühen DDR kritisiert. Ihr ‚neuer Blick‘ auf die sozialistische Gesellschaft der Zukunft fällt düster aus: das moderne, ausschließlich von männlichen Akteuren betriebene Wissenschaftsprogramm scheitert. Das ‚kollektive Experimentieren‘ (B.  Latour) entwickelt sich zu einem dystopischen Programm; daran hat Kater Max, der Ich-Erzähler der Geschichte, einen wesentlichen Anteil. Ich möchte ein ‚animal reading‘ (R. Borgards) dieser Geschichte vorschlagen und dabei auch auf Donna Haraways Konzept des Companion Species eingehen. In diesem Zusammenhang wichtig ist außerdem auch die von Frederike Middelhoff vorgelegte Studie Literarischen Autozoographien (2020), die u.a. Die Lebensansichten des Katers Murr untersucht.

Schlüsselwörter Gender, Kybernetik, Satire, Kater Murr/E.T.A. Hoffmann, Christa Wolf/DDR

Bevor Christa Wolf mit den mythologischen Frauenfiguren Kassandra und Medea eine feministische Revision der abendländischen Zivilisation unternahm, hatte sie die Romantik als Projektionsraum alternativer Lebensund Schreibmodelle erprobt. Davon zeugen ihre Essays zu Karoline von Günderrode (1979) und zu Bettine von Arnim (1983) sowie der kleine Roman Kein Ort. Nirgends (1979), in dem sie eine Begegnung zwischen Günderrode und Kleist fingiert, die sich an einem Nachmittag bei einem Treffen der Freunde in Winkel am Rhein unterhalten. Weniger bekannt und im Stil anders ist die Geschichte vom Kater Max, die bereits im Titel auf E.T.A. Hoffmanns Roman Lebensanschichten des Katers Murr (1820/21) verweist; im Motto werden sie eigens zitiert.1 Bei den Neuen Lebensansichten eines Katers (geschrieben 1970, 1 Christa Wolf: Neue Lebensansichten eines Katers. In: Dies.: Gesammelte Erzählungen. 10. Aufl. Luchterhand: Frankfurt a.M. 1989, S. 97‒123, hier S. 97; die weiteren Zitate im laufenden

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/97838467

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publiziert 1974) handelt es sich um eine Wissenschaftssatire, die aus der Perspektive des Haustiers die Wissenschaftsgläubigkeit, genauer gesagt den Kybernetik-Hype der frühen DDR,2 aufs Korn nimmt. Kater Max lebt im Haushalt von Professor Rudolf Walter Barzel (45) mit dessen Frau Anita (?!) und deren Tochter Isa (16); er nennt sie seine „Wirte“, um die „veraltete Bezeichnung ‚Herren‘“ (S.  100) zu vermeiden. Kater Max gibt sich kultiviert, traditionsbewusst, moderat und angepasst, solidarisiert sich mit dem Hausherrn, einem Professor für Angewandte Psychologie, zollt ihm Respekt für sein großes wissenschaftliches Projekt und vertritt ein konventionelles, eher misogynes Frauenbild; verräterisch erwähnt er, „nicht in den Verdacht versteckter Gegnerschaft zur Frauenemanzipation zu kommen“ (S.  98). Kater Max stellt sich über die Menschen und verkehrt damit die etablierte Hierarchie: Er verhöhnt die Vernunft als Erfindung des Menschen (vgl. S.  111), erhebt sich über die Belletristik (Unterhaltungsliteratur) und ihr psychologisches Scheinwissen (vgl. S.  99), denn sich selbst fühlt er zur Dichtung (seriöser, anerkannter Literatur) berufen, wie er gleich eingangs mitteilt (vgl. S.  97). Diese offensichtliche Selbstüberschätzung etabliert eine doppelte Perspektive im bzw. auf den Text: Ist einem schreibenden Kater zu trauen? Wie unterscheiden sich schreibendes und beschriebenes Ich? Ist eine ‚Katzenschrift‘ überhaupt zu entziffern? Ausdrücklich beruft sich Kater Max, der von Isa gebieterisch Maximilian genannt wird (vgl. S. 106), auf den in der Literaturgeschichte berühmten Kater Murr als „großen Vorfahren“ (S.  97), den er zwar für liebenswert hält, aber als „wissenschaftlich nicht stichhaltig[]“ einstuft (S. 102). Das erzählende Ich misst also mit unterschiedlichem Maß: Max selbst träumt von einer Karriere als Tragödien-Dichter, während er zu Hause in bester Absicht zum Gelingen des wissenschaftlichen Projekts beiträgt, indem er die Tests manipuliert und die Karteikarten in Unordnung bringt. Diese gespaltene Erzählhaltung bezieht die Leser*innen mit ein: Sie verstehen das Augenzwinkern und reagieren mit Amüsement. Dabei könnte noch etwas ganz anderes auf dem Spiel stehen: „die subversive Kraft der Fiktion von einer Katze, die schreiben kann und sogar den Ehrgeiz hat, Schriftsteller zu werden, wie Kater Murr“,3 ist nicht so leicht zu kontrollieren, wie Sarah Kofman schreibt. Dieses literarische Wagnis gilt Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Das Motto der Erzählung lautet: „Je mehr Kultur, desto weniger Freiheit, das ist ein wahres Wort.“ Und ein Problem, denn in der Natur herrscht das Recht des Stärkeren; Freiheit könn(t)en wir nur in Gesellschaft und durch Kultur erreichen. 2 Vgl. Marcus Twellmann: Kyber-Sozialismus? Zu Christa Wolfs „Neuen Lebensansichten eines Katers“. In: DVjs 82/2 (2008), S. 322‒348. 3 Sarah Kofman: Katze und Schrift (frz. 1976). In: Roland Borgards/Esther Köhring/Alexander Kling (Hrsg.): Texte zur Tiertheorie. Reclam: Stuttgart 2015, S. 153‒160, hier S. 154f.

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auch für den Kater Max von Christa Wolf. „Auf dem Spiel steht der ‚Name des Menschen‘, die Einheit dieses Entwurfs, und das, was mit dem ‚Eigensten‘ des Menschen systematisch verknüpft ist, seine Göttlichkeit, seine Auserwähltheit, seine Herrschaft über die Welt.“4 Während Sarah Kofman diese These in ihrer Studie Autobiograffures du Chat Murr d’Hoffmann (1976) ausführt, fehlt bislang ein ‚animal reading‘ von Christa Wolfs Neuen Lebensansichten eines Katers. Im Folgenden möchte ich dazu einige Vorüberlegungen anstellen. 1.

Zwei literarische Kater: Murr & Max – hypertextuelle Umformungen

Trotz der offensichtlichen Bezugnahme Wolfs auf E.T.A. Hoffmann springen Differenzen ins Auge: Ein Analogon zur fragmentarischen Kreisler-Biographie und der sich daraus ergebenden Heterogenität des Erzähltextes fehlt. Zwar bildet auch Christa Wolf am Ende ihrer Erzählung eine Herausgeberfiktion nach, die den plötzlichen Abbruch des Manuskripts erläutert: „An der heimtückischen Katzenseuche ist er [der Kater Max] in der letzten Woche gestorben.“ (S. 123) Die nachgestellte „Anmerkung des Herausgebers“ soll also der Authentifizierung und Plausibilisierung der Aufzeichnungen dienen, sie sät aber auch Zweifel: „Unser Kater Max, falls er wirklich sein Urheber sein sollte, was schier unglaublich erscheint, hat es [das Manuskript] nicht vollenden können.“ (ebd.) Unter der erläuternden Gattungsbezeichnung „unglaubliche Geschichten“ waren die Neuen Lebensansichten eines Katers zuerst 1974 erschienen zusammen mit dem literarischen Bericht Selbstversuch und dem Traumprotokoll Unter den Linden – so auch der Gesamttitel dieser drei Erzählungen im Aufbau Verlag mit Illustrationen von Harald Metzkes. Auf die ‚Freiheit zu erfinden‘ sowie die Differenz zwischen dem Ich-Erzähler und seinen fragmentarischen Aufzeichnungen weist der fingierte Herausgeber ausdrücklich hin. Als Statement der Autorin muss man das nicht lesen, aber als Lizenz zu doppelter Lektüre. Von einer „ästhetische[n] Begradigung“5 lässt sich deshalb nur unter Vorbehalt sprechen. Wiederholt sind die Erzählungen der beiden Kater verglichen worden, meist zum Nachteil von Christa Wolf, deren Text nicht nur kürzer, sondern auch – inhaltlich wie formal – weniger komplex ist. „Neben den Bezügen 4 Ebd., S. 154. 5 Ricarda Schmidt: Ein doppelter Kater? Christa Wolfs „Neue Lebensansichten eines Katers“ und E.T.A. Hoffmanns „Lebens-Ansichten des Katers Murr“. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 4 (1996), S. 41‒53, hier S. 51.

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durch Paratextualität und Intertextualität greift diese Erzählung vor allem auf Hoffmann in der Nachahmung des Erzählstils des Katers zurück, nämlich der (durch einige Aktualisierungen ergänzten) Gattung des Komisch–Heroischen, die durch den Kontrast zwischen dem niederen Stand des Helden einerseits und seinem gehobenen Sprachstil andererseits charakterisiert ist.“6 Ricarda Schmidt tadelt die Verschiebung von der Multi- zur Univokalisierung in den Neuen Lebensansichten eines Katers: denn dadurch „resultiert Wolfs Rückführung in eine lineare, homogene Satire zwar in einer eindeutigen und leicht zugänglichen Botschaft aber einer ästhetisch vormodernen Schreibweise.“7 So streng muss man nicht urteilen. Bei genauer Lektüre dieser ‚unglaublichen Geschichte‘ bleiben genügend uneindeutige, beunruhigende Aspekte. So weist Brett Martz etwa darauf hin, dass in den Neuen Lebensansichten eines Katers die Analogie von Literatur und Wissenschaft mit literarischen Mitteln herausgestellt wird. Diese intertextuell aufgeladene, rhetorisch doppelzüngige Geschichte eines wissenschaftlich und literarisch ambitionierten Katers „uses literary means to show how science making is also narrative making, which implies that both science and literature deserve equal scrutiny and respect.“8 Deshalb zielt das parodistisch-satirische Arrangement bei Wolf letztlich auf eine herrschaftsfreie Kommunikation,9 und zwar zwischen unterschiedlichen Disziplinen sowie zwischen unterschiedlichen Genres und Gattungen – das umgreift Menschen und Tiere, Männer, Frauen und andere Dinge. 2.

Ein neuer Blick auf die sozialistische Gesellschaft der Zukunft

Der Psychologe Professor Barzel arbeitet zusammen mit dem Ernährungswissenschaftler und Physiotherapeuten Dr. Lutz Fettback (43) und dem kybernetischen Soziologen Dr. Guido Hinz (35) an dem geheimen Projekt TOMEGL (= Totales Menschenglück), einer Unterabteilung von SYMAG (= System der maximalen körperlichen und seelischen Gesundheit). Sie wollen „ein logisches unausweichliches, einzig richtiges System der rationellen Lebensführung unter Anwendung der modernsten Rechentechnik erarbeite[n].“ (S.  110f.) Die Erläuterung der dem (postulierten) zeitgenössischen Leser allgemein bekannten Abkürzungen ist für die „späteren Leser aus anderen 6 Ebd., S. 48. 7 Ebd., S. 51. 8 Brett Martz: A Renewed Look at Christa Wolf’s „Neue Lebensansichten eines Katers“. Authority, Parody, and Readers as Scientists. In: The German Quarterly 89/4 (2016), S. 411‒427, hier S. 414. 9 Ebd., S. 416.

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Galaxien“ (S. 110) gedacht. Eine vertraute Umwelt wird uns hier also in sati­ rischer Weise und in kritischer Absicht fremd gemacht. „Alle Faktoren, die zur körperlich-seelischen Gesundheit nötig oder derselben abträglich sind, waren in einer gewaltigen Kartei zusammengetragen, die, imponierend genug, als ein Block von sechsunddreißig weißen Kästen eine ganze Wand im Arbeitszimmer des Professors einnimmt und zur Nacht durch Eisenstangen blockiert und obendrein versiegelt wird.“ (S. 109) Die computergestützte Umsetzung der sozialistischen Utopie scheitert, nicht weil Kater Max Unordnung in dieses hochgesicherte ‚geheiligte System‘ der Karteikarten bringt, etwa wenn er die Karte „Anpassungsfähigkeit“ in den Kasten „Lebensgenüsse“ steckt statt sie an ihrem ‚richtigen‘ Platz „Soziale Normen“ zu belassen (vgl. S. 110). Da der Professor diese ‚geniale Umordnung‘ akzeptiert – es handelt sich hier nicht um echte Kooperation, denn Barzel rechnet sich selbst diesen Einfall zu –, beginnt der Kater „[s]eine systematische Tätigkeit zur Herbeiführung schöpferischer Zufälle“ (ebd.), wie er es nennt, und darf sich nun mit Fug und Recht zu „eine[m] Gründer von SYMAG“ (ebd.) rechnen.10 Das eigentliche Scheitern dieses (vermeintlich) zukunftsweisenden sozialistischen Wissenschaftsprogramms beginnt mit der Einsicht, „daß die Menschheit zu ihrem Glück gezwungen werden müsse“ (S. 111). Eine erschreckende Erkenntnis, die schon aus der Geschichte der Revolutionen bekannt ist. Diese abgründige Paradoxie zwingt die Wissenschaftler zur Komplexitätsreduktion der postulierten Eigenschaften des Menschen, denn er ist die einzige Variable des absolut gesetzten Systems (vgl. S. 118). So werden allmählich Werte wie Überzeugungstreue, Phantasie und Schönheitsempfinden entfernt (vgl. S. 120), mit dem Ergebnis, dass schließlich der „Normalmensch“ dem ‚vollkommenen Reflexwesen‘ entspricht (vgl. S. 121). ‚Schöpferisches Denken‘ (S. 119) wird bei dieser Revision ebenso über Bord geworfen wie ‚Vernunft‘ und ‚Sexus‘ (S. 121). Der utopische Anspruch verwandelt sich also während der Arbeit zu einem dystopischen Programm.11 Durch die Feder des Katers formuliert Christa 10

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Auch bei den „Reflexstudien“ manipuliert Kater Max die Testreihe – in bester wissenschaftlicher Absicht, versteht sich, denn er ist an schnellen, guten (und d.h. erwartbaren) Ergebnissen interessiert. „Kurz: Nachdem das Prinzip mir klar geworden, ging unsere Testreihe schnell und reibungslos vonstatten. Warum sollte ich meinem Professor nicht den kleinen Gefallen tun“ (S.  104). Wissenschaftliche Praxis arbeitet anders als vom Positivismus angenommen nicht nach dem Prinzip der Falsifikation, sondern sucht nach Bestätigung. Ein solches Vorgehen bestätigt unser Kater auf das Schönste. Es gab Bedenken der Wissenschaftler bei dieser grundlegenden Revision. Aber „[d]ie Konferenz, die auf Betreiben Professor  R.W.  Barzels zusammentrat, entschied durch Mehrheitsbeschluß, daß schöpferisches Denken zum Menschenbild gehöre und in Literatur und Kunst zu propagieren sei: daß man aber zu wissenschaftlichen

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Wolf eine Kritik am Sozialismus, insbesondere dem zum Scheitern verurteilten ‚Kyber-Sozialismus‘: „Nach einer Dekade intensiver Kybernetik-Rezeption, die in der DDR das Versprechen einer Befreiung des Menschen erneuerte, wendet Christa Wolfs 1970 geschriebene Anti-Utopie sich gegen die neue Regierungsmentalität. Im Einklang mit der westlichen Technokratie-Kritik warnt sie vor einer Technisierung der Gesellschaft“.12 In dieser Wissenschaftssatire wird Kater Max zu einem wichtigen Handlungsträger, denn er sabotiert den durch Kybernetik beabsichtigten Fortschritt. Als literarischer Kater steht er für die Zweckfreiheit von Literatur und Kunst, die in seiner Geschichte in Opposition zur Objektivität der Wissenschaften gerückt wird. Er ist nicht mehr nur Kritiker der Philister wie sein berühmter Ahnherr, sondern er entlarvt die Technokraten als blinde Rationalisten, als Apologeten einer instrumentellen Vernunft. Insofern agiert Kater Max von den Wissenschaftlern unbemerkt als ‚wahrer, besserer Mensch‘ und in diesem Sinne funktionalisiert ihn Christa Wolf als Vertreter eines sozialen Humanismus, der im Kyber-Sozialismus annulliert wird. Insgesamt bleibt das wissenschaftlichliterarische Experiment ergebnisoffen. In den Neuen Lebensansichten eines Katers gibt es einen weiteren nichtmenschlichen Mitspieler: den Computer Heinrich, der die Berechnungen zur Optimierung des menschlichen Zusammenlebens mit dem Ziel der Zufriedenheit aller anstellt, aber für die Wissenschaftler nur ‚traurige Nachrichten‘ hat. Selbst die fortgeschrittensten technischen Hilfsmittel führen nicht in eine bessere Zukunft. Wie der Kater reagiert die Maschine quasimenschlich, was durch den Eigennamen beglaubigt und den emotionalisierten, einem Brief nachgebildeten Stil der Computerausdrucke bestätigt wird.13 Wie der Kater Max gehört der kleine Computer Heinrich zum Haushalt des Professors; damit wird die Trennung von Beruf und Familie, von öffentlich und privat unterlaufen.14 Die Koexistenz von Mensch und Tier

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Versuchszwecken davon absehen könne.“ (S. 119) Durch Arbeitsteilung – hier die harte Wissenschaft, dort die schönen Künste – soll das sozialistische Gesellschaftsprojekt für die Zukunft gerettet werden. Twellmann: Kyber-Sozialismus?, S.  322. Dieser Aufsatz informiert detailliert über den „Versuch einer kybernetischen Revision des Marxismus-Leninismus“ (ebd., S. 338) in der DDR, auf den Christa Wolf mit ihrer Satire reagiert. Heinrichs erster Ausdruck lautet: „Aufgabe falsch gestellt. Einander ausschließende Regelkreise nicht zu einem funktionsfähigen System zu vereinen. Herzlichen Gruß Heinrich.“ (S. 116) Einige Seiten und Versuchsreihen weiter heißt es: „So kommen wir nicht weiter. Ich bin traurig. Euer Heinrich.“ (S. 120) Der „große Rechner in der Hauptstadt“ (S.  117) heißt GRA  7; er ist wissenschaftlich ‚nüchtern‘, weniger eloquent und klar abweisend: „NEIN, NEIN, NEIN, NEIN …“ (ebd.).

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wird unter den Bedingungen der Erzählgegenwart, die sich ausdrücklich auf die Zeit der Romantik und deren ‚Weltbild‘ bezieht, zu einer Koexistenz von Tier, Mensch und Maschine erweitert, denen jeweils agency zugeschrieben wird. Dadurch entsteht eine gemischte Perspektive, die eine implizite Kritik am Anthropozentrismus formuliert. Der Computer hat seine literarischen Ahnherren im ‚sprechenden Spielzeug‘ bei E.T.A. Hoffmann und in anderen Automaten der damaligen Zeit. Hatte man in der philosophischen Tradition den Tieren immer wieder die Seele abgesprochen und sie deshalb unter die Maschinen (sich bewegende seelenlose Dinge) gerechnet,15 werden in den Neuen Lebensansichten eines Katers sowohl Tiere als auch Maschinen zu Akteuren aufgewertet, die zusammen mit den Menschen an einer für alle unabsehbaren Zukunft arbeiten. Das von Christa Wolf entworfene kollektive Experimentieren passt zu der von Bruno Latour vorgeschlagenen Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT).16 Die neue Katzenschrift verwischt die Grenze zwischen Technik und Gesellschaft, Natur und Kultur, Subjekt und Objekt, den Menschen, Tieren und den Dingen. Ihre eigene Position zu einer „politischen Ökonomie“ ist einem anderen, späteren Text von Christa Wolf deutlicher ablesbar: Störfall. Nachrichten eines Tages (1987), „a story that highlights the interconnections between mind and matter and the agency of material things“.17 Christa Wolfs ‚sozialistischer Humanismus‘18 gründet in einer Zivilisationskritik, die einen automatisierten Rationalismus sowie die Ausbeutung und Unterdrückung der Natur anprangert. Insofern gehört sie zum ‚ökokritischen Feminismus‘,19 der sich bereits in den Neuen Lebensansichten eines Katers andeutet.

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Vgl. Roland Borgards: Zoologie. In: Ders./Harald Neumeyer/Nicolas Pethes/Yvonne Wübben (Hrsg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Metzler: Stuttgart 2013, S. 161‒167. Vgl. Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie (1999). In: Texte zur Tiertheorie, S. 218‒237. Deborah Janson: Unearthing a Post-Humanist Ecological Socialism in Christa Wolf’s „Selbstversuch“, Kassandra and Störfall. In: Sonja  E.  Klocke/Jeniffer  R.  Hosek (Hrsg.): Christa Wolf. A Companion. De Gruyter: Berlin, Boston 2018, S. 81‒95, hier S. 91. Vgl. Birgit Dahlke: Christa Wolf. Antifaschistin – Humanistin – Sozialistin. K&N: Würzburg 2019. Christa Wolf kategorische Zurückweisung des Begriffs Feminismus hat entsprechende Lektüren in den USA nicht verhindert; dort war man vor allem an einem ‚feministischen Sozialismus‘ interessiert. Vgl. Anna K. Kuhn: The Gendered Reception of Christa Wolf. In: Klocke/Hosek (Hrsg.): Christa Wolf, S. 65‒80, hier S. 70f.

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Leben in einer Männerwelt – Geschlechterkritik

Der von seinem schreibenden Haustier zum ‚Heroen der Wissenschaft‘ stilisierte Professor (vgl. S. 114) führt ein recht ungesundes Leben. Er leidet an einem Magengeschwür (vgl. S.  102), ist überanstrengt und überfordert. Sehr zum Ärger seiner Frau Anita, die ihren Frust in Likör ertränkt, leidet er auch unter Impotenz. Diese „Sexualstörung“ – der ebenso mutwilligen wie fürsorglichen Logik des Katers Max entsprechend – unter die „Genussmittel“ zu rubrizieren, ist ein satirischer Seitenhieb gegen Freuds Sublimationstheorie, der die ‚kulturellen Segnungen‘ der Unterdrückung (besser: Umlenkung) der Libido zuschreibt.20 Dieser Umordnung der Karteikarte folgt Professor Barzel nicht. Er probiert es mit autogenem Training und Diät, beides vom Kollegen Fettback verordnet. Mit vergleichbaren körperlichen Störungen hat der wissenschaftlich versierte Kater nicht zu kämpfen. Er pflanzt sich fröhlich fort und freut sich über den prächtigen Nachwuchs. Vier Junge hat er mit der schwarzen, grünäugigen Nachbars-Katze (2 ½), die irritierenderweise auf den Namen Napoleon hört. Mit Verweis auf die Anforderungen der Wissenschaft vernachlässigt Max seine ‚Vaterpflichten‘ und folgt unbedenklich weiterhin seinem ‚ungezügelten Trieb‘ (vgl. S. 108), wobei er auf Diskretion seiner Intimsphäre Wert legt (vgl. S. 121). Anders als seinem Professor, der von der Nachbarstochter zurückgewiesen wird,21 bleibt ihm ein vergleichbarer Frust erspart; zumindest erfahren wir davon nichts. Der „gesundheitsschädigende[] Charakter“ (S. 102) wissenschaftlicher Arbeit gilt offensichtlich nicht für das Tier, während der Mensch im Streben nach Fortschritt seine äußere und innere Natur beschädigt. Das geht zu Lasten des ehelichen Glücks. Der als blondes Dummchen charakterisierten Gattin Anita (vgl. S.  103) wird in der Geschichte keinerlei Handlungsmacht zugeschrieben; sie kann bloß reagieren, durch nörgelndes Klagen zum Beispiel, zur Not könnte sie fremdgehen (vgl. S. 121f.). Der herrschenden Geschlechterdichotomie entsprechend besitzt die Frau lediglich Objektstatus; da sind sich Max und der Professor einig. Eine solche eindeutige Zu- bzw. Unterordnung gilt für das junge Mädchen Isa noch nicht.22 Und auch die Katzenmutter und 20 21 22

Vgl. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. IX, S. 191‒270. Die Nachbarstochter, Fräulein Regine Beckelmann (17), hört auf den rätselhaften Spitznamen „Malzkacke“ (S. 107). Bei ihrer Wahl eines Sexualpartners verhält sie sich altersgerecht und bevorzugt einen „blonden Motorradjüngling“ (S. 122). Isa solidarisiert sich mit Kater Max während des eine Woche dauernden Hungertests (vgl. S. 105) und füttert das Haustier heimlich. Ihren Vater nennt sie einen ‚Fortschrittsspießer‘ als er eine ‚wilde Party‘ der Jugendlichen verärgert abbricht (vgl. S. 115).

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ihre Kinder scheinen im Vergleich zu den Menschen-Weibchen mehr Freiheiten bzw. größere Handlungsspielräume zu haben. Insgesamt erfahren wir aber nur wenig über die Soziabilität der Tiere. Die erzählte Geschichte fokussiert auf den Kater Max. Er ist der einzige männliche Ich-Erzähler in Christa Wolfs Œuvre. Wie die legendäre EulenspiegelFigur – auch sie erhält 1973 den singulären Status eines Titelhelden – markiert er eine Außenseiterposition: hier am Rande einer historischen Gesellschaft, dort vom Rande einer zeitgenössischen Familie. In beiden Fällen wird das utopische Potential einer marginalisierten männlichen Figur zur Kritik genutzt, wobei – anders als im späteren Werk – groteske und satirische Mittel eingesetzt werden. Autoren- und Figurenposition bleiben in den Erzählungen von Till Eulenspiegel und Kater Max klar getrennt, was eine intervenierende Lektüre auf den Plan ruft – im Unterschied zu dem von Christa Wolf später entwickelten poetischen Konzept ‚subjektiver Authentizität‘,23 das programmatisch die Grenze zwischen Leben und Werk verwischt und so eine emphatisch-identifikatorische Lektüre mit eingebauter kritischer Reflexionsebene befördert. Das Genre des KomischHeroischen bedient Christa Wolf später nicht mehr. Die in Neue Lebensansichten eines Katers vorgeführte Wissenschaft ist eindeutig männlich konnotiert: „this story presents a hierarchy of scientific authority that excludes women.“24 Alle weiblichen Wesen und Werte bleiben davon ausgeschlossen, sie sind keine Akteure, eher schon Leidtragende und Vergessene. Gegenfiguren wie die Hexe oder Megäre fehlen, die Nachbarsfamilie mit ihrem ‚unseriösen/unsittlichen Lebenswandel‘ bietet keine Alternative. Undomestizierte Natur fehlt in den Neuen Lebensansichten eines Katers, denn auch die Haustiere haben ihre Wildheit verloren; nur einmal nennt Anita den Kater Max ihren ‚kleine[n] Tiger‘ (vgl. S.  106). Diese Verniedlichung ist ein schwaches Echo auf die den Frauen zugeschriebene ‚Macht der Natur‘. Die traditionell von ihnen erwartete moralische Verbesserung wurde in der Geschichte ohnehin verabschiedet.25 Die Situiertheit des Wissens und das 23 24 25

Vgl. Therese Hörnigk: Die poetische Kraft des Nachdenkens. In: Carola Hilmes/Ilse Nagelschmidt (Hrsg.): Christa Wolf-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Metzler: Stuttgart 2016, S. 83‒101, insbes. S. 97‒101. Martz: Christa Wolf’s „Neue Lebensansichten eines Katers“, S. 418. Diese von den Aufklärern im 18. Jahrhundert den Frauen übertragene wichtige gesellschaftliche Funktion, wie sie in den empfindsamen Romanen und Dramen ausbuchstabiert wird, ist in der fortgeschrittenen Moderne vergessen worden. Von Liebe ist in den Neuen Lebensansichten eines Katers nicht mehr die Rede. Die Leidenschaft des Professors für die Nachbarstochter ist eine ins Groteske verzerrte Maske der Liebe. Durch die Kontextualisierung der Neuen Lebensansichten mit Selbstversuch und Unter den Linden bleibt der Bezug zum Thema einer problematischen, unerfüllbaren romantischen, vor allem von den Frauen favorisierten Liebe aber erhalten.

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Scheitern einer ausschließlich auf Rationalität setzenden Wissenschaft hat Wolf in ihrer als Bericht verfassten Erzählung Selbstversuch (1972) den Leser*innen zur Prüfung vorgelegt – eine ebenfalls ‚unwahrscheinliche Geschichte‘, die den technischen Fortschritt aus einer Gender-Perspektive kritisiert.26 In den Neuen Lebensansichten ist die Mensch-Tier-Dichotomie in den Vordergrund gerückt, um diese gängige, nicht nur in der Literatur plausibilisierte Unterscheidung zu unterminieren. Kater Max schätzt sein Benehmen als ‚zweite Natur‘ ein (vgl. S. 98), wissenschaftlich gesprochen erkennt er damit die ‚Natur als Erfindung‘, d.h. der Begriff der Natur ist ein sekundärer kultureller Begriff, der die Rede vom ‚Ursprung der Natur‘ Lügen straft. Mit der Feder der Tiere liest man die Welt anders. 4.

Animal Reading

In den Neuen Lebensansichten eines Katers wird in Anlehnung an die Tradition die Frage nach dem Wesen der Tiere gestellt. Die von Max verfassten „gediegenen Beiträge zur Erhellung des zeitgenössischen Katerwesens“ (S. 99) sind eine satirische Replik auf die entsprechenden Texte der Aufklärung und Empfindsamkeit. In diese Kategorie fallen auch die von ihm aufgestellten, das Verhältnis zu den Menschen thematisierenden Lebensregeln eines „nach Sittlichkeit [s]trebenden“ Katers (S.  98).27 Fast beiläufig taucht die Frage nach „den Kriterien zur Unterscheidung von Mensch und Tier“ (S. 113) auf. Lachen (genauer gesagt: Lächeln) und Weinen überzeugen Kater Max als Differenzkriterien nicht.28 Die Fragment bleibenden Neuen Lebensansichten lassen diese anthropologische grundlegende Frage offen und markieren damit eine Lücke. Die Festlegung, was den Menschen ausmacht, erfolgt den im Text angestoßenen Überlegungen zufolge willkürlich, ist also eine (menschliche) Setzung – in der biblischen Rede von der göttlichen Schöpfung ist das anders 26 27

28

Vgl. Friederike Eigler: Rereading Christa Wolf’s „Selbstversuch“. Cyborgs and Feminist Critiques of Scientific Disourse. In: The German Quarterly 73/4 (2000), S. 401‒415. Der vorläufige, weil fragmentarisch bleibende „Leitfaden für den Umgang heranwachsender Kater mit dem Menschen“ (S.  98) enthält fünf Lebensregeln:  1) „Halte die Mitte!“ (ebd.); 2) „Zufriedene Menschen – zufriedene Haustiere!“ (S.  100); 3) „Über Geschmack ist mit Menschen nicht zu streiten“ (S. 103); 4) „Eines schickt sich nicht für alle!“ (S. 104); 5) „Berührung mit Akten ist gesundheitsschädlich!“ (S. 117). In wissenschaftlicher Manier hält Kater Max fest: „Diese Beobachtung stützt meine These, daß Lächeln und Weinen infantile Überbleibsel aus der Entwicklungsgeschichte der Menschheit sind und von voll gereiften Exemplaren dieser Gattung etwa um das fünfundzwanzigste Lebensjahr herum abgestoßen werden, wie die Eidechse sich eines beschädigten Schwanzes entledigt.“ (S. 113f.)

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und in den späteren wissenschaftlichen Klassifikationsverfahren wird die autoritative Festlegung meist durch widersprüchliche Argumentationen verdeckt. Die diskutierten Differenzen jedenfalls bleiben unterschiedlich ausgestaltbar, sind also historisch variabel.29 Von der ‚Humanisierung des Tiers‘ zur Figur des Ausgeschlossenen (Sklaven, Barbaren, Fremde) ist es nur ein Wimpernschlag, wie Giorgio Agamben in Das Offene. Der Mensch und das Tier (2002) ausführt.30 Christa Wolfs kleine, unwahrscheinliche Geschichte schreibt sich in diese Diskurse ein und ist vielfältig anschließbar. Das ‚animal reading‘ literarischer Texte setzt methodisch auf Kontextualisierung, Historisierung und Poetisierung, wobei gefragt wird: „Wie wissen Literatur und Wissenschaften von den Tieren.“31 In den Cultural und Literary Animal Studies (CLAS) spielen außerdem „das Verfahren der Aktivierung“ – die ‚Literary Animal Agents‘ (Susan McHugh) – sowie „Verfahren der reflexiven Animalisierung“ eine Rolle.32 In Christa Wolfs Neuen Lebensansichten eines Katers haben wir es mit einem literarischen Kater zu tun, der als Reflexionsfigur fungiert: Er dezentriert den Menschen als Erkenntnissubjekt und zieht Rationalität und Ethik der Wissenschaft in Zweifel, denn sie bedient sich unlauterer Mittel und unterläuft so ihren Wahrheitsanspruch. Kater Max agiert in der Doppelrolle als Wissenschaftler und Dichter, wobei durch die Differenz von schreibendem und beschriebenem Ich eine weitere Aufspaltung herbeigeführt wird. Inwiefern dadurch eine „Narratology beyond the Human“ (David Herman) entsteht, wäre zu prüfen. Gegen einen ‚inklusiven Humanismus‘ (Thomas Macho) hätte Christa Wolf sicherlich nichts einzuwenden.33 In den Neuen Lebensansichten jedenfalls schreiben Tiere und Maschinen an unserer menschlichen Geschichte mit; auch wenn das in den 1970er Jahren noch als recht unwahrscheinlich eingestuft wurde. Mit den inter- und paratextuellen Bezügen auf Kater Murr als „großen Vorfahren“ (S. 97) kommt ein anderer literarischer Kater ins Spiel, der seinerseits zur „illustren Familie des gestiefelten Katers“ gehört.34 Die von Murr, einem 29 30 31 32 33 34

Vgl. Giorgio Agamben: Das Offen. Der Mensch und das Tier (2002). In: Texte zur Tiertheorie, S. 240‒259. Vgl. ebd., S. 258. Roland Borgards: Nach der Wendung. Zum Stand der Cultural und Literary Animal Studies (CLAS). In: Tierstudien 16 (2019), S. 117‒125, hier S. 122. Ebd., S. 122f. Für den theoretischen Kontext sowie weiterführende Literatur vgl. ebd., S. 123f. Diese Äußerung stammt vom Kapellmeister Kreisler, ist also Figurenrede; vgl. E.T.A. Hoffmann: Lebensansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. Mit Illustrationen von Maximilian Liebenwein. 4. Aufl. Insel : Frankfurt a.M. 1981, S. 34.

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Étudiant en belles lettres,35 verfasste Autobiographie wird von dem „schriftstellerischen Kollegen“ E.T.A.  Hoffmann 1819 herausgegeben und ist an den „günstigen Leser“ adressiert.36 Dieser Tiertext ist also auf die Vermittlung (seine Tradierung und Transformation in ein lesbares Buch) auf einen Menschen angewiesen. Roland Borgards schlägt für die CLAS als „reflektierte Erkenntnishaltung“ einen „epistemologische[n] Anthropozentrismus“ vor.37 Das weist über eine motivgeschichtliche oder themenorientierte Lektüre hinaus, in der die Tiere als Tiere oft aus dem Blick geraten (,disappearing animal trick‘).38 Die Literarisierung der Tiere verdeckt häufig ihre Animalität und befördert eine allegorisierende Lesart, in der Tiere menschliche Eigenschaften veranschaulichen, wie etwa die Funktionstiere in der Fabel, oder die Tiere dienen dazu, gesellschaftliche Probleme zu illustrieren; in den Neuen Lebensansichten von Christa Wolf sind das die Überschätzung der Wissenschaften, eine Fehleinschätzung der Planbarkeit des Zusammenlebens und des individuellen Glücks. Das ‚animal reading‘ bringt demgegenüber neue Aspekte ins Spiel. Frederike Middelhoff hat die „Figurationen des autobiographischen Tieres im 19. Jahrhundert“ untersucht, in denen Tiere als Ich-Erzähler literatur- und kulturtheoretisch ernstgenommen werden. „Hoffmanns selbstverliebter, poetischer Kater steht am Beginn einer Tradition, die das Selbst-Erzählen und vor allem ein Selbst-Schreiben der Katze im Zeichen der Selbst-Verherrlichung konturiert.“39 Middelhoff bezeichnet dieses ‚neue‘ Genre als literarische Autozoographie; dabei handelt es sich um „quasi-autobiographische Ich-Romane, in denen eine tierliche Erzählerfigur die Ereignisse ihres Lebens rekapituliert“; alternativ lässt sich von einem „fiktionalen homodiegetischen Erzähltext“ sprechen.40 Diese narratologische Positionierung trifft auch auf die Neuen 35 36 37

38 39

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Ebd., S. 12 (Vorwort des Autors). Vgl. ebd., S. 9‒11 (Vorwort des Hrsg.). Roland Borgards: Märchentiere. Ein „animal reading“ der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. In: Harlinda Lox/Sabine Lutkat (Hrsg.): Macht und Ohnmacht im Märchen. Erfahrungen im Märchen und im Leben. Königsfurt-Urania Verlag: Krummwisch bei Kiel 2017, S. 49‒71, hier S. 53. Vgl. Roland Borgards: Tiere und Literatur. In: Ders. (Hg.): Tiere. Ein kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler: Stuttgart 2015, S. 225‒244. Vgl. ebd., S. 50. Frederike Middelhoff: Literarische Autozoographien. Figurationen des autobiographischen Tieres im 19. Jahrhundert. Metzler: Stuttgart 2020, S. 349. -- „Lange war es in der HoffmannForschung üblich, die Erzählung des autozoographischen Katers als Gesellschafts-, Künstler- und Literarturmarktsatire oder auch als Gattungsparodie zu begreifen.“ (Ebd., S. 342.) Ebd., S. 5 (Fußnote 7).

