Angst und Identität im Markusevangelium: Ein textpsychologischer und sozialgeschichtlicher Beitrag 9783666539282, 3525539282, 3727808985, 9783525539286


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German Pages [288] Year 1993

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Angst und Identität im Markusevangelium: Ein textpsychologischer und sozialgeschichtlicher Beitrag
 9783666539282, 3525539282, 3727808985, 9783525539286

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ΝΤΟΑ 26 Thea Vogt Angst und Identität im Markusevangelium

NOVUM TESTAMENTUM ET ORBIS ANTIQUUS (ΝΤΟΑ) Im Auftrag des Biblischen Instituts der Universität Freiburg Schweiz herausgegeben von Max Küchler in Zusammenarbeit mit Gerd Theissen

Zur

Autorin:

Thea Vogt, geb. 1963, studierte in Marburg, Heidelberg und Neuendettelsau Ev. Theologie, 1. kirchliches Examen 1989, Promotion 1992 im Fach Neues Testament, seit 1992 als Vikarin im Gemeindedienst in Nürnberg. Stipendium aus dem Frauenförderungsprogramm des Landes Baden Württemberg. Verheiratet mit Pfarrer Harald Vogt, zwei Söhne im Alter von sechs und drei Jahren.

NOVUM TESTAMENTUM ET ORBIS ANTIQUUS

Thea Vogt

Angst und Identität im Markusevangelium Ein textpsychologischer und sozialgeschichtlicher Beitrag

UNIVERSITÄTSVERLAG FREIBURG SCHWEIZ VANDENHOECK & RUPRECHT GÖTTINGEN 1993

26

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Vogt, T h e a : Angst und Identität im Markusevangelium. Ein textpsychologischer und sozialgeschichtlicher Beitrag/Thea Vogt - Freiburg, Schweiz: Univ.-Verl.; Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1993 (Novum testamentum et orbis antiquus; 26) ISBN 3-525-53928-2 (Vandenhoeck u. Ruprechtl ISBN 3-7278-0898-5 (Univ.-Verl.) NE: GT

Veröffentlicht mit Unterstützung des Hochschulrates der Universität Freiburg Schweiz und der Bayrischen Landeskirche Die Druckvorlagen wurden von der Verfasserin als reprofertige Dokumente zur Verfügung gestellt © 1993 by Universitätsverlag Freiburg Schweiz Paulusdruckerei Freiburg Schweiz ISBN 3-7278-0898-5 (Universitätsverlag) ISBN 3-525-53928-2 (Vandenhoeck und Ruprecht)

MEINEM MANN HARALD GEWIDMET

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Einleitung

1

1. TEIL: EINFÜHRUNG IN METHODIK, PSYCHOLOGISCHE UND THEOLOGISCHE THEORIEN

I. Methodische Überlegungen zur psychologischen Exegese

5

1. Die Möglichkeit psychologischer Textauslegung 1.1. Textimmanente Erlebens- und Verhaltensmuster 1.2. Textexterne Situation

5 7 8

2. Die Notwendigkeit psychologischer Textauslegung

9

3. Die Geschichtlichkeit psychologischer Textauslegung 3.1. Die Geschichtlichkeit der Texte 3.2. Die Geschichtlichkeit der Theorien 3.3. Die Geschichtlichkeit der Psyche Exkurs: Abgrenzung zur Methode E.Drewermanns

11 11 11 12 14

II. Theoretische Überlegungen zu >Angst< und >Identität
Angst< und >Identität< 3.1. Ein Ansatz aus der Kognitionspsychologie Die kognitive Emotionstheorie von R.S.Lazarus 3.1.1. Cognitive Appraisal 3.1.2. Beliefs 3.1.3. Coping 3.2. Zwei Ansätze aus der Sozialpsychologie 3.2.1. Das Stigmakonzept von E. Goffman 3.2.2. Das interaktionistische Identitätskonzept von L. Krappmann 3.3. Ein Ansatz aus der Tiefenpsychologie Die Angsttheorie von F. Riemann 3.4. Das Identitätskonzept von E. Erikson

III. Exegetische Überlegungen zum Markusevangelium in Auswahl 1. 2. 3. 4.

E.Stegemann, Das Markusevangelium als Ruf in die Nachfolge D.Lührmann, Biographie des Gerechten als Evangelium Interpetationen des Evangeliums als kohärenter Text E.Drewermann, Das Markusevangelium - Bilder von Erlösung

31 31 33 36 39 39 40 41 42 44 44 49 52 55

56 56 57 58 60

2.TEIL: INTERPRETATION DES ANGST-UND IDENTITÄTSERLEBENS IN EXEMPLARISCHEN TEXTEN DES MARKUSEVANGELIUMS

I. Begriffe der Angst im Gesamttext 1. Sichtung 2. Strukturierung 3. Zusammenfassung

62 62 62 66

IX II. Ausgewählte Textanalysen

70

1. Markus 4,35-41: Die Sturmstillung und ihre Auslegung mit Hilfe der kognitiven Emotionstheorie. 70 1.1. Historisch-kritische Exegese 70 1.1.1. Kontextanalyse 70 1.1.2. Kohärenzanalyse 72 1.1.3. Beobachtungen zur Form und Redaktion 73 1.1.4. Tradition 79 1.1.5. Die mkn Intention der Verknüpfung von 4,1-34 und 4,35-41 83 Exkurs zur zeitgeschichtlichen Situation 85 1.2. Psychologische Analyse 87 1.2.1. Vorbemerkungen 87 Exkurs zum Zusammenhang von Glaube und Wunder bei Markus 92 1.2.2. Die im Text dargestellte Angst 92 1.2.3. Bewertungsvorgänge, die Angst hervorrufen 95 1.2.4. Kognitive Neubewertungen, die zur Angstbefähigung fuhren 97 1.2.5. Zusammenfassung 100

2. Markus 5,25-34: Die Erzählung von der blutflüssigen Frau und ihre Auslegung mit Hilfe sozialpsychologischer Identitätstheorien 2.1. Historisch-kritische Exegese 2.1.1. Kontextanalyse 2.1.2. Kohärenzanalyse 2.1.3. Folgerungen für Form und Redaktion 2.1.4. Traditiongeschichte Exkurs zur Symbolordnung von Rein-Unrein im MkEv 2.1.5. Die Stellung der Frauen im MkEv 2.2. Psychologische Analyse 2.2.1. Fragestellung und Methodik 2.2.2. Modelle der Auslegung von Mk 5,25-34 2.2.3. Identitätsbedrohung und -bildung innerhalb des Textgeschehens Exkurs zu 'Friede' 2.2.4. IdentitätsfÖrdernde Wirkung des Textes 2.2.5. Zusammenfassung

3. Markus 10,17-31: Die Erzählung vom reichen Jüngling und der Jüngerbelehrung zu Reichtum und ihre Auslegung mit Hilfe tiefenpsychologischer Angst- und Identitätstheorien 3.1. Historisch-kritische Exegese

101 101 101 102 105 111 117 120 123 123 124 127 132 136 141

142 142

χ 3.1.1. Kontextanalyse 3.1.2. Kohärenzanalyse 3.1.3. Interpretationen zu V17-31 Exkurs zum Almosengeben und zur Wertung des Reichtums in der Tradition 3.1.4. Tradition und Redaktion Exkurs zur Basileia Gottes 3.1.5. Zusammenfassung 3.2. Psychologische Analyse 3.2.1. Vorbemerkung 3.2.2. Psychosoziale Modalitäten im Text 3.2.3. Die Ängste zwanghafter Menschen 3.2.4. V28-31 als Befähigungskonzept für den Umgang mit Angst vor Wandel und Loslassen

4. Markus 14,32-42: Die Erzählung von Jesus in Getsemane und ihre Auslegung mit Hilfe verschiedener psychologischer Theorien 4.1. Historisch-kritische Exegese 4.1.1. Kontextanalyse 4.1.2. Kohärenzanalyse 4.1.3. Literarkritische Beobachtungen 4.1.4. Traditionsgeschichtliche Hintergründe 4.1.5. Redaktionsgeschichte und Zusammenfassung 4.2. Psychologische Analyse 4.2.1. Vorbemerkungen 4.2.2. Analyse mit Hilfe der kognitiven Emotionstheorie 4.2.3. Sozialpsychologische Analyse 4.2.4. Tiefenpsychologische Analyse 4.2.5. Zusammenfassung

142 143 150 154 161 165 172 173 174 174 179 181

184 184 184 185 192 195 205 208 208 212 215 219 222

3.TEIL: ANGSTBEFÄHIGUNG UND IDENTITÄTSBILDUNG IM GESAMTTEXT. EINE INTERPRETATION DES MARKUSEVANGELIUMS

I. Das Evangelium als Gesamttext

224

II. Das Rollenangebot im Evangelium

226

1. Die Rollen der Neben- und Hintergrundsfiguren 1.1. Die Jünger 1.2. Frauen und einzelne Gestalten

226 226 226

XI 1.3. Die Menge 2. Christologie: Die Rolle der Hauptfigur 2.1. Identifikation mit Jesu Hoheit und Niedrigkeit 2.2. Das Messiasgeheimnis - Balance zwischen Geheimnis und Bekenntnis Exkurs zur Parabeltheorie

III. Die Handiungssequenz im Markusevangelium 1. Die Zeitebenen 2. Der Lernprozeß der Angstbefähigung und der Nachfolge

227 228 228 229 234

236 236 238

Zusammenfassung

241

I. Die Arbeit als Beitrag zur Methodenkritik und zur theologischen Angstforschung

241

II. Die Arbeit als Beitrag zur Markusforschung

243

Literaturverzeichnis

251

VORWORT

Die Gedanken dieser Arbeit stehen im großen Zusammenhang einer jüdischchristlichen Identität und Ethik. Dabei bildet für mich die historische Vergewisserung jüdisch-christlicher Verhaltens- und Erlebensformen die Grundlage für ein gegenwärtiges Bemühen um die Frage wie sich jüdisch-christliche Identität heute darstellen und wie sie mitteilbar sein kann. Sie wurde 1992 von der Universität Heidelberg als Dissertation mit dem Titel 'Angstbefähigung und Identitätsbildung im Markusevangelium' angenommen. Die Rahmenbedingungen, die das Arbeiten mit zwei kleinen Kindern, dem plötzlichen Tod meiner Mutter und der Entfernung zu einer Universitätsbibliothek ermöglichten, gründen vor allem auf zwei Pfeilern: Meinem Mann, Harald gilt mein innigster Dank, da er die Arbeit von den ersten Gedanken an unterstützt und begleitet hat. Sein Engagement für unsere Familie, vor allem für die Kinder und seine Ermutigungen fur mein Arbeitsvorhaben haben die wesentlichen Rahmenbedingungen für ein wissenschaftliches Arbeiten ermöglicht. Deshalb widme ich ihm diese Arbeit. Meinem Doktorvater, Prof. G.Theißen danke ich ganz besonders, da er mich über die Entfernung hinweg begleitet hat mit fachlicher Kompetenz und menschlicher Wärme. Seine Offenheit und sein Interesse für methodische Vorgehensweisen, die die Wahrnehmung und Erschließung von Texten erweitern, wirkten immer wieder motivierend auf die Arbeit und den Arbeitsprozeß ein. Darüberhinaus danke ich dem Korreferenten, Prof. D.Ritschl, der mich zu einer Promotion ermunterte und damit wesentlich beigetragen hat, daß meine Ideen und Gedanken jetzt hier niedergeschrieben sind. Er hat durch sein Denken in großen Zusammenhängen und der Liebe zu interdisziplinärem Arbeiten mein eigenes Denken sehr bereichert. Danken möchte ich auch Dipl.Psychologin Helga Krahn-Heubeck. Der Austausch mit ihr als Vertreterin der psychologischen Wissenschaft hat die Arbeit sehr gefördert. Herrn Prof. M.Küchler bin ich sehr dankbar, daß er die Arbeit in der Reihe NTOA aufgenommen hat und dadurch psychologischer Exegese einen Platz innerhalb einer historisch ausgerichteten Reihe ermöglichte. Dies nehme ich als große Anerkennung und Chance wahr. Der Universität Heidelberg sei herzlichst gedankt für die Unterstützung mit einem Stipendium aus dem Frauenförderungsprogramm, das mir den finanziellen Rahmen ermöglichte für die Betreuung meiner Söhne.

XIV Schließlich danke ich der bayrischen Landeskirche für den großzügigen Druckkostenzuschuß, der die Veröffentlichung der Arbeit gewährleistete. Ralf-J. Vogt sei Dank gesagt für die Erstellung der Druckvorlage und der vielfältigen Beratung hierzu.

Schwabach, 1993

Thea Vogt

EINLEITUNG

Angst, als ein zentrales und alltägliches Phänomen, bietet sich im besonderen Maße für die exemplarische Erschließung psychologischer Dimensionen biblischer Texte an. Der Begriff der 'Angst' wird innerhalb von Kirche und Theologie oft undifferenziert und damit einhergehend inflationär verwandt: Häufig begegnet die Vorstellung, Glaube sei ein probates Mittel, Angst zu vermeiden. Aber es gibt keine Möglichkeit, Angst ganz oder auch nur weitgehend aus der Lebenswirklichkeit zu verbannen. Eine differenzierte Untersuchung innerhalb theologischer Forschung ist wünschenswert. Diese Arbeit soll einen Baustein dazu bilden, indem sie konkretes Angsterleben in seiner historischen Ausformung in Texten des Urchristentums erschließt und nach der Wirkung der Texte auf Angsterleben und Verhalten der Rezipientlnnen fragt. Dazu wird die Methodik einer psychologischen Exegese neu konzipiert. Zwischen den möglichen extremen Forderungen, Angst muß erlitten und Angst muß besiegt werden, soll einer breiteren Palette des Umgangs mit Angst in den Texten nachgespürt werden. Der jüdisch-christlichen Religion kann nicht nur die Funktion der Angstreduzierung zugeschrieben werden, vielmehr sind die Elemente in ihr, die mit Angst konfrontieren und zur Angst befähigen wollen, zu berücksichtigen. Für die Fähigkeit, mit Angst umgehen zu können, ist das eigene Selbstkonzept von entscheidender Bedeutung. Angst bedroht Identität auf physischer, psychischer und psychosozialer Ebene und Identitätsbildung wiederum befähigt zur Angstkonfrontation. Der Zusammenhang von Angstbefähigung und Identitätsbildung soll bei der Untersuchung der Texte stets im Blick sein. Die Beschränkung auf ein Evangelium legt sich nahe, da sich ein kohärenter Text methodisch leichter handhaben läßt für eine Auslegungskonzeption, die noch mit viel Skepsis aufgenommen wird. Zudem bewahrt sie vor vorschnellen Generalisierungen, die für alle biblischen Texte eine 'irgendwie angstreduzierende' Intention proklamieren. Das MkEv kann nicht als ein besonderes Szenario der Angst gedeutet werden, auch wenn häufig von ängstlichem Verhalten der Textpersonen erzählt wird und zum Abschluß noch einmal Angst der Nachfolgenden konstatiert wird ('denn sie fürchteten sich, 16,8'). Die Auswahl dieses Evangeliums für die Untersuchung liegt vor allem in der weitverbreiteten Interpretation des MkEv als 'Einleitung zur Passion'. Diese Interpretation hat verschiedene Variationen erfahren mit gleichbleibendem Tenor: Im Evangelium seien die Aussagen zu Leid, Leidensnachfolge und Kreuz dominant und bestimmten alle anderen Darstellungen (z.B. Wunder). Diese Wertung legt es nahe, das MkEv auf Angsterleben hin zu untersuchen, denn sie impliziert, daß das Sich-Einlassen auf dieses Evangelium angstbesetzte Folgen haben kann. Zu fragen bleibt, in welchem Verhältnis das Thema des Leidens und der Leidensnachfolge im MkEv zu anderen Themen steht: Wie lädt Markus zur Leidensnachfolge ein? Welche Motivationen und Orientierungshilfen bietet er an?

2 Diese Fragestellungen beziehen sich auf die Textwirkung, die in bisheriger historisch-kritischer Exegese zu wenig berücksichtigt wurde. Vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zur Forschung des Markusevangeliums, da sie den Gesamttext und theologische Konzepte des Evangelisten auf ihre verhaltens-und erlebensbestimmende Funktion untersucht. Die Arbeit ist so aufgebaut, daß sie in drei Schritten theoretische Einfuhrungen bietet: In einem ersten Schritt soll die methodische Konzeption vorgestellt werden, die in ihrer Art neu ist. Der Frage nach ihrer Möglichkeit und Notwendigkeit soll nachgegangen werden: Inwieweit ermöglichen und begründen die Texte selbst die Methode psychologischer Exegese? Wie kann der Gefahr der Projektion moderner Ängste und Selbstkonzepte in die Texte hinein begegnet werden? Vorliegende methodische Konzeption grenzt sich zum einen von exegetischen Durchführungen ab, die ohne psychologische Kategorien arbeiten, zum anderen von E.Drewermann, der in bewußter Abhebung von historisch-kritischer Exegese tiefenpsychologische Auslegung bietet. Sie versucht dagegen eine Kombination historisch-kritischer und psychologischer Fragestellungen und Kategorien, wobei historische Erkenntnisse zu psychologischen Aussagen hinfuhren. Im Gegenüber zu Drewermann wird auch nicht nur eine psychologische Theorie für die Textauslegung aufgenommen, sondern verschiedene psychologische Ansätze. Diese Pluralität wird innerhalb der Arbeit fur die Methode psychologischer Exegese als grundlegend angesehen. Im weiteren soll mit den Begriffen 'Angst' und 'Identität' und psychologischen Theorien dazu vertraut gemacht werden. Drei Ansätze aus psychologischer Forschung werden vorgestellt: die Kognitionstheorie von R.Lazarus, die sozialpsychologischen Identitätstheorien von E.Goffman und L.Krappmann und die tiefenpsychologischen Ansätze von F.Riemann und E.Erikson. Vorverständnisse und Schwerpunkte können hierdurch geklärt werden. Die so gewonnene Differenzierung der Begrifflichkeit wirkt einem Verständnis von Angst und Identität 'an sich' entgegen. Diese vorgestellten Theorien sind beim Lesen der einzelnen Textauslegungen jeweils zu erinnern. Innerhalb theologischer Wissenschaft und Praxis finden sich Beiträge zum Thema zumeist in systematisch- und praktisch-theologischen Arbeiten. Die 'bekanntesten' Angstheorien: S.Kierkegaard, O.Pfister und P.Tillich werden vorgestellt. Mögliche Anknüpfungspunkte in biblisch-theologischen Arbeiten werden hingegen weitgehend vermißt.

3 In einem dritten Schritt wird in die Markusforschung eingeführt. Dabei geht es nicht darum, eine umfassende Forschungsgeschichte, sondern Konzepte, die für diese Arbeit relevant sind, darzulegen. Die Ansätze von D.Lührmann, E.Stegemann, E.Drewermann sowie verschiedener Exegeten, die das Evangelium als kohärenten Text verstehen, werden skizziert. Da das methodische Vorgehen großer Sorgfalt bedarf, werden wenige Texte exemplarisch behandelt. Dies soll die Plausibilität der methodisch neuen Konzeptionen gewährleisten. Gleichwohl werden die einzelnen Texte nicht als isolierte Teile verstanden, sondern immer in ihrem Zusammenhang mit dem gesamten Evangelium. Die Auswahl der Texte, Mk 4,35-41 (Stillung des Seesturmes), Mk 5,25-34 (Heilung der blutflüssigen Frau), Mk 10,17-31 (Der reiche junge Mann und die Jüngerbelehrung zu Reichtum und Besitzaufgabe), Mk 14,32-42 (Jesus in Getsemane) will verschiedene Aspekte und Erlebensweisen von Angst beleuchten. Durch diese Auswahl können verschiedene Rollen und Angstzusammenhänge in den Blick kommen: Jesus erscheint in seiner Hoheit (Mk 4,35ff) und in seiner Niedrigkeit (Mk 14,32ff), beides ist mit Angsterleben verbunden. Eine Textperson mit einem sozial niedrigem Status (eine verarmte Frau) wird zum Vorbild für den Umgang mit Angst und der Bildung von Identität (Mk 5,25ff), eine Textperson mit einem hohem sozialem Status (ein reicher Mann) wird zum Negativbeispiel für die Gemeinde (Mk 10,17-31). Die Kombination eines bestimmten Textes mit einer bestimmten psychologischen Theorie ist bewußt gewählt, jedoch nicht zwingend notwendig. Die Bedingungen des Textes bestimmen die Auswahl psychologischer Kategorien. Die Dynamik der Texte (kognitive, soziale, physische und psychosoziale Veränderungen) führte zu geeigneten Theorien. Mk 4,35ff verweist mit seiner abschließenden Frage "Wer ist dieser?" und der neuen Kenntnis von Jesus auf kognitive Veränderungen. Die Heilung der blutflüssigen Frau beinhaltet physische und psychosoziale Veränderungsprozesse, die für die Textperson der Frau und deren Wirkung auf Leserinnen Interesse wecken. Der Text Mk 10,17-31 demonstriert die Macht des Reichtums, der identitätsbestimmend wirken kann. Die Frage nach der psychologischen Bedeutung von Reichtum und Besitz für den einzelnen und die Gruppe aus tiefenpsychologischer Sicht legt sich nahe. Vorliegende Kombinationen sind von heuristischem Wert und variabel. Untersucht werden soll in diesem Zusammenhang, ob nicht verschiedene psychologische Theorien auf einen Text angewandt werden können, um damit der Vielfalt der psychischen Textwirklichkeit zu entsprechen. Methodisch wird dies am Text Mk 14,3242 erprobt. In einer Betrachtung des Gesamtevangeliums soll in Entsprechung zur methodischen Einführung (Untersuchung der Rollen und der Handlunessequenzen) der

4

angstbefähigenden Funktion des Gesamttextes nachgegangen werden: Wie wirken theologische Konzepte (Christologie, Jüngerunverständnis, Messiasgeheimnis, Leidensnachfolge) des Mk-Evangelisten und der literarische Aufbau seines Evangeliums auf Angst-und Identitätserleben der Leserinnen ein? Ermöglicht diese Fragestellung, neue Aspekte an diesen häufig interpretierten Themen wahrzunehmen und sie dadurch neu zu deuten? In einem abschließenden Resümee werden Ergebnisse der einleitenden Aufgabenstellungen und Zielsetzungen formuliert.

5 1. T E I L : E I N F Ü H R U N G I N M E T H O D I K ,

PSYCHOLOGISCHE

U N D THEOLOGISCHE THEORIEN

I. M e t h o d i s c h e Ü b e r l e g u n g e n z u r p s y c h o l o g i s c h e n E x e g e s e V o r l i e g e n d e A r b e i t hat sich z u m Ziel gesetzt, biblische Texte mit H i l f e p s y c h o l o gischer K a t e g o r i e n zu exegetisieren u n d dabei das A n g s t e r l e b e n u n d den U m g a n g mit Ä n g s t e n einer G r u p p e des F r ü h c h r i s t e n t u m s zu erhellen. Dieser Versuch p s y c h o l o g i s c h e r E x e g e s e k a n n sich z w a r in eine R e i h e v o n A n s ä t z e n p s y c h o l o g i scher T e x t a u s l e g u n g e i n o r d n e n , m u ß aber seine eigene m e t h o d i s c h e K o n z e p t i o n erstellen. 1 D i e M ö g l i c h k e i t u n d N o t w e n d i g k e i t p s y c h o l o g i s c h e r T e x t a u s l e g u n g läßt sich v o n den Texten selbst s o w i e v o n der v o r f i n d l i c h e n E x e g e s e u n d ihren Implikationen her b e g r ü n d e n . In v o r l i e g e n d e r Arbeit geht es u m die U n t e r s u c h u n g narrativer T e x t e im G e g e n s a t z zu abstrakten.

1. D i e M ö g l i c h k e i t p s y c h o l o g i s c h e r T e x t a u s l e g u n g

E r z ä h l e n d e T e x t e k ö n n e n als S a m m l u n g v o n sprachlichen Zeichen (pictographischen, i d e o g r a p h i s c h e n , syllabischen u n d alphabetischen) 2 verstanden w e r d e n , die

1 Einen umfassenden Überblick über die Geschichte der psychologischen Auslegung bietet die im Entstehen begriffene Promotionsarbeit zu psychologischer Exegese von M.Leiner. Vgl. die Neuerscheinung von A.Bucher, Bibelpsychologie. Er stellt hier verschiedene psychologische Zugänge (tiefenpsychologische, sozialpsychologische, entwicklungspsychologische, psychopathologische) zu biblischen Texten vor. Sein methodisches Konzept, die Bibelpsychologie, will vor allem die Rezeption biblischer Texte psychologisieren. Bucher geht der Frage nach wie Texte heute von Kindern und Erwachsenen aufgenommenen werden. Somit ist seine Veröffentlichung besonders für die praktische Theologie, für Homiletik und Religionspädagogik bedeutsam. Bucher versucht mit seinem Modell der Bibelpsychologie einen Weg zu finden, der zwischen Theologie und Psychologie vermittelt, aber nicht auf einer abstrakten Ebene, sondern bezogen auf die Personen, die biblische Texte lesen, hören und sich mit ihnen auseinandersetzen, in der Gemeinde, Schule ebenso wie an der Universität.

2

Vgl. Clevenot, Bibel, 79, und Ricoeur, Erzählung, 234: "Daß der Text die gesuchte sprachliche Einheit ist und daß er der geeignete Vermittler zwischen der erlebten Zeitlichkeit und dem narrativen Akt ist, kann man auf folgende Weise kurz skizzieren. In der Eigenschaft als sprachliche Einheit ist ein Text einerseits eine Erweiterung der ersten wirkli-

6 das Erleben, Erfahren und Verhalten von Menschen zum Ausdruck bringen. Bei der Frage danach, welche Menschen, ihr Erleben und Verhalten in den Texten artikulieren, kann man mit RAGUSE zwischen drei verschiedenen Autoren und Leserinnen unterscheiden: "Wir haben also in genauer Symmetrie den Autor als historische Person und den individuellen Leser, den impliziten Autor und den impliziten Leser und den Erzähler und die im Text dem Erzähler komplementäre Position, die man als "Hörer" bezeichnen könnte". 3 Ausgehend von dieser Differenzierung stellt sich die Frage nach dem Gegenstand der psychologischen Untersuchung. Raguse erhebt den Text als Text und dessen Rezeption zum Gegenstand der Interpretation. Er lehnt es ab, den historischen Autor oder Textpersonen, Textereignisse und Textsymbole außerhalb ihrer Funktionen im Text psychologisch zu interpretieren. 4 Raguse möchte damit einer Psychologisierung von Personen oder Ereignissen wehren, die nicht zu einem Verstehen des Textes führt. Vorliegende Arbeit knüpft daran an, wenn sie mit Hilfe psychologischer Kategorien der Textintention und - Wirkung bzgl. des Angst-und Identitätserlebens nachspüren will. Sie untersucht weder die psychologische Struktur des historischen Evangelisten, noch die der im MkEv auftretenden Personen. Sie untersucht vielmehr die textimmanente 'implizite Psychologie' und deren Bedeutung für die urchristlichen Leser und Leserinnen. Anders als Raguse will diese Arbeit jedoch nicht den historischen Kontext als Gegenstand einer psychologischen Exegese ausklammern. Über die textimmanente Psychologie fragt sie nach Entstehungs-und Wirkzusammenhängen der biblischen Texte in der Zeit des Urchristentums. Im Unterschied zu anderen Formen psychologischer Exegese wird dabei kein zeitloses Kontinuum von Entstehungs-und Wirkbedingungen angenommen werden. Vielmehr gilt die psychische Wirklichkeit, die sich in den Texten ausdrückt und die von den Texten bestimmt wird als eine historisch geprägte Wirklichkeit. Deshalb wird der Text als Text, seine literarische Struktur, seine ökonomischen, sozialen und kulturellen Determinanten mit Methoden der historisch-kritischen Exegese unter Einschluß sozialgeschichtlicher Fragestellungen analysiert. Das Augenmerk wird auf der redaktionsgeschichtlichen Ebene liegen. Dies dient einer Konkretion der geschichtlichen Umstände und des kulturellen Mi-

chen Bedeutungseinheit, die der Ausdruck ist. Andererseits liefert er ein >transphrastisches< - den Ausdruck übersteigendes - Ordnungsprinzip, das vom Akt des Erzählens in allen seinen Formen ausgenutzt wird." 3

Raguse, Interpretation, 109. Mit implizitem Leser beschreibt Raguse den "Inbegriff der Normen eines speziellen Textes" (109), mit Erzähler, die Gestalt, "die den Leser durch das Geschehen fuhrt" (109). 4

Vgl. Raguse, Interpretation,

107f.

7 lieus auf dem Hintergrund einer begrenzten historischen und sozialen Wirklichkeit.5 Die 'textimmanente Psychologie' kann erhellt werden, indem die Texte als Rollenangebote und Handlungssequenzen untersucht werden. Beide Aspekte lassen sich begrifflich unterscheiden, nicht aber trennen.

1.1. Textimmanente Erlebens-und Verhaltensmuster Rollenangebote Texte enthalten Rollenangebote, mit denen die Leserinnen Beziehungen (sei es durch Übernahme oder Abwehr) aufnehmen können, und die Einfluß auf ihr eigenes Verhalten und Erleben gewinnen können. Diese Gedanken knüpfen an H.SUNDEN an, der in seinen religionspsychologischen Ausführungen das Rollenangebot der Religionen expliziert. 6 H.Sunden erhellt mit Hilfe wahrnehmungspsychologischer Erkenntnisse das religiöse Erleben, wobei er verdeutlicht, daß die Übernahme von Rollen (Gott als Metarolle und biblische Figuren als Detailrollen) die Wahrnehmung strukturiert. So können alltägliche Situationen durch diese Rollenübernahme (Identifikation), die einem Perspektivenwechsel gleichkommt, zu religiösen Erfahrungen werden. 7 Für die hier untersuchten einzelnen Texte sowie für den Gesamttext des Markusevangeliums lassen sich folgende Rollen festhalten: Jesus als Hauptfigur, die Jünger und einzelne hervorgehobene Personen (Kranke, Suchende, Fragende) als Nebenfiguren, verschiedene gegnerische Rollen als Opponenten, das Volk als Hintergrundsfigur. Alle Rollen lösen Angst aus und zeugen von Angst. Handlungssequenz Die Texte artikulieren eine Handlungssequenz, die zu Lern-und Erfahrungsprozessen führen kann. Im Gesamttext des Markusevangeliums sind dabei vor allem das Geheimnismotiv, das Jüngerunverständnis und der Ruf in die Leidensnachfolge von

5

Da sich die Methode einer psychologischen Exegese erst profilieren muß, werden die Arbeitsschritte (historisch-kritische und psychologische Analyse) nacheinander vollzogen. Das methodische Vorgehen wird so durchschaubarer. Gleichwohl gehören beide Schritte zusammen und eine Integration ist anstrebenswert. In der Betrachtung des Gesamttextes soll dies auch versucht werden. 6

Vgl. H.Sundön, Gott erfahren, 1974

7

Vgl. Sunden, Gott erfahren, 41ff,50ff.

8 Interesse; bei den einzelnen Erzählungen ist es die jeweilige Sinnabfolge des Geschehens (Aufbau von Spannung; Konflikt-Lösung; Nichtverstehen-Verstehen). Ängste sind dabei häufig Hintergrund und Inhalt von Handlungssequenzen. Darüberhinaus geht es um eine Handlungssequenz, die in der Vergangenheit angefangen hat und über die Gegenwart hinaus weitergeführt werden will. Das storyKonzept von D.RITSCHL bringt dies besonders deutlich zum Ausdruck: Die Handlungssequenz, die in der story der Juden und Christen mit Gott und untereinander einst angefangen hat, wird immer neu tradiert und rezipiert. Detailstories jüdischer und christlicher Gruppen sollen sich integrieren in einer Metastory, die umfassend jüdisch-christliche Identität darstellt.8

1.2. Textexterne Situation Die Aufgabe einer historischen Psychologie erschöpft sich nicht in der Bestimmung der 'textimmanenten Psychologie'. Sie muß diese 'textimmanente Psychologie' als Ausdruck damaligen Erlebens und Verhaltens verständlich machen. Dabei wird in dieser Arbeit die Textwelt auf die historische Welt hin, aus der die Texte stammen, transzendiert. Die Textwelt wird als historisch gewordene analysiert, in der konkrete Erfahrungen (Selbstverständnisse, Konflikte und Interaktionen) ihren Niederschlag gefunden haben, die wiederum Erfahrungen und Konflikte evozieren wollten. Texte sind von Erfahrungen her auf Erfahrungen hin formuliert. Beide Aspekte von textverbundenen Erfahrungen sind historisch bedingt. Sie können daher nicht durch direkte Einfühlung, sondern durch historisch vermittelte Einarbeitung erfasst werden. Nur so kann die Erhellung der psychologischen Dimension biblischer Texte zu einem erweiterten Verständnis des religiösen Erlebens und Verhaltens der Menschen, deren Erfahrungen in den Texten zum Ausdruck kommen, fuhren. Die historische Adressatengruppe und deren Situation kann durch Untersuchung bestimmter Quellen mit Hilfe historisch-kritischer Methoden und sozialpsychologischer Perspektiven erfasst werden. Quellen zur Situationserhebung liegen zweifach vor, im Markusevangelium selbst und in außerbiblischen Texten, a) Die Sonderbelehrungen an die Jünger geben als eine Art 'Durchblick' Aufschluß über die historische Situation. Sie dienen als literarische Mittel, mit deren Hilfe aktuelle

8

Vgl. Ritsehl, "Story" als Rohmaterial der Theologie, 18-37. Die Überlegungen Ritschis werden in den theoretischen Ausführungen zur Identität weiter erläutert und kommen in den einzelnen exegetischen Untersuchungen zum Tragen.

