Anamnesis: Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900 (Moritz - Keller - Raabe) [Reprint 2012 ed.] 3484150890, 9783484150898

»Ich erinnere mich«: Dem mit dieser knappen Formel bezeichneten Paradigma des Erzählens kommt für die Literatur des ausg

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German Pages 534 [536] Year 1999

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Table of contents :
I. Einleitung
Erinnerung: Das ästhetische Modell und seine literarische Simulation
II. Systematik
1. Die kulturelle Imprägnierung der Erinnerung
2. Das Initiationsmodell als semiotisches und narratives Paradigma
III. Karl Philipp Moritz ›Anton Reiser. Ein psychologischer Roman‹ (1785/90)
1. »Und ich erinnere mich«: Erinnerung als unio mystica
2. »Die ungeheuren Bilder«: Ursprungsvisionen
3. »Anton Reisers Wanderungen«: Auf der Suche nach dem verlorenen Vater
4. »Kein Ausweg aus diesem Labyrinthe«: Die Wiederholung
IV. Gottfried Keller ›Der grüne Heinrich. Roman‹ (1853/1855)
1. »Geisterbeschwörer und Schatzgräber«: Erinnerung als opus magnum
2. »Meine geheime Schreiberei«: Lügengeschichten
3. »Höllenfahrt«: Frauenfiguren
4. »Aus dem Schattenreiche«: Die langsame Heimkehr
V. Wilhelm Raabe ›Die Akten des Vogelsangs‹ (1896)
1. »Protokollführer – nach ihrem Willen«: Erinnerung als imitatio passionis
2. »Die thebaische Wüste«: Kindheitsmuster
3. »Die Weltwanderung«: Helene Trotzendorff und Leonie des Beaux
4. »Der Tod der Könige«: Allegorien des Opferns
VI. Bilanz
Die Topik der Erinnerung ›um neunzehnhundert‹: Walter Benjamins ›Berliner Kindheit‹
VII. Abbildungen
VIII. Abbildungsnachweis
IX. Literaturverzeichnis
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Anamnesis: Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900 (Moritz - Keller - Raabe) [Reprint 2012 ed.]
 3484150890, 9783484150898

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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HANS FROMM, JOACHIM HEINZLE, HANS-JOACHIM MÄHL UND KLAUS-DETLEF MÜLLER

BAND 89

FRAUKE BERNDT

Anamnesis Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900 (Moritz - Keller - Raabe)

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1999

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

D 30 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bemdt, Frauke: Anamnesis : Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur ζ wischen 1800 und 1900 (Moritz - Keller - Raabe) / Frauke Bemdt. - Tübingen : Niemeyer, 1999 (Hermaea ; N.F., Bd. 89) Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1999 ISBN 3-484-15089-0

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch

Inhalt

I.

Einleitung

ι

Erinnerung: Das ästhetische Modell und seine literarische

II.

Simulation

ι

Systematik

15

1. Die kulturelle Imprägnierung der Erinnerung

15

2. Das Initiationsmodell als semiotisches und narratives Paradigma

III.

51

Karl Philipp Moritz >Anton Reiser. Ein psychologischer Roman< (1785/90)

65

1. »Und ich erinnere mich«: Erinnerung als unio mystica . . .

65

2. »Die ungeheuren Bilder«: Ursprungsvisionen

99

3. »Anton Reisers Wanderungen«: A u f der Suche nach dem verlorenen Vater

IV.

118

4. »Kein Ausweg aus diesem Labyrinthe«: Die Wiederholung

136

Gottfried Keller >Der grüne Heinrich. Roman< (1853/1855)

157

1. »Geisterbeschwörer und Schatzgräber«: Erinnerung als opus magnum

157

2. »Meine geheime Schreiberei«: Lügengeschichten

201

3. »Höllenfahrt«: Frauenfiguren 4. »Aus dem Schattenreiche«: Die langsame Heimkehr

V.

231 . . .

Wilhelm Raabe >Die A k t e n des Vogelsangs< (1896)

266

313

1. »Protokollführer — nach ihrem Willen«: Erinnerung als imitatio passionis 2. »Die thebaische Wüste«: Kindheitsmuster

313 348

3. »Die Weltwanderung«: Helene Trotzendorff und Leonie des Beaux 4. »Der Tod der Könige«: Allegorien des Opferns

368 392 V

VI.

Bilanz Die Topik der Erinnerung >um neunzehnhundertBerliner Kindheit
Confessiones< Im Jahre 1 9 0 0 verkündigt Freud in der >Traumdeutung< die Entdeckung des Unbewußten. Die Beschreibung dieses Phänomens basiert auf der Behauptung einer Kontiguität von Traum- und Textgenera — dem Modell des Traum-Textes. Denn die Funktionen des Unbewußten, Verschiebung und Verdichtung, setzen als Reaktion auf den traumatischen Verlust des Primärobjektes einen der poetischen Produktivität entsprechenden Generationsprozeß in Gang. 1 Die Überlagerung des psychologischen bzw. physiologischen Phänomens durch das ästhetische Modell des Textes und mithin die Doppelcodierung des Gedächtnisses ist weder willkürlich noch zufällig gesetzt. Die Produkte des Gedächtnisses, die Bilder des Unbewußten, existieren nämlich nicht an und für sich, sondern sie werden erst im Moment ihrer Transformation in einen Text — die Traumerzählung oder Bildbeschreibung — greifbar. Bald darauf begibt sich Proust auf die Suche nach der in den Tiefen seiner selbst verlorenen Zeit. In der zwischen 1 9 1 3 und 1 9 2 7 erscheinenden >Auf der Suche nach der verlorenen Zeit< versammelt Proust »alle

' Vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung. In: Freud, Studienausgabe in zehn Bänden. Hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Stachey. Bd. 2 . 2 . Aufl. Frankfurt a. M. 1972. S. 280—487. Vgl. Ulla Haselstein: Entziffernde Hermeneutik. Zum Begriff der Lektüre in der psychoanalytischen Theorie des Unbewußten. München 1 9 9 1 . S. 5 6 - 9 9 . I

wichtigen Positionen abendländischen Nachdenkens über die Erinnerung« 2 und integriert diese einer autobiographischen Fiktion. So entsteht ein Text, der nicht nur eine literarische Simulation des Freudschen Unbewußten bzw., um genau zu sein, eine Simulation von dessen Modell ist, sondern Proust entwirft zugleich, im Konzept der memoire involontaire, die wichtigste Poetik der Erinnerung seit Augustinus. Augustinus inszeniert in seinen 397/398 entstandenen >Bekenntnissen< die Suche nach dem Selbst in Gott, nach Gott im Selbst, mit allen Mitteln der rhetorischen Kunst als Autobiographie. Aber auch dieser Ursprungstext der literarisch codierten Erinnerung knüpft im berühmten zehnten Buch an einen außerliterarischen Erinnerungsdiskurs an. Gemeint ist der psychologische Initialtext, Aristoteles' >Über Gedächtnis und Erinnerung< und das dort entwickelte Modell eines generativen Speichers, das von Augustinus seinerseits in eine Poetik der Erinnerung übersetzt wird. 3 Markieren Aristoteles und Augustinus die Ausgangspunkte einer jeden Beschäftigung mit der Erinnerung, so Freud und Proust die Kulminationspunkte, vielleicht sogar den krönenden Abschluß eines Jahrhunderts, das mit Fug und Recht als das Jahrhundert des Subjekts gilt. Das 19. Jahrhundert steht, von der Transzendentalphilosophie bis hin zu Anthropologie und Psychologie, im Zeichen der Aporien freigesetzter Subjektivität. Mit der Geburtsstunde des modernen, des (psycho-)logischen Subjekts rücken dabei die Funktionen des Gedächtnisses in dem Maße in das Zentrum des Interesses, wie die subjektbegründende Funktion der individuellen Erinnerung, und sei sie eine noch so schmerzhafte und mühevolle »Penelopearbeit des Eingedenkens«,4 zum Königsweg hin zu einem als erinnerungsbedürftig erfahrenen Ich avanciert. So schreibt sich auch eine Flut von Texten, die vor dem Hintergrund dieser Subjektzentrierung entstanden sind — man denke nur an die Memoirenliteratur des 19. Jahrhunderts —, den Wunsch nach einer von jeder artifiziellen Vermittlung unberührten, individuellen, originellen, authentischen, auratischen, ja im buchstäblichen Sinne innerlichen Erinnerung auf die Fahnen und macht diesen Wunsch zum Skopus ihres Erzählens. 2

3 4

Rainer Warning: Verdrängen und Erinnern in Prousts >A la recherche du temps perduA la recherche du temps perduTraumdeutung< die von Aristoteles initiierte und in seiner Nachfolge vielfach erprobte und variierte Phä5

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Herzog weist auf Hegels Konzeption des Gedächtnisses »als Innerlichkeit, als Einheit des Ich, als jenen >nächtlichen Schacht< des Selbst« hin, »aus der sie [die Innerlichkeit, F. B.] das Erinnern, zum Bewußtsein des Selbst kommend, schöpft«. Er führt dazu aus: »Wenn auch über Erinnerung nur sinnvoll geredet werden kann, insofern man die vorausgesetzte Subjektkonzeption berücksichtigt, dann kann an der Hegeischen Bildlichkeit deutlich werden, warum sich bis zur Neuzeit der gesamte Prozeß zwischen Handlungsentwurf und Konstitution von Gedächtnis auf einen innerlichen Begriff von memoria verkürzte«. Reinhart Herzog: Zur Genealogie der Memoria. In: Memoria. S. 3 — 8. S. 5. Sigmund Freud: Notiz über den Wunderblock. In: Psychologie des Unbewußten. In: Freud, Studienausgabe. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1975. S. 362 — 369. Vgl. Jacques Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift. In: Derrida, Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. 1976. S. 302 — 350. Vgl. Piaton: Theaitetos. In: Piaton, Sämtliche Werke. Übers, von Friedrich Schleiermacher. Hrsg. von Ursula Wolf. Bd. 3. Reinbek 1994· I 9 i d . Vgl. Jünger (1957), Yates (1966), Gadamer (1964), Blum (1969), Weinrich (1976), Assmann u.a. ( 1 9 8 3 / 1 9 9 3 , 1987, 1988, 1 9 9 1 , 1 9 9 1 , 1992), Kittler (1985), Kany (1987), Koch (1988), Antoine (1989), Lachmann (1990), Carruthers ( 1 9 9 1 ) , Lachmann/Haverkamp ( 1 9 9 1 , 1993), Schmidt ( 1 9 9 1 ) , Felman (1992), Berns/Neuber (1993), Wägenbaur (1998) u.a.

3

nomenologie der Doppeleinheit Erinnerung vollends ins Kategorische wendet, 9 basiert auch das Aristotelische Modell auf der Verwandtschaft von Erinnerung und poetischer Produktivität. Es ist die über dieses ästhetische Modell bzw. diesen Modelltypus vermittelte Zusammengehörigkeit, die von Texten wie den >Bekenntnissen< oder >Auf der Suche nach der verlorenen Zeit< nicht nur poetologisch reflektiert und literarisch simuliert wird, sondern vice versa eine angemessene Beschreibung von Oberflächen- und Tiefenstruktur der jeweiligen ästhetischen Figurationen ermöglicht. Daher ist es sinnvoll, in einer ersten Annäherung an das Verhältnis von Phänomen und Text 1 0 Exemplarik und Systematik der Doppeleinheit Erinnerung anhand der Aristotelischen Gedächtnis-Schrift zu entwickeln, die »alle Zeiten und Begriffskosmetiken«, selbst noch die Freudsche, »zu überdauern scheint«. 11 Die »individualisierten und psychologisierten Konzepte[] von Erinnerung und Gedächtnis« rühmen sich also keineswegs, wie von Graevenitz behauptet, »des Vergessens der memoria-Technik«, 12 sondern sie stehen in einem komplexen Verhältnis wechselseitiger Verschränkung mit diesem genuin ästhetischen Diskurs. Die generativen Gedächtnismodelle von Aristoteles bis Freud sowie ihre literarischen Simulationen und poetologischen Transformationen zeigen, daß über die Phänomene nicht mehr zu erfahren ist als über die strukturellen Implikationen desjenigen ästhetischen Modells, das die Beschreibung dieser Phänomene zu vermitteln hat. »Wir können einen Gegenstand wie die Memoria nicht ohne Metaphern denken«, pauschalisiert schon Weinrich diesen Zwang zu Modell und Metapher. Er verweist auf die beiden in der Diskursgeschichte der Memoria invarianten Bildfelder: die räumlichen »Magazinmetaphern«, die sich »vorwiegend um den Pol Gedächtnis«, und die schriftlichen »Tafelmetaphern«, die sich »hingegen um den Pol Erinnerung« sammeln. 13 Erinne9 10

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12

13

Vgl. Die Erfindung des Gedächtnisses. Hrsg. von Dietrich Harth. Frankfurt a.M. 1 9 9 1 . Vgl. II. 1. Die kulturelle Imprägnierung der Erinnerung; II.2. Das Initiationsmodell als semiotisches und narratives Paradigma. Wolfgang Kemp: Memoria, Bilderzählung und das mittelalterliche esprit de systeme. In: Memoria. S. 2 6 3 - 2 8 2 . S. 263. Gerhart von Graevenitz: Memoria und Realismus — Erzählende Literatur in der deutschen >Bildungspresse< des 19. Jahrhunderts. In: Memoria. S. 283 — 304. S. 287. Harald Weinrich: Metaphora memoriae. In: Weinrich, Sprache in Texten. Stuttgart 1976. S. 291—295. S. 294. Vgl. Anselm Haverkamp: Auswendigkeit. Rhetorik 9 (1990). S. 84 — 1 0 2 ; Aleida Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hrsg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth. Frankfurt a.M. 1 9 9 1 . S. 1 3 — 35. Eine literarische Topologie von der Romantik bis zur Gegenwart skizziert Cordula Meier: Gedächtnis-Bilder/Bild-Gedächtnis. In: Riskante Bilder. Kunst, Literatur, Medien. Hrsg. von Norbert Bolz u.a. München 1996. S. 1 5 1 - 1 7 4 .

4

rung und Gedächtnis existieren nicht an und für sich, sondern ausschließlich in einer konstanten, in jedem spezifischen historischen und epistemologischen Kontext jedoch anders inszenierten Metaphorik. Bevor nun Proust seine Erinnerungspoetik formuliert und die Funktionen des Unbewußten in einer literarischen Simulation inszeniert, operiert zwischen dem Ende des 18. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Texten ebenso selbst- wie formbewußt zwischen Hermeneutik und Rhetorik, zwischen individueller Erinnerung und kulturellem Gedächtnis. Dabei handelt es sich sowohl um Autobiographien und autobiographische Romane als auch um Bildungs- und Entwicklungsromane sowie ihre formalen Kontrafakturen. U m die notwendige, vom Gegenstand der Untersuchung her gerechtfertigte Abgrenzung zur gattungstheoretischen Diskussion der Autobiographie oder des Bildungsromans vornehmen zu können, sollen daher im folgenden alle fiktionalen Texte, in denen die (auto-)biographische Erzählsituation organisatorisches Zentrum ist, weniger in klassifikatorischer als vielmehr in deskriptiver Hinsicht als Erinnerungstexte bezeichnet werden. Diese Erinnerungstexte lassen keinen Zweifel daran zu, daß sich Seelenund Memoria-Diskurs nicht etwa bloß in Deutschlands erster psychologischer Zeitschrift, dem >Magazin (sie!) zur Erfahrungsseelenkunde< ( 1 7 8 3 / 93), berühren. Auch Karl Philipp Moritz' >Anton Reiser. Ein psychologischer Roman< (1785/90), Gottfried Kellers >Der Grüne Heinrich. Roman< ( 1 8 5 3 / 5 5 ) und Wilhelm Raabes >Die Akten des Vogelsangs< ( 1 8 9 6 ) machen deutlich, daß Erinnerung eine Form ästhetisch vermittelter Rede ist. Denn diese Texte schließen die gerade erst entdeckten Konzepte von Individualität mit einer Subjektivierung der Memoria-Metaphorik kurz, die freilich entgegen allen Erwartungen keineswegs Verinnerlichung zum Effekt hat. Immerhin, dies mag das Bedürfnis nach Anekdotischem befriedigen, handelt es sich bei den Autoren der Texte nicht nur um hochkarätige Meister ihres eigenen, sondern auch des psychologischen Metiers. Moritz ist Mitbegründer des >MagazinsTagebuch< und >Traumbuch< als professioneller Muttersohn aus, und Raabe bekommt für seine literarische Ergründung der Untiefen des Menschen die Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät der Universität Berlin verliehen. Alle drei Autoren sind also auch mit den außerliterarischen Subjekt-Diskursen bestens vertraut und wissen um historische und zeitgenössische Modelle von Gedächtnis und Erinnerung — diese aber sind von Anfang an ästhetisch vermittelt. Mit psychologischem oder psychoanalytischem Instrumentarium würde man indessen auch von der poetischen, vor allem aber der poetologischen 5

Dimension der drei Texte lediglich einen Bruchteil erfassen — wahrscheinlich den unbedeutendsten. Denn diese Texte binden ebenso wie vor ihnen die >Bekenntnisse< und nach ihnen >Auf der Suche nach der verlorenen Zeit< die Erinnerung explizit an eine übergeordnete Problematik. Als realistische Texte — Keller und Raabe sogar mit Romanen des sogenannten poetischen Realismus — führen sie das Thema Erinnerung zunächst durch Variation der mnemonischen Schrift-Metaphorik in ganz konkreter Form ein. Die Erzähler begeben sich als Biographen mittels eigens dafür entworfener Helden auf die Suche nach den Bildern der Vergangenheit. Der Erzähler des > Anton Reisen entwirft die Erinnerungsfigur Anton Reiser, der Erzähler des >Grünen Heinrich< die Erinnerungsfigur Heinrich Lee, den Autor seiner eigenen Jugendgeschichte, und der Erzähler der >Akten des Vogelsangs< präsentiert sich selbst im Rückgriff auf die einschlägigen Topoi als Erinnerungs-Protokollanten. Diese Helden sind von dem mit Augustinus' >Bekenntnissen< unwiderruflich festgeschriebenen Wunsch beseelt, sich in der Erinnerung ihres verschütteten Ursprungs selbst zu erkennen und — im modernen Sinn — als autonome Persönlichkeiten zu konstituieren. Gleichzeitig abstrahieren aber die Texte von dieser realistischen Einführung der Erinnerungsthematik. Denn in ihrem Zentrum steht kein individueller, sondern ein systematisch begründeter Konflikt — man denke an den poetologischen Exkurs im >Anton Reiser< oder an die seitenfüllende Diskussion von Kunstanschauungen im >Grünen HeinrichAus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit < ( 1 8 1 1 / 3 3 ) , Brentanos narrativen Experimentairomans >Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter.

6

Ein verwilderter Roman von Maria< ( 1 8 0 1 ) oder Novalis' — von Keller und Raabe zitierten — allegorischen Erinnerungs- und Initiationsromans >Heinrich von Ofterdingen< (1802), rechtfertigt sich aber auch der Ausschluß der Zweitfassung des >Grünen Heinrich< (1879/80). Mit dem >Anton Reiser< steht der wichtigste deutschsprachige Erinnerungstext des ausgehenden 1 8 . Jahrhunderts am Beginn der Untersuchungen. Er stellt zusammen mit dem >Grünen Heinrich< ein eng aufeinander bezogenes Textpaar dar, auf dessen intertextuelle Verschränkung bereits Kaiser aufmerksam gemacht hat. Denn der »von Keller nirgends erwähnte« Text »des Psychologen und Ästhetikers Karl Philipp Moritz [ist] als autobiographischer Roman der engste Verwandte« des >Grünen HeinrichAkten des Vogelsangs< wird dieses Textpaar um einen kurz vor der Jahrhundertwende entstandenen Text erweitert, der so wie der >Grüne Heinrich< unverständlicherweise bis heute dem sogenannten Realismus zugeordnet wird. Raabes vielgerühmtes Spätwerk inszeniert den Erinnerungsdiskurs in einem Tableau, das selbst in ausgewiesenen Texten des europäischen Symbolismus seinesgleichen sucht. 1 5 Die Sequenz repräsentiert darüber hinaus den Erinnerungsdiskurs in drei den Epochenschwellen und ihrer Semiotik angelehnten Schritten: 1 8 0 0 , 1 8 5 0 und 1900. In allen drei Texten ist die bisher erörterte Schrift-Metaphorik nun aufs engste mit der mnemonischen Raum-Metaphorik verbunden. Bei der Niederschrift ihrer Erinnerungen funktionalisieren nämlich die Erzähler das für die Gattung verbindliche Modell des Lebenslaufes zu regelgerechten on/o-Modellen um. Die drei hier gewählten Texte exponieren nicht von ungefähr die Wanderungen und Reisen ihrer Helden. Gleichzeitig tritt die Topik von Stadtraum (Moritz), Landschaft (Keller) und Nachbarschaft (Raabe), tritt also die (Geo-)Graphie in den Vordergrund der Kompositio-

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15

Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. Frankfurt a. M. 1987. S. 24. Vgl. Hans Vilmar Geppert: Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1994. S. 4 6 8 - 4 8 0 . Um den Aporien der Realismus-Diskussion zu entkommen, wird etwa ein Text wie >Der Grüne Heinrich< heute entweder im Kontext der Moderne oder der Frühromantik gelesen. Vgl. Winfried Menninghaus: >Das Meretlein*. Eine Novelle im Roman: Strukturen poetischer Reflexion. In: Menninghaus, Artistische Schrift. Studien zur Kompositionskunst Gottfried Kellers. Frankfurt 1982. S. 6 1 - 9 0 . Zwar wird die Debatte mittlerweile auf hohem Niveau geführt. Vgl. Geppert: Der realistische Weg. S. 2 1 - 7 6 . Dennoch haftet der deutschsprachigen Literatur zwischen 1 8 5 0 und 1900 immer noch der Geruch aus der Provinz an, in welche diese Texte im Kontext der Diskussion des europäischen Romans im 19. Jahrhundert einst verbannt worden sind. Vgl. den Forschungsbericht bei Wolfgang Rohe: Roman aus Diskursen. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. München 1993. S. 2 2 7 - 2 4 6 .

7

nen. In den so entstehenden G e d e n k - R ä u m e n deponieren die autobiographischen H e l d e n in typisch memoria-technischer W e i s e ihre Erinnerungen auf den Stationen ihres Lebensweges, gewissermaßen nachträglich an den dafür vorgesehenen O r t e n , als szenisch präsentierte, einander nicht chronologisch, sondern assoziationslogisch hervorrufende Bilder, Szenen u n d Episoden. Diese memoria-technische T o p i k organisiert die Erinnerungstexte z w i schen 1 8 0 0 u n d 1 9 0 0 . Sie unterscheidet sich kategorial von der syllogistischen T o p i k , 1 0 d e m System der formallogischen Suchkategorien, die innerhalb des rhetorischen Systems den Inventionsprozeß

strukturieren. 1 7

D e r M e m o r i a - D i s k u r s b e s t i m m t daher zunehmend die ( A u t o - ) B i o g r a p h i e forschung. V o n

Graevenitz hat nachgewiesen, daß die B i o g r a p h i e

des

1 9 . J a h r h u n d e r t s von der T o p i k der Leichenrede strukturiert w i r d . 1 8 G o l d mann greift auf Mischs gattungsgeschichtliches M o n u m e n t a l w e r k zurück und weist diese T o p i k auch in der Aztfobiographie des 1 8 . u n d 1 9 . J a h r h u n derts n a c h . 1 9 D i e Leichenrede basiert auf den historisch relativ invarianten Topoi des Personenlobes (loci α persona) und den in deren K o n t e x t festgehaltenen R e g e l n zur O r d n u n g eines Lebenslaufes. 2 0

16

Zur ursprünglichen Ableitung der syllogistischen Topik aus der Mnemotechnik bei Aristoteles vgl. Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a.M. 1976. S. 45. Nach wie vor liefert Bornscheuer die umfassendste historische und systematische Übersicht über das Sachgebiet, auch wenn die theoretischen Grundprämissen seiner »Theorie der Sozialität des BewußtseinsBekenntnissen< soll parallel dazu derjenige Text zu Rate gezogen werden, der eine zwischen den Aristotelischen »Kapazitäten poetisch gleitende Darstellung des Gedächtnisses« anbietet und diese gleichzeitig an eine Poetik bindet. 2 Im zehnten Buch wird dort nämlich der subjektphilosophischen Problematik -

Augustinus' Suche nach Selbst,

Gott und Wahrheit — ihr systematisch begründeter Ort zugewiesen. >Über Gedächtnis und Erinnerung< bietet sich zum Entwurf einer Systematik in besonderer Weise an, weil sich bereits am Ursprung des Nachdenkens über die Seele zeigt, daß die Grenzverwischung zum Memoria-

1

Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf Aristoteles: Über Gedächtnis und Erinnerung. In: Aristoteles, Die Lehrschriften. Bd. 6. 2. Paderborn 1 9 4 7 . 4 4 9 b ~ 4 5 3 b . Der Bezug auf diese unter editorischen Gesichtspunkten problematische Ausgabe erfolgt, weil eine Edition der Schrift im Rahmen der kritischen Ausgabe, Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Begr. von Ernst Grumach. Hrsg. von H e l l m u t Flashar. Darmstadt I 9 5 0 f f . , noch nicht erfolgt ist. Die Übersetzung wurde anhand der Ausgabe: T h e Complete Works of Aristotle. T h e Revised Oxford Translation. Hrsg. von Jonathan Barnes. Princeton N . J . 1 9 8 6 überprüft. Z u r Einführung in den Text vgl. Richard Sorabij: Aristotle on Memory. Providence 1 9 7 2 .

2

K e m p : Memoria, Bilderzählung und das mittelalterliche esprit de systeme. S. 2 6 3 .

15

Diskurs gerade dort ihre Wurzeln hat, wo eine vermögenspsychologische Konzeption noch vorgibt, ohne ästhetische Modelle auszukommen. Bereits das erste individualpsychologische Modell von Gedächtnis und Erinnerung fällt aber als genuin ästhetisches Modell — wie der Mythos verheißt 3 - in den Zuständigkeitsbereich der Musen. Bedenkt man, daß am Anfang der Memoria-Forschung die (kultur-)semiotische Lektüre antiker Modelle gestanden hat, so ist es erstaunlich, daß die Gedächtnis-Schrift bisher kaum mehr als am Rande gestreift worden ist. 4 Die im Kontext der naturwissenschaftlich-empirischen Schriften der >Parva Naturalia< entstandene Abhandlung >Uber Gedächtnis und Erinnerung < und das dort entwickelte materielle Modell markiert den Gegenpol zur Anamnesislehre, der Lehre vom präexistenten Wissen der Ideen, 5 welcher der Metaphysiker Aristoteles in der Tradition des platonischen >MenonDe anima< i m m e r ein wesentliches C h a r a k t e r i s t i k u m der T h e o r i e des G e i s t e s g e w e s e n « , resümiert

Mitchell,

»und sie ist auch w e i t e r h i n ein E c k p f e i l e r der Psychoanalyse, der e x p e r i m e n t e l l e n U n t e r s u c h u n g e n zur W a h r n e h m u n g und populärer V o r s t e l l u n g e n über den G e i s t « . W . J. T. M i t c h e l l : W a s ist ein B i l d ? In: B i l d l i c h k e i t . H r s g . v o n V o l k e r B o h n . F r a n k f u r t a. M . 1990. S. 17 — 68. S. 2 4 . M i t c h e l l v e r w e i s t in diesem Z u s a m m e n h a n g auf die p h i l o s o p h i sche Tradition v o n H o b b e s , L o c k e u n d H u m e bis hin z u W i t t g e n s t e i n .