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Lebensansichten zu. Da die autobiographischen Aufzeichnungen des Katers Max aber nur einen kurzen Zeitraum seines Lebens umfassen und auf seine Entwicklungsgeschichte verzichten – wir erfahren über seine Jugendjahre nichts –, ist die neue Genrebezeichnung nur bedingt zutreffend. Die Fiktionalisierung der tierlichen Erzählfigur ist einerseits an Hoffmanns Vorlage angelehnt, andererseits ist der Verzicht auf eine Rhetorik der Erinnerung zugunsten eines Erlebnisberichts auffällig. Es gibt noch eine andere wichtige Differenz zwischen Murr, Max und ihren autobiographischen Texten: Sie betrifft Hoffmanns Zusammenleben mit seinem Kater, also die für die Gattung der Autobiographie wichtige Referenz.41 „Die realen Vorbilder für Max und Napoleon waren der Familienkater und die Nachbarskatze.“42 Die Namen der wirklichen Tiere sind nicht bekannt und auch sonst fehlt es an Informationen. Es gibt ein Foto von Christa und Gerhard Wolf 1973 in Kleinmachnow, das das Ehepaar vor Bildern von Elena LiessnerBlomberg und Albert Ebert zeigt. Hier hält Christa Wolf eine große schwarze Katze auf dem Arm.43 Das von Donna Haraway entwickelte Konzept der ‚Companion Species‘ ist hier aber nur sehr bedingt zur Analyse geeignet, denn anders als zu Hoffmanns Zeiten gelten Katzen in den 1970er Jahren als Haustiere; eine Kontextualisierung in der Zoologie der DDR und eine Historisierung des zeitgenössischen Wissensstands über Tiere ist für die Neuen Lebensansichten eines Katers noch zu leisten. Das wäre eine wichtige Ergänzung zur Kritik an der Kybernetik als sozialistischer Wissenschaftsutopie. Christa Wolf thematisiert in dieser Erzählung ihr Zusammenleben mit einer Katze nicht und der literarische Kater Max seinerseits agiert ganz ohne Wissen der Menschen, mischt sich sozusagen heimlich in das wissenschaftliche Projekt ein. Obwohl es keine ausdrückliche Kommunikation zwischen Kater Max und seinem Professor gibt, finden doch Interaktionen statt, die als Vorstadien eines ‚becoming-with‘ von ‚Companion Species‘ beschrieben werden können. „Diese Figuration geht weit über das Konzept ‚Haustier‘ hinaus, verkörpert vielmehr die Versammlung interdependenter, d.h. untereinander abhängiger Wesen, ist zugleich faktisch und fiktiv, Metapher und Biologie. In ihr sind Mensch und Tier, Subjekt und Objekt, Außen und Innen, Kultur 41 42 43

Vgl. ebd., S. 384. Vgl. auch Roland Borgards: Tiere. In: Christine Lubkoll/Harald Neumeyer (Hrsg.): E.T.A.  Hoffmann-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Metzler: Stuttgart 2015, S. 311‒315. Sonja Hilzinger: Christa Wolf. Biographie. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2007, S. 85. Sonja Hilzinger: Christa und Gerhard Wolf. Gemeinsam gelebte Zeit. Verlag für BerlinBrandenburg: Berlin 2014, S. 188.

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und Natur zu materiell-semiotischen Knoten verschlungen.“44 Unter diesen Gesichtspunkten wäre auch zu fragen nach anderen Tieren im Werk von Christa Wolf.45 Von der Forschung wurden diese Aspekte bisher noch nicht berücksichtigt.

Bibliographie

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Esther Köhring: Donna Haraway. In: Texte zur Tiertheorie, S. 288‒290, hier, S. 289. Vgl. „Das Leben der Schildkröten in Frankfurt am Main“ (1989); diesen Hinweis verdanke ich Hannelore Scholz-Lübbering.

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Hörnigk, Therese: Die poetische Kraft des Nachdenkens. In: Carola Hilmes/Ilse Nagelschmidt (Hrsg.): Christa Wolf-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Metzler: Stuttgart 2016, S. 83–101. Janson, Deborah: Unearthing a Post-Humanist Ecological Socialism in Christa Wolf’s „Selbstversuch“, Kassandra and Störfall. In: Sonja E. Klocke/Jeniffer R. Hosek (Hrsg.): Christa Wolf. A Companion. De Gruyter: Berlin, Boston 2018, S. 81–95. Kofman, Sarah: Katze und Schrift (frz. 1976). In: Roland Borgards/Esther Köhring/ Alexander Kling (Hrsg.): Texte zur Tiertheorie. Reclam: Stuttgart 2015, S. 153–160. Köhring, Esther: Donna Haraway. In: Roland Borgards/Esther Köhring/Alexander Kling (Hrsg.): Texte zur Tiertheorie. Reclam: Stuttgart 2015, S. 288–290. Kuhn, Anna  K.: The Gendered Reception of Christa Wolf. In: Sonja  E.  Klocke/ Jeniffer  R.  Hosek (Hrsg.): Christa Wolf. A Companion. De Gruyter: Berlin, Boston 2018, S. 65–80. Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie (1999). In: Roland Borgards/Esther Köhring/Alexander Kling (Hrsg.): Texte zur Tiertheorie. Reclam: Stuttgart 2015, S. 218–237. Martz, Brett: A Renewed Look at Christa Wolf’s „Neue Lebensansichten eines Katers“. Authority, Parody, and Readers as Scientists. In: The German Quarterly 89/4 (2016), S. 411–427. Middelhoff, Frederike: Literarische Autozoographien. Figurationen des autobiographischen Tieres im 19. Jahrhundert. Metzler: Stuttgart 2020. Schmidt, Ricarda: Ein doppelter Kater? Christa Wolfs „Neue Lebensansichten eines Katers“ und E.T.A.  Hoffmanns „Lebens-Ansichten des Katers Murr“. In: E.T.A. Hoffmann- Jahrbuch 4 (1996), S. 41–53. Twellmann, Marcus: Kyber-Sozialismus? Zu Christa Wolfs „Neuen Lebensansichten eines Katers“. In: DVjs 82/2 (2008), S. 322–348. Wolf, Christa: Das Leben der Schildkröten in Frankfurt am Main. Ein Prosagedicht. Mit 6 Radierungen von Alfred Hrdlicka. Büchergilde Gutenberg: Frankfurt am Main [u.a.] 1989 (Druck der Sisyphos-Presse; 3). Wolf, Christa: Neue Lebensansichten eines Katers. In: Dies.: Gesammelte Erzählungen. 10. Aufl. Luchterhand: Frankfurt a.M. 1989, S. 97–123.

Thomas Hürlimanns Katzen: zu Im Gartenhaus und Der große Kater Joanna Firaza Abstract Katzen, sowohl als diegetische, als auch semiotische Tiere, sind Thomas Hürlimanns Epik inhärent, für die Novelle Im Gartenhaus (1989) und den Roman Der große Kater (1998) sind sie aber geradezu konstitutiv. Im Beitrag wird versucht, die Funktion der Tiere in den beiden Texten, die sich komplementär lesen lassen, herauszuarbeiten, wobei der Fokus auf die Novelle gelegt wird. Da sie auf Gottfried Kellers Märchenerzählung Spiegel, das Kätzchen zu rekurrieren scheint, treffen zwei verschiedene Traditionen der Tierdarstellung aufeinander: der ‚phantastische‘ Kater Kellers tritt als Folie neben den ‚materiellen‘ Hürlimanns, der eine Stelle im Dreiecksverhältnis einnimmt. Durch Interferenzen geraten beide Kategorien in Bewegung. Eine allegorische Lesart der Tiere wird somit durch ein Konzept konterkariert, das hier ‚Verkörperung‘ genannt und welches methodologisch im Sinne des ‚Animal Turn‘ mit Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie gedeutet wird.

Schlüsselwörter Thomas Hürlimann, Gottfried Keller, Katze, Verkörperung, Akteur-Netzwerk-Theorie

Es sind Katzen, die es Thomas Hürlimann angetan haben: Der Autor sei ein „später poetisch-philosophischer Minnesänger“ dieser Tiere.1 Ihre komplexe kulturgeschichtliche Verortung und das damit verbundene Imaginarium spielt für seine Texte eine wesentliche Rolle.

1 Katzen kommen auch in anderen Prosatexten des Autors vor, etwa in der Novelle Fräulein Stark (2001) und dem Roman Vierzig Rosen (2006). Das Thema sei einer Dissertation würdig. Peter Rüedi: Die Heimkehr des verlorenen Vaters. In: Hans-Rüdiger Schwab (Hrsg.): ‚… darüber ein himmelweiter Abgrund.‘ Zum Werk von Thomas Hürlimann. Fischer: Frankfurt a.M. 2010, S.  76–80, S.  79. Vgl. zudem: Jochen Hieber: Man hat Stil. Zum Sechzigsten von Thomas Hürlimann. In: F.A.Z. v. 21.12.2010. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/ autoren/zum-sechzigsten-von-thomas-huerlimann-man-hat-stil-11079363.html?printPaged Article=true#pageIndex_3 (Stand:  02.11.2019). Erweiterte Fassung des Artikels: Leseheimat Hürlimann. In: Schwab (Hrsg.), S. 193–204, S. 198f.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/97838467

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Joanna Firaza Katzen verkörpern wie kein zweites Tier die Ängste wie die Hoffnungen menschlicher Koexistenz mit den Mächten des Kosmos. Katzen wurden gegessen, vergöttlicht, dämonisiert und heute therapeutisch vereinnahmt – Vergleichbares geschah immer wieder mit den Menschen, die in enger Verbindung mit ihnen lebten. Katzen sind in besonderer Weise dafür geeignet, den kulturellen Weg und die kulturelle Vielfalt in der Art der Beziehung zwischen Tieren und Menschen zu beschreiben.2

Auf der imaginativen Ebene bündelt die Katze widersprüchliche Traditionen: „Was die Einstellungen von Menschen zu Katzen anbetrifft, leben wir heute“, so Mark Hengerer, „gleichzeitig in Mittelalter, Früher Neuzeit und Moderne; was in der Frühen Neuzeit hinzukam, ist ein Zuwachs an Komplexität und Ambivalenz, der paradoxerweise gerade in der Katze eine Symbolisierung fand und findet.“3 Die positive Komponente leitet sich aus der altägyptischen Tradition ab, nach der die Katze die sich verändernde Kraft der Sonne, des Mondes und der Herrlichkeit der Nacht symbolisierte. Als lunares Wesen war sie der katzenköpfigen Göttin Bastet4 heilig und stand für Fruchtbarkeit, Freude und geschützte Häuslichkeit.5 Die negative Deutung des Tieres als Symbol des Teufels, des Unheils, des Verrats, des Todes, der Untreue und nicht zuletzt der Sexualität geht auf das Mittelalter zurück, was eine Verfolgung und Drangsalierung der Tiere nach sich zog und über das Mittelalter hinaus bis in die Frühe Neuzeit sich erstreckte.6 Ein Umdenken wurde erst durch die Rattenplage erzwungen. Mit der Erkenntnis, dass die Tiere den Menschen 2 Clemens Wischermann: Einleitung. In: Clemens Wischermann (Hrsg.): Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen. UVK: Konstanz 2007, S. 9–12, S. 12. 3 Mark Hengerer: Die Katze in der Frühen Neuzeit. Stationen auf dem Weg zum Seelenverwandten des Menschen. In: Wischermann (Hrsg.), S. 53–88, S. 55. Auch in: https://kops.unikonstanz.de/bitstream/handle/123456789/6463/vonkatzenundmenschen.pdf?sequence=1 (Stand: 16.06.2020). 4 Auch andere ägyptische Gottheiten haben zoomorphe Formen, z.B. schakalköpfiger Anubis, falkenköpfiger Horus, ibisköpfiger Thot. 5 „Als Mutter des Löwengottes Myesis (dem Herrn der Gemetzels) hat Bastet ihre ursprüngliche Wildheit abgelegt und überlässt ihre zerstörerische Seelenhälfte der Löwengöttin Sachmet. Die katzenköpfige Bastet verkörpert die das Wachstum fördernden Kräfte des Mondes, der die Frucht im Leib der Mutter gedeihen lässt.“ Viktor Zielen: Art. Katze. https:// www.symbolonline.de/index.php?title=Katze (Stand: 17.7.2020). Die Ägypter, die die Katzen in Hieroglyphen Miau nannten, nahmen mit großer Wahrscheinlichkeit die Autonomie und Wildheit der Katze nicht wahr, was an Katzenstatuen zu beobachten ist und sahen in ihr nur eine freundliche Erscheinungsform der wilden Sachmet. Wolfgang Schuller: Bastet, das Kätzchen. Die Katze im alten Ägypten. In: Wischermann (wie Anm. 3), S. 13–23, S. 23. 6 Vgl. Erhard Oeser: Katze und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung. wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG): Darmstadt 2005, S. 85–106, S. 106.

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nützlich sein können, setzte sich ein von Sympathie getragenes Verhältnis durch. Während im 19. Jahrhundert die Katze als mehr oder weniger kontrollierbares Kind bzw. Ersatzfamilienmitglied wahrgenommen wurde, vollzog sich ca. ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eine abermalige Wandlung in der Wahrnehmung der Katze: sie wurde zum unabhängigen Familienmitglied im Sinne eines Begleiters, eines freundschaftlichen Kameraden. Für Thomas Hürlimanns Prosa lässt sich festhalten, dass Katzen eine besondere Position innerhalb der Figurenkonstellation zukommt. Dieser Funktionalisierung wird im Folgenden anhand der Novelle Das Gartenhaus (1989)7 und des Bestsellerromans Der große Kater (1998)8 nachgegangen. Im Fokus der dramaturgisch kunstvoll gebauten Novelle Das Gartenhaus9 steht die Tragödie des Verlusts. Der ehemalige Oberst der schweizerischen Armee und seine Gemahlin Lucienne sind „Eltern eines toten Sohnes“, der jung, „noch vor der Rekrutenschule“, vor allem aber vor ihnen gestorben sei. Im folgenschweren Konflikt um das Aussehen des Grabmals manifestiert sich die gegenseitige Entfremdung der Ehepartner. Während der Oberst meinte, „ein Rosenstrauch würde schön und bescheiden an das früh verblühte Leben erinnern,10 bestand Lucienne „auf dem Stein“ (G, 5). Ihr Konzept, dass ein Granit her müsse, (G, 5) hat sie auch umgehend gegen den Willen des Mannes, bzw. „gegen seinen Befehl“ (G, 16) triumphierend (G, 35) umgesetzt. Ein „pompöses Grabmal“ (G, 12) wurde aufgerichtet und ragte nun „wie ein Gipfel aus dem Vergänglichen hinaus“ (G, 35). Keine Auseinandersetzung fand statt, dafür wurde der Oberst vom Schwindel gepackt, als Lucienne meinte, auch auf seinen Grabstein sollten einmal sein Rang und Regiment gesetzt werden. Die parodistisch

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Thomas Hürlimann: Das Gartenhaus. Fischer TB: Frankfurt a.M. 2014 [2000]. Weiter im Text mit der Sigle G und der Seitenzahl in Klammern zitiert. Thomas Hürlimann: Der große Kater. Fischer TB: Frankfurt a.M. 2015 [2000]. Verfilmt 2010. Weiter im Text mit der Sigle K und der Seitenzahl in Klammern zitiert. „Tatsächlich könnte fast alles, was ich in Prosa geschrieben habe, auch ein Stück sein.“ Hans-Rüdiger Schwab: Gespräch mit Thomas Hürlimann. Berlin, 28. März 2010. In: Schwab (Hrsg.) (wie Anm.  1), S.  15–47, S.  40. Vgl. Sebastian Kleinschmidt: Weiterleben durch Erzählen. Über Thomas Hürlimann. In: Ebd., S.  205–216, S.  210, sowie Benjamin Henrichs: Liebe auf den letzten Blick. Das kurze Meisterwerk Thomas Hürlimanns Novelle „Das Gartenhaus“. In: Schwab (wie Anm. 1), S. 57–63, S. 61. Thomas Hürlimanns Prosatexte sind stark autobiographisch fundiert. Das Grab versteht der Autor als Eingang ins Paradies, wo deshalb Blumen blühen sollten. Tobias Wenzel: Solange ich lebe, kriegt mich der Tod nicht. Friedhofsgänge mit den Schriftstellern. Knesebeck: München 2013, S. 125–127, S. 125.

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zur Schau gestellte militärische Mentalität des Obersts11 kommt jetzt – nach dem Tod des Sohnes – erneut deutlich zum Vorschein. „Er wußte, dass er die Schlacht verloren hatte.“ (G, 5) Diese Erfahrung wird den beiden Protagonisten zum Verhängnis. „Da verließ der Oberst den Friedhof, und er ging, ohne es vorerst zu merken, in ein anderes Land hinaus, in ein neues Leben.“ (G, 8) In diesem neuen Leben wird eine streunende Friedhofskatze seine einzige Lebensaufgabe und seine Pflicht (G, 16): „Er, der ehemalige Troupier, war im Alter zum Nachschuboffizier für ein streunendes Tier geworden.“ (G, 20) Eines Tages „kroch hinter dem Grabstein behutsam ein dürres Wesen hervor, knochig, zittrig und sah ihn mit großen Augen an.“ (G, 11) Der trauernde Mann, dem die Erinnerung an seinen Sohn und an „längst vergangene Manövertage“ – an Truppenbewegungen und einstige Manöversiege – mit den täglichen Friedhofsgängen eins wurden, nahm seine alte Soldatengewohnheit wieder auf: Tag für Tag sorgte er für den Nachschub für „sein Tier“ (G, 12), ohne dass seine Frau etwas davon mitbekam. Er „schmuggelte“ (G, 13) Fleisch, Essensreste und Vogelfutter zum Grab; er „requirierte die tägliche Ration“ (G, 14).12 Am Grab ging er umsichtig vor, denn „hier war die Front“: „Einmal Troupier – immer Troupier. Er war und blieb frontorientiert, konzentrierte seine gesamte Aufmerksamkeit nach vorn, die im rückwärtigen Bereich spielenden Kräfte jedoch […] bekam er nicht in den Griff.“ (G, 13) Wie im Märchen berichtet der Erzähler von den ersten direkten Ergebnissen: „Und das Tier wurde zahm, es wurde geduldig […] und im Lauf zweier Monate war aus der zittrigen Jammergestalt ein gut ernährtes Kätzchen geworden.“ (G, 12) Der Oberst fühlte sich „für die erlittene Niederlage auf wunderbare Weise entschädigt.“ (G, 16) Die Friedhofskatze wird zu „seiner Katze“ (G, 18), die immer pünktlich und leise, nach Einbruch der Dämmerung kam, „ein lautlos vorüberziehendes Fell“ (G, 19), an das der altgediente Soldat sein Herz verloren hatte. Im Winter wechselte die Katze „vom Land zum Höhenweg“ und statt an den Gräbern vorbei „tänzelte sie“ über die Mauerzinne hinweg. (G, 47) Die Lage wurde zunächst „verdammt heiß“ durch den Schnee, der die Fährten der Tiere sichtbar werden ließ (G, 45), dann wurde sie durch die Schneeschmelze „kritisch“ (G, 54), da die Katze nur 11

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Henrichs (wie Anm.  9), S.  58 und S.  62. Trotz Rentenalter geht die männliche Figur, vom Erzähler immer nur Oberst genannt, ganz in seinem Offiziersdasein auf. Er trägt einen Offiziersmantel, denkt in militärischen Kategorien, sein Zimmer ist karg „wie ein Kasernenschlag“ eingerichtet (G, 34). Es handelt sich um ein kompulsives Verhalten, um einen „Katzenfütterungsfanatismus“. Itta Shedletzky: „In den Geschichten leben wir weiter.“ Die Wahrnehmung des >Jüdischen< als fremdes Eigenes. Ein Versuch über Thomas Hürlimann. In: Schwab (wie Anm.  1), S.  271–291, S.  276. Ähnlich Martin Walser: Verhängnisforscher in Zürich. Je indirekter die Mitteilung, desto vollkommener der Ausdruck: Über den Schriftsteller Thomas Hürlimann. In: ebd., S. 185–192, S. 188.

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mit Mühe die Mauer hoch kam und der Oberst das Kratzen ihrer Krallen mit dem eigenen Kratzen an der Friedhofsmauer übertönen wollte, um die Gefahr zu bannen, dass die Ehefrau den eigentlichen Zweck der Friedhofsgänge erkennt. „>>Das kratzt ja wieder, was kratzt da so komisch?>Ich binsLebtAus unserer Mittesind schon zahllose Menschen hervorgegangen – wackere Bischöfe, tüchtige Professoren und brave Politiker.Jüdischen< als fremdes Eigenes. Ein Versuch über Thomas Hürlimann. In: Schwab (Hrsg.), S. 271–291 Thomas Hürlimann zum 65. Geburtstag. In: Feinschwarz v. 21.12.2015. https://www.feinschwarz.net/sehnsucht-nach-stille-huerlimann/. Toepfer, Georg: Geschichte der Zoologie. In: Roland Borgards (Hrsg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler: Stuttgart 2016, S. 139–149. Ulrich, Jessika: Art. Kunst. In: Arianna Ferrari/Klaus Petrus (Hrsg.): Lexikon der TierMensch-Beziehungen. transcript: Bielefeld 2015, S. 206–211. Walser, Martin: Verhängnisforscher in Zürich. Je indirekter die Mitteilung, desto vollkommener der Ausdruck: Über den Schriftsteller Thomas Hürlimann. In: Schwab (Hrsg.), S. 185–192. Wenzel, Tobias: Solange ich lebe, kriegt mich der Tod nicht. Friedhofsgänge mit den Schriftstellern. Knesebeck: München 2013, S. 125–127. Wieser, Mathias: Das Netzwerk von Bruno Latour. transcript: Bielefeld 2012. Wild, Markus: Anthropologische Differenz. In: Roland Borgards (Hrsg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler: Stuttgart 2016, S. 47–59. Wirth, Michael: Katzenjammer oder des Pudels Kern. In: Schweizer Monatshefte 74/1 (1994), S. 31–36. Wischermann, Clemens: Einleitung. In: Clemens Wischermann (Hrsg.): Von Katzen und Menschen. Sozialgeschichte auf leisen Sohlen. UVK: Konstanz 2007, S. 9–12. Zielen, Viktor: Art. Katze. https://www.symbolonline.de/index.php?title=Katze (Stand: 17.7.2020).

Arnold Stadlers Tiere Marek Jakubów Abstract In Arnold Stadlers Romantrilogie Einmal auf der Welt. Und dann so (2009) wird aus retrospektivem Blick die fortschreitende Abkoppelung des Erzählers von seiner heimatlichen Umgebung beschrieben. In seiner Erinnerung kehren neben den prägenden Ereignissen leitmotivisch Tiere immer wieder zurück. Sie stehen in der Terminologie Agambens dem nackten Leben am nächsten, sind Opfer, das Lackmuspapier der sich in seiner Umgebung vollziehenden Wandlungen, die mit den Modernisierungsprozessen gleichzusetzen sind, wie auch das einzige konstante und identitätsstiftende Element. Die tragische Trennung des Erzählers von den Tieren öffnet eine Leere, die ihm erlaubt, ihre Unabdingbarkeit und sich selbst in seiner Menschlichkeit zu erkennen.

Schlüsselwörter Arnold Stadler, Tiere, deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Erinnerung, Identität

Die Erwähnung der Tiere in einem Zusammenhang mit der eigenen Lebensgeschichte weist schon in dem Titel des 1994 veröffentlichen Romans von Arnold Stadler Mein Hund, meine Sau, mein Leben auf eine innige Beziehung besonderer Art zwischen Mensch und Natur hin. Sie begleiten den Erzähler auf der Erkundungsreise in seine Vergangenheit, die in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einem badischen Dorf einsetzt und über Südamerika, wo er nach seinen Verwandten sucht, oder Rom, wohin er sich zum Studium im Priesterseminar begibt, führt. Die einzelnen Stationen wurden zunächst in den Büchern Ich war einmal (1989) und Feuerland (1992) thematisiert. Schließlich fanden alle Teile Eingang in die Romantrilogie Einmal auf der Welt. Und dann so (2009). Im retrospektivischen Blick verdichten sich die frühen, prägenden Ereignisse zu einem fremden und dennoch vertrauten Bild1 einer gebrochenen Idylle auf Zeit. Es wird einerseits die Vorstellung des harten, integren Lebens auf dem Lande evoziert, das andererseits von Anfang an einer schleichenden Erosion ausgesetzt ist. So fallen in dieser Familiengeschichte Abweichungen 1 Vgl. Péter Esterházy: Rede auf Arnold Stadler zur Verleihung des Kleist-Preises 2009. In: Kleist Jahrbuch (2010), S. 11.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/97838467

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vom typischen Handlungsstrang der Heimatliteratur auf: Der Familienlegende nach heirateten die Ureltern, die als Vertriebene aus Tirol in die Heimatgegend des Erzählers kamen und die Ahnenreihe eröffneten, nicht aus Liebe, die Dorfbewohner erlagen der Versuchung des schnellen Gewinns und trieben sich selbst in den Ruin. Die einzelnen Episoden und moralischen Entscheidungen, die die Wendepunkte dieser Familiensaga markieren, schaffen auf der narrativen Ebene eine Parallele zu den in der Bibel präfigurierten Mustern. Stadler will aber nicht die erzählte Welt in eine parabolische Form kleiden oder sie nach Art der Heimatdichterin Agnes Miegel, die im Roman ironisch als eine Größe aus der für den Leser nicht mehr zumutbaren Vergangenheit dargestellt wird, idealisieren. Dem würde übrigens auch seine distanzierte Glücksvorstellung als Konstruktion im Wege stehen.2 Er platziert sein Kindheitsparadies ‒ metaphorisch gesprochen ‒ in der Zeit nach dem Sündenfall, von dem sich die Dorfgemeinschaft nicht mehr erholen wird: Unsere, unser aller Geschichte, die wir einst mit der Mistgabel im Stall standen oder das Heu im hintersten Winkel unseres Heustocks verstauten, die wir im Schweiß unseres Angesichts, wie im I. Kapitel der Heiligen Schrift vorausgesagt, gelebt haben, war umsonst. Wir haben umsonst gelebt. Es ist aus.3

Diese Erkenntnis scheint auch die persönliche Geschichte des Erzählers zu bestätigen, die einen Kreis schließt, ohne dass sie den notwendigen „Sitz im Leben“ aufweist, d.h. den Bezugspunkt seiner späteren Alltagswirklichkeit schafft und die paradoxe Lebenserfahrung in einem heilsgeschichtlichen Entwurf überwindet.4 Deswegen ist er kein Lehrer, Mahner oder Prophet, sondern ein mit dem Makel der Naivität belasteter Zeuge des Untergangs, den die Derbheit des Ausdrucks mit der Tradition des Schelms verbindet5 und in die Nähe der Kleistschen Figuren bringt, die mit eingeschränktem Erkenntnispotenzial

2 „Alles Eindeutige, Konsequente wäre für mich eine Konstruktion. Es ist nicht alles Unglück, und es ist nicht alles Glück. Das Glück ist eine Vorstellung, die schönste Vorstellung, und manchmal kommt es auch, das Glück, klar.“ Angelika Klammer: Ein dummer Mensch. Interview mit Arnold Stadler über Literatur als stellvertretende Erinnerung, den „sprachverschlagenen“ Tod und sein eben erschienenes Buch „Einmal auf der Welt. Und dann so“. https:// www.angelikaklammer.com/interviews/arnold-stadler.html [30.05.2020]. 3 Arnold Stadler: Einmal auf der Welt. Und dann so. Fischer: Frankfurt a.M. 2009. S. 46. 4 Zur Struktur des parabolischen Erzählens vgl. Klaus-Peter Philippi: ‚Parabolisches Erzählen‘. Anmerkungen zu Form und möglicher Geschichte. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Wissenschaft und Geschichte 43 (1969), S. 297‒332. 5 Vgl. Lothar Müller: Ein klarer Fall von Sehnsucht. In: Pia Reinacher (Hrsg.): ‚Als wäre er ein anderer gewesen‘. Zum Werk von Arnold Stadler. Fischer: Frankfurt a.M. 2009. S. 327.

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der Wirklichkeit gegenüberstehen und keine Möglichkeit haben, sie je begreifen zu können. Dieses Handikap lässt ihn trotzdem nach den Ursachen seiner dissoziativen Erinnerung suchen, die er zunächst mit den sozialisierten, christlichkatholischen Kategorien erfassen will. Die Entscheidung der Bauern, ihre Kühe gegen eine neue Rasse aus dem Norden auszutauschen stilisiert er nach dem überlieferten Modus zunächst zu einer Versuchung hoch: „Wir haben uns verführen lassen. Sie überredeten uns zu neuen Kuhfarben, zum Fortschritt bis zu der Stelle, wo dieser endet.“6 Die anonyme Macht, die sich bald aller Lebensbereiche bemächtigen wird, kommt aus Norddeutschland7 und wird schnell konkretisiert. Es sind die „neuesten Mengele-Landmaschinenartikel“8 und Institutionen wie Raiffeisen, die den Fortschritt repräsentieren. Die assoziative Verbindung zwischen dem Agrarmaschinenproduzenten und seiner Verstrickung in die Nazivergangenheit sowie die Namensgleichheit mit dem berüchtigten KZ-Arzt weisen gleichzeitig auf den schleichenden und wachsenden Einfluss des Faschismus in den 30er Jahren hin. Die heimatliche Landschaft wird um einen unterwartet großen Bahnhof im Wald („aus strategischen Gründen, denn kein Feind hätte hier einen so großen Bahnhof vermutet, an dem sich die Linien kreuzten, der im Prinzip Nord- und Südpol verband, und ebenso Finisterrae mit Wladiwostok“9) ergänzt und gewinnt dadurch eine weit über das Lokale hinausgreifende Dimension, die sowohl Konnotationen mit dem Zweiten Weltkrieg als auch mit dem zivilisatorischen Einbruch der modernen Landwirtschaft und des modernen Lebens schlechthin in die schwäbische Provinz bis in die Nachkriegszeit umfasst. Unter dem Vorwand der Krankheitsgefahr wird im Dorf alles begradigt: „Was krumm war, sollte gerade werden“10. Der Dorfbach kommt „wegen den Ratten […] unter Verschluss“11. Selbst der Friedhof „ist ein kleines Dreieck“ und „seine Grabsteine stehen wie Soldaten, in Reih und Glied. Sie sind glatt und glitschig“12. Der Verkauf gegen „Abschlachtungsprämie“13 und Abtransport der letzten Kuh, „die wohl einen genauso alten Stammbaum hatte wie ich, einen Stammbaum, der ebenso viele Generationen

6 7 8 9 10 11 12 13

Stadler, S. 47. Vgl. ebd., S. 28. Ebd., S. 20. Ebd., S. 27. Ebd., S. 130. Ebd. Ebd. Ebd., S. 47.

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in unserem Stall aufwies wie meiner im Haus daneben – oder noch mehr“14, schließt diesen Untergangsprozess ab. Stadlers Beschreibung der sich in dem Umfeld des Erzählers vollziehenden Wandlungen weist Parallelen mit Giorgio Agambens Diagnose der Moderne15 auf. Die aufkommende moderne Macht mischt sich systematisch in die Sphäre des Überlebens ein, die bisher der Familie vorbehalten war. Sie greift in die Privatsphäre des Menschen dermaßen ein, dass ihm schließlich nur das „nackte Leben“, der autonome Rest übrigbleibt, der sich einerseits jeglicher Zuordnungen entzieht, andererseits das Bestehen des dominanten Systems ermöglicht.16 Stadlers Erzähler versuchte sich nach dem Verlust heimatlicher Verankerung als eine Art homo sacer vergeblich in verschiedenen gesellschaftlichen Rollen als Priester, Reiseführer oder Grabredner zu bewähren, um schließlich in der Anonymität zu versinken. Zunächst trat er per Zufall seinen Rückflug aus Italien nicht an und rettete auf diese Weise sein Leben. Da die Fluggesellschaft keine Passagierliste führte, wurde er zu den Opfern der Flugkatastrophe gezählt. Inkognito kehrte er schließlich in sein Heimatdorf zurück und versteckte sich vor den anderen Menschen, weil er zu ihnen nicht mehr gehören konnte und durfte, um zuzuschauen, wie sein traditionsreiches, 1773 gebautes Familienhaus versteigert wurde. Dann scheint der Erzähler in dem ihn umgebenden System aufzugehen. Die letzten Sätze im Roman sind unwesentlich, unspezifisch und emotionslos: „Ich verließ mein Versteck […] Aber ich fasste keinerlei Vorsätze mehr, außer dem einen, mich regelmäßig einzucremen […]“17 Erst der Verlust jeglicher Zugehörigkeit oder anders gewendet seiner bisherigen Existenz, als der Erzähler „von der Ordnung ausgeschlossen und von ihr erfaßt wurde“18, erlaubt ihm paradoxerweise zu erkennen, was das eigentliche Leben in seinem Kern vor dem Gau ausmachte und was aus seiner alten Substanz gerettet werden konnte, bevor es vernichtet wurde. In seiner Erinnerung kommen neben den Ereignissen Tiere immer wieder leitmotivisch zurück. Sie stehen dem nackten Leben am nächsten, sie sind wie er Opfer, das Lackmuspapier der sich in seiner Umgebung vollziehenden Wandlungen und ein Bereich, der von den äußeren Einflüssen nicht vereinnahmt wurde. Die Trennung von ihnen öffnet eine Leere, die ihn zu den essenziellen Fragen

14 15 16 17 18

Ebd., S. 46. Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2002. Vgl. ebd., S. 19. Stadler, S. 422. Ebd.

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führt. In Agambens Kategorien ausgedrückt muss er sein eigenes Ausbleiben erst entdecken, um sich selbst definieren zu können.19 Der Prozess der Entfernung von den Tieren enthüllt in Stadlers Roman verschiedene, bisher nicht reflektierte Bereiche. Der Erzähler empfindet ihn als schmerzhaft, da er selbst sogar körperlich mit den Kreaturen auf sichtbare Weise verbunden ist. Als Kind konnte er etwa bis zum zehnten Lebensjahr seine physiologischen Bedürfnisse nicht ganz kontrollieren. Er trägt auch ein besonderes Muttermal, von dem er sich nicht trennen will. Es wird von den Ärzten als Überbleibsel der tierischen Natur – ein Stück „Fell“20 und in rassistischen Begriffen „ein Stück Afrika“21 diagnostiziert. Zunächst als „mein Muttermal“22 bezeichnet und in Verbindung mit den Wundmalen Pater Pios oder Katharina Emmerichs gebracht, wurde es dann in medizinischen Kategorien als „malignes Karzinom“23 definiert und durch einen ärztlichen Eingriff entfernt. Die Trennung von dem Tier bedeutet in weiterer Perspektive den fortschreitenden Zerfall und den Verlust jeglicher spezifischen Eigenschaften, die eigene Sprache miteingeschlossen: Unsere Muttersprache! War sie nicht schon so schwach, dass sie bald nach der ersten Begegnung mit dem Fernsehen und seinem hochdeutschen Gepränge in sich zusammenfiel und ausgestorben ist wie die Indianer? Sie, wir, ich: Wir waren krank, selbst unsere Tiere, unser Gras und Getreide krank. Unsere Lebewesen, unsere Schweine, neigten zum Herzinfarkt aus Angst, den Transport ins Schlachthaus nicht zu überstehen, die Hühner saßen mit ihren Depressionen in ihren Käfigen und sollten auch noch Eier legen, bis zum Tag, da sie zum Suppenhuhn verarbeitet wurden. Ich war krank.24

„Das braune Meßkircher Höhenfleckvieh“ wird nach dem Einbruch des Neuen25 zum namenlosen Produkt der Massentierhaltung. Diese Tiere können 19 20 21 22 23 24 25

Vgl. Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2010. S. 40. Stadler, S. 70. Ebd. Ebd., S. 49. Ebd., S. 63. Ebd., S. 31. Im Interview für die Zeitschrift Christ in der Gegenwart erweist sich Stadler als derjenige, der an dem modernen Fortschritt zweifelt: „Auch heute frage ich mich, wo das gute Neue denn sein soll, das immer beschworen wird. Der Mensch auf der Welt ist geschundener als jemals zuvor. Etwa seit der Säkularisation heißt es, dass wir im Zeitalter des Fortschritts leben. Wohin hat das geführt? Zur rein technischen Aneignung der Welt und der Menschen, zu Kolonialismus, Imperialismus, zur Versklavung der Welt. Ist das Fortschritt?“ Stephan Langer: Singen und Spielen. Der Schriftsteller Arnold Stadler im Interview.