9 Probleme der Gemeinde angesprochen werden. 9 Solche Sonderbelehrungen finden sich auch in den Kp 4; 7 und 13, die zudem direkte Anrede der Leserinnen (13,14) und Hinweise auf deren soziale Gegebenheiten (4,17; 7,2f; 13,9ff) enthalten. 10 b) Die Schriften von Flavius Josephus, vor allem de bello judaico, geben weiteren Einblick in die sozialen und politischen Umstände, die das Leben der Adressatengruppe bestimmte. Sie erhellen religiöse Hintergründe und soziale Situationen, die im Evangelium selbst nur angedeutet sind. Durch die historische Bestimmung der Gemeindesituation wird psychologische Exegese erst möglich, da der historische Hintergrund die Matrix bildet, auf der psychologische Strukturen gelebt und konkretisiert werden. In den einzelnen Textauslegungen führt das Verstehen geschichtlicher und sozialer Gegebenheiten zur psychologischen Interpretation. Dieses methodische Vorgehen ist nicht umkehrbar. Zusammenfassung Biblische Texte sind sowohl textimmanent wie texttranszendierend auf ihre psychologische Dimension hin befragbar, wenn die Textwerdung mitberücksichtigt wird, und nicht ein unmittelbares Verständnis durch Einfühlung und Assoziation vorausgesetzt wird.

2. Die Notwendigkeit psychologischer Textauslegung Implizite Psychologie

in der Exegese

Innerhalb der exegetischen Literatur findet sich zumeist eine implizite Psychologie, die von den einzelnen Exegeten durch ihre Intentionen und Überzeugungen eingetragen wird. Bei der Textauslegung werden unreflektiert psychologische Begriffe und Erklärungsmuster angewandt, die zur Zeit der Exegeten dominierend sind." Psychologische Exegese will diese implizite Psychologie explizit machen. Durch

9

Vgl. dazu die ausführliche Anmerkung zu den Sonderbelehrungen im Exkurs zur Symbolordnung Rein-Unrein (2.Teil, II.2.1.4.) 10

Dies wird in den einzelnen Exegesen und einem Exkurs zur zeitgeschichtlichen Situation näher ausgeführt. 11 Vgl. dazu vor allem die Ausführungen Rebells in seinem Aufsatz Psychologische Bibelauslegung, 111 ff. Er weist z.B. die unbewußte Anwendung der Individualpsychologie Adlers in Auslegungen Bultmanns nach. Vgl. auch Sund6n, H., Exegesis and the Psychology of Religion.

10 eine bewußte Methodenreflexion soll ein kontrollierter Umgang mit psychologischen Kategorien, die oft integrierter Bestandteil der Alltagssprache geworden sind, ermöglicht werden. Bislang liegen kaum exegetische Untersuchungen zum Phänomen der Angst vor, mit Ausnahme der exegetischen Wortuntersuchungen in den Lexikaartikeln. 12 Die theologische Beschäftigung damit konzentriert sich auf systematische Ansätze. Allerdings besteht die allgemeine, methodisch nicht reflektierte Annahme, daß biblischen Aussagen und der christliche Glaube allgemein konträr zur Angst stehen und von ihr befreien wollen. Dies wird z.B. mit dem Hinweis auf das häufige Vorkommen des Zuspruches "Fürchte dich nicht" im Alten und Neuen Testament begründet. 13 Diese These ist zu überprüfen, indem Verhalten und Erleben der Menschen in den biblischen Texten auf konkretes Angsterleben hin befragt werden. Dazu bedarf es der Methode der psychologischen Exegese, die keine Funktionalisierung des Glaubens als angstreduzierendes Mittel anstrebt, sondern gerade eine Differenzierung und Relativierung derartiger Funktionalisierung. Implizite Psychologie in den Texten Um das religiöse Erleben und Verhalten der Menschen, deren Erfahrungen in den Texten zum Ausdruck kommen, verstehen zu können, ist es nötig, die psychologischen Dimensionen der Texte wahrzunehmen. Wenn der Umgang mit psychologischen Phänomenen (Konflikte, Angst, Trauer, Trennung, Hoffnung, Selbstverständnis), wie ihn die Texte darstellen, verdeutlicht werden kann, wird die Bedeutung und Funktion von religiösen Werten und Motivationen für diese Menschen verständlicher. Psychische und religiöse Strukturen lassen sich nicht miteinander ineins setzen, aber sie korrelieren miteinander. Die historische Erarbeitung psychologischer Phänomene in biblischen Texten ist Voraussetzung für eine Hermeneutik, die theologische Aussagen zu einem Umgang mit Ängsten für gegenwärtige Menschen leisten will. Ohne diese 'Basisarbeit', die verstehen Iäßt, wie Menschen damals, in den biblischen Überlieferungen, mit Hilfe ihrer religiösen Überzeugungen, Ängsten und Identitätsbedrohungen begegnet sind, besteht die Gefahr ideologischer Einseitigkeiten und Funktionalisierungen.

12

Zum Markusevangelium konnte nur der zweiseitige Aufsatz von W.C.Allen, St Mark 16,8. "They were afraid" Why?, JThSt 47 (1946), 46-49 ausfindig gemacht werden. Vgl. jedoch die Untersuchung dazu in der Neuerscheinung von K.Berger, Historische Psychologie, 170-179, der dem Begriff der Angst vor allem in paulinischen Texten nachgeht.

13

Vgl. Müller, Angst und Geborgenheit, 330.

11 Zusammenfassung Psychologische Exegese stellt eine kontrollierte und methodisch reflektierte Textauslegung dar im Gegenüber zum unreflektierten Gebrauch psychologischer Kategorien. Sie ist notwendige Voraussetzung für hermeneutische Aussagen, die gegenwärtig zu einem Umgang mit Angst und Identität anleiten wollen.

3. Die Geschichtlichkeit psychologischer Textauslegung Durch diese Ausführungen wurde schon die Notwendigkeit historischer Arbeit angedeutet. Psychologische Exegese muß historisch arbeiten, will sie der Geschichtlichkeit der Texte, der psychologischen Theorien sowie der psychologischen 'Ausstattung' des Menschen gerecht werden. Eine Integration von historischer und psychologischer Arbeit soll geleistet werden.

3.1. Die Geschichtlichkeit der Texte Biblische Texte unterliegen als literarische Produkte mündlicher und schriftlicher Überlieferung einem Werdeprozeß, der bei der Analyse erfaßt werden muß. Dabei liegen oft mehrere Zeitebenen in den Texten vor, die durch verschiedene ethische Schwerpunkte und soziale Gegebenheiten zum Ausdruck kommen. Die kulturellen (soziale, rechtliche, ökonomische) Bedingungen der Zeitepochen bestimmen und beeinflussen die religiöse und psychische Wirklichkeit der Autorinnen, ihre Intention und die Rezeption der Adressatinnen. Ricoeur spricht vom zeitlichen Charakter: "Der gemeinsame Charakter der menschlichen Erfahrung, der im Akt des Erzählens in allen seinen Formen offenbart, artikuliert, verdeutlicht wird, ist ihr zeitlicher Charakter." 14 Biblische Texte müssen zunächst in ihrer Geschichtlichkeit verstanden werden, bevor ihre Bedeutung für die Gegenwart erkannt werden kann.

3.2. Die Geschichtlichkeit der Theorien Die psychologischen Theorien sind zeitbedingt. Sie entstehen in einer bestimmten Zeitepoche und sind aus ihrer geschichtlichen Bedingtheit heraus zu verstehen. Diese Einsicht soll einer Verabsolutierung einzelner Theorien sowie dem Schein eines überzeitlichen Charakters mancher Theorien entgegenwirken. Auch theologi-

14

Ricoeur, Erzählung, 233.

12 sehe, historische und linguistische Methoden und Theorien sind als geschichtlich gewordene zu verstehen.

3.3. Die Geschichtlichkeit der Psyche Die Psyche des Menschen hat eine (Sozial-) Geschichte. Eine rein biologische Erklärung psychischer Faktoren widerspricht der psychischen Wirklichkeit, die sich immer nur innerhalb von Geschichte ausbildet und strukturiert. Angeborene Faktoren lassen sich zumeist auf erworbene Strukturen früherer Zeit zurückführen. Morus Markard, Vertreter der Historischen Psychologie, expliziert, "daß >Natur< nicht als quasi außergeschichtliche Konstante und damit der >Organismus< nicht als bloß abstrakter biologischer Träger zu denken sind, sondern nur in ihrer jeweiligen konkreten historischen Qualifizierung begriffen werden können".15 Durch dieses historische Paradigma kann die unzulängliche Frage danach, ob das Psychische biologisch oder kulturell sei, überwunden werden. Ebenso greift eine psychologische Erklärung zu kurz, die eine zeitlose Grundausstattung des Menschen annimmt, wie dies in der Archetypenlehre geschieht. Die Annahme überzeitlicher, allgemeiner psychischer Erscheinungen bleibt wissenschaftlich ungesichert. Sie abstrahiert durch die Verallgemeinerung von den konkreten historischen und gesellschaftlichen Formen, innerhalb derer sich psychische Strukturen ausbilden. Wagner und Wulf sehen Adorno in seiner Kritik an einer eindimensional biologistischen Psychologie zu Recht als Wegbereiter der Historischen Psychologie. "Alles, was geworden ist, unterliegt auch einer möglichen Veränderung. Aufgabe des kritischen Denkens ist es, alle Objekte, die sich als statische, als 'naturgegebene' präsentieren, in ihrer Gewordenheit zu begreifen" (1968, S.151). Die Gegenstände, zumal die sozialen und psychischen, sind nicht von Geschichte unberührt; in ihnen hat sich Geschichte sedimiert."16 Für Adorno wird der Mensch als Gegenstand der Psychologie zum leeren Abstraktionsprodukt, wenn sein Substrat an sich, isoliert von Gesellschaft und Geschichte, untersucht wird. "Die Dinghaftigkeit der Methode, ihr eingeborenes Bestreben, Tatbestände festzunageln, wird auf ihre Gegenstände, eben die vermittelten subjektiven Tatbestände, übertragen, so als ob dies Dinge an sich wären und nicht vielmehr verdinglicht. Die Methode droht

15

Markard, Die Historizität des Psychischen, 434.

16 Wagner/Wulf, Adornos Bedeutung für die Methodologie der wissenschaftlichen Psychologie, 473. Vgl. zur Historischen Psychologie allgemein vor allem die Arbeiten von Jüttemann.

13 sowohl ihre Sache zu fetischieren wie ihrerseits zum Fetisch zu entarten." 17 Diese Kritik ist auch für Ausrichtungen der Tiefenpsychologie, vor allem der Archetypenlehre zutreffend. Diese postuliert eine Kontinuität der psychischen Ausstattung des Menschen, die durch die Jahrtausende hindurch gleich bleibe. Ein weiterer Vorläufer der Historischen Psychologie, L.Febvre, entlarvt diesen Anthropologismus treffend: "Denn diese vermeintliche anthropologische Kontinuität >der< Liebe, >der< Freude und dergleichen erweist sich als historiographisches Phantasma angesichts der tiefgreifenden Unterschiede zwischen den Epochen (und innerhalb der Epochen zwischen den unterschiedlichen Kollektiven einer Gesellschaft), der historischen Differenz, der Diskontinuität." 18 Die historische Diskontinuität bezüglich der kognitiven und affektiven Ausstattung läßt sich nicht einfach durch die Annahme einer Wiederkehr des Immergleichen, wie es in anthropologischen Studien geschieht, überbrücken. Hieraus ergeben sich wichtige Schlußfolgerungen für die Methode einer psychologischen Exegese. Sie muß im Sinne der Historischen Psychologie gegenstandskritisch arbeiten,d.h. die Prüfung des Gegenstandes ergibt die entsprechende Methode. Der Vorrang der Methode führte nach Jüttemann, Vertreter der Historischen Psychologie, zum verhängnisvollen 'Inversionsprinzip' in der Psychologie. Er fordert je nach zu analysierendem Gegenstand eine rein empiristisch-naturwissenschaftliche (bei genuinen Naturprozessen) oder historische (bei evolutionärem und geschichtlichem Ursprung) Vorgehensweise. 19 Zusammenfassung Die Prüfung biblischer Texte als Gegenstand psychologischer Exegese erweist diese als literarische Produkte, in denen sich Geschichte sedimiert und die historisch geworden sind. Ebenso bringen sie psychologische Phänomene zum Ausdruck. Dementsprechend wird die Methodik der Exegese, die ihrem Gegenstand nachgeordnet ist, historische und psychologische Theorien zu kombinieren versuchen. Bei einem Vorrang der Methode vor dem Gegenstand bleibt die Gefahr der

17

Adorno, Soziologie und empirische Forschung, 5.Aufl., 1976.

18

M.Sonntag, Historische Psychologie gegen den psychologischen Anachronismus: Lucien Febvre, 482. Dies kann z.B. anschaulich gemacht werden an der "Kunst des Sterbens", der Gefühle und Sitten bezüglich des Todes. 19

Vgl. Jüttemann,G., Historische Psychologie in gegenstandskritischer Absicht, 511-514. Inversionsprinzip meint die "unzulässige Umkehrung des Verhältnisses von Gegenstand und Methode, das die traditionelle Psychologie insofern kennzeichnet, als der Methode ein absoluter Vorrang vor der Gegenstandsbetrachtung eingeräumt und dadurch eine systematische Ableitung von Entscheidungen über eine gegenstandsangemessene Methodenanwendung verunmöglicht wird. " (511)

14 Projektion: "Ein >Verstehen< im Sinne eines Schlußfolgerns von äußeren Vergegenständlichungen auf ein inneres Substrat oder ein >Einfühlen< in historisch so weit v o n uns entfernte Lebensweisen bzw. in ein in dieser Weise >gelebt habendes< Individuum, ob es nun Texte produziert hat oder nicht, ist ein gefährliches Unterfangen, da es notwendigerweise mit projektiven Mitteln arbeiten muß, ohne sich dieser unbedingt bewußt zu sein." 20 D i e s e Überlegungen zur Geschichtlichkeit des zu betrachtenden Gegenstandes begründen das methodische Vorgehen dieser Arbeit. Sie unterscheidet sich damit wesentlich von der Methode Drewermanns.

Exkurs: Abgrenzung zur Methode E . D R E W E R M A N N S Die Voraussetzung seiner Auslegung ist die Archetypenlehre. Auf ihrer Basis und mit Hilfe von Traumdeutungstechniken proklamiert Drewermann ein Verstehen der 'inneren Wahrheit' der Texte ohne historische und soziologische Arbeit. Denn der heutige Leser, die heutige Leserin, finde in den Symbolen der biblischen Texte sich selbst, seine/ihre psychische Wirklichkeit wieder. Er bestimmt die tiefenpsychologische Methode zur alleinigen heute angemessenen Auslegungsmethode. "Die tiefenpsychologische Symboldeutung allein liefert mithin den Leitfaden, um herauszufinden, wie und was in einer Deckerinnerung oder in einem Mythos >damals< >wirklich< erlebt, gefühlt, erhofft wurde;" 21 Diese Verabsolutierung rührt von einer mangelnden Reflexion der Historizität der tiefenpsychologischen Methode her und einer mangelnden Überprüfung der Annahme überzeitlicher psychischer Wirklichkeiten. Damit überbrückt Drewermann aber die historische Differenz zwischen den Texten und heutigen Leserinnen. Er deutet viele Erzählungen der Bibel als Mythen, die sich nur psychologisch, nicht aber historisch erfassen lassen könnten. 22 Neben der "Aufhebung des Geschichtlichen im Wesentlichen" 23 postuliert er die "Austauschbarkeit des Individuel-

20

M.Sonntag, Historische Psychologie gegen den psychologischen Anachronismus: Lucien Febvre, 486. 21

Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese 1, 370.

22

Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese 1,372ff. Vgl. die Kritik am Mythosbegriff bei Fischer, Heilendes Bild oder Wirklichkeit schaffendes Wort, 140f: " In den Mythen begegnet nicht die eigene, tiefenpsychologisch aufzuhellende Wirklichkeit, sondern gerade die fremde Wirklichkeit der Dinge. Sie enthalten nicht eine "innere Wahrheit", sondern enthüllen die "äußere" Wirklichkeit der Phänomene." 23

Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese 1, 381 f.

15 len und Kollektiven bei absolutem Vorrang der individuellen Bedeutungsebene". 24 Er vermag deshalb Texte durch freie Assoziation und Symboldeutung (beides Elemente der Traumdeutung) für den heutigen Leser und die Leserin auszulegen. Die Eindimensionalität, die er der historisch-kritischen Exegese vorhält, weil sie nur mit rationalem Faktenwissen arbeite, wird von ihm in umgekehrter Weise aufrechterhalten: Durch die Ausblendung der Geschichte und ihrer sozialen Bedingungen gerät er in Gefahr des "ewig murmelnden Diskurs des Stetigen". 25 Die historischen Gegebenheiten in den biblischen Texten sind ihm unbedeutend, nur seine Tiefendimensionen als die gleichen Wahrheiten aller Kulturen und Völker über Jahrtausende hinweg, sind ausschlaggebend. So sehr Drewermanns Bemühen um eine Hermeneutik, die die Texte relevant für das gegenwärtige Individuum machen will, anzuerkennen ist, so kritisch müssen seine methodischen Voraussetzungen und Ausführungen betrachtet werden. 26 Drewermann wird seinem Anspruch, biblische Texte als Bilder von Erlösung lesen zu wollen, selbst nicht gerecht, wenn er nur die 'innere' Wahrheit, die ihm synonym zur religiösen und psychischen Wahrheit ist, als die entscheidende gegenüber der 'äußeren' Wahrheit proklamiert. Eine derart reduzierte Fassung religiöser Wirklichkeit kann keine Erlösung im Sinne biblischer Texte zur Folge haben, die den Menschen in seiner konkreten geschichtlichen Eingebundenheit erreichen will. Für Drewermann ist die Befreiung von Angst die dominierende Intention biblischer Texte. Seine Denkvoraussetzungen erklären, daß es ihm um Angst als Grundkonstante des Menschen geht und nicht um konkrete historische Ängste. Angst als allgemeine menschliche Konstante werde besiegt durch die heilende Kraft biblischer Bilder, die von sich aus in Beziehung zur psychischen Wirklichkeit des Menschen stünden. In Abgrenzung dazu und in Respektierung der konkreten historischen Wirklichkeit biblischer Texte will dieses Arbeitsprojekt nicht der Angst als überzeitliche Grundkonstante nachgehen, sondern den historischen Ausformungen und Erlebensweisen dieses Phänomens am Beispiel des Markusevangeliums. Es interessiert der Zusammenhang zwischen dem geschichtlichen Rahmen, innerhalb dessen die mkn Gemeinde lebte, der geschichtlichen

24

Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese 1, 381.

25

Zurhorst, Die Existenzphilosophie von Kierkegaard und Sartre und die Historische Psychologie, 418.

26

Eine treffende und unpolemische Kritik an Drewermann leistet J.Fischer, Heilendes Bild oder Wirklichkeit schaffendes Wort?, 119-148, in ders., Glaube als Erkenntnis, 1989. Vgl. auch die neue Auseinandersetzung mit der Methode von Drewermann bei A.Bucher, Bibelpsychologie, 71-86, die sehr kenntnisreich Drewermanns psychologische Prämissen hinterfragt. G.Lüdemann versucht, in seinem neu erschienen Buch: Texte und Träume sich mit der Methode Drewermanns am Beispiel der Auslegung des Markusevangeliums auseinanderzusetzen. Er kritisiert vor allem Drewermanns Vorgehen, biblische Texte als Träume zu deuten und auszulegen. Lüdemann stellt der Auslegung Drewermanns eine historischkritische Exegese gegenüber, die sich vor allem an Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition orientiert.

16 Botschaft, die Markus vermittelte, und dem konkreten Angsterleben der Adressatenschaft. Dadurch kann auch nicht vorschnell die These proklamiert werden, daß die Botschaft Jesu und die Tradition dazu immer Angstüberwindung intendiere und leiste. Ebenso zielt die Fragestellung nach Identitätsbildung nicht allgemein auf Selbstverwirklichung des einzelnen Menschen, sondern auf die Ausformung von jüdisch-christlicher Identität als kollektiver und individueller innerhalb einer bestimmten Zeitepoche. Durch diese historische Fragestellung mag der hermeneutische Wert der Arbeit nicht so direkt nutzbar sein wie bei Drewermann. Es geht nicht um eine Anleitung zum Umgang mit Ängsten für die Menschen von heute. Die historische Diskontinuität kann nicht einfach überwunden werden. Die Aufdeckung des historischen Angsterlebens einer bestimmten christlichen Gruppe vermag jedoch als notwendige Voraussetzung zu einer derartigen Hermeneutik hinführen. 27 Um eine Verabsolutierung einzelner psychologischer Theorien zu vermeiden, sollen verschiedene psychologische Richtungen zur Anwendung kommen. Dadurch kann verständlich werden, daß je nach Perspektive verschiedene Deutungen von Welt und Mensch und einhergehend verschiedene Begriffsapparate erstellt werden. Die Anwendung pluraler psychologischer Theorien dient weiter einer Differenzierung des Begriffes der Angst und der Identität. 28 Die Komplexität, die dadurch verdeutlicht werden kann, läuft einem vereinfachenden Verständnis von Angst als Daseinsangst entgegen.

27

Hingewiesen sei hier auf den neuen Beitrag von K.Berger, Historische Psychologie des Neuen Testaments, 1991, der überzeugend die historische Diskontinuität zwischem dem Erleben und Verständnis psychologischer Kategorien neutestamentlicher und gegenwärtiger Menschen demonstriert. Die Berücksichtigung des zeitlichen Abstandes ermöglicht neue hermeneutische Applikationen fiir die Auslegungen und verdeutlicht, daß psychologische Strukturen geschichtlich sind. Insoweit ist der Titel 'Historische Psychologie' verständlich, ist aber von der spezifisch psychologischen Ausrichung 'Historische Psychologie' zu unterscheiden. 28

Zum Zusammenhang von Angst und Identität vgl. 1 .Teil, II.2.3.

17 II. Theoretische Überlegungen zu >Angst< und >Identität
Angst< und >Furcht< Die Unterscheidung dieser Begriffe wird oft an dem Gefahrenobjekt, der Dauer der Gefahr sowie ihrer möglichen Abwehr festgemacht. Ist das Objekt lokalisierbar und wahrnehmbar, so wird von Furcht geredet. Bei einem unbestimmbaren O b jekt' hingegen wird der Begriff Angst gewählt. "Angst ist dabei bestimmt durch drei Merkmale: Gefahrenreize, Unsicherheits-bzw. Mehrdeutigkeitserlebnisse und Reaktionsblockierung...Die Emotion Furcht ist zudem,...,mit der spezifischen Verhaltenskonsequenz der Flucht assoziiert." 37 Diese Unterschiede sind zu hinterfragen. Hingewiesen sei nur auf Angstphobien, die ein lokalisierbares Objekt haben und trotzdem nicht als Furcht zu werten sind. Nach Becker sind beides "emotionale Reaktionen auf die Antizipation persönlich bedeutsamer Verluste oder Mißerfolge".38 Die Übergänge von Furchtreaktionen in Angstreaktionen und umgekehrt können fließend sein.39 Die begriffliche Unterscheidung zwischen Angst und Furcht hilft einer psycho-

35

Vgl. Freud, Angst 44.

36

Anselm, Angst, 189f.

37

Krohne, Angst, 11; vgl. auch Fröhlich, Perspektiven der Angstforschung, 118ff.

38

Becker, Angst, 299.

39

Vgl. Becker, Angst, 304ff. Vgl. auch Freud, Angst 75f: Realangst und neurotische Angst können sich vermengen. An die reale Gefahr kann eine unbekannte Triebgefahr geknüpft sein. Freuds Kategorie der Realangst läßt sich demnach nicht synonym zu Furcht verwenden, wie Fröhlich, Perspektiven der Angst, 119 vorschlägt. Nach Freud haben beide ein Objekt, wenngleich es bei der neurotischen Angst nur unbewußt und verschoben vorliegt. Es läßt sich aber durch einen Bewußtseinsprozeß lokalisieren, wodurch die Heilung von der Angst eingeleitet wird.

19

logischen Differenzierung des Angstphänomens demnach wenig. 40 Diese Unterscheidung fördert eher einen inflationären Gebrauch des Angstbegriffs. Besonders die sogenannte Objektlosigkeit der Angst im Gegensatz zur Furcht suggeriert Sinnlosigkeit bezüglich des Nachfragens nach Angstursachen. Sollten Ängste wirklich nicht lokalisierbar oder situationsgebunden sein, dann sind sie auch nicht bewältigbar. Auslieferung an 'die Angst' und das Beherrschtsein von ihr wäre die Konsequenz. Der Angst wird dementsprechend auch eine Reaktionsblockierung zugeschrieben. Theologisch wurde der objektlosen Angst oft die Erlösung durch Gott entgegengesetzt. So auch in der Alternative von Drewermann: Angst oder Vertrauen.41 Die namenlose Angst wird überall da akzeptiert, wo proklamiert wird, daß der Mensch mit der Angst zu leben habe. "Demgegenüber gilt es Einspruch zu erheben und auf der Benennung zu bestehen, nur so kann auch das wieder eine Sprache finden, was als Versöhnung und Glück ersehnt wird." 42 Möglichkeiten der Strukturierung Freud unterscheidet je nach Instanzenkonflikt zwischen Realangst, neurotischer Angst und Über-Ich-Angst. 43 In der kognitiven Psychologie wird zur Strukturierung des Konstruktes Angst zwischen Angst als Zustand und Angst als Eigenschaft unterschieden. Der Angstzustand wird durch situative Reize ausgelöst, die Ängstlichkeit als ein Persönlichkeitsmerkmal bestimmt die Modifikation und Heftigkeit der Angstreaktion. 44 Beim subjektiven Erleben von Angst läßt sich desweiteren zwischen Aufgeregtheit und Besorgtheit unterscheiden. "Aufgeregtheit ist nämlich die Empfindung autonomer Prozesse im Zustand privater Selbstaufmerksamkeit." 45 Während hier vor allem die Wahrnehmung der Erregung im Mittelpunkt steht, liegt bei der Besorgtheit die Betonung auf der kognitiven Komponente, die sich meist als Selbstzweifel repräsentiert.

40

Hilfreicher mag dies in der biologisch-vergleichenden Forschung sein, wo Reize und Reizreaktionen losgelöst von psychischen Vorgängen untersucht werden können.

41

vgl. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese 2, 27-35. Vgl. zu seinem Angstbegriff

1 .Teil, II. 1.2.5 42

Anselm, Angst 209.

43

Vgl. hierzu l.Teil, II.3.3.

44

Vgl. Schwarzer, Angst, 80-87.

45

Schwarzer, Angst, 89f.

20 Ängste können nach Themen und Allgemeinheitsgrad geordnet werden. So unterscheidet z.B. Schwarzer zwischen Existenzangst (Todes-Krankheits-Verletzungsangst), Sozialer Angst (Scham, Sexualangst, Publikumsangst) und Leistungsangst (Prüfungs-Bewertungs-Schulangst). 46 Damit verbunden ist die Strukturierung durch Erhebung situations-und individuumsspezifischer Angstdeterminanten. 47 Situationsspezifische Angstdeterminanten sind Situationen, die das physische Wohlbefinden (Verletzungs-und Erkrankungsgefahren, Gefährdung elementarer physischer Bedürfnisse, starke Schmerzen) und das psychosoziale Wohlbefinden (drohender Selbstwertverlust, Verlust von Zuwendung und materiellen Gütern, Verlust der Orientierungs-und Handlungsfähigkeit durch neuartige Situationen, Erschütterung des Norm-und Wertsystems, Verlust geliebter Bezugspersonen, Verlust von sozialem Ansehen) gefährden. Solche Situationen können auch als intern produzierte und vorgestellte Ereignisse auftreten. Individuumsspezifische Angstdeterminanten (Persönlichkeitsmerkmale wie Wahrnehmung und Bewertung, Motivstärke, Intelligenz 48 , Ansichten und Glaubenssysteme) beeinflussen und bestimmen die Stärke des Angsterlebens und erklären, warum ein Mensch in einer Situation Angst empfindet, ein anderer hingegen nicht. Die situationsspezifischen und individuumsspezifischen Determinanten sind im konkreten Angsterleben eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Diese Strukturierung ermöglicht es, Angst nicht nur als ein individuelles Geschehen zu begreifen, sondern auch als kollektives. Die Subjektivität der Angsterfahrung schließt gesellschaftliche Bezüge ein. Der Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft/Gruppe im Blick auf die Angst bedürfte eingehender Untersuchung. 49

46

Vgl. Schwarzer, Angst, 93

47

Vgl. Becker, Angst, 310-318.

48

"Unter Intelligenz wird in diesem Zusammenhang ein mehrdimensionales Konstrukt verstanden, das sich auf die Fähigkeit zur adäquaten Bewältigung neuartiger Situationen bezieht." Becker, Angst, 315.

49

Einen gelungenen Forschungsbeitrag hierzu stellt das Buch von S.Anselm, Angst und Solidarität, dar. Sie setzt sich darin kritisch mit einem psychoanalytischen Angstbegriff auseinander, der von Subjekt-Objekt-Beziehungen im Angsterleben abstrahiert und sich nur am isolierten Einzelnen orientiert. Vgl. auch Gerhard Deimling, Konformität und Abweichung als Wirkungen sozialer Angst, in: Almanach 8 für Theologie und Literatur zum Thema Angst, hg v. A.Juhre, 1974, S.97109. Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst, hg.v. H.Wiesenbrock, 1976.

21 Angstdiagnostizierung Angst läßt sich erkennen und teilweise messen an physiologischen (Erröten, Erblassen, Schwitzen, Herz-und Pulsschwankungen, Übelkeit), verhaltensmäßigmotorischen (Zittern, Mimik, Gestik, Körperhaltung, Bewegungs-und Sprechweise, Annäherung und Vermeidung) und subjektiven Reaktionen (meist verbaler Art als Indikator der subjektiven Komponente der Angstemotion). A ngstabwehrmechanismen Angst kann als normal oder als krankhaft gesehen werden. Vor allem Phobien, Angstneurosen und andere Chronifizierungen von Angstzuständen können als pathologisch gewertet werden. Neurosenbildungen und somatische Reaktionsbildungen sind Folgen mißlungener Versuche, Angst abzuwehren oder zu binden. Angstabwehrmechanismen sind nicht an sich krankhaft, sie können auch als lebensnotwendige Funktionen dienen.50 Die wichtigsten Abwehrmaßnahmen sind Verdrängung, Identifikation (Introjektion), Projektion, Reaktionsbildung, Verschiebung, Rationalisierung, Regression, Verleugnung, Ungeschehenmachen, Isolierung, Konversion, Sublimierung. Mit ihrer Hilfe wird versucht, Ängste aus dem Bewußtsein zu vertreiben, Ersatzbefriedigungen und Gegenbesetzungen zu suchen.

Funktion der Angst Angst kann wie ein Signal wirken und zur Vermeidung von Gefahren führen. Die Emotion Angst kann hier entscheidender Antrieb zu einem (verbesserten) Bewältigungsverhalten sein. Sie kann auch Belastungsgrenzen signalisieren und dadurch einen organischen oder emotionalen Zusammenbruch verhindern. 5 ' Diese adaptive Funktion der Angst liegt auch bei der Ausbildung des Über-Ichs vor. Angst vor Sanktionen und gesellschaftlicher Isolierung fordern die Verinnerlichung von Normen. Hier kann jedoch die positiv-adaptive Funktion schnell zu einer destruktiv-adaptiven ausarten, die Entwicklung verhindert. Ob Angst konstruktiv wirken kann, hängt eng mit der persönlichen Wahrnehmung der Umwelt und anderen

50 vgl. Elhardt, Tiefenpsychlogie, 48.66f; A.Freud, The Ego and the mechanisms of defense. N e w York: International Universities Press 1946. Übers.: Das Ich und die Abwehrmechanismen, Frankfurt 1985

51

Vgl. Becker, Angst, 327. Die adaptive Funktion der Angst wird z.B beim Lernen durch negative Erfahrung deutlich: Das Individuum sucht aus Angst vor Schmerz und Unannehmlichkeiten der Situation adäquate Verhaltensmaßnahmen. Diese Funktion wurde und wird jedoch in der Erziehung oft mißbraucht.

22 indiviuumsspezifischen Determinanten zusammen. Fehlwahrnehmung kann zu Übervorsicht und überflüssigem Vermeidungsverhalten führen oder zu Funktionshemmungen. Daneben entscheidet Intensität, Dauer und Zeitpunkt darüber, ob Angst entwicklungshemmend und zerstörerisch oder konstruktiv erlebt wird.52

1.2. Der Begriff Angst in der theologischen Forschung Die meisten Bemühungen in Theologie und Kirche zum Thema sind praktischtherapeutischer Art. In Seelsorge und Diakonie werden Wege gesucht und angeboten, mit Ängsten besser umgehen zu können, wo sie Leben beeinträchtigen und verhindern. In theologischer Literatur und in Predigten wurde und wird die Angst oft undifferenziert benutzt, um den Menschen auf seine Nichtigkeit und Erlösungsbedürftigkeit hinzuweisen. Es liegt hier eine Funktionalisierung namenloser Angst vor, die meist jeglicher tieferen Beschäftigung mit der Komplexität von Angst entbehrt." Die bekanntesten theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen der Angst finden sich bei Kierkegaard, Pfister und Tillich.