17

( 4 5 o a ) ~~ u n < i impliziert die qualitative Unterschiedslosigkeit von Wahrnehmungsbild (αίσθημα) und Vorstellungsbild (φάντασμα): »Für die Denkseele sind die Vorstellungsbilder wie Wahrnehmungsbilder«. 9 In den Schriften >Über die Seele< und >Über TräumeDe animaÜber die Seele< und >Über Träume< genau an diesem Punkt die Mnemotechnik ins Spiel, wenn er ausführt, daß »dieser Vorgang (Vorstellung) [ . . . ] in unserer Gewalt« liegt, »sobald wir wollen, denn wir können etwas vor Augen stellen wie die mit der Gedächtniskunst Vertrauten etwas bildlich hinstellen«. 1 7 Artifiziell-visuelle Metaphern wie Bild, Anschauung, Vor-sich-Haben und Vorstellung sprechen von einer komplexen, Schritt für Schritt auseinanderzudividierenden Verschränkung bewußtseinsphilosophischer und ästhetischer bzw. poetologischer Kategorien. Mit άνάμνησις unterscheidet Aristoteles von der sinnlich-passiven Potenz μνήμη die Aktivierung dieser Bilder des Vergangenen — den Akt der buchstäblichen Wiederholung. Denn erst, »wo man ein Wissen oder eine Wahrnehmung oder sonst etwas, dessen einstmaligen Besitz man Gedächtnis nennt, von neuem wieder aufnimmt, und nur dann, sagt man, man erinnere sich an das Betreffende« (451b). Diese Nachträglichkeit bindet άνάμνησις an die »Zeit« bzw. die Chronologie ihrer linearen Operationen, so daß Aristoteles von »Bewegungen« spricht (452b): »Es ist nur deshalb möglich, sich zu erinnern, weil die Natur der Bewegungen es mit sich bringt, daß eine der andern folgt« (451b). Aristoteles ordnet daher άνάμνησις als genuin sprachlichen Prozeß explizit dem Verstand zu. Das kommt daher, weil das Sicherinnern gleichsam einen Schluß darstellt. Denn wer sich erinnert, der schließt, daß er so etwas früher schon gesehen, gehört oder sonst erlebt hat. Solches hat aber die Natur denen vorbehalten, denen auch die Gabe zuteil geworden ist, mit sich zu Rate zu gehen; auch dies ist ja eine Art Schließen (453a). 1 8

Auf eine griffige Formel gebracht, verhält sich also μνήμη zu άνάμνησις wie das Vorstellungsbild der Einbildungskraft zur »Denkkraft« (450a). Denn so, wie das »Denken ohne die Bilder der Vorstellung nicht möglich

17

Aristoteles: Über die Seele. 4 2 7 b . »Und tatsächlich«, liest man parallel dazu in der Traum-Schrift, »gibt es Menschen, die sich das, was ihnen vorgelegt wird, gemäß der mnemonischen Regel vor Augen zu stellen meinen«. Über Träume. 4 5 8 b .

,8

Die Parallelisierung des zeitlichen Paradigmas mit der Selbstreflexivität des Subjekts entspricht der traditionellen Selbstbewußtseinsphilosophie. V g l . Dieter Henrich: Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie. In: Hermeneutik und Dialektik. Festschrift für Hans Georg Gadamer. Hrsg. von Rüdiger Bubner u.a. Tübingen 1 9 7 0 . S. 2 5 7 — 284; Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre. Hrsg. von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1 9 9 1 .

20

ist« (449b), 1 9 ist άνάμνησις ohne die Bilder von μνήμη nicht möglich. Als Verstandes- bzw. sprachlogische Operation konstruiert άνάμνησις eine zeitlich-lineare Kette, welche die Ordnung der Dinge zu repräsentieren hat: »Denn wie die Dinge miteinander zusammenhängen, so auch die ihnen entsprechenden Bewegungen«. Und so wie schon die Gegenstände auf ihrem »Nacheinander von Natur aus« basieren (452a), bildet άνάμνησις die Beziehungen der Gegenstände »mit Hilfe einer verhältnisgleichen Bewegung« ab: »Denn in der Seele gibt es genau entsprechende Figuren und Bewegungen. [ . . . ] Alles nämlich, was innen vorgeht, ist kleiner, gleichsam im Maßstab« (452b). 2 0 Aristoteles räumt dieser verkleinernden Abbildung zwar ein, daß άνάμνησις die Natur zugunsten ihrer gesicherten Erkenntnis mit dieser zeitlich-linearen Kette gewissermaßen überschreibt - »die oftmalige Wiederholung aber ersetzt die Natur« (452a). Gleichzeitig kann lediglich diese Wiederholung die einzelnen Vorstellungen im Nebeneinander ihrer differentiellen Beziehungen semantisch stabilisieren und so den gesicherten, kontrollierten Zugriff regeln, άνάμνησις basiert also nicht nur auf der Linearität ihrer Bewegungen, sondern auf deren Teleologie. 21 »Was nun alles« ins Gedächtnis eingeht, heißt es bei Augustinus ebenso zielstrebig wie siegesgewiß, »und im Verwahre[n] aufgehoben wird, das sind nicht die Dinge selber, sondern ihre sinnlich empfangenen Bilder (imagines) liegen dort bereit für den Aufruf des tätigen Geistes, der ihrer sich erinnert«. 22 Den Effekt dieses Zusammenspiels von μνήμη und άνάμνησις unterstreicht jenes Beispiel, mit dem Aristoteles der Anschaulichkeit halber die vom Anblick der Milch ausgelöste Erinnerung an den Herbst vorführt. An der abenteuerlichen Verbindung dieser beiden Wörter müssen noch die Rhetoriker der Spätantike in ihrer hemmungslosen Begeisterung, memora19

Diese konzeptualistische Vorstellung hält sich bis in die für die Gegenwartsphilosophie maßgebliche Zeichentheorie. V g l . Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hrsg. von Charles Bally und Albert Sechehaye. 2. A u f l . Berlin 1 9 6 7 . 2. Teil Synchronische Sprachwissenschaft. K a p . IV. Der sprachliche Wert. Sie wird G e g e n stand einer exemplarischen Kulturkritik. V g l . Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt a. M . 1 9 8 3 .

20

Diesen Gedanken bestätigt Gombrich mit Blick auf neurophysiologische Erkenntnisse. Er macht auf eine »Eigenheit unserer Psyche« aufmerksam, »nämlich die Fähigkeit, nicht so sehr einzelne Elemente als Beziehungen zwischen den Elementen aufzufassen«. Ernst Gombrich: Kunst und Illusion. Z u r Psychologie der bildlichen Darstellung. Stuttgart, Zürich 1 9 7 8 . S. 69.

21

V g l . Wilhelm von Humboldt: Über Denken und Sprache. In: H u m b o l d t , Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Andreas Flittner und Klaus Giel. B d . 5. Darmstadt 1 9 8 1 . S. 9 7 - 9 9 . Im Gegensatz dazu bestreitet z . B . Gallop teleologische Momente in der Aristotelischen Traum-Schrift. V g l . Aristotle on Sleep and Dreams. S. 25 — 29.

22

Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. S. 5 0 5 , vgl. S. 5 2 1 .

21

bile Verbindungen herzustellen, ihre helle Freude gehabt haben. 2 3 Denn »Herbst« ist nur eines von vielen möglichen Zielen, die auf dem Weg von »Milch« über »hell«, »Luft« und »feucht« erinnernd erreicht werden können (452a). So wie es zu Beginn dieses Jahrhunderts Freud für den Traum beschrieben hat, ist jede Station auf dem Weg zum vermeintlichen Ziel, das heißt jedes »Wort, als der Knotenpunkt mehrfacher Vorstellungen, [ . . . ] sozusagen eine prädestinierte Vieldeutigkeit«. 2 4 Bei Aristoteles heißt es im gleichen Tenor: »Daß man an denselben Gegenstand sich manchmal erinnert, manchmal nicht, kommt daher, daß an demselben Ursprung mehrere Bewegungen sich anhängen können« (452a). Augustinus wiederum exponiert dieses Phänomen in seiner Erinnerungspoetik: Wenn ich hier verweile, so ist es ein Fordern, daß man mir bringe, was ich will, und manches kommt sogleich hervor, manches läßt sich länger suchen, [...] manches stürzt im Schwall daher, und während doch anderes gefordert und gesucht wird, springt es mitten vor dich hin, als riefe es: Sind wir's vielleicht? Und ich scheuche es mit der Hand des Innern weg vom Auge meines Nachdenkens, bis sich entwölkt, was ich will, und aus dem Versteck hervortritt in die Sichtbarkeit. [...] Das alles geht vor sich, wenn ich etwas aus der Erinnerung erzähle [Hervorh. F. B.]. 25 Aus dem Beispiel Milch-Herbst wird ersichtlich, wie ernst es Aristoteles mit der materiellen Komponente seiner dualen Konzeption der Erinnerung ist. Die logische Bestimmung kennzeichnet ά ν ά μ ν η σ ι ς als eine Operation, welche die Elemente auf zwei Ebenen miteinander verknüpft. Diese Verknüpfungen

erfolgen

metaphorisch

und

metonymisch,

μνησις — wie die Strukturalisten formulieren -

indem

άνά-

Similaritätsbeziehungen

und Kontiguitätsbeziehungen erzeugt: 2 6 Daher bemühen wir uns auch um den Zusammenhang, indem wir entweder vom gegenwärtigen Augenblick anfangen oder von einem andern Ausgangspunkt, von einem ähnlichen, einem entgegengesetzten oder nahe dabei liegenden, und daraus ergibt sich die Erinnerung, weil auch die damit verbundenen Bewegungen teils dieselben sind, teils zugleich ablaufen, teils darin enthalten sind, so daß nur noch ein kleiner Anstoß darauf zu folgen braucht. 23

»Der G r u n d liegt darin, daß man dann schnell von einem zum andern kommt, z . B . von »Milch« auf »weiß« = »hell«, von »hell« auf »Luft«, weiter auf »feucht«, wobei einem der Herbst einfällt, die Jahreszeit, auf die man sich besann« (452 a).

24

Freud: Die Traumdeutung. S. 3 3 6 . Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. S. 5 0 3 u. S. 5 0 5 . Roman Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik. In: Theorie der Metapher. Hrsg. von Anselm Haverkamp. Darmstadt 1 9 8 3 . S. 1 6 3 — 1 7 4 . S. 1 6 8 ; vgl. Jacques Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft nach Freud. In: Lacan, Schriften I—III. Übers, von Norbert Haas. B d . II. Freiburg 1 9 7 5 . S. 1 7 - 5 5 .

25 26

22

Berücksichtigt man, daß der Erinnernde »den Anstoß, warum man sich erinnert, nicht weit weg suchen, sondern nur in der Nähe« finden kann (451b), offenbart sich aber die Kontiguität von Erinnerung und Rhetorik einerseits sowie von Erinnerung und Poetik andererseits. Dreh- und Angelpunkt ist die Aristotelische Konzeption der Metapher bzw. die starke Betonung des konstitutiven metonymischen Aspektes dieser sprachlichen Operation. »Denn gute Metaphern zu bilden, bedeutet, daß man Ähnlichkeiten zu erkennen vermag«, 2 7 erläutert Aristoteles und fordert unter praktischen Erwägungen vom Rhetoriker, daß eine Metapher »weder weit hergeholt — sie soll nämlich leicht verständlich sein —, noch oberflächlich ist — dies hinterläßt nämlich keinen Eindruck«: 2 8 Man muß aber Metaphern bilden, wie schon vorher gesagt wurde, von verwandten aber auf den ersten Tag nicht offen zu Tage tretenden Dingen, wie es z . B . auch in der Philosophie das Charakteristikum eines richtig denkenden Menschen ist, das Ähnliche auch in weit auseinander liegenden Dingen zu erkennen. 29

Die kleine Schrift >Uber die Weissagung im Schlaf< wählt für die logische Kategorie der Bewegung das Bild des Werfenden in einem sportlichen Wettkampf und setzt mit diesem Bild den Dichter, den Träumenden und den Erinnernden — die drei Aristotelischen Phänotypen des Melancholikers - in eins, 30 denn sie »sagen und denken [ . . . ] (Dinge, in denen) das Ähnliche dem Ähnlichen zugeordnet ist, [ . . . ] und reihen so Vorstellungen aneinander«. Die Besonderheit dieser »Zeichen[]« liegt nun darin, daß ihre referentielle Funktion zur fakultativen Variante bzw. zur rezeptionsästhetischen »Fähigkeit« erklärt wird, »Ähnlichkeiten zu erfassen«. 31 Im Brennpunkt der strukturellen Polarität von Metapher und Metonymie treffen Sprache im allgemeinen sowie Erinnerung, Traum und Poesie im besonderen also nicht nur in einem gemeinsamen materiellen, sondern

27

Aristoteles: Poetik. Übers, von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1 9 8 2 . 1 4 5 9 a . Aristoteles, Rhetorik. Übers, von Franz G . Sieveke. München 1 9 8 0 . 1 4 1 0 b . 29 Aristoteles: Rhetorik. 1 4 1 2 a . 3 ° Die Gedächtnis-Schrift, die Traum-Schriften und die Poetik — letztere als »fundierendes Paradigma« des »Prä-Textes aller späteren Melancholietheorie« >Problem< ( X X X . 1 ) — können aufgrund ihrer poetologischen und psychologischen Doppelcodierung vor dem Hintergrund des Melancholiediskurses gelesen werden. V g l . Wagner-Egelhaaf: D i e Melancholie der Literatur. S. 30f.; J a c k i e Pigeaud: Une physiologie de l'inspiration poetique. D e l'humeur au trope. Les etudes classiques 4 6 ( 1 9 7 8 ) . S. 2 3 — 3 1 ; Günter Bader: Melancholie und Metapher. Eine Skizze. Tübingen 1 9 9 0 . 31 Aristoteles: Über die Weissagung im Schlaf. In: Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 1 4 / 3 . S. 25 — 3 1 . 464b. Z u m Problem der Referenz vgl. die folgenden Erörterungen in Abschn. II. 28

23

einem genuin ästhetischen Modell zusammen — im Modell des Textes.32 Die Wahl dieses Modells bereitet Aristoteles jedoch einiges Unbehagen, wird er doch mit der Tatsache konfrontiert, daß sich die von άνάμνησις erzeugte eindimensionale Struktur in eine virtuell unendliche Sinnverschiebung und -Vervielfältigung verzweigen kann, die, wenn man so will, eine Mangelstruktur darstellt. 33 Erinnernd »verläuft [ . . . ] die Bewegung auch einmal anders, zumal wenn dorthin eine Ablenkung wirksam ist«, bemerkt er. »Daher kommt es oft vor, wenn man sich an ein Wort erinnern soll, daß man auf ein ähnlich klingendes abirrt und einen Sprachfehler macht. — Auf diese Weise also kommt das Erinnern zustande« (452b), das jederzeit vom geordneten Zugriff in eine gleichermaßen ekstatische wie exzentrische Produktivität umschlagen kann. Der teleologischen άνάμνησις wohnt demnach die Möglichkeit des Umwegs, des Abkommens vom rechten Weg und der Verfehlung des Zieles inne — die Möglichkeit des Verirrens in den Gefilden der μνήμη. Dadurch entzieht Aristoteles άνάμνησις aber der »Logik im klassischen Sinne« — der »eigentlicbe[n], vom Wahrheitswert bestimmte[n], nicht-formale[n] Logik«. Der Schritt ist irreversibel, obwohl Aristoteles noch versucht, diese andere Logik — quasi als negative Ontologie — mit der Unordnung der Natur zu begründen, die άνάμνησις angeblich ebenso wie deren Ordnung abzubilden vermag. Die bisherigen Überlegungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Aristotelische Gedächtnis-Schrift basiert auf einem Zeichenmodell, das von der vermittelnden Funktion des Vorstellungsbildes (μνήμη) zwischen dem logischen Zeichen (άνάμνησις) und seinem Gegenstand ausgeht, μνήμη kommt auf der Ebene dieses immer schon materiellen Zeichenmodells eine ikonische Abbildfunktion zu, auf der Ebene der in Aristoteles' Konzeption beschriebenen »temporalen Zeichensequenz« die hypothetische Funktion eines »atemporal-präsente[n] Vorstellungsbild[es]«, 34 dessen materielle Qualität es zum (Ab-)Bild (είκών) macht. Als solches zeichnet μνήμη für die Bildlichkeit des erinnerten Textes verantwortlich. Dieses Modell impliziert jedoch ein statisches Konzept von μνήμη und widerspricht der Tatsache, daß Aristoteles auch μνήμη temporal bestimmt. Schon am Anfang der Gedächtnis-Schrift hat er μνήμη als Tätigkeit (μνημονεύειν) eingeführt 32

Z u m Vergleich des Traumes mit »ordinary language« vgl. Gallop: Aristotle on Sleep and Dreams. S. 1 7 . 33 V g l . Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft nach Freud (S. 1 7 —55. S. 4 8 —51); Die Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens (S. 1 6 5 — 2 0 3 . S. 1 9 7 ) ; Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse (S. 7 1 - 1 6 9 . S. i i 7 f f . ) . In: Lacan, Schriften. B d . II. 34 Eckhard Lobsien: Bildlichkeit, Imagination, Wissen: Z u r Phänomenologie der Vorstellungsbildung in literarischen Texten. In: Bildlichkeit. S. 8 9 — 1 1 4 . S. 90.

24

(vgl. 449b) und an das »Zeitbewußtsein« gebunden ( 4 5 1 a ; vgl. 449b). Denn zeitlich-linear »verfährt man beim bewußten Suchen, und auch von selbst kommt die Erinnerung, wenn die betreffende Bewegung die Folge einer anderen ist [Hervorh. F. B.]«. Diese nun selbst eher aktive als passive μνήμη stellt eine Form prekären »Besitz[es]« dar (451b). Augustinus wird später von seinem »Erinnerungsschatze« sprechen, 35 Aristoteles spricht vom »Haben eines Vorstellungsbildes als Abbild eines Gegenstandes« (45 ia). Das Prekäre dieses Besitzes liegt in einer Eigendynamik, die Aristoteles nicht anders denn als spezifische Semiotik von μνήμη beschreiben kann, μνήμη produziert in einer offenen Struktur Supplemente der Wahrnehmung. Die Bilder dieses Besitzes können »plötzlich« (451a) und wie »zufällig« (452b) wieder in der Seele auftauchen, sie können bewußt aufgegriffen werden, sie können sich diesem Zugriff jedoch auch entziehen — also vergessen werden (vgl. 4 5 1 b ) . 3 6 Daraus folgt aber, daß άνάμνησις nur einen der drei semiotischen Prozesse von μνήμη - dem plötzlichen, zufälligen Erinnern, dem bewußten Erinnern und dem Vergessen — darstellt, weil dort »die betreffende Bewegung bereits angelegt ist« (452a). Darum wendet sich Aristoteles auch so entschieden gegen jene im Aktiv-PassivDualismus begründete Annahme, άνάμνησις sei eine einfache »Wiederaufnahme« oder »überhaupt Aufnahme des Gedächtnisses« (451a), kann man doch ganz »offenbar etwas im Gedächtnis haben, ohne sich gerade jetzt daran zu erinnern« (451b). Die Pointe dieses Widerspruchs zwischen aktiver und passiver Bestimmung von μνήμη liegt auf der Hand: Man muß davon ausgehen, daß Aristoteles μνήμη und άνάμνησις doppelt bestimmt hat — zum einen als semiotische Prozesse, zum anderen als spezifische Repräsentationsfunktionen innerhalb der jeweiligen semiotischen Prozesse der spontanen Erinnerung (μνήμη), der intentionalen Erinnerung (άνάμνησις) und des Vergessens. Im graduellen Unterschied zu άνάμνησις potenziert μνήμη lediglich deren Verzweigungsstruktur und gewinnt dadurch jene Monstrosität, gegen die άνάμνησις anarbeitet, von der die intentionale Erinnerung jedoch längst selbst infiziert ist. In diesem Sinne kann man sagen, daß άνάμνησις, strukturidentisch mit μνήμη, den Gedächtnisse*/ gewissermaßen simulie35 36

Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. S. 509. U m die Kategorie des Vergessens ist seit Ecos Anmerkungen, >An Ars Oblivionalis? Forget it!< ( 1 9 6 6 ) . Publications of the Modern Language Association of America 1 0 3 (1988). S. 2 5 4 — 2 6 0 , ein Streit entbrannt, der jüngst auch die Forschungsgruppe >Poetik und Hermeneutik< beschäftigt hat. Die positive Beurteilung der Gedächtnisfunktion des Vergessens wird im Untertitel ihrer Arbeitsergebnisse zum T h e m a Memoria — Erinnern und Vergessen — festgehalten. V g l . Manfred Schneider: Liturgien der Erinnerung, Techniken des Vergessens. Merkur 4 1 ( 1 9 8 7 ) . S. 676—686.

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rend verdoppelt. Die »Gewaltigkeit« des Gedächtnisses37 führt Augustinus in seinem individualisierten Konzept der Memoria zu einer Bevorzugung der in der antiken Rhetorik eingeübten Raum- vor der platonischen Schriftmetaphorik. 38 Die Tiefendimension von μνήμη unterstreichend, modifiziert er die eindimensionale Struktur der Aristotelischen Gedächtnis-Schrift zu einer virtuell dreidimensionalen Struktur. Aufgrund dieser als existentielle Herausforderung erfahrenen Dreidimensionalität unterscheidet sich der Augustinische Gedächtnisraum aber kategorisch von den mnemotechnischen Raummodellen. Da komme ich denn in die Gefilde und die weiten Hallen des Gedächtnisses, wo die gehäuften Schätze sind der unzählbaren Bilder, die von Dingen aller Art meine Sinne mir zusammentrugen. [ . . . ] Im Innern tue ich dies, im ungeheueren Räume meines Gedächtnisses. Dort sind mir gegenwärtig Himmel, Erde, Meer und alles, was ich von ihren Dingen mit meinen Sinnen fassen konnte, nur jenes nicht, was ich vergessen habe. 3 9

Wenn sich aber beide semiotischen Prozesse — die spontane und die intentionale Erinnerung — in struktureller Hinsicht nicht voneinander unterscheiden lassen, wird dann die duale Konzeption der Gedächtnis-Schrift hinfällig? Sie wird nicht hinfällig, der qualitative Unterschied verlagert sich jedoch dadurch in entscheidender Weise, daß Aristoteles die teleologische Bestimmung von άνάμνησις zu einem libidinösen Impuls umwertet, der diesen intentionalen Akt mit einem Begehren nach den Objekten der Vergangenheit speist. »Und wenn man also sich erinnern w i l l « , betont Aristoteles, »muß man dies herbeiführen« (451b). Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, daß bereits die teleologische Struktur von άνάμνησις als Repräsentationsfunktion innerhalb der drei semiotischen Prozesse von μνήμη schon durch dasselbe Begehren vorangetrieben wird, das Aristoteles in der Argumentation dann nachträglich subjektiviert. Als libidinöser Impuls bestimmt άνάμνησις das metonymisch-metaphorische Drängen. Seine (Trieb-)Ökonomie kann aber erst in dem Moment offenkundig werden, in dem der libidinöse Impuls als intentionale Handlung einem Subjekt zugewiesen wird. Beide Momente von άνάμνησις, das teleologische und das libidinöse, sind aber letzten Endes hilflose Versuche, der eigenmächtigen Bildproduktion von μνήμη Herr zu werden.40 Denn Be37 38 39 40

Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. S. 5 2 9 . V g l . Weinrich: Metaphora memoriae. S. 294. Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. S. 5 0 3 u. 5 0 7 . In dieser Bevorzugung des sprachlichen vor dem bildlichen Paradigma zeichnet sich eine Tendenz ab, die Flusser als Widerstreit zwischen Idolatrie und Ikonoklasmus beschreibt und die sich in der »aufklärerische[n] Absicht« manifestiert, Bilder den »Schriftregeln«

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gehren (άνάμνησις) und Ekstase (μνήμη) sind die beiden Kehrseiten der Doppeleinheit Gedächtnis/Erinnerung. »Das Suchen nach dem Vorstellungsbild« ist die Aristotelische Spielart des Suchens nach der verlorenen Zeit. Kein Wunder also, wenn diese Sehnsucht im gleichen Atemzug den »Schwarzgalligen« zugedichtet und mithin einem Subjekt zugeschrieben wird. Diejenigen, die »nämlich von den Vorstellungsbildern am meisten geplagt« sind, werden zu Prototypen der Gedächtnisstarken erklärt (453a). So begründet Aristoteles nicht nur die Kontiguität von Melancholie, Erinnerung, Traum und Poesie bzw. Kunst, die alle drei hier zur Debatte stehenden Erinnerungstexte zwischen 1 8 0 0 und 1900 auszeichnet, sondern führt gleichzeitig den psycho(patho)logischen Diskurs in die ästhetisch vermittelte Rede über Gedächtnis und Erinnerung ein. Sie zitieren mit dem fest verorteten Topos des Melancholikers also einen komplexen diskursiven Zusammenhang, der erst in der Nachfolge Freuds — vor allem im Rahmen der traditionellen literarischen Anthropologie — als Faktum mißdeutet und auf sein psychologisches bzw. humoralpathologisches Realsubstrat zurückgeführt wird. 4 1 Solche Interferenzen zeigen, daß die Psychologie selbst nicht ohne Rhetorik auskommen kann und sich einer im buchstäblichen Sinne andernorts eingeübten Topik verdankt. Deshalb bringt erst der in den Erinnerungstexten zwischen 1 8 0 0 und 1900 selbst geführte psychologische Diskurs die Problematik des ästhetischen Modells des Textes und seiner grammatischen Funktionen zum Austrag; und diese Funktionen lassen sich vice versa offensichtlich am besten im Rückgriff auf die von den Erzählern eingeführten psychologischen Kategorien beschreiben. Als Ergebnis der Aristoteles-Lektüre kann daher festgehalten werden, daß die Gedächtnis-Schrift mit μνήμη ein Modell entwirft, das zwischen Mimesis (μνήμη) und Diegesis bzw. Semiosis (άνάμνησις) schwankt. 42 Dieses Modell unterscheidet sich kategorisch von den statischen Modellen des Gedächtnisses als tropisch strukturiertem Speicher. Mit einem Blick auf das in der Gedächtnis-Schrift vorliegende generative Modell eines — wie ich es nennen möchte — trägen Speichers, der über eine spezifische Semiotik verfügt, kann man sogar soweit gehen zu behaupten, die Rhetozu unterwerfen, weil sie die Welt nicht abbilden, sondern verstellen. Vilem Flusser: Eine neue Einbildungskraft. In: Bildlichkeit. S. 1 1 5 - 1 2 6 . S. n y f . 41

V g l . Sigmund Freud: Trauer und Melancholie. In: Freud, Studienausgabe B d . 3. S. 1 9 3 212.

42

V g l . Piaton: Der Staat. In: Piaton, Sämtliche Werke, Bd. 2. X ; vgl. Arthur C. Danto: Abbildung und Beschreibung. In: Was ist ein Bild? Hrsg. von Gottfried Boehm. Frankfurt a . M . 1 9 9 4 . S. 1 2 5 - 1 4 7 ; Michael Riffaterre: Descriptive Imagery. Yale French Studies 6 1 ( 1 9 8 1 ) . S. 1 0 7 - 1 2 5 .

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rik der Spätantike habe der Eigendynamik von μνήμη sozusagen den Riegel vorgeschoben. Es ist sicherlich bezeichnend, daß gerade diese mit ihrer Entpsychologisierung einhergehende Funktionalisierung von μνήμη die Modelle kultureller Wissensabbildung bis ins 20. Jahrhundert bestimmt hat. Im Hinblick auf die Erinnerungstexte zwischen 1 8 0 0 und 1900 kann an diesem Punkt daher folgendes Zwischenresümee gezogen werden: Die Aristotelischen Kategorien μνήμη und άνάμνησις werden in den hier zur Diskussion stehenden Texten zum Gegenstand einer literarischen Simulation: Sie simulieren μνήμη dadurch, daß sie bestimmte, für jeden Text im einzelnen zu beschreibende Mnemo-Techniken der Verräumlichung erproben und so das zeitlich-lineare Erzählen zugunsten einer mnemonischen Organisation des Erzählten verabschieden. Sie simulieren άνάμνησις dadurch, daß sie diese Funktion erinnernden Begehrens im Falle des >Anton Reiser< und des >Grünen Heinrich< mit der allgemeinen Subjektivitätsformel Ich resp. Wtr,4i im Falle der >Akten des Vogelsangs< mit einer fiktiven Erinnerungsfigur besetzen. In dieser Besetzung, der Aktualisierung durch die narrativen Instanzen, fällt die text- bzw. erzählgrammatische Funktion άνάμνησις mit dem psychologisch indizierten Diskurs in eins. Doch um allen Mißverständnissen vorzubeugen: Das Begehren von (Autor), Erzähler und Figuren ist nichts anderes als das Begehren des Textes.44 μνήμη und άνάμνησις werden in diesen Texten darüber hinaus in poetologischer Hinsicht problematisiert: μνήμη als wahrheitsfunktionales Paradigma erinnernden Schreibens, άνάμνησις als Aporie narzißtischer Objektbindung. Die poetologische Wende dieser alten vermögenspsychologischen Kategorien ist jedoch keine originelle Leistung der modernen Literatur; sie bedarf auch keiner Vermittlung durch die rhetorische Wende. Aristoteles selbst stellt die Weichen für diesen Paradigmenwechsel, weil seine vermögenspsychologische Konzeption der Doppeleinheit Gedächtnis/ Erinnerung in Kategorien verhandelt wird, die sich bis zur völligen Uberlagerung an den poetologischen Diskurs annähern. Diese Uberschneidung betrifft vor allem die wahrheitsfunktionale Konzeption des Erinnerungsbildes als Vorstellungsbild und ist integraler Bestandteil der Semiotik jenes zwischen Mimesis und Diegesis schwankenden textuellen Modells des trägen Speichers. 43 44

Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. 1 9 8 1 . S. 105 — 180. Zur erzählgrammatischen Reformulierung psychologischer bzw. psychoanalytischer Kategorien vgl. Hayden White: Die Bedeutung von Narrativität in der Darstellung der Wirklichkeit. In: White, Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt a.M. 1990. S. 1 1 - 3 9 . S. 33ff.