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von dem Erzähler nicht mehr in heimischen Begriffen benannt werden. Vor dem Hintergrund des katholischen Milieus fällt diese Sprachkrise empfindlich auf, weil dadurch nicht nur die Einstellung der Bauern zur Nahrung, sondern auch die traditionelle Tierwahrnehmung als Stoff für die Parabeln ins Wanken gebracht wurden. Sie waren entweder Sitz des Bösen, wenn zum Beispiel die unreinen Geister in die Schweine fuhren, (vgl. Markus 5,13) oder „große Symbole der neuen Wirklichkeit“26. Die heimatliche Umgebung des Erzählers ist keine Gegend, wo Wolf und Lamm friedlich beieinander leben.27 Das Ferkel Frederic, an dem der Erzähler hängt, wird von seinem Onkel getötet und zum Essen „als Wurstsuppe“28 serviert. Als Ersatz für den Verlust kommt die märchenhafte Erklärung, dass das Tier „die Nachtfrau“29 geholt hat. Die vordergründig zynische Handlung, die groteske Züge annimmt,30 dient aber nicht der Entlarvung und Zerstörung einer unmenschlichen Welt.31 Stadler verschont seine heimatliche Umgebung. Sie ist zwar von Tod gezeichnet,32 aber das Grausame dieser Erfahrung wird im Vergleich zu anderen Szenen des Tiertötens in neue Zusammenhänge gebracht und dadurch relativiert. Der auf den ersten Blick brutale Umgang mit den Tieren, die geschlachtet

26

27 28 29 30 31

32

In: https://www.herder.de/cig/cig-ausgaben/archiv/2019/14-2019/der-schriftsteller-arnoldstadler-im-interview/ [13.11.2020]. Taberner identifiziert diesen Prozess mit dem Zweiten Weltkrieg. Vgl. Stuart Taberner: ‚Nichts läßt man uns, nicht einmal den Schmerz, und eines Tages wird alles vergessen sein‘: The Novels of Arnold Stadler from Ich war einmal to Ein hinreissender Schrotthändler. In: Neophilologus 87 (2003), S. 120. Vgl. Wacław Hryniewicz: Chrześcijaństwo a świat przyrody. In: Znak 637 (2008), https:// www.miesiecznik.znak.com.pl/6372008waclaw-hryniewicz-omichrzescijanstwo-a-swiatprzyrody/ [14.8.2020]. Der Lubliner Theologe Wacław Hryniewicz fordert zur Revision der Standpunkte auf, die die Tiere als zweitrangig betrachten, und sieht ihr Schicksal eng mit dem Schicksal des Menschen verknüpft. Vgl. Jesaia 65:25 und 1. Buch Mose. Stadler, S. 37. Ebd. Eine ähnliche Szene taucht an anderer Stelle im Roman auf, wenn ein Unfall für die transportierten Schweine glimpflich endet. Sie werden aber später geschlachtet. (vgl. Stadler, S. 301) Zur Funktion des Komischen bei Arnold Stadler vgl. Hans-Rüdiger Schwab: Formen des Komischen in Arnold Stadlers ‚Mein Hund, meine Sau, mein Leben‘. In: Jan-Heiner Tück (Hrsg.): „Auch der Unglaube ist nur ein Glaube“. Arnold Stadler im Schnittfeld von Theologie und Literaturwissenschaft. Herder: Freiburg, Basel, Wien 2017, S. 111‒130. Auf diesen Aspekt macht Günter Blamberger aufmerksam: „In Stadlers Roman ‚Einmal auf der Welt. Und dann so‘ ist das [der Tod, MJ] eine frühe Erfahrung und folglich ist schon das Kind ‚ein gezeichnetes‘. Auch wenn es nicht Menschen sind, die ihm sterben, sondern Tiere, ein Hund, eine Katze, ein Schwein […].“ Günter Blamberger: „denn es geht dem Menschen wie dem Vieh …“ Rede zur Verleihung des Kleist-Preises an Arnold Stadler am 22. November 2009 in Berlin. In: Kleist-Jahrbuch (2010), S. 4.

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und gegessen werden, erscheint in neuem Licht, wenn sie zu Produkten der anonymen industriellen Schlachtung werden: Und im Tiefkühlfach hatten wir immer proportionsgerecht geschnittene Teile von Lebewesen, die glückliche Kühe und Schweine waren, Vegetarier oder Allesfresser, die mit uns gelebt haben, von denen die Menschen, die wir waren, leben mussten.33

Dieser Prozess bekommt noch ein viel drastischeres Ausmaß, wenn der Erzähler seine Reiseeindrücke aus Südamerika vermittelt. Die Weidelandschaft wird mit Kälte assoziiert, die „in Quadrate aus Wind [eingeteilt war]“34. Die Schafe waren gebrandmarkt, nur „bei einem Schaf lohnte sich das Brandzeichen nicht. Aber ein Kind bekam es schon beim ersten Einfangen“35. Die weitere Beschreibung weckt Konnotationen mit dem Konzentrationslager: Dann standen sie [Schafe, MJ] nackt unter freiem Himmel und Disteln. […] Die geschorenen Exemplare standen mit den ungeschorenen in Regen und Wind, die auf ihrer Haut brannten. Das eine und das andere Gerippe lag schon ganz ausgebleicht in Sonne und Wind […]36

Diesen Höhepunkt vermögen die alten Tötungsnarrative nicht zu überbieten. Die kolonialen Vorstellungen über die Kannibalen aus dem Missionsheft Tamtam, das der Erzähler von dem Pfarrer Strittmatter bekam, stellten den Tod zwar als Blutrausch dar. Sie wurden jedoch mit Erfahrungen konfrontiert, die die vermeintlich brutale Welt der sogenannten Wilden relativieren: „Ich hätte erschaudern müssen […] Der KZ-Arzt Mengele kam ja auch von der Donau und lebte vielleicht noch […] Die Wilden, sosehr ich mich an ihrer Wildheit berauschte, beherrschten doch nur das kleine Einmaleins der Grausamkeit […]“37. Der Erzähler steigert sogar in seiner Beschreibung die Brutalität der rohen natürlichen Welt, gelangt jedoch zum Schluss: „Noch bei den ganz Wilden regierte die Logik des starken Geschlechts […] Die Geschichte […] war für uns beide eine Zumutung, der Rest war Natur, und die hatte ihr Gesetz, von Gott so gegeben, über das der Mensch nicht hinauskonnte und niemals verstand.“38 Als ihm in einem Klubgebäude in Pico Grande die Filme über die

33 34 35 36 37 38

Stadler, S. 66‒67. Ebd., S. 162. Ebd. Ebd., S. 163. Ebd., S. 204. Ebd., S. 205.

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blutige Tigerjagd auf einen Elefanten gezeigt wurden, „hatten diese Bilder von Menschenfressern, die nun folgten, etwas rührend Unbeholfenes“39. Die Loslösung des Erzählers von der Vergangenheit ist endgültig und unumkehrbar. Es ist auch der Bruch mit der symbolisch-allegorischen Welt, was der Hinweis auf die Schwertlilie verdeutlicht. Das traditionelle Symbol der „Verbindung zum Himmel“40 wird zum Zeichen des Verlustes umgedeutet: „Und so endet Schwackenreute. Ich war ein Kind: Ich war so groß wie eine Schwertlilie, ‚und das Heu roch nach der unglücklichen Liebe des Himmels zur Erde‘“41. Ähnlich geht er mit der in der christlichen Tradition überlieferten Unterscheidung zwischen Mensch und Tier um, die sich auf die aristotelische These von der Vernunft als dem unterscheidenden Merkmal stützt. Er handelt und denkt gegen diesen Grundsatz, wenn er sich in dem Glauben wähnt, „dass alles einen Sinn hat, und dazu ‚nihil sine ratione‘ ist“. Er möchte wie ein Anhänger von Aristoteles alles in einem ‚ursächlichen Zusammenhang‘42 sehen, und gleichzeitig verwechselt er immer wieder Sinn und Ursache. Jegliche Idealisierung der frühen Etappe seines Lebens ist nicht mehr möglich und die äußeren Parallelen, etwa der Vergleich mit Eichendorff, die einen gegensätzlichen Schluss ermöglichen würden, sind täuschend. In beiden Fällen, des großen Romantikers und des Erzählers, sind die Voraussetzungen strukturell beinahe identisch. Beide müssen die heimatliche Umgebung verlassen. Während für den Ersteren diese Zäsur seine schöpferische Kraft fördert: „Der schwarzblühende Flieder im August, die Familienpleite, hatte schon Joseph von Eichendorff zum Dichter gemacht, von der er ein Leben lang zehrte“43, wird sie für den Erzähler zu einer tragischen Erfahrung: „Das erste Mal in meinem Leben kam nun der tatsächliche Tod, der eigene, mit dem ich bisher nur gespielt hatte, ins Spiel, und zwar im Präsens.“44 Er identifiziert

39 40

41 42 43 44

Ebd., S. 286. „Die Schwertlilie oder die Iris ist eine Pflanze der nördlich gemäßigten Zone mit schwertförmigen Blättern und eine alte Heilpflanze, weshalb sie im Mittelalter als Marien-Symbol galt. Das zweigeteilte Blatt der Schwertlilie soll einerseits für die Schmerzen des Herzens Marias stehen, andererseits für ihre Standhaftigkeit gegenüber dem Teufel. Die Schwertlilie ist außerdem ein Symbol für die wahre Fleischwerdung Jesu und wird in christlichen Kunstwerken als Attribut der Gottesmutter mit dem Kind verwendet. Die Lilie wird auch als Botin göttlicher Weissagungen und als Verbindung zum Himmel gesehen.“ https:// www.logo-buch.de/logo-aktiv/wissensbibliothek/christliches-lexikon/schwertlilie [20.10.2020]. Stadler, S. 48. Ebd., S. 57. Ebd., S. 79. Ebd.

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sich eher mit der gespaltenen Persönlichkeit Adalbert Stifters45, dessen Leben, nachdem er das heimatliche Oberplan verlassen hatte, der verzweifelten Suche nach dem ganzheitlichen Prinzip untergeordnet war: ,Ich bin oft vor den Erscheinungen meines Lebens, das einfach war, wie ein Halm wächst, in Verwunderung geraten‘, und doch bin ich schließlich an meiner eignen Wunde gestorben… . (so ergänze ich einen schönen Satz). Adalbert Stifter, ein Dichter, brachte Licht in mein Leben, dunkles Licht … ‚als liege eine sehr weite Finsternis um das Ding herum‘. Ich hatte einen Selbstmörder als Lebenshilfe, seine Nachsommerwelt als Trost, diesseits und jenseits vom Himmelreich, einer Ortschaft, einfach, wie ein Halm wächst.46

Im Gegensatz zu seinem großen Vorbild kann er nicht mehr einen literarischen Gegenentwurf zu seiner Lebenserfahrung – eine „Wunsch-Autobiographie“47 schaffen. Bei Stifter streift der wandernde Ich-Erzähler auch relativ neue Wörter wie Fabriken und Maschinen; Naturgeschichte, Pflanzen und Tiere, Mineralien und Menschen, wie sie immer waren und nie, sind aber Gelände, wo er sich lieber aufhält. Die Jäger des Hirsches nennt der Ich-Erzähler Mörder. Das ist eine bezeichnende Stelle für Stifters Menschen- und Tierbild. Schon um solcher Sätze willen mußte ein Tierfreund einst Stifter lieben, der seine Tiere vermenschlichte, ja vergötterte.48

Das Wesen der positiv erinnerten Vergangenheit bildet bei Stadler eine flüchtige Ganzheit, die nicht die religiös-romantischen oder durch den poetischen Realismus vorgeprägten Vorstellungen, sondern die kurzfristige, auf den ersten Blick alltäglich-ursprüngliche Einheit von Menschen und Tieren ausmacht. Stadler veranschaulicht dieses Konzept anhand von drei Geschichten aus früher Phase des Lebens des Erzählers, in denen die Tiere zentral sind. Er legt den Nachdruck auf die innige Beziehung, die zwischen dem Kind und den von ihm betreuten Tieren besteht. Er nennt sie sogar „Liebe“49. Zunächst gibt der noch von der Welt nicht beeinträchtigte Zehnjährige im Gestus des ersten biblischen Menschen ihnen die Namen. Sie heißen Caro, Gigi, Frederick und werden in kurzer Zeit nacheinander getötet. Als sein Hund Caro von einem Auto überfahren wird, bleiben in seiner Erinnerung drastische 45 46 47 48 49

Stadler gibt seiner Verbundenheit mit dem österreichischen Schriftsteller in seinem Buch Mein Stifter. Portrait eines Selbstmörders in spe und fünf Photographien Ausdruck. Stadler, S. 80. Arnold Stadler: Mein Stifter. Portrait eines Selbstmörders in spe und fünf Photographien. btb: München 2009, S. 78. Ebd., S. 85. Stadler, S. 37.

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Bilder haften, die sich aus der Intensität dieser Erfahrung, aber auch der engen Bindung ergeben und den Erzähler an den Rand des Wahnsinns und des Suizids treiben. Er evoziert das naturalistische Bild50 des toten Tieres unter dem Kastanienbaum: „Da triefte doch Blut aus seinem Mund, ich kann nicht Schnauze sagen, aus der Tiefe, da lebte er doch noch.“51 Dann geht er mit dem toten Tier ähnlich wie mit einem Angehörigen um: „Und dann eine Art Gegenüberstellung, die Identifizierung am Ort, an den ich gerufen wurde und wo es geschehen war: Da musste ich meinen Toten identifizieren: Ja, du warst es“52. Dasselbe bezieht sich auf die Trauer um die personifizierten Tiere („Der Abschied war herzzerreißend“53), die von Gebeten „Requiem aeternam für den Hund und mein Lux aeterna“54 begleitet wird. Hinzu kommen die typischen Worte der Erinnerung an die Verstorbenen, die die guten Eigenschaften der getöteten Katze Gigi, hier die mütterliche Fürsorge („Was für eine gute Mutter sie war!“55), betonen, und der Hinweis auf ihre Abstammung, die zum Bestandteil der Familiengeschichte erhoben wird: „Meist lebten wir nebeneinanderher, die fünfzehnte Generation seit Tirol neben der vierhundertfünfzigsten Katzengeneration.“56. In der Romantrilogie begleiten sie die Menschen von Anfang an und sind für die Ferkelhändler und Viehzüchter im Badischen die Existenzgrundlage. Ihre Präsenz geht aber über das rein Ökonomische dermaßen hinaus, dass sich ihre Namen mit den Namen ihrer Besitzer verflechten. Stadler drückt das auf eine derbe Art und Weise aus, indem er den Namen eines seiner Urgroßväter anführt: „Sau-Schwanz (die Nachfahren leben heute noch unter diesem Namen in Schwackenreute)“57 Stadler ist zunächst bestrebt, die Grenze zwischen Tier und Mensch zu überwinden. Den Tieren wird eine Autonomie58 zugesprochen, die auch für die Menschen gilt. Sie sind nicht nur treue Lebewesen, denen gegenüber eine

50 51 52 53 54 55 56 57 58

Vgl. Lothar van Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Niemeyer: Tübingen 2003. Stadler (wie Anm. 3), S. 34. Ebd. Ebd., S. 35. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 13. Diese Bestrebung korrespondiert mit den neuesten Forschungsansätzen. Borgards schreibt zusammenfassend: „Nun ist Annahme einer anthropologischen Differenz und einer überlegenen Sonderstellung des Menschen gegenüber den Tieren in den letzten Jahren […] unter Druck geraten.“ Roland Borgards (Hrsg.): Einleitung: Cultural Animal Studies. In: Ders.: Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler: Stuttgart 2016, S. 1.

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Sensibilität entwickelt wird, Begleiter59 oder „andere Wesen“60, die Aufmerksamkeit verdienen. In der Kindheit des Erzählers sind sie gleichberechtigte Figuren, die ähnlich wie die Menschen betrachtet werden. Ihr Verlust stellt einen unwiederbringlichen Schaden dar. Vor diesem Hintergrund kehren sie immer wieder als konstanter und unersetzbarer Bestandteil in die Erinnerung des Erzählers bis zu letzten Episoden des Romans zurück. Mehr noch: das Erfahrene ist ohne sie nicht zu denken. Sie gehören – wie Peter Hamm schreibt ‒ „gewissermaßen zur Identitäts-Ausstattung dieses Autors“61 und nach Martin Walser dienen die Tiere „zur Steigerung seiner Einsamkeit“62. Die Zerstörung der „Freundschaft“63 mit dem Ferkel Frederic, das der Erzähler besser verstanden hat als seinen Onkel, der es geschlachtet hat, raubt ihm das Vertrauen in die Menschen („Was soll ich von einem Menschen noch erwarten?“64) und schafft die endgültige Zäsur, die das erfahrene Leben in ein erinnertes verwandelt: „Der Tod dieser drei Lebensgefährten auf Zeit machte mich zu einer Art Schriftsteller, in jenem Augenblick, der mir die Sprache verschlagen hat.“65 Er löste auch den Verlust des spontanen, unreflektierten Glaubens aus: „Seit dem Tod von Caro, Gigi und Frederic habe ich den Glauben verloren. Es war freilich nur ein Kinderglaube.“66 Darüber hinaus lässt er ihn grundsätzliche existenzielle Fragen stellen, die allem Anschein nach von etablierten Erklärungsinstanzen nicht beantwortet werden können: Und dieser gehäufte Tod war wohl auch der Grund für mein späteres Theologiestudium, der mich in die Ewige Stadt führte. Dort konnte ich freilich über den Verbleib meiner Geliebten und über den Sinn unserer Einmaligkeit, unseres Lebens auf Zeit, unserer ewigen Liebe, die von keinem von uns jemals widerrufen wurde, sage ich als Überlebender, nichts erfahren.67 59 60 61 62 63 64 65 66 67

Vgl. Judith Klinge/Andreas Kraß (Hrsg.): Tiere. Begleiter des Menschen in der Literatur des Mittelalters. Böhlau: Köln 2017. Vgl. Friedrich Burkhard: Die anderen Wesen. Tiere in unserem Alltag – Betrachtungen über das (Nicht)lassen Können. Rediroma: Remscheid 2020. Peter Hamm: Arnold Stadler oder Das übermütig vertuschte Unglück. Laudatio. In: https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/arnoldstadler/laudatio [15.09.2020]. Martin Walser: Das Trotzdemschöne. Der Erzähler Arnold Stadler und seine Prosatrilogie. In: Pia Reinacher (Hrsg.): „Als wäre er ein anderer gewesen“. Zum Werk von Arnold Stadler. Fischer: Frankfurt a.M. 2009, S. 303. Stadler (wie Anm. 3.), S. 37. Ebd., S. 38. Ebd. Ebd., S. 353. Ebd., S. 38.

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Der Schwund der letzten materiellen Anhaltspunkte treibt den schwierigen Erkenntnisprozess an seine äußersten Grenzen: „Die Fotos mit Gigi und Caro, uns als die jeweils Einzigen auf der Welt zeigend, sind verloren. Anhand der Erinnerung müsste ich die meisten Verluste rekonstruieren. Anhand der Erinnerung an verlorene Fotos …“68 Die Rekonstruktion der verlorenen Welt erweist sich als ein schwieriger Reifeprozess eines Schriftstellers, der sich erst ähnlich wie die Figuren aus den Texten des eingangs zitierten Hölderlin von den durch die Zivilisation aufoktroyierten Denkweisen befreien muss. Da er im Gegensatz zu den Heiligen, die über die Fähigkeit der Bilokalität verfügten, „überall, wo [er] war, nur halb“69 ist, gleicht seine Erinnerungsarbeit einem Drahtseilakt ohne Aussicht auf die Wiederherstellung eines ganzheitlichen Bildes, das ihm von Anfang an unzugänglich war. Jegliche Versuche, die Tiere auf eine bloße Fiktion zu reduzieren, werden zum Scheitern verurteilt. Die Belege dafür liefert die Begegnung des Erzählers mit Friedrich Wilhelm von Streng, dem „Don Quixote von Pico Grande“70. Er ist eine gezwungene Nachbildung des weisen Meisters aus Stifters Roman Nachsommer, der sich „am schönsten Ort in den Bergen niedergelassen hatte“71 und, umgeben von Kunstwerken, aus der Distanz seiner Abgeschiedenheit, seinem Schüler Heinrich Drendorf eine neue Erkenntnisperspektive („das richtige Leben“72) öffnet. Als seine groteske Kopie wohnt Fritz „etwas außerhalb, in einem kleinen Holzhaus, das in der Mulde stand“73 und „voller Elektrogeräte“74 war, die wegen des mangelnden Stromanschlusses unbrauchbar waren. Er entwickelte anhand der biblischen Geschichten eigene theologische Entwürfe, die die „Ausflüchte“75 Abrahams oder Jonas thematisieren. Gewissermaßen spiegeln sie im Kleinen die Realitätsfremdheit und Willkür mancher geschichtlichen Projekte wider, etwa der geplatzten Großmachtphantasien der ganzen Gesellschaft aus der Zeit der Kolonialisierung der Amazonas-Region und der Wilhelminischen Ära. Er war übrigens der ideologischen Vereinnahmung, die diesen Projekten anhaftet, selber zum Opfer gefallen, als er 1936 wegen des „Gesetzes zur Wiederherstellung der Ehre des Berufsbeamtentums“ und 68 69 70 71 72 73 74 75

Ebd., S. 34. Ebd., S. 136. Ebd., S. 182. Ebd., S. 183. Ebd., S. 183. Ebd., S. 182. Ebd. Ebd., S. 183.

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des berüchtigten „Unzuchtsparagraphen  175“76 aus Deutschland fliehen musste. Nicht zufällig wird sein Gesicht als „der Schauplatz einer universalen Kriegsgeschichte“77 bezeichnet und er selbst wird zu einer Art Ahasverus, einem anonymen „Weltreisenden“78, bei dem „alles eine Erklärung [verlangte]“79. Diese Funktion soll im Text eine „Predigt“80 über den Haifisch erfüllen, die zunächst auf die Worte eines Jesuitenpaters rekurriert, der mit Hilfe der Instrumente der natürlichen Theologie den Sinn des Hais zu bestimmen versucht. Der Hai sei der Stellvertreter Gottes im Wasser, ähnlich wie der „Papst auf Erden“81. Die „Rechtfertigung des Haifischs aus dogmatischer Sicht“82 gerät aber bald bei der Betrachtung seines Tötungsinstinkts in Aporien. Die erwünschte Kausalität der Schlussfolgerung wird durch einen manipulativen Einfall verteidigt: „[…] wird Ihnen sogar ein Arm oder der Kopf abgebissen. Was sagen Sie dann? – Falsch gefragt! Dummkopf, der Ihnen nicht weggebissen ist! Sie müssen viel ursprünglicher fragen: Warum und wozu habe ich einen Kopf?“83 Die weitere Argumentationsführung verwandelt sich in eine emotionale Rede („fast schon Mystik“84), die den christlichen Opfergedanken und das Geheimnis mitsamt dem liturgischen und litaneiartigen Vokabular pervertiert, so dass sowohl der Erklärer als auch der Zuhörer sich in einen suizidalen Wunsch hineinsteigern lassen. Beide Figuren schrecken vor den letzten Konsequenzen ihres geistigen Gedankenexperiments zurück, d.h. sie weigern sich, ins Wasser zu springen, um schnell ins Paradies zu kommen, so dass narrativ das ganze Geschehen zu einer marginalen Episode degradiert85 und die Diskrepanz zwischen dem Bezugsobjekt – dem Tier und der darin hineinprojizierten Fiktion sichtbar wird. Mit seinem Versuch, das Tier von rein fiktionalen Zuschreibungen zu befreien, ist Stadler in der Literatur der letzten Jahre nicht vereinsamt. In den Texten von Felicitas Hoppe wird dem Tier als Bezugsobjekt jegliche eindeutige Fixierung auf eine Bedeutung entzogen, was die Tendenz andeutet,

76 77 78 79 80 81 82 83 84 85

Ebd., S. 184. Ebd., S. 226. Ebd., S. 185. Ebd. Ebd., S. 187. Ebd. Ebd., S. 188. Ebd. Ebd., S. 189. Vgl. ebd., S. 190.

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ein stabiles Verhältnis zwischen Menschen und Tieren wiederherzustellen.86 Sie will nicht, wie sie selbst schreibt, „den Hund in ein Motiv verwandeln“87. Martin Mosebach ist in seinem Buch Was davor geschah (2010) bestrebt, das zentrale Motiv – den Kakadu, vor jeglicher Reduzierung auf eine in der Literaturgeschichte etablierte Bedeutung zu bewahren.88 Stadlers Tiere lassen sich nicht ersetzen, weder in der Kindheit des Erzählers, als ihm an die Stelle der getöteten Caro und Gigi ein Fix-undFoxi-Heft angeboten wird, noch im erwachsenen Leben, wenn an ihre Stelle die ideologischen Konstrukte treten, die in kolonialen oder faschistischen Machtentwürfen kulminieren. Die sekundären Diskurse entbehren jedes Mal des Substanziellen und Unwandelbaren, das das Tier verkörpert. In der Trennung von dem Tier kommt der Mensch nach Agamben zu der Erkenntnis, dass er „weder einen Archetypen noch einen sicheren Ort noch einen spezifischen Rang […] nicht einmal eigentlich ein Gesicht“89 [hat], und es bleibt ihm nur die „Entdeckung seines eigenen Ausbleibens“90 übrig. Stadlers Erzähler enthüllt während seiner Erinnerungsarbeit seine Vergangenheit überwiegend als illusorisch. Sie wird aber nicht ganz zerstört, wie das zum Beispiel bei dem großen „Abrechnungsvirtuosen“91 Thomas Bernhard der Fall ist. Die Reduzierung auf die nackte Existenz konfrontiert den Erzähler mit der Frage, was unter den aus der Distanz erkannten Elementen noch Bestand hat, was noch tragfähig ist oder sein könnte. Die positiven Gefühle und Sensibilität, die sich der ideologischen Vereinnahmung entziehen, sind an diejenigen Erinnerungen gebunden, die eng mit den Tieren zusammenhängen. Sie werden ihn bis zum Schluss begleiten. Wenn alle durchexerzier­ ten Absicherungen fallen und Zuordnungen verschwinden, was durch die 86

87 88 89 90 91

Maria Hinzmann schreibt: „Im performativen Akt der Narration verliert der Löwe seinen Symbolcharakter und grenzt sich von seinen Vorgängern ab. ‚Erzählendes‘ und ‚erzähltes‘ beziehungsweise ‚erlebendes Ich‘ fallen erst auf der letzten Seite zusammen.“ (184f.) „Das Verhältnis des Löwen zum Menschen sowie Mensch-Tier-Grenze insgesamt (diverse Überschreitungen eingeschlossen) sind zentral […] (201). Maria Hinzmann: „Ihr behauptet, ihr wisst, was Löwen sind?“ Sprünge über semantische Felder jenseits von Fakt und Fiktion bei Felicitas Hoppe. In: Svenja Frank/Julia Ilgner (Hrsg.): Ehrliche Erfindungen: Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne. Transcript: Bielefeld. S. 175‒201. Felicitas Hoppe: Paradiese, Übersee. Fischer: Frankfurt a.M. 2006, S. 13. Vgl. Marek Jakubów: ‚Myzel des Romans‘. Martin Mosebach – ein katholischer Autor. Wydawnictwo KUL: Lublin 2020, S. 86‒89. Agamben (wie Anm. 19), S. 39. Ebd., S. 40. Stadler (wie Anm. 47), S. 57.

Arnold Stadlers Tiere

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Versteigerung des Familienhauses und die Anspielung auf die Verlassenheit in der biblischen Getsemani-Szene angedeutet wird („In jener Nacht, bevor ich verraten wurde […]“92), überschneiden sich zum letzten Mal die Schicksale des Menschen und seiner Tiere, die „längst verkauft, abgeholt, geschlachtet, verwurstet, gefressen“93 wurden.

Bibliographie

Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2002. Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2003. Blamberger, Günter: „denn es geht dem Menschen wie dem Vieh  …“ Rede zur Verleihung des Kleist-Preises an Arnold Stadler am 22. November 2009 in Berlin. In: Kleist-Jahrbuch (2010), S. 3‒7. Borgards, Roland (Hrsg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler: Stuttgart 2016. Burkhard, Friedrich: Die anderen Wesen. Tiere in unserem Alltag – Betrachtungen über das (Nicht)lassen Können. Re Di Roma: Remscheid 2020. Esterházy, Péter: Rede auf Arnold Stadler zur Verleihung des Kleist-Preises 2009. In: Kleist Jahrbuch (2010), S. 8‒15. Hamm, Peter: Arnold Stadler oder Das übermütig vertuschte Unglück. Laudatio. https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/ arnold-stadler/laudatio (Stand: 15.09.2020). Hinzmann, Maria: „Ihr behauptet, ihr wisst, was Löwen sind?“ Sprünge über semantische Felder jenseits von Fakt und Fiktion bei Felicitas Hoppe. In: Svenja Frank/Julia Ilgner (Hrsg.): Ehrliche Erfindungen: Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne. Transcript: Bielefeld 2016, S. 175‒201. Hoppe, Felicitas: Paradiese, Übersee. Fischer: Frankfurt a.M. 2006. Hryniewicz, Wacław: Chrześcijaństwo a świat przyrody. In: Znak 637/6 (2008). https:// www.miesiecznik.znak.com.pl/6372008waclaw-hryniewicz-omichrzescijanstwo-aswiat-przyrody/ (Stand: 14.8.2020). Jakubów, Marek: ‚Myzel des Romans‘. Martin Mosebach – ein katholischer Autor. Wydawnictwo KUL 2020.

92 93

Ebd. (wie Anm. 3), S. 420. Ebd., S. 412.

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Marek Jakubów

Klammer, Angelika: Ein dummer Mensch. Interview mit Arnold Stadler über Literatur als stellvertretende Erinnerung, den „sprachverschlagenen“ Tod und sein eben erschienenes Buch „Einmal auf der Welt. Und dann so“. https://www.angelikaklammer.com/interviews/arnold-stadler.html (Stand: 30.05.2020). Klinge, Judith/ Kraß, Andreas (Hrsg.): Tiere. Begleiter des Menschen in der Literatur des Mittelalters. Böhlau: Köln 2017. van Laak, Lothar: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Niemeyer: Tübingen 2003. Langer, Stephan: Singen und Spielen, solange ich da bin. Der Schriftsteller Arnold Stadler im Interview. In: Christ in der Gegenwart v. 07.04.2019. https://www.herder. de/cig/cig-ausgaben/archiv/2019/14-2019/der-schriftsteller-arnold-stadler-iminterview/ (Stand: 13.11.2020). Müller, Lothar: Ein klarer Fall von Sehnsucht. In: Pia Reinacher (Hrsg.): ‚Als wäre er ein anderer gewesen‘. Zum Werk von Arnold Stadler. Fischer: Frankfurt a.M. 2009, S. 326‒329. Philippi, Klaus-Peter: ‚Parabolisches Erzählen‘. Anmerkungen zu Form und möglicher Geschichte. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Wissenschaft und Geschichte 43 (1969), S. 297‒332. Reinacher, Pia (Hrsg.): „Als wäre er ein anderer gewesen“. Zum Werk von Arnold Stadler. Fischer: Frankfurt a.M. 2009. Schwab, Hans-Rüdiger: Formen des Komischen in Arnold Stadlers ‚Mein Hund, meine Sau, mein Leben‘. In: Jan-Heiner Tück (Hrsg.): „Auch der Unglaube ist nur ein Glaube“. Arnold Stadler im Schnittfeld von Theologie und Literaturwissenschaft. Herder: Freiburg u.a. 2017, S. 111‒130. Stadler, Arnold: Komm, gehen wir. Fischer: Frankfurt a.M. 2007. Stadler, Arnold: Einmal auf der Welt. Und dann so. Fischer: Frankfurt a.M. 2009. Stadler, Arnold: Mein Stifter. Portrait eines Selbstmörders in spe und fünf Photographien. btb: München 2009. Taberner, Stuart: ‚Nichts läßt man uns, nicht einmal den Schmerz, und eines Tages wird alles vergessen sein‘: the Novels of Arnold Stadler from Ich war einmal to Ein hinreissender Schrotthändler. In: Neophilologus 87 (2003), S. 119‒132. Tück, Jan-Heiner (Hrsg.): „Auch der Unglaube ist nur ein Glaube“. Arnold Stadler im Schnittfeld von Theologie und Literaturwissenschaft. Herder: Freiburg u.a. 2017. Walser, Martin: Das Trotzdemschöne. Der Erzähler Arnold Stadler und seine Prosatrilogie. In: Pia Reinacher (Hrsg.): „Als wäre er ein anderer gewesen“. Zum Werk von Arnold Stadler. Fischer: Frankfurt a.M. 2009, S. 297‒305.

TEIL III Nicht menschlich

Ein Bestiarium des nationalsozialistischen Grauens. Gezeichnete Tiere in Regina Hofers und Leopold Maurers Comic Insekten Gudrun Heidemann Abstract Zum ideologisch aufgeladenen NS-Sprachgebrauch gehört u.a. die herabsetzende Bezeichnung von Menschen als Schädlinge oder Parasiten. Insekten wie Ameisen können allerdings ebenso als Vorbild einer sozialen oder militärischen Ordnung dienen. Das von Hofer und Maurer gezeichnete Bestiarium zeigt Opfer wie Täter*innen als verschiedene, teils nicht zu identifizierende Insekten, die die abgebrühten Augenzeugenberichte eines SS-Mitglieds, des Großvaters von Maurer, im Widerspruch hierzu wie im Einklang hiermit bebildern. Als Schwärme breiten sich die Tiere nicht nur im grafischen Raum aus, sondern verbinden auch Zeitebenen visuell und evozieren surrende Geräuschkulissen. Dass der Enkel sich selbst in Rückblicken teils als mutiertes Insekt zeichnet, knüpft gleichfalls an die Ambivalenz der Tiersemantik an und deutet auf die belastende Auseinandersetzung mit seiner Nachkommenschaft. Piktoral verdichtet sich dies etwa in Hasenjagdszenen, in denen sich die Beute als menschliche Opfer erweist. Die tierlichen Akteure und das grafische Schwarzweiß erinnern zwar an Art Spiegelmans Maus, jedoch erfolgt in Insekten hiermit keine konsequente Kennzeichnung von Opfern und Täter*innen. Vielmehr erzeugt der Comic gerade durch die Verzahnung polyphoner und polygraphischer Wiedergaben eine drastische Poetik, die einen von vielen Tätern explizit und exemplarisch ebenso wie dessen Kompliz*innen ins ausdruckstarke Tier-Bild setzt.

Schlüsselwörter Augenzeugenschaft, Enkelgeneration, Jagd, Genozid, grafische Erfindung, LTI, Parasiten, Waffen-SS

1.

Ambivalente Insektenschwärme(rei)

In einem Straßeninterview von 2016 bezeichnet eine Pegida-Demonstrantin die bundesrepublikanische Aufnahme von Geflüchteten als „gegen die Natur“ und vergleicht die Ankömmlinge mit Ameisen: © Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/97838467

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Gudrun Heidemann Sie haben ein Haus, da ist eine Ameise und dann noch eine und noch eine. […] Also ich bin ein Menschenfreund und Tierfreund, dann schaff’ ich die raus, mach’ sie nicht tot. Dann auf einmal kommen immerzu Ameisen, die laufen dadurch, über die Küche. Und, verstehen Sie? Die Masse macht’s. Ich hab’ doch nichts gegen Ausländer.1

Die allzu bekannte Ameisen-Metaphorik bezeugt das Gegenteil.2 So wird in der LTI (Lingua Tertii Imperii),3 etwa in einer vermeintlich naturwissenschaftlich fundierten Publikation zum Sozialparasitismus im Völkerleben von 1927 das jüdische Volk in Analogie zu bestimmten parasitären Ameisenarten gesetzt.4 Zehn Jahre später urteilt Goebbels in einer Rede über Jüdinnen und Juden unter anderem: „Sehet, das ist der Feind der Welt, der Vernichter der Kulturen, der Parasit unter den Völkern“.5 Die eingangs zitierte Äußerung lässt sich mit Kraske als „NS-Sprache reloaded“6 ausmachen, die Menschen nicht nur verachtend animalisiert, sondern als Parasiten verunglimpft.7 Ameisen konnotieren neben dem Parasitismus kulturhistorisch auch eine vorbildliche Ordnung, die etwa Benjamin Bühler wie folgt ausmacht: Seit der Antike bilden Ameisen mit ihrer hierarchisch streng geregelten Sozialordnung ein verbreitetes Modell für menschliche Sozialordnungen. In seinem

1 Vgl. Fabian Köster: Interview für die heute-show vom 07.10.2016. https://www.youtube.com/ watch?v=35zam9MJ5ac (Stand: 18.08.2021). 2 Vgl. weiterführend Michael Kraske: Tatworte. Denn AfD & Co. meinen, was sie sagen. Ullstein: Berlin 2021, S. 85–91. 3 Vgl. Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Reclam: Leipzig 1966. Klemperers zeitgenössische Analysen zur ‚Sprache des Dritten Reiches‘ erschienen erstmals 1947, wobei der Titel auf die unzähligen Kürzel im nationalsozialistischen Sprachgebrauch hinweist. 4 Vgl. Arno Schickedanz: Sozialparasitismus im Völkerleben. Lotus-Verlag: Leipzig 1927, S. 121f. Zitiert nach Alexander Bein: „Der jüdische Parasit“. Bemerkungen zur Semantik der Judenfrage. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 13/2 (1965), S. 121–149; hier S. 135. 5 Zitiert nach Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. De Gruyter: Berlin, New York 2007, S. 462. 6 Kraske (wie Anm. 2), S. 85. 7 Laut Claudia Jost handelt es sich bei Parasiten auch um einen Mitesser im Sinne von Tischgenossen. Vgl. Claudia Jost: Die Logik des Parasitären. Literarische Texte, medizinische Diskurse, Schrifttheorien. Metzler: Stuttgart/Weimar 2000, S. 3f. Diese Schwellenbefindlichkeit zwischen Freund und Feind erklärt Derrida damit, dass man „den guten Parasiten und den schlechten Parasiten nicht in aller Strenge unterscheiden kann, wie man gerne möchte, noch zwischen Gut und Böse allgemein. Das Schlechte ist nicht das Gegenteil des Guten. Es ist sein supplementärer Parasit.“ Jacques Derrida: Die Signatur aushöhlen. Eine Theorie des Parasiten. Aus dem Französischen von Peter Krapp. In: Pfeil, Hannelore/ Jäck, Hans-Peter (Hrsg.): Eingriffe im Zeitalter der Medien. Hanseatischer Fachverlag für Wirtschaft: BornheimRoisdorf 1995, S. 29–41; hier S. 33.