52

Erinnert sei hier an Kinder, die zu früh und zu lange bestimmten Ängsten ausgesetzt waren, und dadurch bleibend in ihrer Entwicklung geschädigt wurden. Vgl. die Arbeiten von Rene Spitz.

53

Vgl. Scharfenberg, Das Problem der Angst im Grenzgebiet von Theologie und Psychologie, 314f, der einige Beispiele zu einem inflationären Gebrauch des Begriffes zusammenträgt. Vgl. auch den Art zu Angst und Furcht in der TRE, III.Theologiegeschichtlich und pastoralanthropologisch, 759-766. Ein Beispiel ist auch der Aufsatz von G.Müller, Angst und Geborgenheit des Menschen in biblischer Sicht. Einhergehend mit Überheblichkeit und Polemik gegenüber Psychologie postuliert er wirksame Hilfe gegen "Welt-und Lebensangst" allein durch Gott (331.335). Paradoxerweise erkennt er Gott zudem als denjenigen, der in Ängste fuhrt und verweist dann auf Christi Angsterleiden, das uns allein Geborgenheit in Angst zu schenken vermag. "Die menschliche Angst erlangt im Neuen Testament ihre tiefste und höchste "Weihe",indem Christus selber zum Geängsteten und von Gott Verlassenen wird." (334)

23 1.2.1. S.KIERKEGAARD, Begriff der Angst, Eine schlecht und recht psychologisch-hinweisende Überlegung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde." 54 Der Untertitel zeigt den Rahmen an, in dem die Untersuchung zur Angst durchgeführt wird. Die Erfassung des Begriffs Angst mit Hilfe psychologischer Erkenntnisse dient der dogmatischen Beschreibung der Sünde und der Existenz des Menschen allgemein. Kierkegaard erkennt die Angst als Voraussetzung der ersten Sünde und zugleich als Grund fur die Folge weiterer Sünden. "Angst bedeutet nunmehr also zweierlei. Die Angst, in welcher das Individuum durch den qualitativen Sprung die Sünde setzt, und die Angst, welche mit der Sünde hineingekommen ist und hineinkommt, und die insofern auch quantitativ in die Welt kommt, jedes Mal, wenn ein Individuum die Sünde setzt."55 Insofern ist die Angst "Erbsünde im Fortschreiten". 56 Sie enstehe aus dem Nichts und sei Angst vor dem Nichts. Diese inhaltslose Angst treibe zum qualitativen Sprung,d.h. dem Übergang aus dem Zustand der Unschuld (Existenzlosigkeit, Geistlosigkeit) in den Zustand der Schuld und Sünde (Existenz). Kierkegaard beschreibt die gesamte Existenz als ständigen Prozeß von einem Zustand zum anderen, dem jeweils ein qualitativer Sprung vorausgehe. 57 Sich seiner selbst bewußt werden, heiße Unschuld aufgeben und sich für die existentielle Möglichkeit entscheiden, die immer weitere Möglichkeiten bereithalte und Entscheidungen fordere. Diese Entscheidungsfreiheit verursache Angst. Angst ist fiir Kierkegaard somit Voraussetzung und Folge der Freiheit. 58 Die erste Angst als die Angst vor dem Nichts sei inhaltslos. Die weitere Angst in der Existenz sei dann Angst vor der Erkenntnis, daß es viele Möglichkeiten und Entscheidungen gibt. Angst und Sünde sind für Kierkegaard überhaupt erst die Möglichkeit zur

54

S.Kierkegaard, Der Begriff Angst, übersetzt v. E.Hirsch, Düsseldorf 1965; Vgl. M.Theunissen, Kierkegaard's Negativistic Method, in J.H. Smithz (ed.), Kierkegaard's Truth: The Disclosure of the Self. New Haven London, 1981 55

Kierkegaard, Der Begriff Angst, 53.

56

Kierkegaard, Der Begriff Angst, 51.

57

Der Existenzbegriff wird zusammenfassend bei Zuhörst, Die Existenzphilosophie von Kierkegaard, 422, verdeutlicht: " 1 .die Existenz besteht in einer Synthese von Unendlichkeit/Endlichkeit, Zeitlichkeit/Ewigkeit und Freiheit/Notwendigkeit, 2.das Selbst ist ein Sichverhalten zu dieser Synthese, 3.das Selbst ist durch ein(en) Dritte(s)n gesetzt." 58

Vgl.Kierkegaard, Der Begriff Angst, 161.

24 Existenz. Menschliche Existenz heiße Angsthaben. Angstfreiheit würde mit Geistlosigkeit und Existenzlosigkeit einhergehen. Nicht sie sei Ziel, sondern das Erlernen des rechten Sich-Ängstigen. "Indem also das Individuum durch die Angst gebildet wird zum Glauben, wird die Angst eben das ausroden, was von ihr selbst erzeugt wird."59 Diese Erzeugnisse seien die Schuld und die Vorsehung. Sie würden durch die Angst mit Hilfe des Glaubens, der in innerer Gewißheit die Unendlichkeit vorwegnehmen mag und somit nicht mehr den Täuschungen der Endlichkeit ausgeliefert ist, in ihr rechtes Verhältnis zur Unendlichkeit gerückt. Kierkegaard kommt zu diesen Aussagen vor allem durch Selbstbeobachtung. Die damalige Psychologie (Lehre vom subjektiven Geist) diente ihm als Hinweis, als Vorbereitung für die dogmatische Durchdringung (Lehre vom absoluten Geist) des Themas. Sie könne nur den Zustand beschreiben, nicht den qualitatven Sprung; auf den Zusammenhang von Angst und Sünde aufmerksam machen, aber nicht die Sünde erklären. Die Angst könne und dürfe sie nur zweideutig definieren, sonst versuche sie schon dogmatisch zu arbeiten. Deshalb läßt Kierkegaard die psychologische Definition der Angst als "sympathetische Antipathie und eine antipathetische Sympathie"60 gelten. Methodisch setzt Kierkegaard bei der Existenz des Menschen, näherhin bei der negativen Existenz als Verzweiflung, Angst und Furcht an, um diese Existenz in ihrer Entwicklung und ihrer Qualität zu verstehen.61

1.2.2. O.PFISTER, Das Christentum und die Angst 6 2 Pfisters Anliegen ist es, die religiöse Angst (Einfluß des Christentums auf Angsterfahrungen und umgekehrt) zu erforschen. Er setzt dabei bei der profanen Angst an und arbeitet bewußt mit der pychologischen Methode, wie sie sich gerade nach Freud entwickelte. Er will diese erfahrungswissenschaftliche Methode einer Vor-

59

Kierkegaard, Der Begriff Angst, 166

60

Kierkegaard, Der Begriff Angst, 40.

61

Zum inhaltlichen und methodologischen Negativismus Kierkegaards vgl. Theunissen, Negativistic Method, 381ff. Seine methodische Orientierung am Subjekt richtet sich gegen ein idealistisches Philosophieren (z.B.Hegel), der Grund dazu liegt in seiner eigenen Biographie. 62

Pfister, Das Christentum und die Angst, Frankfurt 1985.

25 gehensweise, die bei "supranaturalistischen Gesichtspunkten"63 ansetzt, entgegenstellen. Er unterscheidet Realangst/Furcht von Angst und Mischangst. Erstere stelle einen Affekt auf äußere Gefahr dar. Bei der "eigentlichen" Angst liege die Ursache nicht in einer äußeren Gefahr. Auch wenn sie sich in ihren körperlichen Begleiterscheinungen und vom Inhalt her nicht von der Realangst unterscheiden läßt, sei sie doch anders verursacht.64 O.Pfister sieht in Störungen des Liebesdranges (Liebeshemmungen) und Schuldgefühlen (Spezialformen der Liebesstörung) die Hauptursachen der Angst.65 Motive für derartige Störungen erkennt er in Vernachlässigung und Liebesentzugserfahrung im Kindesalter, in Liebesverwöhnung, in der Einschränkung des Freiheitstriebes und in physischen Nöten. Aber jede "starke Liebes-und Lebenshemmung führt nur dann zur Angst, wenn nicht an Stelle des Versagten ein ausreichender Ersatz, eine genügende Befriedigung bietende Kompensation gefunden wird."66 Pfister untersucht einzelne Phobien und Zwangsneurosen, die gerade durch christliche Überlieferungen verursacht wurden. Die Angst wird von ihm auch als kollektivpsychologisches Problem behandelt und er fragt nach der Chance des Gemeinschaftsverbandes (Kirche) zur Angstlinderung. Methodisch verbindet er individualpsychologische mit sozialpsychologischen Gesichtspunkten und arbeitet zugleich historisch.67 Ausgehend vom Leben und Wirken Jesu und der Johannesüberlieferung (Joh 14,19; Uoh 4,18) erkennt er die Angstbekämfung, besonders der Gewissens-und Schuldangst, als das wichtigste Anliegen des Christentums. "Das Christentum muß werden, was es in seiner Frühzeit war: Medicina sacra, nur um wissenschaftliche, individual-und sozialpsychologische, medizinische, soziologische Einsichten berei-

63

Pfister, Angst, 4

64

Vgl. Pfister, Angst, 15f: Wenn Furcht und Angst ineinander übergehen, ist von Mischangst zu sprechen. 65

Dabei versteht er den Begriff Liebe umfassend als triebhaft (primär), sittlich und religiös, als Gottes,-Nächsten-und Selbstliebe. 66

67

Pfister, Angst, 25.

Er untersucht eingehend Angstlösung-und bindung in der Religionsgeschichte (primitive Religionen, israelitische Religion, Jesus, Paulus, Katholizismus, die Reformatoren, dasnachreformatorische Zeitalter und den Neuprotestantismus.) Vgl. Pfister, Angst, 117-441.

26 chert." 68 Die christliche Liebe solle in einem analytischen Akt gegeben werden. 69 Auf der Basis des Liebeempfangens sei zum Liebegeben anzuhalten. Pfister sieht dieses Gebot der Liebe nicht als Zwang an, sondern als beglückende und angstbewältigende "Pflicht". 70 Das Christentum sollte eine analytische Angstbehandlung nach dem Vorbild Jesu gegenüber einer synthetischen vorziehen. "Dieses analytische Tun, das die unklare Angstsituation aufhellt und die Liebesstauung durch Herstellung einer Liebesverbindung aufhebt, hat die analytische Angsttherapie wissenschaftlich ausgebaut." 71 Neben dieser Methode ist das Kompensationsprinzip bedeutsamer Faktor. Die christliche Moral dürfe nicht als einseitig verbietende arbeiten, sondern müsse zugleich sublimierend höhere Freuden und Güter erschließen. Dabei seien nur lustbringende Sublimationen als Kompensationen zu werten. Pfister wendet sich gegen eine christliche Moral, die einengend und verbietend Angstzustände im Menschen fordert und verursacht. Er proklamiert dagegen eine christliche Moral, die sich sublimierend darstellt und das Liebesprinzip fördert. Liebe und Sublimation korrelieren bei ihm.

1.2.3. P.TILLICH, Ontologie der Angst (1950) Seine Untersuchungen zur Angst sollen einem besseren Verständnis der Existenz des Menschen und des Mutes als Selbstbejahung dienen. Er unterscheidet Furcht und Angst im bekannten Sinne nach Objekthaftigkeit und Objektlosigkeit. "Angst ist das existentielle Gewahrwerden des Nichtseins". 72 Dies meine nicht eine intellektuelle Einsicht, sondern die Erfahrung von Endlichkeit und Vergänglichkeit als eigene. Tillich definiert Angst ontologisch: Sie gehöre zur Existenz, weil das Nichtsein im Sein eingeschlossen ist. "Es ist ein Unbekanntes besonderer Art, dem man mit Angst begegnet. Es ist das Unbekannte, das nicht gekannt werden kann auf Grund seines eigensten Wesens, da es das

68

Pfister, Angst, 446.

69

Methodisch stimmen hier religiöse und wissenschaftlich-psychologische Therapie überein.

70

vgl. Pfister, Angst, 453: "Neigung und Pflicht vermählen sich".

71

Pfister, Angst, 460. Als synthetische Behandlung der Schuldangst kennzeichnet er ein Vorgehen, daß "die Schuldtat, so, wie sie im Schuldbewußtsein gesetzt ist, gelten läßt, zu ihr aber (synthetisch) eine Abbüßung fugt" (461). 72

Tillich, Der Mut zum Sein, in: Tillich-Auswahl Bd 2, 103.

27 Nichtssein ist".73 Diese Grundangst, die durch die menschliche Situation als solche gegeben sei, sei der Hintergrund jeder Furcht. Die einzelnen Furchtobjekte seien demnach Symptome der Grundangst. Könne den einzelnen Furchtobjekten mit Mut begegnet werden, so sei der Mensch der reinen Angst hingegen hilflos ausgeliefert. Tillich unterscheidet drei Typen der Grundangst, die mit den drei Typen der Selbstbejahung korrelieren. Dabei betont er, daß sich diese Grundängste gegenseitig durchdringen und bestimmen. Sie seien immer gleichzeitig da, auch wenn eine einzelne dominiere. Er definiert sie als Angst vor Tod und Schicksal, vor Sinnlosigkeit und Leere sowie vor Schuld und Verdammnis. "Das Nichtsein bedroht die ontische Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form des Schicksals, absolut in Form des Todes. Das Nichtsein bedroht die geistige Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form der Leere, absolut in Form der Sinnlosigkeit. Das Nichtsein bedroht die moralische Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form der Schuld, absolut in Form der Verdammung." 74 Die Angst vor dem Tod stehe hinter der Angst vor dem Schicksal und allen anderen Ängsten, die durch Bedrohung der physischen Existenz hervorgerufen sind. Insoweit sei die Todesangst universal und absolut. Die Angst vor Sinnlosigkeit stehe hinter der Angst vor geistiger Leere und allen Ängsten, die durch die Bedrohung der Partizipation am gesellschaftlichen und kulturellen Leben hervorgerufen werden. Die Angst vor Verdammnis stehe hinter jeder Angst vor Schuld und anderen Ängsten, die durch die Bedrohung moralischer Werte und Lebensentscheidungen hervorgerufen werden. Diese drei Grundängste erkennt er als bestimmend für jeden Menschen zu jeder Zeit. Sie führten zur Verzweiflung, wenn sie bewußt und wahrgenommen werden. Obwohl die Angst, die in die Verzweiflung treibe, nicht immer gegenwärtig sei, lasse sie die Existenz als ganze von Angst bestimmt erscheinen. 75 Es gibt nach Tillich zwei Möglichkeit damit umzugehen: Entweder sie wird angenommen und hineingenommen in den Mut zum Sein, d.h. in eine Selbstbejahung 'trotz' Angst oder es wird der Versuch unternommen, sie in Furcht umzuwandeln. Tillich definiert letzteren als den Weg in die pathologische oder neurotische Angst. "Die Neurose ist der Weg, dem Nichtsein auszuweichen, indem man dem Sein ausweicht." 76 Die begrenzte und fixierte Selbstbejahung gehe einher mit einer Ver-

73

Tillich, Mut zum Sein, 104.

74

Tillich, Mut zum Sein, 107.

75

Vgl. Tillich, Mut zum Sein, 117.

76

Tillich, Mut zum Sein, 124.

28 zerrung und Abkehr von der Wirklichkeit. Die pathologische Angst schaffe sich so in Bezug auf die drei Grundangsttypen eine unrealistische Sicherheit, eine unrealistische Gewißheit und eine unrealistische Vollkommenheit. Für die pathologische Angst sei der Arzt und Psychotherapeut zuständig, für die Grundangst hingegen der Priester. Durch die Verquickung der Grundangst und der pathologischen Angst seien beide auf Zusammenarbeit angewiesen bei gleichzeitiger Anerkennung und Wahrung der jeweiligen Kompetenzgrenzen. Der Mut zum Sein könne die Grundangst in sich aufnehmen. Er sei wie die Angst psychologischer und biologischer Natur. Er könne ähnlich der Signalfiinktion der Angst Leben bewahren und schützen, indem er korrelierend zur Warnung (Furchtfiinktion) zu notwendigem Widerstand befähige. Mut verwirkliche sich hier als biologische Selbstbejahung. "Biologische Selbstbejahung bedeutet das Auf-SichNehmen von Not, Mühsal, Unsicherheit, Schmerz, möglicher Vernichtung."77 Sie setze eine Balance zwischen Mut und Furcht voraus, denn absolute Kühnheit ohne Furcht könnte eher zerstörerisch denn bewahrend sein. Tillich definiert dieses Gleichgewicht als Vitalität (Seinsmächtigkeit, Lebenskraft). Sie mangele neurotischen Menschen. "Der Mut zum Sein ist eine Funktion der Vitalität".78 Dabei müsse die Vitalität in ihrem Zusammenhang mit der Totalität des Menschseins und seiner Intentionalität gesehen werden. Beide, Vitalität und Intentionalität, ergäben gemeinsam die Freiheit und Geistigkeit des Menschen zur Lebensgestaltung-und bewältigung. Im Mut würden beide Gestalt bekommen. Tillich bestimmt die Herkunft des Mutes zum Sein als Geschenk der Gnade. "Mut ist Gnade - das ist ein Ergebnis und eine Frage."79 Für Tillich schließt die Bestimmung der Angst als Existential die eigenen Kräfte des Menschen zur Angstbefähigung nicht aus. Er plädiert nicht für ein passives Warten auf Erlösung, sondern für ein aktives Streben, Mut zu ergreifen und mit ihm der Angst zu begegnen. Die Ansätze Tillichs und Kierkegaards wurden in weiteren theologischen Betrachtungen zur Angst vielfach aufgegriffen und weitergeführt.80

77

Tillich, Mut zum Sein, 132.

78

Tillich, Mut zum Sein, 133.

79

Tillich, Mut zum Sein, 137.

80

Vgl. J.Denscher, Mut zur Angst. Wie man sie annimmt und überwindet, Stuttgart 1976. E.Jüngel, Mut zur Angst: Ev Komm 11, 1978, 12-15. J.Moltmann 'Begnadete Angst'. Religiös integrierte Angst und ihre Bewältigung, in: Angst und Gewalt, hg. v. H. v. Stietencron, Düsseldorf 1979, 137-153. Moltmann versucht die Thesen Kierkegaards und Blochs,

29 Auch E.DREWERMANN knüpft in seinen Überlegungen zur Angst eng an Kierkegaard an. Er bestimmt die Daseinsangst als Hintergrund der Sünde. Sie treibe den Menschen zum Bösen, sei Wurzel alles Bösen. Sie blähe den Menschen auf mit der Konsequenz, daß dieser sein wolle wie Gott. Im Anschluß an Kierkegaard beschreibt er das Phänomen der Angst im Zusammenhang mit der Erbsünde. Angst gehöre wesentlich zum Menschen. Sie "ist der subjektive Reflex der Tatsache, Bewußtsein zu haben und frei zu sein."81 Angst vor der eigenen Kontingenz und Nichtigkeit, der Sinnlosigkeit und der Freiheit würden den Menschen bestimmen und den Hintergrund aller situationsgebundenen Ängste bilden. Die Angst sei auch der Ursprung der Verzweiflung. In der Verzweiflung lebe der Mensch im Mißverhältnis zu sich selbst, während er im Glauben im rechten Verhältnis zu Gott lebe. Drewermann versucht eine Integration von Kierkegaard und Riemann. Er sieht die vier Neuroseformen als mißlungene Formen der Verarbeitung der Daseinsangst im Feld der Freiheit: Die Zwangsneurose sei Verzweiflung der Notwendigkeit. Heilung liege im Glauben an ein vorgängiges Daseindürfen. Die Hysterie sei die Verzweiflung der Möglichkeit. Heilung sei durch den Glauben in der Freiheit von Menschenvergötterung möglich. Die Depression sei die Verzweiflung der Unendlichkeit. Heilung bestehe im Glauben, als endliches Wesen berechtigt zu sein. Die Schizoidie sei die Verzweiflung der Endlichkeit. Heilung sei hier durch den Glauben als Ende der Selbstmythologisierung möglich. "Die entscheidende Bedeutung der sog. "Erbsündenlehre" liegt mithin offenbar darin, daß sie den Menschen unter Einbeziehung psychonalytischer Erkenntnisse als ein Wesen verstehen lehrt, das an der Angst seines Bewußtseins krank werden muß, wenn es diese Angst, die es wesentlich kennzeichnet, nicht durch einen Akt des Vertrauens überwinden lernt".82 Die Religion könne, indem sie die Angst besiegt, den Menschen heilen. Sie könne von der Struktur des Bösen, die den Menschen bestimmt, befreien. Der Glaube sei somit die zentrale Alternative zur Angst. Der Mensch müsse zwischen diesen beiden wählen. "Bei Kierkegaard stimmt es, wenn er ... betonte, daß Gott und Mensch einander widersprechen müssen -im Feld der Angst...Erlösende Macht hat ein Gotteswort, wenn es im Umraum des Vertrauens des Menschen Angst bewußt macht und im Überfluß der Gnade über-

der Mensch müsse lernen, sich recht zu ängstigen und zu hoffen, zu verbinden. "Aus der Angst muß der Mensch 'gerissen' werden. Indem wir unsere Angst in seiner Angst erkennen und in ihr aufgehoben sehen, erfahren wir jene 'begnadete Angst', an der sich eine unbesiegbare Hoffnung entzündet." (153) 81

Drewermann, Angst und Schuld, 121

82

Drewermann, Angst und Schuld, 121.

30 flüssig macht; anders als ohne diese erlösende Macht ist kein Wort Gottes Wort."83 Es besteht hier die Gefahr, die christliche Religion für die Angstbewältigung zu funktionalisieren. Religion wird als Angstreduzierung verstanden. Angstfördernde Elemente biblischer Aussagen werden negiert, z.B. die Motivation zu ethischem Verhalten mit Hilfe der Drohung, aus dem Reich Gottes ausgeschlossen zu werden oder die Aufforderung zur Nachfolge, die Ängste einschließt und provoziert. Es muß kritisch gefragt werden, ob christliche Religion immer Befreiung von Angst leisten kann und will, oder ob sie zur Angst befähigen kann und will.84

1.3. Das Verständnis von Angst in dieser Arbeit Angst als relationaler Begriff Angst wird in dieser Arbeit als relationaler Begriff verstanden. Überall da, wo Beziehungen gefährdet sind, erwächst Angst: in der Beziehung zum eigenen Körper durch physische Verletzungen, zur umgebenden Natur, zur Gesellschaft und ihren Institutionen, zu einzelnen Gegenüber und in der Beziehung zu Gott. Angst ist insoweit ein Existential, als sie an die Existenz des Menschen, der ein Beziehungswesen ist, geknüpft ist. Die erste Angst des Säuglings ist Angst, Beziehung (Trennung von der Mutter) zu verlieren. Die letzte Angst des Sterbenden beinhaltet Angst, Beziehung(en) zu verlieren. Nur innerhalb von Beziehung kann Identität gelebt werden, Isolation ist dadurch die schlimmste Gefährdung der Identität. Angst ist aber nicht nur Trennungsangst. Sie ist emotionale Reaktion auf Gefährdungen des physischen Wohlbefindens, sozialer Beziehungen und psychischer Strukturen. Sie gehört, wie ihre Relationalität verdeutlicht, zur Lebenswirklichkeit dazu und kann nicht aus ihr verbannt werden. Deshalb muß zur Angst befähigt und

83

84

Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese 2, 3 3 f.

K.Berger, Historische Psychologie, 173 bestimmt die biblische Sicht von Angst und Furcht vor Gott als Möglichkeit zur "Kanalisierung aller Ängste". Die Angst vor dem 'richtigen', vor Gott, mache die Angst vor anderem/ anderen überflüssig. Diese Angstfeldkonzentrierung erklärt jedoch noch nicht inhaltlich, warum Angst vor Gott außer der strukturellen Funktionalität der Angstkanalisierung nötig und sinnvoll ist. Kommt diese Angsthierarchisierung nicht eher einer Objektverschiebung gleich, wobei die emotionale Reaktion die gleiche bleibt, nämlich Angst? Wie verhält sich seine Betonung, daß das Neue Testament keine Angst mache, sondern vielmehr bestehende Angst aufdecke und die Chance der Überwindung aufzeige (vgl. 173), zu seiner Proklamation der "heilsamen Angst"? (172) Läuft sie letztendlich darauf hinaus, Angst durch Angst auszutreiben?

31 ermutigt werden, wie Kierkegaard und Tillich konstatieren (das 'rechte SichÄngstigen' und 'Mut zur Selbstbejahung trotz Angst' ist nötig). Es geht nicht um die Alternative Angst oder Glaube, sondern um die Befähigung zur Angst, wobei Glaube eine wesentliche Rolle spielt.85 Angst als geschichtlicher Begriff Wie schon das relationale Verständnis von Angst einem abstrakten Angstbegriff entgegenwirken will, so auch das geschichtliche Verständnis dieses Begriffes. Angst wird immer konkret in geschichtlichen Bezügen erlebt. Dies meint nicht nur, daß Angst als Entwicklungsangst den Menschen begleitet und je entwicklungsgeschichtliche Ausprägungen findet, sondern über die Individualgeschichte hinaus von welt-und alltagsgeschichtlichen Gegebenheiten bestimmt wird. Deshalb ist die Angst in einem Konzentrationslager zur Nazizeit nicht gleich der Angst vor einem nuklearen Holocaust oder gleich der Angst vor einer unheilbaren Krankheit oder gleich der Angst vor einem Seesturm. In jedem Fall geht es um Todesangst, die doch ganz verschieden erlebt wird aufgrund der geschichtlichen (und persönlichen) Determinanten. Die Erkenntnis der Relationalität und Geschichtlichkeit konkreten Angsterlebens ist fur Angstbefahigung und -bewältigung wesentliche Voraussetzung.

2. Der Begriff Identität

2.1. Der Begriff Identität in der psychologischen und soziologischen Forschung Die Ansätze von G.H.Mead, D.J. De Levita, T.LuckmannJ E.Berger, H.Lübbe 86 Identität kann sozialpsychologisch im Rahmen der Interaktion des Indiviuums beschrieben werden, psychoanalytisch innerhalb des Ichkonzeptes des Individuums. Sie kann als feste Struktur/Eigenschaft oder als je neu zu gewinnende Balance verstanden werden. Identität umfasst "Kontinuität und Selbstgleichheit in der Zeit" und einen "eigenen Platz in der Gemeinschaft" 87 , d.h. die wechselseitige Anerkennung. In den verschiedenen Identitätstheorien wird je nach Perspektive (Soziologie, Psychologie) mehr das eine oder das andere untersucht. Beides, in

85

Vgl. 1 .Teil, II.3.1.2.

86

Verwiesen sei auch auf die im Literaturverzeichnis angeführten Beiträge von J.M.Benoist, O.Marquard, E.Runggaldier, R.Schiffmann, A.Strauss, M.Zavalloni 87

De Levita, Identität, 242.

32 seiner Abhängigkeit, wird vor allem in sozialpsychologischen Ansätzen berücksichtigt. Nach G.H.MEAD 88 entwickelt sich das seif (Identität) durch Interaktion mittels Sprache. Fremderwartungen würden übernommen und internalisiert, und das eigene Handeln werde in Orientierung daran entworfen. Identität sei somit Antizipation von Erwartungen und eigene Antwort (me and I). D.J.De LEVITA bestimmt Identität als die "Summe der Reifikationen" 89 , d.h.eine spezifische Sammlung von Rollen im Individuum. Er unterscheidet zwischen verschiedenen Identitätsfaktoren: zugeschriebene (Alter, Geschlecht, Herkunft, soziale Schicht); erworbene (Beruf, Amt, Titel, selbst gewählte Gruppenmitgliedschaften) und übernommene Faktoren (Rollen innerhalb bestimmter Rollentransaktionen, z.B. Helfer/Hilfebedürftiger). Der Körper als Bestandteil aller Faktoren sei der wichtigste Identitätsfaktor neben dem Namen und der Lebensgeschichte. Als identitätsbildende Faktoren fuhrt De Levita Trennung (Subjekt-Objekt-Unterscheidung), Kontinuitätsgefühl und Stadien der Kindheitsentwicklung an. Zur Beziehung zwischen Selbst und Identität stellt er fest: "Wir haben gesunde Identität als eine Identität definiert, die auf Selbstvorstellungen beruht, die in einem vernünftigen Verhältnis zu den entsprechenden Vorstellungen des idealen Selbst stehen, mit anderen Worten: auf Selbstvorstellungen, mit denen eine gewisse Selbstachtung verbunden ist."In dieser Identitätstheorie werden stabile Werte und Verhaltensweisen zum Identitätsinhalt. In den Theorien von T.LUCKMANN und E.BERGER 90 erscheint Identität ebenfalls als stabiler Wert. "Persönliche Identität als eine grundlegende Daseinsform des Menschen war das Ergebnis einer sich wechselseitig bedingenden Stammes-und Gattungsgeschichte von Leib, Gesellschaft und schließlich Bewußtsein." 91 "Sozialisation ist jener universelle, zwischenmenschliche Vorgang, in dem sich persönliche Identität als eine gesellschaftliche Gegebenheit entwickelt." 92 Jeder Mensch spiegele somit eine historische Sozialstrukur, die ihn determiniere, wider. Das Ich mit eigenen Erwartungen und Bedürfnissen gegenüber gesellschaftlichen Fest-

88

Vgl. Mead,G.H., Mind, Self, and Society, ed.by C.W.Morris. Chicago: The University of Chicago Press, 1935. Übers.: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt 1968 89

De Levita, Identität, 190.

50

Vgl. Berger/Luckmann, The social Construction of Reality, N e w York, Doubleday, 1966;

Luckmann, Persönliche Identität, Soziale Rollen und Rollendistanz, 293-313. 91

Luckman, Persönliche Identität, 297.

92

Luckmann, Persönliche Identität, 299.

33 legungen gerät hier kaum in den B l i c k und damit auch nicht die Identitätskonflikte-und bedrohungen durch übermäßige Anpassung. 9 3 Im Unterschied zu Luckmann stellt sich für H . L Ü B B E 94 Identität zwar auch in der Geschichte dar, aber nicht in Handlungen und damit verbundenen Rollen und Werten, sondern in persönlichen Geschichten. Identität lasse sich nur deskriptiv fassen, da sie kein normativer B e g r i f f wie die Handlung sein könne. "Identität ist das, was die Grenzlinien unserer gerade nicht verallgemeinerungsfähigen Zugehörigkeiten bestimmt... Einzig über Geschichten läßt sich sagen, wer wir und andere sind; über Historien vergegenwärtigen wir eigene und fremde Identität." 95

2.2. Der B e g r i f f Identität in der theologischen Forschung

96

Die Auseinandersetzung mit Identität findet vor allem im Rahmen systematischanthropologischer und praktisch-theologischer Studien statt. Leitende Frage ist, welchen Beitrag der christliche Glaube fur das Identitätsverständnis leisten kann. Zum einen wird betont, daß die Theologie die Frage nach der Identität transzendiere. Identität werde durch Identifikation mit Gottes Offenbarung möglich.

97

Jesu

Leben und Botschaft werden "als Norm und Maßstab christlicher Identität" gesehen. 93

98

M.Zavalloni, Die psychosoziale Identität, setzt hier mit ihrer Kritik an. Sie stellt heraus,

daß "die Natur einer bestimmten Identität alles andere als das Ergebnis eines von allen hergestellten Konsens ist, sondern im Gegenteil den bevorzugten Ort darstellt, an dem die ideologischen Konflikte einer Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Wie diese Konflikte ausgehen, ist von größter Bedeutung, da es um nichts geringeres geht als darum, normativ und zwingend die mit diesen Identitäten verbundenen Rolleninhalte zu bestimmen, aus denen sich die Verhaltensalternativen ergeben, die den Mitgliedern der derart definierten Gruppe zu Gebote stehen" (355). 94

Vgl. Lübbe, Identität und Kontingenz, 6 5 5 - 6 5 9

95

Lübbe, Identität und Kontingenz, 6 5 6 .

Vgl. auch das story-Konzept von Ritsehl (I .Teil, II.2.2.) 96

Verwiesen sei auf die im Literaturverzeichnis angegebenen Arbeiten von M.Klessmann,

H.Mol, K.Raiser, H.Reiser, Schneider-Flume, 97

Scharfenberg.

Vgl. Biemer, Welche Bedeutung hat Identifikation, 7 0 - 7 4 . Für ihn kann sich die individu-

elle Identifikation mit Gottes Offenbarung in der Kirche als dem gesellschaftlich-geschichtlichen Ort des Identifikationsangebotes 98

verwirklichen.