28

II. Das Erinnerungsbild steht im Zentrum der Erinnerungstexte zwischen 1 8 0 0 und 1 9 0 0 und markiert den Angelpunkt von literarischer Simulation und ästhetischer Figuration der Erinnerung. Die Bedeutung des Bildes reicht von seiner psychologischen Einfuhrung bis zur poetologischen Abstraktion. Denn in den hier zur Diskussion stehenden Texten werden im Namen des Bildes die Qualität von Vorstellungsbildern, die Qualität konkreter Gemälde sowie die wahrheitsfunktionale Qualität von Zeichensystemen verhandelt und mit der subjektphilosophischen Frage nach der Möglichkeit erinnernden Selbst- bzw. Objektbezugs enggeführt. Diesen Kategorienschmuggel gilt es im folgenden unter ästhetischen, bewußtseinsphilosophischen und poetologischen Gesichtspunkten aufzuklären. »Gedächtnis wieder ist«, hat es bei Aristoteles geheißen, »nicht ohne Vorstellungsbild möglich« (450a). Seine Konzeption des Vorstellungsbildes basiert, wie schon erwähnt, auf der Annahme einer Isomorphierelation von sinnlicher und innerer Wahrnehmung. Diese Isomorphierelation impliziert die qualitative Unterschiedslosigkeit von Wah'rnehmungsbild und Vorstellungsbild. Sie wird in dem Moment, in dem Aristoteles notgedrungen das Modell materieller Repräsentation ins Spiel bringen muß, zum semiotischen Konzept der Ähnlichkeit zwischen Bild (εικών) und Gegenstand umgemünzt. Für die Lösung der Gretchenfrage: »Wie also gedenkt er [der Mensch, F. B.] des abwesenden Gegenstandes« (450b) und zur Veranschaulichung dieser privilegierten Repräsentation des »nicht gegenwärtigen Gegenstand[es] im Gedächtnis« initiiert Aristoteles einen für die europäische Kulturgeschichte folgenschweren Vergleich: »Das Erlebnis, dessen Vorhandensein man Gedächtnis nennt«, behauptet er nämlich, »ist wie ein Gemälde (ζωγραφία), weil die ablaufende Bewegung gleichsam einen Eindruck des Wahrnehmungsbildes zurückläßt, wie wenn man mit einem Ring (δακτύλιος) gesiegelt hat« (450a). Auf welchen Voraussetzungen basiert nun dieses Wittgensteinschen Sinne —, das Aristoteles mit dem unternimmt? Es basiert nicht auf dem Wesen von meinen 45 und konkreten Gemälden im besonderen, 40 45

46

Sprachspiel Begriff des Bildern im sondern es

— im Bildes allgebasiert

Mitchell weist zu Recht auf den unpräzisen Gebrauch dieses Begriffes hin: »Wir sprechen von Gemälden, Statuen, optischen Illusionen, Karten, D i a g r a m m e n , Träumen, Halluzinationen, Schauspielen, Gedichten, Mustern, Erinnerungen und sogar von Ideen als Bildern, und schon allein die Buntheit dieser Liste läßt jedes systematische, einheitliche Verständnis unmöglich erscheinen [Hervorh. F. B.]«. Was ist ein Bild? S. 1 9 . Mitchell betont die »kulturellen Praktiken«, welche die Theorie der Bilder maßgeblich bestimmt haben: »Ich habe daher nicht vor, eine neue oder bessere Definition v o m Wesen

29

auf einer in diesem Begriff kulturell fest verankerten (Selbst-)Mystifikation. Denn vom Standpunkt der heutigen Forschung zur Semiotik des Bildes wird deutlich, daß die Aristotelische Privilegierung des Gemäldes in einer ästhetischen Hierarchie wurzelt, die Bilder als vermeintlich natürliche Zeichensysteme gegenüber Texten als konventionellen Zeichensystemen bevorzugt. Im Bild, so die Prämissen dieser fatalen Hierarchie, fallen nicht nur Signifikat und Signifikant in eins, sondern der Bezug zum Referenten ist im Zeichen anschaulich gegeben, so daß die Qualität des Bildes in seinem unmittelbaren Wahrheitsgehalt liegt. Das Geheimnis dieses Bildbegriffes besteht in einer ontologisch konzipierten Ähnlichkeit mit dem Gegenstand. »Je grösser und offenbarer die Ähnlichkeit mit dem Urbild ist, desto mehr Licht und Wahrheit hat das Gemähide«, begründet Breitinger zu Beginn des 18. Jahrhunderts den Zusammenhang von Ähnlichkeit und Wahrheit, 47 der von der Kunst ein Maximum an Naturwahrheit fordert. Dieses mimetische Ähnlichkeitskriterium läßt gerade nur jenes Minimum an Differenz zu, das ein Zeichen überhaupt erst als solches konstituiert. Jedes (gegenständliche) Bild erscheint uns »natürlich und motiviert und zutiefst mit den Sachen verbunden«, faßt Eco dieses wohl wirkungsmächtigste Vorurteil der Semiotik/Ästhetik zusammen, es stellt aber auf der Basis des »gesunden Menschenverstandes« eine Tautologie dar. 48 A n prominenter Stelle ist erörtert worden, daß diese ästhetische Hierarchie von Text und Bild zu Unrecht besteht. 49 Mitchell resümiert die Ergebnisse »moderne[r] Untersuchungen«. Sie »gehen davon aus, daß Bilder als eine Art Sprache verstanden werden müssen; man hält Bilder nicht mehr für transparente Fenster zur Welt, sondern begreift sie als die Sorte Zeichen, die sich trügerisch im Gewand von Natürlichkeit und Transparenz präsentiert, hinter der sich aber ein opaker, verzehrender, willkürlicher Mechanismus der Repräsentation, ein Prozeß ideologischer Mystifikation der B i l d e r zu g e b e n « , führt er zu diesem kulturkritischen A n s a t z aus, »oder auch irgendwelche speziellen A b b i l d u n g e n oder K u n s t w e r k e zu untersuchen. Statt dessen werde ich m i c h der F r a g e w i d m e n , auf welche Weise w i r das W o r t Bild

in verschiedenen institutio-

nalisierten D i s k u r s e n verwenden — in der Literaturkritik, der K u n s t g e s c h i c h t e , der T h e o logie und der Philosophie«. Was ist ein B i l d ? S. 1 8 . 47

J o h a n n J a k o b B r e i t i n g e r : Critische D i c h t k u n s t ( 1 7 4 0 ) . In: B o d m e r , Breitinger: Schriften zur Literatur. H r s g . von V o l k e r M e i d . S t u t t g a r t 1 9 8 0 . S. 8 3 - 2 0 4 . S. 9 3 .

48

U m b e r t o Eco: Z u einer Semiotik der visuellen Codes. In: Eco, E i n f ü h r u n g in die Semio-

49

D i e semiotische B e w e i s f ü h r u n g soll hier hinter der metaphernkritischen Analyse zurück-

tik. M ü n c h e n 1 9 7 2 . S. 1 9 5 - 2 4 9 . S. 2 0 0 . treten. G r u n d l e g e n d e systematische Studien zur Sprachlichkeit von B i l d e r n finden sich u . a . bei Eco ( 1 9 7 2 ) , G o o d m a n ( 1 9 7 3 ) , G o m b r i c h ( 1 9 7 8 , 1 9 8 4 ) , M u c k e n h a u p t ( 1 9 8 6 ) , M i t c h e l l ( 1 9 8 0 , 1 9 8 6 ) , Barthes ( 1 9 9 0 ) ; H a r m s ( 1 9 9 0 ) , Scholz ( 1 9 9 1 ) , B o e h m ( 1 9 9 4 ) .

30

v e r b i r g t « . 5 0 U n t e r rezeptionsästhetischen

Gesichtspunkten

ist es daher

nichts anderes als eine kulturelle Fehlleistung, w e n n jene in der A r i s t o t e l i schen >Poetik< erwähnten V ö g e l sich nach den g e m a l t e n Trauben auf den legendären Bildern des Z e u x i s verzehren. Sie folgen d e m m i m e t i s c h e n I m perativ willenlos, der da heißt: Sieh kein B i l d , sondern Trauben! — Sieh »die D i n g e selbst, nicht die B i l d e r der D i n g e « . 5 1 N u r diese blinde R e z e p tion, das unmittelbare Begehren, kann die konstitutive Differenz, die das Ähnlichkeitskriterium begründet, überspielen und die imaginäre Identität zwischen Z e i c h e n und G e g e n s t a n d herstellen. D a h e r erklärt Aristoteles die A n g e l e g e n h e i t des Vorstellungsbildes auch in erster H i n s i c h t zu einer Sache des adäquaten Selbst- bzw. O b j e k t b e z u g s , w e n n er fordert: » D a s bedeutet die G e w ö h n u n g daran, etwas als A b b i l d u n d nicht als D i n g f ü r sich« bzw. als » U r b i l d « anzusehen. D e r realitätsgerechte B e z i e h u n g s m o dus liegt darin, » n i c h t mehr die Vorstellung als solche, sondern die V o r stellung von etwas darin [zu] sehen« ( 4 5 1 a ) . Diese Forderung deckt sich m i t Peirce' M i n i m a l d e f i n i t i o n des chens.

52

Zei-

E s impliziert eine dritte Position (Interpretant), die zwischen d e m

Z e i c h e n und seinem Referenten v e r m i t t e l t . 5 3

Die

wahrheitsfunktionale

A u f l a d u n g des Vorstellungsbildes bei Aristoteles zeigt, daß die philosophische Tradition, den A k t des G e g e n s t a n d s b e z u g s i m B e w u ß t s e i n bildlich zu d e n k e n , 5 4 in A b h ä n g i g k e i t zur mimetischen Ä s t h e t i k steht. B i l d e r w e r 5° Mitchell: Was ist ein Bild? S. 18. 51 Mitchell: Was ist ein Bild? S. 27. 52 In diesem Sinne lautet die Minimaldefinition eines Zeichens: »The conception of substitute involves that of a purpose and thus of genuine thirdness«. Charles S. Peirce: The Icon, Index and Symbol. In: Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Hrsg. von Charles Hartshorne und Paul Weiss. Bd. 2. 3. Aufl. Cambridge Mass. 1965. S. 1 5 6 - 1 7 3 . 2. 276. In den folgenden Anmerkungen wird nach der internen Numerierung zitiert. 53 Im Gegensatz zur klassischen Repräsentationstheorie, in der nicht mehr das »drittef] Element der Ähnlichkeit« zwischen Zeichen und Objekt vermittelt, besteht die Qualität des Zeichens »in jener der Repräsentation eigenen Kraft, sich selbst zu repräsentieren«. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 1974. S. 1 0 1 . In diesem Sinne entwirft Peirce ein triadisches Zeichenmodell, welches das aristotelische Konzept angemessen kommentiert: »Of course, nothing is a sign unless it is interpreted as a sign« (2. 307). Es impliziert eine dritte Position (Interpretant), die zwischen dem Zeichen und seinem Referenten zu vermitteln hat: »A Sign, or Representamen is a First which stands in such a genuine triadic relation to a Second, called its Object, as to be capable of determining a Third, called its Interpretant, to assume the same triadic relation to its object in which it stands itself to the same Object« (2. 274). 54 Tugendhat zeigt die Persistenz der Vorstellungstheorie bis ins 20. Jahrhundert. Die Repräsentationstheorie ist die neuzeitliche Variante der Gegenstandstheorie: »Die Idee einer vorsprachlichen Bezugnahme auf Gegenstände impliziert, daß man sich diese Bezugnahme als ein Vorsichhaben denkt. [ . . . ] In dieser Verwendungsweise heißt sich etwas vorstellen so viel wie sich etwas vergegenwärtigen, sich ein inneres Bild, Phantasiebild davon

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den als privilegierte, auf einer absolut symmetrischen Ähnlichkeitsrelation basierende Repräsentation von Welt bestimmt, und dieses Prinzip wird auf das Vorstellungsbild übertragen. Umgekehrt wird die Isomorphierelation von sinnlicher Wahrnehmung und Vorstellung auf das materielle Bild als Zeichensystem zurückübertragen. Man hat es also im besten Fall mit einem Prozeß wechselseitiger Projektion zu tun. Erst vor diesem Hintergrund wird klar, warum im ästhetischen Diskurs zwischen der Bildlichkeit eines Textes, eines Bildes und einer mentalen Repräsentation qualitativ nicht unterschieden wird, denn die Kategorie Bild dient nicht allein der Klassifikation der Zeichen, sondern wird als Metapher für die Qualität eines beliebigen Repräsentationssystems verwendet — für den Modus seines Wahrheitsgehalts. 55 Im Herzstück der Gedächtnis-Schrift wendet Aristoteles diese Bildontologie auf die Funktion des Vorstellungsbildes im erinnerten Text

an,

indem er nun das Vorstellungsbild nicht mit ζωγραφία assoziiert, sondern μνήμη mit einer (Schreib-)Tafel (πίναξ) vergleicht. A n dieser Passage scheitert — einschließlich der jüngsten Unternehmungen im Rahmen der Anthropologie- und Intertextualitätsforschung — immer wieder die Durchdringung der Aristotelischen Argumentation. Sie scheitert, genauer gesagt, an dem Begriffspaar ζωον/εΐκών, das im allgemeinen auf der Basis der sinnlosen Übersetzung Tier/Bild interpretiert wird.' 6 Sinnvoll wird die

55

56

machen, es anschaulich vor sich bringen«. Selbst wenn mit der Transzendentalphilosophie das Modell »innere[r] Vorstellungen als Vertreter (repraesentationes) der äußeren Gegenstände« verworfen wird, bleibt die Kategorie der Vorstellung »an ein anschauliches und sogar optisches Modell« gebunden, das zu einem »nicht anschaulichefn] bewußte[n] Vorsichhaben von etwas« abgeschliffen wird. »Und in diesem Sinn ist das Vorstellen zum allgemeinen Begriff für die bewußte Beziehung auf Gegenstände geworden«. Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie. Frankfurt a. M. 1976. S. 86f. Den wahrheitsfunktionalen Status des Bildes veranschaulicht Peirce' Konzept des Ikons, in dem zunächst überhaupt nicht zwischen Bild — »any material image« (2. 276) — und Sprache und wiederum nicht zwischen »every assertion« (2. 278) sowie »metaphors« (2. 277) differenziert wird. Jede Repräsentation muß, um wahr zu sein, auf ein »icon« oder ein »set of icons« bezogen sein (2. 278). In dieser Funktion ist das Ikon in Peirce' Konzeptualismus eingebunden (vgl. 2. 295 u. 2. 302). Ein Zeichen, »so lautet die konzeptualistische These, kann man nur verstehen«, wenn es »mit der Vorstellung von etwas verbunden ist«, für die es steht; »denn sonst hätte ja die Verwendung« des Zeichens »keine objektive Grundlage, sie wäre willkürlich«. Tugendhat: Vorlesungen. S. 184. »So ist ein auf dem Bild gemaltes Tier so gut ein Tier wie ein Bild, ein und dasselbe ist dies beides, nur das Wesen ist beidemal nicht das gleiche, und man kann es betrachten als Tier und als Bild. So muß man auch vom Vorstellungsbild annehmen, daß es einmal an sich selbst Gegenstand der Betrachtung sei und Erscheinung von etwas anderem. Soweit es also für sich steht, ist es Gegenstand der Betrachtung oder Erscheinung, soweit es für etwas anderes steht, ist es Bild oder Erinnerungszeichen« (450b).

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begriffliche Opposition nämlich erst in dem Moment, in dem der argumentative Wechsel vom Repräsentationsmodus des Bildes (ζωον) zur Repräsentationsfunktion der Ähnlichkeit (είκών) im Rahmen jenes textuellen Modells des trägen Speiebers markiert wird: A picture (ζφον) painted on a panel is at once a picture (ζωον) and a likeness (είκών): that is, while one at the same, it is both of these, although the being of both is not the same, and one may contemplate it either as a picture, or as a likeness. J u s t in the same way we have to conqeive that the image within us is both

something

in

itself

(θεώρημα)

and

relative

to

something

else

(φάντασμα). In so far as it is regarded in itself, it is only an object of contemplation, or an image; but when considered as relative to something else, e. g., as its likeness, it is also a reminder (μνημόνευμα) ( 4 5 0 b ) . 5 7

Die wohlgewählte Übersetzung macht überhaupt erst deutlich, worauf der Aristotelische Vergleich des Vorstellungsbildes mit einem Gemälde und einer »Prägung« abhebt (450b). Perspektiviert man diesen Vergleich semiotisch, so entwirft Aristoteles erst die Repräsentationsmodi zweier Zeichenklassen, um sie dann im Zuge des dritten Vergleiches mit der (Schreib-)Tafel auf die Repräsentationsfunktionen von μνήμη als Zeichen bzw. Zeichenprozeß zu übertragen. Denn der bildhaltige Text der μνήμη soll eine ebenso privilegierte Repräsentation seines Gegenstandes darstellen wie das Gemälde. Dieselbe Verschränkung psychologisch-erkenntnistheoretischer und semiotisch-ästhetischer Kategorien findet sich in der ersten semiotischen Theorie der Repräsentation bei Peirce, dessen Zeichentypologie geeignet ist, das Aristotelische Sprachspiel zu erläutern. In der ersten Zeichenklasse, die dem Gemälde-Vergleich entspricht, basiert das Zeichen auf der Ahn-

57

Aristotle: On Memory and Recollection. In: The Complete Works of Aristotle. The Revised Oxford Translation, Bd. 1. 450b. In der alten Oxford-Übersetzung heißt es erläuternd: »ζφον here and below = picture generally not picture of animal. The use of the word is as early as Empedokles (Karst. 372), and Herod, iv. 88. To restrict the meaning here to painted animals would spoil the illustration, since the ζωον would be relative at once and from the first«. Aristotle: De memoria et reminiscentia. In: The Works of Aristotle Translated into English. Hrsg. u. libers, von W. D. Ross. Bd. 3. Oxford 1 9 3 1 . 450b. Anm. ι . Die Übersetzung in der Ausgabe von The Loeb Classical Library ist viel weniger präzise: »Just as the picture painted on the panel is at once a picture and a portrait, and though one at the same, is both, yet the essence of the two is not the same, and it is possible to think of it both as a picture and as a portrait, so in the same way we must regard the mental picture within us both as an object of contemplation in itself and as a mental picture of something else. In so far as we consider it in itself, it is an object of contemplation or a mental picture; but in so far as we consider it in relation to something else, e.g., as a likeness, it is also an aid to memory«. Aristotle: On Memory. In: Aristotle, On the Soul. Parva naturalia. On Breath. With an English Translation by W. S. Hett. 2. Aufl. London, Cambridge Mass. 1 9 5 7 . 450b.

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lichkeit m i t d e m G e g e n s t a n d und stellt somit scheinbar eine qualitative, unmittelbare oder einstellige Repräsentation dar: » E i n Ikon ist ein Repräsentamen, das die Funktion eines Repräsentamens kraft einer Eigenschaft erfüllt, die es f ü r sich g e n o m m e n besitzt, und es w ü r d e genau diese E i g e n schaft auch besitzen, w e n n sein O b j e k t nicht e x i s t i e r t e « . ' 8 Peirce erläutert, daß »ein bloßes Ikon [ . . . ] keinerlei U n t e r s c h e i d u n g zwischen sich selbst u n d seinem O b j e k t « macht. » E s repräsentiert, was auch i m m e r es repräsentieren kann; und alles, d e m es nur i m m e r ähnlich ist, ist es insofern auch. E s ist ein Fall von bloßem Sosein« ( 5 . 7 4 ) . A u f g r u n d seiner impliziten B i l d a u t o n o m i e w o h n t d e m Ikon aber die M ö g l i c h k e i t inne, sich v o m G e g e n s t a n d der Repräsentation zu lösen. 5 9 A u f diese M ö g l i c h k e i t weist Aristoteles durch die Alternative von A u t o - und Heteroreferentialität des Bildes hin ( θ ε ώ ρ η μ α / φ ά ν τ α σ μ α ) . 0 0 A u c h A u g u s t i n u s steht vor einem vergleichbaren semiotischen Paradox: »Ich sage B i l d der Sonne, und schon ist es in m e i n e m Gedächtnis; was ich da erwecke, nicht nur ein B i l d von ihrem B i l d e ist es jetzt, sondern das B i l d selber, und dies steht m i r beim Erinnern g e g e n w ä r t i g « . 6 1

58

59

Charles S. Peirce: Aus den Pragmatismus-Vorlesungen. In: Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus. Hrsg. von Karl Otto Apel. Frankfurt a.M. 1 9 9 1 . S. 3 3 7 426. 5. 73. In den folgenden Angaben wird nach der internen Numerierung zitiert. So kann es sich aber auch mit jeder Form des Bildes verhalten, wie Peirce im Laufe seiner Argumentation bemerkt. Peirce beschäftigt zunächst die Analyse der Repräsentation (Vorstellung, Vergegenwärtigung) innerer und äußerer Phänomene im Bewußtsein. DieSe Analyse und die Zeichentheorie durchdringen einander gegenseitig: Die Zeichenfunktion besteht darin, Phänomene zu repräsentieren (Darstellung, Vertretung), und auf ihr basiert die Verstandestätigkeit (vgl. 5. 43). Peirce kennt drei allgemeine Kategorien der Bewußtseinsweisen. Erstheit ist Qualität, Zu/eitheit ist Reaktion und Drittheit ist Repräsentation (vgl. 5. 44ff.). Diese drei Kategorien überträgt Peirce nun auf die Repräsentationsmodi der drei von ihm deduzierten Zeichenklassen: »icons [Erstheit, F. B.], indices [Zweitheit, F. B.] and symbols [Drittheit, F. B.]« (2. 275).

60

Lachmann macht diesen Gegensatz an der Opposition ζωον/είκών fest. »Zoon konnotiert lebendige Präsenz, ein sich selbst repräsentierendes Bildwerk, Autoreferentialität, eikon dagegen Repräsentation, Ähnlichkeit, Heteroreferentialität. [...] Aber das eikon kann die gegenläufige Funktion der Selbstbezüglichkeit, das zoon, nicht ausschließen. Damit wird die in der Ähnlichkeit gründende Referenz überlagert«. Gedächtnis und Literatur. S. 28. Wagner-Egelhaaf knüpft daran an und bestätigt: »Die differentielle Doppelpoligkeit von ζωον und είκών ist das Einfallstor phantasmatischer Entstellung im Prozeß der Erinnerung. [ . . . ] In der Überlagerung der Repräsentations- durch die Erinnerungsfunktion verliert, so könnte man sagen, das Phantasma unmerklich seine Referenz«. Die Melancholie der Literatur. S. 35.

61

Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. S. 523. Bei Goethe heißt es in diesem Sinne in der bekannten Definition des logischen Paradoxons: »Es [das Anschauungssymbol, F. B.] ist die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache, ein im geistigen Spiegel zusammengezogenes Bild, und doch nicht mit dem Gegenstand identisch«. Johann Wolf-

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Da die Aristotelische Gedächtnis-Schrift aber die primäre Aufgabe des Vorstellungsbildes darin sieht, seinen Gegenstand zu repräsentieren, erweitert Aristoteles den ikonischen Repräsentationsmodus des Gemäldes — so wie Piaton im >Theaitetos< — durch den Siegelabdruck in Wachs 6 2 Die Relation von Eindruck und Abdruck bestimmt das Vorstellungsbild als zweistelligen Repräsentationsmodus, den Peirce für das Zeichen der zweiten Zeichenklasse veranschlagt: »Ein Index ist ein Repräsentamen, das die Funktion eines Repräsentamens kraft einer Eigenschaft erfüllt, die es nicht haben könnte, wenn sein Objekt nicht existierte« (5. 73). Und er führt aus: »Hier haben wir ein reaktionshaftes Zeichen, welches dies kraft einer realen Verbindung mit seinem Objekt ist« (5. 75). Dieser doppelte Vergleich Gemälde/Siegelabdruck in der Gedächtnis-Schrift impliziert also sowohl eine qualitative als auch eine reale Verbindung von Vorstellungsbild und Gegenstand. Die Repräsentationsmodi dieser beiden Zeichenklassen werden nun vor der Folie des dritten Vergleiches von μνήμη und der (Schreib-)Tafel mit dem Vorstellungsbild als Zeichenfunktion gleichgesetzt. Das Zeichen der dritten Zeichenklasse ist bei Peirce von seinem materiellen Träger unabhängig: »Ein Symbol ist ein Repräsentamen, das seine Funktion unabhängig von jeder Ähnlichkeit oder Analogie mit seinem Objekt erfüllt und ebenso unabhängig von jeder tatsächlichen Verbindung mit ihm, sondern einzig und allein, weil es als ein Zeichen interpretiert wird. So verhält es sich z.B. mit jedem allgemeinen Wort, einem Satz oder einem Buch« (5. 73). Im Sinne der wahrheitsfunktionalen Bestimmung transformiert auch Peirce in der Bestimmung des Zeichens die drei Zeichenmodelle zu Funktionen des Repräsentamens. Das echte Zeichen entsteht im Zusammenwirken zwischen der ikonischen Abbildfunktion, der Denotations- bzw. Designationsfunktion und der Interpretationsfunktion.63

62

63

gang Goethe: Nachträgliches zu Philostrats Gemälden. In: Goethes Werke. I . A b t . Bd. 49. 1. Reprint. München 1987. S. 136—142. S. 142. »Wir wollen den Wachsblock, sagt Sokrates, »ein Geschenk der Mutter der Musen nennen, der Mnemosyne, und annehmen, was wir im Gedächtnis behalten wollen von dem, was wir sehen, hören oder selbst denken, das drücken wir in den Wachsblock ab, indem wir ihn unter unsere Wahrnehmungen und Gedanken legen, ähnlich wie man die Abdrücke eines Siegelringes eindrückt«. Piaton: Theaitetos. I 9 i d . Dieses Modell bestimmt bis ins frühe 20. Jahrhundert die Interaktion von sinnlicher Wahrnehmung und Gedächtnis, so auch den »Wunderblock«, mit dem Freud die doppelte Bewegung des Bewahrens und Vergessens im Unbewußten erläutert. Vgl. I. Das ästhetische Modell und seine literarische Simulation. Die triadische Beziehung ist »genuine«, d. h. nicht auf eine der drei möglichen dyadischen Beziehungen zu reduzieren (2. 274). Der Interpretant ist als bedeutungstragende Wirkung die zentrale Kategorie des echten Zeichens.

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»Ikonizität und Indexikalität« des Vorstellungsbildes gehören in die unmittelbare Nähe zum ästhetischen Konzept der Mimesis, erläutert Lobsien, weil sie »ebenfalls von einer Präsenz des Gegenstandes im Medium seiner Repräsentation ausgehen und folglich Modi der Bildlichkeit [von Texten, F. B.] beschreiben«.04 Doch trotz ikonischer und indexikalischer Repräsentationsfunktion des Vorstellungsbildes steht Aristoteles vor der Konsequenz seiner Entscheidung, dieses Bild überhaupt als »Erinnerungszeichen« (μνημόνευμα) bestimmt zu haben. »Wenn jedoch das Erlebnis eine Art Prägung in uns ist oder Auszeichnung, wie kann ihr Gewahrwerden das Gedächtnis an etwas ganz anderes sein und nicht bloß eben sie [die Wahrnehmung, F. B.] zum Gegenstand haben« (450b)? Am Ende des 19. Jahrhunderts findet Peirce des Rätsels Lösung. Immer dort, stellt er mit geradezu Aristotelischem Unbehagen fest, wo die Ikonizität eine konkrete Form annimmt, ob nun als Zeichen (painting) oder als Zeichenfunktion (idea), ist sie zwangsläufig auf die Vermittlung durch ein anderes Zeichen angewiesen, so daß sie als Symbol in den virtuell unendlichen Prozeß der Semiose eingebunden wird. 6 ' Als echtes Zeichen handelt hingegen auch Aristoteles das rhetorische Erinnerungsbild. 66 Unter (mnemo-)technischem Vorzeichen avanciert die Metapher Text zum allgemeinen Prinzip symbolischer Vermittlung — zu demjenigen Prinzip also, das die wahrheitsfunktionale Metapher Bild kategorisch ausschließt. Anstatt auf Vorstellungsbildern basiert die Mnemotechnik auf imagines, deren Herstellung — auch die Rhetorik arbeitet bekanntermaßen mit der Analogie von Erinnerungsbildern und konkreten Gemälden 67 — auf den Operationen rhetorischer Tropen und Figuren basiert. Diese imagines agentes rangieren diesseits des ontologisch konzipierten Ähnlichkeitskriteriums. Von diesen Bildern ist also klar, daß sie im metaphorischen Sinne zu Texten geworden sind — zu Lesebildern, die der Memorierende zu entziffern bzw. zu übersetzen hat. Lachmann versucht daher, 64 65

66

67

Lobsien: Bildlichkeit, Imagination, Wissen. S. 98. Vgl. die Anmerkungen zu Peirce' »Dekonstruktion des transzendentalen Signifikats« bei Derrida: Grammatologie. S. 85. Vgl. Aristoteles: Über die Seele. 427b; Über Träume. 458b. Zum rhetorischen Erinnerungsbild vgl. Rhetorica ad Herennium. Libri IV de ratione dicendi. Übers, u. hrsg. von Harry Caplan. London, Cambridge Mass. 1954. III. Buch. X V I —XXII. Die Psychoanalyse greift zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dieses Modell zurück: Das Phänomen Bild funktioniert dort als rebus grundsätzlich sprachlich. Die »Bilderschrift« des Traumes bestimmt die Bilder als signifikante Konstituenten: »Man würde offenbar in die Irre geführt«, stellt Freud fest, »wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert [d.i. Ähnlichkeit, F. B.] anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte«. Freud: Traumdeutung. S. 280. Vgl. Quintiiianus: Institutionis oratoriae/Ausbildung des Redners. XI. 2. 2 1 .