Ein Bestiarium des nationalsozialistischen Grauens

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berühmten Bild einer ‚überamerikanischen Stadt‘ hat Robert Musil den totalitären Kern dieses Staatsmodells herausgestellt.8

Erhard Schütz betont in seinem Artikel Mit Ameisen (und Termiten) durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass die Menschen im Bombenkrieg, der Massenbewegungen in Gang setzt, „als Termiten oder – wie bei Jünger – als Ameisen beschrieben“9 werden: „Das Bild der Ameisen korrespondiert dem der ‚Herde Menschentiere‘ auf dem Weg zum Bunker.“10 Hier sind es eher die verirrten Ameisenmassen, die aus Vogelperspektive gleichsam nach der Erschütterung eines Ameisenhaufens wahrgenommen werden, während Bühler den „faschistoiden Charakter des Ameisenmodells“ neben „Kriege und Schlachten der Ameisenvölker“11 stellt.12 Für den vorliegenden Kontext erweisen sich die unterschiedlichen Ameisen-Analogien deswegen als aufschlussreich, weil in Regina Hofers und Leopold Maurers Comic Insekten von 2019 ebenfalls keine strikte Markierung der titelgebenden Tiere für Angehörige eines Kollektivs erfolgt. Ihre piktorale Realisierung von Tier-Metaphern bzw. Zeichnung tierlicher Gestalten konnotiert etwa Tod und Verwesung angesichts nationalsozialistischer Massenmorde, an die sich Maurers Großvater als Täter weitgehend schamlos erinnert.13 Seine Berichte während eines Interviews, aber auch vorangegangener Gespräche sind Augenzeugnisse, denen die Autorin und der Autor ihre Bilder des Grauens hinzufügen, auf denen vorwiegend Insekten als zeichnerisch evozierte Geräuschkulisse, die teils bis in die Interviewgegenwart verlängert wird, als Opfer, aber auch als Täter auszumachen sind. Diverse Kerbtiere dienen zudem als Bindeglied zwischen den – pro Seite jeweils vier und darüber hinausgehenden – Panels. Die zeichnerisch eingesetzten Insekten erweisen sich einerseits als fluider Massenschwarm von Parasiten, der an 8 9

10 11 12 13

Benjamin Bühler/Stefan Rieger: Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 2006, S. 15. Erhard Schütz: „… ein Vorbild für jedes Menschenvolk“. Mit Ameisen (und Termiten) durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Scheuer, Hans-Jürgen/Vedder, Ulrike (Hrsg.): Tier im Text. Exemplarität und Allegorizität literarischer Lebenswelten (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 29). Peter Lang: Bern u.a. 2015, S. 193–212; hier S. 206. Ebd. Bühler/Rieger (wie Anm. 8), S. 15. Vgl. zur Kollektivsymbolik der Ameisen als ‚politische Tiere‘, die zu vielfachen Analogien führen, Niels Werber: Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte. S.  Fischer: Frankfurt a.M. 2013. Dass wir es mit einem autobiografischen Comic Maurers zu tun haben, wird an Formulierungen wie „mein Großvater“ deutlich. Dies gilt insbesondere für die letzten Seiten. Vgl. Regina Hofer/Leopold Maurer: Insekten. Luftschacht: Wien 2019, S. 235–237.

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Gudrun Heidemann

Schädlingsbefall und Vernichtung erinnert, andererseits als Tiervolk nach totalitärem und soldatischem Muster. Dies verdichtet sich im Coverbild, das als einziges farbig ist und worauf Ameisen, Raupen, Maden, Bienen, Fliegen, zum Teil nicht zu identifizierende Käfer etc. einen menschlichen Kopf samt Hals bis zu den Schultern massenhaft befallen resp. bilden (vgl. Abb. 1). Halbtransparent und weiß hervorstechend sind ein Parteiadler mit Hakenkreuz und ein SS-Totenkopf über den Insekten oberhalb der Stirn montiert, deren Augenfälligkeit und Anordnung ebenso wie die von den Tieren gebildeten Konturen eine SS-Schirmmütze erahnen lassen. Hinzu kommt ein ‚germanisches SS‘, das gleichfalls halbtransparent und weiß, dort hervorsticht, wo sich bei einer Uniform aus Trägersicht die rechte Schulterklappe befindet.

Abb. 10.1

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Vor wie nach der Lektüre und Sichtung des Comics lässt sich dieses Insektenkollektiv nicht eindeutig interpretieren. Handelt es sich um einen Befall derjenigen Parasiten, die lange vor ihrer grausamen Massenvernichtung zu Schädlingen erklärt wurden, aus Rache an einem SS-Mitglied, das nach wie vor zum Nationalsozialismus steht? Besteht dieses mit SS-Insignien ausgestattete Porträt aus unterschiedlichsten Insektenschwärmen, um einen kollektiven soldatischen Vernichtungsapparat zu signalisieren? Erinnert sich die von Insekten übersäte Person zwar an das mit den Leichenmassen einhergehende Insektenaufkommen, was das Ausmaß der Grausamkeit markiert, kann ihre SS-Mitgliedschaft jedoch nicht vergessen? Geschickt ist auch die erkennbare Augenstellung nicht eindeutig. Es kann sich ebenso um den Blick eines Toten handeln wie um einen beobachtenden Blick angesichts eines Befalls, der, wie der verdeckte Mund anzeigt, zum Verstummen zwingt. Blickt diese Person besorgt, verwundert oder gar nicht gen SS-Schirmmütze? Im Kontrast und zugleich im Einklang hierzu steht das schwarzweiße Frontispiz, das um den weißen, leicht handschriftlich stilisierten Titelschriftzug einen dichten schwarzen Insektenschwarm zeigt, aus dem bezeichnenderweise ebenso Tiere davonfliegen wie in ihn hinein. Den Ambivalenzen dieses Bestiariums werden die folgenden Ausführungen exemplarisch folgen, um zu zeigen, wie sich die ‚Worttiere‘ und ‚Tierworte‘ zeichnerisch niederschlagen und dadurch in einen korrespondierenden wie kollidierenden Dialog zum verbalen Narrativ treten.14 2.

Temporale Simultaneität, grafische Materialität: Tisch als (V)Ermittler

Georg Seeßlen stellt zum Genre ‚Graphic Novel‘ fest, dass diese ein Autoren-Comic besonderer Art [ist]. Die eigene Handschrift ist bedeutender als die Vorgabe des Genres. Graphic Novels ist mehr oder minder direkt ein autobiographischer Gestus zu eigen, auch dann, wenn es nicht um autobiographische Motive geht. Die Anwesenheit von Autorin oder Autor im eigenen Werk ist so bedeutend wie in der Literatur. […] In der Graphic Novel lassen sich subjektive Geschichten aus den historischen Geschichten gewinnen, sie liefern Plastizität und Nähe, die ein „geschriebener Roman“ nicht leisten kann. […] In der Graphic Novel gibt es die Suche nach einer „Essenz“, man sucht nicht allein, eine Geschichte zu erzählen, sondern das Wesentliche einer Epoche oder einer historischen Situation. […] Geschichte und Politik auf der einen Seite, Biografie 14

Angesichts des fast 240 Seiten umfassenden Comics kann eine solche Betrachtung nur ausschnittsweise erfolgen, zumal viele weitere Parameter zu berücksichtigen wären.

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Gudrun Heidemann und Reportage auf der anderen bilden die idealen Eckpfeiler […]. Der Hintergrund ist ebenso wichtig wie der Held, die Heldin oder die Heldengruppe […,] Landschaft und Architektur [erzeugt sich] nicht nach den Bedürfnissen der Handlung, sondern bildet die epische Kulisse und, mehr noch, die historischsymbolische Erfahrungswelt. Für eine Graphic Novel ist es ganz entscheidend, dass der Hintergrund „stimmt“, es gibt eine wesentliche Verpflichtung gegenüber dem Dekor. Allen Graphic Novels ist elementar, dass sie über einen hohen Grad an Selbstreflexion verfügen. Sehr häufig erzählen sie deshalb auf mehreren Ebenen, in Rückblenden und Parallelen.15

Die genannten Merkmale treffen auf Insekten, hier synonymisch auch als Comic bezeichnet,16 zu. Hofer und Maurer interviewten den Großvater des Autors und Zeichners 2004, was sich in Text und Bild niederschlägt. Es erfolgen zudem ebenso Wechsel zwischen der Interviewgegenwart, der Vergangenheit des Großvaters und der Kindheit resp. Jugend seines Enkels. Der Comic weist durch das künstlerische Duo naturgemäß zwei Zeichenstile auf, die sich deutlich unterscheiden und die Epochen verschieden zum Ausdruck bringen. Für den Nationalsozialismus wurde überwiegend ein ganz eigener Schrift- und Zeichenstil gewählt – oft Weiß auf Schwarz. Als Tiere kommen häufig, aber nicht nur Insekten vor, die schon wegen der grafischen Darstellung keine reinen ‚Worttiere‘ wie in der verbalsprachlichen Literatur sind. Oft agieren die Tiere wie Menschen oder umgekehrt die Menschen in Tiergestalt, weshalb sie mit Roland Borgards u.a. in Anlehnung an Latour als Akteure betrachtet werden können.17 So fungieren Tiere auch in Insekten als „materiell-semiotische Mischwesen“.18 Auch wenn es sich hier um die Erinnerungen, Augenzeugenberichte und Kommentare eines Täters handelt, die der Enkel samt seiner Mitautorin verbalsprachlich wie grafisch und piktoral bearbeiten, kann Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale von 1986/1991 als Prätext angeführt werden.19 Wie Ole 15 16 17 18 19

Georg Seeßlen: Rückkehr und Erinnerung. Zehn Variationen der neunten Kunst. In: Knigge, Andreas C./Korte, Hermann (Hrsg.): Graphic Novels. (TEXT + KRITIK Sonderband). Edition Text + Kritik: München 2017, S. 5–36; hier S. 10, 11, 13. Der Grund liegt darin, dass die Bezeichnung ‚Graphic Novel‘ häufig schlicht dazu dient, die Texte nicht mit Kinder- oder Jugendbüchern zu verwechseln und das Genre aufzuwerten, was meines Erachtens zwischenzeitlich hinfällig ist. Vgl. Roland Borgards: Tiere und Literatur. In: Ders. (Hrsg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Metzler: Stuttgart 2016, S. 225–244; hier S. 234–236. Ebd., S. 236. Vgl. Art Spiegelman: MAUS – A Survivor’s Tale. My Father bleeds History. Pantheon: New York 1986. Hierbei handelt es sich um den ersten Teil der Buchpublikation, deren Teile zuvor nach und nach in einem Comic-Magazin veröffentlicht wurden, der zweite Teil And Here My Troubles Began erschien 1991.

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Frahm in seiner ebenso elaborierten wie überzeugenden Studie Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale feststellt, handelt es sich um „ein bedeutendes Beispiel für die Veränderung des Holocaust-Diskurses seit den achtziger Jahren des XX. Jahrhunderts.“20 Als solches gilt MAUS nicht nur in der Comic-Geschichte, sondern zwischenzeitlich auch in der Literatur- resp. Kulturgeschichte. Neben diesem Status sind angesichts von Insekten weitere Aspekte relevant. Frahm nennt zwei wesentliche Merkmale von MAUS – zum einen die Reflexion der Erinnerung des Vaters und seines Verhältnisses zum Sohn durch die Simultaneität zweier Zeitebenen auf den Seiten des Comics – die Gegenwart des Erzählens als Autobiographie des Sohnes und die Vergangenheit des Erzählten als Zeugnis des Vaters. Maus zeigt die vergangene Geschichte als immer schon Vermittelte, Abwesende, die in der Erinnerung konstruiert werden muß.21

In Insekten bildet die Vergangenheit überwiegend die teils fast nostalgischen, meist abgebrühten Erinnerungen an die Beteiligung grausamster Verbrechen, an das Unterwegs-Sein zu unterschiedlichsten Fronten, als handle es sich um eine Rundreise – zumal der Großvater fotografische Aufnahmen offeriert. Gleichzeitig geraten hier mehrere Zeitebenen in den Blick: die Interview-Gegenwart, verschiedene Kindheits- und Jugendszenen des Enkels – teils mit seinem Großvater – sowie eine kurze Episode von 2018 und die Berichte des Großvaters selbst, die größtenteils großflächig und konturhaft abstrahiert werden. Zum anderen führt Frahm die tierliche Darstellung der Figuren in MAUS an. Gezeichnet sind [a]lle Juden mit Mäuseköpfen, alle Deutschen mit Katzenköpfen, alle Amerikaner mit Hundeköpfen usw. MAUS thematisiert mit den Tierköpfen das Problem, vor das der Antisemitismus der Nationalsozialisten jede Darstellung von – durch die NS-Ideologie rassifizierten – Identitäten gestellt hat.22

20

21 22

Ole Frahm: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale. Fink: Paderborn, München 2006, S.  16. Dies unterstreicht auch Victoria Aarons: „Maus established the genre of the graphic novel as a legitimate form of Holocaust representation. Spiegelmans’s groundbreaking work created an opening for Holocaust graphic storytelling, legitimizing further experimentation with the graphic form as a meaningful, even provocative genre of literary expressions of the Shoah.“ Victoria Aarons: Holocaust Graphic Narratives. Generation, Trauma & Memory. Rutgers University Press: New Brunswich u.a. 2020, S. 1; vgl. auch ebd., S. 2f., 14, 32, 68, 92. Frahm (wie Anm. 20), S. 10. Kursiv im Original. Ebd.

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Gudrun Heidemann

Auch wenn in Insekten keine strikte Zuordnung gemäß der LTI bzw. NS-‚Rassenlehre‘ erfolgt, sondern es teils gerade Umkehrungen oder Dekonstruktionen in der Zuordnung von ideologisch Parasitärem kommt, wird eben diese Degradierung stets mitreflektiert. Ähnlich wie in MAUS wird „die ComicTradition der Darstellung mit Tierfiguren zitiert“23 und damit indirekt auf Spiegelmans Comic selbst angespielt. Auch die Tiere in Insekten führen zu „Frage[n] nach der Zuweisung ‚rassischer‘ Identitäten, nach deren ‚Wahrheit‘ und deren Macht mit Mitteln des Comics“.24 Frahm betont, dass im Gegensatz zur einzig verbalsprachlichen Literatur, „wo die Form, in der der Text erscheint, die Materialität der Zeichen auf der Seite oder an einer bestimmten Stelle innerhalb des Buches zumeist keine Bedeutung trägt, […] dies in Comics […] notwendigerweise der Fall [ist].“25 Dass in Insekten diese Materialität der Zeichnungen, aber auch der Schriftzeichen ein bedeutsames Merkmal ist, sei exemplarisch an einigen Seiten des ersten Kapitels, das den polysemantischen Titel „Tisch“ trägt, gezeigt. Der Kapiteltitel besteht aus einem schwarzen Quadrat, das an die suprematistischen Quadrate von Kazimir Malevič erinnert und auf dem in weißen Großbuchstaben das Wort ‚TISCH‘ steht. Derart führt der Titel einerseits in das Interview ein, für das sich der Enkel samt Partnerin buchstäblich wie sprichwörtlich an einen Tisch mit dem Großvater in Anwesenheit der Großmutter setzen. Der Enkelgeneration26 werden dabei Augenzeugenberichte und nationalsozialistisch infiltrierte Lügen aufgetischt. Zugleich wird ‚reiner Tisch gemacht‘, indem sich der Großvater – anders als im Familiengedächtnis, dem zufolge er als Fahrer fungierte – als wissender Täter erweist.27 Andererseits leitet das grafische Zitat der suprematistischen Ikone des 20. Jahrhunderts, 23 24

25 26 27

Ebd. Ebd. Gemeinhin würden Spiegelmans Tiermasken als „eine Metapher für die Entfremdung der Individuen, für die Vertierung durch den Holocaust, für den nationalsozialistischen Antisemitismus“ aufgefasst. Ebd., S.  12. Frahm hingegen zeigt, dass „die Tiergesichter als Masken ohne Dahinter begriffen werden müssen, die zugleich Metaphern und nicht Metaphern sind. Als Masken ermöglichen die Masken die Projektion eines Dahinters, das aber nie bewahrheitet wird.“ Ebd. Ebd., S. 13. Zur den Nachkommen nationalsozialistischer Täter*innen vgl. Sabine Bode: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Klett-Cotta: Stuttgart 2009. Ähnlich stellt auch Veronika Zoidl in ihrer Rezension zum Comic fest: „Es geht um Lügen und Halbwahrheiten, die dem Enkel wortwörtlich aufgetischt wurden, wann immer es um die Rolle des Großvaters in den Kriegsjahren ging. Diesem Enkel geht es nun, in der Auseinandersetzung mit den Interviewpassagen, um den sprichwörtlich reinen Tisch“. Veronika Zoidl: Insekten von Regina Hofer und Leopold Maurer. In: Medienimpulse. 57/4 (2019), S. 1–7; hier S. 3.

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die das abstrakt Gegenstandlose in der schwarzen Fläche verabsolutiert,28 in Hofers flächige weißschwarze Zeichnungen als Visualisierung der sprichwörtlich schwarzweiß malendenden Augenzeugenberichte ein. Hinzu kommt die Vogelperspektive auf die derart abstrahierte Tischplatte, die Fragen nach hier – noch und längst – fehlenden Beteiligten an den bevorstehenden wie einstigen Tischgesprächen hervorruft. In diesem einführenden Kapitel wird durch eine Mikroerzählung von 2008 das Tisch-Motiv durch einen Anruf aufgegriffen, den Maurer im Büro von Zuhause erhält, weil dort auf dem alten Tisch plötzlich ein Glas explodierte: „Der Tisch? Na ja, angeblich von der Tante meiner Großmutter. Die hat als Zimmermädchen bei einer jüdischen Familie gearbeitet … Und die mussten dann weg und haben ihr die Möbel geschenkt … Angeblich …“ „Ja … wer es glaubt …“29 Während das Gespräch auf der folgenden Seite in Sprechblasen ohne Hinweisstriche fortgesetzt wird – „Wie? Heute? Heute ist das? Der Jahrestag der Novemberpogrome?“ „Lauter kleine Splitter auf und um den Tisch? Na arg.“, werden gezeichnete Bilder zu den Novemberpogromen von 1938 gezeigt, als seien diese, worauf kleine Kreuzklickflächen in der rechten oberen Ecke hindeuten, im Internet aufgerufen worden. Die folgenden Seiten rufen die Pogrome im eher abstrahierenden Stil Hofers in Erinnerung, wobei die Bildüberschriften Aussagen zu der Glasexplosion mit Unmengen von Kristallsplittern, aber auch Kommentare zu jüdischen Hinterlassenschaften wie dem Tisch, der in einem Panel als antikes Exemplar auszumachen ist, beinhalten. Notwendig sind diese Erläuterungen angesichts einer tierlichen Darstellung, die in diesem Einführungskapitel ebenso polysemantisch wie polygrafisch die bekannteste Ikone des Bösen zeigt (vgl. Abb. 2).30 Die vier Panels lassen sich sowohl in gewohnter Richtung, aber auch von oben nach unten lesen. Hierdurch lässt sich in den rechten Panels Adolf Hitler ausmachen – oben als ameisenähnliches weißes Tier vor schwarzem Hintergrund, unten im stark konturierten Profil. Aufgegriffen wird damit nicht nur die anhaltende HitlerVerehrung des Großvaters, der – dargestellt als Kleinkind mit einem die Augen verdeckenden Stahlhelm – dessen Intelligenz und hypnotisierende Augen hervorhebt, sondern auch das eingangs erwähnte militärische Ordnungsmuster von Ameisen. Zu welcher Ermordungsmaschinerie dieses ausgebaut wurde, 28 29 30

Vgl. Irina Vakar: Kasimir Malewitsch. Das schwarze Quadrat. Geschichte eines Meisterwerks. Verlag der Buchhandlung Walther König: Köln 2018; Jeannot Simmen: Kasimir Malewitsch Das schwarze Quadrat. Vom Anti-Bild zur Ikone der Moderne. Fischer: Frankfurt a.M. 1998. Hofer/Maurer (wie Anm. 13), S. 15. Zur besseren Lesbarkeit wird die konsequente, teils semantisch aufgeladene Großschreibung im Comic in den Zitaten überwiegend nicht beibehalten. Ebd., S. 12.

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Gudrun Heidemann

Abb. 10.2

wird in Insekten noch zur Sprache gebracht und ins Bild gesetzt, weshalb das nunmehr schwarze Hitler-Insekt auf dem roten Rückdeckel wiederkehrt, als krieche es aus den letzten Comicseiten. Im vorliegenden einleitenden Kapitel nehmen analog zum Aufbau eines Geschichtsbuchs die Novemberpogrome den Anfang.31 Nicht zufällig sind daher auf einem der aufgerufenen Internetfotos Insekten zu sehen, die sich in (noch) keinem erkennbaren Muster auf 31

Zur nationalsozialistischen Propagandastrategie und dessen Außenwirkung vgl. Peter Longerich: Judenverfolgung und nationalsozialistische Öffentlichkeit. In: Platt, Kristin (Hrsg.): Reden von Gewalt. Fink: München 2002, S.  227–255. Komprimiert werden in dem Beitrag Etappen seit den Novemberpogromen dargelegt, die sich teils mit den thematischen Fokussierungen in Insekten decken – von angeeigneten Haushaltgegenständen deportierter Jüdinnen und Juden bis zu Massakern im Kriegsgeschehen reichen.

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einer Straße, die von oben gezeigt wird, zu verbreiten beginnen. Mit welcher Absicht dies geschah, zeigen die abgebrannten und brennenden Synagogen auf den übrigen drei Bildern. Die Internetquelle aller Bilder lässt vermuten, dass es sich um Fotografien als apparative Augenzeugnisse handelt.32 Hierbei führen die Straßeninsekten in einer Darstellung tierlicher Gestalten ein, mit der die Adaptionen allzu bekannter Aufnahmen und Szenen des Nationalsozialismus und seiner Gräueltaten neue Nuancen erhalten. 3.

Polyphone und polygrafische Aufnahmen von Insekten

Dass Insekten nicht nur in der nationalsozialistischen Vergangenheit auftauchen, sondern auch in der Interviewgegenwart, wo sie zudem als Bindeglied zu den Kindheits- und Jugenderinnerungen Maurers fungieren, wird im zweiten und längsten Kapitel „Aufnahme“ mehrmals deutlich. Auch dieser Titel ist mehrdeutig.33 Ins Auge fällt zunächst das in mehreren Panels gezeigte, teils zeichnerisch bis zum Detail der einliegenden Kassette vergrößerte Tonbandgerät, das diese ‚oral history‘ aufnimmt. Die Augenzeugenberichte werden wiederum zeichnerisch aufgenommen, wobei teils auf historische Aufnahmen – darunter säkulare Ikonen der Vernichtung34 – zurückgegriffen wird. Auch die vom Großvater berichtete Aufnahme in der Waffen-SS klingt in dem Kapiteltitel an. Das erste und zweite Panel zeigen auffällig die großelterliche Wohnungstür mit einem Holzrahmen, der eine Glasfläche mit unzähligen unregelmäßigen 32

33 34

Hofer/Maurer (wie Anm. 13), S. 15. Anders als etwa MAUS enthält Insekten keine Fotografien, die in Comics zur ‚oral history‘ oft als solche abgebildet sind, durchgepaust oder abgezeichnet werden. Vgl. zu derart dokumentarischen Aspekten in MAUS Frahm (wie Anm. 20), S. 142‒162. Allerdings verweisen die oben angeführten Internetbilder auf fotografische Zeugnisse historischer Ereignisse wie die Novemberpogrome, auf die Insekten hier und in anderen Fällen zurückgreift. Zu Spielarten im Umgang mit der (historischen) Zeugnis-Fotografie im Comic vgl. exemplarisch die zwischen 2003 und 2006 publizierte Dokumentation einer 1986 unternommenen Reise nach Afghanistan: Emmanuel Guibert/Didier Lefèvre/Frédéric Lemercier: Der Fotograf. Aus dem Französischen von Martin Budde. Ed. Moderne: Zürich 2015. Zur Fotografie im Graphic Memoir vgl. Johannes C.P. Schmid: Shooting Pictures, Drawing Blood. The Photographic Image in the Graphic War Memoir. Bachmann: Berlin 2016; Gudrun Heidemann: Grafisch reloaded: Lethotechniken mit dem Zeichenstift in Agata Baras Der Garten/Ogród und Nora Krugs Heimat. Ein Familienalbum. In: Dies. (Hrsg.): Lethe-Effekte. Forensik des Vergessens in Literatur, Comic, Theater und Film. Brill/Fink: Paderborn 2021, S. 211–237. Vgl. auch Zoidl (wie Anm. 27), S. 4. Vgl. Cornelia Brink: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945. Akad.-Verl.: Berlin 1998.

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Blasen einzufassen scheint. Diese Fläche, die fast das gesamte erste Panel einnimmt, erinnert an Bienenwaben. Zudem ist auf der oberen Holzleiste die Inschrift von Sternsingern mit Angabe der Jahreszahl 2004 zu erkennen. In dem scheinkatholischen Haushalt – zumindest der Großvater geht nicht in die Kirche – werden von der Hausfrau Getränke angeboten, der nervöse Großvater verlangt eine Flasche Wodka. Gegen Ende des Kapitels wird das Tonbandgerät ebenso wie die Wodkaflasche zeichnerisch wieder aufgegriffen. Dass es sich bei den folgenden Seiten um eine Erinnerung an das Interview von 2004 handelt, markieren drei Auslassungspunkte am linken oberen Rand des ersten Panels dieser Episode, wird aber auch durch vorangegangene narrative Vorblenden ins Jahr 2018 deutlich. Zwei der ersten vier Panels zeigen um den trinkenden Großvater unruhige Bewegungsstriche, die sich in den folgenden Panels als Kennzeichnung eines zunehmenden Fliegengeschwirrs erweisen. In Sprechblasen berichtet der Großvater hierbei über eine Invasion in Orléans aufgrund von Partisanen. Dort sei der Leiter seines Bataillons namens „Der Führer“ gefangen genommen und umgebracht worden. In dem Augenblick, in dem es heißt „Das kann ich dir beweisen.“, setzt sich eine Fliege aus einem großen Landschaftsgemälde mit Bäumen, Bergen und Fluss oder Bach, das an der Wand hinter dem Zuhörer mit dem Tonbandgerät hängt, in Bewegung und berührt dabei leicht die Sprechblase. Begleitet werden die folgenden emotionslosen Schilderungen grausamster Massenerschießungen von Zivilisten im Dorf Oradour von einem Fliegenansturm aus dem nunmehr reißend gewordenen Gewässer des gerahmten Gemäldes. Mit Ausblendung des Augenzeugen verlieren die Sprechblasen den Hinweisstrich und werden von einer gestrichelten Schwärze umgeben, als handle es sich um die Stechfliegenplage im Buch Mose.35 Die folgende Seite zeigt den Fliegenbefall auf dem Landschaftsbild mit einer stark vergrößerten Fliege in den ersten beiden Panels, die ein Avatar des Großvaters sein könnte. Im dritten Panel sind Fliegen oder Insekten in einem Gefäß – möglicherweise das zuvor gezeichnete Wodkaglas – eingepfercht und stellen so den Sprechblasentext dar, dessen Grausamkeit durch die plötzliche Distanz, die die dritte Person Plural herstellt, noch gesteigert wird. In den schwarzen Strichen des vierten Panels ist nichts mehr zu erkennen – eine Abstraktion, in der etwa Flammen oder gekrümmte Leichen auszumachen sind und die derart das Unfassbare des Gesagten zeigt (vgl. Abb. 3).36 35

36

Vgl. Hofer/Maurer (wie Anm. 13), S. 195f., 2 Mose, 8,16 und zum Massaker vom 10. Juni 1944, wobei diese Datumsangabe sich abschließend Weiß auf Schwarz über vier Panels einer Seite erstreckt – vgl. Hofer/Maurer (wie Anm.  13), S.  200 – vgl. Florence Hervé (Hrsg.): Oradour. Geschichte eines Massakers. PapyRossa-Verlag: Köln 2017. Hofer/Maurer (wie Anm. 13), S. 197.

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Abb. 10.3

Wenn sich der Großvater danach verbittert, wie eine Detailzeichnung seiner Mimik andeutet, darüber beklagt, dass die Mitglieder des gesamten Bataillons – „unser Bataillon“37 – als Kriegsverbrecher verurteilt wurden, und auf Nachfrage über sich selbst sagt zu wissen, wie man dem entkommt, wird die Aufnahme beendet, indem ein Finger auf die Stopp-Taste des Tonbandgeräts drückt. Zuvor wird das Interview von 2004 mehrfach durch Rückblenden unterbrochen, in denen gleichfalls Insekten als Akteure fungieren. Hierzu gehören Wohnzimmer-Szenen von 1985, die die Großeltern am Esstisch zeigen. Ihre Sprechblasen-Kommentare „Wir haben ja nichts gehabt früher.“ „Nichts!“ stammen von einem Kartoffelkäfer und einem ohrwurmartigen Kneiftier. Als Seidenwürmer auf dem Teller setzen sie fort: „Wir haben ja nichts gewusst.“ 37

Ebd., S. 198.

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„Niemand!“, um anschließend als Ameisen, die an einem Tassenhenkel hochkrabbeln, zu verkünden: „Die Juden sind doch auch nicht besser jetzt.“ „Nie!“ Als zwei Fliegen unter mehreren, die an drei von einer Zimmerdecke hängenden Insektenfänger-Klebestreifen festhaften, äußern die Großeltern-Avatare „Das ist so lange her, das alles, das sollte man endlich vergessen.“ „Jawohl!“38 Die folgenden Panels zeigen den Kreuzworträtsel lösenden Raucher-Großvater mit bezeichnenderweise nacktem Oberkörper und einer Fliegenklatsche, mit der er vergeblich zuschlägt, wobei die Sprechblasen seine unveränderte Überzeugung bekunden (vgl. Abb. 4).39

Abb. 10.4

38 39

Ebd., S. 40. Ebd., S. 41.

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Die lästigen Insekten, die auch an das Coverbild erinnern, spiegeln unter anderem die eigene Last, aber auch die Fragen oder Vorwürfe des Enkels, welche im Comic allerdings nicht verbalisiert werden, wider, die der Großvater ebenso wenig wie die Zimmerfliegen eliminieren kann. Wenn die Großeltern zuvor als Insekten einerseits ihre nationalsozialistischen Aktivitäten mit einer unerfüllten Jugend rechtfertigen und ihre Augenzeugenschaft leugnen, andererseits ihren Antisemitismus beibehalten und schließlich ‚endlich vergessen‘ wollen, so wird ein für diese Generation typischer Perspektivenwechsel deutlich. Hierbei steht die vermeintliche Unkenntnis der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Umsetzung im Widerspruch zur eigenen Beteiligung; ebenso wie sich antisemitische Überzeugungen zwar fortsetzen, jedoch verlangt wird, nicht mehr an deren verbrecherische Umsetzungen durch Massenmorde in der eigenen (Lebens)Geschichte zu erinnern. Hinzu kommt eine Selbststilisierung als Opfer: „Wir haben ja nichts gehabt früher.“ Das ebenso Paradoxale wie Absurde solcher Rechtfertigungen setzt Insekten ins Bild, indem die vermeintlichen Opfer als solche in Tiergestalt gezeichnet werden, was zugleich die LTI und NS-‚Rassenlehre‘ impliziert. Dass zeichnerisch durch die diversen Stubenfliegen und andere Insekten auch eine Geräuschkulisse des Grauens evoziert wird, zeigt später u.a. eine Rückblende ins Jahr 1991, in der Maurer eine einsame Fahrradtour zu einem Lagerfriedhof in Kaisersteinbruch im Burgenland unternimmt. Beim Betreten des Geländes tauchen, vom Besucher unbemerkt oder imaginiert, ebenso Soldaten wie Massengräber auf. Während sich der junge Mann einem Grabstein nähert, befindet sich dahinter – für den Besucher unsichtbar, aber in zwei Panels aus einer Perspektive hinter diesem Grabstein deutlich ins Bild gesetzt – ein Bienen- oder Wespennest. Der folgende Angriff des Insektenschwarms wird durch die Flucht des Rennradfahrers kenntlich gemacht, wobei die ausgedehnten Linien und Striche ein unerträgliches Summen nicht buchstäblich, sondern zeichnerisch hervorrufen. Eben eine solche semantisch aufgeladene Geräuschkulisse, die an die Massengräber erinnert, klingt auch in den übrigen Insektendarstellungen an (vgl. Abb. 5).40

40

Ebd., S. 132.

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Abb. 10.5

4.

Jagdinstinkt

Neben Insekten werden in dem Comic insbesondere in den Kindheits- und Jugendrückblenden Maurers auch Säugetiere ins Bild gesetzt. So wird in der Episode „Hunde und Katzen 1993“ berichtet, wie der Großvater seine alten oder kranken Hunde hinter dem Haus an einen Pfosten band und erschoss: „Unter Jägern soll das so üblich gewesen sein.“41 Noch im Alter von 24 Jahren hört Maurer angesichts zweier streunender kranker Kätzchen auf den Rat seiner Großmutter (vgl. Abb. 6).42 Analog zu den großelterlichen Insekten-Avataren 41 42

Ebd., S. 65. Ebd., S. 66.

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folgt aus der Augenzeugenschaft des Comic-Autors zeichnerisch eine Selbstdarstellung als eine Art Mistkäfer, dessen Punkte einerseits an den Kopf- und Halsschild eines Kartoffelkäfers, der als biologische Waffe im Zweiten Weltkrieg eingesetzt werden sollte,43 andererseits an einen als schädlingsbekämpfend geltenden Marienkäfer erinnern. Daher erweist sich dieser tierliche Avatar des Enkels als Mischwesen, das aus ‚bösen‘ und ‚guten‘ Anteilen besteht, denn einerseits kümmerte sich der junge Mann um die streunenden Tiere, andererseits lässt er deren Erschießung zu und ist dabei Augenzeuge. Belastend ist diese Zeugenschaft auch deswegen, weil analog hierzu die Großeltern in ihrer Jugend Verfolgungen und Deportationen sahen, der Großvater sich sogar an Massakern beteiligte.

Abb. 10.6 43

Vgl. Jan Mohnhaupt: Tiere im Nationalsozialismus. Hanser: München 2020, S. 77‒100.

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Letztgenanntes wird im Falle des Großvaters besonders drastisch deutlich, wenn Hofer seine Berichte über einen seiner Russland-Einsätze grafisch gestaltet: Wenn du das gesehen hättest, nach einer Kesselschlacht in Russland  … Kilometerlange Kolonnen von Gefangenen in Vierer-Reihen. Wenn einer von den Gefangenen einen Schritt aus der Reihe gemacht hat, wurde er sofort erschossen. Das muss du erlebt haben. Ich bin bald fertig.44

Die zu den zitierten Bildüberschriften gehörenden Panels zeigen Weiß auf Schwarz in einem großen Schriftzug „Chark(ow)“, darunter steht „1942“, wobei das „ow“ in das danebenliegende Panel hineinragt, das ebenso wie die weiteren drei Panels Schwarz auf Weiß aus Strichlisten in Vierer-Kolonnen besteht. In Leserichtung erhöht sich die Aufsicht auf die Strichlisten, so dass im vierten Panel vier Vierer-Kolonnen erkennbar sind.45 Die derart entindividualisierten Gefangenen visualisieren nicht nur das überlebensnotwendige Marschieren in Reih und Glied, sondern auch die eingangs zitierte militärische ‚Ameisenordnung‘. Zugleich zitieren die Striche den Zeichenstil Maurers, für den im Vergleich zur schwarzweißen Flächigkeit, durch die Hofer die geschilderten Gräueltaten meist distanzierend abstrahiert, eher konkrete gestrichelte Darstellungen charakteristisch sind. Die gegenüberliegende Buchseite greift wiederum die Flächigkeit Hofers auf, indem auf vier Panels im Hintergrund eine Küche mit Ober- und Unterbauten aus weißen Schranktüren und Schubladen samt einer dazwischen liegenden schwarzen (Kachel)Fläche sowie weißen quadratischen Fliesen auszumachen sind. Darin steht der Großvater, den Mauerer mit charakteristisch nach hinten gekämmten ‚Strich‘-Haaren kennzeichnet, und folgt den Anweisungen einer Hypnose-Kassette für seine Rückfälle als Raucher.46 Erstmals ist hier das gesamte Gesicht des Großvaters, wenn auch ohne Gesichtszüge auf Augen und Nase reduziert, dargestellt. Sein nervöses Rauchen begleitet sowohl das Interview von 2004 als auch weitere Gespräche und deutet hier aufgrund der Positionierung nach den Berichten über die Gefangenen von Charkow und durch das – wenn auch minimierte – ‚Gesicht-Zeigen‘ an, dass selbst der überzeugte Nazi von der eigenen Täterschaft vielleicht nicht vollends unberührt blieb – „Wenn du das gesehen hättest […]. Das muss du erlebt haben. Ich bin bald fertig.“47 44 45 46 47

Hofer/Maurer (wie Anm. 13), S. 138. Ebd. Vgl. ebd., S.  139. Das Tonbandgerät steht hierbei als Wiedergabemedium in einer aufschlussreichen Analogie zum Tonbandgerät, das die Interviews aufnimmt. Ebd., S. 138.