So z.B. Oberlinner, Identifikation mit Jesus, 7 6 - 7 8

34 Kritisch zu sehen ist an diesen Überlegungen die Gefahr des Offenbarungspositivismus. Wird die christliche Identität moralisch bestimmt und zum Zwang oder läßt sie Konflikte (mit Gott) zu, ohne diese unter den Kategorien Schuld-Vergebung zu sehen? P.BÜHLER warnt vor einem derartigen christlichen Subjektivismus. "Das Bemühen, das Leben in Wahrheit und im Einklang mit sich selbst zu führen, muß sich konkret im Licht und in der verantwortlichen Übernahme der Erfahrungen, Aufgaben und Anfragen vollziehen, aus denen sich die menschliche Wirklichkeit aufbaut." 99 Zu Recht wehrt er Vorstellungen ab, die christliche Identität an der Zugehörigkeit zur Kirche, zu einer Lehre oder in einem bestimmten moralischen Verhalten festmachen. Bühler proklamiert demgegenüber einen dynamischen Identitätsbegriff. Im Feld vielfältiger Beziehungen und nicht in einem willkürlichen Indiviualismus (Rückzug aus der Welt) vollziehe sich die Identitätssuche. Den christlichen Beitrag zur Identitätssuche beschreibt er als eine Ermöglichung, "sich in Wahrheit in den vielfältigen Aspekten seiner gelebten Erfahrung zurechtzufinden. Ziel dieses Angebots ist nicht, die Suche , sondern sie vielmehr so zu beleben und zu stärken, daß sie das abenteuerliche Auf und Ab glaubender Existenz zur Einheit zu vermag." 100 D.RITSCHLS Ausführungen zu einem Identitätsverständnis finden sich innerhalb seines 'story-Konzeptes'. Er plädiert für einen dynamischen Identitätsbegriff, der das 'Gleichbleiben im Wechsel' anzeigt. "Identität soll das heißen, was als Eindruck und Merkmal für eine Gruppe oder ein Individuum typisch bleibt, wenn sie sich selbst zu beschreiben versuchen oder von anderen beschrieben werden." Dieser Dynamik werde allein die "sprachliche Form der Narration, der story", gerecht.101 Das Alte und das Neue Testament artikulieren die story Israels und der Kirche. In vielen einzelnen Detailstories werde die Identität der Juden und Christen erzählt und könne immer wieder nacherzählt werden. Die einzelnen Detailstories machen die "Metastory" aus, die sich nur über diese beschreiben lasse. Dabei betont Ritsehl, daß Sprache nicht nur beschreibt, sondern selbst schafft und Wirklichkeit herstellt. Identität basiere auf dem Zusammenfließen und der Integration von einzelnen stories im Menschen oder zwischen Menschen und Gruppen. "Die

"P.Bühler, Christliche Identität: Zwischen Objektivität und Subjektivität, in: Concilium 24 (1988), 100. 100

Bühler, Christliche Identität, 99.

101

Ritsehl, "Story" als Rohmaterial der Theologie, 16.

35 Einheit und Harmonie (oder eben die Desintegration, das Leiden) der Detailstories mit dem gesamten Selbstverständnis - mit der >Metastory< - das scheint die Identität eines Menschen auszumachen." 102 Jüdische und christliche Identität entstehe durch die Integration der jeweiligen lifestory mit der Metastory, wie sie in AT und NT artikuliert wird. Dieser dynamische Identitätsbegriff umfaßt das Zugesprochensein von Identität durch die jüdisch-christliche Tradition und das Verursachen von Identität durch das Weitersprechen und- leben dieser story im eigenen Kontext. Die zugesprochene Identität kann Korrektur gegen andere durch die Gesellschaft zugesprochene Identität sein (Rollenvorgaben, Verhaltensmuster) und konfliktfähige, identitätsverursachende stories des einzelnen oder der Gruppe provozieren. G.SCHNEIDER-FLUME stellt das kritische Potential des christlichen Glaubens gegenüber dem psychoanalytischen Identitätskonzept Eriksons heraus. Der Glaube lasse sich nicht funktionalisieren als ichstärkende und identitätsfördernde Komponente, wenngleich er derartige Wirkungen habe.103 Dem Absolutheitsanspruch der Forderung, Identität zu bilden, und dem zugrundeliegenden Menschenbild einer integrierten und ganzen Person sei das christliche Menschenbild entgegenzustellen, das den Mensch vor allem als Sünder bestimmt. Er müsse nicht seine Identität bilden, sondern dürfe sich zuallerst die Vergebung und Gnade Gottes geschenkt sein lassen. "Die Freiheit, zu der die Geschichte Gottes befreit, fuhrt den Menschen von seinem kleinen begrenzten Selbst weg und stellt ihn in den Dienst der Geschichte Gottes....Im Glauben, in Christus ist Leben nicht aufgrund von Leistung, sondern aufgrund von Stellvertretung, in diesem Leben steht Gnade an Stelle der Leistung des Ich."104 Ihre Untersuchung ist eine Apologie des Glaubens gegenüber einer Funktionalisierung durch die Psychologie. K.BERGER 105 hat sich vor allem um den biblischen Identitäts-und Personbegriff bemüht. Er betont mit Recht die historische Diskontinuität zwischen dem neutestamentlichen Verständnis und dem der Alten Kirche und der Gegenwart. So kann im Judentum zur Zeit Jesu alles als Person gedacht werden, das einen Namen tragen kann oder ansprechbar ist (Engel, Dämonen). Die Grenzen der Identität des einzelnen Individuums im Neuen Testament seien auch nicht strikt mit der biographi-

102

Ritsehl, Story, 31.

103

Sie distanziert sich hier von den religionspsychologischen Ansätzen von Müller-Pozzi, Psychologie des Glaubens, München, Mainz 1975 und von M.Kiessmann, Identität und Glaube, München 1980. 104

Schneider-Flume, Identität, 129.

105

Vgl. Berger, Historische Psychologie, 45-63.

36 sehen oder biologischen Beschaffenheit gegeben, sondern sehr durchlässig. "Die Substanz einer Person kann wiederkehren" 1 0 6 in anderen Personen, vor allem bei Propheten. Berger bezeichnet dies als "theologische Identität" neben der bürgerlichen. D i e Kraft eines anderen könne bestimmend werden für eine Person. In diesem Sinne sei auch die paulinische Rede v o m 'Christus in mir' zu verstehen, s o w i e die Möglichkeit religiöser Stellvertretung durch Fasten, Beten und Sühneopfer.' 07 Bergers Untersuchungen demonstrieren, daß der neutestamentliche Identitätsbegriff weniger individualistisch und vorwiegend relational ausgeprägt ist. Dies kann als ein H i n w e i s auf den Zusammenhang von Solidarität und Identitätsbildung/Angstbefähigung gewertet werden. 1 0 8

2.3. Das Verständnis von Identität in dieser Arbeit und die Verhältnisbestimmung von Angst und Identität

Identität als relationaler Begriff Ähnlich dem Verständnis von Angst wird Identität nicht als ontischer, sondern

106

Berger, Historische Psychologie, 48.

107

Dieses, von Berger als 'theologische Identität' definierte Phänomen findet sich bei G.SELLIN, Mythologeme und mythische Züge, 209-223, als "erweiterte Identität", die er als Bestandteil mythischen Denkens erklärt. Im Mythos können Götter, Personen und Geschehnisse in anderen Zeiten und zugleich an verschiedenen Orten identisch wiederkehren. Die Kategorie der "Tiefenidentität" unterschiedlicher Individuen ermöglicht diese Vorstellung der identischen Wiederkehr, die korporativ und typisch gedacht wird: "Der Stammvater verkörpert in sich jeden seiner individuellen Nachkommen - und das Erleben der Nachkommen ist die Wiederholung der Taten des Urahns...Wieder gilt hier das Prinzip der Identität bzw.der Kontiguität" (213). Diese Durchlässigkeit der einzelnen Individuen für Substanz und bestimmende Kraft durch andere korreliert mit der "dyadic personality" der Menschen im Urchristentum. Der Begriff der dyadic personality wurde von B.J.MALINA, Christian Origins and Cultural Anthropology, 19 geprägt. Er beschreibt damit "the First Century Personality" als Bestimmtsein des einzelnen durch die Gruppe im Gegensatz zur "individual person" ("U.S.style individualists"), die sich unabhängig von einer Gruppe gestaltet und bestimmt. Die dyadic personality bezieht ihre Selbstdefinition über die Gruppe, zu der sie dazugehört, sie ist durchlässig für die anderen. "Furthermore, the individual would feel responsible, for the most part, to the group (not to the self) for his or her own actions, destiny, career, development, and life in general".(19) Er geht darauf ausfuhrlicher ein, in: The New Testament World, 51-70. 108

Vgl. dazu vor allem 2.Teil.II.3.

37

relationaler Begriff verstanden. Identität bildet sich je neu in der Balance zwischen eigenen Bedürfnissen und Fremderwartungen. Sie beschreibt die Versöhnung zwischen dem subjektiven Empfinden und Denken und objektiven Ansprüchen und Strukturen. Versöhnung schließt Anpassung und Unterwerfung ebenso wie Isolation und Eigenrotation aus. Identität konstituiert sich in Interaktionen mittels Sprache oder anderen Kommunikationsverfahren. Sprache ist jedoch von größter Bedeutung, denn mit ihr kann Identität dargestellt, mitgeteilt und auch hergestellt (zugesprochen) werden. Dies erklärt auch die Bedeutung des fortgesetzten und je neuen Erzählens biblischer Texte. Identität bildet sich auf physischer, psychosozialer und psychischer Ebene. Sie kann auch in diesen Dimensionen verletzt und zerstört werden. Physische Identität wird durch den Körper und das eigene Verständnis von ihm vermittelt. Psychische Identität bezieht sich auf die psychischen Strukturen und ihr Verhältnis zueinander, wie es im eigenen reflexiven Empfinden ermittelt wird. Psychosoziale Identität umfaßt Rollen und Interaktionen des identitätssuchenden Individuums. Diese Unterscheidung ist nur pragmatischer Art, da die einzelnen Identitätsweisen ineinandergreifen. Konflikte sind nicht nur Zeichen von Identitätsschwäche im Sinne von mangelnder Anpassung und Normverinnerlichung, sondern Herausforderung und Chance zur Identitätsbewahrung- und Stabilisierung. In diesem Sinne ist der enge Zusammenhang zwischen Angstbefahigung und Identitätsbildung zu verstehen. Identität als dynamischer und geschichtlicher Begriff Identität wird in der Gegenwart gebildet durch Erinnerung und durch Antizipation einer Zukunft. Identität ist weder nur ein stabiler Zustand nach bestimmten Entwicklungsprozessen noch nur Widerspiegelung von gesellschaftlichen Vorgaben, noch nur ein Konglomerat von bestimmten verinnerlichten Verhaltens-und Wertemustern. Identität umfaßt dies alles in einer persönlichen 'story', die ihre unverwechselbare Kontinuität und Wandlungsfähigkeit besitzt. Persönliche Eigenschaften und Rollenvorgaben bestimmen die Identitätsbildung mit, machen Identität jedoch nicht aus. Identität läßt sich in ihrem Entstehungsprozeß beschreiben, Identitätsinhalte lassen sich jedoch nicht allgemein definieren. Bestimmte jüdisch-christliche Verhaltens-und Wertemuster dienen nicht an sich zur Beschreibung jüdisch-christlicher Identität. Sie sagen nur insoweit etwas Uber die spezielle Identität von Juden und Christen aus, wie sie die Identitätsbildung mitbestimmen und wie sie in Interaktionen aktualisiert werden. Zur Verhältnisbestimmung von Angst und Identität Nach diesen Ausführungen zum Angst-und Identitätsbegriff wird der Zusammenhang von beiden deutlich. In der psychologischen Angstforschung wird dieser

38 Zusammenhang von Selbst/Selbstwertgefiihl und Angst immer betont. 109 Angst ist Folge der Bedrohung des Selbstkonzeptes durch physische, psychische oder psychosoziale Verletzungen. Der Mensch wird in seinem Selbstverständnis von sich als ganzem bedroht, auch wenn nur einzelne Organe oder einzelne Beziehungen gefährdet sind. 110 Aber Identität wird nicht nur bedroht durch Angst, sondern stellt zugleich das Potential dar, mit dessen Hilfe das Individuum Angst ertragen und durchstehen kann. Freuds Angsttheorie impliziert diesen Zusammenhang, da das Ich Stätte der Angst und zugleich Stätte der Konfliktbearbeitung und der Lebensbewältigung ist. Der Zusammenhang von Angst und Identität läßt sich zweifach bestimmen: 1. Angst bedroht Identität. 2. Gelingende Identität befähigt zur Angst. Beide Begriffe können relational und temporal verstanden werden.

109

Vgl. die Darstellung der Theorien im folgenden Abschnitt II.3: In der kognitiven Psychologie wird Angstbefähigung durch Neubewertung der persönlichen Faktoren, die Angst mitbestimmen und des gesamten Selbstkonzeptes, proklamiert. In den sozialpsychologischen Ansätzen wird erläutert, wie Fremddefinitionen und Stigmatisierungen als Identitätsbedrohungen zu Angst führen. In der Tiefenpsychologie wird die Stärkung der Ich-Instanz als probates Mittel zur Angstüberwindung angesehen. 110 Tillichs Verwendung des Begriffes der Selbstbejahung als ontische, geistige, moralische und biologische, deren Bedrohung Angst auslöst, weist ebenfalls auf den Zusammenhang von Angst und Identität, die sich als physische, psychische und psychosoziale verwirklicht.

39

Angst

Identität

relational

Angst als Reaktion auf Gefährdungen von Beziehungen (physischer, psychischer und psychosozialer Art)

Identität als physische, psychische und psychosoziale bildet sich nur in Interaktionen. Aspekt der sozialen Identität: Identität kann zugeschrieben werden.

temporal

Angst wird in und durch geschichtliche Bezüge hervorgerufen und erlebt (als Entwicklungsangst und als Angst in Welt- und Alltagsgeschichte)

Identität ist dynamisch und prozeßhaft. Sie bildet sich je neu aus in Abhängigkeit von der eigenen story (der Juden und Christen) Aspekt der biographischen Identität

3. Psychologische Theorien zu >Angst< und >Identität< 3.1. Ein Ansatz aus der kognitiven Psychologie: Die kognitive Emotionstheorie von R.S.LAZARUS 111 Lazarus hat schon innerhalb seiner Forschungen zu psychologischem Stress erkannt, daß Emotionen (Angst, Ärger, Eifersucht, Liebe, Schuld, Neid etc.) von Bewertungsvorgängen (Wahrnehmungs, Denk, Lern- und Erinnerungsprozessen) verursacht werden. Dieses "Cognitive appraisal can be most readily unterstood as the process of categorizing an encounter, and its various facets, with respect to its significance for well-being." 112 Emotionen wiederum können Kognitionen deter-

111

Die Ausführungen basieren auf den im Literaturverzeichnis angegebenen Arbeiten von Lazarus,R.S./Folkman,S.,E.Krohne,H.W. und Schwarzer,R.

1,2

Lazarus/Folkman, Stress, Appraisal, and Coping, 31

40

minieren, und ebenso ist der Einfluß von Motivationen (Ziele, Werte, Verpflichtungen) auf Kognitionen und Emotionen zu berücksichtigen. Angst wird innerhalb dieses Konzeptes als Emotion verstanden, die auf der Bewertung einer Situation als gefährlich, bedrohlich und überfordernd für das eigene Wohlbefinden beruht.113

3.1.1. Cognitive Appraisal Das cognitive appraisal stellt sich in drei Formen dar: Primary appraisal Hiermit ist die Einschätzung der Situation gemeint. Es wird geprüft, ob die Situation bzw. Transaktion eine Bedeutung für das persönliche Wohlbefinden hat und, falls sie die hat, welche (belastend, irrelevant, günstig). Secondary appraisal Secondary appraisal betrifft die Einschätzung der Person. Es werden alle verfugbaren Ressourcen überprüft, die einer Stress-Angstbewältigung dienen. Die Kompetenzerwartung und die zur Verfugung stehenden Handlungen werden eingeschätzt im Vergleich zu den Anforderungen der Situation. Reappraisal Hiermit ist schon eine Form des Coping, d.h. des Bewältigungsprozesses angesprochen. Sie beruht auf einer veränderten Wahrnehmung der Person-UmweltBeziehung und des Selbst (Neubewertung). Je nach Verlauf des cognitive appraisals entstehen also negative oder positive Emotionen. Die Bewertungsvorgänge sind abhängig von persönlichen und situativen Faktoren. Situative Faktoren sind Neuheit der Situation, Vorhersagbarkeit, auf das Ereignis bezogene Unsicherheit, temporale Unsicherheit, unmittelbares Bedrohtsein, Dauer, Mehrdeutigkeit der Situation, die z.B. zum Entscheidungskonflikt fuhren kann; Einordnung in den gesamten Lebenszyklus. So werden z.B. Situationen, die unmittelbar bedrohend, völlig neu und ungünstig innerhalb des Lebenszyklus sind, besonders häufig mit der Emotion Angst beantwortet werden. Die situativen Faktoren sind in ihrer Bedeutung fur die Bewertung immer mit den persönlichen Faktoren zusammen zu sehen. Sie beeinflussen und bedingen sich gegenseitig. Als persönliche Faktoren sind vor allem commitments und beliefs zu nennen.114

113

Emotionen sind innerhalb dieses Ansatzes den Kognitionen nicht als minderwertig untergeordnet, sondern werden als ein komplexer, organisierter Zustand definiert, der aus kognitiven Einschätzungen, Handlungsimpulsen und körperlichen Reaktionen besteht. 114

Vgl. dazu vor allem Lazarus/Folkman, Stress, 55-82.

41 Commitments drücken aus, was einer Person wichtig und bedeutend ist. Der Begriff könnte von daher mit Verpflichtungen oder verpflichtenden Motivationen wiedergegeben werden. Auf die Bedeutung von beliefs fur die Kognitionen soll näher eingegangen werden, da sie innerhalb dieser Arbeit sehr wichtig sind.

3.1.2. Beliefs Beliefs läßt sich am besten mit dem Begriff Glaubenssysteme wiedergeben. Dies sind persönlich geformte oder kulturell geteilte kognitive Konfigurationen und dienen als Wahrnehmungsobjektiv für die Betrachtung der Wirklichkeit. Innerhalb von Bewertungsvorgängen bestimmen Glaubenssysteme, wie die Dinge zu sehen sind und welche Bedeutung ihnen beizumessen ist. Glaubenssysteme formen meist unbemerkt die Wahrnehmung. Ihr Einfluß wird erst bei Verlust oder Veränderung der Glaubenssysteme erkennbar. Dabei zeigt es sich, daß Hoffnung von Hoffnungslosigkeit verdrängt werden kann, wenn ein Glaube verloren geht und Werte sich verändern. Lazarus unterscheidet zwei Glaubenssysteme: Glaube an persönliche Kontrolle und existentieller Glaube. General beliefs General beliefs about control betreffen das Ausmaß, mit dem Menschen annehmen, sie können bedeutsame Ereignisse und Ergebnisse kontrollieren. Die Kontrolle kann internal (bezogen auf das eigene Verhalten) oder external (bezogen auf äußere Dinge: Glück, Schicksal etc.) erfolgen. Bei mehrdeutigen und neuen Situationen hat die internale Kontrolle den größten Einfluß. Es ist möglich, daß zwei verschiedene oder entgegengesetzte Glaubenssysteme zur gleichen Zeit bestimmend sind, wobei eine natürliche Hierarchie angenommen werden darf." 5 Bei situational control appraisals bezieht sich die Bewertung auf das Ausmaß, mit dem eine Person glaubt, eine einzelne, von Stress bestimmte Person-UmweltBeziehung beeinflussen zu können. Derartige Bewertungsvorgänge werden von der individuellen Einschätzung der Situationsanforderungen, derBewältigungsresourcen und der Meinung und Fähigkeit, nötige Bewältigungsstrategien benutzen zu können, bestimmt. In diesem Zusammenhang verwendet Lazarus das Konzept von Bandura zu efficacy expectancy und outcome expectancy. Diese Wirksamkeitserwartungen beziehen sich zum einen auf die Überzeugung, daß ein Verhalten, das erforderlich ist, um ein Ergebnis zu produzieren, erfolgreich geübt werden kann; zum anderen auf die persönliche Einschätzung, daß ein vorgegebenes Verhalten zu

115 Es kann sein, daß diejenigen Glaubenssysteme, die Gefahr/Gefahrkontrolle implizieren, durch äußere Umstände aktiviert, stärker wirken als diejenigen, die Sicherheit implizieren.

42 einem sicheren Ergebnis fuhren wird. Wirksamkeitserwartungen treiben den Willen einer Person an, angesichts von Hindernissen Bedrohung und Gefahr zu widerstehen. Sie sind Teil von secondary appraisal, da sie beeinflussen, in welchem Maße sich eine Person bedroht fühlt, und das Bewältigungsverhalten durch Ermutigungen stärken. Wahrgenommene Unwirksamkeit hingegen ist begleitet von hoher antizipierter Angst. In dem Maße, in dem die wahrgenommene Wirksamkeit wächst, nimmt die Angst ab.116 Wenn auch oft nicht die äußeren Umstände geändert werden können, so kann der Glaube an die eigene Fähigkeit, Gefühle (z.B. Angst) kontrollieren zu können, helfen, das anzunehmen, was kommt. Angst ist die Manifestation einer spezifischen von Streß gezeichneten Bewertung. Veränderungen im Angsterleben zeigen an, daß Veränderungen in der Bewertung einer Person von sich und ihrer Umwelt stattfanden. Der Glaube an Kontrolle beeinflußt die Bewertung von Ereignissen und damit die entstehenden Emotionen und das Bewältigungsverhalten.

Existential beliefs Existential beliefs (Glaube an Gott, Schicksal, Naturordnung etc.) sind allgemeine Glaubenssysteme, die den Menschen befähigen, eine Meinung unabhängig vom Leben und schädlichen Erfahrungen zu bilden und dadurch Hoffnung zu bewahren. Existentielle Glaubenssysteme fuhren zu oder regulieren Emotionen, aber sind zunächst nicht selbst emotional. Sie werden es, wenn eine Begegnung auch eine Verpflichtung (commitment) zu einem Wert/Ideal/Person enthält." 7 Glaube wird emotional, wenn das Ich unmittelbar gefährdet ist, und damit auch das, was dem Ich wichtig ist. Glaubenssysteme stehen von daher in enger Verbindung zum Identitätskonzept eines Menschen. "Commitments and beliefs...can be brought together in a more general, overaching personality concept that many writers have called 'self." 1 1 8

3.1.3. Coping Das Bewältigungsverhalten (Coping), das zum Durchstehen von gefahrlichen und bedrohlichen Situationen nötig ist, kann sich in einem intrapsychischen Prozess

116

Dabei wird das Bewältigungsverhalten nicht allein von den gewachsenen Wirksamkeitserwartungen verursacht, sondern von der Wirkung, die diese Wirksamkeitserwartungen auf die bewertete Umweltbeziehung einer Person haben. 117 Z.B. wurde der religiöse Glaube bei KZ-Häftlingen emotional durch die Verpflichtung zum Leben-Wollen, Überleben-Wollen.

118

Lazarus/Folkman, Stress, 78.

43 (cognitive appraisal) oder in Form direkter Aktionen (Flucht, Vermeidung, Angriff) oder beidem äußern. Für ein gelingendes Coping sind vor allem positive Emotionen (Freude, Neugierde, Hoffnung) von Bedeuung." 9 Positive Emotionen sind keineswegs nur Ergebnisse von erfolgreicher Anpassung, sondern können ebenso wie negative Emotionen Signale für Coping sein. Sie können also Bewältigungsverhalten hervorrufen und unterstützen. Positive Emotionen stärken CopingVersuche und fuhren damit oft zu Erfolg, der wiederum neue positive Emotionen hervorruft. Sie dienen in dieser Funktion als breathers, sustainers und restorers. a) Positive Emotionen verschaffen Atempausen im Bewältigungsprozeß. Sie haben als solche breathers die Kraft der schöpferischen Pausen. Atempausen fördern das Coping und stärken die Effektivität der Anstrengungen zum Problemlösen. b) Die unterstützende Kraft von positiven Emotionen als sustainers zeigt sich vor allem in dem Erregtsein durch eine Herausforderung und dem Optimismus durch Hoffnung. Sie wirken sich mutmachend und vorantreibend auf das Bewältigungsverhalten aus. Herausforderung selbst ist Quelle von Freude, da es die Entwicklung von Fähigkeiten verspricht und das Vertrauen steigern kann. Zudem stellt sie das Erreichen bedeutungsvoller Belohnungen in Aussicht. Die Kraft der Bewältigung liegt hierbei in der eigenen Person. Hoffnung kann den Glauben an ein Gelingen von Coping gewährleisten, selbst wenn die eigenen Anstrengungen zur Bewältigung nicht ausreichen. Die Perspektive der Herausforderung und der Hoffnung kann die Motivation zur Fortfuhrung von Coping selbst in verzweifelten Situationen liefern. 120 Zwischen Hoffnung und Herausforderung kann insoweit unterschieden werden als der Herausgeforderte in der eigenen Kompetenz eine Chance zur Bewältigung sieht. Der Hoffende hingegen sieht diese Chance vor allem in der Hilfe von außen (Zufall, Wunder, Person). Bedrohung kann also nicht nur Quelle von Angst, sondern ebenso von Herausforderung oder Hoffnung sein. Bewertungsvorgänge und vorhandene Emotionen beeinflussen dies. c) Als restorers dienen positive Emotionen der Wiederherstellung verbrauchter Ressourcen. Sie können zur Neuorientierung und Wiederaufnahme von Initiative führen. Sie unterstützen damit insgesamt die Ausdauer bei der Lebensbewältigung.

Das Erleben von Freude oder Hoffnung wirkt sich auf das Einschätzen eigener Ressourcen zur Bewältigung und entsprechendem Bewältigungsverhalten aus. Dieser Zusammenhang konnte vor allem bei depressiven Menschen festgestellt werden, die sich als besonders unwirksam und hoffnungslos erleben. Das Gegenerleben von eigenem Wert und Kraft ist hier ausschlaggebend für erste Schritte aus der Depression. 120 Selbst bei schweren, lebenslang währenden Krankheiten wirken positive Emotionen in diesem Sinne oft heilfördemd.

44

So kann z.B.ein einsetzendes Gefühl von Hoffnung eine geschädigte Selbstwertschätzung neu beleben und stärken. Wachstum und Ich-Entwicklung sind oft Folge von erfolgreichem Coping, dann, wenn neue Initiativen in der Wiederherstellung alter Ressourcen entstehen. Zusammenfassung Die kognitive Angsttheorie berücksichtigt den Zusammenhang von persönlichen Faktoren und situativen Faktoren in seiner Bedeutung für die Entstehung und Bewältigung von Angst. So sieht sie den Menschen umfassend als ein kognitives, affektives, biologisches und soziales Wesen. Sie betrachtet Emotion nicht länger als ein der Kognition unterstehendes Phänomen. Angstbefähigung und -bewältigung sind Prozesse bestimmter Bewertungs-und Wahrnehmungsvorgänge (z.B. die eigene Kraft oder Hilfe anderer wird größer eingeschätzt als die Bedrohung; die Bedrohung wird nicht als Überforderung oder Zerstörung bewertet, sondern als Herausforderung; die Macht der Bedrohung wird relativiert oder als Ohnmacht erkannt). Diese Prozesse können verstärkt werden durch positive Emotionen, und sie können durch bestimmte Motivationen und einen Glauben, der die Kognitionen determiniert, gefördert werden. Gerade die Integration von Kognition, Emotion und Motivation sowie von Person und Umwelt macht diese Theorie für die Auswertung von Texten geeignet. Denn Texte können als verdichteter Ausdruck von Bewertungen und Emotionen verstanden werden.121

3.2. Zwei Ansätze aus der Sozialpsychologie 3.2.1. Das Stigmakonzept von E.GOFFMAN In seinem Buch 'Stigma' legt Goffman ein sozialpsychologisches Modell zur Beschreibung stigmatisierter Personen und zur Analyse ihres Verhaltens vor. Eine Voraussetzung, die Stigmatisierung möglich macht, sieht Goffman darin, daß die Gesellschaft " die Mittel zur Kategorisierung von Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man fur die Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet", schafft. 122 Die Antizipationen, die Individuen von Individuen haben, wandeln sich oft in normative Erwartungen und Anforde-

121

Vgl. 1 .Teil, 1.1.1.

122

Goffman, Stigma, 9f.

45 rangen. Ist ein Individuum "in unerwünschter Weise anders, als wir es antizipiert hatten",123 dann hat es ein Stigma. Stigma Stigma ist die "Situation des Individuums, das von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen ist" 124 aufgrund psychischer oder physischer Defekte,125 die eine Diskrepanz zwischen der virtualen und aktualen Identität eines Individuums hervorrufen. Stigmatisierung einer Person bedeutet zugleich eine Diskrimierung auf verschiedenen Ebenen, "durch die wir ihre Lebenschancen wirksam, wenn auch oft gedankenlos reduzieren".126 Insoweit kommt die Stigmatisierung einer Ideologie gleich, die die Inferiorität der betroffenen Individuen nachweisen will. Goffman erläutert, wie das stigmatisierte Individuum auf die Stigmatisierung und die daraus folgende mangelnde Akzeptanz reagiert.127 Die Reaktionen erstrecken sich von Versuchen, das Diskreditierende zu korrigieren, bis zu Sichverkriechen. Goffman unterscheidet zwischen der Position eines diskreditierten oder diskreditierbaren Individuums. Dies hängt damit zusammen, ob ein Stigma visibel ist und von den jeweiligen Interaktionspartnern gekannt wird, oder ob es nicht sichtbar und nicht bekannt ist. Stigmata beschädigen die soziale, persönliche und die Ich-Identität. Soziale Identität Soziale Identität bezieht sich auf die Erwartungen, Bedürfhisse und Antizipationen, denen das Individuum gegenwärtig in einem Interaktionsprozeß gegenübersteht. Dabei stellen diese Antizipationen 'Identitätsnormen' 128 dar, weil sie als recht-

123

124

Goffman, Stigma, 13. Goffman, Stigma, 7; vgl. auch 153f:"Die spezielle Situation des Stigmatisierten ist die,

daß die Gesellschaft ihm sagt, er sei ein Mitglied der weiteren Gruppe, was bedeutet, er sei ein normales menschliches Wesen, daß er aber auch in einem gewissen Grad 'anders' sei.... Diese Andersartigkeit selbst leitet sich natürlich von der Gesellschaft her, denn bevor eine Differenz viel ausmachen kann, muß sie für gewöhnlich durch die Gesellschaft als ganze kollektiv a u f einen Begriff gebracht sein." 125

Goffman, Stigma, 12f, nennt drei verschiedene Typen von Stigma: physische Deforma-

tionen, individuelle Charakterfehler, phylogenetische Stigmata. 126

Goffman, Stigma, 13f.

127

Vgl. Goffman, Stigma,

128

Vgl. Goffman, Stigma, 157f: "Die Normen jedoch, die in dieser Schrift abgehandelt

18-30

werden, betreffen Identität oder Sein und sind daher von einer speziellen Art. Versagen oder

46 mäßig verstandene Anforderungen gesehen werden. Der Begriff der sozialen Identität umfaßt persönliche Eigenschaften und strukturelle Merkmale (Berufsart). Goffman unterscheidet zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität. Die Forderungen, die 'im Effekt',d.h. nicht bewußt, aber beständig an ein Individuum herangetragen werden, bilden die Zuschreibung seiner virtualen sozialen Identität: "eine Zuschreibung, die in latenter Rückschau gemacht ist - eine Charakterisierung >im Effekte". "Die Kategorie und die Attribute, deren Besitz dem Individuum tatsächlich bewiesen werden konnte, werden wir seine aktuale soziale Identität nennen." 129 Persönliche Identität Persönliche Identität umfaßt die dem Individuum zugeschriebene Einzigartigkeit und Kontinuität. Sie könnte als Biographie bezeichnet werden. "Mit persönlicher Identität meine ich...positive Kennzeichen oder Identitätsaufhänger und die einzigartige Kombination von Daten der Lebensgeschichte, die mit Hilfe dieser Identitätsaufhänger an dem Individuum festgemacht wird." 130 Persönliche Identität ist für ihn keine ontologische Kategorie, die das Wesen der Person, sein Innerstes ausmacht, sondern ein relationaler Begriff, der eng mit sozialer Identität verknüpft ist. "Soziale und persönliche Identität sind zuallererst Teil der Interessen und Definitionen anderer Personen, hinsichtlich des Individuums, dessen Identität in Frage steht." 131 Mit Krappmann 132 können diese Begriffe als Kategorien fur die horizontale und zeitliche Ebene von Identität verstanden werden. Ich-Identität Ich-Identität meint "das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat

Erfolg beim Aufrechterhalten solcher Normen haben einen sehr direkten Effekt auf die psychologische Integrität des Individuums." 129

Goffinan, Stigma, 10.

130

Goffman, Stigma, 74

131

Goffinan, Stigma, 132

132

Krappmann, Soziologische Dimensionen, 75 und vgl. S.74: "Der Druck auf das Individuum durch die angesonnenen Identitäten geht jedoch in verschiedene Richtungen. Im Fall der >social identity< wird verlangt, sich den allgemeinen Erwartungen unterzuordnen, im Falle der >personal identity< dagegen, sich von allen anderen zu unterscheiden. Es wird also zugleich gefordert, so zu sein wie alle und so zu sein wie niemand. Auf beiden Dimensionen muß das Individuum balancieren ".