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dem wahrheitsfunktionalen Status der Erinnerungsbilder mit Baudrillards Begriff des simulacrum (Trugbild, Täuschung) gerecht zu werden. In der Mnemotechnik, führt sie aus, wird »die Repräsentations- durch eine Erinnerungsfunktion« des Zeichens überlagert:68 »Im Konzept des Fingierens« ist »die Entähnlichung«, das heißt die Eklipse des Referenten, enthalten.69 Bezeichnenderweise beschäftigt Aristoteles diese Dimension, die in den Erinnerungstexten zwischen 1800 und 1900 - vor allem im >Grünen Heinrich< — von zentraler Bedeutung ist, bereits in der Konzeption des Vorstellungsbildes, wenn es heißt, daß »Wahrnehmungen immer wahr, von den Vorstellungen die Mehrzahl falsch« sind, 70 ja wenn dem Traumbild (εϊδωλον) als simulacrum das Moment der Entstellung und damit der Lüge innewohnt.71 Man muß aber nicht nur für den rhetorischen Spezialfall, sondern vielmehr prinzipiell auch für alle anderen Fälle davon ausgehen, daß Ähnlichkeit im ontologischen Sinne niemals ein hinreichender Grund für Repräsentation ist — weder als Repräsentationsmodus noch als Repräsentationsfunktion eines Zeichens. Goodman, der den Begriff der Repräsentation auf bildliche Zeichen und Beschreibungen anwendet, stellt fest, daß die Behauptung »>A repräsentiert Β dann und nur dann, wenn Α Β merklich ähneltwenn Α ein Bild istA ist ein Bild von B< die Formulierung >A ist ein B-Bild< vorschlägt. Selbst wenn also einem Bild ein Denotat zuzuweisen ist, repräsentiert es diesen Gegenstand dennoch auch >als Sound-so-BildMadonna Litta< (Abb. ι und 2). 77 Gerade diese Bilder machen aber 73

74 75 76

77

Goodman: Sprachen der Kunst. S. 2of.; vgl. Horst Turk: Mimesis praxeos. Der Realismus aus der Perspektive einiger neuer Theorieansätze. Jahrbuch der Raabe Gesellschaft 1983. S. 1 3 4 - 1 7 1 . Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst. Kap. 5 Fiktionen u. Kap. 6 Repräsentation-als. Mitchell: Was ist ein Bild? S. 27. Goodman und Gombrich untersuchen die Techniken zur Ähnlichkeitserzeugung als Prozesse geregelter Produktion und Rezeption. Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst. Kap. 3 Perspektive u. Kap. 4 Skulptur; Ernst H. Gombrich: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Stuttgart, Zürich 1978. Kap. 1 Vom Licht zur Farbe. Die Tatsache, daß diese Bilder im Goodmanschen Sinne — glaubt man den Informationen des Vorwortes zum Ausstellungskatalog — auch noch eine real existierende Frau namens Cindy Sherman denotieren, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Die Denotationsfunktion des Zeichens wird vor dem Hintergrund der prädikativen Struktur der Repräsentation zu einer fragwürdigen bzw. fakultativen Größe. Vgl. Arthur C. Danto: Past Masters and Post Modems: Cindy Sherman's History Portraits. In: Sherman, History Portraits. München 1 9 9 1 . S. 5 — 1 3 .

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vor allem deutlich, daß das als nicht auf einem analytischen Prozeß basiert, der die Ähnlichkeit im Sinne einer Qualität des Zeichenträgers zu einer Ähnlichkeitsrelation ummünzt, sondern auf dem konstruktiven Prozeß der Ähnlichkeitssynthetisierung. Auf sprachlicher Ebene beschreibt Black in seiner Metapherntheorie eine der Goodmanschen Repräsentation-^ vergleichbare interpretative dejä ««-Funktion der Ähnlichkeit. Metaphern — Spezialfälle sprachlicher Bildlichkeit — sind ebenso wie Bilder Prädikate (Goodman),78 die ihr Satz-Subjekt klassifizieren. Black zeigt nun, daß die Bedeutung dieser Prädikate auf keiner Ontologie basiert. Als ein »System miteinander assoziierter Gemeinplätze«, als ein System kultureller Topoi also, »die zum Gemeinbesitz der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft gehören«, organisieren diese Prädikate nicht nur »unsere Ansicht« vom Objekt, sie konstituieren bzw. sie supplementieren es durch die Unterdrükkung vertrauter oder die Betonung fremder »Implikationen«. In dieser Definition wird die vom Phänomen Bildlichkeit verantwortete Bedeutung zum Ereignis einer kontextabhängigen Interpretation. Der semantische Wert des Bildes erschließt sich nicht aus sich heraus, sondern ist, wie es Aristoteles nahelegt, im »Nacheinander« der erinnerten Bilder (452a) immer von kulturellem Wissen abhängig. Daher hält auch der eine Cindy Shermans Photographie für eine Repräsentation-,«// Leonardos >Madonna Litta< aus den Jahren nach 1490, der andere immerhin noch für eine Repräsentation-^/r Madonna, der dritte schließlich nur für eine Repräsentation-als Mutter. Doch selbst wenn ein vierter schließlich hinter Maske und Verkleidung glaubt, die Künstlerin zu erkennen: er sitzt einer Illusion auf. Denn irgendein als gibt es immer — und sei es, daß sich Cindy Sherman als Cindy Sherman repräsentiert. Bei diesem konstruktiven Prozeß der Prädikation gibt es aber noch folgendes zu beachten: Zum einen muß man davon ausgehen, daß Ähnlichkeit diesseits ihrer diskursiven Bestimmung überhaupt die Möglichkeit zur Objektbindung darstellt und somit im Sinne eines libidinösen Impulses — άνάμνησις vergleichbar — Objektwahl und Objektbindung des Subjekts motiviert. In diesem Sinne stellt Kristeva die von der Ähnlichkeit ausgelöste Identifikation des Rezipienten mit dem Bild ins Zentrum einer triebökonomisch begründeten Bildtheorie. 79 Zum anderen zeigt dieser 78

V g l . Ernst Tugendhat und Ursula Wolf: Logisch-semantische Propädeutik. Stuttgart 1 9 8 3 . S. 8 7 ; Monroe C. Beardsley führt die Überlegung des »twist« in der Bedeutung des Prädikats ein, vgl. Die Metapher ( 1 9 6 2 ) . In: Theorie der Metapher. S. 1 2 0 - 1 4 1 . S. 1 2 1 ; vgl. Tugendhat: Vorlesungen. II. Teil Ein erster Schritt: Analyse der prädikativen Satzform.

79

Kristeva sieht in der Farbe das affektive Moment der Bildperzeption: »an instinctual pressure linked to external visible objects«. Dieses Moment setzt sie mit dem erotischen

39

Prozeß ein generatives - μνήμη vergleichbares — Potential. Wird dieses Potential subjektiviert, dann wird es als synthetisches Vermögen der Einbildungskraft zugeordnet. In diesem Sinne ersetzt Goodman die mimetisch begründete imitatio durch die produktive inventio.8o Goldmann weist darauf hin, daß »die Topoi der inventio [ . . . ] den Topoi der memoria« entsprechen, ja »mit ihnen identisch« sind. 81 In Anbetracht der kulturellen Codierung inventorischer Prozesse muß man, die Kontiguität von memoria und inventio vorausgesetzt, aber noch einen Schritt weitergehen: Der Inventionsprozeß ist im wesentlichen ein memorativer Prozeß. Unter dem Stichwort memoria problematisieren die rhetorischen Lehrbücher daher nicht nur den Prozeß erinnernder Wiederholung und geben mit der Gebrauchsanweisung zur Konstruktion der imagines agentes einen wohlfeilen Taschenspielertrick an die Hand, sondern sie reflektieren den inventorischen Produktionsprozeß als genuin mnemonischen. Wird dieses produktive Potential nicht subjektiviert, dann steht man vor der Entscheidung, das individualpsychologische Vermögen der Einbildungskraft über seine Materialeigenschaften bestimmen zu müssen. In diesem Sinne spricht bereits Black konsequenterweise vom kreativen Potential der Metapher, ohne aber diese Kreativität dem Subjekt zuzuweisen. III. Diese Überlegungen führen zum Ausgangspunkt der Aristotelischen Gedächtnis-Schrift zurück. Denn dort hat Artistoteles μνήμη demselben »Seelenvermögen« zugeordnet wie die »Einbildungskraft« (450a). »Das Gedächtnis«, betont er, »ist also weder Wahrnehmen noch Annehmen, aber es ist ein Zustand und eine Folgeerscheinung dieser Vermögen, wenn eine Zeit darüber vergangen ist« [Hervorh. F. B.]. Mit dem sprachlichen Blick auf einen Körper gleich und resümiert: »One might therefore conceive colour as a complex economy affecting the condensation of an excitation moving towards its referent, of a physiologically supported drive [Trieb, F. Β.], and of ideological values germane to a given culture«. Julia Kristeva: Giotto's Joy. In: Kristeva, Desire in Language. A Semiotic Approach to Literature and Art. Oxford 1980. S. 2 1 0 - 2 3 6 . S. 2 1 9 . Zum Versuch einer Integration der Libido in die Bedeutungstheorie vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a. Μ. 1978. Kap. I Das Semiotische und das Symbolische. 80

Zur Funktion der inventio innerhalb der Produktionsstadien einer Rede vgl. Ueding u. Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. S. 209 — 232. »Um zusammenzufassen, wirkungsvolle Repräsentation und Deskription erfordern Einfallsreichtum (invention). Sie sind schöpferisch. Sie durchdringen einander; und sie formen, verbinden und unterscheiden Objekte. Daß die Natur die Kunst nachahme, ist eine allzu furchtsame Redeweise. Die Natur ist ein Produkt der Kunst und der Sprache«. Goodman: Sprachen der Kunst. S. 44.

81

Goldmann: Topos und Erinnerung. S. 672.

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Urteil verbindet μνήμη die temporale Bestimmung: »Daher ist jedes Gedenken an Zeit gebunden, und nur so weit also haben Geschöpfe Gedächtnis, wie sie Zeit wahrnehmen, und zwar in dem Vermögen, mit dem sie sie wahrnehmen« (449b). Mit dem Wahrnehmen verbindet μνήμη, daß diese Temporalität eben nicht — wie bei άνάμνησις — rein logisch bestimmt, sondern auf die sinnliche Wahrnehmung zurückgeführt wird. »Man muß eben Größe und Bewegung und Zeit auffassen, und das Vorstellungsbild ist ein Erzeugnis des Allgemeinsinnes, so daß man einsieht, daß es im ursprünglichen Wahrnehmungsvermögen erkannt wird« (450a; vgl. 451a). Die daraus folgende Definition bestimmt μνήμη zu einer »Folgeerscheinung des Denkens, die ursprünglich an der Wahrnehmung haftet« [Hervorh. F. B.] (450a). In dieser vermögenspsychologischen Begründung übernimmt μνήμη in jener für das 18. und 19. Jahrhundert — man denke an Kants Bestimmung der Einbildungskraft — so typischen Art und Weise eine Relaisfunktion zwischen Logik (Verstand) und Sinnlichkeit (Wahrnehmung). Dadurch wird μνήμη zu einem Vermögen umgewertet, bei dem synthetische bzw. konstruktive (Diegesis) und sinnliche Momente (Mimesis) eine fruchtbare Verbindung eingehen. Doch schon bei Aristoteles wird deutlich, daß dieses Modell gewissermaßen vor seiner eigenen Konsequenz zurückschreckt, μνήμη zum ästhetischen Vermögen umzuwerten und ein für allemal aus der Allianz mit der Sinnlichkeit zu entlassen. Denn man muß davon ausgehen, daß sich die Vorstellungsbilder qualitativ in keiner Weise vom rhetorischen Konzept der imago unterscheiden, sondern dieselben Eigenschaften haben, die dem φάντασμα im psychoanalytischen Konzept des rebus nachgewiesen worden sind. 82 Die Einbildungskraft hat in den individualpsychologischen MemoriaKonzepten zwischen 1800 und 1900 ebenso wie bei Aristoteles eine Schlüsselposition inne. Deshalb ist es sinnvoll, die Kontiguität von Einbildungskraft und μνήμη unter ästhetischen und subjektphilosophischen Prämissen anhand eines dafür besonders geeigneten Beispiels zu erörtern. Die rhetorische Bedeutung von imaginatio schwingt noch mit, als Harsdörffer zum ersten Mal statt facultas imaginandi wieder den individualpsychologischen Begriff der Einbildungskraft ins Spiel bringt. Am Beginn des 18. Jahrhunderts findet sich bei den Aufklärungsästhetikern Bodmer und Breitinger eine ästhetisch-semiotische Bestimmung dieses Begriffes, die 82

Die kontextabhängige Bedeutungsetzeugung ist ein Grundgedanke der sprachanalytischen Philosophie. »Wir können sagen«, heißt es in diesem Sinne bei Wittgenstein, »daß Denken im wesentlichen eine Tätigkeit des Operierens mit Zeichen« (S. 23) — sprachlichen und bildlichen — ist, über deren Bedeutung ihr »Gebrauch« entscheidet. Wittgenstein: Das blaue Buch. S. 20.

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das Aristotelische Konzept erhellt und gleichzeitig dessen Implikationen einlöst. »Wie enge würde demnach unsere Erkäntniß eingeschrancket seyn«, heißt es in >Vom Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft< ( 1 7 2 7 ) anläßlich der Rechtfertigung des konstruktiven Potentials der eigentlich an die Sinne gebundenen Einbildungskraft, wenn wir keine andere haben könnten; als durch die Instrumente der Sinnen, welche uns allein Begriffe von solchen Dingen geben, die wircklich vor uns zugegen sind? [...] Darum hat er [Gott, F. B.] die Seele mit einer besondern Krafft begäbet, daß sie die Begriffe und die Empfindungen, so sie einmal von den Sinnen empfangen hat, auch in der Abwesenheit und entferntesten Abgelegenheit der Gegenstände nach eigenem Belieben wieder annehmen, hervor holen und aufwecken kan: Diese Krafft der Seelen heissen wir die EinbildungsKrafft, und es ist derselben Gutthat, daß die vergangne und aus unsern Sinnen hingerückte Dinge annoch anwesend vor uns stehen, und uns nicht minder starck rühren, als sie ehemahls gethan hatten.®3 »Wenn man dagegen ohne die wirkliche Betätigung das Wissen und die Wahrnehmung hat«, kann man parallel dazu bei Aristoteles über μνήμη erfahren, »dann erst hat man beides im Gedächtnis« (449b). Die Schweizer gehen aber sofort einen Schritt weiter und emanzipieren die Einbildungskraft dadurch ein für allemal von den Sinnen, daß sie dieses Vermögen zum synthetischen Bildgenerator erklären. Bei ihnen wird also die Aristotelische Bestimmung der Einbildungskraft als Wahrnehmung dritten Grades zu einer anderen, zur genuin ästhetischen Wahrnehmung. Wenn die Aufmercksamkeit seine Gedancken so fest darauf [auf die Dinge, F. B.] anhefftet, daß die Sinne darüber gleichsam einschläffen, und alle Empfindungen verlieren, so scheint es nicht änderst, als ob er ausser sich selbst gerathen und seiner Sinnen looß wäre. [...] Von der gleichen Klarheit sind die Wirckungen der Einbildungs-Krafft in den Träumen. [...] Ich muß zwar gestehen, daß insgeheim die Vorstellungen der Einbildung nicht so deutlich seyen, als der Empfindung: Wenn jedoch die Einbildungs-Krafft für sich alleine wircket, und von den Sinnen nicht gestöret wird, so bekommen ihre Begriffe einen grossen Zusatz von Klarheit; dermaßen, daß wir fast in einen Zweiffei gerathen, ob wir die Dinge nicht vor Augen sehen [Hervorh. F. B.]. 84 A u f g r u n d dieser produktiven Umwertung der Einbildungskraft wird bei Bodmer und Breitinger aus der mimetischen Kunst der Naturnachahmung die Kunst des »unschuldigen Betrug[es]«, »eben diejenigen Eindrücke in dem Gemüthe der Menschen zu erwecken«, die es »von den gegenwärtigen 83

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Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger: Vom Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft (1727). In: Bodmer u. Breitinger, Schriften zur Literatur. S. 2 9 - 3 5 . S. 3 i f . Bodmer u. Breitinger: Vom Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft. S. 33.

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in der Natur vorkommenden Dingen selbst empfangen würde«. 8 5 Die beiden betonen den mit dem mimetischen Diktum aufs engste verbundenen Aspekt der Täuschung dadurch, daß sie auf den kalkulierbaren Effekt von Dichtung anspielen, deren bildliche Unmittelbarkeit lediglich mit Hilfe entsprechender Verfahren evoziert wird. Aus der ursprünglich mimetisch begründeten similitudo wird im Z u g e dieser Argumentation eine notwendige simulation Ihr Kriterium liegt »nicht in der Menge der Information, sondern darin, wie leicht sie zu erhalten ist«. 8 7 Wenn die Einbildungs-Krafft so reichlich angefüllt ist, so muß sie nothwendig einen herrlichen Einfluß über eine Schrifft haben, indem sie dieselbe mit lebhafften Bildnissen und Gemählden belebet [Hervorh. F. B.], welche den Leser gleichsam bezaubern; Er vergißt darüber, daß er nur die Beschreibungen der Sachen lieset, und fällt auf den Wahn, er sehe die Dinge selber vor sich, und wohne den erzehlten Begebenheiten persönlich bey. 88

Einbildungkraft fungiert also wie μνήμη als Bildgenerator, dessen Bilder keine Abbilder, sondern im rhetorischen Sinne Figuren, im semiotischen Sinne Zeichen sind. Sie befinden sich wie jedes andere Symbol in einer dreistelligen Relation, weil die Vermittlung der Bildlichkeit über ein anderes Zeichen erfolgt, das diese Bildlichkeit mit kulturell verbindlichem Wert klassifiziert. Die oben systematisch begründete dreistellige Relation dieser Bilder markiert bei Bodmer und Breitinger die Einbruchstelle des Topos im allgemeinen und der Werke der bildenden Kunst im besonderen ins Innere des Subjekts. Die Schweizer wenden die von Aristoteles privilegierte Metapher des Gemäldes unter geänderten Vorzeichen dadurch ins Konkrete, daß sie auf den inneren Prozeß der Vorstellung einen Lektüreund Entzifferungsprozeß projizieren. Neben der traditionellen Argumentation, nach der die »Objecte [ . . . ] die Imagination mit Bildern der Sachen bereicher[n]«, 8s> rückt mit der »Lesung« eine kulturelle Vermittlungsinstanz in den Brennpunkt der Bestimmung der Einbildungskraft. 9 0 Der Dichter greift nicht nur auf seine »Erfahrung« zurück, er wird »von allem dem, was die Kunst herrliches und stattliches hervorgebracht hat, wol berichtet seyn« — von »Schilderey oder Bilderey« 9 1 ebenso wie von Litera85

Breitinger: Critische Dichtkunst. In: Bodmer u. Breitinger, Schriften zur Literatur. S. 105. 86 Vgl. Lachmann: Gedächtnis und Literatur. S. 30. 87 Goodman: Sprachen der Kunst. S. 47; vgl. Kap. 8 Realismus. 88 Bodmer u. Brei tinger: Vom Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft. S. 35. 89 Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Brei tinger: Die Discourse der Mahlern ( 1 7 2 1 1723). In: Bodmer u. Breitinger, Schriften zur Literatur. S. 3 - 1 9 . S. 6. 9 ° Bodmer u. Breitinger: Die Discourse der Mahlern. S. 4. 91 Veralt.: Malerei und Bildhauerei.

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tur, ja sogar Kunsthandwerk und »Bau-Kunst«. 92 In diesem Sinne vergleicht vierzig Jahre später auch Lessing die Einbildungskraft mit einer »Galerie von Gemälden«, 93 in der »Kompositionen [...] aus der Natur oder Kunst« erinnert werden. 94 Die kulturelle Imprägnierung von μνήμη ist in der Aristotelischen Gedächtnis-Schrift ein auffällig vernachlässigter Aspekt, obwohl es sich dabei um die eigentliche Konsequenz aus der materiellen Bestimmung von μνήμη als trägem Speicher und vor allem des Vorstellungsbildes als είκών handelt. Bei Aristoteles heißt es lediglich ganz vage: »Wenn man nämlich das Gedächtnis betätigt, muß man sich im Stillen bewußt sein, daß man dies früher gehört, bemerkt, bedacht hatte« (449b). Große Bedeutung mißt dagegen schon Augustinus dem Bildungsreservoir des Gedächtnisses bei, das alles birgt, sei es von mir erlebt, oder daß ich es von anderen erfahren habe. Aus derselben Masse hervor verknüpfe ich mir selber auch immer neue Bilder erlebter oder dem fremden Erlebnis - weil es meinem eigenen entsprach - geglaubter Dinge mit vergangenen zu einem Gefiige und erwäge auf Grund dessen auch schon künftiges Tun, wie es ausgehen mag, was sich hoffen läßt, und wiederum ist dies alles wie gegenwärtig vor meinem Geiste. 95

Die Überlagerung des wahrnehmungspsychologisch konzipierten individuellen durch das synthetische, kulturell imprägnierte Gedächtnis streicht Augustinus nicht nur mit dieser vom Hörensagen vermittelten Bildlichkeit heraus, sondern durch die »Dinge des Wissens und der Bildung«, die an dieser Vermittlung Anteil haben. 96 Im gleichen Zuge spricht auch er — so wie die Schweizer - nicht mehr vom inneren Sehen, sondern davon, daß er dieses »Gefüge« aus Bildungsfragmenten »nun denkend gleichsam zusammenlesen« müsse, »das heißt aus der Zerstreuung sammeln, was ja unter Denken eigentlich zu verstehen ist«. 97 Einbildungskraft und μνήμη sind also im wahrsten Sinne »wol cultivieret[e]« Archive,9® dazu prädestiniert, unter müheloser Uberwindung der (kunst-)historisch vorgegebenen

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Bodmer u. Breitinger: Vom Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft. S. 34.

93

Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Lessing, Werke in drei Bänden. Hrsg. von Herbert G . Göpfert. Bd. 3. München 1982. S. 98.

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Lessing: Laokoon. S. 130.

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Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. S. 507. Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. S. 509. Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. S. 507, 5 1 3 u. 5 1 5 . Flusser vergleicht das Lesen mit einem pickenden und klaubenden Huhn. V g l . Vilem Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Frankfurt a.M. 1992. S. 72.

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Bodmer u. Breitinger: Die Discourse der Mahlern. S. 3.

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Grenzen in unbegrenzter Kombinatorik ihrer Elemente Synkretismen zu generieren. Dieses oder ähnliche Konzepte mag Lachmann im Auge haben, wenn sie nach dem Zusammenspiel von rhetorischer Gedichtnis-imaginatio und dichterischer Einbildungskraft fragt und zu dem Ergebnis kommt, »daß der Bildspender Literatur der nämliche wie der des Gedächtnisses ist, oder noch anders: daß sich die Bildtätigkeit des Gedächtnisses die poetische Einbildung einverleibt«. 99 Und Wiethölter faßt mit Akzentuierung des individualpsychologischen Aspektes zusammen, daß sich μνήμη »grundsätzlich im Bereich der Einbildungskraft« bewegt. 100 Den Qualitätswandel, den das Vorstellungsbild vom Aristotelischen Identitätskonzept bis zu Bodmer und Breitingers Konzept kultureller Synthesis erfahren hat, dokumentiert die dort zu beobachtende Substitution der visuellen durch die textuelle Metaphorik. So bleibt zum Schluß nur noch ein letztes Moment vermeintlicher Innerlichkeit der Erinnerung aus dem Weg zu räumen. Die Verlockung liegt nämlich nahe, das innere Sehen sinnlich empfangener Vorstellungsbilder nun durch das innere Lesen kulturell imprägnierter Erinnerungsbilder zu ersetzen. Aber als Lektüre konzentriert sich die Überlagerung individueller und kultureller Erinnerung auf das Moment ihrer Entäußerung, hinter das es kein Zurück gibt. Vielleicht in Anlehnung an Kristevas Formulierung der ecrtture-lecture1 ° 1 heißt es in Wiethölters Versuch, die »Ein-Bildungs-Kraft« als über- und vor allem außerindividuellen Speicher zu bestimmen: »Man muß davon ausgehen, daß die Bilder und ihre ikonographischen Formeln wie die Mythen innerhalb eines abgrenzbaren Kulturverbundes einen Sinn bewahren, der zur Hand ist, wenn er gebraucht wird, und der sich durch das Material hindurch entfaltet, sobald er mit einem entsprechenden Kontext in Berührung kommt [Hervorh. F. B.]«. 102 Die Aktivierung von μνήμη, die άνάμνησις als libidinöser Impuls leistet, markiert gerade diesen Berührungs-

99

ICO

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Lachmann: Gedächtnis und Literatur. S. 34. Hier finden sich auch die grundlegenden Argumente für eine mnemonische Begründung von Intertextualität: »Das Gedächtnis des Textes« ist »die Intertextualität seiner Bezüge. [ . . . ] Es gilt also Intertextualität und Gedächtnisarchitektur zusammenzudenken« (S. 30f.). Zur grundlegenden Argumentation vgl. S. 3 4 - 5 0 . Waltraud Wiethölter: >Mnemosyne< oder »Die Höllenfahrt der ErinnerungPoetik< 1448a) referierende Helden-Typologie ausgelösten rezeptionsästhetischen Diskussionen innerhalb der Altphilologie, Mediävistik und Märchenforschung. Northrop Frye: Analyse der Literaturkritik. Stuttgart 1964. S. 37ff.; Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik 1. München 1 9 7 7 . S. 212—258. Zur Kritik an Frye vgl. S. 2 i 4 f . Einen Forschungsüberblick gibt Katalin Horn: Held, Heldin. In: Enzyklopädie des Märchens. Begr. von Kurt Ranke. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich u.a. Bd. 6. Berlin 1990. Sp. 721—745. Sp. 725 — 737.

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»Der Mythenheld, der von der Hütte oder dem Schloß seines Alltags sich aufmacht, wird zur Schwelle der Abenteuerfahrt gelockt oder getragen, oder er begibt sich freiwillig dorthin. Dort trifft er auf ein Schattenwesen, das den Übergang bewacht. Der Held kann diese Macht besiegen oder beschwichtigen und lebendig ins Königreich der Finsternis eingehen (Brudermord, Kampf mit dem Drachen, Opfer, Zauber) oder vom Gegner erschlagen werden und als Toter hinabsteigen (Zerstückelung, Kreuzigung). Dann, jenseits der Schwelle, durchmißt der Held eine Welt fremdartiger und doch seltsam vertrauter Kräfte, von denen einige ihm gefährlich bedrohen (Prüfungen), andere ihm magische Hilfe leisten (Helfer). Wenn er am Nadir des mythischen Zirkels angekommen ist, hat er ein höchstes Gottesgericht zu bestehen und erhält seine Belohnung. Der Triumph kann sich darstellen als sexuelle Vereinigung mit der göttlichen Weltmutter (heilige Hochzeit), seine Anerkennung durch den Schöpfervater (Versöhnung mit dem Vater), Vergöttlichung des Helden selbst (Apotheose) oder aber, wenn die Mächte ihm feindlich geblieben sind, der Raub des Segens, den zu holen er gekommen war (Brautraub, Feuerraub); seinem Wesen nach ist er eine Ausweitung des Bewußtseins und damit des Seins (Erleuchtung, Verwandlung, Freiheit). Die Schlußarbeit ist die Rückkehr. Wenn die Mächte den Helden gesegnet haben, macht er sich nun unter ihrem Schutz auf (Sendung); wenn nicht, flieht er und wird verfolgt (Flucht in Verwandlungen, Flucht mit Hindernissen). An der Schwelle der Rückkehr müssen die transzendenten Kräfte zurückbleiben; der Held steigt aus dem Reich des Schreckens wieder empor (Rückkehr, Auferstehung). Der Segen, den er bringt, wird der Welt zum Heil (Elixier)«. Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. S. 237f.