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Eine weitere Rückblende betrifft Maurers Mitgliedschaft in einer Blasmusikapelle, in die er vierzehnjährig nach zwei Jahren Bewährungsprobe aufgenommen wurde: „Reif für die Uniform … und reif für den Gleichschritt“ lauten zwei Bildüberschriften, deren Panels gesichtslose Personen in Trachten als Uniformen und vergrößerte schwarze Spielzeugsoldaten mit Gewehren im Anschlag in halber Aufsicht zeigen.48 Diese quasi-soldatische Sozialisation in einer ‚saufenden Gemeinschaft‘, die ein Panel im alkoholischen Exzess zeigt, endet drei Jahre später aufgrund der zu langen Haare des Burschen, da die Blasmusikkapelle – dargestellt als uniformierte Ameisenarmee – nicht erlaubt, „aus der Reihe [zu] tanzen.“49 Erneut erweist sich hier das Insekt in seinem „faschistoiden Charakter des Ameisenmodells“.50 Als Vierzehnjähriger, also etwa zeitgleich mit dem Eintritt in die Blasmusikkapelle fungiert Mauerer bei einer Jagd als Treiber. Das Aufschrecken der Hasen wird in diesem Fall anthropomorphisiert, wie die vier Panels unmissverständlich zeigen (vgl. Abb. 7).51 Im ersten Panel besteht schon wegen des mit Strichen gezeichneten Ackers eine Verbindung zu den vorangegangenen Bewegungsstrichen von Fliegen, zu Hofers Strichlisten und zu Maurers Tierdarstellungen im gestrichelten Stil. Die im Kreis stehenden Menschen und ein Hund sind im Kontrast zu der spärlichen Stoppelfläche schwarz gehalten. Es handelt sich um Treiber und Jäger mit Gewehren im Anschlag, die durch ihre Stellung in Schussbereitschaft sowie durch die leichte Aufsicht zudem an die wenige Seiten später im Kontext der Blasmusikkapelle auftauchenden Spielzeugsoldaten erinnern. Das Aufschrecken der Hasen wird zeichnerisch durch eine Menschengruppe dargestellt, die analog zu den Hasen in ihrem unterirdischen Versteck unter Holzpanelen ‚aufgeschreckt‘ wurde und mit Todesangst auf die gleichfalls schwarz gehaltenen, nur fragmentarisch erkennbaren ‚Jäger‘ blickt. Letztgenannte werden von hinten gezeigt, weshalb die Perspektive an eine Fotografie oder ein filmisches Standbild erinnert. Die Konturen des im Profil gezeigten Hasen, dem ein tödlicher Genickschlag bevorsteht, erinnern unterhalb des Schlagstocks an ein menschliches Profil. Im vierten Panel liegen keine Kadaver, sondern Leichen, deren Körper überwiegend schwarz gefärbt sind, deren Gesichter dagegen meist weiß bleiben und deren Kopfbedeckungen teils an französische Uniformmützen erinnern, was schon im zweiten Panel kenntlich gemacht wird.

48 49 50 51

Vgl. ebd., S. 83. Ebd., S. 84. Bühler/Rieger (wie Anm. 8), S. 15. Hofer/Maurer (wie Anm. 13), S. 77.

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Abb. 10.7

Mag die zeichnerisch hergestellte Analogie zwischen Hasen und Menschen im Kontext des Genozids problematisch sein, da hierdurch der Opferstatus massenhaft ermordeter Männer, Frauen und Kinder angetastet werden könnte,52 so wird das Anthropomorphe im Comic retrospektiv durch die Jagderfahrung im Jugendalter legitimiert. Die vielfach als Sport und sogar ökologisch geltende Jagd trägt militärische Züge und dient seit ihren 52

Hierfür wurde etwa Charles Pattersons Publikation Eternal Treblinka: Our Treatment of Animals and the Holocaust (Lantern Books: New York 2002) kritisiert, da der Sozialhistoriker darin Parallelen zwischen der Versklavung von Tieren und derjenigen von Menschen zeigt und die Shoah in technischer Hinsicht auf Methoden der Tierzüchtung zurückführt.

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aristokratischen Anfängen einer elitären Machtabsicherung.53 Beide Aspekte erweisen sich nach dem Interview mit dem Großvater als prägend für den Enkel, dessen Involvierung in die Hasenjagd als eine Art Fortsetzung der sich nunmehr offenbarten großväterlichen Beteiligung an nationalsozialistischen Verbrechen wahrgenommen wird – als handle es sich um einen ererbten ‚Jagdinstinkt‘. Vor diesem Hintergrund ist auch die zuvor vorkommende Selbstdarstellung als ambiger Mistkäfer zu betrachten.54 Entsprechend endet Insekten mit dem kurzen Kapitel „Zumutbare Wahrheit“ – ein variiertes Titelzitat einer Essaysammlung von Ingeborg Bachmann.55 Im Comic meint diese Wahrheit diejenige über den Großvater im Zweiten Weltkrieg, über den es immer hieß: „Der Opa war ja nur Fahrer“. „Ich habe mir vorgestellt: Er fährt Verpflegung an die Front und Verwundete ins Lazarett.“ „Meist weit weg vom Kriegsgeschehen.“ „Ich habe mir vorgestellt: eine Art Schwejk.“56 Ein Panel der drittletzten Comicseite, das im Gegensatz zu den drei anderen vorwiegend schwarzen einen weißen Hintergrund mit einer zum Hitlergruß erhobenen Hand in einem schwarzen Hemdsärmel zeigt, verkündet entsprechend: „Die Wahrheit ist, dass mein Großvater freiwillig zur Waffen-SS gegangen ist. Aus Überzeugung.“57 Wenn auf der folgenden Seite in drei Panels dessen Beteiligung „an Kriegsverbrechen und an Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, „an der Zerstörung von Kulturdenkmälern“ und „an der Ermordung von Zivilisten“58 angeführt wird, so wird dies im letzten Panel 53

54

55 56 57 58

Vgl. Jutta Buchner-Fuhs: Tiere und Klassendistinktion. Zur Begegnung mit Pferden, Karrenhunden und Läusen. In: Buchner-Fuhs, Jutta/Rose, Lotte (Hrsg.): Tierische Sozialarbeit. Ein Lesebuch für die Profession zum Leben und Arbeiten mit Tieren. Springer VS: Wiesbaden 2012, S.  309–323 sowie Adrian Franklin: Naturalizing Sports: Hunting and Angling in Modernity. In: Ders.: Animals and Modern Cultures: A Sociology of Human– Animal Relations in Modernity. SAGE Publications Ltd.: London u.a. 1999, S.  105–125. Literarisch vgl. hierzu etwa Olga Tokarczuk: Prowadź swój pług przez kości umarłych. Wydawnictwo Literackie: Kraków 2009; Olga Tokarczuk: Gesang der Fledermäuse. Aus dem Polnischen von Doreen Daume. Kampa: Zürich 2019 sowie die filmische Adaption von Agnieszka Holland unter dem Titel „Spoor“ (2017). Angesichts des nationalsozialistischen Erbes weist vor allem Marianne Hirsch auf die Traumatisierungen der Nachgeneration von Shoah-Opfern hin, die ihres Erachtens übertragbar seien: „I have developed this notion in relation to children of Holocaust survivors, but I believe it may usefully describe other second-generation memories of cultural or collective traumatic events and experiences.“ Marianne Hirsch: Family Frames: Photography, Narrative, and Postmemory. Harvard University Press: Cambridge/Mass., London 1997, S. 22. Vgl. Ingeborg Bachmann: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Piper: München, Zürich 2011. Hofer/Maurer (wie Anm. 13), S. 232. Ebd., S. 235. Ebd., S. 236.

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auf das Selbstverständnis der Waffen-SS zurückgeführt. Im abschließenden Einzelpanel der letzten Buchseite ist auf einem schwarzen Quadrat, das an den Suprematismus des ersten Kapiteltitels „Tisch“ anknüpft, in weißer Schrift die bittere Erkenntnis nachzulesen: „Und mein Großvater war einer von ihnen.“59 Dass der Quadrat-Tisch nunmehr, d.h. nach dem Tod des Großvaters 2005,60 leer bleibt, galt zuvor längst für die Leerstellen, die sich in dem ersten Kapitel aus dem ursprünglich jüdischen Eigentum ergeben. In MAUS „entsteht“ Frahm zufolge eine solche Aussage […] in der historischen Materialisierung zwischen den Daten, den Seiten, den Zeichen. Deren Zerstreuung macht auf die fehlenden Vielen aufmerksam, die gespenstisch die Bilder heimsuchen oder leer lassen, die im Weiß die Panels, die Seiten und Zeichen als niemals dieselben erscheinen lassen und so die materiale Zerstreuung begründen.61

Zwar lässt sich dies überwiegend auch für Insekten geltend machen, jedoch verschwinden darin im Weiß nicht ausschließlich die Opfer, sondern teils auch deren Peiniger, ebenso wie die titelgebenden Tiere nicht nur als ‚rassenideologische‘ Parasiten auszumachen sind, sondern ebenso als faschistische ‚Mitesser‘ der völkischen Armee-Schwärme(rei). Eben diese Umkehrung macht insbesondere das gezeichnete Bestiarium als Reflex zum und Reflexion des verbalsprachlich Wiedergegebenen aus.

Bibliographie

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59 60 61

Ebd., S. 237. Vgl. ebd., S. 220. Frahm (wie Anm.  20), S.  234. Weiterhin führt Frahm u.a. aus: „Weiß ist die Farbe des Papiers. Es zeigt das brennbare Material, auf dem die Geschichten gedruckt sind. Das Weiß ist undurchsichtig, Oberfläche, zerklüftet und plan. Jede Seite zeigt Anderes, auf jeder Seite assoziiert sich Anderes auf dem Weißen, in [sic!] immer gleichen Format. Das Weiß zeigt keinen Mangel an, es ist nicht am Rande des Verstummens, sondern die Fläche für die Erzählung, zwischen der es unterschiedliche Bedeutung annehmen kann, zwischen dessen Panels und in ihnen es immer anders erscheint.“ Ebd., S. 271.

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Von Sprache, die nicht heilt, oder ein Abschied von der anthropozentrischen Weltauffassung in Sauschlachten von Peter Turrini Krzysztof Tkaczyk Abstract Wenn der Bauernhaus zur Folterkammer und zum Schlachthaus wird, ist nichts mehr so, wie es vor kurzem noch schien. Wenn der Bauernsohn zum Tier erklärt, zum Fleisch abgestempelt und von seinen Nächsten in Form von Mensch-Schweinsbraten gespeist wird, wird die Illusion von einem guten und arbeitsamen Bauern endgültig zerstört. Wenn die Sprache, die als Unterscheidungsmerkmal zwischen dem vernünftigen und sprachbegabten menschlichen Wesen und dem unvernünftigen sprachlosen bzw. vokalisierenden (grunzendem) Tier gelten sollte, sich als Ansammlung von falschen Versprechen und leeren Worthülsen erweist und zum Gewaltmittel wird, bricht auch die selbstsichere Institution Mensch zusammen. In seinem frühen Theatertext präsentiert sich Turrini nicht nur als ein kritischer Heimatdichter, sondern auch als Denker, der die Spezies Mensch einer vehementen Kritik unterzieht.

Schlüsselwörter Peter Turrini, Sauschlachten, österreichisches Theater, Anthropomorphismus, Tier

Es gibt keinen anderen Text Turrinis, in dem so viel, beinahe ununterbrochen, über das Sprechen gesprochen, für das Sprechen plädiert und über das Sprechen reflektiert wird: „Die Sprache is [ja] was … was Erbautes … was Höchstes [...].“1 Es gibt keinen anderen Text Turrinis, in dem so viel Wert dem geschriebenen Wort beigemessen wird: „Was net schwarz auf weiß steht, das hat keine Gültigkeit.“2 Und es gibt keinen andern Text Turrinis, in dem man mit so viel Freude materielle Spuren des Sprachlichen vernichtet (Dokumente werden zerrissen und zerknüllt, Liebesbriefe mit aller Gewalt in den Mund gestopft und Bücher versteckt), die Sprache instrumentalisiert und als Mittel der Gewalt anwendet: 1 Peter Turrini: Sauschlachten. In: Peter Turrini: Turrini Lesebuch. Stücke, Pamphlete, Filme, Reaktionen etc. Ausgewählt und bearbeitet von Ulf Birbaumer. Europaverlag: Wien – München – Zürich 1978, S. 83–125, hier S. 89. 2 Ebd., S. 111.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/97838467

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der Gewalt des Menschen gegen ein für nicht menschlich erklärtes Familienund Gemeinschaftsmitglied. Turrini rekurriert in  Sauschlachten  (1971)3 auf die Descartes’sche Idee, dass ein Tier weder spricht noch antwortet und nur Zeichen gibt, die der Sprache fremd sind, womit er die tradierte Unterteilung in sprechende (ergo denkende, menschliche) und stumme (im Sinne: nur Stimme besitzende, tierische) Wesen reproduziert. Indem jedoch der Bauernsohn Valentin, der nicht mehr mittels der Sprache kommuniziert und lediglich grunzt, von seinen Angehörigen für ein Tier erklärt und als erniedrigtes Wesen ohne Sprachvermögen (dem zusätzlich seine Sprachhistorie geraubt wurde) zum passiven Objekt der Gewalt gemacht wird, entlarvt sich die menschliche Übermacht über das von dem Menschen als nicht mehr menschlich bzw. tierisch Deklariertes nicht als Dominanz der Vernunft, sondern der Unvernunft. Somit verringert sich der Abstand zwischen Mensch und Tier nicht nur, sondern er wird mit aller Kraft gesprengt und die stolze, selbstgefällige anthropozentrische Perspektive wird in Frage gestellt. Und dabei wurde Sauschlachten als Volksstück annonciert. Kein Wunder also, dass es das versammelte Publikum zuerst in Erstaunen, dann in Schock versetzte. Die Zuschauer erwarteten Unterhaltung mit ländlichem Humor – alles beginnt auch als eine Bauernidylle mit Mittagessen und Mittagsgebet: (Die gute Stube des Tonhofbauern. Ein typisch bäuerliches Bühnenbild, welches zwar nicht der Wirklichkeit, aber der Tradition dieses Genres entspricht. […] Der Tisch […] ist gedeckt. Man hört die Mittagsglocken des Dorfes. Die Bäuerin betritt die Bühne und ruft in alle Richtungen:) Hörts net Zwölfelauten? Kommts essen, es is angricht. Der Schweinsbraten is a schon fertig. (In verschiedenen Zeitabständen erscheinen: der Bauer, Sepp der Knecht, Resl die Magd und der Sohn Valentin, den sie „Volte“ nennen […]. Sie nehmen am Eßtisch Platz und verrichten ihr Mittagsgebet.)4

Doch es folgt ein Reigen von Brutalitäten, ausgeführt von den „normalen“ Bürgern und Familienmitgliedern, die sich als kaltblutig, primitiv, vulgär und hemmungslos entpuppen, da sie ihren eigenen Sohn und Bruder zum Tier im Sinne von Tiermaterial und essbarem Fleisch machen, das sie letztendlich gemeinsam verspeisen. Erschreckend ist dabei, dass diese Unmenschlichkeit per se sich nicht nur auf die niedrigsten, ungebildeten Schichten der Gesellschaft ausbreitet, sondern auch von der kultivierten und gut ausgebildeten Elite des Dorfes befürwortet wird. Und das alles nur aus einem Grunde: Sie 3 Die deutsche Uraufführung von Sauschlachten fand am 15. Januar 1972 an den Münchner Kammerspielen und die österreichische im selben Jahr am 5. Februar im Linzer Landestheater statt, im März 1972 wurde das Stück am Wiener Volkstheater aufgeführt. 4 Turrini (wie Anm. 1), S. 88.

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alle fühlen sich beunruhigt und machen alles, um ihr (nur) in ihren Augen bedrohtes soziales Dasein, ihr fundamentum inconcussum5 zu bewahren. Dabei spielt es kaum eine Rolle, dass der junge Mensch weder das Fremde noch das Feindliche verkörpert. Er ist nur anders, und dies ausschließlich in einem Aspekt seiner Existenz. Es ist aber ausreichend, um ihn als einen, der gegen die Normen und ungeschriebene Gesetze verstößt, abzustempeln und letztendlich zu beseitigen. „Natürlich haben wir Österreicher die Gewalt nicht erfunden, wir führen sie nur etwas unterhaltender aus. Mit Recht nennt man uns daher ein ungemütliches Völkchen.“6 – schreibt Turrini in der Einführung zu Sauschlachten und fügt anlässlich der Linzer Aufführung hinzu: „Theater ist für mich vor allem Sinnlichkeit, Grausamkeit: ich will mich von den Gesetzen einer langweiligen, von Psychologie und Kunstfertigkeit durchsetzten Dramaturgie entfernen, um mich den Abgründen der menschlichen Natur zu nähern. Ich will das Publikum auf diesem Weg mitnehmen: Schock als Ergebnis und nicht als Selbstzweck.“7 Und es gelingt dem enfant terrible des österreichischen Theaters seine Zuschauer bis an „die abgründige Grenze des Menschlichen“8 zu führen oder vielleicht noch einen Schritt weiter, in Bereiche, wo der Mensch aufhört, ein animal rationale, ein vernünftiges Tier9, zu sein. Und der Blick in das moralische Vakuum ist in der Tat furchterregend. Die Pathologisierung und Dehumanisierung des Menschen ist in Sauschlachten vorwiegend in der Sprache der Figuren sichtbar, die, was nicht ohne Bedeutung ist, keine szenische Entwicklung durchlaufen, flach sind und ihrer familiären (Bauernbewohner) bzw. gesellschaftlichen Vernetzung (Dorfhonoratioren) gemäß reden. Im Vergleich zu Valentin, der als einziger als Person mit Vorgeschichte kreiert wurde, sind sie alle äußerst banal. Sie werden aktiviert und gewinnen an Bedeutung erst in Beziehung zu Valentin. Das Problem ist aber, dass diese Bedeutung sich im Negativen und Unmoralischen abzeichnet. Die Sprache wird auch zum endgültigen Beweis des sozialen und kultu­ rellen Zusammenbruchs der Gemeinschaft. Bei der Demystifizierung des Menschen und seiner Vernunft verwendet Turrini alle möglichen 5 Vgl. Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1997, S. 45. 6 Turrini (wie Anm. 1), S. 83. 7 Peter Turrini: Meinem allzulieben Heimatlande gewidmet. In: Peter Turrini: Turrini Lesebuch. Stücke, Pamphlete, Filme, Reaktionen etc. Ausgewählt und bearbeitet von Ulf Birbaumer. Europaverlag: Wien – München – Zürich 1978, S. 126. 8 Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin. Passagen: Wien 2010, S. 32. 9 Vgl. Markus Wild: Tierphilosophie zur Einführung. Junius Verlag: Hamburg 2008, S. 32.

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Sprech-Handlungsstrategien, manchmal wird das Auseinanderklaffen zwischen dem sprachlich Deklarierten und faktisch Praktizierten (wie im Falle der religiösen Sprüche), ein anderes Mal die sprachliche Unterstützung der Gewalt („jeder Satz ein Tritt“10, „jeder Satz ein Schlag“11) narrativ aktiviert. Auf jeden Fall ist die Sprache kein Heilmittel mehr. Wenn die Bitte des Bauern „Volte, ein Wort, und meine Seele is wieder gesund.“12, nicht erfüllt wird, verwandelt sich dieser in einen regelrechten Henker. Zuerst versuchen die Bauernhofbewohner den Sprachverweigerer mit allen möglichen Mitteln zum Sprechen anzuregen. Sie ersehnen sich, dass die Rückkehr in die Sprechphase noch möglich ist und über die Erweckung einer emotionalen Bindung zur Mutter erfolgt: Bauer: (schreit seinen Sohn an) Volte! Du, Volte! Der Fleißner is ein Trottel, aber der Lehrer hat studiert … sag ein Wort, Volte … so wie früher … schau, Volte … sag MAMA … MAMA!!! (Der Sohn grunzt.) Resl: MAMA!! MAMA!!! Bauer, Bäuerin: MAMA!!! MAMA!!!! MAMA!!!! Knecht: Sag, Volte, sag wies is!!! (Der Sohn grunzt, grunzt, grunzt.)13

Wenn dies nicht gelingt, bittet der Vater, dass Valentin, wie ein richtiger Mann, d.h. ein solcher, der vor grobianischem Wortschatz nicht zurückschreckt, seinen Bruder beleidigt: Bauer: (umarmt seinen Sohn Valentin) Volte! Volte, mei lieber Volte! Sag dem walischen Hund, daß er sich heimgeigen soll zu seine Judenbrüder. Schrei, Volte, bitte schrei, schau auf meine Lippen, Volte  … mach nach  … Judenbruder … Russenbankert … schrei mit, Volte, bittschön … schrei mit … schrei … Drecksau …14

Im nächsten Schritt wird an die patriotische Gesinnung Valentins appelliert. Alle singen die Landeshymne, werden immer lauter, umkreisen Valentin und fordern ihn zum Mitsingen auf: Bauer: Sing die zweite Stimm, kannst ja ruhig an Fehler machen. Knecht: Brauchst ja nur mitsummen, wie mir beim Hochamt. […] (Ihr Gesang wird immer aggressiver. Sie singen, brüllen ihm in die Ohren, in den Mund.) Bauer: In

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Turrini (wie Anm. 1), S. 99. Ebd., S. 101. Ebd., S. 99. Ebd., S. 90. Ebd., S. 92.

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Bergeshöhen … sing mit!!! Knecht: Die deutschen Vögelein … sag mit!!!! Bäuerin: Lieb Heimatland … schluchz mit!!! (Valentin grunzt, grunzt, grunzt.)15

Unzufrieden damit, dass sein Sohn immer noch mittels Grunzen kommuniziert, schlägt ihn der Bauer nieder und schreit, dass dieser Deutsch sprechen soll. Die deutsche Sprache ist in seinen Augen nicht nur ein Zeichen eines anständigen Menschen, sondern des Menschen an sich: „Wennst mit mir reden willst, mußt deutsch reden, verstanden!?! Deutsch, wie a Mensch! Schrei wie a deutscher Mensch […].“16 Wenn alle Versuche, den stummen Valentin für die verbale Kommunikation zu gewinnen und ihn dadurch in die familiäre und im weiteren Sinne menschliche Gemeinschaft österreichischer Prägung wiedereinzugliedern – die Mutter sagt an einer Stelle zu Valentin: „Liebes Büble, i bin deine liebe Mutter, das is dein Vater, das is dein lieber Bruder, mir san a liebe Familie in a lieben Land  …“17 – misslingen, beginnt ein Spektakel der Gewalt: Valentin wird angeschrien, geschlagen, ausgezogen, beleidigt und in jeder Hinsicht erniedrigt und entmenschlicht. Wie Turrini im Nachsatz zum Drama geschrieben hat: „In meinem Stück wird das Gesagte auch getan. Aus Rufmord

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Ebd., S. 94. Ebd., S.  98. Eine andere Funktion hat im Text die sprachliche Anpassung Franzens an die Forderungen des Vaters. Franz, der Halbbruder Valentins, ist der außereheliche Sohn der Bäuerin und eines Aufsehers in einem russischen Lager. Der Bauer nennt ihn einen „halberte[n] Ruß“ (ebd. S.  92) und einen „dreckige[n] Bolschewikenbastard“ (ebd.), obwohl die Mutter behauptet, dass der Vater Valentins kein „Ruß“ war. (Ebd.) Indem Franz sich der Lebenseinstellung des Vaters (Frauen sollen der Befriedigung männlicher Gelüste und Fantasien dienen) sowie seinem obszönen Sprachduktus anpasst, verlässt er seine Außenseiterposition und wird in die (Männer)Gemeinschaft inkorporiert, was jedoch für den zum Tier degradierten Valentin unerreichbar ist. „Franz: Recht hast, Vater. Recht hast. Hätt i sie an deiner Stell auch getupft, wenn i sie net schon gevögelt hätt. Hahaha. Bauer: (umarmt seinen Sohn Franz) Bist einer von mein Schlag, komm her an meine Brust. […] Das ist menschlich, wenn einer ab und zu eine packt. (Der Bauer tritt seinem Sohn Valentin in den Rücken.) […] Franz: Ja, so ein Schwein hat nix übrig für Wein, Weib und Gesang. (Franz tritt seinen Bruder ebenfalls. Vater und Sohn Franz sprechen jetzt abwechselnd, jeder Satz ein Tritt.) Bauer: Ka Herz zum Kittelaufheben! Franz: Ka Herz zum Tutteldrucken! Bauer: Ka Herz zum Futlapperlzwicken! Franz: Ka Herz zum Häutlzerreißen!“ (Ebd., S. 99) Turrini realisiert in dieser Szene Zweifaches: Er zeigt erneut, dass im Falle der Bauernfamilie das Menschliche sich eben in dem brutalen Unmenschlichen sprachlich zusammenfindet, und dass die sprachliche Aggression die Vorstufe der körperlichen Gewalt ist. Ebd., S. 96.

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wird Mord.“18 Die Sprachlosigkeit verwandelt Valentin in den Augen seiner Verfolger in ein passives, unmenschliches Wesen, das in und mit seiner stummen tierischen Verletztheit seinen Folterern völlig ausgeliefert ist. Der Junge wird von seinen Nächsten völlig respektlos19 behandelt, als willenloses, weil tierisches, Objekt, das keine Würde und keinen moralischen Status besitzt und als solches über keine Menschenrechte verfügt. Eben der Wert-Dualismus, in dem das Menschliche auf- und das Tierische abgewertet wird, bildet hier eine perfekte Grundlage für die Entwicklung der Beleidigungs- und letzten Endes Vernichtungsstrategien. In der ersten Phase der Herabwürdigung des Mensch-Tieres dient die Sprache der Deckung und Rechtfertigung der Brutalitäten: „Franz: (schlägt seinem Bruder auf die Brust) Vielleicht geht ihm jetz a Knopf auf? Knecht: (tritt dem Sohn Valentin mit dem Fuß in die Seite) Is ja nur zu seinem Besten.“20, später gibt das Gesprochene das Tempo der Gewalttaten an: „jeder Satz ein Tritt“21 oder es wird selber zur akustischen Folter: „Sie singen, brüllen ihm in die Ohren, in den Mund.“22 Es beginnt ein Martyrium des wehr- und schuldlosen Opfers. Das Schweinefutter wird hergebracht, denn „[a] Mensch kann so was net fressen, der muß na sagen. Wenn ers trotzdem frißt, dann [weiß man], wohin mit ihm.“23 Der Bauer steckt Valentins Kopf in den Eimer, schreit ihn an und befiehlt ihm zu fressen. Valentin „beginnt mit den Händen zu zappeln und versucht, mit dem Kopf aus dem Kübel zu kommen. Der Bauer drückt ihn immer fester hinein. Das Grunzen des Sohnes vermischt sich mit dem Blubbern der Flüssigkeit.“24 Wenn es endlich Valentin gelingt, sich zu befreien, fällt er halb ohnmächtig auf einen Stuhl. Die Quälereien gehen weiter, Franz steckt einen Löffel in den Mund des Bruders und klemmt ihn zwischen seinen Backen, sein 18 19

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Peter Turrini: Aktueller Nachsatz. In: Peter Turrini: Turrini Lesebuch. Stücke, Pamphlete, Filme, Reaktionen etc. Ausgewählt und bearbeitet von Ulf Birbaumer. Europaverlag: Wien – München – Zürich 1978, S. 126–127, hier S. 127. Ich beziehe mich hier auf die Reflexionen des amerikanischen Forschers Tom Regan: „Allgemein gesprochen sind die […] Rechte (auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit) verschiedene Variationen eines und desselben Themas: Respekt. […] Respekt ist das übergreifende Thema, denn eine Person mit Respekt zu behandeln, besteht gerade darin, sie so zu behandeln, dass dabei ihre Rechte respektiert werden. Unser fundamentales Recht – das Recht, das alle anderen Rechte in sich birgt – ist somit das Recht, mit Respekt behandelt zu werden.“ Tom Regan: Von Menschenrechten zu Tierrechten. In: Friederike Schmitz (Hrsg.): Tierethik. Grundlagentexte. Suhrkamp: Berlin 2014, S. 88–114, hier. S. 95. Turrini (wie Anm. 1), S. 96. Ebd., S. 99. Ebd., S. 94. Ebd., S. 93. Ebd., S. 100.

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Kopf wird erneut in die Blechkübel gesteckt, mit dem Unterschied, dass diesmal Franz und Knecht mit den Löffeln an den Eimer schlagen und spotten: „Franz: Ein Löfferl fürs Mutterl! Knecht: Ein Löfferl fürs Vaterl! Franz: Ein Löfferl für die Omama! Franz: Ein Löfferl für den Opapa!“25 Der Bauernsohn wird immer schwächer, sein Kopf hängt regungslos im Eimer und endlich fällt er bewusstlos zu Boden. Es folgt die nächste Phase der sprachlichen und körperlichen Gewaltausübung. Valentins Äußeres wird mit dem Körperbau eines Schweins verglichen: Sein Penis wird freigelegt, als kleiner und dünner diskreditiert und mit dem Geschlechtsteil eines Ebers gleichgesetzt. Er habe keine Schamhaare, ähnele also einer Sau, der Schamhaare ganz fremd seien, und jeder wisse doch, dass „die Weiber unten eine Haar haben. […] Und die Männer net weniger.“26 Und wenn der Bauernsohn nicht schreit, sondern erbärmlich grunzt, wenn Franz immer wieder und immer fester mit einem Löffel auf seine Hoden schlägt, kommen die Männer zum Schluss (die Bäuerin sieht es anders27), dass Valentin als Tier über einen höheren Schmerzpegel verfügt. Somit fühlt sich die Gesellschaft in der Annahme bestätigt, dass sie hier nicht mit einem Menschen, sondern mit einem Schwein zu tun hat, und als solches werde Valentin „in die Wurst enden, aber net im Paradies.“28 Es kommt den Menschen nicht in den Sinn, dass sie gegenüber Valentin, sogar dann, wenn er ein „echtes“ Tier wäre, Verpflichtungen hätten und dass dessen Misshandlung als moralisch falsch einzustufen wäre.29 Dagegen kommt eine regelrechte Gewaltorgie in Schwung: (Der Knecht nimmt den Blecheimer mit Saufutter und gießt den Inhalt langsam in Valentins Gesicht. Valentin grunzt und gurgelt. […] Franz […] beginnt Kastanien in den Mund seines Bruders zu stopfen. […] Valentin versucht, die Kastanien auszuspucken. Spuck- und Grunzlaute. Sein Bruder hält ihm mit der Hand den Mund zu. […] Der Knecht bindet Valentin das Leintuch um den Hals. Er zieht hinten besonders fest zusammen. Ein gepreßter Grunzlaut, und die Kastanien kollern aus dem Munde Valentins. […] Der Knecht stülpt Valentin den leeren Eimer über den Kopf. Es sind nur mehr Valentins Hände sichtbar, der Rest seines Körpers ist von Leintuch und Blecheimer verdeckt. […] Der Knecht und Franz heben Valentin 25 26 27 28 29

Ebd., S. 101. Ebd., S. 104. Vgl.: „Das tut ihm aber schon sehr weh.“ (Ebd., S. 105). Ebd. Der amerikanische Rechtswissenschaftler und Philosoph John Rawls verbindet die gerechte Behandlung der Tiere eben mit deren Vermögen, Lust und Schmerz zu empfinden: „Sicher ist es falsch, Tiere grausam zu behandeln […]. Die Fähigkeit der Tiere zu Lust und Schmerz und ihren Lebensformen führen eindeutig zur Pflicht des Mitleids und der Menschlichkeit ihnen gegenüber.“ John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1975, S. 556.

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Krzysztof Tkaczyk auf ihre Schultern und tragen ihn in der Küche herum. Valentin beginnt unter dem Eimer zu grunzen.) Franz: Bittschön, bitt für uns. Knecht: Bittschön, bet für uns. Franz: Bittschön, erhöre uns. Franz: Bittschön, erlöse uns. (Valentin grunzt immer lauter.) Franz: (schreit) Auf den Kasten mit ihm dem Saukönig!!! (Sie setzen Valentin auf einen Kasten. Der Knecht wischt seine Hände im herunterhängenden Leintuch ab. Franz zündet inzwischen eine Kerze an.) Knecht: Ich wasch meine Händ in Unschuld. (Franz hält die Kerze unter die Füße Valentins. Der Knecht hält Valentins Füße fest.) Franz: A Heiliger ohne Kerzen is wie a Tuttel ohne Warzen.30

Das Spektakel der Dummheit und Gewalt findet sein abscheuliches wildgroteskes Finale in der blasphemischen Krönung des gemästeten Schweins zum Christus und in dessen Leidensweg. Alles, was anders ist, sowohl die höheren (Gott) wie auch die niedrigeren (Tier) Wesen werden von den Bauern ausgelacht und verhöhnt. Mit Vorliebe wird von den Familienmitgliedern das Besitztum Valentins vernichtet: ein Liebesbrief von einem Dorfmädchen, selbstgebastelte Strohblumen, ein Buch von Selma Lagerlöf, Buntstifte, Bleistifte, ein Füllfeder, ein Bild eines Dorfes, eine Flöte (vom Knecht „wurmstichiges Röhrl“ genannt31), eine Schachtel mit Steinen, Baldriantropfen, Odol-Mundwasser, ein Wörterbuch Deutsch-Englisch u. dgl. All diese (Kultur)Objekte sind ein Teil der Biografie Valentins, also Beweise dafür, dass er sich geistig entwickelte und als eine denkende, sprechende und empfindende Person im dicht verflochtenen Netz 30

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Turrini (wie Anm.  1), S.  106–107. Turrini kritisiert an mehreren Stellen die falsche Frömmigkeit der Bauern, die mit Vorliebe zu Glaubenssprüchen greifen, sie aber entweder missverstehen oder zu niedrigen Zwecken ausnutzen. Schon die Kirchenglocken der ersten Szene erweisen sich als ein hohles Versprechen der heilen Welt, denn sie werden als Esssignal wahrgenommen. Bibelsprüche und aus dem Katechismus zitierte Worte gewinnen eine blasphemische Dimension, wenn sie bei der Folterung Valentins verwendet, ihren erziehenden und belehrenden Inhalt völlig verlieren und dem brutalen Vorgang „angepasst“ werden. Wenn z.B. Valentin schweigt, wird ihm vorgeworfen, dass er gegen das vierte Gebot verstoße: „Knecht: Das is eine Sünd, wenn einer die Seinigen nimmer ehrt. Franz: Siehst, Mama, jetzt versündigt er sich schon gegen sei eigene Mutter. Bäuerin: Ja aber … er hat ja nix gsagt. Bauer: Das is jo sei Sünd.“ (Ebd., S. 101) Wenn sie Valentins Penis aus der Hose nehmen und ihn des Onanierens beschuldigen, sagt Franz: „Wenn einer wixt, ist er a Schwein. […] So ein Schwein kann einfach net Rücksicht nehmen auf die zehn Gebote. Unsereins vögelt die Weiber mit Verstand zusammen, aber der hat ja nur sein Trieb.“ (Ebd., S. 103) Und nachdem sie den Jungen als einen erniedrigten „Saukönig“ (ebd. S. 107) misshandelt haben, kommentiert der Knecht: „I wasch meine Händ in Unschuld.“ (Ebd.) Das ganze Ritual, das an die Passion Christi (welche den Glauben der Gemeinde stärken soll) erinnert, ist hier nichts mehr als ein grotesker ,danse macabre‘ um den halbtoten Valentin, mit leeren quasi religiösen Worthülsen gefüllt, die alle Beteiligten in ihrem unmenschlichen Verhalten bestätigen. Es wird also zum sichtbaren Zeichen des moralischen Desasters der Bauerngemeinschaft. Vgl. ebd., S. 112.