47 seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt". 133 Hiermit ist also das eigene, reflexive Empfinden gemeint im Gegensatz zum Zugeschriebenen, wie es in persönlicher und sozialer Identität vorliegt. Einfluß auf die Ich-Identität haben jedoch die 'In-Group'und Out-Group'-Beziehungen der betroffenen Person. Die eigene Gruppe und die Außenwelt haben verschiedene Angebote und Forderungen für das Individuum, wie es über sich denken sollte. Ich-Identität bewegt sich auf der realen, defekten Ebene, während Ich-Ideal ein Befreitsein vom Stigma antizipiert. Deutlich wird in dem Buch 'Stigma' auch der Zusammenhang von Identitätsbedrohung/verlust und Angst. Die Stigmatisierten können nicht mehr in Identität leben, denn sie bleiben hinter dem eigenen Ich-Ideal und den Normen der sozialen Umwelt zurück. Sie haben eigentlich zwei Identitäten, die, die sie von den 'Normalen' zugeschrieben bekommen, und ihre eigene reale, die defekte. Das stigmatisierte Individuum ist einem grundlegenden Widerspruch in sich ausgesetzt. Es bewertet sich als nicht anders als irgendein anderes Individuum, "während es zur gleichen Zeit als jemand, der abgesondert ist, definiert wird".134 Angst vor Isolierung, vor Nicht-Akzeptanz und Bloßstellung entsteht. Stigmamanagement Stigmatisierte müssen bestimmte Mechanismen im Umgang mit ihrem Stigma entwerfen, z.B. Informationskontrolle und Täuschen, um als normal angesehen zu werden, bzw. eine Scheinakzeptanz zu erlangen. Eine aufrichtige Akzeptierung gibt es nach Goffman selten oder nie.135 Diese Mechanismen der Geheimhaltung eines Defektes und des Täuschens bringen erneut Identitätskonflikte und Angst mit sich: Angst vor Erkanntwerden und Selbstverachtung und das Gefühl 'an der Leine zu leben'. Stigmamanagement ist somit nötig. Dieses hängt davon ab, ob die anderen das Individuum mit dem Stigma kennen oder nicht, ob sein Defekt bekannt ist oder nicht. Im Fall des Diskreditierten wird sich das Managen auf Spannungen in sozia-

133

134

135

Goffman, Stigma, 132 Goffman, Stigma, 136

Eine aufrichtige Akzeptierung gibt es nach Goffman selten oder nie. Vgl. Goffman, Stigma, 143-153: Goffman faßt hier die Erwartungen und Forderungen der 'Normalen 'an die Stigmatisierten zusammen, die alle darauf hinauslaufen, daß die 'Normalen'nicht überfordert werden im Kontakt mit ihnen, daß ihre Bemühungen anerkannt werden und nicht immer mehr verlangt wird, daß auf sie und ihre Gefühle und Grenzen eingegangen wird. Das "Aufrechterhalten von Scheinakzeptanz ist das, was zu akzeptieren von vielen bis zu einem gewissen Grad verlangt wird. Jede gegenseitige Anpassung und gegenseitige Billigung zwischen zwei Individuen kann fundamental erschwert werden, wenn einer der Partner das Angebot, das der andere zu machen scheint, vollständig akzeptiert."(153)

48 len Situationen beziehen, und im Fall des Diskreditierbaren auf die Information. Eine Folge des Managements ist die Aufteilung der Welt durch die soziale und persönliche Identität. "Diese Teilung der Welt des Individuums in verbotene, bürgerliche und abgesonderte Bereiche setzt den gängigen Preis fest für Enthüllen oder Verbergen und die Bedeutung von Bescheid-gewußt-werden oder nicht Bescheid-gewußt-werden, welche Informationsstrategie das Individuum auch immer wählen mag". 136 Es gibt demnach Orte, an denen sich Stigmatisierte sicher fühlen können, weil sie schon bekannt und unter ihresgleichen sind, dann gibt es Orte, die zu meiden sind, weil sie mit der Gefahr der Diskredition verbunden sind und weiter gibt es Orte, an denen das Individuum ziemlich 'sicher' sein kann, anonym bleiben zu können. Goffman zeigt im weiteren auf, daß Stigmamanagement im Grunde jeden Menschen betrifft und als ein allgemeiner Bestandteil der Gesellschaft gesehen werden kann, da jede Interaktion mit Identitätsnormen verbunden ist, die sich von einer Person nicht immer und nicht vollständig verwirklichen und erfüllen lassen, so daß jeder einmal in die Rolle des Abweichenden gerät. "Der Stigmatisierte und der Normale sind Teile voneinander....Denn der weitere soziale Rahmen und seine Insassen haben sich, indem sie den Individuen Identitäten unterstellten, seien es diskreditierbare oder nicht diskreditierbare, auf eine Art selbst kompromittiert; sie haben sich selbst zu Narren gemacht." 137 Es gibt also nicht eigentlich zwei verschiedene Personengruppen: Stigmatisierte und 'Normale', sondern nur zwei Perspektiven und zwei Rollen, die jeder spielen können muß, je nach Interaktionsprozeß. Es gibt also kein Stigma 'an sich' und keine Normalität 'an sich', sondern nur jeweils verschiedene Perspektiven, aus denen heraus Verhalten und Merkmale wahrgenommen und interpretiert werden. 138 Der Prozeß des Abweichens kann jedem/jeder widerfahren (z.B. in Bezug auf bestimmte Konventionen innerhalb einer Interaktion oder einem Schönheitsideal.) Allerdings ist das Ausmaß der daraus entstehenden Identitätsbedrohung durch Sanktionen und Einschränkungen doch sehr verschieden, ob nur von einer unbedeutenden Etikette oder ob von einer bestimmten Gesundheitsnorm abgewichen wird. Das Konzept von Goffman wurde von L.Krappmann in seine interaktionistischen Untersuchungen aufgenommen, da Stigmatisierung als Identitätsbedrohung nur

136

Goffman, Stigma, 106

137

Goffman, Stigma, 167

138

Ein z.B: körperbehinderter Mensch ist nicht schon deshalb stigmatisiert, weil er körperlich anders ist als andere, sondern weil sein körperliches Abweichen als nicht der Norm entsprechend antizipiert wird und weil er den Erwartungen, die an ihn herangetragen werden, nicht entsprechen kann.

49 innerhalb von Interaktionsprozessen betrachtet werden kann. Der Ansatz Krappmanns stellt eine sinnvolle Ergänzung zu den Ausführungen Goffmans dar. Es wird darin deutlich, daß Stigmatisierung die Identität des Stigmatisierenden und des Stigmatisierten bedroht, weil von Seiten des Stigmatisierenden wichtige identitätsbildende Faktoren wie Empathie oder Ambiguitätstoleranz nicht geleistet werden, und weil dem Stigmatisierten keine Akzeptanz geboten wird.

3.2.2. Das interaktionistische Identitätskonzept von L.Krappmann

139

Krappmann sieht Identitätsbildung als notwendige strukturelle Bedingung fiir die Teilnahme an Interaktionsprozessen, um eine sinnvolle, 'herrschaftsfreie' Interaktion zu ermöglichen. Identität ist also nicht eine Eigenschaft oder eine ein fiir alle mal festgelegte Substanz im Menschen, sondern eine strukturelle Notwendigkeit aller Kommunikation. 140 Krappmanns Ausführungen haben die Theorie des soziologischen Interaktionismus zum Hintergrund. 141 Hiernach werden soziale Prozesse und Interaktionen als offen und dynamisch angesehen. Der Interaktionismus "weist (...) nach, daß der Mensch in einer symbolischen Umwelt lebt. Alle Gegenstände, Strukturen, Personen und Verhaltensweisen erhalten durch gemeinsame Interpretationen soziale Bedeutungen ("meanings")". 1 4 2 Die Bildung von Identität ist eine j e neu zu erbringende Leistung in j e neuen Interaktionsprozessen, in denen eigene und fremde Erwartungen und Bedürfnisse aufeinanderstoßen und ausbalanciert werden müssen. Hierbei müssen nicht Anpassung und Unterordnung, sondern subjektive Interpretation und Rollendistanz geleistet werden. Ich-Identität ist demnach kein fester Besitz des Individuums, sondern j e neu zu bilden. Für Krappmann läßt sich Identität wie folgt beschreiben:

139

Vgl. Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität,

1978

140

Vgl. weiterführend Lillig, Identität durch Interaktion,

141

Krappmann, Soziologische Dimensionen, 2 0 :" Der soziologische Interaktionismus, der

1987.

sich auf die sozialen Beziehungen des Individuums in einer symbolischen Umwelt konzentriert, scheint in besonderer Weise geeignet, die Anregungen der Psychoanalyse für ein Konzept der Identität, die dem Individuum biographische Organisation, subjektive Interpretation diskrepanter Erwartungen sowie Autonomie gegenüber Zwängen ermöglicht, aufzugreifen." Diese Theorie geht von der Analyse von Alltagserfahrungen aus unter normalen Bedingungen (im Gegensatz zu Laborexperimenten). Sie sieht die Gesellschaft vorlaufend zum Individuum an. 142

Krappmann, Soziologische Dimensionen, 21

50 1. Sie ist eine Leistung des Individuums, die ihm das Interagieren und Kommunizieren ermöglicht. 2. Sie beinhaltet die Darstellung der eigenen Bedürfnisse und Erwartungen, die von der persönlichen Identität abhängen. 3. Sie umfaßt die Akzeptierung der Erwartungen und Bedürfhisse der anderen, allerdings mit der Möglichkeit zur subjektiven Interpretation. Die vier entscheidenden Faktoren zur Bildung von Identität sind: Rollendistanz 143 Hiermit ist das Vermögen angesprochen, gegenüber eigenen Rollen kritisch reflektierend und subjektiv interpretierend zu sein. Diese Fähigkeit hängt von der Rigidität der Normen und Erwartungen ab und von der Art der Internalisierung.144 Distanz von zugeschriebenen Rollen und deren subjektive Interpretation macht Konsistenz möglich und sichtbar. Konsistenz im Denken und Handeln ist für Interaktionsprozesse unabdingbar. Für Krappmann offenbart sich das "psychologische Verlangen, Konsistenz zu wahren...,als eine soziologische Notwendigkeit, Konsistenz und gerade auch problematische Konsistenz zu behaupten".145 Damit aber ist Rollendistanz "ein Korrelat der Bemühung um Ich-Identität."146 Empathie Sie betrifft die Fähigkeit, aus der Sicht der Interaktions-und Kommunikationspartnerinnen denken und handeln zu können. Von daher kann sie auch als Perspektivenwechsel bezeichnet werden. Dabei sollte eine "Identitätsbildung, die auf je neuer Interpretation von Verhältnissen und Erfahrungen beruht, das Individuum befähigen, auch Einstellungen wahrzunehmen, die für es - wenigstens zunächst nicht akzeptierbar erscheinen."147 Die Empathie befähigt demnach das Individuum - wie auch die Rollendistanz- zur Wahrnehmung und Artikulation von neuen, oft konträren Interaktionsinformationen. Ambiguitätstoleranz Mit diesem Begriff wird die Fähigkeit formuliert, Konflikte und Mehrdeutigkeiten von Situationen auszuhalten und sie subjektiv zu interpretieren. Ambiguitätstole-

143

Krappmann übernimmt diesen Begriff und auch weitgehend seine inhaltliche Bestimmung von Goffman. 144

Krappmann verweist hierbei auf den humanistischen Gewissenstyp, der bei hoher Internalisierung von Normen, die Möglichkeit zur kritischen Reflexion läßt. Vgl. ebd., 140f. 145

Krappmann, Soziologische Dimensionen, 120.

146

Krappmann, Soziologische Dimensionen, 138.

147

Krappmann, Soziologische Dimensionen, 143.

51 ranz ist wichtig, weil "Divergenzen und Inkompatibilitäten...Bestandteile jeglicher Interaktionsbeziehungen sind". 148 Dies beruht nicht zuletzt darauf, daß die Individuen versuchen müssen, in jeder Interaktion "eine Identität aufrechtzuerhalten und zu präsentieren, die ihre Besonderheit festhält". 149 Trotz gemeinsamer Kommunikationsbasis muß die Verschiedenheit der Bedürfnisse und Erwartungen zur Sprache kommen. Für Krappmann ist sie die wichtigste Konstante innerhalb der Identitätsbildung. Denn sie verhindert, sich ganz an Erwartungen anderer anzupassen (Verdrängung) oder nur die eigenen wahrzunehmen (Autoritarismus, Abbruch sozialer Beziehungen). Durch die Ambiguitätstoleranz werden diese Formen der Konfliktvermeidung unnötig, da sie "konfligierende Identifikationen" synthetisieren kann. 150 Identitätsdarstellung Damit Identität in Interaktionsprozessen wirksam wird, muß sie eingeführt werden. Das Individuum muß seine Identität artikulieren und vortragen. Dies ist Voraussetzung und Folge von Ich-Identität. Goffmann hat diesen Darstellungsprozeß mit einem Bühnenauftritt verglichen. Das Individuum muß wie ein Akteur im Theater seine Rollen für andere präsentieren. 151 In einer umfassenden Selbstdarstellung artikuliert das Individuum, daß es mehr ist, als die Situation zu erkennen gibt, und auch, was es 'mehr' ist. Durch Identitätsdarstellungen wird die Interaktion aktiv beeinflußt, denn die Interaktionspartner müssen bei ihrer Situationsinterpretation die eingebrachte Identität berücksichtigen.

148

Krappmann, Soziologische Dimensionen, 151

149

Krappmann, Soziologische Dimensionen, 151.

150

vgl. Krappmann, Soziologische Dimensionen, 167.

151

Vgl. Goffman, Wir alle spielen Theater, München 1969

52 3.3. Ein Ansatz aus der Tiefenpsychologie: Die Angsttheorie von F.RIEMANN Den Hintergrund der Theorie Riemanns bildet die Freudsche Angsttheorie, die bestimmend für alle weitere tiefenpsychologische Angstforschung war.152 Freud hat Angst triebtheoretisch erklärt. Er hat sie zum einen als Folge unterdrückter Triebregungen erklärt (1.Theorie) und zum anderen als Ursache von Triebregungen (2.Theorie). Er unterscheidet je nach Instanzenkonflikt zwischen Realangst, neurotischer Angst und Über-Ich-Angst (Strafangst). Die Realangst wirkt als Signal, eine dem Ich bekannte Gefahr auszuschalten. In der neurotischen Angst nimmt das Ich Reize der Es-Instanz wahr, die Angst auslösen. In der Über-Ich-Angst stehen Inhalte des Über-Ichs in Dissonanz zu Ichhandlungen-und gedanken. Stätte der Angst ist jeweils das Ich. Inhaltlich sieht Freud Angst primär von dem Erlebnis der Trennung bestimmt. Trennungsangst ist die primäre Angst, auf die sich andere Ängste zurückführen lassen. Sie wird erstmals bei der Geburt erlebt, spätere Trennungsängste sind Angst vor dem Verlust des Liebesobjektes und Angst vor Kastration. Auch Riemann 153 erschließt Grundformen von Angst, die die Matrix für weitere Ängste darstellen. Er sieht die Angst als ein Existential an. Deshalb kann es nie Angstfreiheit geben, sondern immer nur neue Siege über die Angst und neue Mittel, besser mit ihr umzugehen. Aber Angst gibt es nicht 'an sich'. Sie ist immer persönliche Angst. "Sie hat eine Entwicklungsgeschichte, die praktisch mit unserer Geburt beginnt." 154 Angst tritt in neuen Situationen auf, dort, wo Fremdes, Ungewohntes begegnet, wo neue Aufgaben zu bewältigen sind, wo Reifungsschritte anstehen. Immer "ist an einen Anfang oder vor ein erstmals zu Erfahrendes auch eine Angst gesetzt." 155 Riemann geht davon aus, daß es vier Grundformen der Angst gibt, und alle weiteren Ängste Varianten dieser Grundformen darstellen. Die Grundformen entwickelt er aus der Analogie zu den vier weltbestimmenden Impulsen: Revolution und Rotation, Schwerkraft und Fliehkraft. Der Mensch als

152

Vgl. Freud (1986), Hemmung, Symptom, Angst (Gesammelte Werke Bd 14, 1926), Frankfurt. 153

Riemann, Grundformen der Angst, 1985.

154

Riemann, Angst 9.

155

Riemann, Angst, 10.

53 Teil des Sonnensystems trage diese Impulse als unbewußte Triebkräfte und latente Forderungen in sich.156 Die vier Grundängste sind den Forderungen entsprechend: "Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt; Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt; Angst vor der Wandlung,als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt; Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt".157 Die Ängste sind dabei ebenso von den sozialen Umweltbedingungen wie von der persönlichen Biographie, dem eigenen Erbe abhängig. Zu früh und zu intensiv mit Angst konfrontiert zu sein, fuhrt zu Störungen im Gleichgewicht der Antinomien und zum Überhandnehmen einer der Ängste. Riemann entwickelt, ausgehend von den Angstgrundformen, vier Strukturtypen, denen bestimmte Persönlichkeiten entsprechen: der Schizoide, der Depressive, der Zwanghafte, der Hysterische. "Die hier gemeinten Persönlichkeitsstrukturen wollen als Teilaspekte eines ganzheitlichen Menschenbildes verstanden werden." 158 Den tiefenpsychologischen Hintergrund dieser Strukturtypen bildet die Neurosenlehre. Neurosen entstehen, wenn Konflikte zwischen den Strukturinstanzen (Ich, Es, Über-Ich) oder innerhalb einer Instanz nicht bearbeitet, sondern abgewehrt werden. "Wir können daher Neurosen als konfliktbedingte Erlebens-und Verhaltensstörungen bezeichnen, die psychogenetisch durch phasenspezifische Entwicklungsstörungen, Ängste und deren Abwehr bedingt sind, sich in Symptomen oder lediglich in Charakterverzerrungen äußern." Die vier Hauptneurosenstrukturen (schizoid, depressiv, zwanghaft, hysterisch) finden sich meist als Mischformen, weniger in idealtypischer Ausprägung vor.159 In der Therapie von Neurosen geht es um Ichstärkung durch Bewußtmachung von Verdrängtem, Stärkung der Konflikttoleranz sowie der Entfaltung umweltgestaltender Fähigkeiten. Da der zwanghafte und depressive Strukturtyp bei den Textauslegungen (2.Teil) von Interesse sein werden, sollen diese beiden Typen genauer betrachtet werden: a) Die Angst vor Vergänglichkeit und Unsicherheit findet sich vorwiegend bei zwanghaften Menschen, weil sie versuchen, die Angst vor Wandel, Unsicherheit, Unsauberkeit, Unordentlichkeit etc. durch bestimmte Zwänge zu binden (Zwang zur Pedanterie, zur beständigen Vergewisserung, zum Absichern, zur Sauberkeit und Ordentlichkeit). Der Angst vor Tod und Veränderung wird das Streben nach

156

Vgl.Riemann, Angst, 12.

157

Riemann, Angst, 15.

158

Riemann, Angst, 18.

159

Elhardt, Tiefenpsychologie, 114

54 Dauer und Sicherheit entgegengesetzt. Dies kann sich in einem gesteigerten Interesse am 'Alten' (Tradition und Geschichte), im Sammeln von Gütern und Wissen, in der Ablehnung jeglichen Risikos oder auch fälligen Entwicklungen, zeigen. Eine weitere "Möglichkeit, sich aus dem lebendigen Fluß des Geschehens herauszunehmen, ist das Zaudern, Zögern und Zweifeln." 160 Nach Riemann läßt sich diese Angst auf übermäßige Zwänge und Forderungen in der Kindheit zurückfuhren (z.B. rigide Sauberkeitserziehung). b) Die Angst vor Selbständigkeit und Selbstwerdung äußert sich in einem depressiven Erleben und Verhalten. Der depressive Mensch braucht die symbiotische Nähe, weil (jegliche) Trennung und Distanz Angst vor Verlassenwerden und Ungeborgenheit in ihm auslösen. Er meidet die eigene Individuation aus Verlustangst. Depression wird in der psychoanalytischen Literatur meist als Zustand der Hilf-und Hoffnungslosigkeit beschrieben. "Hilflose Entmutigung und Abhängigkeit, Rückzug von expansiven und prospektiven Aktivitäten, anklammernde Suche nach Geborgenheit im Du, Angst vor Alleingelassenwerden" 161 sind vorherrschend. Der Antrieb ist gehemmt, "d.h. keine Initiative, kein Schwung, gelähmt, gebunden, entscheidungsunfahig, Nichtwollenkönnen." 162 Es wird zwischen endogener und reaktiver Depression unterschieden. Endogene Depressionen haben meist unbekannte Ursachen (auch Vererbung möglich) im 'Inneren' des Menschen und verlaufen häufig zyklisch (manisch-depressiv). Reaktive Depressionen "entstehen aufgrund von äußeren Ereignissen, wobei es sich meist um Verlusterlebnisse handelt, wie z.B: Tod einer nahestehenden Person." 163 Verlust-und Trennungserlebnisse bewirken bei Menschen mit entsprechender Sensibilisierung und biographischem Hintergrund Angst vor Einsamkeit und Eigenverantwortung, die depressiv abgewehrt wird (Regression, Apathie). Von daher wird therapeutisch zunächst die Wahrnehumg eigener Stärken und Eigenschaften angestrebt. Das "Sich- Wahrnehmen" soll das "Sich-Wahrmachen" fördern.164

160

Riemann, Angst, 110

161

Elhardt, Tiefenpsychologie 122. Vgl. Dörner/Plog, Irren, 50-79; Schwarzer, Angst, 160184; Wildlöcher, Die Depression, 1986

162

Dörner/Plog, Irren, 51

163

Schwarzer, Angst, 161.

164

Vgl. Dörner/Plog, Irren, 74.

55 3.4. Das Identitätskonzept von E.ERIKSON

165

Erikson definiert Identität als 'IdentitätsgefiihF, als subjektives Erleben eigener Gleichheit und Kontinuität. Es ist ihm eine 'Qualität menschlichen Seins': Sie zeigt sich in der Erfahrung der Integration verschiedener Selbst-und Rollenbilder, in dem Gefühl von Einheit und Kontinuität der eigenen Existenz. Identität ist immer 'psychosoziale Identität', da sich der Mensch als Beziehungswesen immer aus dem Gegenüber zu anderen empfangt. Das Finden der psychosozialen Identität verläuft auf drei Ebenen: der somatischen, individuell-psychischen und sozialen. Die jeweilige historische Periode stellt Modelle, Rollen und Leitbilder als Angebot zur Identifizierung zur Verfugung. Identität wird durch das Bewußtwerden von Verlust und Zerbrechen erfahren (Wachstum durch Krise). Im Identitätsprozeß wird jeder Eintritt in eine neue Lebensphase zur Krise, in der unter je speziellen Bedingungen Selbstgleichheit durch Selektion und Integration bestehender und neuer Identifikationen geleistet werden muß. Jede Krise ist eine Phase erhöhten Konflikts und erhöhter Verletzlichkeit. Erikson versteht Wachstum im Sinn eines 'epigenetischen Prinzips'. Dieses zeigt anhand der Krisen eine fortschreitende Differenzierung von Bestandteilen der Identität in der Zeit. Dabei sind die richtige Reihenfolge der Krisen und ihr erfolgreiches Bestehen entscheidend für den Identitätsprozeß. Der soziale Aspekt der Epigenese ist gekennzeichnet durch die wachsende Bereitschaft des Menschen, sich ein erweitertes soziales Lebensfeld zu erschließen und zu ihm in wechselseitige Beziehung zu treten. Im epigenetischen Prinzip geht es bei der Lösung jeder spezifischen Krise um ein relatives Gleichgewicht, das der Mensch innerhalb des vorgesehenen Zeitraumes erlangen kann, und das als günstige Ausgangsbasis für den weiteren Verlauf dient. Insgesamt umfaßt sein Modell acht Entwicklungsphasen. Jede ist von bestimmten psychosozialen Krisen, Beziehungspersonen, Elementen der Sozialordnung, psychosozialen Modalitäten und psychosexuellen Phasen geprägt. Die acht psychosozialen Krisen vom Säuglingsalter bis zum reifen Erwachsenenalter sind: Urvertrauen gegen Mißtrauen; Autonomie gegen Scham/Zweifel; Initiative gegen Schuldgefühl; Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl; Identität gegen Identitätsdiffusion, Intimität gegen Isolierung, Generativität gegen Selbstabsorption; Integrität gegen Lebens-Ekel. 166

165

Vgl. Identität und Lebenszyklus, 1989 (11.Aufl.); Jugend und Krise, 1981; Lebensgeschichte und historischer Augenblick, 1982. Sein Konzept kann eher als integratives, denn als rein psychoanalytisches beschrieben werden, da es auch sozialpsychologische Methoden und Perspektiven beinhaltet. 166

Der heuristische Wert dieses Entwicklungsschemas darf nicht vergessen werden. Mit

56 III. Exegetische Überlegungen zum Markusevangelium in Auswahl Vorgestellt werden einige Ansätze aus der Markusforschung, die für diese Arbeit als Anknüpfungspunkte von Bedeutung sind.167

1. E.STEGEMANN, Das Markusevangelium als Ruf in die Nachfolge." 168 Stegemann erkennt die Intention des MkEv darin, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten. Die Gegenwart könne noch nicht als Heilszeit verstanden werden, in der kein Leid mehr nötig und das Reich Gottes schon vollendet sei. Wie Jesu Weg ins Martyrium führen mußte, so müssten die Leserinnen des MkEv ihr eigenes Martyrium als Konsequenz ihrer Nachfolge begreifen lernen. Der Darlegung dieser Intention diene die Theologie des Evangeliums. Die Gleichsetzung des erhöhten Messias mit dem leidenden, irdischen Jesus und das Messiasgeheimnis (Schweigegebot) wollen die Notwendigkeit des Leidens verdeutlichen. "Es ist schon längst gesehen worden, daß der Evangelist durch die Darstellung der Geschichte Jesu als eines Weges von Galiläa nach Jerusalem dem enthusiastischen Gefalle seiner Tradition eine Gegenbewegung aufgezwungen hat, deren Duktus antithetisch auf die Passion und den Märtyrertod des Gottessohnes zielt...Dabei wird vor allem in der Auseinandersetzung Jesu mit den Jüngern und deren theologischer Position diese Logik der eschatologischen Heilsgeschichte mit den Konsequenzen für die Zeugen Gottes dargestellt." 169 Stegemann stellt zu Recht fest, daß das MkEv nicht nur dogmatisch-theologischem Interesse entsprungen ist, sondern daß Markus "das in Jesu Weg abgebildete

Anselm bleibt kritisch anzumerken, daß die sozial bedingten Konflikte des Individuums in dieser Theorie zu kurz kommen: "Scheinbar Gebrochenheit und Widerstrebendes versöhnend, das seine Ursachen in der gesellschaftlichen vermittelten Beziehung von Subjekt und Objekt hat, wird er (Erikson, Anm. der Verfasserin) gerade zum Indiz fiir Individualität in den Sozialisationstheorien, die keine Gesellschaftstheorie haben und Reifung zu einem natürlichen, auf sich selbst begründeten Prozeß deklarieren. Der Widerspruch, einen balancierenden Identitätsbegriff zu meinen und doch einen starren SubjektbegrifF zu haben, durchzieht die ganze Theorie von Erikson." (Anselm, Angst, 197.) 167

Für eine ausführliche Forschungsgeschichte sei auf E.Stegemann, Nachfolge, 1-64, verwiesen. 168

Vgl. E.Stegemann, Das Markusevangelium als Ruf in die Nachfolge, Heidelberg 1974.

169

Stegemann, Nachfolge, 276f.

57 Offenbarungsgeschehen hinsichtlich seiner aktuellen Relevanz fur die Gemeinde"170 relevant machen will. Er wolle aufzeigen, wie rechte Nachfolge (Ekklesiologie) unter gegenwärtigen Bedingungen zu leben ist. Nur in der Leidensnachfolge entsprechen die Leserinnen Jesu Ruf in die Nachfolge. Aber in der Interpretation Stegemanns wird zu wenig deutlich, wie der Mk-Evangelist zu diesem Weg motiviert. Geschieht Orientierung und Wegweisung nur über die negative Schilderung des Jüngerverhaltens (Unverständnis), über die Verhüllung der Macht Jesu im Schweigegebot? Demnach wäre das MkEv wieder nur eine verlängerte Einleitung zur Passion (Kähler). Stegemanns christologische Herausarbeitung des Weges Jesu als Martyrium, das der Motivation dienen soll, bedarf einer genaueren Untersuchung, ebenso die Dimension des Leidens innerhalb der Nachfolge.

2. D.LÜHRMANN, Biographie des Gerechten als Evangelium

171

Lührmann weist darauf hin, daß Markus Jesu Weg und Leben von Anfang an in prophetischer Tradition deutet. Zugleich beschreibe er durch die Verwendung seiner christologischen Titel, daß Jesus mehr ist als ein Prophet: Er ist der exemplarisch Leidende, wie der Titel des Sohnes Gottes zu erkennen gibt. Er ist der Gesalbte Gottes ('Christus'), Leidender und Erhöhter zugleich (Menschensohn). Lührmann plädiert bei der form-und traditionsgeschichtlichen Einordnung des Evangeliums für den Begriff Biographie, da Markus "in einer chronologischen Reihenfolge geordnet ein(en) Ablauf des Lebens Jesu von seinem ersten Auftreten bis zu seinem Tod und seinem Begräbnis" wiedergebe.' 72 Der typische Weg des

170

Stegemann, Nachfolge, 229.

171

Vgl. den gleichnamigen Aufsatz in: Wort und Dienst, Bd 14, 1977, 25-50 und Lührmann, Das Markusevangelium, 1987. 172

Lührmann, Biographie, 36. Dabei versteht Lührmann den Begriff Biographie nicht im modernen wissenschaftlichen Sinne, der das Besondere einer Einzelpersönlichkeit und deren Entwicklung festhalten will. Vielmehr liege bei der Darstellung des Markus das Interesse auf dem Typischen. Aber weniger ein chronologischer Ablauf, wie Lührmann annimmt, sondern Merkmale, auf die H.Cancik, Die Gattung Evangelium, 94ff hinweist, sind für die Ähnlichkeiten zwischen der antiken Biographieschreibung und dem Markusevangelium verantwortlich. Im Gegensatz zur Geschichtsschreibung ist sie gerade nicht an einer Chronologie und vollständigen Wiedergabe der Persönlichkeitsentwicklung interessiert, sondern will das Verhalten einer Person und seine Wirkung auf Leser beschreiben. "Die antiken Biographien haben sich meist ein pädagogisches Ziel gesetzt... Die Lehre wird nicht als scholastische Stubenweisheit entwickelt, sondern als Werbung (Protreptik, Propa-

58 leidenden Gerechten werde im Evangelium als der Verkündigung dieses Gerechten vom Reich Gottes abgebildet. Diese Form solle zur Identifikation mit dem 'Helden' motivieren. Dem "Leser ist angeboten, seine eigene Geschichte zu bergen in die Geschichte Jesu als die typische Geschichte des Gerechten, um über solche Identifizierung eigene Identität zu gewinnen."173 Dies sei für die mkn Gemeinde äußerst wichtig, da ihre Gegenwart von falschen Propheten und Irrlehrern bedroht ist, und falsche Deutungen der Zeit als Endzeit die Menschen verfuhren. Markus wolle zum einen die Gegenwart der Gemeinde deuten, zum anderen durch das Identifizierungsangebot mit dem leidenden Gerechten Ermutigung und Stärkung bieten. Es wird in dieser Arbeit versucht, Lührmanns These der Identitätsgewinnung durch Identifikation genauer zu betrachten und auszuführen. Der Ansatz Lührmanns verdeutlicht, daß keineswegs nur die Jünger als Identifikationsangebot für die Leserinnen zu sehen sind, sondern auch die Rolle Jesu. Er schärft den Blick für die konstruktive Leistung des Markus: Dieser hat nicht nur ins Leiden hineingerufen, sondern zugleich zu diesem schweren Weg Motivation im umfassenden Ausmaß geboten.

3. Interpretationen des Evangeliums als kohärenter Text Es wird in dieser Arbeit dafür plädiert, Markus als einen Erzähler zu verstehen und nicht nur als Sammler, Tradent und/oder Redaktor. Denn der Begriff Erzählung impliziert eine eigene Absicht, eine Kommunikation zwischen Erzähler und Leserinnen durch den Text. Er impliziert, daß der Autor mit bestimmten Wertvorstellungen und Perspektiven deutend und interpretierend erzählt, weil er eine bestimmte Wirkung erzielen will. In der Forschung zum MkEv finden sich einige

ganda, Mission) auf den Stationen einer Reise. Dabei ereignen sich Zeichen, Wunder und Bekehrungen. Der Tod - nicht selten ein Martyrium - gilt besonders der römischen Biographie als Stunde der Bewährung;" (96). Cancik sieht, wie Lührmann, im Mkev eine Verbindung von Prophetenbuch und antiker Biographie. Interessant ist sein Vergleich des Evangeliums mit dem 2.Makkabäerbuch, das als mögliche Vorlage für Markus fungiert haben könne, an der Markus seine Erzähltechnik schulen konnte. In dem von Cancik herausgegebenen Sammelband, "Markusphilologie", werden weitere Vorschläge zur formgeschichtlichen Bestimmung des Evangeliums geliefert: Ebenfalls im Vergleich mit der antiken hellenistischen Literatur verweist M.Reiser auf die Nähe des Markusevangeliums zum Alexanderroman (131-161). Hingegen ordnet Zuntz, Ein Heide las das Evangelium, 205-222, das Evangelium der griechischen Tragödie zu und bezeichnet Markus als "christlichen Aischylos" (222). 173

Lührmann, Biographie, 44.