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Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. S. 238. Horn kritisiert den Schematismus der tiefenpsychologische Forschung in den Grundsätzen (Sp. 7 2 1 - 7 2 5 ) . Die Forschung müsse »bei wesenhaften und funktionalen Unterschie-

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Erinnerung anzuschließen, ihn mit einem historischen Index zu versehen und ihn in verschiedenen literarischen Realisierungen durchzuspielen. Damit ist schließlich der Punkt erreicht, an dem die hier unter dem vereinheitlichenden Blick einer gemeinsamen Topik behandelten Erinnerungstexte zwischen 1 8 0 0 und 1 9 0 0 in der variierenden Bearbeitung ihre Unverwechselbarkeit offenbaren. Campbells der umstrittenen Jungschen Archetypenlehre verpflichtete Anthropologie kann bei diesem Unternehmen ebenso unberücksichtigt bleiben wie sein problematischer Versuch, einen Monomythos — one fits all — zu konstruieren. Auch die Auseinandersetzung mit dem {Wemtxi-)M.ythos im engeren Sinne darf unter der Prämisse vernachlässigt werden, daß nur solche durch die permanente Wiederholung im kulturellen Gedächtnis gespeicherten Erzählungen literaturwissenschaftlicher Gegenstand sein können, deren Status sich von dem eines jeden anderen (Inter-)Textes qualitativ nicht unterscheidet. Schließlich werden auch die eigentlichen rites de passage bzw. »Übergangsriten — die Zeremonien bei der Geburt, Namensgebung, Pubertät, Hochzeit, Bestattung —, die im Leben der primitiven Gruppen eine so wichtige Rolle spielen«, 1 2 3 von der literaturwissenschaftlichen Betrachtung ausgenommen. 1 2 4 Mit dem Initiationsmodell steht also ein narratives Schema zur Diskussion. Es kann jedoch nicht ohne weiteres auf die Erinnerungstexte zwischen 1800 und 1 9 0 0 appliziert werden. Denn es gilt, zunächst den Zusammenhang zu klären, der zwischen der semiotischen Funktion der Initiation als Textfigur des Erinnerns und seiner narrativen Funktion als biographischem

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den« der Heldengeschichten ansetzen, deren Typologie einem historischen und sozialen Wandel unterliege. Held, Heldin. Sp. 724. Vgl. Donald Ward: Kulturheros. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 8. Berlin 1994. Sp. 593 — 599· Diese »zeichnen sich aus durch förmliche und meist sehr harte Trennungsexerzitien, die den Geist mit der Wurzel von den Attitüden, Bindungen und Lebensgewohnheiten des beendigten Stadiums losreißen«. Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. S. 19. Einer der wichtigsten Initiationsriten ist z.B. die Beschneidung, durch die der junge Mann, von der Mutter losgerissen, »in die Geheimnisse des Männerbundes« eingeweiht und in diesen aufgenommen wird. Solche Exerzitien lehren das Individuum, »der Vergangenheit abzusterben und der Zukunft neu geboren zu werden« (S. 23). Zur Wiedergeburt vgl. S. 1 0 1 und Carl Gustav Jung: Symbole der Wandlung [1 u. 2]. In: Grundwerk C. G . Jung in neun Bänden. Bde. 7 u. 8. 2. Aufl. Freiburg 1987. Kap. Symbole der Mutter und der Wiedergeburt. Im folgenden zitiert als Symbole der Wandlung 1/Symbole der Wandlung 2. Zum ethnologisch-anthropologischen Diskurs vgl. Arnold van Gennep: Les rites de passage (1909), dt.: Übergangsriten. Frankfurt a.M., New York 1986; Mircea Eliade: Das Mysterium der Wiedergeburt. Initiationsriten, ihre kulturelle und religiöse Bedeutung. Zürich, Stuttgart 1 9 6 1 ; Joseph L. Henderson: Der Archetyp der Initiation. In: Der Mensch und seine Symbole. Hrsg. von Marie-Louise von Franz u.a. 10. Aufl. Freiburg, Ölten 1987. S. 1 2 8 - 1 3 6 .

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Handlungsschema besteht. Zur Klärung der Interferenz beider Funktionen liefern Titzmanns Überlegungen wichtige Hinweise, die zuerst auf das Initiationsmodell als historisch spezifische Form kultureller Semiotik aufmerksam gemacht haben. Titzmann fragt nach der Art und Weise, wie auch literarische Texte mit dem »allgemeine[n] oder gruppenspezifische[n] kulturelle[n] Wissen« umgehen, 1 2 5 auf welcher Semiotik dieser Umgang basiert und wie sie das Wissen narrativ organisieren. 126 Im Zuge der Beantwortung dieser Fragen bestimmt Titzmann das Initiationsmodell als narrative Realisierung des epistemologischen bzw. des semiotischen Modells Bildung

und seiner literarischen Spielart — dem klassischen Anschau-

ungssymbol. Dieses Modell steuert als epochenspezifisches Beschreibungsund Selbstbeschreibungsmodell die semiotischen Prozesse zwischen 1 8 0 0 und 1 8 5 0 und verfügt sowohl über die entsprechenden Strategien 127 als auch über die einschlägigen Metaphern. 1 2 8 Innerhalb dieses semiotischen Paradigmas hebt Titzmann einen »narrativen Typ hervor, der sowohl qualitativ als auch quantitativ als eine repräsentative Erzählform der Epoche gelten kann«. Tizmann nennt diesen Typus »Initiationsroman

[...], weil er sowohl im narrativen Ablauf als Ganzem

deutliche Entsprechungen zu den bekannten ethnologischen Modellen der Initiationsriten und Übergangsriten aufweist, als sich auch zudem in einzelnen Handlungsmustern und sprachlichen Deutungsschemata charakteristischer Elemente dieser Modelle bedient«. Initiationsromane — das sind 125

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Michael Titzmann: Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770— 1830). In: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Link und Wulf Wülfing. Stuttgart 1984. S. 100 — 120. S. 100. Link situiert die Kultursemiotik — bzw. einen ihrer Gegenstände, die Erforschung semiotischer Strukturen, die »Bildfeldforschung, Metaphrologie, Toposforschung« — im Kontext diskursanalytischer Methodik in der Nachfolge von Michel Foucaults >Archäologie des WissensAnton Reisen und im >Grünen Heinrich< aus der Anonymität der auktorialen Erzählsituation geholt werden, während der erinnernde Erzähler in den >Akten des Vogelsangs< ohnehin zu einer gleichberechtigten literarischen Figur geworden ist. Im Zentrum der Imagination der Erzähler steht, anders als Titzman dies vorschwebt, nicht der Übergang von einer sozialen Ordnung in die andere, sondern die Überwindung eines inadäquaten Beziehungsideals, das metaphorisch auf die Kindheitsbeziehungen projiziert wird. Diese These korrespondiert mit Campbells Analyse der Heroenmythen, in denen er auf Heroen wie Herakles, Odysseus, Perseus, Theseus, Jason, Ödipus trifft oder auf deren christliche Postfiguranten Jonas, Samson sowie den neutestamentarischen Helden der Helden. Diese Mythen konzentrieren die gesamte Initiationsproblematik auf einen Grundkonflikt, der im

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Titzmann, Bemerkungen zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770—1830). S. 1 0 1 . Neumann diskutiert etwa Goethes Bildungsroman unter diesem Paradigma. Michael Neumann: Roman und Ritus. >Wilhelm Meisters Lehrjahren Frankfurt a.M. 1992.

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Zusammenhang mit der Erinnerungsproblematik äußerst relevant ist: Campbell beobachtet eine enge Verquickung der Heroenmythen mit dem »tragikomischen Dreieck[] des Säuglingsstadiums«, mit dem Konfliktpotential also, das man in der psychoanalytischen Terminologie als ödipal charakterisiert. Bei dieser Behauptung stützt sich Campbell auf Jungs psychoanalytische Lektüre desselben Mythenbestandes. Jung erblickt im Heros das »vornehmste aller Symbole der Libido«. 1 3 0 Es wird immer dann virulent, wenn die Libido von den äußeren Objekten abgezogen, das heißt introvertiert wird. Ein Initiand ist also im Freudschen Sinne zunächst ein Melancholiker, der seine Libido introvertiert und auf ein verlorenes Objekt seines Begehrens richtet, »von dem er zwar weiß wen, aber nicht was er an ihm verloren hat«. 1 3 1 Die regredierende Libido des Heros richtet sich sehnsüchtig auf die Vergangenheit, und das heißt immer: auf die verlorene Kindheit. »Daß diese Regression so leicht möglich ist«, behauptet Jung, »scheint davon herzukommen, daß die Libido eine bedeutende Trägheit besitzt, die kein Objekt der Vergangenheit lassen will, sondern es für immer festhalten möchte«. 132 »Ich deute hier zunächst nur an«, folgert Jung aus dieser Beobachtung, »daß das Inzestmotiv logischerweise auftauchen muß, indem die regredierende Libido, welche aus innerer oder äußerer Notwendigkeit introvertiert wird, stets die Eltern-Imagines wiederbelebt und damit anscheinend die Kindheitsbeziehung wiederherstellt. Dies kann aber darum nicht gelingen, weil es sich um die Libido eines Erwachsenen handelt, welche bereits der Sexualität verhaftet ist und darum unvermeidlicherweise in die sekundäre, 130

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Jung: Symbole der Wandlung 2. S. 7. »Die Fahrt des mythischen Heros mag sich auf der Erde abgespielt haben: Im Grunde geschah sie drinnen und führte in die Tiefen, wo finstere Widerstände überwunden und lange verlorene und vergessene Kräfte wiederbelebt werden, damit sie der Verwandlung der Welt dienen können«. Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. S. 35. »In einer Reihe von Fällen ist es offenbar, daß auch sie [die Melancholie, F. B.] Reaktion auf den Verlust eines geliebten Objekts sein kann; bei anderen Veranlassungen kann man erkennen, daß der Verlust von mehr ideeller Natur ist. Das Objekt ist nicht etwa real gestorben, aber es ist als Liebesobjekt verloren gegangen (z.B. der Verlust einer verlassenen Braut). In noch anderen Fällen glaubt man, an der Annahme eines solchen Verlustes festhalten zu sollen, aber man kann nicht deutlich erkennen, was verloren wurde, und darf um so eher annehmen, daß auch der Kranke nicht bewußt erfassen kann, was er verloren hat. [ . . . ] So würde uns nahegelegt, die Melancholie irgendwie auf einen dem Bewußtsein entzogenen Objektverlust zu beziehen, zum Unterschied von der Trauer, bei welcher nichts an dem Verluste unbewußt ist«. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie. In: Freud, Psychologie des Unbewußten. Studienausgabe. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1975. S. 1 9 3 - 2 1 2 . S. 199. Vgl. die Parallele des Freudschen Melancholiebegriffs und Prousts >Auf der Suche nach der verlorenen Zeit< bei Warning: Vergessen, Verdrängen und Erinnern. S. 1 7 7 - 1 7 9 . Jung: Symbole der Wandlung 2. S. 10.

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das heißt wiederbelebte Beziehung zu den Eltern einen inkompatiblen, beziehungsweise inzestuösen Sexualcharakter hineinträgt«. 133 Dabei betont Jung die Engflihrung des Heros mit dem fur die Erinnerungstexte zwischen 1800 und 1900 so zentralen Topos des Wanderns: »Die Heroen sind häufig Wanderer: das Wandern ist ein Bild der Sehnsucht, des nie rastenden Verlangens, das nirgends ein Objekt findet, des Suchens nach der verlorenen Mutter«. 1 3 4 Campbell integriert nun dieses Jungsche HerosKonzept in seine Theorie der Initiation: Das Ziel des Initiationsprozesses besteht demnach darin, sich von den »infantilen Fixierungen zu lösen und in die Zukunft einzutreten«. 135 Die Initiation »ist der Prozeß, in dem die infantile Bilderwelt unserer individuellen Vergangenheit aufgelöst, überwunden und umgewandelt wird«, 13 * 5 in dem die Melancholie in bewußte Trauer übergeht. Innerhalb der Variationsbreite der Heroenmythen gibt es daher vor allem eine symbolische Konstante. Campbell verweist wie Jung auf die zentrale Rolle der Mutter- bzw. Frauenimagines. »Das letzte und höchste Abenteuer«, schreibt Campbell, »wird meist als eine mystische Hochzeit der siegreichen Heldenseele mit der göttlichen Weltmutter dargestellt«: »Sie ist der Inbegriff aller Schönheit, die Antwort auf alles Begehren, das beseligende Ziel jeder irdischen und unirdischen Heldenfahrt. Sie ist Mutter, Schwester, Geliebte und Braut«. 1 3 7 »In der Bildersprache der Mythen stellt das Weib«, wie es bei Campbell schön heißt, »den Inbegriff des Wissbaren dar«, während der Heros derjenige ist, »der zum Wissen gelangt«. 1 3 8 Es ist nun aber gerade diese Dominanz von Mutter- und Frauenimagines, vorzugsweise aus dem Bereich der Marien- und Venusikonographie, die im Zentrum der Auseinandersetzung mit Erinnerungstexten 133

Jung: Symbole der Wandlung 2. S. 43f. Zum Inzestmotiv bemerkt Campbell in diesem Sinne: »Von dort wird inzestuöse Libido und vatermörderische Destrudo dem Individuum und der Gruppe zurückgespiegelt in Gestalten, die drohende Gewalt und phantastisch gefahrvolle Lust suggerieren« (S. 80). »Es gibt auch die böse Mutter: die abwesende, unerreichbare Mutter, gegen die sich aggressive Phantasien richten und von der eine Gegenaggression befürchtet wird; dann die scheltende, verbietende, strafende Mutter; dann die Mutter, die das heranwachsende Kind, das sich losreißen will, an sich zu ketten versucht; und schließlich die begehrte, aber verbotene Mutter des Ödipuskonfliktes, deren Gegenwart einen gefährlichen Wunsch herausfordert und an den Kastrationskomplex rührt«. Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. S. 108.

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Jung: Symbole der Wandlung 2. Campbell: Der Heros in tausend Campbell: Der Heros in tausend Campbell: Der Heros in tausend Campbell: Der Heros in tausend Inzests vgl. Judith Butler: Das S. 6 8 - 1 2 2 .

135 136 137 138

S. 44. Gestalten. S. Gestalten. S. Gestalten. S. Gestalten. S. Unbehagen

19. 100. io6f.; vgl. 1 1 6 . 1 1 2 . Zur kulturkritischen Diskussion des der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1 9 9 1 .

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zwischen 1 8 0 0 und 1900 steht, ohne daß die Qualität dieser Symbole bisher in befriedigender Weise hätte geklärt werden können. Vertreter der psychoanalytischen Literaturwissenschaft nehmen die überdeterminierten Frauen- und Mutterimagines zum Anlaß massiver Spekulationen, wenn nicht gar Projektionen in Richtung auf die psychische Disposition der Helden bzw. ihrer Autoren — frei nach dem Freudschen Motto: Vom Mythos zum Komplex. Die fatalen Konsequenzen dieses Vorgehens offenbaren sich in den Rezeptionsgeschichten der hier zu diskutierenden Texte und insbesondere in derjenigen des >Grünen Heinrich< — man denke nur an die Demarkationslinie Muschg-Kaiser, die bis heute kaum eine Studie zu überschreiten wagt. Im Gegensatz zu dieser psychoanalytischen Diagnostik mahnt Campbell die Qualität der Imago des Heros sowie der Mutter- und Frauenimagines als »Erinnerungsbilder« a n . 1 3 9 Mit Akzent auf dem kulturell erprobten Charakter dieser Symbole kann ihre Qualität auch gar nicht anders als topisch bestimmt werden. 1 4 0 U m es also noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: Frau, Mutter und Inzest konstituieren sich als diskursive Effekte diesseits aller ontologischen Implikationen. 1 4 1 Diese substanzlosen Topoi stehen den Erinnerungstexten zwischen 1 8 0 0 und 1900 — hierin liegt die Pointe — zur metaphorischen Prädizierung ihres systematisch begründeten Konfliktes zur Verfügung. Denn in den Texten werden primär weder die individualpsychologischen Konflikte der Romanhelden noch ihrer Erzähler und erst recht nicht ihrer Autoren verhandelt. Blendet man nämlich Titzmanns strukturalistisches Modell des Zusammenhangs von semiotischem und narrativem Paradigma der Initiation und die traditionellen psychoanalytischen Libidotheorien narzißtischer Objektbindung ineinander, so ergibt sich folgendes erzähl- bzw. textgrammatisches Modell der Initiation: In den Erinnerungstexten zwischen 1800 und 1 9 0 0 fallen das memoriatechnische Moment sekundärer Strukturierung (biographisches Handlungsschema) und das libidinöse Moment narzißtischer Objektbindung der 139 140

141

Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. S. 108. Der Begriff des Symbols wird also ausdrücklich und ausschließlich im allgemeinen Sinne als Zeichen bzw. als metaphorisches Substitut verwendet. Im Rahmen der gender studies fordert Butler eine Genealogie der Kategorie »Frau(en)«, welche immer auch ein Effekt spezifischer Machtformationen ist (vgl. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1983. S. 2 5 - 6 6 ) . Sie prägt den Begriff der »performativen Konstruktion«, um deutlich zu machen, daß die Rede über »Frau(en)« — vom biologischen Faktum bis zur kulturellen Identität — immer eine diskursive Konstruktion ist (S. 9). Zur Subjektproblematik des gender-Diskurses vgl. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. S. 1 5 — 67. Zum Aspekt der Konstruktion vgl. Denkformen. Zur theoretischen und institutionellen Rede von Geschlecht. Hrsg. von Theresa Wobbe und Gesa Lindemann. Frankfurt a.M. 1994. Teil II. Konstruktionen.

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Erinnerung — fallen narratives und semiotisches Paradigma in eins. Vor diesem Hintergrund avancieren also die Primärbeziehungen im buchstäblichen Sinne zu Topoi — zu sekundären Austragungsorten eines primär systematisch begründeten Konfliktes. Das Konfliktpotential eines Romans wie >Anton Reisen oder >Der Grüne Heinrich< wurzelt dann nicht in psychologisch oder soziologisch begründbaren Ursachen, sondern in der Problematik des das 1 9 . Jahrhundert beherrschenden Ideals des Anschauungssymbols. Dem Säulenheiligen dieses Jahrhunderts, Goethe, erweisen selbst noch >Die Akten des Vogelsangs Akten des Vogelsangs< repräsentiert sich selbst als Erinnernden —, an die der Prozeß des Erinnerns delegiert wird. Diese Stellvertretung impliziert eine doppelte Besetzung innerhalb des Initiationsmodells: Die Erzähler projizieren die Topik — regressio/progressio — auf den Prozeß des Erinnerns, sie projizieren das Initiationsmodell als biographisches Handlungsschema auf die Kindheits- und Jugendgeschichten der Romanhelden, so daß sich schließlich ihre eigene Initiation über die Erzählung einer fremden Initiation vollzieht. 1 4 4 A m Ende des Initiationsprozesses wird ein Erzählerheros erwartet, der den Selbstvergewisserungsprozeß über die Anamnese eines Stellvertreters siegreich für sich entscheidet. Diesem primären Ziel wird die Initiation des eigentlichen Romanhelden untergeordnet, ohne daß sie ihre entscheidende Funktion verliert: Sie wird zum Spiegel oder Zerrspiegel der Initiation des Erzählers. Die hier zur Debatte stehenden Erinnerungstexte zeigen, daß jeder Erzähler in einer Dialogbeziehung zu seinem Helden steht. Er kann das aus der Subjekt-Objekt-Spaltung resultierende Prinzip der Stellvertretung reflektieren und literarisch in Dienst nehmen, oder er verkennt es, produziert dann aber die Dialogizität wie ein Symptom, das an seinem (Text-)Körper ablesbar ist. In letzter Instanz entscheidet aber erst das ästhetische Gesamtarrangement über Sieg oder Niederlage des Initianden. Denn dem Paradigma Initiation (άνάμνησις) wohnt sein anderes (μνήμη) sowohl auf narrativer als auch auf semiotischer Ebene inne. Daher sind die Erzähler bzw. 144

Z u m narrativen Arrangement des durch eine »Spiel- und Stellvertreterfigur« vermittelten erinnernd-imaginierenden Selbstbewußtwerdungs- und poetischen Initiationsprozesses, die als »Medium« das Repertoire mythologischer und moderner Heldengeschichten aufruft, vgl. Wiethölter: Mnemosyne oder Die Höllenfahrt der Erinnerung. S. 248.

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die Texte selbst nicht nur im Rahmen ihrer poetologischen Reflexion, sondern vor allem in ihrer literarischen Realisierung dazu gezwungen, ζ. B. mit den variierenden Spielarten der Allegorie, auf bewährte Strategien zurückzugreifen, die das im wahrsten Sinne des Wortes hybride Modell der Initiation ins rechte, und das heißt in ein realitätsgerechtes Licht rücken. Diese erzähl- bzw. textgrammatische Umwertung des Initiationsmodells in den Erinnerungstexten zwischen 1800 und 1900 erfordert also vorderhand eine prinzipielle qualitative Umwertung der Heroenmythen. Im Rahmen der folgenden Studien spielen, in deutlicher Abgrenzung zu den bisher konsultierten Gewährsmännern Campbell und Jung, die anthropologischen und die psychoanalytischen Implikationen der Initiation keine Rolle. Die zitierten Mythologeme haben nicht die Qualität »spontane[r] Hervorbringungen der Psyche«, 143 sondern sind Text- und Bildbausteine einer Memoria der Erinnerung. Die Konkretion des Initiationsmodells erfolgt — wie oben bereits erwähnt - über Modelle unterschiedlichster diskursiver Provenienz. Genaugenommen handelt es sich hierbei sogar um eine doppelte Konkretion, da sowohl das Initiationsmodell als auch die einzelnen Erinnerungssequenzen der Kindheits- und Jugendgeschichten, die dieses Modell mit ihrem höchst heterogenen Material auffüllen, diskursiv vermittelt sind. Mit dem Initiationsmodell steht also sogar ein mehrfach vermitteltes Erinnerungsmodell zur Diskussion. Daher kann es auch keinen direkten Weg geben, der von den Heroenmythen — Jung und Campbell lesen mit Homer, Ovid u.a. die oben erwähnten literarischen Klassiker — zur anthropologischen Konstante führen könnte. Entscheidende Hinweise zu dieser qualitativen Umwertung des mythologischen Zitats gibt Anton. Im Rekurs auf Adelungs >Ueber den deutschen Styl< legt er die Qualität mythologischer Erzählungen in provokanter Weise fest: »>Ob es gleich sonst nicht gewöhnlich ist, den Gebrauch der Mythologie mit unter die Figuren zu rechnen, so gehöret er doch wirklich dahin, indem die mythologischen Bilder nichts anders als Tropen und Allegorien einer besonderen Art sindKinderlogik< in ihrem ideengeschichtlichen Zusammenhang. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993). S. 2 5 2 - 2 6 6 .

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Moritz, Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik. S. 449. Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik in der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989. S. 3.

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vierten Teil des Romans das semiotische Paradigma der Erinnerung in ein intransitives, kohärentes und selbstreferentielles Zeichenkonzept einmünden läßt, das im allgemeinen mit dem klassisch-romantischen Symbolkonzept um 1800 gleichgesetzt wird. 02 Denn auch dieses Zeichenkonzept basiert auf dem nicht von ungefähr im diskursiven Kontext der Mystik diskutierten Strukturprinzip der »Identität oder Identifikation«. 03 Indem der Repräsentationscharakter dieses Zeichens durch die ontologische Konzeption von Unmittelbarkeit, Natürlichkeit und Motivation auf ein Minimum reduziert wird, ist das sogenannte Anschauungssymbol dazu prädestiniert, ein mit den unterschiedlichsten Kategorien prädiziertes Absolutes in seiner Totalität sinnlich zu vergegenwärtigen. 04 62

»Moritz admet que l'oeuvre d'art signifie; or, n'est-ce pas une characteristique generique de tout signe, et non seulement de Γ allegorie, de renvoyer ä autre chose que soi? Moritz a done besoin de concevoir une nouvelle classe de signes, qui se characterise« par leur intransitivite«. Tzvetan Todorov, Theories du Symbole. Paris 1977. S. 194. V g l . II. 2. Das Initiationsmodell als semiotisches und narratives Paradigma. Titzman weist außerdem darauf hin, daß die Symbolkonzeption ihren Zeichencharakter durch eben diese Bestimmung leugnet: Das Symbol habe keine semantische, syntaktische und historische Dimension. »Was als S[ymbol] bezeichnet wird, ist logisch unmöglich: S[ymbol] ist eine theoretische Größe, die es in der Realität nicht geben kann«. Michael Titzmann: Allegorie und Symbol im Denksystem der Goethezeit. In: Formen und Funktionen der Allegorie. D F G Symposion 1978. Hrsg. von Walter Haug. Stuttgart 1979. S. 642 — 665. S. 655.

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Paul de Man: Allegorie und Symbol in der europäischen Frühromantik. In: Typologia litterarum. Festschrift für Max Wehrli. Zürich 1969. S. 403—425. S. 424. S0rensen weist anhand der >Bildenden Nachahmung des Schönen< auf die mystische Tradition in Moritz' Ästhetik hin. »Moritz' Lehre vom Kunstwerk als einem in sich vollendeten und für sich bestehenden Ganzen wurzelt also letzten Endes in der uralten mystischen und neuplatonischen Idee des Mikrokosmos. Hiermit stimmt auch überein, daß Moritz öfter, um den in sich vollendeten Charakter der Kunst und der Natur zu bezeichnen, das Bild des Zirkels benutzt, denn auch dieses ist ein Lieblingsbild der Mystik, welches die in sich ruhende Autonomie Gottes bezeichnen sollte« (S. 81). Moritz referiere in seinem Konzept einer »höheren Sprache« auf mystische Muster: Natur, Kunst, Musik, Mythologie und Poesie sind »mystisch-symbolische Sprachen, die nicht diskursiv, sondern nur intuitiv zu verstehen« sind. Bengt A l g o t S0rensen: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts. Kopenhagen 1963. S. 7 5 . Bei Goethe spielt in diesem Sinne das Empfindungssymbol, das er der Allegorie (Verstand) gegenüberstellt, als Rezeptionsmodell eine wichtige Rolle (vgl. S. 117).