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von sozialen Beziehungen agierte. Der Tod solch einer Person müsste für die Familie und die Dorfgemeinschaft von Bedeutung sein. Deswegen müssen all die Erinnerungsgegenstände als Symbole der personalen Integrität Valentins vernichtet werden, bevor man ihn animalisiert. Die Reduktion des Jungen nur auf einige wenige Elemente seines Lebens, die noch zusätzlich verspottet werden, ermöglicht der Familie die endgültige Distanzierung von ihm als einer würdevollen ganzen Person und seine Degradierung zu einem Lebewesen ohne Vorgeschichte, Gefühle und mentale Kapazitäten wie Wille, Bewusstsein, Erwartungen und Intentionen.32 Die Ausgliederung Valentins aus der familiären und im weiteren Sinne sozialen Gemeinschaft wird von der gebildeten Führungsschicht des Dorfes gutgeheißen und endgültig bestimmt. Die von der Magd Resl herbeigeführten Arzt, Rechtsanwalt, Lehrer und Pfarrer entwickeln gemeinsam und konsequent eine Strategie der Herabwürdigung, die sich in der Sprache äußert, die Sprache beschwört und auf die Sprache rekurriert. Hervorgehoben wird die Kluft zwischen der in der Sprache kodierten hohen Kultur und der Bestialität des sprachlosen Wesens: Lehrer: Ich zitiere Dichtung und der grunzt. Bestial! (brüllt) / Der göttliche Goethe „GRUNZ“. / Alle Schillerschen Schicksale „GRUNZ“. / Althochdeutsches „GRUNZ“. / Mittelhochdeutsches „GRUNZ“. / Deutsches „GRUNZ“. / Der frühe Hamlet „GRUNZ“. / Der späte Faust „GRUNZ“. / Gotik, Klassik, Romantik „GRUNZ“. / Kant, Herder, Bismarck „GRUNZ“. / Deutsches Dichten, deutsches Trachten „GRUNZ“. / Alles „GRUNZ? GRUNZ? GRUNZ? GRUNZ?“33

Die Tirade des Lehrers wird durch den Redefluss des Rechtsanwalts gestärkt, der gleichzeitig ununterbrochen und seinen Berufsbereich favorisierend redet, um jede potentielle Möglichkeit der Gegenargumentation im Voraus auszuschlie­ ßen und dem Gespräch, und somit dem verbalen Prozess der Entmenschlichung die eindeutige Richtung zu geben: Rechtsanwalt: (gleichzeitig) Auf jeder Geburtsurkunde, dick und breit „GRUNZ“. / Name „GRUNZ“. / Geboren in „GRUNZ“. / Mutter „GRUNZ“. / Vater „GRUNZ“. / Oder eine Heiratsurkunde. / Der Bräutigam „GRUNZ“. / hat die Braut „GRUNZ“. / in der Kirche „GRUNZ“. / zur „GRUNZ“-Frau genommen. / Nichts als „GRUNZ“, „GRUNZ“, „GRUNZ“, „GRUNZ“ !!34 32

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Vgl. Frank Uekötter/Amir Zelinger: Die feinen Unterschiede – Die Tierschutzbewegung und die Gegenwart der Geschichte. In: Herwig Grimm/Carola Otterstedt (Hrsg.): Das Tier an sich. Disziplinübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2012, S. 119–134. Turrini (wie Anm. 1), S. 115. Ebd.

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Auf die Frage des Vaters Valentins, was denn in solch einem Fall zu machen wäre, antwortet der Lehrer, dass er kein Tierarzt sei. Zwar wisse er, „wie man jungen Menschen Zucht und Ordnung beibringt, aber auf Schweinezucht versteh [er sich] absolut net.“35 Wenn danach der Rechtsanwalt Valentin subhumane Erscheinungsform36 und ein solches Individuum37 nennt, mit dem man so wie vor dreißig Jahren, also im Nationalsozialismus, umgehen sollte, womit er auf die Tötung des sog. lebensunwerten Lebens ausholt, und wenn der Doktor sich weigert, Valentin einen Menschen zu nennen, ihn als einen Organismus bezeichnet, der ähnlich Kühen und Schweinen nicht redet,38 wird das für alle Versammelten primäre Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Tier – die Sprachfähigkeit – im Falle Valentins für inexistent erklärt, die Grenze zwischen dem vernünftigen – weil sprachebegabten – menschlichen Wesen und dem unvernünftigen sprachlosen und lediglich grunzenden Tier aufgehoben und der Bauernsohn in die Sphäre des Tierischen verschoben. Wie man solche Existenzen behandeln sollte, erklärt der Pfarrer als höchste moralische Instanz des Dorfes: Macht euch die Erde untertan! Herrschet über des Meeres Fische, über des Himmels Vögel und über alle Lebewesen, die auf Erden wimmeln! […] Dieser, dieser Dingsda ist ein … wir alle sind Geschöpfe Gottes. Gott sprach, die Erde zeuge Lebewesen, je nach ihrer Art: Vieh, Gewürm und das Wild. […] Macht euch die Erde untertan, wie oft soll ichs denn noch sagen. […] Jeder nach seinen Gaben. Gott segne unser Landvolk!39

Die Bäuerin fühlt sich beruhigt: „Mit dem hochwürdigen Segen kann nix mehr schiefgehen.“40 Und der Bauer, angefeuert durch Worte der Obrigkeit, verspricht: „Wenns von die Herren gewünscht wird, leg i euch a erstklassige Schlachtung hin!“41 Wenn endlich der Rechtsanwalt sagt: „Schaffens uns diese rechtswidrige Erscheinung vom Hals, Bauer.“42 ist das Schicksal des Jungen besiegelt und die endgültige Verwandlung von einem Menschen über ein Tier hin zu einem Stück Fleisch vollzogen. Anstatt den Mord zu verhindern, muntert die Dorfelite durch Bibelsprache, Medizinjargon und Jurasprache die Ungebildeten dazu auf, den Anderen 35 36 37 38 39 40 41 42

Ebd. S. 116. Vgl. ebd. S. 117. Vgl. ebd. S. 116. Vgl. ebd. Ebd. S. 117–118. Ebd. S. 118. Ebd. Ebd.

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wortwörtlich zu beseitigen und zu verbrauchen. Zwar „[w]irds wohl noch erwarten können, bis die Sach am Tisch steht“43, bald wird aber die Bauernfamilie wieder am Tisch sitzen und wie am Anfang der Geschichte wird bei Mittagsglocken die Bäuerin das Schweinsbraten servieren. „Zuerst wird die Leber gefressen“44, denn wie ein Sprichwort belehrt: „Wer das Kleine net ehrt, ist das Große net wert.“45 Die Geschichte geht weiter, mit dem Unterschied jedoch, dass die mit alten Weisheiten und Predigten der Honoratioren untermauerte Idylle durch keine Grunzlaute mehr gestört wird. Sauschlachten ist ein Stück eines Außenseiters im ländlichen Milieu über einen Außenseiter in der Familie. Es ist aber auch ein Text eines Außenseiters in der menschlichen Gemeinschaft, der sich unter seinen nicht nur ländlichen oder österreichischen Mitmenschen unwohl fühlt, da er ihre Oberflächlichkeit, Verlogenheit sowie ihren Hang zur Brutalität schon in den frühen Jahren miterlebt hat.46 Turrinis Text sollte nicht nur als eine orts- und zeitgebundene Geschichte verstanden werden, eher als eine zeitlose Parabel mit universeller Gültigkeit. Zwar wird Kärnten als Ort der Handlung erwähnt und aus den Gesprächen und Anspielungen an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg lässt sich schließen, dass die Figuren einige Jahre nach dem Krieg agieren, der räumliche und zeitliche Rahmen ist aber in dem Sinne zweitrangig, als jeder Zuschauer sich selber in Valentin oder den Vertretern der Dorfgesellschaft erkennen sollte, um das Problem des moralischen versus unmoralischen Handelns zu erörtern. Die Relevanz dieses frühen Textes Turrinis zeigt sich eben darin, dass das Stück neben der ländlichen und österreichischen Referenz (die ein unbestrittenes Element der erschaffenen literarischen Welt ausmacht), die allgemein menschliche Dimension erreicht, denn Turrini zeigt sich in Sauschlachten nicht nur als provokativer Heimatdichter, der über Dirndl, Lederhose und Bauern kärntnerischer Prägung reflektiert, sondern als ein weit über den Begriff des Nestbeschmutzers hinausragender Dichter, der mit seiner radikalkritischen Einstellung zur anthropozentrischen Weltvorstellung sowie 43 44 45 46

Ebd., S. 119. Ebd. Ebd. Über die Verwertung seiner Kindheits- und Jugenderfahrungen in dem Drama schreibt Turrini: „Sauschlachten ist […] die Geschichte eines Menschen, der nicht in seine Umgebung paßt. Ich identifiziere mich mit der Hauptperson dieses Stückes. Mein Vater war ein Italiener, ich bin in einem Kärntner Dorf aufgewachsen. Ich habe mich von dieser bäuerlichen Umgebung immer ausgestoßen gefüllt, obwohl ich so gerne dazugehören wollte. Dieses Gefühl, ein Fremder unter Einheimischen zu sein, anders zu sein, hat mich lange nicht losgelassen. Seit ich darüber schreibe, seit ich aus diesem Gefühl ein konkretes politisches Engagement entwickle, empfinde ich Zugehörigkeit: zu allen, denen es ähnlich geht.“ Turrini (wie Anm. 18), S. 126–127.

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ihrer starken Hierarchisierung und Ungleichgewicht in der Behandlung des Anderen47 den Menschen an sich einer beinahe akribischen Analyse unterzieht. Was in der Bauernstube passiert, befindet sich jenseits von Mitleid und Menschlichkeit.48 Die Brutalität, mit der mit Valentin umgegangen wird, bedeutet hier den Verrat an der conditio humana, die sich eben in der humanen, d.h. emphatischen Behandlung des Schwächeren beweisen und nicht in dessen entsetzlicher Schikanierung manifestieren sollte. Der Mord samt der grausamen Zerstückelung des Körpers ereignet sich hinter der Bühne, damit die Verantwortung keiner konkreten Person zugeschrieben werden kann. Mitschuldig sind alle, auch die, die weder Axt noch Messer in der Hand gehabt, sondern durch Beleidigungen oder durch passives Zuschauen zu dieser Mordtat beigetragen haben. Angeklagt wird die Spezies Mensch.

Bibliographie

Derrida, Jacques: Das Tier, das ich also bin. Passagen: Wien 2010. Kunzmann, Peter/Schmidt, Kirsten: Philosophische Tierethik. In: Herwig Grimm/ Carola Otterstedt (Hrsg.): Das Tier an sich. Disziplinübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2012, S. 37–60. Nussbaum, Martha: Jenseits von „Mitleid und Menschlichkeit“: Gerechtigkeit für nichtmenschliche Tiere. In: Friederike Schmitz (Hrsg.): Tierethik. Grundlagentexte. Suhrkamp: Berlin 2014, S. 176–216. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1975. Regan, Tom: Von Menschenrechten zu Tierrechten. In: Friederike Schmitz (Hrsg.): Tierethik. Grundlagentexte. Suhrkamp: Berlin 2014, S. 88–114. Turrini, Peter: Aktueller Nachsatz. In: Peter Turrini: Turrini Lesebuch. Stücke, Pamphlete, Filme, Reaktionen etc. Ausgewählt und bearbeitet von Ulf Birbaumer. Europaverlag: Wien – München – Zürich 1978, S. 126–127. 47

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Vgl. Peter Kunzmann/Kirsten Schmidt: Philosophische Tierethik. In: Herwig Grimm/ Carola Otterstedt (Hrsg.): Das Tier an sich. Disziplinübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2012, S. 37–60, hier. S. 38. Die Bezeichnung entnehme ich dem Aufsatz von Martha Nussbaum, die auf die Gerechtigkeitstheorie Rawls’ rekurriert, im Unterschied zu dem amerikanischen Rechtswissenschaftler aber meint, der Umgang mit Tieren nicht auf Mitleid und Menschlichkeit seitens des Menschen (vgl. Anm. 29), sondern auf auch den Tieren zustehende bestimmte Gerechtigkeitsansprüche fundiert werden sollte. Martha Nussbaum: Jenseits von „Mitleid und Menschlichkeit“: Gerechtigkeit für nichtmenschliche Tiere. In: Friederike Schmitz (Hrsg.): Tierethik. Grundlagentexte. Suhrkamp: Berlin 2014, S. 176–216, hier S. 176.

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Turrini, Peter: Meinem allzulieben Heimatlande gewidmet. In: Peter Turrini: Turrini Lesebuch. Stücke, Pamphlete, Filme, Reaktionen etc. Ausgewählt und bearbeitet von Ulf Birbaumer. Europaverlag: Wien – München – Zürich 1978, S. 126. Turrini, Peter: Sauschlachten. In: Peter Turrini: Turrini Lesebuch. Stücke, Pamphlete, Filme, Reaktionen etc. Ausgewählt und bearbeitet von Ulf Birbaumer. Europaverlag: Wien – München – Zürich 1978, S. 83–125. Uekötter, Frank/Zelinger, Amir: Die feinen Unterschiede – Die Tierschutzbewegung und die Gegenwart der Geschichte. In: Herwig Grimm/Carola Otterstedt (Hrsg.): Das Tier an sich. Disziplinübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2012, S. 119–134. Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1997. Wild, Markus: Tierphilosophie zur Einführung. Junius Verlag: Hamburg 2008.

Wozu die Schöpfung? Die Vergöttlichung des Tieres am Beispiel des Romans Elefant von Martin Suter Joanna Bednarska-Kociołek Abstract Der Roman Elefant (2017) von Martin Suter befasst sich mit der Verantwortung der WissenschaftlerInnen gegenüber ihrer Schöpfung. Er diskutiert die ethischen Aspekte der Genforschung, indem er über das Leben eines künstlich gezeugten, kleinwüchsigen und rosa leuchtenden Baby-Elefanten erzählt. Das Ziel der Entstehung des Tieres ist unethisch, da sein Schöpfer es zu einem luxuriösen Spielzeug machen will. Die gegenwärtige Gentechnik macht es nämlich möglich, Erbanlagen von Organismen gezielt zu beeinflussen und somit in die Schöpfung einzugreifen. Im folgenden Beitrag wird danach gefragt, welche Funktion dem mithilfe von Genmanipulation gezeugten Tier im literarischen Text zukommt und wie sich die Menschen ihm gegenüber positionieren.

Schlüsselwörter Genforschung, der Auserwählte, glowing animals, Elefant

Der künstlich gezeugte, kleinwüchsige – nur 30 Zentimeter hohe – rosa BabyElefant namens Sabu Barisha besitzt eine außergewöhnliche Eigenschaft: In Folge genetischer Manipulation leuchtet er im Dunkeln: „Und da war es wieder, rosa fluoreszierend und mit gestellten Öhrchen.“1 Durch seine Figur diskutiert Martin Suter in seinem Roman Elefant (2017) die ethischen Aspekte der Genforschung. Das Tier entstand nämlich, um seinem Schöpfer Dr. Roux Geld und Ruhm zu verschaffen. Die Kleinwüchsigkeit des Tieres ist eine ungeplante Nebenwirkung, die der Schöpfer zu seinem Gunsten auszunutzen gedenkt, weil er aus Sabu ein luxuriöses Spielzeug machen will. Das Ziel der Entstehung des Elefanten ist somit durchaus unethisch, denn das Recht des Tieres, ein Eigenleben zu führen, nicht berücksichtigt wird. Im folgenden Beitrag wird untersucht, welche Funktion das genetisch modifizierte Tier im literarischen Text zu spielen hat und wie sich die Menschen ihm gegenüber 1 Martin Suter: Elefant. Diogenes: Zürich 2017, S. 55.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/97838467

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positionieren. Es wird auch die These aufgestellt, dass der Roman eine zeitgenössische Version über die Auserwählten darstellt. Er folgt nämlich einem ähnlichen Muster wie in den tradierten Geschichten, die das Motiv der Aussetzung und Errettung des auserwählten Kindes darstellen. Die bekannten Beispiele sind die Kindheitsgeschichten von Christus, von Mose, von Romulus und Remus, von Ödipus, sowie manche Märchen (z.B. Schneewittchen). Durch seine Einzigartigkeit erfüllt der Elefant jene Rolle, die ursprünglich in der Kultur und Literatur nur den Auserwählten – am häufigsten dem thronberechtigten Kind des Monarchen oder dem Messias – zugedacht war. Der direkte Anlass, eine Geschichte über den rosa Elefanten zu schreiben, war für Suter ein Gespräch mit dem Hirnforscher Prof. Dr. Mathias Jucker, der behauptete, dass es gentechnisch möglich sei, einen winzigen rosaroten Elefanten zu erzeugen. Diese Vorstellung hat den Schriftsteller nicht mehr losgelassen.2 Der Roman liegt mit der Idee des künstlich geschaffenen Tieres nahe der Realität, obwohl er reine Fiktion präsentiert. Suter behauptet, dass es einer gesteigerten ethischen Verantwortung bedarf, wo natürliche Grenzen wegfallen und neue, höchst folgenreiche Möglichkeiten des Eingriffs in die Natur entstehen, wie dies bei der Anwendung der Gentechnik der Fall ist. Es ist im Roman die Rede von „[g]rün leuchtende[n] Affen, blau leuchtende[n] Hasen, rötlich leuchtende[n] Schafen. Suter fragt mithilfe seines Romans: Sind Glowing Animals die „Spielzeuge der Zukunft?“3 und beantwortet gleich diese Frage, indem er betont, dass er zwar nichts gegen Gentechnik habe, aber gegen ihren Einsatz bei der Herstellung von Spielzeug schon.4 Die gegenwärtige Gentechnik eröffnet die Möglichkeit, Erbanlagen von Organismen gezielt zu beeinflussen und somit in die Schöpfung einzugreifen. Manfred Kock behauptet: „Das Neue an der Gentechnik besteht nicht darin, daß die gentechnische Ausstattung von Lebewesen manipuliert wird, sondern in welchem Umfang, in welcher Präzision und in welcher Geschwindigkeit diese Manipulationen vorgenommen werden.“5 Thomas Rachel unterstreicht: „Die Genom-Editierung ist – neben der Künstlichen Intelligenz und dem Klimawandel – momentan DAS Zukunftsthema in der Wissenschaft.“6 Diese 2 Ebd., S. 351. 3 Manfred Kock: Ethische Beurteilung der Gentechnik. In: https://www.ekd.de/ethischebeurteilung-der-gentechnik-45361.htm (Stand: 06.03.2021). 4 Aus dem Interview mit Martin Suter: „Elefant“: Der neue Roman von Martin Suter. In: https:// www.youtube.com/watch?v=Pj8ZTFAZuag (Stand: 06.03.2021). 5 Kock (wie Anm. 3). 6 Thomas Rachel: Jeder Forscher ist in seiner ethischen Verantwortung gefordert. Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Thomas Rachel, anlässlich der Dialogkonferenz „Genom-Editierung“ am 19. November 2019 im

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Genom-Editierungs-Thematik postiert den Roman Elefant „an vorderster Front des wissenschaftlich-gesellschaftlichen Fortschritts.“7 In Elefant werden große Fragen der Ethik in populärer Form eines Thrillers8 verhandelt. Die Bösen kämpfen gegen die Guten um ein unschuldiges und sich der Gefahr völlig unbewusstes Wesen. Suter baut im Roman ein besonders kontrastreiches Personal auf. Es ist vom Anfang an klar, wer gute und wer böse Absichten dem Tier gegenüber hat, was für Thriller typisch ist. Evelyn Unterfrauner behauptet zurecht: „Zusammen ergeben sie ein buntes Potpourri an Charakteren, die eines gemeinsam haben: sie alle wollen den Elefanten.“9 Es gibt sowohl die Vertreter der guten (outgroup: Dr. Roux, Pellegrini), als auch der bösen Charaktere (ingroup: Dr. Reber, Valerie Sommer, Schoch oder Elefantenflüsterer Kaung). Die Guten werden von den Bösen gesucht, denn sie entführen den Elefanten, um ihn auf diese Art und Weise zu retten. Dr. Roux und seine Gruppe wollen sich mithilfe des Tieres bereichern, die positiven Bundesministerium für Bildung und Forschung in Berlin. In: https://www.bmbf.de/de/jederforscher-ist-in-seiner-ethischen-verantwortung-gefordert-10221.html (Stand: 06.03.2021). 7 Ursula März: Odyssee eines rosa Fabeltieres. In: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ martin-suter-elefant-odyssee-eines-rosa-fabeltiers.950.de.html?dram:article_id=378596 (Stand: 06.03.2021). 8 Der Thriller (aus dem Englischen: Schauer, Erregung, Sensation) ist, laut Peter Nusser, ein Untergenre des Kriminalromans. Charakteristisch für den Thriller ist das Erzeugen einer Spannung, die während des gesamten Handlungsverlaufs anhält. Meistens steht die Spannung in Verbindung mit der Fahndung, die den wichtigsten Teil der Handlung umfasst. Im Thriller ist das Verbrechen nicht festgeschrieben; es reicht vom Raubüberfall bis zum Massenmord. Zugleich erscheint das Verbrechen nicht unbedingt als bereits begangenes. Der Leser erlebt unmittelbar – als Zeuge – seine Ausführung oder nimmt an seiner Vorbereitung teil. Als geplantes Verbrechen, das unter Umständen eine Reihe bereits begangener Verbrechen fortsetzt, wird es zur Bedrohung und löst Reaktionen des Helden bzw. der ingroup aus. Das Verbrechen wird im Thriller in actu (als Planung oder Ausführung) gezeigt. Damit erhält es eine ganz andere Funktion als im Detektivroman. Es ist nicht das Rätsel, sondern das Ereignis, gegen das man sich wehren kann oder muss. Die Figuren des Thrillers stehen sich in bipolarer Anordnung gegenüber. Sie werden – wenn nicht sofort, so doch eher schnell als Angehörige der ingroup oder outgroup erkennbar. Die kriminellen Figuren des Thrillers sind eingebettet in eine Gesellschaft, die tief gespalten erscheint. Im Thriller werden die Figuren ständig gruppiert, d.h. positiv oder negativ bewertet, so dass sich eindeutig Konturen ergeben. Die Bedeutung des Opfers ist im Thriller nicht so eindeutig wie im Detektivroman. Ähnlich wie beim Detektivroman gelingt die Angleichung des Helden an den Leser vor allem durch die Darstellung der Beweggründe seines Tuns. Zur Figurenwelt des Thrillers gehören die Helfer des Helden. Zu ihnen zählen außer den Hauptprotagonisten auch Angehörige der ingroup, welche die Gesinnung des Helden teilen. Siehe: Peter Nusser: Der Kriminalroman. J.B. Metzler: Stuttgart 1992, S. 52–70. 9 Evelyn Unterfrauner: Rezension // „Elefant“ von Martin Suter v. 02.04.2017. In: https://bookbroker.wordpress.com/2017/04/02/rezension-elefant-von-martin-suter/ (Stand: 06.03.2021).

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Protagonisten haben dagegen vor, es vor der Öffentlichkeit zu schützen und von den Medien fernzuhalten, damit es in Ruhe leben kann. Die Protagonisten verändern im Laufe der Handlung ihre moralischen Prinzipien nicht. Sie sind keine dynamischen Figuren und ihre Intentionen werden im Text direkt artikuliert. Werner Theurich unterstreicht zurecht: Gut und böse sind in diesem Roman so übersichtlich verteilt wie im Märchen. Mit veritabler Könnerschaft verbindet Martin Suter tatsächlich die Erzählordnung des Märchens mit den Abgründen futuristischer Gentechnologie. So unwahrscheinlich die Existenz eines rosa phosphoreszierenden Minielefanten auch wirken mag –  so plausibel begründet der Roman seine realistische Herstellbarkeit10.

Das Benehmen des Elefanten ist im Text realistisch dargestellt. Das Tier fühlt sich wie ein typischer Elefant. Sein Verhalten wird von der Veterinärärztin Valerie Sommer erklärt: „Stolz wie ein Elefant. Angsteinflößend wie ein Elefant. Würdevoll wie ein Elefant.“11 Das Tier weiß nicht, dass es kleinwüchsig ist, denn es „hat ja keinen Vergleich.“12 Laut Sommer erwartet Sabu, dass man ihm jenen Respekt entgegenbringe, den man einem Elefanten schulde.13 Man solle ihm bei der Begegnung die Initiative überlassen. Er dürfe entscheiden, ob er seinen Betreuern gegenüber „zutraulich, reserviert, verspielt oder seltsam sein wollte.“14 Die Tierärztin ist eine engagierte Protagonistin. Sie macht sich viel Mühe, mit dem Tier artgerecht umzugehen. Ihre Art des Umgangs mit dem Elefanten steht im Einklang mit der von Maria Woschnak geschilderten Tierschutzethik. Die Philosophin untersucht die Beziehungen zwischen Tieren und Menschen und vertritt die Einsicht, dass das Tier weder als Sache noch als Person begriffen werden soll. Die von Woschnak vorgelegte Tierschutzethik bedenkt den Umgang des Menschen mit dem Tier in seiner Vielschichtigkeit und leistet eine fundierte Begründung der nötigen Beschränkungen menschlicher Willkür zugunsten des Tieres: Grundsätzlich gesehen gibt es vier Möglichkeiten, die tierische Daseinsweise interpretierend zu verfehlen und dementsprechend mit dem Tier nicht artgerecht umzugehen […] Im Hinblick auf das Tier ist dies jene Bestimmung, die das Tier als lebendiges, aber vernunftloses Wesen begreift (Porphyrios: animal irrationale mortale; Kant: organisiertes Produkt der Natur) […] Vergöttlichung, 10 11 12 13 14

März (wie Anm. 7). Suter (wie Anm. 1), S. 134. Ebd. Vgl., ebd., S. 135. Ebd.

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Verteufelung (Dämonisierung), Vermenschlichung und bloße Versachlichung des Tieres.15

Alle vier von Woschnak genannten Möglichkeiten der Einstellung des Menschen zum Tier werden in Elefant geschildert und die Haltung dem Tier gegenüber ist im Roman das Maß der Menschlichkeit. In diesem Beitrag sollen Versachlichung und Vergöttlichung thematisiert werden. Das Tier wird bei Suter von negativen Charakteren des Romans versachlicht und von positiven zuerst vermenschlicht und im Endeffekt vergöttlicht. Der rücksichtslose Wissenschaftler Dr. Roux behandelt seine lebendigen Versuchsobjekte wie Sachen. Er fühlt sich gar nicht für sie verantwortlich. Die Tiere im Labor werden zwar gefüttert und gepflegt, haben aber keinen Kontakt mit anderen Vertretern der eigenen Gattung und leben in Isolation. Dabei sind beim Begriff der Verantwortung der Wissenschaftler in Bezug auf ihre Experimente, laut Paul Hoyningen-Huenne, drei Merkmale hervorzuheben: 1. Verantwortungsfähig sind handlungsfähige Subjekte („Verantwortungssubjekte“) für ihre freiwilligen Handlungen (oder Unterlassungen) und deren voraussehbare Folgen. 2. Verantwortung setzt Bewertungen von Handlungen (oder Unterlassungen) und deren voraussehbaren Folgen voraus. 3. Verantwortung ist gebunden an Instanzen, welche die Einhaltung von Normen überwachen, welche das Verantwortungssubjekt zur Rede stellen können und gegebenenfalls Sanktionen verhängen.16

Dr. Roux ist durchaus verantwortungsfähig. Er ist sich dessen bewusst, welche Folgen seine Experimente haben können. Da sie nicht unter Kontrolle der Instanzen stehen, welche die Einhaltung von ethischen Normen überwachen würden, darf der Wissenschaftler als Besitzer alles mit den von ihm geschaffenen Tieren tun, was er nur will. Der „genetisch veränderte“17 kleinwüchsige rosa Elefant ist rein theoretisch im Dienste der Wissenschaft entstanden, in Wirklichkeit ist er aber „ein Experiment aus Gier“,18 von einem „Arzt ohne Skrupel“19 geschaffen. Für ihn ist das Tier nichts mehr als „ein 15 16

17 18 19

Maria Woschnak: Tierschutzethik. Lit Verlag: Wien 2017, S. 116. Paul Hoyningen-Huenne: Zur Verantwortung von Wissenschaftlern. Folgeabschätzung in der Wissenschaft: Aufklärung und Transparenz als gesellschaftliche Verantwortung von Forschern. In: https://www.uni-hannover.de/fileadmin/luh/content/alumni/unimagazin/2011_ethik/netz04__hoyningenhuene.pdf (Stand: 06.03.2021). Ebd., S. 68. Werner Theurich: Rüssel-Roman. In: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/martinsuter-mit-neuem-roman-elefant-ein-ruessel-roman-a-1130194.html (Stand: 06.03.2021). Ebd.

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wandelndes Vermögen20“. Es hat für seinen Schöpfer lediglich die Bedeutung eines Versuchskaninchens. Sabu Barisha ist nicht das erste genetisch modifizierte Tier, das er schuf: „Das schönste Resultat dieser Experimente war Rosie, ein Skinny Pig, ein haarloses Meerschweinchen. […] Rosie […] sah aus wie aus Marzipan und leuchtete im Dunkeln wie eine wandelnde Leuchtreklame.“21 Dr. Roux möchte aus dem „Projekt ‚Pink‘22“ eine weltweite Sensation machen. Das Schicksal des Elefanten und anderer Labortiere ist von Anfang an vorbestimmt. Ihre Existenz soll den Haustiermarkt revolutionieren, ohne dass ihre Rechte beachtet werden: Das wäre nicht nur wissenschaftlich der große Durchbruch, sondern auch kommerziell! […] Internationale Patente, Pressearbeit, Marktpositionierung. Gab es einen saudischen Prinzen, der seinen Kindern nicht gern einen leuchtenden rosaroten Elefanten schenken würde? Gab es einen Genforscher, der nicht begeistert gewesen wäre, seine Zellen in einer beliebigen Farbe leuchtend markieren zu können?23

Woschnak versteht unter Versachlichung des Tieres „die Reduktion des Tieres auf das Leblose“.24 Sehr kontrovers ist im Roman von Suter, dass der Genforscher Dr. Roux sich dessen bewusst ist, dass die Kleinwüchsigkeit des von ihm geschaffenen Elefanten seine spätere Krankheit verursacht: „Nicht lebensfähig“25 – lautet die noch während der Schwangerschaft von Asha (Sabus Mutter) gestellte Diagnose. Der Fötus ist also fehlerhaft, trotzdem gefällt Dr. Roux die Idee, mehrere kleine Elefanten entstehen zu lassen und sie dann als Luxusware zu verkaufen: „Roux wollte nicht nur das Experiment wiederholen, er wollte, dass es wieder schiefging. Und zwar auf die gleiche Art wie beim letzten Mal.“26 Sein Opponent Dr. Reber behauptet: Hier hatte einer nicht in die Natur eingegriffen, um einen wissenschaftlichen Fortschritt zu erzielen, der Krankheiten heilen oder Leben retten sollte. Er hatte es getan, um eine Sensation zu erzeugen und damit womöglich ein Vermögen zu machen. Wollte er jetzt ein lebendes Spielzeug herstellen?27

20 21 22 23 24 25 26 27

Ebd., S. 195. Suter (wie Anm. 1), S. 29. Ebd., S. 332. Suter (wie Anm. 1), S. 91. Woschnak (wie Anm. 15), S. 125. Suter (wie Anm. 1), S. 83. Ebd., S. 185. Ebd., S. 173.

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Die zitierten Passagen bestätigen nun die These von Woschnak, die unterstreicht, dass Tiere des Öfteren wie Maschinen behandelt werden. Ihre Existenz ist ausschließlich auf Leistungen ausgerichtet, deren einzige Nutznießer ihre Besitzer sind: Eigentlich will man vom Tier eine Leistung (Hochleistungstiere), wie sie Maschinen (etwa Hochleistungsturbinen) erbringen. Das Tier soll wie eine Maschine funktionieren („Turbokuh“) mit möglichst wenig Eigenleben. Arteigene Bedürfnisse: nach Bewegung, spezifischer Umwelt, arteigenem Verhalten, Nähe oder Distanz zum Artgenossen (Rangordnungsverhältnisse), werden als Beeinträchtigung der totalen Verfügbarkeit weitgehend ignoriert. Das Tier kommt nur als seelenloses Werkzeug in den Blick, hat nur im Sinne eines Automaten Bedeutung.28

Dr. Roux wird für seine Habgier von der Natur bestraft. Die Elefantin Asha – die Mutter von Sabu Barisha – tötet ihn, weil er sie unabsichtlich mit seinem gewalttätigen Verhalten in Schrecken versetzt. Die Elefantenkuh bringt ihn zwar unabsichtlich um, aber es scheint sich in diesem Akt ein Widerstand der Natur zu manifestieren. Den Tod des nicht empathischen Genforschers kann man als Strafe interpretieren, die von einer höheren Instanz – einem deus ex machina – verhängt wurde. Auf diese Art und Weise triumphiert symbolisch das Gute über das Böse, was typisch für die Geschichten über die Auserwählten wie auch für Thriller ist. Der burmesische Elefantenflüsterer Kaung ist als Gegenpol zu Dr. Roux konzipiert. Durch diese zwei Figuren wird im Roman die hinduistische Kultur mit der Kultur des Abendlandes konfrontiert. Der Oozie „hatte schon als kleiner Junge gelernt, in den Augen von Elefanten zu lesen. Kaung erkannte ihre Angst, ihre Wut, ihr Glück und ihren Schmerz.“29 Er ist der Meinung, etwas so Besonderes, wie der kleine Elefant, muss versteckt und beschützt werden. Der Elefant ist für ihn heilig und er ist derjenige, der das Tier zum Auserwählten macht. Im Hinduismus stützt sich das All auf Elefanten, weshalb er oft als Karyatide dargestellt wird.30 Annelise und Peter Keilhauer weisen darauf hin, dass „Tiere als selbständige Götter und als Bildzeichen eine sehr bedeutende Rolle“31 spielen. Elefanten sind „Träger des Universums

28 29 30 31

Woschnak (wie Anm. 15), S. 125. Suter (wie Anm. 1), S. 169. Vgl. Władysław Kopaliński: Słownik symboli. Wiedza Powszechna: Warszawa 1990, S. 385. Annelise und Peter Keilhauer: Die Bildsprache des Hinduismus. Die indische Götterwelt und ihre Symbolik. Dumont: Köln 1990, S. 49.

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und verkörpern analog dazu die Beständigkeit des Reiches.“32 Wesentlich für Hindu ist der Gott Ganesha, der mit einem Elefantenkopf abgebildet ist. Er sei Gott der Klugheit, des Lernens, der Wissenschaft und Politik, Entferner von Hindernissen am Erlösungsweg, Schutzgott, der Wohlstand, Geschäftserfolg und glückliche Reise gewähre.33 Woschnak unterstreicht: In der Vergöttlichung des Tieres wird das Tier als Gott (Heiliges) vorgestellt und verehrt. […] Die Vergöttlichung des Tieres gebietet eine völlige Zurückhaltung des Menschen, seine In-den-Dienst-Nahme zu menschlichen Zwecken ist verboten, das Tier tabu. Es wird keinerlei Nutzungsinteressen des Menschen unterstellt, sondern uneingeschränkt seiner Daseinsweise überlassen. […] Das Tier ist göttlicher Natur oder Repräsentant des Gottes und erhält jene Huldigung, die dem Gott gebührt, die man der Gottheit schuldet34.

Da er daran glaubt, dass das Tier heilig sei, überredet der Elefantenflüsterer den ethisch denkenden Veterinärarzt Dr. Reber, dass dieser Untersuchungsergebnisse verfälscht und Dr. Roux davon überzeugt, dass der Fötus in der Gebärmutter abgestorben sei. Kaung und Dr. Reber entführen das Elefanten-Baby kurz nach seiner Geburt. Die Entführung des Tieres sieht Dr. Reber als „seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, um die Lieblingsformulierung seines alten Professors für biomedizinische Ethik zu benutzen.“35 Allerdings ertrinkt der Mediziner bei der Verfolgungsjagd, so dass der Elefant verloren geht. Rebers Leben ist ein Opfer, das gebracht werden muss, damit das magische Tier in Sicherheit leben und das eigene Volk retten kann. Dies ist ganz im Sinne des Genres, denn ein Thriller bedarf eines Opfers, damit sich die RezipientInnen in die Handlung einfühlen können. So kommt es, dass der obdachlose Schoch dem Elefanten in seiner Höhle begegnet. Als Alkoholiker ist er sich dessen sicher, dass es sich um eine durch Delirium verursachte Halluzination handelt. Er denkt, dass es eine „Entzugserscheinung“36 sei und auf diese Weise dämonisiert er das Tier. Es ist anzumerken, dass der rosa Elefant im englischen Kulturkreis für eine alkoholbedingte Halluzination steht.37 Letztendlich realisiert er, dass es sich um ein wirkliches Lebewesen handelt: „Schoch öffnete die Augen. Die 32 33 34 35 36 37

Ebd., S. 26. Vgl., ebd., S. 178f. Woschnak (wie Anm. 15), S. 116f. Ebd., S. 185. Ebd., S. 5. David Navon: From Pink Elephants to Psychosomatic Disorders: Paradoxical Effects in Cognition. In: https://web.archive.org/web/20060504122258/http://psycprints.ecs.soton. ac.uk/archive/00000395/ (Stand: 06.03.2021).