59 Ansätze, in denen aufgrund rhetorischer und systematischer Gesichtspunkte, Markus als ein Erzähler und sein Evangelium als kohärenter Text verstanden wird: N.PETERSEN legt dar, daß Markus durchgehende Perspektiven (auf der Ebene der Ideologie, Phraseologie, Raum-Zeit-Charakteristik, Psychologie) bei seinen Erzählungen verwende, die das Evangelium als systematisch und rhetorisch einheitlich ausweisen. 1 7 4 TANNEHILL sieht die Einheitlichkeit durch die Erzählfigur der Jünger gewährleistet.' 75 Der Autor vermittle über den Modus der Jüngerdarstellung seine Wertvorstellungen und Normen. Er kommuniziere über die Jünger mit seinen Lesern. "Im ersten Abschnitt fuhrt die positive Beurteilung der Jünger zur anfänglichen Identifikation. Im weiteren Verlauf des Evangeliums fuhrt die Ähnlichkeit zwischen den Problemen, denen sich die ursprünglichen Leser des Evangeliums ...gegenübersahen, zur Identifikation. Aber in dem Maße, wie die Unzulänglichkeiten der Jünger in der Jesusnachfolge zunehmend deutlich werden, muß sich der Leser von den Jüngern distanzieren und einen neuen Weg suchen." 176 Dieser neue Weg werde den Leserinnen durch die Darstellung Jesu gegeben. 177

174 Vgl. Petersen, Die "Perspektive", 69ff. Als Merkmale der Einheitlichkeit nennt er: Stimme des Erzählers in der dritten Person; "Stillschweigende Gegenwart als unsichtbarer Beobachter der von ihm geschilderten Szene, seine Fähigkeit - die er nur mit der Figur 'Jesus'teilt-, Denkprozesse und Motivationen seiner Figuren zu verstehen, und die implizite Identifizierung seiner eigenen Perspektive mit der seiner Hauptfigur, 'Jesus'." (69)

175

Tannehill, Die Jünger im Markusevangelium, 37-66.

176

Tannehill, Die Jünger im Markusevangelium, 52.

177

Der Beitrag von H.J.Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 1982, unterstreicht die These Tannehills. Die Jünger dienen dem Erzähler als Mittel der Paränese: Die Leser sollen lernen, sich selbst als Jünger mit den Augen Jesu zu sehen. Diese paränetische Auslegung Klaucks wird auch von Reploh, E.Stegemann, Lührmann u.a. vertreten. Daneben findet sich vor allem bei Roloff (Geschichtsdarstellung 295-299) eine historisierende Auslegung. Die Jünger seien das "Gegenbild" zur nunmehr bekennenden Kirche des Markus. Denn die Erschließung des Geheimnisses Jesu sei erst nach dessen Tod und Auferstehung möglich gewesen. Eine polemische Auslegung vertritt T.J.Weeden (Traditions in Conflict). Er versteht die Darstellung der Jünger als Karikatur der theologischen Gegner des Markus. Dieser versuche so, seine Gegner, die eine '3eiog-avr|p-Theologie' vertreten, zu desavouieren und seine eigene theologia crucis dagegenzustellen. Gemeinsam ist den verschiedenen Auslegungen, daß sie die Jüngerthematik als durchlaufenden Geschehenszusammenhang begreifen, der der Kommunikation des Markus mit seinen Leserinnen dienen soll.

60 Ch.BREYTENBACH178 versteht das MkEv als "episodische Erzählung", da episodenhaft ein globales Gesamtthema entfaltet werde. Auf verschiedenen Erzählebenen (Erzählkommentar, erzählerische Darstellung) und verschieden detailliert werde durch die Zukunftserwartung, die auf das Kommen des Menschensohnes gerichtet ist, zur Nachfolge motiviert und zum Aushalten in der Gegenwart. Die Zukunftserwartung deute das Vergangene der Leser.179

4. E. DREWERMANN, Das Markusevangelium180 - Bilder von Erlösung Nach Drewermann bezeugt das MkEv die Beschreibung der Welt und des Menschen, wie sie die jahwistische Urgeschichte liefere: Das Leben aller Menschen sei von Angst bestimmt. Der Kampf aller gegen alle und das Böse beherrschen die Menschen aufgrund von Angst.181 "Es ist nun gerade dieses Bild einer äußersten Aussichtslosigkeit und Erlösungsbedürftigkeit, das auch das Markus-Evangelium sich vollständig zu eigen macht. Auch für Markus ist diese Welt ganz und gar der Macht des Bösen ausgeliefert..."182 In seiner tiefenpsychologischen Auslegung deutet er die mkn Erzählungen als Ausdruck der psychischen Wirklichkeit auch heutiger Leserinnen. Die Kreuzigung z.B.sei ein "Psychodrama der Heilung" und als "symbolisch-stellvertretende Durcharbeitung der verdrängten Gefühle von Haß, Zerstörung und Rache" zu verstehen.183 Er betont, daß "nur" in diesem Sinne die mkn Aufrufe zur Leidensnachfolge und zur Notwendigkeit des Kreuzes verstanden werden können. "Nur" in Analogie zur Durcharbeitung schwerster Angst-und

178

Vgl. Breytenbach, Das Markusevangelium als episodische Erzählung, 137-171

179 Zwick, Montage im Markusevangelium, 1989, widerspricht einer Einheitlichkeit auf zeitlicher, räumlicher und thematischer Ebene. Vielmehr sei über die Montagetechnik des Evangeliums der Erzähler Markus und seine Intention zu erfassen. Er vergleicht Markus mit einem filmischen Erzähler, der durch räumliche "Perspektivierung und Montage der Perspektivensegmente" (620) seine Leser überzeugen und werben wolle. Die Form des Evangeliums sei dabei so neu und revolutionär wie sein Inhalt und nicht mit religionsgeschichtlichen Vergleichen erklärbar.

180

Drewermann, Das Markusevangelium, 2 Bde, 4.Aufl., Freiburg 1989.

181

Vgl. Drewermann, MkEv 1, 22f.25f.u.ö.

182

Drewermann, MkEv 1, 27f.

183

Drewermann, MkEv 1, 71.

61 Schuldgefühle könnten diese Worte erfaßt werden. 184 Erlöst werde der Mensch "nur", wenn er sich diesem Jesus anvertraut, der alle Angst besiegt hat. Dies würde in den mkn Wundererzählungen besonders deutlich, die den Kampf Jesu gegen das Böse und die individuelle Befreiung des Menschen erzählen würden. "In der Person Jesus schildert Markus vielmehr, wie die Angst im Hintergrund aller menschlichen Krankheit, "Besessenheit" und Selbstverfehlung durch einen Glauben überwunden wird, innerhalb dessen der Mensch Gott allererst als seinen Vater wiederzuerkennen vermag...". 185 Das MkEv sei deshalb als Erlösungsgeschichte zu lesen.

184

Drewermann, MkEv 1, 78.

185

Drewermann, MkEv 1, 36.

62 2 . TEIL: INTERPRETATION DES A N G S T - UND IDENTITÄTSERLEBENS IN EXEMPLARISCHEN TEXTEN DES M A R K U S EVANGELIUMS

I. Begriffe der Angst im Gesamttext 1. Sichtung Innerhalb des MkEv finden sich unterschiedliche Begriffe, die je verschiedene Nuancen von Angsterleben zur Sprache bringen. Von Interesse sind alle Formulierungen, die Angst, Furcht, Schrecken, Entsetzen, Traurigkeit und Mutlosigkeit zum Ausdruck bringen. Am häufigsten (13 mal) werden Formen von φοβούμαι (Angst haben, furchten, erschrecken) verwandt. Formen von έχΰαμβέω (erschrecken, sich entsetzen) finden sich sechsmal und von έχπλήσσομau (außer sich geraten, betäubt sein vor Schreck) fünfmal. Je dreimal werden Formen von έζίστημι1 (außer sich geraten, sich entsetzen, verwirren) und λνπεϊσΰαι (traurig, betrübt sein) benutzt. Daneben sind noch die Begriffe άόημονέίν (Angst haben), ταράσσω (in Aufregung/Unruhe bringen, in Schrecken/Bestürzung geraten), ϋροέω (erschreckt werden, sich in Schrecken setzen lassen), δειλός (feige, verzagt) πεπωρωμένος (verhärtet) und τρόμος (Zittern) zu erwähnen. Es zeigt sich eine Konzentration der Begriffe im Zusammenhang mit Wundergeschichten, dem Passionsbericht, dem Ruf in die Leidensnachfolge und Berichten von den Gegnern Jesu.

2. Strukturierung Angst und Entsetzen in den Wundergeschichten a) Die Reaktion auf die Vollmacht Jesu, die in seinem Reden und Handeln erfahrbar ist, wird mit Formen von έχλήσσομαι (1,22; 6,2; 7,37; 11,18), εξίστημι2

' In 3,21 findet sich die Form ein viertes Mal. Die Verwandten Jesu bezeichnen ihn als einen, der von Sinnen ist. Der Begriff ist hier nicht Ausdruck von Angst. 2

Vgl.Lattke, Α ι ΐ ΐ κ σ τ α σ ι ς , EWNT 1026: "Mk 5,24 sind Vb und Subst. zur figura etymologica verbunden...im Anklang an LXX-Sprache (Gen 27,33; Ez 26,26; 27,35; 32,10)". Für die Übersetzung von Verb und Substantiv legt sich bei Markus und im Neuen Testament insgesamt die Bedeutung 'Entsetzen', 'sich erschrecken' nahe, nicht die Bedeutung Ekstase/in Ekstase sein, die vor allem im Zusammenhang mit der frühen Prophetie bestimmend war (lSam 10,5ff; 19,20ff), wenngleich bei beidem (Entsetzen und Entzücken) das Ein-

63 (2,12; 5,42; 6,51) έχΰαμβέω3 (1,27; 9,15)) und φοβούμαι (4,41; 5,15.33: ergänzt durch τρέμουσα4; 9,6) wiedergegeben. Mit diesen Begriffen wird eine für Wundergeschichten typische Reaktion beschrieben, die als Ehrfurcht, Staunen vor dem Göttlichen, das in die Welt erfahrbar einbricht, gedeutet werden kann. 5 Diese Epiphaniefurcht ist nicht nur typisches Formmerkmal oder Furcht vor der Epiphanie 'an sich', sondern läßt sich zweifach konkretisieren: Erfahrungen von Veränderungen der Wirklichkeit durch Jesu Macht erzeugen Angst, weil sie neu, unkontrollierbar und den Alltagserfahrungen zuwiderlaufend sind. Zudem können die (Heraus)Forderungen, die sich aus den Wundererfahrungen ergeben, Angst machen: Die Jünger sind durch die Sturmstillung gefordert, intensiver zu glauben und zu vertrauen. Die blutflüssige Frau ist durch die wunderbare Heilung gefordert, sich zu erkennen zu geben und sich öffentlich zu machen. Die Menschen, die seine Worte hören, sind gefordert, das Gehörte zu glauben und sich darauf einzulassen. b) Nichtzuletzt sind die Angstbegriffe Zeichen konkreter Not und Bedrohung, der die Menschen ausgesetzt sind. Im Markusevangelium findet sich vielfältig die Artikulation konkreter Alltagsangst (Bedrohungen des Lebens durch Naturereignis-

wirken göttlicher Macht ausschlaggebend ist. Vgl. Mundle, Art., Ι κ σ τ α σ ι ς TBLNT, 220222 3

Vgl. Grimm, W„ Art. 9 α μ β ε ω , EWNT II, 317-319. Grimm erkennt als theologischen Hintergrund dieses Wortes die alttestamentliche Theophanietradition und verweist auch auf die ähnliche Verwendung im klassischen Griechisch (Polyb XX 10,9). 4

"Mit Furcht und Zittern" ist formelhafter Ausdruck, der im Alten Testament und alttestamentlichen Apokryphen seinen Sitz im Leben vor allem im Kriegsgeschehen und kriegerischen Zuständen hat. Bei Paulus (IKor 2,3; 2Kor 7,15; Eph 6,5; Phil 2,120 steht die Wendung im Kontext der ethischen Motivation. Vgl. Glombitza,0., Mit Furcht und Zittern, 11-106; Pedersen,S., "Mit Furcht und Zittern", 1-31, die diese Formel in Phil 2,12-13 untersuchen und zu dem Schluß kommen, daß die Wendung synonym zum Gehorsamsein gegenüber dem Willen Gottes zu betrachten sei. So auch Berger, Historische Psychologie, 169171: "Furcht und Zittern werden jedenfalls im Umkreis des Paulus in soziales Handeln verwandelt oder sind die Basis für solches" (171). Vgl. zur Deutung der Angst bei der Verklärung 3.Teil II.2. und III.2. 5

Vgl. Balz, Art. φοβεω, ThWNT 9, 205ff. Die Bedeutung von Angst im Sinne von Epiphaniefrucht läßt sich weit zurückverfolgen, sowohl im hellenistischen wie alttestamentlichen Bereich als Reaktion auf den Einbruch und das Erlebnis göttlicher Macht und Heiligkeit. Vgl. auch A.Dihle; J.H.Waszink; W.Mundle, Art. Furcht (Gottes), RAC VIII, 661-699.

64 se, Krankheit, Verarmung, Verfolgung), wie auch die folgenden Sinnzusammenhänge demonstrieren. 6 c) Die Ursache der Angst, die sich in manchen Wundergeschichten zeigt, wird in mangelndem Glauben, Feigheit und verhärtetem Herzen gesehen. Die Jünger bei der Sturmstillung in 4,40 werden als δειλοί bezeichnet, und in 6,52 wird als Grund ihres Erschreckens ihr verhärtetes Herz ( κ α ρ δ ί α πεπωρωμενη) angeführt. Der Vorwurf wird in 8,17 wiederholt.'Herzverhärtung' ist gleichbedeutend mit Mutlosigkeit und Unverständnis und damit Ausdruck von Angst. 7 Dem Synagogenvorsteher, dessen Tochter im Sterben liegt, wird gesagt: μη φοβοΰ, μόνον πίστευε ('Fürchte dich nicht, glaube nur, 5,36), und den Jüngern, die nachts allein auf dem See Angst vor dem Ertrinken und vor der unbekannten Gestalt Jesu haben: ΰαρσεΐτε μη φοβεΧσϋε (Seid guten Mutes, fürchtet euch nicht, 6,50).8 Bezeichnend ist, daß diese formelhafte Wendung des 'furchte nicht' bei Markus stets verbunden ist mit einer Aufforderung zu Glaube oder Mut. Sie kann von daher nicht nur als typische Beruhigungsformel innerhalb von Epiphanieszenen bestimmt werden, sondern auch als Korrektiv furchtsamer Reaktionen auf das Erleben der Macht Gottes. Mut und Glaube erscheinen durchgehend konträr zur Angst. Angst im Zusammenhang

mit der

Leidensnachfolge

a) Die Leidensweissagungen werden von den Jüngern nicht oder mißverstanden. In 9,32 wird deutlich, daß sie Angst haben, sich mit dem Leidensweg Jesu auseinanderzusetzen und nachzufragen: 'έφοβοΰντο (sie hatten Angst,) ihn zu fragen'. Die ihm Nachfolgenden haben Angst (έϋαμβοΰντο, Ιφοβουντο, 10,32) auf dem Weg nach Jerusalem. Grund dafür ist nicht ein Epiphanieerlebnis, wie Balz9 6

Auch im Alten Testament dienen vor allem Formen von φοβεω der Artikulation konkreter Bedrohung des Lebens (vgl. Gn 31,31; l S a m 17,11; Jon 1,5; Dtn 1,19). Vgl. Balz, Αιΐ.φοβεω, ThWNT 9, 196f

7

Vgl. Becker,U., Osterwald, Art. σ κ λ η ρ ό ς , TBLNT II/l, 631-633. Auch bei Plutarch findet sich die Gegenüberstellung von Angst und Unvernunft/Mutlosigkeit: Nur bei den Unvernünftigen könne Furcht entstehen, bei den Vernünftigen hingegen Mut (Aud Peot 12, II 34a). Vgl. Balz, Art. φοβεω, ThWNT 9,13 8

Die Formel 'furchte dich nicht' findet sich häufig im AT und hat hier ihren Sitz im Leben im alltäglichen Leben (Ri 4,18), im Heilsorakel (Jes 41,10.13f) oder in Theophanieschilderungen (Ex 20,20). Vgl. Wanke, Αιΐ.φοβεω, ThWNT 9, 199 Vgl. Balz, Α η , φ ο β ε ο μ α ι , E W N T III, 1028-1031 9

Balz, Α ι ΐ . 9 α μ β ε ω , E W N T II, 318: "θ. meint hier ein Schaudern derer, die in der sich nun

65 annimmt, sondern die 'Beschaffenheit' des Weges als Leidensweg, der profane Angst hervorruft: Die Konsequenzen der Leidensnachfolge wurden ihnen in den vorangehenden Kapiteln deutlich gemacht (Herrschafts-und Reichtumsverzicht), sie werden im folgenden (10,33-45) konkretisiert und bekräfigt. Die Leidensnachfolge konfrontiert mit neuen Ängsten, da sie Konfliktfahigkeit und Risikobereitschaft impliziert. In der Belehrung über Nachfolge und Besitz/Reichtum kommt das Entsetzen der Jünger zum Ausdruck (10,24.26: sie sind erschrocken und entsetzt über die Worte Jesu) 10 . Auch das Traurigsein des reichen Mannes läßt Angst erkennen (10,22: λυπουμενος") b) In Kp 13 werden viele Gefahren und Bedrohungen beschrieben, denen die Gemeinde gegenwärtig und zukünftig ausgesetzt sind, zusammenfassend wird der Begriff ϋΧΐφσις (13,19.24) dafür verwandt. Diese Drangsal weist unmittelbar auf Angsterleben hin. In 13,7 werden die Leserinnen ermahnt, sich nicht erschrecken zu lassen (μη ΰροεΐσϋε) angesichts der Kriege und Kriegsgerüchte. Der Drangsal und der daraus resultierenden Angst sind Standhaftigkeit (13,13) und Wachsamkeit (13,5.23.33) entgegenzusetzen. Angst innerhalb des Passionsberichtes Begriffe, die Angst umschreiben, finden sich im Passionsbericht konzentriert in der Erzählung von Getsemane (14,32-42) und von den Frauen am leeren Grab (16,1-8) wieder. a) Jesu Angst wird mit den Begriffen εχϋαμβεΊσΰαι, άδημονεΐν und περίλυπος... Κως ϋανάτον betont artikuliert. 12 In 14,19 wurde mit dem Wort λυπέΐσϋαι die

abzeichnenden Geschichte des Leidens des Messias Gott am (heilsgeschichlichen!) Werke erkennen." So auch Allen, Fear, 2 0 I f 10 Es ist fraglich, ob daß Entsetzen in 10,24 aufgrund der Vokabelparallelität zu 1,27 ( θ α μ β ε ω ) als Erschrecken vor der Heiligkeit Gottes gedeutet werden kann (so Balz, Art. 9 α μ β ε ω , EWNT III, 318). Der Kontext der Leidensnachfolge mit ihren radikalen Forderungen erklärt das Erschrecken genügend. In 14,33 wird die Angst Jesu angesichts seiner drohenden Hinrichtung mit einer Intensivform von 9 α μ β ε ω beschrieben.

" Der Begriff λ ύ π η artikuliert bei Markus seelischen Schmerz (10,22; 14,34) als Reaktion auf Ereignisse, die als höchste Bedohung erlebt werden (vgl. 2.Teil,II.3 und 4) Paulus hingegen "hat die λ υ π η als ein Wesensmerkmal christl. Existenz entfaltet" (Haarbeck,H., Link,H.-G., Art. λ υ π ε ω , TBLNT II/l, 802). Er unterscheidet zwischen profaner und religiöser Traurigkeit (2Kor 7,8-11) und betont die heilsame Wirkung der göttlichen Traurigkeit. 12

Vgl. zur Bestimmung der Angst Jesu in Getsemane 2.Teil II.4.

66 Traurigkeit als Ausdruck der Angst der Jünger, weil einer von ihnen Jesus verraten wird, formuliert. b) Die Frauen haben Angst angesichts des Auferstehungswunders. Sie sind zunächst erschrocken (ίξεϋαμβηύησαν 16,5), weil sie im Grab einem Mann mit weißem Kleid begegnen. Dieses Erschrecken steigert sich zu Zittern und Außersichsein und großer Angst (τρόμος και εκστασις, έφοβοΰντο). Als Angstreaktionen werden Schweigen und Fliehen (16,8) genannt.13 Diese Reaktionen werden auch bei den Jünger in Getsemane (sie fliehen in den Schlaf und können nichts sagen) und bei der Verhaftung (sie fliehen, 14,50.52) beschrieben.14 Die Angst der Gegner Jesu Herodes fürchtete Johannes (6,20). Die Oberpriester, Schriftgelehrten und Ältesten haben Angst vor Jesus (11,18) und vor der Menge, die außer sich ist wegen Jesus (11,32; 12,12). Ihre Angst wird dabei mit Formen von φοβούμαι wiedergegeben. Sie haben Angst vor einem Aufruhr der Menge, die von Jesus begeistert ist. Die Furcht vor ihr hält sie zunächst ab, Jesus festzunehmen (12,12).15 Die Angst der Dämonen wird mit deren Aufschreien beim Anblick Jesu deutlich (1,23; 3,11; 5,7; 9,26). Der Begriff (άνα)κρά£ω kann zudem als Ausdruck der Angst in 9,24 und des Schmerzes in 15,13 fungieren.

3. Zusammenfassung a) Die Angstnuancen der verschiedenen Begriffe Der Begriff φοβούμαι durchzieht alle angeführten Sinneinheiten. Die Angst der menschlichen Gegner Jesu wird nur mit diesem Wort beschrieben. Er ist der

13

Die Angst der Frauen erklärt sich keineswegs nur als Epiphaniefurcht, die den Charakter der Szene als Offenbarung unterstreiche (so Bertram, Art. 9άμβος, ThWNT, 5f; ähnlich Allen, Fear, 20 lf) oder als vorösterliche Reaktion, die noch der Auferstehungserfahrung entbehrt (vgl. Balz, Art φοβεω, ThWNT 9, 207), sondern wird wesentlich von der Forderung, 'nachzufolgen' und zu 'verkünden' ausgelöst. Vgl. dazu 3.Teil III. 1 und 2. 14

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Übersetzung von φόβος mit Flucht, die z.B. in homerischen Schriften zu finden ist. Vgl. Balz, ΑΛφοβεω, ThWNT 9, 187. Der Zusammenhang von Angst und Flucht ist schon etymologisch vorgegeben (vgl. φοβεομαι fliehen). 15

Umso erstaunlicher ist die Rolle der Menge im Passionsbericht. Die plötzliche Koalition zwischen der Menge und den religiösen Machthabern steht konträr zum bisherigen Verhalten der Menge. Vgl. dazu 3.Teil II. 1.3.

67 a l l g e m e i n s t e u n d u m f a s s e n d s t e B e g r i f f im W o r t f e l d ' A n g s t ' , der o f t mit einer w e i t e r e n F o r m u l i e r u n g v e r b u n d e n ist ( 5 , 3 3 ; 6 , 5 0 ; 10,32; 11,18; 16,8). Ε κ π λ ή σ σ ο μ α ι 1 6 u n d έ ξ ί σ τ η μ ι f i n d e n s i c h nur im Z u s a m m e n h a n g v o n W u n d e r g e s c h i c h t e n . S i e b r i n g e n v o r a l l e m d i e A n g s t a s p e k t e : Schrecken, F a s s u n g s l o s i g k e i t und V e r w i r r u n g z u m A u s d r u c k ( k o g n i t i v e u n d e m o t i o n a l e S y m p t o m e ) . F o r m e n v o n έ κ θ α μ β έ ω (nur i m P a s s i v ) sind v o r a l l e m im Z u s a m m e n h a n g m i t der N a c h f o l g e u n d d e m P a s s i o n s b e r i c h t verwandt. ( V o r K p 10 findet s i c h d i e s e s Wort nur e i n m a l in 1 , 2 7 . ) S i e t e i l e n d i e A n g s t a s p e k t e , U n s i c h e r h e i t , H i l f l o s i g k e i t u n d Entsetzen mit (kognitive und emotionale Symptome).

In der V e r b i n d u n g

mit

ά δ η μ ο ν ε ϊ ν k a n n 'Zittern u n d Z a g e n ' übersetzt w e r d e n , w o m i t auch ein p h s y i o logisches S y m p t o m angesprochen wird. E m o t i o n a l e S y m p t o m e w e r d e n n o c h durch F o r m e n v o n λ υ π ε Τ σ θ α ι (nur im S i n n zusammenhang

b und

c)

angezeigt,

ταράσσω, δειλός, πώρωσις,

emotional-kognitive

durch

Formen

von

θροέω.

P h y s i o l o g i s c h e S y m p t o m e w e r d e n mit den F o r m u l i e r u n g e n τ ρ ό μ ο ς κ α ι ε κ σ τ α σ ι ς , τ ρ έ μ ο υ σ α und Formen von ( ά ν α ) κ ρ ά ξ ε ω b ) D i e B e d e u t u n g der B e g r i f f l i c h k e i t

beschrieben,

17

16

Dieser Begriff taucht außerhalb des Wundergeschichtenzusammenhangs noch einmal in 10,26 auf. Dort artikuliert er die Fassungslosigkeit der Jünger angesichts der Worte Jesu.

17

Um die spezifische Bedeutung von Angst im Markusevangelium zu verstehen, soll ein kurzer Überblick über die Bedeutung und Ausprägung von Gottesfurcht in der Religionsgeschichte gegeben werden. Vgl. auch Dihle.A., Waszink,J.H., Mundle,W., Art.Furcht (Gottes), R A C VIII, 661-699. Paränetischer Gebrauch der Angst findet sich im paganen Sprachgebrauch. Es wird zur Ehrfurcht vor gesellschaftlichen Autoritäten aufgerufen und Furcht als Erziehungsmittel propagiert (vgl. Balz, Art. φ ό β ο ς T h W N T 9, 190f)· In der griechischen Philosophie wird die Angst als Affekt und Leidenschaft aus Gründen der Vernunft abgelehnt, auch die Angst vor Tod, Autoritäten, Tyrannen oder Götter. Im Alten T e s t a m e n t wird die Angst vor Gott religiös und ethisch bestimmt als Ehrfurcht, die zu einem Handeln nach dem Willen Gottes führt.Im Deuteronomium manifestiert sich die ethische B e s t i m m u n g der Gottesfurcht zum Gebot (Dt 14,22), der emotionale Charakter verliert sich. D a s pragmatische Verständnis von Angst vor Gott wird in der Weisheitsliteratur weiter ausgebaut. Jahwefurcht wird zum Synonym für Erkenntnis und Weisheit. Sie garantiert ein reiches und erfülltes Leben (Prv 1,29; 2,5; 14,26; 22,4). In den Psalmen ist Gottesfurcht religiös bestimmt als Merkmal der Zugehörigkeit zur Kultgemeinde. In den altl. A p o k r y p h e n finden sich wie im A T die beiden Bedeutungen von Angst im weltlich-menschlichen Bereich und Furcht vor Gott, die ethisch, religiös, weisheitlich und von der Märtyrertheologie bestimmt sein kann (vgl.Balz,ebd,201).

68 D i e Rede von Angst in ihren verschiedenen Nuancen läßt sich im Markusevangelium zweifach kategorisieren. Konfrontation mit dem Numinosum Markus verbindet in der Darstellung des Angsterlebens theologia crucis und theologia gloriae. Der hoheitliche Einbruch Gottes in die Welt, der vor allem in den Wunderereignissen erlebt wird, und der erniedrigende Einbruch Gottes, der im Leiden und Sterben Jesu erfahrbar wird, haben Angstreaktionen zur Folge. 1 8 Dabei geht es nicht nur um Angst vor Hoheit und Niedrigkeit als isoliertes religiöses Erleben 19, sondern um Angst, die durch die Auswirkungen dieser religiösen Erfahrungen auf die Alltagswelt, entstehen kann. Konfrontation mit Not Im Markusevangelium wird vor allem Angst in Alltagssituationen artikuliert. Die Begriffe der Angst bringen die Konfrontation mit physischer, psychischer und psychosozialer N o t zum Ausdruck. Angst wird nicht w i e bei Paulus zur Motivation ethischen Handelns eingesetzt. Es finden sich keine Aussagen zur heilsamen Wirkung von Gottesfurcht oder theologische Reflexionen zur Gottesfurcht und ihrem Verhältnis zur Liebe. Angst, die durchaus religiös bestimmt sein kann (Epiphaniefurcht) wird bei Markus nicht fiinktionalisiert. 20

In pseudepigraphen Schriften wird der paränetische Charakter der Angst hervorgehoben: Angst vor Gott ermöglicht Angstfreiheit gegenüber dem Satan und fuhrt zu Weisheit. In apokalyptischer Literatur tritt diese Bedeutung zurück, dafür dominiert die Epiphaniefurcht. Bei Paulus findet sich ebenfalls eine Ethisierung der Gottesfurcht: Die Angst vor Gottes Macht und Gerichtshandeln kann sittliches Verhalten motivieren (Rom 11,20; 2Kor 5,11). Vgl.auch die Anmerkung zu 'Furcht und Zittern' und Berger, Historische Psychologie, 171 ff. In den deuteropln. Schriften gewinnt die Gottesfurcht ihren Sitz im Leben, ausgeprägt in den Haustafeln, in der sittlichen Belehrung. In Ableitung von der Angst vor Gott wird zur Angst und ehrfurchtsvollen Anerkennung menschlicher Machtstrukturen und Ordnungen (Eph 5,25; 6,5;) aufgefordert ähnlich dem allgemeinen antik-heidnischen Gebrauch. In entgegengesetzte Richtung wurde die Gottesfurcht in den johanneischen Schriften entfaltet: Die Liebe hat die Angst besiegt. "Damit ist die Option für Intimität und Herzlichkeit im Verhältnis zu Gott gefallen, im Gegensatz zur Repräsentation von Furcht und Angst durch den anonymen Staatskult" (Berger, Historische Psychologie, 176) 18

Diese Gedanken werden im 3.Teil

III.2.1. und III.2. ausgeführt.

19

So z.B. Allen, Fear, 201f., der zudem bzgl. der religiösen Tiefe der Epiphaniefurcht differenziert zwischen der Menge, die nur 'wonder' als Angstreaktion zeige und den Anhängern Jesu, die hingegen tiefe religiöse Angst empfinden. 20

Traditionsgeschichtlich zeigt sich bei Markus damit Nähe zu Teilen des Alten Testaments.

69 Z u s a m m e n f a s s e n d läßt s i c h f e s t s t e l l e n , daß im M k E v A n g s t als F o l g e n u m i n o s e n u n d p r o f a n e n E r l e b e n s u n d Erfahrens erscheint. M a r k u s v e b i n d e t r e l i g i ö s e A n g s t m i t konkreter N o t , o h n e sie z u ethisieren.

und apokalyptischen Schriften. Der religionsgeschichtliche Überblick und der Befund bei Markus verdeutlichen insgesamt, daß keine einheitlichen und pauschalen Urteile über die Bedeutung und A u s p r ä g u n g von Angst im N e u e n Testament gefällt werden können. Die einzelnen Schriften sind sehr differenziert zu betrachten, da historische (soziale, rechtliche) Gegebenheiten die Bedeutung von Angst und Gottesfurcht prägen.

70 II. Ausgewählte Textanalysen 1. Markus 4,35-41: Die Sturmstillung und ihre Auslegung mit Hilfe der kognitiven Emotionstheorie

1.1. Historisch-kritische Exegese 1.1.1. Kontextanalyse Die vorliegende Erzählung ist deutlich durch die einleitenden V35.36 an die Situation von 4,Iff gebunden: Es ist derselbe Tag, derselbe Ort: Jesus im Boot, das Volk am Seeufer, dieselben Personen, nur mit Pronomina eingeführt. Die Leserinnen wissen nur durch 4,1-32, wer diese sind. Durch das Stichwort εις το πέραν ist der Text zudem engstens an die nachfolgende Erzählung 5,Iff gebunden. Die Stichworte 'Boot', 'See', 'Volk' sind im Kontext häufig zu finden: 2,13 Der See ist Stätte des Lehrens; das Volk drängt zu Jesus 3,7.9 Der See ist Ort des Wirkens (Heilens), das Volk umdrängt Jesus; das Boot ist Mittel zur Distanzierung 4,1 Der See ist Stätte des Lehrens; das Boot Mittel zur Distanzierung; das Volk ist bedrängend 4,35 Der See ist Ort eines Wunders; das Volk wird entlassen; das Boot ist Tranportmittel und Ort des Wunders 5,1 Der See (das Ufer) ist Ort eines Wunders; zunächst kommt nur ein Mensch auf Jesus zu (dies ist auffallig und hängt wahrscheinlich mit der Lokalisierung der Erzählung im heidnischen Land zusammen), nach dem Wunder kommen andere herbeigelaufen (5,15); das Boot ist Tranportmittel. 5,21 Der See ist Versammlungsort des Volkes um Jesus; das Boot ist wieder Transportmittel 6,45 See und Boot sind Stätte eines Wunders; das Boot ist zudem Transportmittel wie in 4,35ff; das Volk wird entlassen 6,53 Der See ist Stätte des Lehrens und Wirkens; das Volk versammelt sich um Jesus; das Boot ist Transport-und Distanzierungsmittel (vgl. 3,7ff) 8,10 Das Boot ist Transportmittel und Ort der Belehrung; ähnlich zu 4,35ff; 6,45ff tauchen die Motive 'Boot' und 'Jüngerunverständnis' gemeinsam auf. Auch die Motive 'See', 'Boot', 'Menge' sind meist gemeinsam vertreten. Der See ist eine Art beliebter Versammlungsort für das Volk um Jesus herum. Das Boot

71 schafft immer wieder Distanz zwischen Jesus/Jünger und Volk21 und macht Jesus und seine Jünger beweglich. Desweiteren ist interessant, daß meist Wunder um den See herum oder auf dem See lokalisiert sind: summarisch in 3,7ff;6 ,53ff; auf dem See: 4,35ff; 6,45ff, am Seeufer: 5,1.(21). Daneben sind der See und das Boot Orte der Belehrung, die oft auf das Unverständnisses der Jünger stößt: 4,35ff; 6,45ff, 8,14ff; summarisch: 2,13; 3,7ff; 6,53ff. Es ist zu fragen, ob dieser Motivkomplex auf Markus zurückgeht, oder ob Mk diese Szenerie (See, vom Volk umdrängter Jesus, Boot) schon aus der Tradition übernommen hat. Die Lokalisierung um das galiläische Meer deutet bei den Wundergeschichten 4,35-41; 5,1-20; 6,45-52 auf eine lokal gebundene Überlieferung hin.22 Hinter der Bezeichnung Meer für einen Binnensee zeigt sich die "lokal begrenzte Lebenswelt kleiner Leute aus Galiläa, für die ein See zum 'Meer' schlechthin werden konnte".23 Dieser lokale Bestandteil der Erzählung ist demnach nicht mkn Redaktion zuzuschreiben. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die genannten Motive in ihrer Kombination als mkn Redaktion gesehen werden können: Mk hat sie aus der Tradition aufgenommen und für seine Zwecke vermehrt und gestaltet. Die szenische Vorbereitung des Wunders in V35.36 kann also durchaus zu einer urprünglichen Wundererzählung gehört haben, wurde jedoch von Mk ausgestaltet, so daß sie besser in seinen Kontext paßte. Diese Funktion wird auch dem ώς ήν έν τω πλοίφ (Angleichung an 4,1) zuzuschreiben sein.24 Die Anmerkung in V36 ('es waren

21

Clevenot erkennt das Boot als ein Mittel, "das es Jesus gestattet, nicht zu stark >unter Druck< gesetzt zu werden durch das Volk am See von Tiberias" (Clevenot, So kennen wir die Bibel nicht, 104). 22

Eine vormkn Wundersammlung mit Erzählungen um den See herum läßt sich trotz verschiedener Versuche nicht plausibel nachweisen: Vgl. Kuhn, Sammlungen, 302f; Koch, Wundererzählungen, 30-39.