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Signifikant und Signifikat, das Besondere und das Allgemeine, um mit Goethe zu sprechen, fallen im Konzept des Symbols zusammen. »Mit Ausnahme Kants argumentieren alle diese [klassischen] Autoren nicht, daß das Sfymbol] als Besonderes eine Idee oder ein Allgemeines ausdrücke« — das heißt: sie argumentieren nicht semiotisch —, »sondern daß es die Idee, das Allgemeine ausdrücke. Sie können dann dafür denn auch G o t t (Schelling, Solger), das Unendliche oder Absolute (Schelling, Ast, Hegel), das Unerforschliche (Goethe)« oder Zerstörung und Bildung als Prinzip der Natur (Moritz) sagen. Titzmann: Allegorie und Symbol im Denksystem der Goethezeit. S. 653. Zur systematischen und ontologischen Spannung von Moritz' Ästhetik und Poetik vgl. Brecht: Die Macht der Worte. S. 247 — 277; Bernhard Fischer: Kunstautonomie und Ende der Ikonographie. Zur historischen Problematik von >Allegorie< und >Symbol< in Winckelmanns, Moritz' und

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Konstruiert die >Kinderlogik< eine göttliche Vorstellungskraft, um die Unzulänglichkeit der menschlichen Erinnerung zu kompensieren, inszenieren nun die »Leiden der Poesie« den Topos der Gott- und Wiedergeburt des Menschen 6 ' im »Schöne[n]« ( 3 8 1 ) . Die Poetik des Symbols handelt von der Initiation des »Kunstgenie[s]« in die Objektbeziehungen ( 3 1 2 ) und entwirft ein heroisches, ein imaginär begründetes Zeichenkonzept. Das wird vor allem vor dem Hintergrund des >Magazins< deutlich, in dem der Erinnerungsprozeß im Unterschied zu den »Leiden der Poesie« als Initiation in den realitätsgerechten Beziehungsmodus angesehen wird: 6 6 So habe ich meiner Phantasie auch zuweilen das Spiel verstattet, in die frühesten Jahre der Kindheit unvermerkt bis dahin zurückzuschauen, wo es einem deucht, als ob man nahe dabei wäre, einen undurchdringlichen Vorhang aufzuziehen, der einem vor den Augen hängt, wovon man aber immer, ohne zu wissen wie, unvermerkt wieder abkömmt. Der Schmerz, von der Vergangenheit und dem eigenen Ursprung getrennt zu sein, und das Begehren, diese Trennung zu überbrücken, motivieren im >Magazin< die Erinnerung. Die als Beginn einer Trauerarbeit zu verstehende Rückschau (regressio) wird von dem Wunsch des Erinnernden ausgelöst, das mit dem Topos der Kindheit prädizierte Abwesende in der »Phantasie« zu vergegenwärtigen. Dazu gilt es, jenen »undurchdringliche[n] Vorhang«, der dem Erinnernden »vor den Augen hängt«, beiseite zu ziehen 6 7 — der Exkurs über Individualität spricht analog von der »Scheidewand« ( 2 2 1 ) , die den Erinnernden vom Objekt seines Begehrens trennt. Gleichzeitig tabuisiert die Passage des >Magazins< dieses Begehren jedoch dadurch, daß der Erinnernde unversehens von der unmittelbaren Schau des Erinnerten (unio) ab- bzw. umgelenkt wird. Das >Magazin< setzt für diese Initiation den Topos des »Labyrinth[s]«

ein

und verbindet mit ihm den realitätsgerechten, an die textuelle Metaphorik

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Goethes Kunsttheorie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990). S. 247 — 277; Klaus-Detlef Müller: Lebenswelt und Anthropologie. >Anton Reiser< und das Konzept der Kunstautonomie. Etudes germaniques 50 (1995). S. 5 9 - 7 2 · Haas bezieht die Funktion der Selbsterkenntnis im mystischen System auf diese Gottesgeburt im Menschen. »Die Vereinigung der Seele mit Gott, die Geburt Gottes in der Seele als deren Überformung mit dem innertrinitarischen Leben, wird damit als immer intendiertes Ziel aller Selbstergründung enthüllt. Die menschliche Selbsterkenntnis bleibt beim ergründeten Selbst nie und nimmer stehen, sondern erstrebt weit darüber hinaus die Vergottung der Seele, die unsägliche Gnade«. Nim din selbes war. S. 149. Dieses Schema entspricht dem mystischen Weg der Selbst- und Gottfindung via purgativa, via illuminativa und unitiva. Vgl. Haas: Sermo mysticus. S. I77f. Moritz: Revision der ersten drei Bände dieses Magazins. 3. St. S. 195.

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gebundenen Beziehungsmodus der Erinnerung. 68 Dabei liegt der Passage nicht das mnemonische orafo-Modell einer klassischen, regelmäßigen Labyrinthanlage zugrunde, sondern offenbar das von Ovid beschriebene Irrgangsystem des Baumeisters Daedalus mit seinen »vielfältig gewundene[n] Wege[n]. So wie der lautere Strom des Maeandros in phrygischen Auen«. 6 9 Noch gibt »es keinen Theseus«, heißt es, »der aus diesem verwickelten Lebenslabyrinthe den Ausweg durch Rückerinnerung gefunden« hat. »Ein solcher Mensch müßte eine übernatürliche Stärke der Seele besitzen«. Denn eine derart als unmittelbare Schau konzipierte Erinnerung müßte dem Erinnernden eine »Aussicht« eröffnen, die »ihn dem Wahnwitz nahe bringen« könnte: Er würde »seine Persönlichkeit verlieren: er würde lebend aufhören, zu seyn«. 7 ° U m dieser Gefahr zu begegnen, werden dem Initianden wie in den einschlägigen Mythen Helfer an die Seite gestellt. Im zitierten Theseus-Mythos kommt dem Helden, der nach Kreta fährt, um den in Daedalus' Labyrinth gebannten Minotaurus zu besiegen, diese Hilfe von höchster Stelle zu. Aphrodite persönlich schickt ihm Ariadne mit einem probaten Hilfsmittel, so daß das riskante Unternehmen gelingen kann. 7 1 Dieser bei Moritz in der Reflexionsfigur der Erinnerung als Lektüre fungierende Ariadnefaden wird entsprechend der metaphorischen Logik des Erinnerungsdiskurses im >Magazin< an die Sprache gebunden: Allein die Sprache ist der unzerstörbare Knäuel, von welchem wir den Faden abwickeln, der uns aus diesem Labyrinthe unsrer Vorstellungen den einzigen Weg zeigt. W i r machen es wie ein Wandrer, der in einem dichten unwegsamen Gehölze, den Weg, den er wandelt, gerne wieder zurück finden will, und sich

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Moritz: Revision der ersten drei Bände dieses Magazins. 3. St. S. 193. Zur semantischen Verbindung von textueller Metaphorik und dem Topos des Labyrinths vgl. lat. textum: Gewebe, Geflecht, Zusammenfligung, Gefüge, Bau. Eco unterscheidet drei Formen des Labyrinths. »Erstens das klassisch-griechische, das des Theseus. In diesem Labyrinth kann sich niemand verirren: Mann tritt ein und gelangt irgendwann ins Zentrum und vom Zentrum wieder zum Ausgang. [ . . . ] Zweitens g i b t es das barock-manieristische Labyrinth, den Irrgarten«. Dieser mag Moritz vorgeschwebt haben. »Drittens g i b t es das Labyrinth als Netzwerk oder, um den Begriff von Deleuze und Guattari aufzunehmen, das Rhizom. Das Rhizom-Labyrinth ist vieldimensional vernetzt«. Dieses Labyrinth markiert den Angelpunkt von poetologischer Reflexionsfigur der Erinnerung und Text. U m berto Eco: Nachschrift zum >Namen der RoseIlias< 18, 590—92) vgl. Joseph Leo Koerner: Suche nach dem Labyrinth. Der Mythos von Daedalus und Ikarus. Frankfurt a . M . 1983. S. 45—62. Herrmann Kern: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbildes. München 1982. S. 4 3 - 6 7 .

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einen Merkstab nach dem andern hinstellt, wornach er sich richten kann, wenn er wieder u m k e h r t . 7 2

Der erinnernde Initiationsprozeß wird also im Spannungsfeld von visueller und textueller Metaphorik, von imaginärer und realitätsgerechter Erinnerung, situiert. Und Moritz setzt für letztere den Topos des Wanderers ein. Der Erinnernde wünscht zwar, die Bilder der Vergangenheit in der reinen Innenschau hervorzurufen (regressio), trifft aber auf die materiellen Supplemente des Gewünschten, die er metonymisch zu einem Text verknüpfen muß (progressio). Die Metapher des Labyrinths und der Topos des Wanderers stehen also für die oben beschriebene spezifische Textfiguration des Gewebes. Diese Metapher schlägt in dem Moment von der positiven in die negative Konnotation bzw. ins Symptom um, in dem das Tabu verletzt wird und der Erinnernde seinem Identitätsbegehren erliegt — der Wanderer wird in die Irre geführt. Vor diesem Hintergrund soll im folgenden der poetologische Exkurs des Erzählers betrachtet werden, der mit dem Genie einen weit weniger realitätsgerechten Heros entwirft. Das Genie durchläuft bei der Erschaffung des Schönen die drei klassischen Phasen der Initiation: regressio — unio — progressio. Da aber nicht jede Initiation erfolgreich verläuft, entwikkelt der Erzähler eine Reihe von »Merkzeichen« ( 3 1 2 ) , durch die der Dilettant vom Genie unterschieden werden soll: Das erste Zeichen bezieht sich auf die Phase der regressio und besteht darin, daß der Dilettant »die Poesie in den Gegenständen sucht, die in ihm selber schon liegen müßte, um jeden Gegenstand, der sich seiner Einbildungskraft darbietet, zu verschönern« [Hervorh. F. B.] (382). Das zweite Zeichen bezieht sich auf die Phase der unio und »sollte ebenfalls fur jeden, der sich wegen seines poetischen Berufes sorgfältig prüft, schon abschreckend sein«: »Denn der wahre Dichter und Künstler findet und hofft« im Gegensatz zum Unberufenen, »seine Belohnung nicht erst in dem Effekt, den sein Werk machen wird, sondern er findet in der Arbeit selbst Vergnügen« [Hervorh. Ε Β.]. Das dritte »schlimme[] Zeichen« bezieht sich auf die Phase der progressio. »Wenn junge Dichter ihren Stoff sehr gerne aus dem Entfernten und Unbekannten nehmen«, nicht aus dem, »was dem Menschen nahe liegt«, kritisiert der Erzähler den Dilettantismus, schlägt die Initiation fehl: »Denn in dies letztere muß freilich ihr Genie die Erhabenheit erst hereintragen« [Hervorh. F. B.], während das Unbekannte und Fremde »schon von selber poetisch« ist (383). 72

Karl Philipp Moritz: Deutsche Sprachlehre für die Damen in Briefen (1782). In: Moritz, Die Schriften in dreißig Bänden. Bd. 1 3 . S. 88.

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Obwohl die Merkzeichen dafür gedacht sind, die vermeintliche Inferiorität des Dilettanten bloßzustellen, besteht doch ihr eigentlicher Effekt gerade darin, die geniale Produktion in ihrer unbedingten Selbstbezüglichkeit als Regression zu entlarven, auch wenn diese vorderhand nur den Dilettanten bedroht: Wenn ihn [Anton, F. B . ] der Reiz der Dichtkunst unwillkürlich anwandelte, so entstand zuerst eine wehmütige Empfindung in seiner Seele, er dachte sich ein Etwas, worin er sich selbst verlor, wogegen alles, was er je gehört, gelesen oder gedacht hatte, sich verlor, und dessen Dasein, wenn es nun würklich vor ihm dargestellt wäre, ein bisher noch ungefühltes, unnennbares Vergnügen verursachen würde.

Im Zentrum der »Leiden der Poesie« steht nun die Sprache des Schönen — die spezifische Struktur des literarischen Mediums. Das schöne Zeichen wird von der Sehnsucht nach einem bisher »noch ungefühlte[n], unnennbare[n] Vergnügen« motiviert, die das Genie in die Introversion treibt. Anton regrediert in dieser Phase, die der Erzähler nicht von ungefähr als »Krisis« bezeichnet, so vollständig, daß seine Zunge »in den Momenten dieses seligen Vorgefühls [ . . . ] nur stammelnde einzelne Laute hervor bringen« kann. »Etwa wie die in einigen Klopstockschen Oden«, bemerkt der Erzähler maliziös, »zwischen denen die Lücken des Ausdrucks mit Punkten ausgefüllt sind« (381). Dieser Beziehungsmodus wird im folgenden mit dem Topos des Inzests prädiziert. Anton — Schöpfer der mißlungenen Gedichte >Das Chaos< und >Der Tod< - wird zum Schluß des vierten Teils mit dem Heros der antiken Mythologie gleichgesetzt, mit dem legendären, der Mutter und ihren Stellvertreterinnen bis in den Tod auf Gedeih und Verderb ausgelieferten Herakles. 73 Er strengte mit einer A r t von W u t seine Einbildungskraft an, in diese Dunkelheit Bilder hineinzutragen, allein sie schwärzten sich, wie auf Herkules Haupte die grünen Blätter seines Pappelkranzes, da er sich, um den Cerberus zu fangen, dem Hause des Pluto nahte. Alles was er niederschreiben wollte, löste sich in Rauch und Nebel auf, und das weiße Papier blieb unbeschrieben. ( 3 9 3 )

Für den Dilettanten bleibt das »Schöne[]« ganz im Bereich ebenso lustvoller wie bedrohlicher Imagination. Er überläßt sich dem »täuschenden Hange« nach Unmittelbarkeit (381) und verzehrt sich im »unnütze[n] 73

Die einzig relevante Analyse dieser Gedichte findet sich bei Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. S. 370 — 377. Der Fall Herakles — aufgrund seines Krampfleidens übrigens fest im Melancholiesdiskurs verortet — beweist seine paradigmatische Qualität als Erinnerungsfigur bis in die Gegenwart. Vgl. Nicole Loraux: Herakles: Der ÜberMann und das Weibliche. In: Faszination des Mythos. Studien zu antiken und modernen Interpretationen. Hrsg. von Renate Schlesien Basel, Frankfurt a. M. 1985. S. 167 — 208.

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Streben nach einem täuschenden Blendwerke, das immer vor seiner Seele schwebt[], und wenn er es nun zu umfassen glaubt[], plötzlich in Rauch und Nebel« verschwindet (38if.). Die über den Herakles-Mythos erfolgende Korrelation des semiotischen Paradigmas mit dem Topos des Inzests als dem wirkungsmächtigsten aller kulturellen Tabus macht erst deutlich, welche Sprengkraft das Erinnerungsideal im >Anton Reiser< hat. Der Erzähler erhebt deswegen wie ein guter Initiationshelfer seine »warnende Stimme« zu dem »Jüngling« und fragt, ob er auch die »Kraft« habe, den Versuchungen, die von den Bildern seines Innersten ausgehen, zu widerstehen. Denn dieser Blick ist sanktioniert; es droht »die Strafe verbotenen Genusses« (381): Mit dergleichen ungeheuren Bildern zerarbeitete sich Reisers Phantasie in den Stunden, wo sein Innres selber ein Chaos war, in welchem der Strahl des ruhigen Denkens nicht leuchtete, wo die Kräfte der Seele ihr Gleichgewicht verloren und das Gemüt sich verfinstert hatte; wo der Reiz des Wirklichen vor ihm verschwand, und Traum und Wahn ihm lieber war, als Ordnung, Licht und Wahrheit. (387)

Gleichzeitig wird deutlich, wie wenig der Erzähler die Mechanismen seines Spiels durchschaut, wenn er munter in der Phänomenologie fortschreitet. Allein das Genie habe nämlich die Kraft, die große Prüfung — jene mit dem Inzest konnotierte Offenbarung des Ursprungs — zu bestehen und schließlich das Schöne zu schreiben. Denn darin sind sich >Magazin< und poetologischer Exkurs schließlich doch einig: Nicht das »Vorgefühl[]«, sondern allein die literarische Realisierung — das »Trauerspiel«, die »Romanze« oder »ein Elegisches Gedicht« — sind schön. Das Genie hat anders als der Dilettant daher nicht »bloß eine Empfindung im Allgemeinen zum Dichten«, sondern bei ihm ist die »bestimmte Szene, die er dichten will, noch eher als diese Empfindung« da. »Kurz«, resümiert der Erzähler im Rekurs auf das bewährte visuelle Paradigma: »Wer nicht während der Empfindung zugleich einen Blick in das ganze Detail der Szene werfen kann, der hat nur Empfindung, aber kein Dichtungsvermögen« (381). Es ist nur zu deutlich, daß in den »Leiden der Poesie« in der für die Semiotik um 1800 typischen Weise unter dem Deckmäntelchen der Initiation ein Kategorienschmuggel betrieben wird, »der die Symbolik insgeheim in eine Ontologie verwandelt und die in der Stellvertreterfunktion des Urphänomens gesetzte Differenz absorbiert«: 74 Antons psychischer

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Waltraud Wiethölter, Legenden. Z u r Mythologie in Goethes >WahlverwandtschaftenAnton Reiser< nicht nur die Kontiguität von Erinnerung und Poesie, sondern er ist in der Rezeption des Romans in bezeichnender Gutgläubigkeit zum alleinigen Maßstab seines ästhetischen Werts erhoben worden. Kestenholz exponiert die metaphorische Verbindung dieses (Über-)Blickes aus den »Höhen der Vernunft« mit

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zismus (Genie) und melancholische K u n s t (Dilettant) vgl. Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. S. 390ff. Moritz: Deutsche Sprachlehre für die Damen in Briefen. S. 88.

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d e n i m > A n t o n Reiser< allerorts präsenten T ü r m e n ( 1 0 1 ) . Sie stellt fest, daß A n t o n i m G e g e n s a t z z u m Erzähler der » r e c h t e G e s i c h t s p u n k t « und der » w a h r e Ü b e r b l i c k « f e h l t , 7 6 der sich aus der überlegenen P e r s p e k t i v e e i n stellt. D a h e r v e r f e h l t A n t o n , anders als der Erzähler, m i t seinem T e x t i m m e r d e n » w a h r e n S y m b o l c h a r a k t e r i m A u g e n m e r k auf einzelne D i n g e , die Z e i chencharakter g e w i n n e n . W a s organisierendes Z e n t r u m w e r d e n m ü ß t e , g e rinnt l e d i g l i c h z u m allegorischen B i l d « . 7 7 D i e s e l b e Z u o r d n u n g der auf d e m alten

Goethe-Diktum

basierenden

poetologisch-figurativen

Kategorien

S y m b o l u n d A l l e g o r i e u n d eines entsprechenden erfahrungsseelenkundlich b e g r ü n d e t e n Erkenntisstandes findet u m g e k e h r t auch dort statt, w o d e m E r zähler die ( T u r m - ) P e r s p e k t i v e abgesprochen u n d i m g l e i c h e n A t e m z u g das Fehlen

»überpersönlichefr] S y m b o l e « 7 8

u n d einer

s c h e [ n ] V e r e i n h e i t l i c h u n g « reklamiert w i r d .

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W a g n e r - E g e l h a a f stellt diese

p s y c h o l o g i s c h u n d ästhetisch perspektivierte O p p o s i t i o n v o n T u r m und L a b y r i n t h in einen teleologischen Z u s a m m e n h a n g : » D e r labyrinthische W e g [ f ü h r t ] idealerweise z u m T u r m « . Sie konstatiert aber den B r u c h zwischen H o r i z o n t a l e u n d V e r t i k a l e , w e i l sich » h i n t e r d e m P h a n t a s m a des T u r m b l i c k s die A p o r i e des L a b y r i n t h s als L e s e f i g u r « v e r b i r g t . 8 0 I m f o l g e n d e n sollen d a -

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Kestenholz: Die Sicht der Dinge. S. 1 1 1 — 1 1 3 . Vgl. Müllers These von der »Verdichtung der Wirklichkeit zum Modell«, in welchem »die Totalität seiner Bezüge im Dargestellten enthalten ist« und »alle seine Elemente im Ganzen sinnhaltig sind«. K . D. Müller: Autobiographie und Roman. S. 150. Kestenholz: Die Sicht der Dinge. S. 1 1 7 . Schrimpf stellt Anton Reisers psychologischer Disposition ästhetische Kategorien gegenüber: geschlossener/offener Kreis, Mittelpunkt/ kein Mittelpunkt; in sich selbst vollendet/Mangel an Existenz; Tatkraft/Passivität; Synthese/Trennung von innen und außen. Vgl. Hans-Joachim Schrimpf: Karl Philipp Moritz. In: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Benno von Wiese. Berlin 1977. S. 8 8 1 - 9 1 0 . August Langen: Karl Philipp Moritz' Weg zur symbolischen Dichtung. Zeitschrift für deutsche Philologie 81 (1962). S. 1 6 9 - 2 1 8 ; S. 4 0 2 - 4 4 0 . S. 439. Die Symbolisierung setze sich gegen die psychologische und ästhetische Rhetorik nicht durch, d.h. der Roman negiere auf ästhetischem Gebiet seine eigene Kritik. Vgl. Helmut Pfotenhauer: »Des ganzen Lebens anschauliches Bild«. Autobiographik und Symbol bei Karl Philipp Moritz. Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 86/88 (1982/84). S. 3 2 5 - 3 3 7 . Preisendörfer: Psychologische Ordnung — Groteske Passion. S. 4 1 . Vgl. Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. S. 109 — 1 1 2 . Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. S. 406. Zum Vorwort des zweiten Romanteils bemerkt sie: »Zugleich ist der Passage und damit der konzeptuellen Konstruktion des Romans das Modell des Irrgartens unterlegt, nicht das Modell des klassischkretischen wohlgeordneten Labyrinths, sondern das aus Irrgängen und Sackgassen (»abgerißne Fäden, Verwirrung«) gebaute System des Irrgartens, das im Rückblick aus der höheren Warte, im Blick vom Turm gewissermaßen, die Ordnung in der Unordnung erkennen läßt« (S. 369). Zur positiven Beurteilung des Turmes vgl. Mark Boulby: The Gates of Brunswick: Some Aspects of Symbol, Structure and Theme in Karl Philipp Moritz' >Anton ReiserAnton Reiser< hat lange vor >Auf der Suche nach der verlorenen ZeitAnton Reiser< verweist. Minder: Glaube, Skepsis und Rationalismus. S. 1 6 . V g l . Albert Beguin: Traumwelt und Romantik. Versuch über die romantische Seele in Deutschland und in der Dichtung Frankreichs. Bern 1 9 7 2 . S. 4 2 — 68. S. 5 3 ; Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. S. 9 5 f f .

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Moritz: Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik. S. 4 3 7 .

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V g l . 40 [Unter diesen Umständen . . . ] , 4 1 [Diese ersten Eindrücke . . . ] , 4 3 [So ward er schon früh . . . ] , 55 [Und gewiß ist wohl . . . ] . Preisendörfer weist auf den Tempuswechsel in den Passagen hin. V g l . Psychologische Ordnung — Groteske Passion. S. 67.

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Der Erzähler hält sich an eine feste Chronologie: Der achtjährige (vgl. 4 2 ) , neunjährige (vgl. 45), zehnjährige (vgl. 49), elfjährige (vgl. 5 5 , 60), zwölfjährige (vgl. 6 1 ) , dreizehnjährige (96), vierzehnjährige (vgl. 1 1 0 ) Anton Reiser.

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Diese Kategorie beziehen sich auf Preisendörfers profunde rhetorische Textanalyse, die drei rhetorische Grundfiguren im Dienste der Ordnungstechniken des Erzählers beschreibt: »Ursprungssituationen« (vgl. 3 8 0 , 1 0 5 , 1 6 7 , 2 0 4 , 2 7 4 , 3 4 1 , 3 4 2 ) , »Parallelisierung von Ursprungssituationen« (vgl. m , 1 5 4 , 1 8 5 , 289), z . B . der Ausruf »dummer Knabe«, der vom Erzähler mehrmals aufgegriffen wird, und« Zusammenstellen nach Ähnlichkeiten«. Hierzu zählt er z . B . das Motiv »Lebensüberdruß«, das, immer wiederkehrend, zum Symbol erhoben werde, und die »Türme«. Psychologische Ordnung — Groteske Passion. S. 6 5 - 7 4 .

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ren eröffnet prinzipiell die Möglichkeit, das zeitliche Kontinuum ganz zu sprengen. Dieses Raum-Zeit-Kontinuum steht im Zentrum der Passagen (vgl. 97ff.), in denen der Erzähler das »Phänomen« einer der memoire involontaire durchaus vergleichbaren »plötzlich[en]« Erinnerung beschreibt (98f.). Diese Erinnerung operiert wie der Traum metaphorisch und metonymisch; sie basiert auf der Fähigkeit, »eine entfernte Ähnlichkeit« zwischen Gegenständen zu erkennen und diese in »Ansehung der Zeit« miteinander zu verknüpfen (98): »Ein Zusammenfassen der Ähnlichkeiten, die jeder folgende Moment in seinem [Antons, F. B.] Leben mit dem entschwundenen« hat (227). In diesem Sinne bestimmt auch die >Kinderlogik< Erinnerung mit Betonung des temporalen Aspektes (sprach-)logisch als »Urteil« — »das Vermögen, zwei Begriffe miteinander zu verbinden oder voneinander zu trennen«. 86 Gleichzeitig gilt es der Gefahr vorzubeugen, daß diese Produktivität überbordet und sich die »Szenen des Lebens« untereinander verwirren. Die spontane Erinnerung suspendiert das Zeit-Raum-Kontinuum dadurch, daß »die Erinnerung an den Zwischenraum der Zeit, welche unterdes« zwischen Gegenwart und Vergangenheit verfließt, verlöschen oder »schwächer« werden kann. Die »Szenen des Lebens« werden also ihrem vertikalen Nacheinander enthoben und in der »Einbildungskraft« in ein horizontales Nebeneinander gebracht. So stellt sich z.B. der Effekt ein, daß Anton sich an die jüngere Vergangenheit vom damaligen Standpunkt »noch als zukünftig« erinnert, weil er sich plötzlich »gerade in den Zustand« zurückversetzt fühlt, »worin er sich unmittelbar vor dem Anfange« dieser »anderthalb Jahre[]« befunden hat (99). Die literarische Simulation dieser Phänomenologie veranschaulicht etwa folgende Regieanweisung: »Da ich einmal in meiner Geschichte zurückgegangen bin, [ . . . ] so muß ich hier noch zwei seiner [Antons, F. B.] frühesten Erinnerungen anführen« (58). Nachdem der Erzähler anstatt der zwei nun vier assoziativ miteinander verbundene Episoden hat folgen lassen, entschuldigt er sich: »Nach dieser Ausschweifung wollen wir der Zeitfolge gemäß in Antons Geschichte wieder fortfahren, den wir eilf Jahre alt [ . . . ] verlassen haben«. (60) Diese freie, metonymisch organisierte Assoziation ist jedoch durchaus kalkuliert. 87 So gehören denn auch Regieanweisungen 86

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Moritz: Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik. S. 449: »Erinnerung und Zeit sind wiederum notwendig miteinander verknüpfte Begriffe. [ . . . ] Wo keine Zeit stattfindet; da kann auch keine Erinnerung stattfinden«. Vgl. II. 1. Die kulturelle Imprägnierung der Erinnerung. Abschn. II. Im Gegensatz dazu betont Gartier die Psychodynamik von Moritz' »metonymischefm]

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und Ordnungsverfahren nicht umsonst zu den meistdiskutierten Themen des Erzählers. Und es gibt wohl neben Sternes >Tristram Shandy< kaum einen Erinnerungstext, in dem der Erzähler sein Eingreifen so oft und so offen thematisiert wie im >Anton ReiserAnton Reiser< unwillkürliche, spontan ausgelöste Erinnerungen szenisch miteinander verknüpft werden. Regieanweisungen, Interpretationen und Analysen werden diesen Szenen nicht integriert, sondern stehen ihnen als Sekundärphänomene der Erinnerung gegenüber. Dieses Textverfahren veranlaßt Preisendörfer dazu, anstatt von einer chronologischen von einer räumlichen Ordnung zu sprechen, in der die Sentenzen in jener typisch memoria-technischen Weise eine entscheidende Funktion übernehmen. Sie garantieren »die Statik des räumlichen Aufbaus. [ . . . ] Ihre zweite Aufgabe besteht darin, [...] die Bücher eins bis drei wesentlich systematischer untereinander zu verschränken, als dies mit einer rein chronologischen Erzählweise möglich gewesen wäre«.®9 Mit dem Beginn der Braunschweiger Episode verlangsamt sich der Szenenwechsel zwar merklich, 90 Preisendörfer weist jedoch nach, daß die »Wiederholungen, Parallelen und Ähnlichkeiten (also räumliche[] Anordnungen)« im Roman durchgängig zu beobachten sind. 91 Diese rhetorisch-funktionale Analyse der Kommentare im Kontext der räumlichen Ordnung erklärt daher auch, warum sie nicht, wie oben erläutert, in ihrer Erkenntnisfunktion aufgehen.

Schreibverfahren« (S. 85). Freud liefere »daspsychologische Motiv für die metonyme Unterlaufung des Textes«, welche ein Effekt der Verdrängung sei. Unglückliche Bücher oder die Marginalität des Realen. S. 63. 88 Diese Einschätzung widerspricht Preisendörfers These: »Der Effekt dieser Demonstration von Ordnungsverfahren besteht darin, die psychologisch gestützten und didaktisch motivierten Erzähler/kommentare in den Vordergrund, die Ordnungs/ar>i>»;/£ des Textes aber in den Hintergrund zu rücken«. Psychologische Ordnung — Groteske Passion. S. 56. 89 Preisendörfer: Psychologische Ordnung — Groteske Passion. S. 9 ° Parallel dazu treten die Hinweise auf das Alter des Helden in den Hintergrund. Im zweiten Teil fehlen sie ganz. Der dritte und vierte Romanteil handeln nur noch vom neunzehnjährigen Anton (vgl. 2 7 3 , 339, 364). Allerdings verirrt sich der Erzähler in der Chronologie, wenn er seinen Helden zwischendurch ein Jahr älter macht (vgl. 290). 91 Preisendörfer: Psychologische Ordnung — Groteske Passion. S. 64.