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Morgendämmerung erhellte die Hölle ein wenig. Der kleine Elefant war neben seiner Hand. Auf den Hinterbeinen stand er, auf den Vorderbeinen kniete er und suckelte an seinem Daumen.“38 Schoch denkt, es handelt sich um ein „Fabelwesen aus einer anderen Welt, vielleicht sogar aus einer anderen Dimension“39 und es müsse doch eine Bedeutung haben, dass sich der Elefant „ihm, sogar ihm, offenbarte.“40 Er beginnt schrittweise an „eine höhere Wirklichkeit und vielleicht auch eine höhere Macht“41 zu glauben. Schoch scheint zu Anfang kein sympathischer oder glaubwürdiger Held zu sein. In den ersten Szenen des Romans ist er schmutzig und betrunken. Im Laufe der Handlung beginnt aber seine Metamorphose und er entwickelt sich zu einer positiven Figur. Durch Schoch entdämonisiert Suter Alkoholiker und Obdachlose. Je mehr man über ihn weiß, desto mehr sympathisiert man mit ihm. Schoch weiß zwar nicht, wie man das Elefantenkind pflegen soll, trotzdem fühlt er sich dafür verantwortlich. Um das Tier zu retten, holt er das Tier in die Klinik für Tiere. Die Tierärztin ist „eine Vertreterin der humanen Wissenschaft.“42 Sie denkt nüchtern, ist keine naive Protagonistin und findet schnell heraus, dass es sich im Falle des Tieres um eine „Genmanipulation“43 handeln muss. Sie stößt während ihrer Recherchen auf Informationen über die Krankheit, „die in der Humanmedizin ‚mikrozephaler, osteodysplastischer primordialer Zwergwuchs Typ II‘ hieß. […] Dabei erfuhr sie, dass die von der Krankheit Betroffenen eine niedrige Lebenserwartung besaßen.“44 Die Tierärztin versteht gleich, dass das Tier in großer Gefahr ist: Das ist die große Zukunftsindustrie. Am unverfrorensten machen es die Chinesen. Sie haben zum Beispiel winzige Schweine gezüchtet und patentiert, denn Schweine sind ideale Versuchstiere. Und Minischweine viel wirtschaftlicher und einfacher zu handhaben. Doch jetzt kann man sie kaufen. Als Haustiere und Spielsachen. Mit der gleichen Technik kann man auch Mini-Elefanten machen.45

Die Tierärztin weiß: „Der, dem es gehört, will es um jeden Preis wiederhaben.“46 Sie versteht, dass man das Tier verstecken muss. Der naive Schoch 38 39 40 41 42 43 44 45 46

Ebd., S. 58. Ebd., S. 59. Ebd. Ebd. Theurich (wie Anm. 18). Suter (wie Anm. 1), S. 105. Ebd., S. 126f. Ebd., S. 105f. Ebd., S. 105.

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fragt sie: „Vielleicht gibt es eine Stelle, die sich um Versuchstiere kümmert. Eine Organisation […] der Tierschutzverein.“47 Sommer nennt die Tierschutzvereine „etwas blauäugig.“48 Über Greenpeace meint sie dagegen: „Greenpeace? Die sind gut im An-die-Öffentlichkeit-Gehen. Aber ob sie auch das Gegenteil können?“49 Mit Valerie Sommers Worten demaskiert Suter die Tierschutzvereine, die des Öfteren nur Aufsehen erregen wollen, statt um die Tierrechte effektiv zu kämpfen. Die Veterinärärztin und der Obdachlose domestizieren das Tier, um ihm das Leben zu retten. Von diesem Moment an behandelt der Elefant seine Betreuer wie seine Herde. Es zeigt dies, indem es mit ihnen spielt und bei ihnen schläft, an ihren Finger lutscht oder sich an sie drückt.50 Kurz vor Sabus Tod fliegen alle ihre Retter mit ihr zusammen nach Indien. Dieser Teil des Romans zeigt eine Fahndung, die für den Thriller typisch ist und mit einem Happy End endet. Sabu stirbt zwar kurz nach ihrer Ankunft in Indien, aber ihr Tod bekommt einen Sinn. Kaung begleitet den Elefanten bis zu dessen Lebensende, und auch danach behandelt er seine Leiche mit Hochachtung: „Die Musik verstummte. In einer Überblendung erschien Kaungs versteinertes Gesicht. Er hob den leblosen Körper hoch und trug ihn aus dem abgedunkelten Raum. Sein Leuchten war erloschen.“51 Für den Elefantenflüsterer bleibt der rosa Elefant auch nach seinem Tode heilig. Um Sabus Existenz Ehre zu erweisen, legen seine Betreuer in Indien das ‚Sabu Barisha Elephant Camp‘ an, in dem kranke und verletzte Elefanten geheilt und gepflegt werden. Im Camp befindet sich auch ein Sabu Barisha gewidmeter Tempel. Auf diese Art und Weise wird das Tier vergöttlicht: Im Inneren genau im Zentrum – stand ein goldener Würfel, dessen Seiten jeweils einen Meter breit waren. Darauf, inmitten von Orchideenblüten und Räucherstäbchen, die Statuette eines kleinen rosa leuchtenden Elefanten. Kaung kniete mit geschlossenen Augen davor und bewegte die Lippen. Er hörte, wie der Regen verstummte, so plötzlich, wie er begonnen hatte. Dann verlor er sich wieder in seiner Meditation.52

Der hinduistische Tempel ist „die Wohnstätte der Götter, der Begegnungsort von Mensch und Gott, von Irdischem und Übernatürlichem.“53 Das ist eine Glorifizierung des kleinen Elefanten und somit der Höhepunkt seiner Vergöttlichung sowie die Bestätigung seiner Auserwählten-Position. Es ist das 47 48 49 50 51 52 53

Ebd., S. 118. Ebd. Ebd. Vgl., ebd., S. 112, S. 114 und S. 129f. Ebd., S. 343. Ebd., S. 338. Keilhauer (wie Anm. 31), S. 14.

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vorhergesagte und unvermeidbare Schicksal der Helden, die Welt zu retten. So ist es auch im Falle des kleinen Elefanten, der Hoffnung für sein Volk bedeutet, obwohl er sich – als naives Tier – nicht dessen bewusst ist, welche Rolle er zu erfüllen hat. Dank dem kleinen rosaroten Elefanten wird das Leben und die Gesundheit mehrerer Vertreter seiner Gattung gerettet. Sabu Barisha verändert symbolisch nicht nur das Leben der anderen Elefanten sondern auch der Menschen, denen sie begegnet. Sie „erzieht auch die Menschen in seiner Umgebung. Eingedenk des Wunders, dessen sie teilhaftig werden, verwandeln sie sich allmählich in bessere, und das heißt: verantwortungsvolle, liebende Menschen.“54 Nach dem Treffen mit Sabu verändert der Obdachlose sein Leben: „Schochs Blick fiel auf seine Hand: zitterig, grob und schmutzig. Sachte stand er auf, ging ins Badezimmer und fand eine Nagelbürste.55“ Diese Handlung ist der erste Impuls zur Veränderung. Nach und nach erinnert er sich, dass er früher ein normales Leben führte, eine gute Arbeit in einer Bank hatte und verheiratet war. Schoch ist zwar ein naiver aber durchaus anständiger Mensch. Für seine guten Taten wird er mit einem neuem Leben voller Liebe, Freundschaft und frei von Alkohol belohnt. Er ist in dieser Geschichte der größte Gewinner. Das Thema der Koexistenz von Tieren und Menschen ist ein wichtiger Aspekt des Romans von Suter. Der Schriftsteller zeigt menschliche Eingriffe in die Strukturen der Tierwelt, aber auch das Eindringen von Tieren in den Raum der menschlichen Existenz. Er fragt, inwieweit die Vermittlung zwischen diesen beiden Welten möglich ist und inwieweit der Mensch das Recht hat, ins Leben der Tiere einzugreifen und sie genetisch zu modifizieren. Die Tatsache, dass die Anwendung neuer Technologien nicht selten mit unbeabsichtigten negativen Konsequenzen einhergeht, wirft eine interessante philosophische Frage auf: Inwieweit sind WissenschaftlerInnen moralisch verantwortlich für die unbeabsichtigten gesellschaftlichen Folgen ihrer Entdeckungen? Der Roman kritisiert die Genom-Editierung, die die ausschließlich unrechtmäßige Bereicherung zum Zweck hat. Bei Suter ist aber die spätere Verehrung des Tieres das unmittelbare Ergebnis dessen ursprünglicher Erniedrigung. Durch die Veränderung der Perspektive, aus der das Tier von Menschen wahrgenommen wird, verändert sich auch das Ziel seiner Existenz. Am Anfang soll Sabu Barisha nur als Geldmaschine dienen, später bekommt er die Rolle eines Auserwählten und rettet andere Vertreter seiner Gattung. Der rosa Elefant wird auf diese Art und Weise zu einer Karyatide, auf der die ganze Welt ruht.

54 55

Thomas Steinfeld: Durch dick und dünn. In: https://www.sueddeutsche.de/kultur/elefantvon-martin-suter-durch-dick-und-duenn-1.3336341 (Stand: 06.03.2021). Suter (wie Anm. 1), S. 112.

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Joanna Bednarska-Kociołek

Bibliographie

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Begegnungsorte: Text, Schrift, Stimme Kamilla Najdek Abstract Dieser Artikel macht eine besondere Begegnungsart von Tieren und Menschen zum Thema ‒ sie ist zwar in die Romanhandlung eingebettet, betrifft aber prinzipiell die Struktur der Texte. Zwei Romane Yoko Tawadas versinnbildlichen die Möglichkeit des Zusammenfindens in der Schrift (Schriftzeichen), in der Stimme (Stimmlaut) und in der Figur diverser Icherzähler.

Schlüsselwörter Schrift, Stimme, Tier in der fiktionalen Prosa, ästhetische Erfahrung



Forschungen eines Hundes. Das Schweigen als Ort der Ausgrenzung

Dass und wie Literatur das experimentierende Denken der Naturwissenschaften ergänzend fortsetzen kann, zeigt Klaus Wiehls Untersuchung zur Erzählung Franz Kafkas Forschungen eines Hundes1, eines ironisch konstruierten Textes, der nach den Beschränkungen des Verstehens, nach Möglichkeiten einer Begegnung mit dem untersuchten Objekt und nach sprachlich bestimmter Erkenntnis fragt. Die Erzählinstanz ist, wie der Titel verkündet, ein Hund. Anders als in Ein Bericht für eine Akademie, wo der Affe sich mit der Menschengattung identifiziert und seine Zugehörigkeit zu ihrer Welt überschwänglich lobt2, radiert der Hund alle menschlichen Wesen weg – auch in Situationen, wo sie unbedingt hinzugedacht werden müssen. Der Icherzähler versteht sich als ein Tier unter Tieren, wenngleich als Außenseiter, der im Alter sein Dasein am Rande der Tiergemeinschaft fristet. Wiehls Analyse

1 Klaus Wiehl: Die Poetologie der Biologie. Franz Kafkas „Forschungen eines Hundes“ und Jakob Uexekülls Umweltforschung. In: Harald Neumeyer, Wilko Steffens (Hrsg.): Kafkas Narrative Verfahren. Forschung der Deutschen Kafka-Gesellschaft. Bd. 3. Königshausen & Neumann: Würzburg 2015, S. 205‒225. 2 Es verwundert, warum die Interpreten dem Affen glauben, ohne die Umstände zu berücksichtigen, die ihn zum Schreiben zwingen. Ein interessanteres Bild ergäbe die Annahme eines unglaubwürdigen Erzählers, der dem Publikum erzählt, was es zu hören bereit ist.

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/97838467

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nimmt die Selbstbestimmung des Hundes beim Wort und erweitert somit die Textinterpretation über die Lesegewohnheiten hinaus. Nimmt man das Tier indes für einen Moment ernst, schreibt er, akzeptiert man den forschenden Hund also als Hund und nicht sofort als Chiffre für den forschenden Menschen, kann man den Text im wissenschaftlichen Kontext der sog. subjektiven oder experimentellen Biologie situieren, welche ihr Gründer Jakob von Uexeküll in mehreren Büchern sowie zahllosen Aufsätzen in Fachblättern und populären Zeitschriften propagiert.3

Wiehl erinnert an Uexekülls Postulat (das Kafka geläufig sein musste), durch gezielte Experimente einen Einblick in die animalischen Verhaltensweisen zu gewinnen sowie an seine Idee eines radikalen Perspektivwechsels, einer Art Weltentausch, der unter Berücksichtigung der Andersartigkeit von Sinnesorganen möglich wäre. Franz Kafkas Text scheint, so Wiehl, dieses biologische Gedankenspiel aufzugreifen und poetologisch zu erweitern; er stellt sowohl auf inhaltlicher als auch auf struktureller Ebene eine Verhandlung der biologischen Poetologie dar. Er [Kafka ‒ KN] belässt es nicht bei der Übernahme einer Perspektivierungspoetik, die in literarischen Texten durchaus Tradition hat und in der biologischen Wissenschaft als epistemologische Strategie formuliert wird. Vielmehr erzeugt er perspektivische Hybride, lässt die Blickrichtungen und –wechsel wuchern und permanent oszillieren.4

Wir wollen den sachgerechten Analysen narrativer Strukturen nicht detailliert folgen, werfen lediglich einen kurzen Blick auf die Einsichten zum Verlassen der anthropomorphischen Perspektive in Forschungen eines Hundes: als zentral für diese Frage erachtet Wiehl jene auffälligen Leerstellen, in denen Menschen fehlen. Der Icherzähler-Hund spricht fasziniert von Lufthunden, die nur für kurze Augenblicke die Erde berühren (der Leser denkt sofort an Schoßhündchen, die gern getragen werden), nennt Hunde, die in verschiedenen, nicht näher bestimmten Berufen arbeiten (die Berufsbestimmung müsste auf die Menschenwelt verweisen), ihn wundert, woher die Nahrung stammt und er erinnert sich an die Mutterweisheit, dass das Essen da ist, wenn man tanzt, die Erde besprengt oder singt (es fehlen Menschen, die Essen bringen oder dem Hund zuwerfen); in zwei entscheidenden Momenten werden Hunde von einer Musik begleitet, die nicht von ihnen stammt (ergänzend ist an Zirkus und Jagd zu denken). Er definiert in seiner widerspruchsvollen autobiographischen Schrift Hunde als Wesen, die eigentlich schweigen und deshalb keinen 3 Wiehl (wie Anm. 1), S. 205. 4 Ebd., S. 211.

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Meinungsaustausch kennen und spricht gleichzeitig von der Wissenschaft, die sie entwickeln, er selbst spricht mit anderen Hunden und bezeichnet sie als sprachlose Tiere. Wiehl fragt nicht nach dieser auffälligen Inkonsequenz des Textes, ihn interessiert das Verhältnis zu den Menschen. Im Verschweigen der Spezies Mensch sieht er eine provokative Umkehrung der im Grunde anthropozentrischen Biologie Uexekülls: Die Sprache als Werkzeug zur Umweltwahrnehmung und Darstellung ist nur dem Menschen eigen, die Merkwelt eines sprachlosen Tieres ist ihm per Definition verschlossen. Kafka betont insofern die Unmöglichkeit, die menschliche Perspektive zu verlassen und Umwelten aus den Perspektiven der Tiere wiederzugeben, ohne auf die spezifisch menschliche Fähigkeit der Wissensproduktion durch poiesis zurückzugreifen. Wenn Uexküll für die Tiere diagnostiziert, dass sie neben der Sprache nicht über Kunst verfügen, so kontert Kafka, dass der Mensch gerade aufgrund der Sprache und ästhetischer Verfahren immer auf diese zurückgreifen muss, will er sich außer sich setzen und die Menschenwelt und sein kleines Ich gegen eine Tierwelt eintauschen. Für den Hund bleibt also folgendes festzuhalten: Er versagt nicht, wie das in der literaturwissenschaftlichen Forschung oft diagnostiziert wird, sondern seine Un-Methode zeigt die ihr inhärenten Schwächen auf, die sie mit der biologischen Forschung teilt. Diese wiederum kann nur durch poiesis ihren revolutionären Anspruch vermitteln. Legitimiert zu einer sicheren Wissensproduktion um das verbleibende Nicht-Wissen der Wissenschaft ist allein der narrative Text, der es ermöglicht, Dinge ‚irgendwie neu zu sehen‘.5

In dieser Lesart6 nährt sich die Erzählung von den Leerstellen als Orten des Schweigens; das Experiment mit dem Anderssehen schafft, trotz aller poietischen Verschiebungen, keinen Begegnungsort für Tiere und Menschen. In der Auseinandersetzung mit den biologischen Theorien scheint Kafka den naturwissenschaftlichen Diskurs und die ihm zugehörigen Distinktionen nicht verlassen zu können.

Die fruchtbare Leere. Der Text als Begegnungsort

Bedeutet in der Erzählung Kafkas die mit einem negativen Vorzeichen versehene Leere eine unüberbrückbare Grenze zwischen Menschen und Tieren, macht Yoko Tawada die Leere zu einem fruchtbaren Ort. Die japanisch und 5 Ebd., S. 225. 6 Wir wollen uns hier mit Klaus Wiehls Positionierung des Hundes als Icherzähler nicht auseinandersetzen; seine deutlich formulierten Ergebnisse dienen in den weiteren Ausführungen als Kontrapunkt zu gegenwärtigen literarischen Versuchen.

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deutsch schreibende Autorin bedient sich, wie Kafka, in ihrer poetischen Prosa hybrider menschlich-tierischer Figuren, aber sie vermeidet es, Menschen und Tiere zu definieren oder streng voneinander zu trennen; sie gehören zusammen, ohne identisch zu sein. Im Gewebe ihrer Texte sind Menschen und Tiere gleichwertige Bestandteile literarischer Welten – die einen wie die anderen rätselhaft, unbeständig-fließend und auf eine sonderbare Art und Weise evident. Als solche öffnen sie Wahrnehmungsfelder, die das alltägliche Bewusstsein potenzieren. In einem Gespräch mit Ortrud Gutjahr anlässlich ihrer Vorlesungen im Rahmen der Hamburger Gastprofessur für intellektuelle Poetik erklärt die Schriftstellerin ihre Vorliebe für Märchen und Metamorphosen. Sie spricht von einem Wissen7, „das gerade Märchen in den Alltag bringen, das sonst nicht vorhanden ist“8 und exemplifiziert diesen Gedanken am Umgang mit tierischen und menschlichen Figuren in der japanischen Märchenwelt, wo eine gewisse Überlegenheit der Tiere selbstverständlich zu sein scheint: Tiere können sich, wenn sie ihre Dankbarkeit ausdrücken, in Menschen verwandeln; haben sie Gutes getan, gehen sie in ihre eigene Welt zurück. Deshalb, kommentiert sie ironisch, kann man nicht sicher sein, „ob unter den Anwesenden nicht doch Füchse sind oder andere Tiere, die im Moment so tun, als seien sie Menschen“9. Die Verwandlung in einen Menschen oder in ein Tier geschieht aus eigenem Willen und zu einem bestimmten Zweck. Diesem flüssigen, hierarchielosen Formwechsel, der der japanischen Literatur eigen ist, setzt Tawada treffend die Beobachtung entgegen: „Dieses Motiv also, dass man zur Strafe in ein Tier verwandelt wird und durch Leistung wieder in den Menschen zurückverwandelt werden kann, scheint mir eher in europäischen Werken vorzukommen.“10 Das Motiv des Wassers sowie Erläuterungen und Verweise auf die Poetik des Wassers als des Verbindenden, Fließenden, alles Umgreifenden Elements, dominiert sowohl in den theoretischen als auch in literarischen Texten Yoko Tawadas.11 Ihr Kurzroman Das Bad beginnt programmatisch:

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8 9 10 11

Das Wort „Wissen“ scheint mir in diesem Zusammenhang fehl am Platze, denn in Tawadas weiteren Überlegungen geht es nicht um das eigentliche Wissen, sondern vielmehr um Denkmuster verschiedener Kulturen, die sowohl das Rationale als auch das Geträumte erfassen. Das Wort stammt von der Autorin. Ortrud Gutjahr (Hrsg.): Yoko Tawada. Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke: Tübingen 2012, S. 43. Ortrud Gutjahr (wie Anm. 8), S. 44. Ebd., S. 44. Eine gründliche Darstellung der Wasserpoetik bietet Hansjörg Bays in „Eine Katze im Meer suchen“. Yoko Tawadas Poetik des Wassers. In: Ortrud Gutjahr (wie Anm. 8), S. 237‒268.

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Der menschliche Körper soll zu achtzig Prozent aus Wasser bestehen, es ist daher kaum verwunderlich, dass sich jeden Morgen ein anderes Gesicht im Spiegel zeigt. Die Haut an Stirn und Wangen verändert sich von Augenblick zu Augenblick wie der Schlamm in einem Sumpf, je nach der Bewegung des Wassers, das unter ihm fließt, und der Bewegung der Menschen, die auf ihm ihre Fußspuren hinterlassen.12

Dieser prinzipiellen Unstabilität der Form entsprechen symbolische Verwandlungsgeschichten von namenlosen Frauen: eine verwandelt sich in einen Fisch, eine andere, tote, erscheint abends in einem Hotel, nimmt mit der Icherzählerin Kontakt auf, stellt sie vor eine ungewöhnliche Aufgabe und verschwindet wieder in der Vergangenheit, die Icherzählerin selbst beobachtet im Bad, wie ihr Gesicht, die die Schminke für Reklamezwecke zur Maske machte, Schuppen bedecken. Diese Schuppen, charakteristisch für Wasserwesen – Fische, aber auch Sirenen – initiieren ihre Metamorphose in ein Mischwesen, das am Romanende zwischen Räumen und Zeiten steht. Zuerst ist es also das Element Wasser, dem sie sich nähert, dann, als eine Tote ihr die Zunge abbeißt und sie zum Pfand nimmt, öffnet sich ihr Körper für das Vergangene. Diese Verwandlungen und Annäherungen an das Wasser bringen Gutes und zugleich Schmerzhaftes mit sich: die Fischfrau kann in ihrer neuen Gestalt die Dorfbewohner vor Überflutung retten, wird aber aus der Menschengemeinschaft ausgeschlossen, die Icherzählerin – Dolmetscherin, Fotomodell und Typistin, die ihren Körper den Toten als eine Art Brücke oder ein Tor zur Welt der Lebendigen leiht, widmet sich ihrer Arbeit mit solcher Hingabe, dass alle Bestimmungen, die sie bisher beruflich definiert haben, an ihr nicht mehr haften wollen; sie bezeichnet sich als einen transparenten Sarg, eine Hülle also, durch die das Tote wahrnehmbar wird. Das Verlassen des Festlandes sensibilisiert sie offenbar für leise klingende Stimmen – so leise, dass sie nur erahnt werden können. Das „Erahnen“ müsste man, meiner Ansicht nach, als Schlüsselwort neben „Wasserpoetik“ stellen, denn es handelt sich um eine Poetik, die nicht verkündet und nicht begründet, sondern ahnen lässt. Die Titelerzählung aus dem Erzählband Wo Europa anfängt & Ein Gast spielt mit der Vorstellung von giftigen fremden Wassern: „Reisen hieß für meine Großmutter, fremdes Wasser zu trinken, andere Orte anderes Wasser. Vor einer fremden Landschaft müsse man sich nicht fürchten, aber fremdes Wasser könne gefährlich sein.“13 Die Alternative bedeutet demnach für die Großmutter, entweder sich nicht 12 13

Yoko Tawada: Das Bad. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke: Tübingen 2015, S. 7. Yoko Tawada: Wo Europa anfängt & Ein Gast. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke: Tübingen 2014, S. 8.

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von der Stelle zu bewegen und leben oder den sicheren Ort zu verlassen und sterben. Die mehrstimmige Icherzählerin14, die sich an ihre Reise nach Europa erinnert, findet aber einen realen dritten Weg: Hatte meine Großmutter mir nicht von der Warnung einer Schlange erzählt, dass man kein fremdes Wasser trinken dürfe? Aber Obst ist doch etwas anderes als Wasser. Warum darf ich nicht die fremde Frucht essen? Also biss ich in den Apfel und schluckte sein saftiges Fleisch hinunter. […] Es wurde still und kalt. So kalt war es noch nie in Sibirien gewesen. Ich bemerkte, dass ich mitten in Europa stand.15

Auch „der dritte Weg“ oder „das Umdenken“ gehört mit zur Verflüssigungsidee, denn das leise Ahnen setzt nicht allein das Kafka’sche „etwas anders sehen“, sondern auch die Bereitschaft, anders zu denken voraus. Das betrifft auch die theoretischen Äußerungen zur Poetik. In einem Gespräch mit Ortrud Gutjahr beantwortet Tawada die Frage, ob das Wasser nicht so etwas wie eine Leitmetapher ihres Schreibens ist, indem sie auf die Küstengebiete aufmerksam macht: [D]as Wasser existiert nicht ohne Küsten und Grenzen […] Oft sieht man am Wasser sogar zwei Ufer, wie zum Beispiel an der Elbe. Diese Ufer sind für mich so wie die japanische und deutsche Sprache. Das sind für mich provisorische Positionen, um das Wasser wahrzunehmen. Denn durch das Wasser entsteht ein Zwischenraum. Um den Raum wahrzunehmen, brauche ich schon die Ufer als Ansätze. Doch dies sind keine Grenzen, sie existieren nicht, um etwas zu überschreiten oder festzulegen. Das Wasser kann sehr verschiedene Bewegungen zeigen. Auf dem Meer, im Fluss, aus dem Wasserhahn. Es ist immer ein Spiel mit dem Formlosen, aber Formen möchte ich nicht ausgrenzen. In meinen Poetikvorlesungen werde ich viel über Wasser sprechen und Tsunami kommt auch vor.16

Die modegewordene Idee der Grenzüberschreitung und -verwischung wird hier durch ein anderes Bild ersetzt – das der Ufer; damit entsteht ein neuer Denkraum. Die Ufer sind nämlich Orte, wo Wasser und Land sich berühren, sie unterliegen dem Einfluss des Wassers und verleihen dem Formlosen ihrerseits so etwas wie eine Form. Yoko Tawadas Poetik wurzelt, so scheint es, in der Theorie der schwachen Identität; nimmt man aber diese ernst, muss man die Unstabilität von diversen 14 15 16

In der Erzählung gibt es mehr als eine Ich-Stimme; die Frage nach dem, wer eigentlich spricht, bleibt offen. Ebd., S. 32. Yoko Tawada im Gespräch mit O. Gutjahr am 20. April 2011 im Internationalen Maritimen Museum. In: Gutjahr (Hrsg.) (wie Anm.8), S. 44‒45.

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Grenzen – Grenzen des individuellen Bewusstseins, der Haut und – warum nicht – der Gattung akzeptieren. Die schwache Identität bietet einen Ausweg aus Kafkas begrifflicher Leere, der absoluten Aussonderung der Menschen aus der Welt der Tiere und erklärt Literatur – das Erzählen, die Schrift und die Stimme – zu einem Begegnungsort, der nicht erfunden werden muss, weil er längst schon da ist. Im Folgenden werden zwei Texte, Hikon17 (1998) und Etüden im Schnee (2014) zitiert: der erste als ein seltenes literarisches Beispiel für die Macht einer Leserstimme, der zweite als Sinnbild der Schreibmagie.

Hikon oder die Umkehrung aller Dinge

Die Umkehrungen in Yoko Tawadas Roman geben raffiniert-provokative Antworten auf Denk- und Sprechgewohnheiten. Im Vordergrund steht „der Weg des Tigers“ – eine Bezeichnung, die an östliche Kampfschulen erinnert. Die Handlung ist folgerichtig in einer klosterähnlichen Schule angesiedelt, die allerdings keine Kämpfer ausbildet, sondern lediglich Lehren vermittelt, die den Geist formen. Vorlesungen und Lektüre von kanonischen Büchern der Schule geben den erwählten Frauen Impulse zur Auseinandersetzung mit Gemeinplätzen, Werten und Definitionen: sie erfahren, vielmals am eigenen Leibe, wie man Ideen und Dinge perspektivisch sehen und Gegensätze zusammendenken kann. Die Meisterin setzt die Tradition der Begründerin der Schule fort, von der es heißt, sie habe über einen Tiger gesiegt. Am Anfang steht also der Sieg über ein Wesen, das zur Leitfigur wird und ständig präsent bleibt – als Symbol, als Vorstellung, als Spielzeug und als leibhaftes Tier.18

Figuren

Der Tiger taucht in Hikon bereits im ersten Satz auf – es heißt, er komme an der Schwelle des Traumes. Der Text charakterisiert diesen Augenblick als eine Zeit, da alle Differenzen ihren Wert verlieren: Tiere, Vögel und Menschen unterscheiden nicht zwischen warm und kalt, fröhlich und traurig. Diese 17 18

Yoko Tawada: Fruwająca dusza. Wydawnictwo Karakter: Kraków 2013, übersetzt von Barbara Sonka. Mangels deutscher Übersetzung bediene ich mich der polnischen Übertragung, bleibe aber im Fließtext beim japanischen Titel Hikon. Die Assoziation mit Freuds Vatertötung als Gründungsakt der Kultur liegt nahe, umso mehr, als Tawada einen ethnologisch geschulten Blick hat. In ihrer Narration bedeutet aber Siegen nicht unbedingt Töten, deshalb existiert ihr Tiger nicht als eine mythisierte Gestalt außerhalb der realen Gesellschaf, sondern er kann im Menschen leben.

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Aufhebung von Oppositionen ist ein Hinweis darauf, dass in der Romanwelt die üblichen Zuordnungen bezüglich des Träumens und Wachseins nicht gelten. Im neutralen Duktus der Sprache erscheint der Ausgleich von Empfindungen, Stimmungen und Gattungen als ebenso akzeptabel, wie die überraschende Behauptung im weiteren Satz, dass die Sprache des Tigers, obwohl eine fremde, verständlich sein werde. Wenn der Tiger es will, kommt er und spricht; und er kommt jeden Tag. Verscheucht man ihn aber mit Weihrauch, sagt der Text, stirbt die Natur für den Angesprochenen ab. Da der Weihrauch ein Opfer für Götter und Geister ist, muss es sich um einen Geist handeln. Die spärlichen Informationen zu seinem Erscheinungsbild in der einleitenden Szene werden im Verlauf der Geschichte kaum ergänzt. Der ganze Roman arbeitet konsequent mit schimmernden, uneindeutigen Vorstellungen, vor allem in Bezug auf den Tiger, aber auch auf die Meisterin Kikyo: der Tiger erscheint mal als ein elegantes Tier mit dickem Bauch und goldenem Fell, mal als ein lehmverschmutztes Spielzeug aus Gras und Papier. Kikyo werden so widersprüchliche Eigenschaften zugesprochen (alt und jung, schön und hässlich, weise und unberechenbar, fürsorglich und von unkontrollierbarer Gier geleitet), dass selbst ihre Anhängerinnen Anstoß daran nehmen. Der Text spielt mit Bildern und Eigenschaften seiner Figuren, doch die Herausforderung, der sie durch ihr Dasein gerecht werden müssen und die Macht ihrer Stimme, bleibt unverändert. Die Stimme (der Laut) und die Schrift (das Zeichen) gehören in Hikon zusammen. Der Tiger spricht und die Erwählte hört auf ihn. Es sind hauptsächlich Frauen, die sich nach ihm sehnen und von ihm gerufen werden: für viele von ihnen bedeutet sein Ruf Erlösung von den Zwängen der Gesellschaft, andere gehen an ihm zugrunde. Enka, eine der interessantesten Figuren, von der es heißt, dass sie an der Erosion des Körpers leidet, weil er ihren allzu starken Geist nicht tragen kann, glaubt auf dem Weg des Tigers einen Hoffnungsschimmer im Nebel des Albtraumes gefunden zu haben; dieser erweist sich jedoch als ein tödliches Irrlicht. Anders die Icherzählerin, Risui: sie sucht viele Jahre lang den Tiger und findet endlich ihren eigenen Weg. Um den Weg des Tigers zu gehen, müssen die Frauen lesen und schreiben können: die Aufnahme in die Schule setzt voraus, dass man einen Brief an die Meisterin schreibt und eine schriftliche Antwort von ihr bekommt; die Lehre beruht hauptsächlich auf der Meditation der Schrift. Nur Risui, die sich deutlich von ihren Mitschülerinnen unterscheidet, schreibt Gedichte und Erzählungen und liest aus den kanonischen Büchern laut vor. Als eine betroffene und zugleich beobachtend distanzierte Figur ist sie der Schlüssel zum Verstehen der sonderbaren Verflechtung von Schrift, Zeichen und Stimme im Zeichen des Tigers.

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Risui erzählt ihre Geschichte rückblickend. In welcher Zeit das Geschehen zu verorten ist, erfährt man nicht – festgestellt wird lediglich, dass es lange her ist, und zwar als die Frauen noch traditionelle Kleider trugen. Auch die Zeit, von der aus sie ihren Werdegang betrachtet, bleibt unbestimmt: es wird lediglich gesagt, dass sich die Welt inzwischen verändert hat. Den vagen Bestimmungen der Zeit entspricht die Abstraktheit der stark typisierten Orte: der namenlosen Dörfer, Städte, Berge und des Waldes, in dem sich die Schule befindet. Von dieser für Märchen, Ritter- und Abenteuerromane typischen Raum-Zeit-Struktur weicht die Konstruktion der narrativen Instanz auffällig ab. Risui, anders als Abenteuer- und Märchenfiguren, die in der abstrakten Zeit der Abenteuer jung und schön bleiben ‒ wird dicker und nicht mehr so anziehend wie in den ersten Jahren bei Kikyo. Unverändert bleibt dagegen ihr Wesen, das sie selbst als „schwebende Seele“ bezeichnet.19 Darunter versteht sie einen Menschen, der nicht besonders klug ist, häufig seine Meinung ändert und sich oft auf seinem Wege verläuft. An einer anderen Stelle sagt sie, ganz auf sich selbst bezogen, als schwebende Seele mache sie keine großen Pläne, lebe von dem, was ihr der Tag bringt, unterliege Gefühlsschwankungen, frage selten nach der Ursache dessen, was geschieht und schreibe in ihren Heften verschiedene Sachen auf.20 Man ist beinahe geneigt, sie als völlig medioker abzustempeln, würde die Erzählung diese Selbstbestimmung nicht infrage stellen. Ihr Weg in die Schule und zu den Büchern zwingt sie zum bewussten Wahrnehmen und sinnlichen Erleben der Erde: Risui ahnt zuerst die Anwesenheit von Naturgeistern, dann kommt ein starkes Gewitter und sie muss sich der Naturgewalt beugen. Die junge Frau legt sich auf die Erde und gräbt sich in sie ein, als wäre sie ein Teil von ihr; so erdverschmutzt erreicht sie ihr Ziel. Tawada bedient sich mehrerer Bilder, um die Assoziation der Kultstätte der Literatur mit der sterilen Reinheit des Geistes zu sprengen. Der Geist ist in ihrem Roman nicht nur erdverbunden (oder, mit Nietzsches Worten, der Erde treu), er hat vor allem etwas Animalisches an sich. Symbolisch versinnbildlicht diese Grundhaltung die surreale Begrüßungsszene, in der Kikyo sich den Weg durch die Menge junger Frauen wie ein Nashorn bahnt.21 Der Vergleich einer üppigen Frau, die sie ist, mit einem Nashorn scheint auf den ersten Blick verständlich, obgleich nicht schmeichelhaft. Der Text selbst erklärt aber, den Sprachgewohnheiten zum Trotz, dass es sich, strenggenommen, nicht um einen Vergleich handelt, sondern um ein Spiel mit den Zeichen: 19 20 21

Tawada (wie Anm. 17), S. 8. Ebd., S. 58. Vgl. ebd., S. 22‒23.

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das Nashorn ist als ein Zeichen an Kikyos Gesicht zu sehen, wenn auch nur einen Augenblick lang. Die Frau bekommt in dieser Szene etwas von einem Tier und auch umgekehrt hat das Tier etwas Feminines an sich aufgrund der ihm zugeschriebenen Möglichkeit von Abwehr und von geistigen Leistungen, an die es erinnert. Risui drückt es poetisch aus: die Hörner dieses exotischen Tiers trotzen einem nicht vorhandenem Feind und seine herabhängende Haut an den Seiten erinnere an kostbare Buchumschläge.22 Die Icherzählerin mobilisiert mehrere Sinne, um die Verbundenheit der Meisterin mit lebenden und toten Tieren zu bezeugen, etwa den Geruchssinn: in der ersten Nacht in der Schule sieht sie im Traum Kikyos Haut, die voller roter Flecken ist, die sowohl Blumen als auch Wunden oder Geschwüre sein könnten; auf jeden Fall verbreiten sie einen so überwältigend intensiven Geruch, dass sie hustend aufwacht. Später spürt sie diesen Geruch noch einmal, als sie einen Katzenkadaver findet. Die Tigerkatze ist erfroren und verbreitet einen leisen Geruch; Risui fühlt sich verpflichtet, sie sofort in die erweichte Erde zu legen. Sie wird dabei von der Meisterin überrascht und so entwickelt sich ein Gespräch, dass das Verbindungsnetz von Menschen und Tieren erweitert. Gefragt, warum sie in der Erde gräbt, antwortet die Schülerin, man bestatte die Vorfahren. Kikyo kehrt das Denkschema mit der Bemerkung um: wenn man die Verstorbenen bestattet, mache man sie zu Ahnen. Dieser Satz macht die gefundene tigerähnliche Katze zu Risuis Vorfahrin. Ich möchte an dieser Stelle das parabelhafte Gespräch in Bezug auf die Ichfigur nicht weitentwickeln und begnüge mich mit dem Hinweis auf die Vernetzungen im Reich der Zeichen, die mehrere Sinne – Ohren, Augen, Nase – in Anspruch nehmen; Worte, Bilder und Düfte gehören hier zusammen.