23

Theißen, Lokalkolorit, 112, vgl. 111-119. E.S. Malbon, The Sea, erklärt diese Bezeichnung theologisch "...the more ambiguous thalassa is rich in connotations from the Hebrew scriptures. Mark presupposes the connotation of the sea as chaos, threat, danger, in opposition to the land as order, promise, security."(378) Sie sieht den See auch als eine topographische und theologische Barriere zwischen Heiden (Ostufer) und Juden (Westufer), die von Jesus überwunden wird. 24

Die meisten Kommentare sprechen von mkn Redaktion in den V35.36: z.B. Gnilka, Markus, 1, 193; Bultmann, Geschichte, 230.365; Lührmann, Markusevangelium, 96; Lohmeyer, Markus, 89; Schmithals, Markus, 1, 255; Wellhausen, Evangelienkommentare, 36; Koch, Wundererzählungen 94f; Unterschiedlich ist nur das Ausmaß, das sie an mkn Bearbeitung annehmen. Hingegen sieht Pesch, Markusevangelium, 1, 267 nicht Markus, sondern einen vormkn Redaktor in V35.36 am Werk; auch Kertelge, Wunder Jesu, 91.98f,

72 noch andere Boote bei ihm'), die Mk ebenfalls übernommen hat, hat ihre ursprüngliche Textfunktion im jetzigen Kontext verloren.25 Mkn Redaktion in der Exposition zu sehen, legt auch ein Vergleich mit Mt und Lk nahe. Bei Mt beschränken sich die einleitenden Worte auf einen kleinen Satz, er läßt die Geschichte viel unvermittelter beginnen und motivärmer: es fehlt wie bei Lk die Jesus umdrängende Menge und damit zusammenhängend eine Entlassung des Volkes, sowie eine lokale und zeitliche Festlegung der Bootsüberfahrt. Letztere bringt Lk zwar, jedoch gedrängter.

1.1.2. Kohärenzanalyse Die Aufforderung in V35, an das jenseitige Ufer zu fahren, wird in 5,1 als erfüllt konstatiert. Zwischen Aufforderung und Erfüllung ereignet sich die wunderbare Rettung (V36-41). Auffallend ist die aktive Rolle der Jünger in der Exposition: Sie entlassen das Volk und sie nehmen Jesus mit. ('Sie' sind meist Subjekt der Sätze). Jesu Aufforderung zur Überfahrt (V35) steht in gewissem Gegensatz zu diesem Tun der Jünger. Er spielt erst wieder ab V39 eine aktive Rolle. In V38 wird partizipial von ihm als Schlafenden erzählt. Er schläft inmitten tobender Naturmächte und aufgeregter Mitfahrer, wobei man den Schlaf Jesu schon durch die zurückhaltende Rolle Jesu in der Exposition vorbereitet sehen kann. Das feindliche Wirken der bedrohenden Mächte und die ängstlich ärgerlichen Reaktionen der Jünger werden durch Jesu machtvolles Wort (V39.40) überwunden. Die Bedrohung durch Wind und Wellen (V37) findet in V39 mit rhetorischem Anklang an V37 ihr Ende: γίνεται λαΤλαψ μεγάλη ανέμου - έγενετο γαλήνη μεγάλη, was in V41b noch einmal summarisch aufgenommen wird. Dazwischen bestimmen der Schlaf Jesu und ängstliche Aufregung der Jünger die Szene. Dieser Kontrast zwischen Jesu Macht und dem Jüngerverhalten dominiert auch im Abschluß der Erzählung (V40.41a).

will nur die Zeitangabe 'am selben Abend' auf Mk zurückführen, ansonsten erkennt er im gesamten weiteren Text keine mk Bearbeitung, da er annimmt, daß 4,1-34 und 4,35-41 schon vormk verknüpft waren. 25

Zu den 'anderen Booten' gibt es unterschiedliche Erklärungsversuche: 1.Eine ursprüngliche Zeugenfunktion nehmen Schweizer, Markus, 60undSchille, Mk4,3541, 56, an. 2.Eine ursprünglich dramatisierende Funktion zur Steigerung der Gefahr vermuten Theißen, Wundergeschichten, 110, und Lührmann, Markus, 96. 3.Eine redaktionelle Funktion sieht z.B. Lohmeyer, Markus, 90, vorliegen: Die anderen Boote waren für Mk notwendig, damit er alle zwölf Jünger unterbrachte.

73 Strukturell u m f a ß t der Text demnach zwei Themen: eine Erzählung von einem W u n d e r ( V 3 7 - 3 9 ) samt einem Credo, das das W u n d e r summarisch formuliert (V41b), sowie eine Erzählung zur A n g s t der Jünger aufgrund eines Glaubensdefizits. Beides ist ineinander gebunden. Die vorwurfsvolle Frage der Jünger (V38) erfährt erst in V 4 0 durch eine R ü c k f r a g e Jesu ihre Erwiderung. Die Konstatierung des W u n d e r s in V 3 9 w i r d durch die abschließende Frage in V 4 1 b unterstrichen. Nach der Exposition V 3 5 . 3 6 können somit zwei Linien festgestellt werden: V 3 7 V 3 9 - V 4 1 b u n d V 3 8 - V 4 0 - V41, die allerdings nicht als zwei verschiedene literarische Einheiten zu verstehen sind. Während die eine Linie das W u n d e r einleitet u n d abschließt, dominieren in der zweiten Linie o f f e n e Fragen ( ' H a b t ihr noch keinen G l a u b e n ? ' u n d ' W e r ist dieser, daß sogar W i n d und See ihm gehorchen?'), die im E v a n g e l i u m noch ö f t e r gestellt werden. Von dieser Struktur weichen die mt u n d lk Darstellungen erheblich ab.

1.1.3. B e o b a c h t u n g e n zur F o r m u n d Redaktion Mit V37 setzt die Beschreibung der B e d r o h u n g und Notsituation ein, w i e sie typisch f u r die literarische Form der Wundererzählung ist. 26 Ähnlich w i e in der Einleitung findet sich bei M k eine breitere u n d dramatischere Schilderung der Notsituation als bei den anderen Synoptikern. Der Schauplatz des Wunders wird zweimal erwähnt. In V38 taucht mit d e m Schlaf Jesu das Motiv des sich-entziehenden Wundertäters auf u n d die ambivalente Bitte der Jünger, die als verzweifelter V o r w u r f gestaltet ist: 'Meister, k ü m m e r t es dich nicht, daß wir z u g r u n d e g e h e n ? ' . Es ist die Frage, inwieweit M k auch hier ein vorliegendes Motiv f ü r seine Z w e c k e im Blick auf V 4 0 ausgestaltet hat. 2 7 Der Schlaf Jesu findet im Mktext eine größere Ausgestalt u n g als bei M t u n d Lk: nur bei M k wird eine genaue A n g a b e der Schlafstätte: Heck u n d Kissen geliefert. W ä h r e n d Lk den Schlaf Jesu in die Exposition der

26

27

Vgl. zum Motivinventar der Wundergeschichten Theißen, Wundergeschichten, 57-83.

Es ist zu überlegen, ob ursprünglich eine Bitte oder bittender Hilferuf vorlag, und Mk in Korrespondenz zum Tadel in V40 diese zu einem Vorwurf ausgestaltet hat. So sehen es z.B. Gnilka, Markus, 194; Lührmann, Markusevangelium; 96, Emst, Markus, 150; Koch, Wundererzählungen, 96; Stegemann, Nachfolge, der hier Kertelge zitiert: "In dem 'Meister kümmert dich nicht, daß wir verderben' expliziert sich die eschatologische Angst, daß der abwesende Herr seine Kirche in der Bedrängnis allein läßt, eine Angst, die durchaus in der Gleichnissammlung reflektiert ist. Man könnte darum in der Tat erwägen, ob hier eine Aktualisierung vorliegt, die 'unter dem Eindruck der Zeit vor und während des jüdischen Krieges erfolgte und so etwa dem Erfahrungshorizont von Mk 13 entspräche'" (213f).

74 Geschichte einordnet, behält Mt die mkn Abfolge bei. Diese nachträgliche Information erhöht die Spannung im Erzählablauf.28 In V39 erfolgt dann das wunderwirkende Wort, das an 1,25 erinnert, wodurch die gesamte Erzählung eine exorzistische Färbung erhält.29 Die wunderwirkende Formel: 'Schweig, verstumme!' findet sich nur bei Mk. Mt und Lk geben keine Auskunft über die Technik des Wunders.30 Beide haben auch hier gegenüber Mk vereinfacht. Im selben Vers wird dann das Wunder konstatiert.31 Die Spannung, die durch die Bedrohung enstand, ist mit Aufhebung der Notsituation gelöst. Allerdings wird in V40 erneut Spannung aufgebaut: Vor einem üblichen Wunderabschluß durch Admiration oder Akklamation erfolgt ein mahnendes Wort Jesu an die Jünger. Dieses stellt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Feigheit und Unglaube her. Ihr Verhalten ist unangemessen, falsch und entspricht nicht den Erwartungen, die an sie gestellt sind. Der Vers korrespondiert mit dem Jüngervorwurf in V38c und kann als mkn Einfügung in die ihm vorliegende Wundererzählung gewertet werden, denn das Jüngerunverständnis ist ein typisches, sich durch das gesamte Evangelium hindurchziehendes Motiv.32 Obwohl in V40 das Wort 'Unverständnis' nicht fällt, wird der Vers im allgemeinen mit diesem Begriff deklariert. Dies ist auch sinnvoll, werden hier doch emotionale Folgen des Unverständnisses, Feigheit und mangelnder Glaube, geschildert.33

28

Vgl. Lührmann, Markusevangelium, 97

29

Interessant sind die religionsgeschichtlichen Parallelen zu dieser Formel, vgl. Theißen, Wundergeschichten, 73 f. Kertelge, Wunder Jesu, 92, bewertet die Perikope als Dämonenaustreibung und nicht als Naturwunder. Auch Achtemeier, Person and Deed, 76, betont den dämonischen Charakter des Wassers und interpretiert die Stillung des Sturmes als Sieg über die dunklen Chaosmächte und Vollendung der Schöpfung. 30

Die explizierte Darstellung der Wundertechnik ist für Dibelius, Formgeschichte, 78, typisch für die Gattung Novelle im Gegensatz zum Paradigma. 31

Achtemeier, Person and Deed, 175, erkennt hier einen Anklang an Gen 8,1: Mit der Terminologie, mit der die Beruhigung der Chaosfluten beschrieben wurde, wird hier die Sturmberuhigung formuliert. 32

So urteilen die meisten Exegeten, selbst Pesch, Markusevangelium 1, 276, der sonst keine mkn Einfügungen oder Bearbeitungen in diesem Text erkennt. Anders: Schmithals, Markus, 256, und Kertelge, Wunder Jesu, 98f: das Glaubensmotiv habe schon vormkn zur Geschichte dazugehört. 33

Glaube ist als kognitiv-emotionales Phänomen zu betrachten, wie im 1 .Teil expliziert wurde.

II. 7.1.

75 Auch in 6 , 4 5 - 5 2 ; 8 , 1 4 - 2 1 ; 9 , 3 0 - 3 2 ; 10,23-27 und eventuell in 14,66-72 und 16,8 ist dieser Zusammenhang von Unverständnis und ängstlichen Reaktionen gegeben. Textkritisch überzeugt die Handschriften-Variante: "Habt ihr noch nicht Glauben" ( Χ Β D L Δ Θ 5 6 5 . 7 0 0 . 8 9 2 * pc lat co), fiir die sich auch der Nestle-Text N 2 6 entschieden hat. Vor allem bei Beachtung des Kontextes: Nach schon erlebten Wundern in 1,40ff; Kp 2 und 3 und nach der gesonderten Belehrung in Kp 4, in der ausdrücklich betont wird, daß ihnen, den Jüngern, das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben ist, leuchtet das 'noch nicht' ein. Das 'noch nicht' bezieht sich auf das schon mit Jesus Erlebte und Erfahrene, das das Verhalten der Jünger schon hätte prägen müssen. 34 Zu V 4 0 ist ein Vergleich mit Mt und Lk interessant, da er die mkn Betonung verdeutlicht. In Mt 8,23ff ist die Bitte der Jünger als Hilferuf um Rettung formuliert; der verzweifelte, vorwurfsvolle Ton von Mk 4,38 fehlt. Ebenso ist der Tadel Jesu an die Jünger rhetorisch abgeschwächter. Zwar werden sie auch als feige bezeichnet, die Formulierung 'Kleingläubige' ist jedoch weniger hart und prinzipiell als bei Mk, da sie den Jüngern wenigstens etwas Glaube zugesteht. Auch Lk 8,24 stellt mehr einen Hilferuf dar als einen Vorwurf: Das anklagende 'Kümmert es dich nicht' fehlt. Der Tadel in Lk 8,25 ist weniger dramatisch und nur eingliedrig gestaltet: ' W o ist euer Glaube?'. Meint Glaube im Markustext einen allgemeinen Wunderglauben, ganz allgemein Vertrauen und Hoffnung oder ein an Jesus, den Sohn Gottes, gebundenes Vertrauen? 35 Theologische und psychologische Sachverhalte sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden, so als sei Glaube nur eine theologische Bestimmung. Da er j a den ganzen Menschen betrifft, muß er auch unter psychologischen Gesichtspunkten gesehen werden. Hier ist Koch zu kritisieren, der eine derartige Trennung vornimmt, indem er in V 4 0 den "theologischen Sachverhalt der desperatio anvisiert" sieht und nicht einen "moralischen Sachverhalt" (Feigheit der Jünger). 36

34

So auch Lohmeyer, Markus, 91; Lührmann, Markusevangelium, 9 7 ; Pesch, Markus 1,

2 6 8 ; Söding, Glaube, 4 4 2 ; anders Gnilka, Markus 1, 196; Wellhausen, Evangelienkommentare 36f; Allerdings würde das Wunder Jesu nicht eigentlich überflüssig, wenn sie ihren Glauben bewährt hätten. Ein derartiges Verständnis impliziert ein monokausales Verhältnis von Glaube und Wunder: so als würde mangelnder Glaube Wunder erfordern, dabei ist der Glaube oft die Voraussetzung für das Wunder. 35

Als nicht spezifisch christlich sieht z.B. Wellhausen, Evangelienkommentare, 37, die pistis

in M k 4 , 4 0 an: E s sei Mut, Gottvertrauen, "die Eigenschaft, die Jesus besaß, als er im Sturme schlief..." 36

Koch, Wundererzählungen, 98, Anm 3 4 ; Vgl. auch Kertelge, Wunder Jesu, 198: E r will

76 Glaube bei Mk erscheint von 1,15 her an das Evangelium gebunden, d.h. an die Botschaft vom angebrochenen Reich Gottes. Jesus fordert hier nicht auf, an seine eigene Person zu glauben. Der Kontext von 4,1-34 (den Jüngern ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben) legt es nahe, auch in 4,40 Glauben an das Evangelium zu assoziieren. Das Motiv des Glaubens ist für die Erschließung der mkn Intention sehr wichtig. Von hier aus kann nach der Wirkung des Textes fur die Leserinnen gefragt werden. Interessant ist, daß Glaube in 9,32; l l , 2 0 f f als eine Kraft gesehen wird, die alles vermag und die Handlungskompetenz selbst in schwierigen Situationen stärken kann.37 Der Themenzusammenhang Glaube - Unglaube zieht sich durch die Wundererzählungen, die im Komplex 4,35-6,6 zusammengestellt sind.38 In V41 erfolgt schließlich die Akklamation, wie sie typisch fur die Gattung der Wundergeschichten ist. Die beschriebene Furcht der Jünger ist keine Verstärkung oder Wiederholung ihrer Angst angesichts existentieller Bedrohung durch den Sturm, sondern ein typisches Motiv innerhalb von Wunderabschlüssen.39 Als solches ist die Angst nicht nur Ehrfurcht, sondern Angst vor eigenem Herausgefordertsein durch Wirklichkeitsveränderungen, die sie als neue Erfahrungen erst integrieren müssen. 40 Die abschließende Frage 'Wer ist dieser?' kann ebenfalls als

Glaube nicht als menschliche Voraussetzung begreifen, sondern als das menschlich Unmögliche. Dieses Verständnis ist nur eine dogmatische Entscheidung, die hier nicht greift: Wäre der Glaube keine menschliche Angelegenheit, könnte Jesus die Jünger auch nicht dafür verantwortlich machen. 37

Zu Glaube bei Markus vgl T.Söding, Glaube bei Markus, 2.Aufl., Stuttgart 1987. Die Behandlung dieses Motivs wird in der redaktionsgeschichtlichen Betrachtung des Textes noch verstärkt aufgenommen: vgl. den Exkurs dazu weiter unten; vgl. auch Theißen, Wundergeschichten, 133-143 und Betz/Grimm, Wunder, 44-48.60 38

So Theißen, Wundergeschichten, 208 und vgl. 133-143; Lührmann, Markusevangelium, 97, bemerkt, daß sich das Glaubensmotiv durch die Wundergeschichten: 2,5; 4,35ff; 5,34.36; 9,23f; 10,52 hindurchzieht. 39

Lührmann, Markusevangelium, 97; Lohmeyer, Markus, 91; Gnilka, Markus 1, 197; Schweizer, Markus, 56; Koch, Wundererzählungen, 98f; Bultmann, Geschichte 241; Dibelius, Formgeschichte, 77. Zur Furcht als typische Reaktionsweise bei Theophanien vgl. Betz/Grimm, Wunder, 82-90. Kertelge, Wunder Jesu, 150, jedoch sieht die Furcht als negative Reaktion entsprechend dem Unverständnis der Jünger, die Unglaube ausdrücke; ebenso Ernst, Markus, 151, der zudem die Existenzangst der Jünger für geringer als diese Angst in V41 ansieht: vgl. dazu die Vorbemerkungen. 40

Vgl.2.Teil II.2.2 und 3.Teil II.2.1.: hier wird dieser Zusammenhang näher expliziert.

77 vormkn Motiv gewertet werden, wenngleich sich die Bedeutung im jetzigen Markuskontext geändert hat. Im Anschluß an V 4 0 ist die Frage zum einen mehr als eine Akklamation, sie führt noch das Unverständnis der Jünger fort. Zum anderen erhält diese Frage im Makrotext des Evangeliums ihre Bedeutung: sie wird bis 8,26 immer wieder gestellt. Bildete V41 eine "ursprünglich abschließende Akklamation, (so) hat diese Frage innerhalb mkn Komposition expositioneile Bedeutung gewonnen". 41 Auch hier ist der Wirkung des Textes weiter nachzugehen: Sollten diese Frage sich die mkn Leserinnen stellen? 42 Die Frage sollte allerdings nicht so gewertet werden, als hätten die Jünger Jesu gar nichts verstanden und stünden Jesus immer noch als Fremdling gegenüber 4 \ denn in dieser Frage wird zugleich die Macht Jesu artikuliert und akklamiert. Es fehlt nur eine titulare Bestimmung, denn eine inhaltsbezogene Antwort wird ja im Grunde gegeben: Selbst Wind und Wellen gehorchen i h m 4 4 Bei der Frage nach einem Sitz im Leben dieser und auch der meisten anderen Wundererzählungen werden in der Kommentarliteratur die frühe Mission der Gemeinden, Propaganda für Jesus gegen vorhandene Konkurrenten 45 und auch die

41

Theißen, Wundergeschichten, 212. Die Frage steht innerhalb des aretalogischen Spannungsbogens des Mk und erst in 15,40 wird das wahre Wesen Jesu durch die Akklamation des Hauptmanns artikuliert. Vgl. dazu Theißen, Wundergeschichten ,211-211. Auch Lührmann, Markusevangelium, 95.97 sieht, wie sich diese Frage durchzieht, und betont mit Recht, daß sie sich nicht durch die Wundergeschichten stellt, sondern durch die in 13,5-37 reflektierte Situation aufgeworfen wird; VgLauchBelo, Markusevangelium, 163. Schmithals fuhrt diese Frage aufgrund ihrer Häufigkeit und Betonung im Evangelium auf Mk selbst zurück, Schmithals, Markus 1, 257. Die Stellung der Frage im Makrotext des Evangeliums ist gut herausgearbeitet von Van Iersel/Linmans, The Storm, 34-36 42

Lührmann, Markusevangelium, 97; Koch, Wundererzählungen, 93, und besonders Anm9. Allerdings ist die Frage, ob dieser Abschluß den Blick auf die Person Jesu lenken soll oder auch darauf, wofür dieser Jesus einsteht und wirkt: die Durchsetzung des Reiches Gottes? Auch Gnilka, Markus 1, 197, sieht die Frage an die Hörerinnen gerichtet. 43

So z.B. Lohmeyer, Markus, 91f, und Stegemann, Nachfolge, 215. Dagegen betont zu Recht Dibelius, Formgeschichte, 94: "Der Glaube, den die Wundererzählung auslöst, beginnt mit dem zum Wunder gehörigen Staunen oder Sich-Entsetzen, d.h. mit einem Überwältigtwerden von dem Wunder, nicht aber mit einem christologischen Satz".

44

45

Zum bewußten Weglassentitularer Akklamationen vgl. Theißen, Wundergeschichten, 213;

So z.B: Grundmann, Markus, 135; Koch, Wundererzählungen, 15-19: der aber den innergemeindlich- erbaulichen Gebrauch nicht ausschließt; Dibelius, Formgeschichte, 93;

78 katechetische Belehrung genannt.46 Diese Bestimmungen bleiben, mit der Frage nach der Intention des Evangelisten im Hintergrund, ungenügend. Zeller versucht eine neue Klärung dieser Frage, die Wechselwirkung zwischen Text und Leserinnen beachtend: Eine Stellungnahme der Leserinnen solle provoziert werden, eine bestimmte Evaluation von Jesus solle ihnen nahegebracht werden und die Heilsbereitschaft solle stimuliert und auf Jesus ausgerichtet werden.47 Welche Absicht verfolgt Mk, wenn er diesen Text tradiert? Warum hat er eine vom Volk überlieferte Wundergeschichte wie 4,35-41 in sein Evangelium integriert?48 Wenn er vor allem seine Gemeinde als Adressatenschaft im Blick hatte, wird die christliche Mission als hauptsächliche Erzählintention ausfallen. Der Blick wird genauer darauf zu richten sein, was solch ein Text bei den Leserinnen bewirken konnte, emotional und kognitiv. Welche Impulse können von solch einem Text ausgehen, und wie kann er Verhalten und Erleben verändern? Der Text ist nicht nur ein Werkzeug, das den Leserinnen in die Hände gegeben wird, für Propaganda, Mission und andere nach außen gerichtete Aktionen. Er stellt vielmehr auch eine Kommunikation zwischen sich und den Leserinnen her und kann auf interner Ebene genutzt und aktiv werden, wie die psychologische Auslegung ausführen wird.49

Pesch, Markus 1, 277: Auf der Ebene der mkn Redaktion ändere sich diese Funktion zur katechetischen Belehrung; Suhl, Wunder, 47; 46

47

Gnilka, Markus 1,222; Zeller, Wunder und Bekenntnis, 222 Zeller, Wunder und Bekenntnis, 204-222; Vgl. auch G.Theißen, Wundergeschichten 1974.

48

Vgl. Theißen, Lokalkolorit, 111-119: Das 'Lokalindiz' Meer weist auf eine im Volk lokal geprägte Erzählung hin (vgl. 5,1-20; 6,45-52); Vgl. auch Dibelius, Formgeschichte, 90f. Der Text selbst liefert Hinweise für die Annahme, daß Markus eine Volksüberlieferung aufgenommen hat und zu einer Jüngergeschichte umformte: Das blinde Motiv der 'anderen Boote' kann als Hinweis darauf gewertet werden, daß ursprünglich nicht nur die Jünger, sondern viele andere Menschen bei der Überfahrt und dem Wunder dabei waren. In Mt 8,27 sind auch nicht nur die Jünger, sondern 'die Menschen' Zeugen des Wunders.

49

Auf dieser Ebene versucht T.Weeden den Sitz im Leben des MkEv anzusiedeln. In 'Traditions in conflict' spürt er innergemeindlichen christologischen Auseinandersetzungen und Irrwegen als Grund für die Entstehung des MkEv nach. Seine Thesen bleiben jedoch ungesichert.

79 1.1.4. Tradition Zur Erzählung als ganze und zu einzelnen Bildern und Motiven finden sich zahlreiche Parallelen im antik-heidnischen und altestamentlich-jüdischen Bereich. Sie machen den Verstehenshintergrund und die Rezeption bei der mkn Adressatenschaft plausibel. Auch zeigen sie, daß schon früh bestimmte Motive, wie 'Sturm', 'Wasser', 'Boot' methaphorisch-symbolisch verstanden wurden. a) Religionsgeschichtliche Parallelen aus dem antik-heidnischen Bereich Schilderungen von Seenot und wunderbarer Rettung durch die Götter finden sich bei Ael.Aristeid.Sarapishymnus, 33 und or, 42,10; Rettende Macht in Seenot und Sturm wird vor allem den Dioskuren zugeschrieben: Plutarch, Über das Nachlassen der Orakel, 30; Lukian, Das Schiff,§9; Hymn.Homer 33; ebenso dem Apollonius: Philostrat, Vit.Ap IV, 13.15, und dem Pythagoras und seinen Jüngern, wie der Philosoph Jamblichos berichtet: Pythagoras "brachte Sturm und Hagelschlag alsbald zur Ruhe, beschwichtigte Fluß-und Meereswellen..."; ein Jünger Pythagoras', Empedokles, trug den Beinamen "Windabwehrer". 50 Die Rettung erfolgt entweder durch das Eingreifen der Götter von außen, oder sie bzw. der Held befinden sich mit auf dem Schiff: z.B. Plut Caes.38; Dio Cass XU,46.". Die Götter und Retter halfen den vom Ertrinken bedrohten Menschen, deren Situation hoffnungslos war, indem sie das Schiff aus dem Sturm steuerten oder den Sturm und die Wellen beruhigten. Das Schiff und die Schiffahrt wurden auch als Metapher und Symbol verwand: Plutarch, Politische Lehren, §19. Das Schiff ist hier eine Metapher fur den Staat. Der Staatsmann als Kapitän lenkt das Schiff durch die Stürme, die ein Bild fur politische Feinde und kriegerische Gegner sind. Interessant an diesem Text ist, daß der Kapitän selbst die Gefahr bewältigt und sich das Motiv des Schlafes findet: Der wahre Kapitän schlummert nicht. Diese Bilder werden in der gesamten antiken Literatur verwandt und können von daher als äußerst gängig bewertet werden. 52 Schiff und Fahrt durch Stürme dienen auch als Symbol für das Leben mit seinen Schicksalsschlägen und Veränderungen. 53

50 M.von Albrecht: Jamblichos, Pythagoras, Legende, Lehre, Lebensgestaltung, griechischdeutsch, Zürich/Stuttgart, 1963, S.139f. 51

Vgl. zu dieser Einteilung: Theißen, Wundergeschichten, 108-110; zu den angegebenen

und weiteren Parallelen vgl. Theißen, ebd. 108-110; Pesch, Markusevangelium 1, 274; Berger/Colpe, Textbuch 44f; Klostermann, Markusevangelium, 45. 52

Vgl. Ciceros Staatstheorien (De republica 1,1 und 11: hier wird Piaton, Politeia 488af. aufgenommen); Horaz, Carmen 1,14; Seneca, De otio, VIII,2.4 53

Vgl. Hilgert, Symbolismus, 52. Er nennt hierzu: Eurip.,Troer,103f; Plat.,Leg.7.803; Rep.6.488; Plut.,Mor 476 A;

Soh.,Antig.,540f;

80 b) Religionsgeschichtliche Parallelen aus der rabbinischen Literatur und dem atl. Bereich Interessant sind hier vor allem j Berachot IX, 1,13b und b Baba Mecis 59b. 54 In der ersten Erzählung bewirkt das Gebet eines jüdischen Jungen, der auf einem heidnischen Schiff fährt, daß Gott den Sturm, der das Schiff und seine Besatzung bedrohte, beruhigte. Die Gebete der heidnischen Passagiere an ihre Götter waren hingegen nutzlos. Dieses Motiv erinnert an Jona 1. Auch hier wird die Machtlosigkeit der heidnischen Götter der rettenden Macht Jahwes gegenübergestellt. In der zweiten Geschichte rettet Gott einen in Seenot geratenen Rabbi, nachdem dieser seine Schuld vor Gott bekannte. Dieser kausale Zusammenhang von Schuld und Seesturm begegnet ebenfalls in Jona 1: Der Sturm tobt wegen Jonas Flucht vor Gott und hört erst auf, nachdem Jona ins Meer geworfen worden ist. In altestamentlichen Texten lassen sich unterscheiden: Gott als Herr über das Wasser und Meer im Zusammenhang mit der Schöpfung. Gott als Erretter aus Bedrohung durch Wasser. Letzteres läßt sich noch einmal differenzieren: zum einen wird Wasser material verstanden als reale physische Bedrohung, zum anderen als Metapher oder Symbol für alle Arten von Gefahr, auch für psychische Gefährdung und seelisches Chaos. Dieses zweifache Verständnis zeigt sich innerhalb einer Erzählung: In Jona 2 finden sich Wasser und Fluten als Metapher fur seelische Nöte. In Jona 1 wird demonstriert, daß Jahwe mächtiger ist als andere Götter, denn nur er kann Sturm und Wind beruhigen. Wenngleich einzelne Textteile an Mk 4,35-41 erinnern, z.B. der schlafende Jona, die anderen Passagiere, die ihn aufwecken, der lebensbedrohende Sturm und die Hilflosigkeit der Besatzung, so sind doch deutliche Unterschiede zu sehen: wie schon aufgeführt, der Zusammenhang von Schuld und Seesturm und die Rettung durch das Überbordwerfen des Jona. In Mk 4,35-41, eine Überbietung von Jona 1 zu sehen, im Sinne von 'Hier ist mehr als Jona' 55 , kann nicht überzeugen. Es stellt sich hier die grundsätzliche Frage, ob es in den Wundern um die Person Jesu geht oder um sein Wirken und Verkünden in Bezug auf die Menschen. Ist die Theophanie Gottes in Jesus Selbstzweck, oder zeigt sich die Macht Gottes in Jesus

54

Übersetzt in Berger/Colpe, Textbuch, 45f und Theißen, Wundergeschichten, 108

55

So z.B: Pesch, Markusevangelium 1, 273; ebenso Ernst, Markus, 150f

81 für Menschen in Not? Sollen mit Mk 4,35-41, hauptsächlich christologisch-dogmatische Erkenntnisse weitergegeben werden im Sinne von 'Jesus ist mehr als ein Prophet', 'mehr als Jona'? Oder soll gerade in dieser Wundergeschichte gezeigt werden, wie sich die Vollmacht Jesu, wie sich die Theophanie für die Menschen auswirkt: rettend, befreiend, lebenssteigemd? Letzteres erscheint angesichts des gesamten Verhaltens Jesu überzeugender: Er verkündet nicht sich, sondern das Reich Gottes, das in seinem Wirken beginnt. Dies stellt besonders Markus in seinem Evangelium heraus. 56 Wie in Jona 1 in einer Erzählung gezeigt wird, daß Jahwe allein Herr der Wasser ist, so auch in Ex 14. Diese Macht wird zugunsten der Rettung seines Volkes eingesetzt. Betz/Grimm sehen die eschatologischen Rettungen (vor Hungers-und Wassernot) als endzeitliche Entsprechungen der urzeitlichen Exodusheilstaten. Ex 14 zeigt viele Ähnlichkeiten zu Mk 4,35-41: Ein Kollektiv befindet sich in heftiger Todesangst und Kleinglauben aufgrund von Seenot; es geht um Gerettetwerden oder Zugrundegehen; sie gelangen sicher ans andere Ufer. 57 Neben diesen Erzählungen wird Jahwe vor allem in den Psalmen als der aus lebensbedrohenden Wassern Rettende bekannt und gelobt: Ps 107,23-31; 66,12; 124,4f. "Jahwes" Urtat" ist sein "Retten" aus "lebensbedrohenden Wassern" und zwar in dreifacher Gestalt: in der "geschichtlich-realen", in der "mythischen" und in der "seelischen und psalmischen". 58 In Mk 4,35-41 geht es um dieses rettende Verhalten Gottes, auf das sich die Menschen verlassen können. Jesus hat in dieser Erzählung die Macht über Wasser, die sonst nur Gott allein zugeschrieben wird. Gott setzt die Grenzen des Meeres zu Anbeginn der Schöpfung fest und besiegt den Ur-Drachen 59 . Er kann dem Wasser und Meer befehlen: Ps 104,6-9; 74,13; 77,17; 89,10.26; 33,7; Jes 51,9f; Hiob 9,8; 26,12; 38,9ff; Jer 5,22.35 und in Ps 114,3-5, wird das Meer wie eine Person angeredet, ähnlich wie

56

Vgl. auch Koch, Wundererzählungen, 93: "Gleichzeitig wird diese Epiphanie als Rettung derer, die vom Sturm bedroht sind, erzählt. Jesu Machttat ist nicht Selbstzweck, sondern die tradierende Gemeinde schildert ihn zugleich als den, der in der Gefahr des Untergangs angerufen werden kann und von dem in dieser Gefahr Hilfe erhofft werden darf." 57

Betz/Grimm, Wunder, 56

58

Betz/Grimm, Wunder, 55

59

Vgl. besonders Achtemeier, Person and Deed, 175: Er sieht in der stürmenden See in Mk 4,37f ein Symbol für die anfänglichen Chaosfluten, die Gott besiegte, als er die Welt erschuf. Er fragt, ob es letztlich nicht um die weitergehende Schöpfung in Mk 4 geht. Er hat überzeugend den atl.Hintergrund von Wasser als "powers of chaos" (174) herausgearbeitet und verweist auf Gen 7,11; 8,2; Ex 20,4; Ps 74,13; 104.