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Trotzdem steht der naheliegenden Schlußfolgerung, den >Anton Reisen als experimentalpsychologisch strukturierten, phänomenologisch operierenden Roman abzutun, 92 vor allem eines im Wege: Noch deutlicher als beispielsweise Augustinus rekurriert dieser erste deutschsprachige Erinnerungstext, der die Doppeleinheit Erinnerung poetologisch reflektiert und zum Textverfahren professionalisiert, auf die Topik der antiken Mnemotechnik und greift mithin auf ein erprobtes ästhetisches Modell der Erinnerung zurück. Das auf dem System von loci und imagines basierende rhetorische ordo-Modell eines Gedächtnis-Gebäudes 93 wird im Roman in einen Stadt- bzw. im dritten und vierten Teil in einen für die Erinnerungstexte zwischen 1 8 0 0 und 1900 — nicht zuletzt für den >Grünen Heinrich< signifikanten Landschaftsraum transformiert, in den die im >Anton Reiser< so zentralen Türme, die Wälle und städtischen Gebäude eingebettet sind. »Mein Gedächtnis«, heißt es in diesem Sinne bereits bei Augustinus, »siehe, das sind Felder, Höhlen, Buchten ohne Zahl, unzählig angefüllt von unzählbaren Dingen aller Art, seien es Bilder, [ . . . ] seien es die Sachen selbst«. 94 Vor dem Hintergrund dieser mnemonischen Landschaft kommt der oben entwickelten metaphorischen Substituierbarkeit von Erinnerung als (Sprach-)Bewegung und »Anton Reisers Wanderungen« also noch einmal besonderes Gewicht zu (204). Türme und Wälle, denen der GedächtnisWanderer begegnet, übernehmen im >Anton Reiser< in gut rhetorischer Tradition die erinnerungsauslösende Funktion der loci\ »So mächtig wirkt die Vorstellung des Orts, woran wir alle unsre übrige Vorstellungen knüpfen«, »weil sie gleichsam in sich noch zu wenig Konsistenz haben« (97). In dieser Funktion sind die Türme, jene »großen Stifte« ( 1 8 8 ; vgl. 98), wie die Merkstäbe im Labyrinth der Erinnerung an die Ordnung der Sprache gebunden. Sie sind im >Anton Reiser< daher auch keine Solitäre, denen man etwa Symbolisierungsfunktion zuweisen könnte, sondern wie ein »Merkstab nach dem andren« in den mnemonischen Raum gestellt. Und 92

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Vgl. Hans-Joachim Schrimpf: Anton Reiser. In: Der deutsche Roman. Hrsg. von Benno von Wiese. Düsseldorf 1963. S. 120. Preisendörfer schränkt lediglich ein, dieses Experiment sei die Performanr des Textes, nicht etwa das nachträgliche Protokoll. Preisendörfer: Psychologische Ordnung - Groteske Passion. S. 92. »Die allgemeinen Prinzipien der Mnemonik« faßt Yates griffig zusammen, »sind leicht zu verstehen. Der erste Schritt war, dem Gedächtnis eine Reihe von loci, Orten, einzuprägen [...]. Um im Gedächtnis eine Reihe von Orten zu bilden, erinnere man sich an ein möglichst komplexes Gebäude [...]. Die Bilder [ . . . ] werden in der Vorstellung an die Orte in dem Gebäude gestellt, [so] daß der antike Redner [...] im Geiste durch sein Erinnerungsgebäude geht und an allen erinnerten Orten die dort deponierten Bilder [imagines, F. B.] abnimmt«. Gedächtnis und Erinnern. S. 1 2 . Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. S. 527 u. 529.

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diese Topographie entspricht dem »unzerstörbare[n] Knäuel« der Sprache95 — Gartier weist auf die Etymologie des Stiftes (Schreibgerät) hin — , 96 »von welchem wir den Faden abwickeln, der uns aus diesem Labyrinthe unsrer Vorstellung den einzigen Weg zeigt«. 97 Diese realitätsgerechte, auf Totalität und Kontinuität verzichtende Erinnerungspoetik steht dem imaginären, in den »Leiden der Poesie« verhandelten Erinnerungszeichen gegenüber (380). Die immer wieder monierte »aleatorische Reihung an sich kontingenter Kausalverbindungen« 98 des diskontinuierlichen, »undynamisch erinnert[en]« Textes könnte im Rahmen der Erinnerungspoetik des Romans als literarische Simulation des Labyrinths also durchaus Programm sein. 99 Wenn man den literarischen Wert des >Anton Reiser< tatsächlich im Rekurs auf dessen immanente ästhetische Paradigmen messen möchte, kann man diese sicherlich nicht mit den historischen Konzepten in eins setzen. Denn das Anschauungssymbol ist weniger Maßstab als vielmehr Indiz für den von der Umschlagstruktur präfigurierten Konflikt von Wunsch- und Realitätsprinzip der Erinnerung. In diesem Sinne symbolisieren auch die Türme im >Anton Reiser< weder eine ästhetisch noch eine semiotisch noch eine psychologisch begründete Teleologie. Sie sind keine höheren Warten, die vom Mittelpunkt des Labyrinthes aus das System durchschaubar machen, sondern sie sind an jeder Wegkreuzung zugegen und avancieren zu regelrechten Austragungsorten der erinnernden Initiation. Der Forschung muß die Ambivalenz der Türme solange entgehen, wie sie konsequent für das Rationalitäts- und Kausalitätsprinzip vereinnahmt werden. Eine solche Verabsolu95 96

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Moritz: Deutsche Sprachlehre für die Damen in Briefen. S. 88. Lat. stilus: Schreibgerät. Gartler führt dazu aus: »In seiner lateinischen Lesart bezeichnet der Stift als stilus zunächst einen »spitzig, aufrechtstehenden KörperAnton ReiserMisericordia< in das Bildrepertoire der italienischen Renaissance übernommen (Abb. 5). Die individualisierte Form dieses Bildtypus ist jene »Doppeleinheit von Maria und [dem] Jesuknabe[n]«, 1 0 2 wie sie beispielsweise Raffaels berühmte >Sixtinische Madonna< darstellt (Abb. 6). 1 0 3 Der Blick auf Antons Kindheit erfolgt also in den Sehweisen vorgeprägter und eingeübter Muster. Der Erzähler bemerkt daher entschuldigend, aber überraschend umsichtig, daß die »Beobachtungen« eben nur »größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen« sind. Die ursprünglichste Erinnerung des Erzählers, die er anhand seines Stellvertreters in Szene setzt, erweist sich bei näherer Betrachtung als doppelte Enteignung. A n die Stelle des »Menschenlebens« tritt nicht nur die »Darstellung« (120), sondern dieser Text ist auch noch das Ergebnis einer vorgängigen Bildlektüre. Umsonst weist der Erzähler im Zusammenhang der Dorfepisode darauf hin, daß diese Erinnerung »echt« ist, »weil der Umstand an sich zu geringfügig«, als daß Anton »nachher jemand davon hätte erzählen sollen« (58). Der Kommentar legt vielmehr ein beredtes Zeugnis von der Problematik des Erinnerungsprojektes ab, das zwischen dem Wunsch nach unmittelbarem Zugriff auf die Vergangenheit und der latenten Einsicht in 102 103

Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. S. 16. Vgl. Volker Sussmann: Maria mit dem Schutzmantel. Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 5 (1929). S. 285 — 3 5 1 ; Gertrud Schiller: Ikonographie. Bd. 4. 2. Maria. Gütersloh 1980. S. 195 —198. Lexikon der christlichen Ikonographie. Sonderausgabe. Rom, Freiburg, Basel, Wien 1994. Art. Schutzmantelschaft. Sp. 1 2 8 - 1 3 3 .

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das Prinzip des Hörensagens operiert. Die Mutterimago tritt an die Stelle des »wirklichen Lebert[s]« (36). Sie wird funktional — ob mit oder ohne Wissen des Erzählers spielt dabei überhaupt keine Rolle — als Metapher eines systematisch in der Umschlagstruktur verorteten Beziehungsideals im Roman installiert. Die Wahrheit dieser Erinnerung, wenn die Kategorie überhaupt noch tragfähig ist, liegt also nicht in der Einmaligkeit, sondern in der durch den kulturellen Kanon garantierten Autorität. Es liegt allein in der Macht der Worte, daß der Topos Mutter-Kind im >Anton Reiser< zur Matrix des Identitätsbegehrens geworden ist. Und Anton fühlt sich »beglückt wie ein König, so lange dieser Reichtum von Bildern ihm« vorschwebt (334). Mit der gewählten Prädikation greift der Erzähler auf einen Topos zurück, der im kulturellen Gedächtnis nicht von ungefähr an ein fatales Schicksal gebunden wird. Gemeint ist das Schicksal des unglückseligen Narziß, der im geliebten Gegenüber sich selbst erkennen und gebannt in die Spiegelung seiner selbst sterben muß. Runge besetzt in seinem Gemälde >Die Mutter an der Quelle< die vom Mythos vorgegebenen Positionen — in den >Metamorphosen< stammt Narziß von einer Quellnymphe ab — mit dem Personal des Ödipus-Mythos (Abb. 7 ) . 1 0 4 Das Bild zeigt eine Mutter und ihr Kind an der Quelle bzw. exponiert mit dem Blick des Kindes die lediglich im spiegelnden Wasser evozierte Vision der Einheit der ansonsten Getrennten. 1 0 5 Diese Übertragung zeichnet aber nicht allein den psychologischen Roman aus. Noch die Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts macht sich die beiden einander ergänzenden Mythen als narratives Muster für die Beschreibung der Ökonomie frühkindlicher Objektbeziehungen zunutze. 1 0 6 In diesem Sinne entfaltet sich auch im > Anton Reiser< durch das Material hindurch, und das heißt diesseits aller psychologischen Implikationen, die Inzestproblematik. Denn der Inzest wird schon in den »Leiden der Poesie« als dasjenige narrative Muster in Anspruch genommen (380), das metaphorisch für einen tabuisierten und deshalb insta-

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Bei Ovid ist Narziß Kind der Quellnymphe Liriope. Vgl. Metamorphosen. 3, 3 4 i f f . Vgl. den mythologischen, ikonographischen und topographischen Index des Narziß-Motivs in: Narziß und Narzißmus im Spiegel von Literatur, Bildender Kunst und Psychoanalyse. Vom Mythos zur leeren Selbstinszenierung. Hrsg. von Ursula Orlowsky und Rebekka Orlowsky. München 1992. Vgl. Gerhard Kaiser: Mutter Nacht — Mutter Natur. Bilder lesen. Studien zur Literatur und bildenden Kunst. München 1 9 8 1 . S. 1 —51. S. 36. Jacques Lacan leistet in seinem vielzitierten Essay >Das Spiegel-Stadium als Bildner der Ich-Funktion« zwar eine gründliche Lektüre des Mythos unter semiotisch relevanten Gesichtspunkten, die strukturalistischen Konsequenzen werden jedoch von den ontologischen Prämissen des Frühwerks überlagert. Vgl. Schriften I. S. 61—70.

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bilen Beziehungsmodus steht, wie ihn auch Antons vermeintliche Integrität darstellt. Dieses Konfliktpotential belastet also die Mutterimago im >Anton Reisen. Ihre lieben Bilder, die den narzißtischen Helden »umgaukel[n]« (334), können jederzeit wie ein Reflex in »ungeheure[] Bilder« umschlagen (387). Die seligste Kindheitserinnerung wird daher von einem höchst bedrohlichen Bild überschattet, das deutliche Züge einer >OdysseeAnton Reiser< ist die Schrift also an die Vaterimago gebunden. Schrift bezeichnet dabei nicht nur die unhintergehbare Differenz von Signifikant und Signifikat, sondern indiziert auch den realitätsgerechten Beziehungsmodus. 134 Das Prinzip der Schrift besetzt deshalb, subjektphilosophisch gewendet, jene dritte Position des Selbst- bzw. Objektbezugs, die Anton aus der narzißtischen Bindung an die Mutter bzw. an die Mutterimago befreien könnte. Aufgrund dieser metaphorischen Qualität der Kategorie Schrift steht im >Anton Reiser< nicht allein Antons Verhältnis zum materiellen Medium der Sprache zur Diskussion, sondern die Schrift repräsentiert darüber hinaus den Ort der gesellschaftlichen Anerkennung des Helden. Daß diese Anerkennung vor dem Hintergrund der privilegierten Muttersprache kein Leichtes sein wird, steht außer Frage, obwohl Anton in der Kulturtechnik des Buchstabierens zunächst einige Fortschritte macht. Trotzdem kann aber die Schrift zu keinem dauerhaft stabilisierenden Faktor in Antons Leben werden, denn sie wird zu einem weiteren Austragungsort des Kampfes zwischen Vater und Mutter innerhalb der prozessualen Konstitution ihrer Imagines. Der Roman inszeniert den traditionellerweise höchst ambivalenten Topos der Schrift, dessen (Negativ-)Ge132

Anton erfindet weitere Strategien, die Differenz zwischen sich und der Sprache dadurch zu überbrücken, daß er beispielsweise versucht, »so geschwind« zu lesen wie zu sprechen (43), Geschriebenes auswendig zu lernen (vgl. 1 9 6 , 2 4 7 , 3 6 5 ) , nachzuerzählen (vgl. 1 1 3 ) oder so lange zu lesen, bis er es auswendig kennt (vgl. 60, 2 2 0 , 2 3 7 ) .

1,3

Wagner-Egelhaaf spricht von der »allegorischefn] Struktur der Lektüre« (S. 3 5 6 ) , »Allegorie der Bedeutung« (S. 3 5 7 ) bzw. »allegorischefn] Ambivalenz des Buchstabens« und einem »melancholieträchtigen Bedeutungshorizont«. Die Melancholie der Literatur. S. 3 5 8 .

134

Diese Überlegungen orientieren sich an der neostrukturalistischen Schrifttheorie, die »zu einem neuen Begriff der Schrift« führt: »der Schrift überhaupt, von der die gesprochene Schrift und die graphische Schrift Untertanen wären. Derrida erbringt den Nachweis, daß die Rede bereits eine Form der Schrift ist«. Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek 1 9 8 8 . S. 1 1 3 .

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schichte mit Paulus' Brief an die Korinther seinen Ausgang nimmt, nämlich als Initiation: »Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig«.I35 Der Konflikt zwischen Differenzerfahrung und Identitätsbegehren ist am Ort des einzelnen Buchstabens programmiert — Buchstaben und Türme stehen im >Anton Reiser< also in einem Substitutionsverhältnis. 136 Anläßlich einer erneuten »Buchstabierübung« wenden sich die Buchstaben plötzlich in ihrer ganzen Tücke gegen Anton, der sich doch bereits schmeichelt, »schon mit Ausdruck lesen zu können«: »Aber die Reihe vorzuschreien«, kommt bald an ihn, denn dies geht »wie ein Lauffeuer herum«; und nun sitzt er »und stockt[], und die ganze schöne Musik« gerät »auf einmal aus dem Takt«. Das Urteil — »dummer Knabe!« — des Inspektors der Freischule, wo Anton dieses symptomatische Mißgeschick ereilt, und dessen Blick »äußerste[r] Verachtung« ( i n ) nehmen im >Anton Reiser< geradezu paradigmatische Qualität für das feindliche Prinzip der Schrift an. 1 3 7 Antons Beziehung zur Sprache kennzeichnet also der Widerspruch zwischen dieser feindlichen Materialität des Buchstabens sowie dem immateriellen Sinn und Ausdruck. Denn entweder geht die Sprache vollständig in Idee bzw. wie im Lied »Hylo schöne Sonne« in Klang auf, oder aber sie bedroht in ihrer Materialität den narzißtischen Helden, dem doch nichts weiter vorzuwerfen ist, als daß er das Leseverhalten seiner Mutter und seines schwachen Vaters übernimmt: 138 Das Hylo allein schon versetzte ihn in höhere Regionen, und g a b seiner Einbildungskraft allemal einen außerordentlichen S c h w u n g , weil er es für irgend einen orientalischen Ausdruck hielt, den er nicht verstand, und eben deswegen einen so erhabnen Sinn, als er nur wollte, hineinlegen konnte: bis er einmal den geschriebenen Text unter den N o t e n sähe, und fand daß es hieß: H ü l l ' ο schöne Sonne, u s w . 1 3 9

Das »ganze Zauberwerk« ist ein Effekt der Aspiration und im gleichen Augenblick »verschwunden«, in dem Anton mit der rohen Materialität des geschriebenen Textes konfrontiert wird (173). Antons Sangesfreude 135

ι K o 3, 6. Das Zitat steht als Motto über den parallel zum >Anton Reiser< entstandenen allegorischen Hartknopf-Romanen. Was im >Anton Reiser< das Konfliktpotential des Romans ausmacht, avanciert dort zum ästhetischen Prinzip. •3 Vgl. III. 1 . »Und ich erinnere mich«: Erinnerung als unio mystica. Abschn. IV. Vgl. 1 5 4 , 1 4 3 , 1 8 5 . 138

Diese Lautmagie wiederholt sich in der Vorstellung seines »zukünftige[n] Wohltäterfs]« L. »In Ermangelung aller andern Vergleichungen« nimmt Anton »zu dem willkürlichen Namen des Dinges« und den »hart oder weich, voll oder schwach, hoch oder tief, dunkel oder hell klingenden Töne[n]« Zuflucht (71), um dieses Bild zu imaginieren. In diesem Sinne zeigt Anton auch eine Vorliebe für die gesungene Sprache (vgl. 46, 2 5 1 ) .

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Wieckenberg geht auf diese Passage unter Berücksichtigung des kompletten Liedtextes ein. Bei dem Lied handelt es sich um Christian Gryphius' »Thränen bei dem Grabe

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stellt daher nur eine mißbräuchliche Form der Aneignung von Schrift dar, die das Differente eskamotiert: »Jedes Wort« scheint in der gesprochenen und vor allem in der gesungenen Sprache »gleichsam einen höhern Wert zu haben« ( 2 5 1 ) . 1 4 0 Diese tabuisierte Strategie erklärt die vielen symptomatischen Mißverständnisse, die den kleinen Helden immer wieder straucheln lassen. Wie sehr der Erzählkommentar von diesem Anton Reiser zugeschriebenen Konfliktpotential infiziert ist, zeigen jene sprachkritischen Reflexionen, in denen die graphisch markierte Mit-Sprache besonders augenfällig wird. Die Scheidewand, die Anton vom jeweiligen Objekt seines Begehrens trennt, wird vom Erzähler als »undurchdringliche Scheidewand« der Sprache bestimmt. So bewerten beide die Sprache als »künstliche[n] Behelf« und verzweifeln an dem »notwendige[n] Bedürfnis der Sprache, ohne welche die menschliche Denkkraft keinen eignen Schwung nehmen kann«. »Manchmal«, so beklagt der Erzähler, quält Anton »sich Stunden lang, zu versuchen, ob es möglich sei, ohne Worte zu denken«, und versucht »zu erforschen, was sich dabei mit Worten nicht ausdrücken« läßt. Diese »Scheidewand« richtet sich gegen Antons Einheitsbegehren (2i6f.). In der Erinnerung des Erzählers wird den »vierundzwanzig kleinen Figuren, die wir Buchstaben nennen«, in der Folge selbst ein aggressives Potential bescheinigt,' 4 1 das ihnen nur im Rahmen des ödipalen Konfliktpotentials zuwachsen kann. Damit verbunden richtet sich Antons Aggression auch gegen das Prinzip des »Tausch[es]«142 bzw. der materiellen Supplementierung, wobei er als »Agent der Zerstörung das Differenzpotential der Buchstaben auf sie selbst zurückdenkt]«: 1 4 3 Er machte sich nämlich eine große S a m m l u n g von Kirsch- und Pflaumenkernen, setzte sich damit auf den Boden, und stellte sie in Schlachtordnung gegen einander - die schönsten darunter zeichnete er durch Buchstaben und Figuren, [ . . . ] - dann nahm er einen H a m m e r , und stellte m i t zugemachten A u g e n das

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ChristiHylo schöne SonneAnton Reiser< bemißt sich im folgenden daran, ob der Erzähler diese dritte Position im Roman etablieren kann, oder ob die Vaterimago des Fremden von der Mutterimago überblendet und absorbiert wird. Die Position des Initiationshelfers ist im ersten Romanteil kurzfristig mit dem Oberhaupt der väterlichen Lesegemeinschaft besetzt worden. »Mit Bewilligung des Hrn. v. F.« fällt Anton dort ein Buch in die Hände, welches das narrative Muster der Initiation im Roman aktiviert. Er liest die 1699 erschienenen und mehrfach ins Deutsche übersetzten > Abenteuer des Telemach< des französischen Mystikers »Hr. v. Fenelon« (50) - jenes Erfolgsbuch des frühen 18. Jahrhunderts, dessen große Popularität erst nach dem Erscheinen von Rousseaus >Neuer Helo'ise< langsam verblaßte. Dieser Roman, der Telemachs Suche nach dem Vater als Initiationsprozeß beschreibt, 1 4 5 steuert in weiten Teilen die eigentliche Handlung des Romans. Die bisher kaum beachtete intertextuelle Verschränkung des >Anton Reiser< mit dem >Telemach< ist ebenso wie die implizite Ikonographie des psychologischen Romans für dessen Komposition von eminenter Bedeutung. Telemachs Irrfahrten stehen im Zeichen des Kampfes zwischen den Göttinnen Venus und Minerva. Die Funktionen der Minerva, die im allgemeinen mit der wehrhaften Jungfrau und Kopfgeburt des Zeus, mit Pallas Athene — »Wahrzeichen abendländischer Weisheit und Erfindungsg a b e « 1 4 0 — gleichgesetzt wird, übernimmt bei Fenelon ein männlicher Initiationshelfer namens Mentor. Die Liebesgöttin ihrerseits läßt kein Mittel unversucht, den Helden vom Pfad der Tugend abzubringen, um Telemachs Aussöhnung mit dem Vater und die damit einhergehende Entspannung der Mutter-Sohn-Beziehung zu vereiteln. Das im Rahmen des Initiationsprozesses virulente ödipale Konfliktpotential kommt im >Telemach< ebenso wie im >Anton Reiser< nur durch die intertextuelle Vermittlung zum Ausbruch. In diesem Falle hält der Telemachos-Mythos den semanti•45 Vgl. Jeanne-Lydie Gore: Le Telemaque, periple odyseen ou voyage initiatique. Cahiers de 146

l'association internationale des etudes franjaises 1 5 (1963). S. 59—78. Vgl. Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. München 1979. Art. Athena. Sp. 681—686. Sp. 685. Zur philologischen Problematik der verbreiteten »Kultnamenverbindung[]« Minerva-Athena vgl. Art. Minerva. Sp. 1 3 1 7 —1320. Sp. 1 3 1 9 .

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sehen Sprengstoff im Roman präsent: Der mythologische Held ist nämlich sowohl der Verbündete seines Vaters Odysseus als auch sein Konkurrent und Gegner wie im Odipus-Mythos. 147 Fenelon verpflichtet seinen jungen Telemach daher, die Position des Vaters nicht anzufechten, und erklärt die Akzeptanz der väterlichen Autorität zum Ziel der Initiation. Um Telemach auf die Probe zu stellen, führen Venus und Amor den Helden auf die Insel der Kalypso zur Geliebten des Vaters. Ihren Verführungen kann der Initiand nur mit knapper Not und allein durch Mentors List entgehen. Mit der in der Folge von Venus initiierten Irrfahrt des Helden, die Telemach nach Cypern führt, rächt sich die Liebesgöttin für die erlittene Niederlage. Auf Cypern scheint es jedoch endgültig um die Standhaftigkeit des Helden geschehen zu sein, weil Telemach von Mentor getrennt wird. Diese Episode hat Anton wohl deswegen »am lebhaftesten gerührt«, weil Telemachs Traum denselben Bann beschreibt, wie er von der Mutterimago im >Anton Reisen ausgeht (50): Jetzt schien es mir [Telemach, F. B.], als ob ich in einen prächtigen, den Elysischen Gefilden ähnlichen Garten versetzt wäre. Hier erblickte ich Mentor, der mir zurief: >Fliehe diesen gefährlichen Boden, diese verpestete Insel, wo man nur wollüstige Begierden einatmet. Selbst die entschlossenste Tugend muß hier erzittern, und nur durch die schnellste Flucht vermag sie sich zu rettenAnton Reisen wird die den jungen Telemach versuchende Wollust zum mütterlich konnotierten Leseakt des Romans >Die Abenteuer des Telemach< verschoben, der Anton die »Insel der Kalypso« ersetzt (56): 149 Hier »schmeckt[]« Anton »zum ersten Male die Reize einer schönen zusammenhängenden Erzählung« (50), so daß bald nicht nur christliche und mythologische Welt die »sonderbarste Ideenkombination« eingehen, sondern sich vor allem »die erste Person [Ich, F. B.] in der Gottheit und Jupiter, Calypso und die Madam Guion, der Himmel und Elysium, die 147

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In der entscheidenden Stelle der >OdysseeAnton Reisen. Die intertextuelle Verflechtung mit dem >Telemach< umreißt mit dem Mentor (Minerva) gewissermaßen das Phantombild des Fremden. Er soll Anton vor dem Verlust seines Lebens schützen und jene heilsame Autorität verkörpern, die Antons Vater längst eingebüßt hat (vgl. 58). U m dem Teufelskreis von Allmacht, Angst und Aggression in seinem Elternhaus zu entgehen, befindet Anton sich wie Telemach permanent auf der Suche nach einem Mentor. »Ich will einst selbst solch ein ehrwürdiger Mann werden«, legt der Erzähler seinem Helden zu Beginn des zweiten Romanteils angesichts eines weiteren Fremden in den Mund, und »wünsche, daß mir das jetzt schon ein jeder ansehen soll, damit sich irgend einer findet, der sich meiner annimmt, und mich aus dem Staube hervorzieht« ( 1 2 1 ) . Während seines ersten Aufenthaltes außerhalb des elterlichen Hauses genießt Anton »zum erstenmale in seinem Leben das Vergnügen zu wandern«, leitet der Erzähler das Ende der Kindheitserzählung ein, »welches ihm in der Zukunft mehr wie zu häufig aufgespart« bleibt (71). Sein erster Weg führt ihn zu dem Hutmacher L. nach Braunschweig, wo Anton vom Vater in die Lehre gegeben wird. Auf L. richtet sich nun Antons ganze Hoffnung, denn bei ihm soll er »wie ein Freund« und »ein Kind gehalten sein« (70). Aber der »Freund[] und Wohltäter[]« entpuppt sich schnell als »strenge[r] Herr[] und Meister« (72; vgl. 55). L. zeigt schon bald die strafenden, unberechenbaren Züge der Mutter. Wie die Mutter läßt L. Anton die »niedrigsten« Dienste verrichten (63; vgl. 73) und bindet Anton, wie kann es anders sein, gleichzeitig durch die gemeinsame Lektüre an sich (vgl. 79f.). L., mit dem »bittersüßen Lächeln« und dem »unerträglich intoleranten Blick« (72), wird in der Erinnerung des Erzählers zum wahren Dämon, der »mit einer sanften Bewegung der rechten Hand [ . . . ] Segen und Verdammnis« austeilen und wie die Mutter mit dem Zeichen des »Kreuz[es]« seinen Bann über alles und jeden verhängen kann (76). Kurz: In der Erinnerung des Erzählers wird L. wie Antons Vater zu einem Agenten der dämonischen Mutterimago. Der »böse[] Geist des Hrn. L . . . « , weiß der Erzähler über dieses Verhältnis zu sagen, ist von dem Zeitpunkt an nicht mehr »zu vertreiben«, an dem zwischen »ihm und seiner ehemaligen Liebe [ . . . ] gleichsam eine Scheidewand« gezogen wird 122

(8i). Die Wiederholung des ödipalen Dramas bleibt aber auch in dieser Beziehung an die Sprachproblematik gebunden. Anton ist L.s Worten genauso schutzlos ausgeliefert wie den Worten seiner Mutter. Er horcht mit »bergahnstehendem Haare« auf die abergläubischen Geschichten seines Lehrherrn (79), und die ihm bei Gelegenheit zugeraunten Worte »Anton! Anton! hüte dich vor der Hölle!« gehen ihm nicht nur »durch Mark und Bein«, sondern verursachen fast »ein tödliches Rezidiv« der gerade erst überwundenen Krankheit (94). Auch die Gunst seines launischen Meisters hofft Anton über »Heuchelei und Verstellung« (wieder-)zugewinnen (77). Sein Gebet richtet sich nicht an Gott, sondern an L., wenn Anton überlegt, »wie er sich durch irgend einen Ausdruck von Reue, Zerknirschung, Sehnsucht nach Gott und dergleichen wohl am besten in die Gunst des Hrn. L . . . einschmeicheln« könne (77f.). Diese Haltung hat schon einmal den Zorn seines Vaters wachgerufen. Und es kommt wieder so weit, daß über Antons »Seelenzustande [ . . . ] mit dem Hrn. v. F. korrespondiert[]« wird (67). Dieser versichert L., .er sehe alle »Kennzeichen«, daß »der Satan seinen Tempel in Antons Herzen« errichtet habe (82) — und Antons »Fall« ist nahe (80). An die folgende Zurückweisung durch L. schließt der Erzähler in seiner Erinnerung ein Bild an, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt: A m allervertraulichsten wurden sie aber, wenn sie zusammen in der sogenannten Trockenstube saßen. Dieses war ein in die Erde gemauertes, oben mit Backsteinen zugewölbtes Loch, worin gerade ein Mensch aufrecht stehen, und ohngefähr zwei Menschen sitzen konnten. In dieses Loch wurde ein großes Kohlenbecken gesetzt [ . . . ] . Vor diesem Kohlenbecken und in diesem Dunstkreise saßen Anton und August in dem halbunterirdischen Loche, in welches man mehr hineinkriechen als hineingehen mußte, und fühlten sich durch die Enge des Orts, der nur durch die G l u t der Kohlen schwach erleuchtet wurde, und durch das Abgesonderte, Stille und Schauerliche dieses dunklen Gewölbes, so fest zusammengeschlossen, daß ihre Herzen oft in wechselseitigen Ergießungen der Freundschaft überströmten. (84f.)