Stimme

Das Leben und der Lernprozess der Frauen konzentrieren sich auf Lektüre und Interpretation von sinnlos anmutenden heiligen Büchern. In diesem Zusammenhang spielt der Roman mit der Theorie des Lesepublikums, die nach einem historisch gedachten und individualisierten Leser verlangt. In Hikon verwandelt sich das „wir“ einer konkret bestimmten Lesegemeinschaft, hauptsächlich aufgrund der Unverständlichkeit der Texte, in ein unbestimmtes, entpersonalisiertes Publikum: die Schülerinnen können unmöglich die rund 360 Bände ganz und der Reihe nach lesen, deshalb beschäftigen sie sich mit Passagen, die, wie es heißt, ihrer Entwicklung entsprechen. Doch auch diese 22

Ebd.

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sind so rätselhaft,23 dass die Frauen sie immer wieder lesen, bis sie nicht mehr wissen, wer eigentlich liest.24 Wichtiger als das Umdenken des Lesepublikums ist die poetologische Reflexion über die Stimme. Gerard Genette führte die Stimme an die Stelle des (personalen, auktorialen etc.) Erzählers in die Erzähltheorie ein: sie gehört in die Welt des Textes und erzeugt Bedeutungen. Yoko Tawada bringt einen anderen Aspekt der Stimme ins Spiel, der eher dem Barthes’schen Impuls verpflichtet ist. Ihre Icherzählerin liest laut vor und registriert, wie die Worte rein technisch vom Körper erzeugt werden,25 wie die vorgetragenen Worte die Wahrnehmung verändern und wie das Tempo der Tonerzeugung das Gelesene modifiziert. Bei der ersten Übung macht sie z.B. die Erfahrung, dass, wenn man die ersten Laute zu schnell hervorbringt, die Worte im Abgrund verschwinden, bevor man sie ganz ausspricht; lässt man andererseits einen Laut zu lange ertönen, dann klebt er an der Zunge, so dass man nicht weiter lesen kann.26 Die Wirkung des Vorlesens ist mit dem Schrifteffekt vergleichbar: das Gesicht der Sprechenden verschwindet hinter der Lautwolke, wie das eines Autors, das von der Schrift vernichtet wird.27 Auf die Texttheorie von Roland Barthes verweisen eindeutig die Erinnerungen an die gemeinsame Lektüre; das Vorlesen modifiziert den Sinn und vermittelt den Eindruck einer sonderbaren Bedeutungsleere der heiligen Texte. Beim ersten Versuch, Schriftzeichen in Laute zu übersetzen, bringt die Erfahrung des sinnentleerten Sprechens die Icherzählerin in die Nähe des Buchs.28 In einer längeren Passage über die Leseübungen erinnert sie sich, wie sie, trotz allen Bemühungen, beim Vorlesen den Sinn zu begreifen, letztlich scheitert und, wie alle anderen Frauen, der Macht der Stimme unterliegt. Fasziniert beschreibt sie das Bild von Frauen, die sich wie verzaubert im 23 24 25

26 27 28

Die Bücher scheinen aus lauter unzusammenhängenden Behauptungen zu bestehen, etwa dass der Tiger, wenn er sich erinnern kann, nicht in den Abgrund fällt oder dass er, wenn er fliegen gelernt hat, die Logik des Raumes nicht infrage stellt. Vgl. ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 34. Yoko Tawada verweist in mehreren Schriften auf die Bedeutung der Zunge. In der Skizze Akzent ist es die Art, wie man Worte artikuliert, die uns mit dem Herkunftsland verbindet und selbst ein Teil der Geschichte ist: „Die Mundhöhle der Kellnerin ist der Nachthimmel, darunter liegt ihre Zunge, die den eurasischen Kontinent verkörpert.“ Yoko Tawada: Akzentfrei. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke: Tübingen 2016, S. 24. Die Tatsache, dass man die Zunge trainieren kann, verspricht ein mögliches Abenteuer, exotische Sprachen zu lernen. Vgl. ebd., S. 25. Der Widerstand der Zunge, den man bei der Artikulation fremdsprachiger Wörter spürt, wirkt einerseits hemmend, andererseits macht es ihre Möglichkeiten bewusst. Vgl. z.B.  Zungentanz in: Yoko Tawada, Überseezungen. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke: Tübingen 2017, bes. S. 13. Vgl. Yoko Tawada (wie Anm. 19), S. 35. Vgl. ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 37‒38.

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Rhythmus der Vibration ihrer Stimme bewegen.29 Der Geist in ihrer Stimme erheitert das Publikum und lädt es gleichsam tänzerisch zum Mitspielen ein. Die Zuhörerinnen spüren dabei eine Veränderung des unfassbaren Sinns, die das Unklare nicht deutlich macht.30 Die Metapher für das Zurückweichen des Sinns hat etwas Tröstendes: wenn Risui vorliest, flüchtet sich der Sinn eilig wie eine Fledermaus und hinterlässt den Zuhörern die Wärme der Worte.31 Das gesprochene Wort verleiht Macht; der Roman verbindet es von Anfang an mit der Figur des sprechenden Tigers. Die Icherzählerin beginnt ihre Geschichte damit, dass sie daran zweifelt, ob der Tiger so einen Menschen wie sie wählen würde, der in keinem Streitgespräch gewinnt. In der Schule lernt sie das Schreiben als ihren Weg zur Erkenntnis und ihre Stimme als eine gefährliche Macht kennen, indem sie aus Büchern vorliest. Die Frage, ob und in welchem Grad sie die Lehre der Schule verinnerlicht hat, bleibt offen. Anders als alle anderen Frauen, die in der Waldeinsamkeit mit der Zeit ihrer Meisterin immer ähnlicher werden (sie kleiden sich wie Kikyo, ahmen ihre Verhaltensweisen nach, bewegen sich wie sie), registriert Risui ihre frühe Faszination für Kikyo ‒ auch die Faszination erotischer Natur ‒ und die Tatsache, dass sie kein Bedürfnis hat, ihr äußerlich oder innerlich zu ähneln. Die Lehrerin erscheint ihr nicht allein als eine wechselhafte, widerspruchsvolle Frau, sondern sie steht vor ihr, als wäre sie ihr zugleich fern und fremd, als wäre sie gleichsam aus Buchstaben resp. Worten zusammengesetzt.32 Der Text entwirft seine Welt als einen Bereich zwischen den Buchstaben, Stimmen und sinnlichen Eindrücken, wobei die Buchstaben sich manchmal in aktive Figuren der erzählten Welt verwandeln. Eine Episode zeigt Risui, wie sie von einem Wanderer im gelb gestreiften Mantel, der ihr bekannt vorkommt, aus dem Schulgebäude herausgelockt wird. Beim Geschlechtsakt spürt sie etwas unbehaglich Pflanzenartiges in seinen Gliedern; sie will die Beziehung beenden, wird aber vom Liebhaber verfolgt. Die Beziehung dauert mehrere Tage, bis sie mit Entsetzen feststellt, dass die Figur des Mannes im Mondlicht die Form des Tiger-Ideogramms annimmt und sich dann in der Dunkelheit auflöst; an seiner Stelle erscheint Kikyo mit einem Pinsel als Waffe, und befreit mit dessen Hilfe ihre Schülerin vom bösen Streich des Ideogrammgeistes. Die Icherzählerin erklärt das Pflanzenartige des Liebhabers, indem sie an die Form des Schriftbildes erinnert, aber sie geht auf die Metamorphose vom Tiger (als Schriftzeichen) zum Mann und dann des Ideogramms zu Kikyo nicht 29 30 31 32

Vgl. ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 39‒40. Vgl. ebd., S. 96. Vgl. ebd., S. 94.

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weiter ein. Ihre Erklärung, die Meisterin sei verpflichtet, ihre Schülerinnen zu schützen, wofür sie auch ihre Zauberkräfte einsetzte, wirkt wie eine ironische Brechung angesichts des späteren Geschehens: Die junge Frau berichtet, wie sie, erschüttert, ihre Hüften an die der Meisterin drückt, die währenddessen wie ein Baum dasteht, ohne zu reden oder sich zu bewegen.33 Kikyo hat zwar den Geist des Ideogramms verscheucht, wirkt aber pflanzenartig, wie dieser, so dass man sich fragen kann, ob sie nicht sein Spiel fortsetzt. Der Tiger fungiert im Roman als ein Wegweiser der geistigen Entwicklung. In einer entscheidenden Übergangsszene34 sieht Risui seine Repräsentation – ein Spielzeug aus Knochen und Gras – in einem ausgetrockneten Teich, mitten im Wald der Meditation – an einem Ort, den kaum jemand kennt. Von da an studiert sie in der Bibliothek Bücher und sucht Kontakt mit anderen Seelen. Um diese Handlungswende zu verstehen, scheint es angebracht, vom Stichwort „Spielzeug“ auszugehen. In ihrer Dissertation Spielzeug und Schreibmagie. Eine ethnologische Poetologie plädiert Tawada für Magie in der Kunst unter anderem aufgrund ihres kritischen Potenzials. In der Auseinandersetzung mit Horkheimer schreibt sie: Künstler werden hier gleichsam als eine gesellschaftliche Gruppe verstanden, die nach der Anweisung der Magie in verschobener Form weiterhin magische Traditionen pflegt. Es ist jedoch fragwürdig, ob die Kunst für diese Tradierung magischer Momente eine abgeschlossene Welt benötigt, in der nur ihre Gesetze gelten. Eher ahmt die ‚Sprache‘ der Kunst das kommunikative Zeichensystem bis zu einem bestimmten Grad nach, um es dabei zu verschieben oder aufzulösen. Meiner Meinung nach enthält gerade diese Technik ein kritisches Potential, das der modernen Kunst ermöglicht, einen Raum für die Rückkehr der Magie zu inszenieren.35

Unter Berufung auf Walter Benjamins frühe Sprachphilosophie fügt sie ergänzend hinzu, dass die Literatur die Möglichkeit hat, die Sprache der Dinge zu erhellen und – man möchte fast sagen – für ihre Zwecke zu benutzen: „Die Kommunikation der Dinge verläuft nicht verbal, sondern unmittelbar durch ihre stoffliche Gemeinschaft. Auch Spielzeug trägt die Sprache der Dinge in sich, die jedoch für Menschen in Übersetzung sichtbar wird. Literatur etwa kann eine solche Übersetzungsarbeit leisten.“36 Denkt man sich den aus Knochen und Gras gemachten Tiger als ein magisches Ding, dann verliert 33 34 35 36

Vgl. ebd., S. 150–153. Vgl. ebd., S. 192. Yoko Tawada: Spielzeug und Sprachmagie. Eine ethnologische Poetologie. Konkursbuchverlag Claudia Gehrke: Tübingen 2000, S. 15. Ebd., S. 16.

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er in der Erinnerungswelt der Dichterin Risui den Charakter eines „bloßen“ Zeichens. Er ist Spielzeug und Tier zugleich, er teilt sich mit, wird erkennbar für sie und zeigt ihr den weiteren Weg. Der Schluss des Romans bringt zwei Diskussionen ins Spiel, die das Selbstreferenzielle des Textes abrunden. Zur Debatte steht, ob der Tiger nur als Metapher (d.i. raum- und zeitlos) zu verstehen ist. Die Icherzählerin lässt sich auf das Gespräch über die Nichtexistenz der raum- und zeitlosen Metapher nicht ein und behauptet, der Tiger sei in der Stimme und im Klang da. Auch im zweiten Gespräch, dieses Mal zum Thema „Seele“, hebt sie die Bedeutung der Stimme hervor: das Schriftzeichen „Seele“, sagt sie, bestehe aus zwei anderen Schriftzeichen: „Dämon“ und „Sprechen“, also sei die Seele ein Dämon, der zu uns spricht.37 Die Frau befindet sich in einem seltsamen Zustand des Halbwachens, der an den Romananfang erinnert, aber sie ist nicht allein – sie steht vor einem Publikum, das sich vor Lachen (wohl einem befreienden Lachen) schüttelt, und auch Kikyo lacht: ihr Lachen ist wie das Rattern der sich drehenden Räder. Der Tiger existiert quasi auf dem Grund des Lachens, er ist in der Stimme und im Klang des Lachens präsent. Die Dichterin Risui findet das mächtige Tier in der Wärme der ausgesprochenen Worte und im Lachen, jenseits von Sinn und Bedeutung; die Konstruktion von beiden überlässt Tawada, der Tradition von Roland Barthes folgend, dem Leser. Die Leere, von der sie ausgeht, bedeutet aber etwas grundsätzlich anderes als jenes vernichtende Schweigen in Kafkas Forschungen eines Hundes ‒ es ist eine fruchtbare Leere. In Hikon schafft die Autorin durch Umwertungen und Bedeutungsverschiebungen einen Experimentierraum, in dem verschiedenartige Seelen einander begegnen und ineinander übergehen.

Etüden im Schnee oder eine Begegnung im Schreiben

Im Roman werden drei autobiographische Etüden und zwar aus der Perspektive von drei Polarbären erzählt: der Grußmutter, der Mutter und ihres Sohnes, des berühmten Knut aus dem Berliner Zoo. Der letztere gab den Impuls zur Entstehung des Romans: Tawada verhehlt nicht ihre Irritation darüber, wie man über den Eisbären schrieb. In der Skizze Über Knut38 mokiert sie sich darüber: den Gerüchten nach habe der Bärin (seiner Mutter) der Mutterinstinkt gefehlt, 37 38

Vgl. Tawada (wie Anm. 19), S. 211. Yoko Tawada: Über Knut. In: akzentfrei. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke: Tübingen 2016, S. 120–122.

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weil sie in einem sozialistischen Zirkus gearbeitet hat; nach Knuts Tod habe sie ‒ dieses grausame Naturwesen, wie es hieß, ihr Kind wegen eines Gehirndefekts abgestoßen und man erprobte an ihm hausbackene Psychologie: Die Massenmedien berichteten von Knuts Gefühlsleben, als bestünde kein Zweifel daran, dass der Eisbär über die gleiche Gefühlspalette verfügt wie wir: Dem Trennungsschmerz beim Abschied vom Pfleger folgte die Freude beim Zusammensein mit der ersten Freundin Giovanna, dann sollte ihn das Gefühl des Ausgeschlossenseins in der WG mit drei älteren Bärendamen belasten.39 Etüden im Schnee nehmen die in Hikon eingeführte Idee der fließenden Identität auf, dieses Mal mit Fokus auf den Schreibakt und auf die Auswirkung des Textes auf den Schriftsteller. Der Text gestaltet zugleich einen ironischen Dialog mit der Weltliteratur, u.a. mit den Tiergeschichten Franz Kafkas. Tawada arbeitet mit einer besonderen Erzählinstanz: es ist jeweils ein schreibendes Ich, das die Innenperspektive eines Tiers mit der menschlichen Erlebniswelt in Einklang bringt. Ich möchte hier ihre Lösung nur ansatzweise, an einigen wenigen Beispielen exemplifizieren, obwohl sie einer eingehenden Untersuchung wert ist. Die konstante Ichperspektive täuscht in keiner Etüde vor, dass der Text tatsächlich von einem Bären stammt: so werden im Kapitel Evolutionstheorie der Großmutter die ersten Bewegungen einer kleinen Bärin beschrieben und die Art, wie sie die Welt als Kind wahrgenommen haben muss, doch es fällt sofort auf, dass die Beschreibung wohl nicht ein Tier, sondern eine Art Bärenmenschen schildert: Dem scheinbar neutralen Vergleich mit menschlichen Kindern („Ohne das flauschige Fell wäre ich kaum anders als ein Embryo gewesen“)40 folgen Wortspiele, die sich auf ein hybrides Wesen beziehen. Hände und Pfoten, Finger und Krallen sind dieselben Glieder, nicht weil sie dieselbe Funktion erfüllen, sondern weil sie menschlich-tierisch sind. So schreibt die Icherzählerin: „Ich konnte nicht gut gehen, obwohl meine Pfotenhände schon kräftig genug entwickelt waren, um zuzupacken und festzuhalten und mein Lebenswille hauste hauptsächlich in den Krallenfingern und auf der Zunge“.41 Die Erzählinstanz bestimmt sich als eine zwischenartliche Figur im Kontext des Schreibens, das sie übrigens als eine „unheimliche Tätigkeit“ bezeichnet. Schreibend verliert sie das Zeit und-Raumbewusstsein: „Als ich auf den Satz starrte, den ich gerade niedergeschrieben hatte, wurde mir schwindelig. Wo bin ich gerade? Ich bin in meine Geschichte eingetreten und 39 40 41

Ebd., S. 121. Yoko Tawada: Etüden im Schnee. Konkursbuch Verlag Cludia Gehrke: Tübingen 2014, S. 5. Ebd.

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von hier verschwunden.“42 Sie befindet sich in einem Hotel irgendwo in der DDR, wo sie als ehemaliges Zirkustier, das ein Dreirad fahrend das Publikum ergötzte, an einem Kongress zum absurden Thema „Die Bedeutung der Fahrräder für die Volkswirtschaft“ teilnimmt. In einer Szene schwanken nicht nur die Bezeichnungen ihrer Körperteile zwischen menschlich-tierischen und rein menschlichen, auch das Gedächtnis bringt Bilder hervor, in denen ein kleines Mädchen, ein Mensch-Tier und ein Zirkustier erscheinen. So meldet sich die namenlose Icherzählerin zu Wort, indem sie ihre Pfotenhand hochhebt; als sie aber vor dem Publikum steht, werden ihre Körperteile menschlicher und das Fell erinnert an ein Kleidungsstück: „Mein fülliger, weicher Oberkörper war mit kostbarem weißem Fell umhüllt. Als ich meinen gehobenen rechten Arm und den Brustkorb etwas nach vorne schob, wurden betäubende Lichtpulver in der Luft freigesetzt.“43 Der Meinungsaustausch und die anschließende Mittagspause rufen Erinnerungen aus dem Klassenzimmer wach, in denen der Weg in umgekehrte Richtung verläuft: aus einem Mädchen wird ein Tier. Zunächst wird ihre besondere Leibesstärke angedeutet: als Außenseiterin pflegt sie in der Pause unter einem Feigenbaum Platz zu nehmen, wo sie ein Kind scherzhaft zu überraschen versucht: „Ich warf das Kind über die Schulter. Es war nur ein Verteidigungsinstinkt in mir, keine böse Absicht. Da ich aber kräftig gebaut war, flog das Kind in die Luft.“44 Dann gesteht sie, wie sie von anderen Kindern genannt wird: die Spitznamen „Spitzmaul“ und „Schneekind“ lassen an einen Eisbären denken. Die Fremdbestimmungen verursachen, dass das Mädchen sich selbst als eine Bärin sieht: „Bis dahin habe ich mir nie die Frage gestellt, wie ich in den Augen anderer Kinder aussehen könnte. Meine Nasenform und meine Fellfarbe unterschieden sich von denen der Masse.“45 Nun betrachtet sie sich als ein Eisbärkind und beschreibt ihren Körper als wäre sie ein solches. Die Bedeutungsverschiebungen gehen also in beide Richtungen – zum Tier und zum Menschen. In einer amüsanten Passage lernt die Icherzählerin, ein ehemaliges russisches Zirkustier, und nun eine in den Westen geflohene Autorin, deutsch lesen und schreiben. Sie findet ein Sprachlehrbuch mit angewandter Grammatik, die Kafkas Erzählung Josephine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse enthält und liest sie auf ihre scheinbar naive Art: 42 43 44 45

Ebd., S. 7. Ebd., S.10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12.

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Die Protagonistin war eine Maus. Ihre Erwerbstätigkeit: Singen. Ihr Publikum: das Volk. Auf der Vokabelliste fand ich das Wort „Volk“, das dem russischen „Narod“ entspricht./ Es gab Zeiten, in denen ich nicht daran zweifelte, dass das Wort „Narod“ ungefähr das Publikum im Zirkus bedeuten würde. Später, auf zahlreichen Konferenzen und Versammlungen, wurde mir klar, dass ich mit meiner Vermutung nicht richtig gelegen hatte, aber definieren konnte ich den Begriff weiter nicht, und mein Unwissen fiel nicht auf.46

Der Text verwirrt: die Erzählung bezieht sich zwar allein auf Zirkuserfahrungen der Bärin, als wäre die literarische Welt nur ein Impuls für die Erinnerungsarbeit, doch das gestandene Unwissen führt zu einer Reihe von Fragen, an die ein naiver Leser kaum dächte: etwa warum Menschen im Zirkus applaudierten, als sie auf drei Rädern fuhr, obwohl jeder aus dem Publikum es auch konnte. D.i. die rezeptionsästhetische Frage nach dem Komischen, oder nach dem Begriff „Volk“, den man in der Umgangssprache bedenkenlos gebraucht und an dem sich die großen Geister scheiden. Ganz anders verhält es sich mit dem Buchhändler, der Bescheid weiß. Als er der Kundin ein Buch mit Kafkas Erzählungen reicht, von denen einige aus der Sicht der Tiere geschrieben werden, sagt er: ,Ich meine, dass diese Literatur als Literatur wertvoll ist und natürlich nicht, weil sie aus der Sicht der Minderheit geschrieben wurde. Im Prozess, in der sich ein Tier in ein Tier in ein Nichttier verwandelt oder ein Mensch in einen Nichtmenschen, geht das Gedächtnis verloren, und geht das Gedächtnis verloren, und dieser Verlust ist die Hauptfigur.“ Sein Vortrag war mir zu viel Salat als Beilage ohne Hauptgericht. Ich konnte ihm nicht folgen, aber er sollte es nicht merken. So senkte ich meinen Blick und tat so, als würde ich tiefsinnig über das Buch nachdenken. Nach einer Weile fiel mir endlich eine Frage ein: „Wie heißen Sie eigentlich?‘ […] Er fragte mich nicht, wie ich heiße.47

Der Mann betrachtet offensichtlich die literarische Welt zu abstrakt und baut seine Ausführungen auf falschen Prämissen auf. Der Romanleser hat bereits erfahren, dass sich der Mensch in der magischen Welt Tawadas sehr wohl in ein Tier verwandeln kann, ohne das Gedächtnis zu verlieren: er wird ‒ wie die Icherzählerin ‒ mit einem erweiterten Gedächtnis ausgestattet. Klammert man sich an Definitionen, und seien es nur Gattungsdefinitionen, fest, dann verliert man das Wesentliche aus den Augen und bekommt eine Mahlzeit ohne Hauptgericht. 46 47

Ebd., S. 63‒64. Ebd., S. 64‒65.

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Etüden im Schnee, die aus der Entrüstung über unreflektierte Vermenschlichung eines konkreten Tiers heraus entstanden, erzählen in der Ichform autobiographische Geschichten von schreibenden Eisbären. Die Gattungsbestimmungen werden dadurch vermieden, dass diese intradiegetischen AutorInnen weder Bären noch Menschen sind, sondern vielmehr schamanische Wesen, die getrennte Welten in sich vereinen und sie vor dem verzauberten Publikum wie ein schimmerndes Tuch ausbreiten. Diese Wesen sind Orte, wo Tiere und Menschen einander begegnen und Quellen für den gesellschaftskritischen und ironischen Text des Romans.

Bibliographie

Bays, Hansjörg: „Eine Katze im Meer suchen“. Yoko Tawadas Poetik des Wassers. In: Gutjahr, Ortrud: Yoko Tawada. Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke: Tübingen 2012, S. 237‒268. Gutjahr, Ortrud (Hrsg.): Yoko Tawada. Fremde Wasser. Vorlesungen und wissenschaftliche Beiträge. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke: Tübingen 2012. Tawada, Yoko: Spielzeug und Sprachmagie. Eine ethnologische Poetologie. Konkursbuchverlag Claudia Gehrke: Tübingen 2000. Tawada, Yoko: Fruwająca dusza. Wydawnictwo Karakter: Kraków 2013. Tawada, Yoko: Etüden im Schnee. Konkursbuch Verlag Cludia Gehrke: Tübingen 2014. Tawada, Yoko: Das Bad. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke: Tübingen 2015. Tawada, Yoko: akzentfrei. Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke: Tübingen 2016. Tawada, Yoko: Überseezungen, Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke: Tübingen 2017. Wiehl, Klaus: Die Poetologie der Biologie. Franz Kafkas „Forschungen eines Hundes“ und Jakob Uexekülls Umweltforschung. In: Harald Neumeyer, Wilko Steffens (Hrsg.): Kafkas Narrative Verfahren. Forschung der Deutschen Kafka-Gesellschaft. Bd.3. Würzburg 2015, S. 205‒225.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Joanna Bednarska-Kociołek Dr. phil. Joanna Bednarska-Kociołek studierte Germanistik in Łódź, Passau und Berlin. Seit 2011 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Łódź. Sie promovierte 2014. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Literatur, Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Erinnerungskultur. 2016 ist ihr Buch Danzig / Gdańsk als Erinnerungsort. Auf der Suche nach der Identität im Werk von Günter Grass, Stefan Chwin und Paweł Huelle erschienen. 2021 hat sie zusammen mit Saskia Fischer und Mareike Gronich das Buch Lagerliteratur. Schreibweisen – Zeugnisse – Didaktik veröffentlicht. Cora Dietl Cora Dietl ist seit 2006 Professorin für Deutsche Literaturgeschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Frühe Neuzeit an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie hat in Tübingen und Oxford Germanistische und Anglistische Mediävistik sowie Philosophie studiert und ist in Tübingen mit einer Arbeit zum späthöfischen Roman promoviert worden. Nach einem dreijährigen Aufenthalt als Feodor-Lynen-Stipendiatin und Gastprofessorin in Helsinki hat sie sich in Tübingen mit einer Arbeit zum neulateinischen Drama habilitiert, vertrat anschließend Stellen in Münster und Konstanz und war bis 2006 in einem Projekt zur internationalen Artusliteratur an der OGC in Utrecht beschäftigt. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des frühneuzeitlichen Dramas, der höfischen Literatur und der Hagiographie sowie der älteren deutschen Literatur im mittelosteuropäischen Raum. 2017 ist sie mit der Medaille „Universitatis Lodziensis Amico“ der Universität Lodz ausgezeichnet worden, seit 2019 ist sie korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Ausland.   Joanna Firaza Dr. phil. habil., Univ.-Professorin, Leiterin der Abteilung für deutschsprachige Literatur am Institut für Germanistik der Universität Łódź; mehrfache DAADStipendiatin. Promotion 2000 mit einer Arbeit zur Dramenästhetik Rainer Werner Fassbinders (Frankfurt a.M. 2002); Habilitation 2014 mit der Schrift „Ernst ist das Leben, heiter die Kunst.“ Das Humor-Konzept im Dramenwerk Frank Wedekinds (Frankfurt a.M. 2013); Mitherausgeberin von: Dialog der Künste: Literatur und Musik (Berlin: Peter Lang 2020). Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Ästhetik der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Literatur

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im kulturgeschichtlichen Kontext, Wechselbeziehungen zwischen Literatur und anderen Künsten, Drama und Theater des 20. und 21. Jahrhunderts, Essay und Prosa der Gegenwart. Ewa Grzesiuk Dr. phil. habil., Univ.-Professorin an der Katholischen Universität Johannes Pauls II. in Lublin; Habilitationsschrift: Das Faszinosum Mensch. Das Interesse am Menschen im Nexus von Philosophie, Ästhetik und Literatur in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland. (2013); Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts; der Konnex von Literatur und Philosophie; Literarische Anthropologie; Anfänge der Ästhetik im 18. Jahrhundert; Deutsch-polnischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert; Zuletzt erschienen: Die Sprache der Leidenschaften. Georg Friedrich Meiers »Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt« als ein emotional-ästhetischer Leitfaden für ‚schöne Geister‘. In: Roczniki Humanistyczne 69 (2021) Faszikel 5, S. 9–30. Gudrun Heidemann Dr. phil. habil. – Univ.-Professorin am Institut für Germanistik der Universität Łódź. Studium der Literaturwissenschaft, Slavistik und Philosophie in Bielefeld, Stipendiatin des Landes NRW, DAAD und der DFG in Bochum und Bielefeld; ebenda langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin, Dissertation über russische Exilprosa der 1920er Jahre (Aisthesis: Bielefeld: 2005), DAADEntsandte an den Universitäten Wrocław und Łódź. 2016 Habilitation an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg mit der Studie Sehsüchte. Fotografische Rekurse in Literatur und Film (Brill/Fink: Paderborn 2017); Redaktionsleiterin und Mitherausgeberin von Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Bildmedien, west- und osteuropäische Literaturen seit dem 19. Jahrhundert im Vergleich, Interkulturalität. Neuste Publikationen: Gudrun Heidemann (Hrsg.): Lethe-Effekte. Forensik des Vergessens in Literatur, Comic, Theater und Film. Brill/Fink: Paderborn 2021; Erschütterte Selbstverortungen an territorialen Rändern. Identitätskrisen in Dostoevskijs Der Doppelgänger (Dvojnik; 1846) und Stifters Der Condor (1840). In: Gätje, Hermann/ Singh, Sikander (Hrsg.): Identitätskonzepte in der Literatur. Narr Francke Attempto: Tübingen 2021, S. 179–193. Carola Hilmes Dr. phil. habil. – außerplanmäßige Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main u. Mitglied im Cornelia Goethe Centrum für Geschlechterforschung. Forschungsschwerpunkte: Schriftstellerinnen der Romantik,

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Gender Studies, Theorie und Geschichte der Autobiographie, Reiseliteratur und deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Jüngere Publikationen: Christa Wolf-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, hg. mit Ilse Nagelschmidt. Stuttgart: Metzler 2016; Schriftstellerinnen, KLG Extrakt, 3 Bde. (Hg.). München: text + kritik 2018, 2019 u. 2020; Anna Seghers-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, hg. mit Ilse Nagelschmidt. Stuttgart: Metzler 2020. Marek Jakubów Univ.-Prof. Dr. habil., Mitarbeiter des Instituts für Literaturwissenschaft an der Katholischen Universität Lublin Johannes Paul II.; Forschungsschwerpunkte: Ganzheitskonzepte, Religion und Literatur, Katholizismus und deutschsprachige Literatur, deutsch-polnischer Literaturtransfer; Buch- und Aufsatzveröffentlichungen zur deutschsprachigen Literatur des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Małgorzata Kubisiak Dr. phil. habil., Univ.-Professorin, Direktorin des Instituts für Germanistik der Universität Łódź. 1983–1988 Studium der Germanistik an der Universität Łódź. 1995 Promotion mit einer Arbeit über die Poetik der „Volksmärchen der Deutschen“ von Johann Karl August Musäus. DAAD-Stipendiatin: 1990–1991, 1994–1996; Promotionsstipendium an der Justus-Liebig-Universität Gießen, 1999–2000: Habilitationsstipendium der Mainzer Akademie der Wissenschaften. Habilitiert 2014 mit der Arbeit Die Idyllen von Johann Heinrich Voß. Idylle als poetologisches Modell politischer Lyrik (2013). Mitglied der JohannHeinrich-Voß-Gesellschaft. Schwerpunkte der Forschung: deutsche Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts (Aufklärung und Sturm und Drang, Poetik der Empfindsamkeit), Poetik der Idylle, Poetik des Volks- und Kunstmärchens. Veröffentlichungen zu Salomon Geßner, Johann Martin Miller, Johann Heinrich Voß und Christoph Martin Wieland. Kamilla Najdek Kamilla Najdek, geb. 20.10.1962 in Krakau. Ab 1993 angestellt im Institut für Germanistik an der Warschauer Universität. Doktortitel 2001, aufgrund der Schrift Zur Visualisierung der Geschichte in literarischen biographischen Experimenten am Beispiel von „Gottfried Keller“ Adolf Muschgs. 2010 erschien ihre Habilitationsschrift u.d.T. Zitat als Figur des Denkens. Aus der philosophischen Rhetorik Hamanns und Benjamins. Ihr wissenschaftliches Interesse gilt der Rhetorik, Ästhetik und Literaturtheorie. Zu diesen Themen sind eine Reihe kleinerer Schriften erschienen.

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Sigurd Paul Scheichl Prof. Dr. Geb. 1942, war von 1992 bis 2010 Professor für Österreichische Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck. Schwerpunkt seiner Forschung sind österreichische Autoren des 19. bis 21. Jahrhunderts, besonders Karl Kraus und Nestroy, ferner Grillparzer, Franzos, Polgar, Perutz, Roth, Canetti, Zoderer, Kaser, Gstrein u.a.; er hat auch Aufsätze über die Gottschedin, Schiller, Hebel, Mörike, Dürrenmatt, ferner über Zeitschriften, jüdische Themen in der deutschen Literatur, Rezeption und Kanon verfasst und stilistische Analysen literarischer Texte vorgelegt. 2022 erscheint: „Literatur in Österreich und Südtirol. Ein Panorama in 30 Aufsätzen“. Karolina Sidowska PhD, Absolventin der Polonistik und Germanistik an der Universität Lodz (Erasmus und DAAD Stipendien an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen); seit 2011 Dozentin im Institut der Germanistik an der Universität Lodz. Wichtigste Publikationen: Reprezentacje emocji w liryce ekspresjonistycznej. Analiza kognitywistyczna (2012); Mitherausgeberin von: Polnisch-deutsche Duette. Interkulturelle Begegnungen in Literatur, Film, Journalismus 1990–2012 (2013), Literatur, Utopie und Lebenskunst (2014), Vom Gipfel der Alpen… Schweizer Drama und Theater im 20. und 21. Jahrhundert (2019), Rom als deutscher Erinnerungsort (2020). Übersetzerin aus dem Deutschen (Diane Broeckhoven Jeden dzień z panem Julesem, 2008). Forschungsschwerpunkte: Kognitivismus in der Literatur, Theorie der Affekte, literarische Repräsentationen des Körpers, deutsche und polnische Literatur der Jahrhundertwende und der Gegenwart.  Hargen Thomsen Dr. phil. Freier Publizist; Studium in Göttingen und Marburg; Dissertation 1990: Grenzen des Individuums. die Ich-Problematik im Werk Friedrich Hebbels (München 1992). Seitdem mit dem Werk Friedrich Hebbels auf vielfältige Weise beschäftigt. Neben vielen Aufsätzen, Vorträgen und Rezensionen um Hebbel (und benachbarte Gebiete) sei besonders hervorgehoben: Mitherausgeber von Friedrich Hebbel. Briefwechsel 1829–1863. Historisch-kritische Ausgabe in fünf Bänden (München 1999); Allein-Hrsg. von Bd. 4: Briefe 1860–1863. Seit 2003 Sekretär der Hebbel-Gesellschaft e. V. Seit 2004 Mitherausgeber des Hebbel-Jahrbuchs. Mitarbeit an: Friedrich Hebbel. Tagebücher. Neue historischkritische Ausgabe. 2 Bde. (De Gruyter 2017). Außerdem: Herausgeber von Amalia Schoppe: ,… das wunderbarste Wesen, so ich je sah.ʻ Eine Schriftstellerin des Biedermeier (1791–1858) in Briefen und Schriften (Aisthesis 2008); Klaus Groths Quickborn. Eine unglaubliche Buch-Karriere (Heide 2019).

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Krzysztof Tkaczyk Dr. phil. habil., Leiter der Abteilung für Literatur am Institut für Germanistik der Universität Warschau. Der Schwerpunkt seiner Forschung liegt in der deutschen Ästhetik und Poetik des 18. und der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts sowie dem österreichischen Theater der Gegenwart. Er promovierte mit einer Studie zu Carl Einstein und habilitierte sich mit einer Schrift über Karl Philipp Moritz und die deutsche Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Seit 2003 ist er Mitherausgeber (mit Kamilla Najdek) der Buchreihe Teoria literatury żywa (Lebendige Literaturtheorie).  Elżbieta Tomasi-Kapral Dr. phil., Germanistin und Literaturwissenschaftlerin. Seit 2003 ist sie Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Łódź. Sie promovierte 2010 mit einer Monographie zu Jurek Becker. Die facettenreiche DDR-Literatur gehört im Moment zu ihren wichtigsten Arbeitsschwerpunkten. Darüber hinaus beschäftigt sie sich mit Themen wie: Vergangenheitsbewältigung in der deutschen Literatur nach 1945; polnische und postostdeutsche Wendeliteratur; engagierte Literatur im internationalen Vergleich; polnische und deutsche Literatur des Mittelalters. Publikationen: Unerwünschte Musik als Motiv der unerwünschten Literatur. Irmtraud Morgners „Rumba auf einen Herbst“. In: Joanna Firaza, Małgorzata Kubisiak (Hgg.): Dialog der Künste: Literatur und Musik. Berlin: Lang 2020, S. 147–158; (Hgg. mit Joanna Jabłkowska u. Gudrun Heidemann): #Engagement. Literarische Potentiale nach den Wenden Band I, Berlin: Lang 2019; (Hgg. mit Joanna Jabłkowska u. Gudrun Heidemann): #Engagement. Literarische Potentiale nach den Wenden Band II, Berlin: Lang 2020.