82 in Mk 4,39. Aufgrand dieser Aussagen wird auch der Zusammenhang von Rettung aus Wassernot und Theophanie, der oft beobachtet werden kann, deutlich.60 Ob Mk 4,35-41 im engeren Sinne als eine Epiphaniegeschichte bewertet werden soll oder nicht, ist letztlich weniger bedeutsam, wenn man berücksichtigt, daß jedes Wunder als Epiphanie gedeutet werden kann. Denn jedes Wunder zeugt von der Offenbarung des Heiligen, "von seiner Macht, das normale Weltgeschehen zu durchbrechen"61 und konkret rettend, heilend und befreiend zu sein. Wasser und Wasserfluten wurden zum Bild und Symbol für psychische Gefahrdung, inneres Chaos und soziale, politische Bedrängnis (Feinde). Gott wird oft als der Erretter aus derartigen Bedrohungen bekannt: Ps 93; 42,8; 66,12; 69,1; 124,4f; 144,7; 32,6f; 18,5.7.17; Hiob 27,20 (hier wird auch der Sturmwind als Symbol fur Bedrängnis und Schrecken gezeichnet) und Jona 2! c) Zusammenfassung Die Motivparallelen aus dem hellenistischen und atl.-jüdischem Bereich zeigen, daß die biblischen Wundererfahrungen im damaligen Denken vermittelbar waren. Sie zeugen von keiner Privatsprache und isolierten Erfahrung einer kleinen sektiererischen Gruppe, sondern ordnen sich ein in damaliges Erleben und Interpretieren. Der in der christlichen Sturmstillungsgeschichte zentrale Glaube kann auch nicht als der Unterschied per se zu antiken Wundererzählungen gesehen werden, vergleichbare Unterschiede begegnen auch anderswo, wenngleich verändert.62 Beide

60

Vgl. die Auflistung antiker Beispiele bei Theißen, Wundergeschichten, 109ff: Er sieht allerdings in Mk 4,35-41 die Rettung nicht durch Epiphanie, sondern durch das Motiv vom rettenden und schützenden Passagier vollzogen. Betz/Grimm, Wunder, 82f, hingegen sehen vor allem in Mk 4,41 einen eindeutigen Theophanieabschluß mit typischer Theophaniefurcht vorliegen, da sie Epiphanie begrifflich weiter fassen als Theißen, der von Epiphanie im eigentlichen Sinne reden will, "wenn die Göttlichkeit einer Person nicht nur an ihren Auswirkungen oder Begleiterscheinungen, sondern an dieser Person selbst erscheint."(102). Auch Dibelius, Formgeschichte, 91 sieht die Sturmstillung als eine Epiphaniegeschichte an; allerdings ist er der Meinung, daß "die Epiphanie im Wunder Selbstzweck" ist. Kertelge, Wunder Jesu, 93.99 erkennt in der Darstellung der Epiphanie Jesu die vormkn und mkn Intention des Textes. Zudem sieht er diese Wundererzählung, wie die übrigen, bei Markus funktional eingesetzt zur Begründung seines Evangeliums. Diese Sichtweise verkennt die den Wundererzählungen eigene Dynamik und Wirkung auf die Adressatinnen, die mehr als Legitimation des Evangeliums ist. Vgl. auch Van Iersel/Linmans, The Storm, 20: sie sehen den Epiphaniecharakter erst durch Markus ausgebaut, auf vormkn Ebene fehle dieser. 61

Theißen, Wundergeschichten, 287

62

Vgl. hierzu Theißen, Wundergeschichten,

133-143

83 Traditionsstränge: Der atl-jüdische und der antik-heidnische werden als bestimmend und beeinflussend für die Textwirkung auf die mkn Leserinnen bewertet werden müssen. Denn die Gemeinde des Mk wird als gemischte Gruppierung (Juden-und Heidenchristen) betrachtet werden müssen. 63

1.1.5. Die mkn Intention der Verknüpfung von 4,1-34 und 4,35-41 Im folgenden soll vor allem die Verknüpfung mit dem Kontext auf ihre mögliche Absicht hin beleuchtet werden, sowie die sozial-politische Situation, in der das Evangelium abgefaßt wurde. Stegemann interpretiert 4,1-32 und 4,35-41 zu Recht als Theorie-Praxis-Modell. In 4,Iff wird das Wissen um das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben. Dabei ist "nicht allein das Wissen darum, daß Gott ein herrliches Reich für die Glaubenden bereit hat, sondern die realistische Einschätzung der Gegenwart - als das dieser Zukunft notwendig korrespondierende eschatologische Pendant, also die Bewährung der Erwählung in der paradoxalen Epiphanie des Reiches sub contrario", das Geheimnis. 64 Die Sturmstillungsgeschichte stellt dazu die paradigmatische Situation der Bewährung dieses Wissens dar. Markus will demnach mit Hilfe dieser Geschichte, die er zu einer Jüngergeschichte gestaltet, seine Gemeinde warnen und belehren. 65 Dabei wird vorausgesetzt, daß die Jünger Modell für die Gemeinde sind, d.h. durch Identifikation mit den Jüngern soll die Gemeinde ihr eigenes Fehlverhalten und ihren Unglauben wahrnehmen. In diese Richtung interpretieren sehr viele Kommentare die Absicht des Markus mit diesem Text: Er will zum Glauben aufrufen und diesen stärken. Verschieden nehmen die Exegeten dabei jeweils Bezug zu dem aktuellen geschichtlichen Hintergrund der mkn Gemeinde,

63

Einige Exegeten sehen für Mk 4,35-41 allerdings nur die atl. Tradition als bestimmend an: Gnilka, Markus 1, 196; Schweizer, Markus, 56; Betz/Grimm, Wunder, 54-57; Bowman, Mark, 142; Malbon, The Sea, 375ff; Van Iersel/Linmans, The Storm, 21 u.a. 64

Stegemann, Nachfolge, 209; auch Koch, Wundererzählungen, 153, fuhrt die Verbindung von 4,1-34 und 4,35-41 auf Markus zurück, der damit Lehre und Wunder inhaltlich und formal aneinanderschließe; ebenso sieht Bowman, Mark, 14 lf, eine enge theologische Verbindung zwischen den Texten: das Thema der Gefahr von 4,15.17 werde in 4,35ff wieder aufgenommen. 65

Vgl. die Beobachtungen zur Struktur und Form, die den Vorwurf der Jünger an Jesus und Jesu Rückfrage als mkn Redaktion ausweisen.

84 der eine Stärkung und Orientierung nötig machte. 6 6 D i e Wunder sind Verwirklichung und Vergegenwärtigung des Reiches Gottes. Eine neue Zeit bricht in ihnen an mitten unter Bedrängnis und Verfolgung. Markus versucht in seinem Evangelium deutlich zu machen, w i e Anbruch des Reiches Gottes und Leidensnachfolge zusammengehören. D i e s e m Ziel dient auch die Verknüpfung von 4 , 1 - 3 4 und 4,3541. Sie demonstriert die Ambiguität, die die mkn Gemeinde auszuhalten hat: Ihnen ist das Reich Gottes verheißen und gegeben, dennoch müssen sie sich mit konkreter N o t und Bedrängnis auseinandersetzen, wobei ihnen das Wissen um das Reich Gottes Hilfe und Orientierung sein kann. 67 Im Kontext wird die bedrängen-

66

Gnilka, Markus 1, 197: "Die von Markus gezeichneten versagenden Jünger werden für die Gemeinde zum warnenden Beispiel, nicht in den gleichen Unglauben zu verfallen" und 194: "Markus hat die Form aufgebrochen und die Erzählung zu einer Jüngergeschichte gemacht." So auch Lührmann, Markusevangelium, 97: "Die Jünger, damit die Leser, werden angesprochen auf ihren Glauben" und die Geschichte ist "von Markus ausgestaltet worden als Geschichte der Jünger, die die Nähe des Reiches Gottes in Jesu Wort nicht begreifen, obwohl doch ihnen (11) das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben ist". Wie Lührmann u.a. sieht Schweizer, Markus, 56 die Fragen in V 40.41 an die mkn Leserinnen gerichtet:"So entläßt der Evangelist den Leser mit der Frage, ob er bei Jesus Gottes Handeln so erwarte, daß Machtworte fallen und neue Schöpfung ... wird." Pesch, Markus 1, 276: "Der Jüngertadel, den Markus einbringt, zielt auch auf die Situation der Gemeinde: Nicht Feigheit, sondern vertrauender Glaube ... ist gefordert." Koch, Wundererzählungen, 94:"... die Wundergeschichte hat nicht eine einmalige Episode der Vergangenheit zum Gegenstand, sondern die Erzählung von dem damaligen Wunder wird als Darstellung der Lage der Gemeinde transparent." Söding, Glaube, 445: "Die Bedrängnis der Jünger durch den Seesturm ist ein zumindest assoziativer Hinweis auf die Bedrängnisse, Drangsale und Verfolgungen, denen die Gemeinde des Evangelisten nach Mk 4,14-20; 9,40-42; und 13,5-23, in der Gegenwart ausgesetzt ist. Der Tadel der Jünger, feige zu sein und noch nicht vertrauend zu glauben, versteht sich deshalb als aktueller Anruf, auch und gerade in der gegenwärtigen Notsituation auf die machtvolle Hilfe Jesu zu hoffen." Vgl. weiter Schille, Seesturmerzählung, 37, der in Mk 4,35ff eine Aktualisierung der mkn Gemeindesituation erkennt, allerdings faßt er die Not und Bedrängnis als Glaubensnot auf und sieht eine solche nicht eingebunden in einen sozialen und politischen Rahmen. Van Iersel/Linmans, The Storm, 19.21.23 sehen die Jünger überhaupt erst als mkn Eintragung an, sie nehmen auf vormkn Ebene eine Erzählung mit anonymen Passagieren an. Vgl weiter Schnackenburg, Furcht, 60. Vgl. über diesen Text hinaus die grundsätzliche Möglichkeit, sich mit den Rollen der dargestellten Figuren zu identifizieren, die im 1 .Teil 1.1.1. dargelegt wurde. 67

Vgl. zudem die literarische Verknüpfung von 4,1 -34 und 4,35-41, wie sie oben aufgezeigt wurde. Die Thematik der Ambiguität wird in der Auslegung zu Mk 5,25-34 (II.2.) weiter ausgeführt.

85 de Situation zweimal angesprochen: Mk 4,17 (Verfolgungen) und Mk 5,17 (Jesus wird hinausgewiesen). Beides kann als Hinweis auf die mkn Situation verstanden werden. U m diese genauer erfassen zu können, soll ein Blick auf die sozialen und politischen Verhältnisse zur Zeit des Evangelisten geworfen werden.

Exkurs zur geschichtlichen Situation als Hintergrund des MkEv Die Bestimmung der sozialen und politischen Verhältnisse zur Zeit des Evangelisten hängt zunächst von dessen Datierung und Lokalisierung ab. Als Hauptvarianten der Lokalisierung herrschen Rom und Syrien vor. Überzeugender wirken die Argumente für eine Lokalisierung in Syrien, werden das sozioökologische Milieu, der traditionsgeschichtlichen Ort und die geographischen Angaben des Evangeliums berücksichtigt. 68 Ein Konsens in der Frage der Datierung pendelt sich um die Zeit kurz vor oder kurz nach 70 ein. Dabei wird verschiedentlich eine schon geschehene Tempelzerstörung angenommen, bzw. als unmittelbar bevorstehendes Ereignis gewertet. Es wird also entweder die Zeit am Ende des jüdischen Krieges oder die Zeit der Nachwehen des Krieges (letztlich dauerte er bis 74) als geschichtlicher Hintergrund des MkEv angenommen. Bei allen Differenzen und unterschiedlichen Interpretationen von Mk 13 werden Bedrängnis durch Krieg/Kriegsnähe, lokale Verfolgungen, Denunziationen, Haß, schlechte Versorgung, Hunger und lokale Erdbeben als geschichtliche Fakten, die in das Evangelium einwirkten, aufgeführt. Die Verfolgungen und kriegerischen Auseinandersetzungen werden jedoch unterschiedlich interpretiert. Kp 13 kann als Ausgangspunkt zur Erhellung der mkn Gemeindesituation genommen werden, denn in diesem Kapitel "versucht der Evangelist durch die an die vier Jünger gerichtete Ölbergrede, ....seiner Gemeinde ihre Gegenwart verständlich und erträglich zu machen...." 69 . Umstritten ist, in welchen Versen Mk direkt von der Gegenwart der Leserinnen spricht. Er bedient sich apokalyptischen Traditionsmaterials, das für seine Adressatinnen erneut aktuell ausgelegt werden konnte. Weitgehende Übereinstimmung zeigt sich in der Bestimmung der V9-13 als Widerspiegelung der Gegenwart, wenngleich auch hier Traditionsgut zur Formulierung verwandt wurde.70

68

Es ist nicht sinnvoll, die Diskussion zu Datierung und Lokalisierung in diesem Rahmen wiederzugeben. Verwiesen sei vor allem auf Theißen, Lokalkolorit, 246-261; Breytenbach, Nachfolge, 320-327, die aufgrund traditionsgeschichtlicher und geographischer Gesichtspunkte schlußfolgern, daß die mkn Gemeinde in der Nähe zu Judäa, im Umkreis von Galiläa anzusiedeln sei; ähnlich Lührmann, Markusevangelium, 7; 69

Breytenbach, Nachfolge, 329; ebenso Lührmann, Markusevangelium, 214-217; Theißen, Lokalkolorit, 134 u.a. 70

Theißen, Lokalkolorit, 139.143.166.271.274.28Iff; Lührmann, Markusevangelium, 220; Breytenbach, Nachfolge, 323ff.317ff

86 In V5-8 sehen Lührmann und Breytenbach ebenfalls die Gegenwart der Gemeinde angesprochen. 71 Nach Theißen spiegelt sich hier die Zeit 40 n.Chr. (Caligulakrise, nabatäische Kriege): Die alten Befürchtungen aus der Caligulakrise, besonders die Furcht vor einer Entweihung des Tempels, sind wieder aktuell und von Mk in V5-8 auf den jüdischen Krieg hin aktualisiert worden. 72 Entscheidend für eine Datierung wirkt sich die Deutung des Greuels der Verwüstung (V 14) aus. Bezieht er sich auf die Tempelzerstörung 70 η Chr., die unmittelbar bevorsteht bzw. schon eingetroffen ist, oder auf eine Entweihung des Tempels durch Errichtung römischer Standbilder auf der übriggebliebenen Plattform? Letzteres würde eine Aktualisierung der Erwartung des Greuels der Verwüstung aus der Caligulakrise bedeuten. V14 wäre als Scheidepunkt zu sehen: Ab jetzt würde von der unmittelbaren Zukunft der Gemeinde gesprochen. Die V21-23 zeugen wieder von der gegenwärtigen Situation der Gemeinde. Hierzu ist die These Theißens, die Flavier als Modelle fur die falschen Christusse und ihre Propagandisten als Modelle für die Pseudopropheten zu deuten, bedenkenswert. Der Evangelist kritisiert demnach "die Usurpation religiöser Hoffnung durch die römischen Herrscher, die den Aufruhr niederwarfen", 73 und wertet die religiöse Propaganda für Vespasian ebenfalls als Greuel der Verwüstung. "In dieser Lage schreibt der Verfasser des MkEv eine Art "Gegenevangelium": die Botschaft von dem Gekreuzigten, der zum Weltenherrscher bestimmt ist".74 Vespasian, der durch Wunder legitimiert werden sollte, wird durch eine Wundererzählung wie Mk 4,35ff in Schranken gewiesen. Die Wundererzählungen im MkEv können von daher auch als Propaganda gegen Vespasian und für Jesus verstanden werden. Interessant sind in unserem Zusammenhang vor allem Mk 13,9-13. Diese Verse zeigen, welchen konkreten Schikanen die Gemeinde ausgesetzt war, und von welchen konkreten Bedrohungen sie betroffen war. 75 Die Gemeinde stand als christliche Gruppe zwischen Heiden und Juden und war von beiden Seiten bedrängt und gehaßt. Zum einen stand sie dem Judentum nahe, zum anderen zeigte sie Abweichungen davon durch eine Distanz zu manchen separatistischen Normen. Breytenbach nimmt auch Konflikte mit den Juden an wegen der Heidenmission der Christen (13,10). 76 Sie waren jedenfalls der Verfolgung durch jüdische Lokal-

71

Breytenbach, Nachfolge, 316; Lührmann, Markusevangelium, 219; vgl. Perrin, Interpretation, 35, auch er sieht in 5-13 die Gegenwart der Leserinnen, in V14-23 die erste Epoche der Zukunft und in V24-37 die zweite Epoche der Zukunft angesprochen. 72

Theißen, Lokalkolorit, 161-176

73

Theißen, Lokalkolorit, 281.

74

Theißen, Lokalkolorit, 284

75

Zu folgenden Ausführungen vgl. Breytenbach, Nachfolge, 316-330; Theißen, Lokalkolorit, 281-284. 76

Breytenbach, Nachfolge, 324.

87 gerichte ausgesetzt (13,9). Zum anderen wird im selben Vers die Verfolgung durch heidnische Instanzen (Statthalter und Könige) angesprochen. Der Zusammenhang von Heidenmission und Verfolgung aus V9.10 wird schon in Mk 4,35 durch die Überfahrt in heidnisches Gebiet und in 5,17 durch die Ausweisung Jesu angedeutet. Der Jüdische Krieg wirkte sich auch außerhalb Judäas in den syrischen Gebieten aus. Josephus berichtet von Zusammenstößen zwischen Griechen und Juden, die besonders schlimm eine gemischte Gruppe wie die mkn Gemeinde, die aus hellenistischen Juden und Griechen bestand, traf. Für eine derartige Gemeinde "wäre Mk 13,9-13 nach wie vor aktuell geblieben, besonders V I 2 ; denn sie stünde zwischen den Fronten, wo es dazu kommen konnte, daß die eigene Familie Heidenchristen wegen der Gemeinschaft mit den Judenchristen auslieferte und umgekehrt." 77 Neben diesen physischen Bedrohungen wirkte auch noch die Verwirrung durch falsche Propheten und ψευδόχριστοι (V22) destabilisierend. Die gegenwärtigen Bedrohungen ließen zudem nicht auf ein baldiges Ende schließen: Angst vor zukünftigen Bedrängnissen wird in den vv 15-21 sichtbar. Erst das Kommen des Menschensohnes nach all diesen Gefahren und Bedrohungen wird die Herrschaft blasphemischer Weltmächte ablösen und Erlösung von diesen Schrecken bringen. Bis dahin gilt es auszuharren. Auf diesem Hintergrund wird die Frage der Jünger in 4,38 'Kümmert es dich nicht, daß wir zugrundegehen?' höchst aktuell. Es kann die Frage der Leserinnen sein. Resignation, eigene Ohnmacht und Angst drohen die Interpretation ihrer Gegenwart zu bestimmen, und diese Wahrnehmung konnte wiederum zu einer Verstärkung der Angst fuhren. Markus deutet in Kp 13 die Gegenwart aus der Perspektive seines Glaubens für die Gemeinde. Er ordnet die Ereignisse geschichtlich ein, wobei er mit Hilfe traditioneller Topoi formuliert. Kann die Orientierungshilfe, die Mk hier leistet, auch für Texte wie 4,35-41 veranschlagt werden? Im folgenden wird davon ausgegangen, daß die Leserinnen sich in 4,35-41 mit den Jüngern identifizieren können. Die Leserinnen des Evangeliums werden durch das Verhalten und Erleben der Jünger auf ihr eigenes angesprochen. Der zeitgeschichtliche Hintergrund muß immer im Blick bleiben, wenn in der psychologischen Exegese eine Bestimmung der Angst vorgenommen wird.

1.2. Psychologische Analyse 1.2.1. Vorbemerkungen Ohne psychologische Exegese betreiben zu wollen, fuhren einige Kommentare stellenweise genau dies explizit oder implizit durch. a) Es finden sich in der Kommentierung dieses Textes zum einen häufig psychologische Reflexionen. So schreibt Lohmeyer zu V38: "Die Frage, wie sie dasteht, ist unsinnig, aber sie drückt so scharf das sinnlos machende Gefühl der Furcht aus."

77

Breytenbach, Nachfolge 327; Vgl. Josephus bell 2,461-464; Theißen, Lokalkolorit 282f

88 "Aus Angst um ihr Leben hatten sie gefragt...", "...und wecken ihn auf, als sei es sicher, daß keine menschliche Kraft vor dem Untergang bewahren könnte."78 Auch Gnilka wertet Unglaube als Feigheit und Angst: "Der Unglaube beginnt dort, wo der Christ nicht bereit ist, aus Feigheit und Angst mit Jesus und anderen Menschen Gefahren auf sich zu nehmen und zu teilen."79 Ähnlich urteilt Kertelge: "Die Jüngerfrage in V38 zeigt zudem, daß man lediglich um die eigene Rettung besorgt ist, als gelte es nur zu überleben. Das dürfte das Versagen sein, das in V40 mit Feigheit und Unglaube gekennzeichnet wird".80 Dem schließt sich Grundmann an und führt weiter aus: "Das Unverständnis der Jünger gegenüber seiner Lehre (4,13) erscheint im Bereich des Lebens und seiner Bedrohung, die sie lähmt und zum Verzweifeln bringt, als Unglaube, der sie Jesus gegenüber meinen läßt, ihm läge nichts an ihnen. Sie haben Angst um ihr Leben...".81 Ernst sieht dagegen zwei Formen von Angst in der Geschichte vorliegen: "Die Furcht am Ende der Erzählung sitzt tiefer als die Angst mitten in der Gefahr...Der timor religiosus, der sicher mitgehört werden muß, ist freilich deutlich überlagert von jener lähmenden Angst, die aus einem glaubensschwachen, unverständigen Herzen aufsteigt".82 Betz/Grimm deuten die 'Wasserflut' als Hinweis auf eine besondere Erscheinungsform der Angst: auf Panik. "In den Rettungen der Spezies Sturm-und Wellenberuhigung rettet der Geistträger aus überflutendem, mit panischer Angst und Verzweiflung verbundenem Unheil" und "Mk 4,35-41 feiert die Überwindung der Existenz-und Todesangst durch Christus".83 b) Zum anderen wird häufig eine symbolische, methaphorisch-symbolische Aus-

78

Lohmeyer, Markus, 91

79

Gnilka, Markus 1, 198 . Ähnlich sieht Söding, Glaube, 444 durch die Vokabel 'zugrundegehen' angedeutet, daß die Jünger aus der Leidensgemeinschaft mit Jesus ausbrechen wollen, denn mit diesem Wort wird das Leidensgeschick Jesu bezeichnet. 80

Kertelge, Wunder Jesu, 93

81

Grundmann, Markus, 139

82

Ernst, Markus, 151

83

Betz/Grimm, Wunder, 63 und 100; vgl. auch die psychologischen Reflexionen zum Thema Glaube: 44-48.60ff und zur Wirkkraft der Theophanie: 98. Weitere Beispiele zu Auslegungen mit psychologischen Reflexionen finden sich bei Ritter, Angst, 243f; Schnakkenburg, Furcht, 61 f.

89 legung praktiziert, die die Zeitangabe der Nacht V35, den Schlaf Jesu, den Sturm, den See, das Boot, die Bootsüberfahrt, symbolisch deuten. "Diese Wunderzählungen sind von besonderem Interesse, weil sie Komplexe uralter symbolischer Naturmotive, vor allem den See, den Sturm und den Wind, erhalten. Als Symbole kommen wahrscheinlich auch das Schiff und die Schiffahrt in Betracht." 84 Interessant und plausibel sind die Gesichtspunkte, die Betz/Grimm zur Stelle anfuhren: "... sowohl >Wasser< als auch >Hunger< (haben) im biblischen Bereich solchen stellvertretenden Charakter ....und (sind) je nach Kontext auch in einem übertragenen, psychischen oder spirituellen Sinn zu verstehen....So mögen Wasser und Hunger eine ebensolche >Gesamtheit< oder Vielzahl menschlicher Gefahren, Krisen, Bedrohungen bzw. Nöte und Entbehrungen - einschließlich ihrer seelischen Aspekte Angst, Verzweiflung ...repräsentieren". 85 Bei Achtemeier 86 findet sich eine symbolisch-mythologische Interpretation des Meeres und der Wasserfluten. Eine interessante Variante einer symbolisch-psychologischen Auslegung ist das 'Dhvani' Reading von G.M.Soares. Es wird hier eine gelungene Integration von historisch-kritischer und symbolischer Auslegung geboten. Soares faßt Mk 4,35-41 zusammen: "It this experience of ultimate stabilitiy behind the turmoil of our agitated and threatened existence that the story of the stilling of the storm evokes." 87 c) Darüberhinaus gibt es explizite psychologische Auslegungen zur Sturmstillung. Neben Drewermann ist z.B. Schmithals zu nennen, der eine Exegese der Angst der Jünger in Übertragung auf die allgemeine Existenzangst der Menschen bietet: "Die Jünger sehen sich dem Untergang nahe, und ihre Angst drängt das Vertrauen zu Jesus zurück...Die Angst in dieser einen bedrohlichen Situation aber steht exem-

84

Hilgert, Symbolismus, 52; vgl. Belo, Markusevangelium, 163ff, Stegemann, Nachfolge,

210. 85

Betz/Grimm, Wunder 55

86

Achtemeier, Person and Deed, 169-176

87

G.M.Soares, 'Dhvani' Reading, 308. Dhvani kann begrenzt mit 'Metapher' verglichen werden. Dhvani-Reading intendiert als eine metaphorische Auslegung biblischer Texte, den Sinngehalten und Aussagen nachzuspüren, die letztlich nur über Erfahrung erfasst werden können. "Methaphor, that is, functions much as dhvani does. Like dhvani it does not communicate a lesson, but evokes a limit experience - an experience of the transcendent which is so utterly beyond conceptualization that it can only be experienced as the limit of our 'world'." (301)

90 plarisch fur die Angst, die über ihrem ganzen Leben steht....(Die Angst) trifft uns immer unterwegs, wo alles offen ist. Sie kommt aus dem grenzenlosen Horizont unseres Daseins auf uns zu." 88 "Die Hilfe des Evangeliums besteht nicht darin, daß sich alle Konflikte lösen....Sie ereignet sich darin, daß die Jünger in seinem Namen von Ufer zu Ufer fahren, darin, daß er mit ihnen unterwegs ist und ihr Geschick an das seine, seines an das ihre bindet." 89 DREWERMANN 90 hat also keineswegs recht, wenn er beklagt, daß diese Erzählung nur literarhistorisch ausgelegt und damit verkannt wurde. Er interpretiert die Angst der Jünger in Mk 4,3 5ff ebenfalls als allgemein menschliche Daseinsangst. "Im Gegenteil verstehen wir etwa an diesem Beispiel von der Stillung des Sturmes mit Hilfe der Tiefenpsychologie überhaupt erst, welche Ängste den Menschen heimsuchen können, wenn man endgültig und unausweichlich mit sich selbst konfrontiert wird... Man versteht sich selbst und die Welt nicht mehr, man könnte nur schreien vor Angst, und es gibt keine Hilfe! All die unbewußten, lange verdrängten, niemals beachteten Kräfte der Seele beginnen in der Tiefe sich zu regen und drohen unser Ich zu verschlingen". 91 Drewermann deutet das Meer als Symbol für die Lebenssituation des Menschseins schlechthin (Bild für die Haltlosigkeit der Seele) und metaphysisch für das "gähnende Nichts" des Lebens. 92 Er rechtfertigt die ausschließlich individuelle Deutung mit einem angeblichen Vorrang der Anthropologie vor der Soziologie. 93 Durch diese symbolische Auslegung können sich zwar sehr viele Leserinnen Drewermanns angesprochen fühlen, allerdings wird dadurch die Angst der Jünger und der mkn Gemeinde nivelliert. Selbst wenn eine derartige Übertragung auf 'moderne' Angst stattfindet, sollte die ursprüngliche Angsterfahrung, die sich in einer solchen Geschichte widerspiegelt, nicht verschwiegen werden. Ohne daß die Erfahrungen hinter der Erzählung im einzelnen historisch verifiziert werden müssen, läßt sich doch annehmen, daß reale Angsterfahrung mit Sturm und Seenot und konkrete Rettung hier ihren schriftlichen Niederschlag gefunden haben. Drewermanns Annahme eines individualistischen und einseitig auf psychische Nöte sich beziehenden Symbolismus blendet die

88

Schmithals, Markus 1, 259; vgl. 260-264.

89

Schmithals, Markus 1, 261 f.

90

Drewermann, Markusevangelium 1, 350ff

91

Drewermann, Markusevangelium 1, 357f

92

Vgl. Drewermann, Das Markusevangelium 1, 358

93

Vgl. Drewermann, Das Markusevangelium 1, 355 A n m l l

91 sozialen Dimensionen des Menschseins und seiner Gefahrdungen aus. Zu kritisieren ist auch seine Begründung für eine symbolische Auslegung. Aufgrund der Theodizeefrage und ihrer Lösung: Gott habe alles aufs weiseste erschaffen - "inklusive all der Katastrophen", 94 sei es unumgänglich, das "Leben insgesamt, aber auch die einzelnen Ereignisse darin, die furchtbaren wie die wunderbaren, ein Stück weit innerlicher zu verstehen und ins Symbolische zu wenden, um uns selber und Gott näher zu kommen". 95 Heißt Symbolismus für ihn damit, Unerklärliches erklären und verstehen zu können? Empfiehlt Drewermann wirklich den Rückzug aus der harten Welt der Realität in eine nebelhafte 'weiche' Welt der Symbole? 96 Im folgenden soll eine psychologische Exegese des Textes versucht werden mit Hilfe des kognitiv-emotionalen Ansatzes von R.S.Lazarus. Dabei ist die Frage, wie der Text auf die Hörerinnen wirkte und was er hier bewirkte, von besonderer Bedeutung. Eine Wundergeschichte mit einer kognitiven Emotionstheorie zu betrachten, ist besonders reizvoll, da Kognitionen und Wunder(erfahrung) sich gerade nicht auszuschließen brauchen, und das in der Erzählung angesprochene Thema des Glaubens sich plausibel mit Interpretationsmustem aus der kognitiven Psychologie beschreiben läßt. Es soll konkretisiert und expliziert werden, was es heißt, mit Hilfe von Glauben und Vertrauen gegen Angst angehen zu können. 97 Vorweg soll noch kurz die Bedeutung des Glaubens im gesamten Evangelium betrachtet werden.

94

Drewermann, Das Markusevangelium 1, 354

95

Drewermann, Das Markusevangelium 1, 354

96

Sein Vorschlag der Angstbewältigung, "auszuruhen und die Angst vergessen, um in der Tiefe, im Sprechen der Träume, in den Bildern des >Schlafeshinter< der Alltagssprache regulative Sätze wirksam, die auf Klärung und Kommunikation aus sind und die sich letztlich immer erneut die Wahrheitsfrage gefallen lassen müssen, ja die selber nach der Wahrheit drängen." (142). Vgl. weiter Ritsehl, Konzepte, 147-166: "Implizite Axiome sind Konstrukte des menschlichen Geistes unter den Bedingungen der

98 Bereich gezeigt, die von diesem impliziten Axiom zeugen: Es ist die >Ur-Erfahrung< mit diesem Gott, daß er retten will, daß er mächtiger ist als alles Bedrohende. Er ist ein Gott, der aus existenzbedrohenden Situationen, aus überflutenden Wassern herausrettet. In diese Tradition reiht sich dieser Text. Eine Steuerung des Denkens mit dem Satz: >Gott ist mächtiger als das uns Bedrohende; Gott will rettenJa, so geht esso gelingt das Leben