Ebenso eindeutig wie dieses Bild einen handfesten Regreß in den Schoß von Mutter Erde beschreibt, wird das Inzestmotiv auf Antons Beziehung zu August verschoben. 1 5 0 Die Metonymie ist für den >Anton Reiser< symptomatisch. Vergeblich sucht man im Roman nach Frauenfiguren, die an die Stelle der Mutter treten und deren inzestuöses Begehren neutralisieren könnten. Die Bindung an eine andere Frau im Tausch gegen die imaginäre Mutterbindung wird an keiner Stelle auch nur angedeutet. Im Gegenteil, der Erzähler wird nicht müde, Antons Unschuld zu beteuern, der zwar •5° V g l . die Vision des schönen J ü n g l i n g s im Kartäuserkloster (366).

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von »Sodomiterei« oder gar »Selbstbefleckung« schon einmal gehört habe, auch nicht mehr glaube, »daß der Storch die Kinder bringe«. Dennoch: »Die Namen« seien »auch alles, was er davon« wisse (i4of.)· Ansonsten sei Anton noch als Sechzehnjähriger fern aller »Lüderliebkeit« gewesen (212). Keine Frau kann die Stelle der Mutter einnehmen, weil es Anton »unmöglich« fällt, analysiert der Erzähler mit unbestechlichem Scharfsinn, »sich selbst jemals, als einen Gegenstand der Liebe von einem Frauenzimmer zu denken« (245). 1 5 1 Durch die einzige weibliche Vision, die Antons Gemüt je erregt, schimmert daher nur zu deutlich die Gestalt der Mutter, da diese wie jene als heilige Jungfrau repräsentiert wird. Ein sehr junges Frauenzimmer, die schwarz gekleidet, m i t blassen Wangen, und einer Miene voll himmlischer Andacht zum A l t a r hinzu trat, machte zuerst auf Antons Herz einen Eindruck, den er bisher noch nicht gekannt hatte. E r hat dies junge Frauenzimmer nie wieder gesehen, aber ihr B i l d ist nie in seiner Seele verloschen. [ . . . ] Zuweilen drängte sich dann auch in seiner Phantasie das B i l d des schwarz gekleideten jungen Frauenzimmers, m i t der blassen Farbe und andachtsvollen Miene, wieder vor. ( 9 1 )

Aufgrund des Inzestverbots verschiebt sich das erotische Begehren in der Erinnerung des Erzählers in direktem Anschluß an diese Vision auf das Abendmahl und in einer nächsten Sublimationsstufe auf die Stimme des Pastors P. 1 5 2 Anton verspricht »sich eine so überirdische himmlische Tröstung beim Genuß des Abendmahls«, läßt der Erzähler wissen, »daß er schon im voraus Freudentränen darüber« vergießt (91). Vor seiner Konfirmation aber muß sich Anton »in Ermangelung besserer Nahrung« mit der Stimme des Pastors P. begnügen (104). Anton und August besuchen gemeinsam diese Predigten, die von Anfang an im mütterlichen Angedenken stehen (vgl. 79) und bei einem späteren Aufenthalt in Hannover die Bindung von Mutter und Sohn vertiefen. Denn die Mutter hat »ohnedem eine unbegrenzte Ehrfurcht gegen alles Priesterliche« und kann »mit Anton recht gut in seinen Gefühlen für den Pastor P... sympathisieren. — O! welche selige Stunden waren das« (107).

1,1

152

Nur Frau F., die Anton ganz im Sinne der Mutter zum Kampf gegen seine sexuellen Bedürfnisse anhält, kann deren Appelle aussprechen. Beim Verfassen eines Briefes, in dem Anton die »liebe Frau F.« dazu auffordert: »sein Sie nun meine Mutter [...] ich will Sie auch so lieb haben, wie eine Mutter!«, ist es, »als ob ihm die Worte im Munde« ersterben (132). Die Metaphern Einverleibung und Verschlingung werden im >Anton Reiset* bei der Beschreibung der imaginären Erinnerung und Antons Lektüreverhalten virulent. Vgl. III. 1. »Und ich erinnere mich«: Erinnerung als unio mystica\ III. 2. »Die ungeheuren Bilder«: Ursprungsvisionen.

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Anton ist dieser Stimme regelrecht verfallen, mit der Pastor P. »das Herz von Tausenden in seiner Hand hat« (85): »Welche Stimme, welch ein Ausdruck!« — Hier gibt es keine fremden Worte, keinen Diskurs, an den sich der Sprecher zu entäußern hätte, sondern die Worte sind »wie eine Welle [...] in der strömenden Flut« (86). Diese Worte »erschüttern]« Anton und rühren ihn »zu Tränen« (87), wenn er sie »wie Honig von seinen Lippen« nimmt. »Und doch«, so bemerkt der Erzähler, ist »hierbei nicht die mindeste Affektation« (90). Pastor P. spricht natürlich und verwirklicht damit das Sprachideal des >Anton ReiserTelemach< auf der Insel Cypern — wieder auf dem Plan, um Antons Bildungsweg weiter zu protegieren. »Mit schauervoller Sehnsucht« imaginiert Anton seinerseits die Beichte vor Pastor M., die ihn wieder in den Stand der Gnade setzen soll. »Ohne Zeugen« gedenkt er, dem Pastor »zu Füßen [zu] fallen«. So ist es für Anton »ein höchstverdrießlicher Umstand«, daß »sein Vater [...] schon bei dem Pastor M...« ist, denn »in Gegenwart eines Dritten« kann Anton seine »rührende[] und pathetische[] Anrede« nicht »spielen« [Hervorh. Ε Β.] (2o6). Geradezu prophetisch mutet der Kommentar des Erzählers an, wenn er sich fragt, ob nicht »vielleicht [ . . . ] dies eben der entscheidende Augenblick« ist, wo Antons »Schicksal, ob er ein Heuchler und Spitzbube werden, oder ein aufrichtiger und ehrlicher Mensch bleiben« soll, »auf der

>54 Vgl. 53, 1 3 5 , 1 5 1 , 270ff., 356. Die Sphäre des Geldes ist im Text mit der Schrift bzw. dem Eintritt in die väterliche Welt verbunden. Vom Vater erhält Anton sein erstes Geld (vgl. 44), während die Frauen Anton sein Geld vorenthalten, um für ihn zu »sparen« (130, 134). Im folgenden spiegeln Antons finanzielle Verhältnisse seine Akzeptanz der Scheidewand — der dritten Position: Anton gerät sofort »tief in Schulden« (187; vgl. 177), sobald er sich der verbotenen Lektüre oder dem Theater widmet (vgl. 270, 287), seine finanzielle Lage bessert sich umgehend, sobald er die väterlichen Gesetze einhält. Beide Sphären sind durch eine Strukturanalogie miteinander verbunden, da sie auf dem Prinzip von Abwesenheit und symbolischer Repräsentation sowie dem Verzicht auf direkte Wunscherfullung beruhen. Derjenige, der gegen dieses Gesetz verstößt, wird als Dieb oder Betrüger bloßgestellt (vgl. 3 1 5 , 350).

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Spitze« steht (207). Anton wird auch tatsächlich zum Dieb, wenn er während seiner regressiven Leseorgien Geld veruntreut und Schulden macht. 1 5 5 Diese Szene zeigt, daß nur dann »eine neue Epoche seines Lebens« beginnen kann (208), wenn sich Anton — und gleiches gilt für den Erzähler — produktiv mit der Position des Initiationshelfers auseinandersetzt, die hier sowohl vom Pastor M. als auch vom Vater besetzt wird. Alle anderen Glieder in der metonymischen Kette der Vatersubstitute werden aber von Antons Allmachts- und Einheitsphantasien überblendet. »In der Schule« glaubt Anton zwar, »mehr Gerechtigkeit, als bei seinen Eltern zu finden« (62). Antons Initiation bleibt auch in der Schule an die Sprachproblematik gebunden. Schon in der Beziehung zu seinem ersten Lehrer - dem Konrektor der öffentlichen Stadtschule in Hannover — versucht Anton, »die Entfernung« zwischen sich und »seinem Lehrer«, die »noch viel zu groß« ist (66), dadurch zu verringern, daß er »von einer Stufe zur andern« in der Sitz- und Leistungsordnung emporrückt (62). Diese richtet sich hier wie im folgenden nicht zufällig »nach der Geschicklichkeit im Lateinischen« (142). Nach zwei Monaten ist Anton »so weit gestiegen [ . . . ] , daß er nun an den Beschäftigungen des obersten Tisches, oder der sogenannten vier Veteranen, mit Teil nehmen« kann (63; vgl. 1 2 5 , 142). Die neue Schriftsprache ist auf dezidierte Weise durch ihr Differenzpotential gekennzeichnet. Sie gründet nicht auf einer natürlichen Ordnung, sondern auf grammatikalischen Gesetzmäßigkeiten. Durch seine Fertigkeit wird Anton in die »Reihe« der Schüler eingefügt (232), in die »Ordnung« eingegliedert und steht gerade so wie die Buchstaben mit den anderen in » Reihe und Glied« ( 1 8 0 ) . 1 5 6 So erstaunt es Anton nicht wenig, »daß man seine Muttersprache eben so wie das Lateinische auch deklinieren und konjugieren müsse« (142). Doch anstatt diese Erkenntnis in einen realitätsgerechten Selbst- und Objektbezug umzusetzen, stellt Anton seine Fertigkeiten dafür in Dienst, die auf die Lehrer projizierten Einheitsphantasien in die Tat umzusetzen. In dieses absolute »Glück« interveniert Antons Mutter. Sie bereitet ihm »starke Demütigungen« und kränkt ihn »innig« vor seinen »glücklichern« und »hämischlächelnd[en] Mitschü155

156

Zur Verortung des Diebstahls in der Topik der Heldengeschichte vgl. Goldmann: Topos und Erinnerung. S. 6jo(. Das Diebstahlmotiv wurde bereits im Zusammenhang mit Antons Spielen erwähnt. Einer der Kameraden, mit denen Anton zusammenwohnt (vgl. ig8ff.) und der an den Raubzügen durch Obstgärten beteiligt gewesen ist, wird bezeichnenderweise als Dieb und Kirchenräuber vor dem Gesetz zur Rechenschaft gezogen (vgl. 209). Die metaphorische Gleichsetzung von Antons narzißtischer Besetzung des Gegenübers mit dem Gesetzesbruch betont noch einmal den Umstand, daß Antons Unmittelbarkeitsbegehren gegen ein kulturelles Tabu verstößt. Vgl. 180, 2 1 3 , 359.

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ler[n]« (63). Der »Donnerschlag« (65) rührt Anton, als zudem sein Vater völlig unmotiviert sowohl die Lateinstunden beim Konrektor als auch die Anton parallel zugebilligten Schreibstunden verbietet, denn der »geliebte[] Schreibmeister« hat »freilich einige Nachlässigkeit in Antons Schreib- und Rechenbuche passieren lassen« (66). »Ganz kaltblütig«, versichert der Erzähler aufrichtig empört (117), will der Vater Antons Studium verhindern. In dieser Konstellation werden also die reale Mutter und, wie gehabt, der Vater zu Agenten der dämonischen Kehrseite der Mutterimago. Antons Besuch des Lyceums in Hannover variiert die Überblendung der Funktion des Initiationshelfers dadurch, daß nun die beiden Seiten der Mutterimago in der Erinnerung des Erzählers auf jeweils zwei Lehrerfiguren übertragen werden. Das Paar Konrektor/Kantor ist ein ebenso janusköpfiges Wesen wie Antons Mutter: Geradezu ideal gestaltet sich das Verhältnis zum Kantor, bei dem Anton in der Sekunda wegen seiner Fähigkeit im »Skandieren« und »Deklamieren« (145) »bis zum ersten Platze hinauf« kommt (148). Mit dem Kantor verbindet ihn eine »wirkliche Liebe«. Anton macht »allenthalben sehr viel Rühmens von ihm, so wie dieser ihn wieder bei den Leuten« lobt (149). Genug für den kleinen Potentaten, sich als »>censor perpetuusAnton Reiser< in den unterschiedlichsten Besetzungen erinnernd wiederholt wird. Der Bruch in der Beziehung zum Rektor S. ist daher unausweichlich. Für diesen Umschlag zeichnen die Bücher selbst in ihrer ganzen tückischen Materialität verantwortlich. Denn versehentlich macht Anton beim Aufschneiden eines Buches »mit dem Federmesser tiefe Einschnitte in die Blätter« und fällt sofort in Ungnade (169). Vollzogen wird die Trennung jedoch nicht vom Rektor S., sondern, der Ökonomie jener mit der janusköpfigen Einheit zweier Figuren besetzten Umschlagstruktur folgend, von einem anderen: Bei einer Prüfung schlägt Anton versehentlich in dem Exemplar, das ihm der Direktor B. gibt, »unglücklicherweise ein Blatt mit solcher Ungeschicklichkeit um[], daß er es beinahe zerrissen hätte«. »Kurz«, bemerkt der Erzähler hilflos, »von einem einzigen zu schnell umgeschlagenen Blatte« schreiben »sich größtenteils alle die Leiden her, die Reisern von nun an in seinen Schuljahren« bevorstehen (167). Der Direktor B. verwandelt sich, wie vor ihm schon so viele, in den mütterlichen Dämon, der Anton mit dem »Blick des Zorns und der Verachtung« sowie den Worten eines »Orakel[s]« ( 1 7 1 ) zu »unerklärbarer allgemeiner Antipathie«, verdammt (175). Wie die Mutter und L. behandeln ihn die beiden Lehrer fortan nicht mehr »gleich ein[em] Primaner«, sondern in beschämender Weise »wie ein[en] Domestik[en]« (180), »wovon er sich«, wie der Erzähler sicher weiß, »nie wieder erholen« kann (167). Wie konsequent der Roman das Prinzip der Schrift inszeniert, wird daran deutlich, daß der Zustand des Initianden buchstäblich an Anton selbst ablesbar ist. Der Erzähler weist immer wieder auf Antons Kleidung hin, 1 ' 8 durch die er »gegen seine Mitschüler« absticht (152). »In Sekunda«, stellt der Erzähler fest, wird er »ohngeachtet seiner schlechten Kleidung von seinen Mitschülern noch geachtet« (i7of.), aber das ändert 158

Vgl. 198, 2 3 1 , 2 5 3 f t , 263, 3 1 5 , 33of., 344.

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sich bald — und nicht ohne Grund. Keine geringere als Antons Ersatzmutter Frau F. sucht nämlich die Kleider für ihn aus. Ob »graues Bediententuch«, »rote[r] Soldatenrock« ( 1 5 2 ) oder ein Chormantel »aus ein paar alten blauen Schürzen« (156): Nie paßt dem kleinen Anton sein Rock; jedes Kleidungsstück gibt »ihm ein lächerliches Ansehn« (167). Anton rechnet »die schlechte Kleidung mit zu seinem Körper« (234), erklärt der Erzähler. »Mit einer Art von schrecklichem Wohlbehagen«, heißt es am Ende des gescheiterten Bildungsweges in Hannover, sieht Anton nun auch »seinen Körper eben so gleichgültig wie seine Kleider« ( 1 9 5 ) — und diesen gerade so »entstellt« und »zerrissen« wie jedes andere »Bezeichnende und Bedeutende« 1 5 9 durch den Buchstaben — »von Tage zu Tage abfallen« (195)· Die monotone Ökonomie des Romans basiert auf Antons Aufstieg und Fall in der Gunst seiner austauschbaren Gönner. Sie wiederholt in variierender Besetzung den Kampf zwischen Vater und Mutter im >Anton Reisen. Wird die Funktion des Initiationshelfers von der Mutterimago überblendet, dann verfällt Anton, so wie er in der Braunschweiger Episode der Stimme des Pastors P. verfallen ist, seiner »Wut« zu lesen (205). Antons »größte Begierde« (224) — mit dieser analogen erotisch-oralen Essensmetaphorik knüpft der Erzähler im dritten Romanteil an Antons mütterlich konnotiertes Leseverhalten an — richtet sich auf die Lektüre der verbotenen Bücher. 1 0 0 An diesen Büchern kann Anton »sich nicht satt« lesen (220). Hier »kostet[]« (247) und »schmeckt[]« er zum ersten Mal die »Reize« der Schönheit (50): 1 6 1 Das Lesen war ihm nun einmal so zum Bedürfnis geworden, wie es den Morgenländern das Opium sein mag, wodurch sie ihre Sinne in eine angenehme Betäubung bringen [ . . . ] - denn das Bedürfnis zu lesen ging bei ihm Essen und Trinken und Kleidung vor, wie er denn wirklich eines Abends [ . . . ] für das Geld, das zum Abendbrot bestimmt war, [ . . . ] sich den Ugolino geliehen, und ein Licht gekauft, bei welchem er in seiner kalten Stube, in eine wollene Decke eingehüllt, die halbe Nacht aufsaß. ( i 7 7 f . ; vgl. 1 0 4 )

Das Motiv der schützenden Umhüllung betont die Verbindung der Lektüre mit der ikonographisch als Schutzmantelmadonna objektivierbaren Mutterimago aus der Dorfepisode. Diese Leseorgien bereiten Anton selbstverständlich »größte Wonne« (225). Gleichzeitig versetzt ihn der 159

Karl Philipp Moritz: Andreas Hartknopfs Predigerjahre. Moritz, Werke. B d . 1 . S. 4 8 2 .

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V g l . 4 3 , 5 0 , 55. Z u r extensiven Lektüre und ihrem intensiven Lektüremodus vgl. L. Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. S. }2}ff.; Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. S. 3 6 0 . V g l . Gartier: Unglückliche Bücher oder die Marginalität des Realen. S. 8 2 .

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tabuisierte Lektüremodus zwangsläufig auch in einen »ängstliche[n], qualvolle[n] Zustand« (250), 1 6 2 der sich wieder einmal in der aggressiven Einverleibung der Lektüre widerspiegelt. Die »Shakespearenäcbte« (225; vgl. 262) mit Philipp Reiser potenzieren die Allmacht dahingehend, daß sich der Held nun doppelt — in der Lektüre und in Philipp Reiser — spiegelt. Anton und sein Echo mit »einerlei Namen« finden sich »ohngeachtet« der »Verschiedenheit ihrer Charaktere bald unter der Menge« heraus ( 1 5 7 ) , und »der Shakespeare knüpft[] zwischen Philipp Reisern und Anton Reisern das lose Band der Freundschaft fester« (226). Die Liebe zwischen Philipp und Anton steht — wie das mütterliche Lesebündnis — ganz im Zeichen der literarischen Vermittlung, denn »im Shakespeare lebt[]«, denkt »und träumt[]« Anton nun (224). Anton »verdoppelt[] sich in« Philipp (365) in der festen Absicht, die Differenz, die dieser Beziehung zugrunde liegt, für kurze Zeit in Vergessenheit geraten zu lassen. Und um sie »ward's Elysium« (230), schreibt der Erzähler in den Worten Klopstocks über die beiden, bis Anton den Freund an die Frauen abtreten und verlieren muß. 1 6 3 Doch verliert Anton dadurch nicht bloß einen Freund, sondern er verliert einen weiteren Stellvertreter der mütterlichen Geliebten, dem er im Abgesang nicht umsonst die Worte aus Werthers Abschiedsbrief nachschickt (vgl. 309). Die Beziehung von Philipp und Anton steht nicht von ungefähr ganz im Zeichen dieser literarischen Vermittlung, denn der >Anton Reisen ist auch an diesem Punkt von jedweder Psychologie weit entfernt: Im »Frühling und Sommer des Jahres 1 7 7 5 « (236) sind »die Leiden des jungen Werthers erschienen«, aus denen der Erzähler ein prominentes Schicksal nachbuchstabiert. »Alle seine [Antons, F. B.] damaligen Ideen und Empfindungen von Einsamkeit, Naturgenuß, patriarchalischer Lebensart, daß das 162

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Die Lektüre kann einen Teil des ihr zugewiesenen väterlichen Bildungsauftrages erfüllen, eben weil sie ambivalent besetzt bleibt, so daß Anton »nun von selbst allmählich [lernt], das Mittelmäßige und Schlechte von dem Guten immer besser zu unterscheiden« (178). Wuthenow stellt in diesem Sinne zu Recht fest, die Lektüre (Bibel, Erbauungsliteratur, Helden- und Göttergeschichten, Romane, Schauspiele, Young, Goethe, Shakespeare, philosophische Schriften, Homer, Lyrik der Empfindsamkeit) bilde Antons Urteilsvermögen und seinen Geschmack aus. Anton könne in Gedichten und Tagebuch selbst produktiv werden, weil ihm neue Verhaltensmuster erschlossen würden. Wuthenow definiert die Funktionen der Lektüre: extern als Mittel der Figurencharakterisierung, intern als Medium der Selbstvergewisserung, Weltaneignung und als Spiegel, in dem der Held sich und seine Verhaltensweisen wiedererkennen und korrigieren kann. »Auch das [Lesen] ist eine Erfahrung von Realität, freilich in einem Bereich, den Anton Reiser als den idealischen, antirealen zu erfahren sich gewöhnt hat. Z u Unrecht. Denn von hier wächst ihm die Kraft zu, sich selbst zu sehen, als Realität eben, und die genau und sich zu erfassen« (S. 110). Im Buch die Bücher oder der Held als Leser. S. 87—95. Vgl. 1 5 8 , 2 3 5 , 309.

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Leben ein Traum sei, u . s . w . « entstammen nicht nur Goethes Roman, sondern sind dort einschlägig konnotiert (244). I m >Werther< erreicht der den zweiten und dritten Teil des psychologischen Romans bestimmende Genieund Naturdiskurs des 1 8 . Jahrhunderts seinen literarischen Höhepunkt. Und in der Engfuhrung mit Werthers Liebesbeziehung zur mütterlichen Lotte werden die regressiven Tendenzen dieses Diskurses offen zutage gebracht. 1 0 4 Der Briefroman beschert Anton also nicht nur ein exklusives Leseerlebnis, sondern in diesem über die Topographie aufs engste mit der Mutterimago des >Anton Reisen korrelierten T e x t 1 0 5 findet der Erzähler das Gegenstück zum >TelemachWertherAnton Reiser< vgl. Anselm Haverkamp: Illusion und Empathie. Die Struktur der teilnehmenden Lektüre in den Leiden Werthers. In: Erzählforschung. Ein Symposion. Hrsg. von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1982. S. 243 — 268; Stockhammer: Lebensgeschichte als Lesegeschichte. S. I97ff.; Gerhart Pickerodt: Das »poetische Gemähide«. Zu Karl Philipp Moritz' Werther-Rezeption. Weimarer Beiträge 36 (1990). S. 1 3 6 4 - 1 3 6 8 . Vgl. III. 2. »Die ungeheuren Bilder«: Ursprungsvisionen. Signifikanterweise handelt es sich bei diesem Roman um die Liebesgeschichte der Weltliteratur. Die »Teilnehmung an den Leiden der Liebe kostetf] ihm [Anton, F. B.] einigen Zwang« (245), ist doch der Leseakt selbst die eigentliche Liebesbeziehung im >Anton ReiserLaß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nähern finden kannstAnton Reiser< der Abdruck, im >Werther< die Spiegelung — ruft hier wie dort sofort die Kehrseite des tabuisierten Begehrens auf den Plan: »Ich sehe nichts«, schreibt Werther über seine geliebte Natur, »als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer«, 1 7 0 während im >Anton Reisen der Fluch des Vaters die Folge dieses (Fehl-)Verhaltens ist (vgl. 2 1 9 ) . Diese Zurückweisung spiegelt sich nicht nur, wie gehabt, in Antons aggressiver Einverleibung des Materials, in seiner »Wut Verse zu machen« (160), sondern vor allem in den Produkten der schöpferischen Introversion. Anton entschlüpfen »zwar oft Reminiszenzien«, derer er sich schämt, sobald er sie bemerkt (269). Doch kann er das Prinzip der Dialogizität — Anton kann sogar »siegwartisieren«, ohne doch den erst »ein Jahr nachher« erscheinenden »Siegwart gelesen zu haben« (290) — aus diesem Symptomatischen nicht ins Positive wenden. Denn den Verdacht des »Plagiat[s]« (269) oder auch nur des Zitats kann er ebensowenig dulden wie der Erzähler (vgl. 252). »Bei aller Unregelmäßigkeit, und dem oftmals Gezwungenen im Ausdruck« (254), den »zwar richtigen, aber zu gesuchten und gekünstelten Idee[n]« (242), den »gesucht[en] oder gemein[en]« Gedanken

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Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (2. Fassung). In: Goethe, Sämtliche Werke. 1. Abt. Bd. 8. In Zusammenarb. mit Christoph Brecht hrsg. von Waltraud Wiethölter. Frankfurt a.M. 1994. S. 15. Die Natur löst Philipp Reiser als Muse ab (vgl. 238). Bereits in ihm hatte Anton ein Gegenüber gefunden, an das »er denken« konnte, »so oft er etwas« niederschrieb (226). Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. S. 108.

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(238) bestätigt der Erzähler dieses Dichtungsideal, das die »Leiden der Poesie« lediglich verdoppeln, machen sie doch »ein Ganzes von Empfindungen« aus (254). Aber so wie die Lektüre — ob Anton sich etwa in seinem Tagebuch »selber Gesetze« und »feierlichste[] Vorsätze« .macht ( 2 1 1 ) , oder ob er eine neue »Epoche seines Lebens« mit dem Studium »lauter wissenschaftliche[r] Bücher« beginnt ( 2 1 4 ) — nie einseitig vereinnahmt, sondern nach wie vor ein Kriegsschauplatz ist, wiederholt sich auch in der Poesie der Konflikt zwischen den antagonistischen Prinzipien von Mutter- und Vaterimago. Denn der Kampf zwischen Mutter und Vater bildet sich jeweils innerhalb der prozessualen Konstitution der Imagines durch Lektüre und poetisches Schaffen noch einmal ab. Antons Gedichte müssen im Einklang mit dem väterlichen Gesetz stehen, so daß »Reisers Phantasie [ . . . ] jetzt mit seiner Denkkraft im Kampfe« liegt (250). Logischerweise tritt daher mit dem neuen Direktor des Lyceums in Hannover, der sich Antons wie seine Vorgänger auf offener Straße annimmt, auch auf diesem Gebiet ein Initiationshelfer auf den Plan. Er klagt die lyrischen Gesetzmäßigkeiten ein. »Scharfe Kritik« hält der Erzähler, selbst Antons schärfster Kritiker, wohlweislich für »eine wahre Wohltat«: Denn »der Beifall«, den ein »Produkt seiner Muse so unverdienter Weise« erhält, könne Anton »vielleicht auf sein ganzes Leben« schaden (144). Der Direktor versteht es nun, »so viel aufmunterndes Lob unter seinen Tadel« zu mischen, und zeigt »über die beiden Gedichte, die Reiser deklamiert« hat, »im Ganzen genommen, so sehr seinen Beifall«, daß der Erzähler erneut »eine neue Epoche seines Lebens« ankündigt (257f.). Anton hat sich bereits einmal durch das »Skandieren« und »Deklamieren« den Beifall seiner Lehrer ( 1 4 5 ) und seines Vaters sichern können (vgl. 160). Unter dem Patronat des Direktors S. erreicht er nun aufgrund seines poetischen Talents »das höchste und glänzendste Ziel, wornach ein Zögling« des Lyceums nur streben kann (262): Anton zeigt sich vor den Augen »de[s] Prinz[en] und [der] Minister, nebst allen übrigen Honoratioren der Stadt« würdig, eine öffentliche Rede vor König und Königin zu halten (262). 1 7 1 Als Beweise für die vorübergehende Anerkennung und die »Höflichkeitsbezeugungen« dieser höchsten Autoritäten und der Eltern gelten Anton die großen »gedruckten« Buchstaben, mit denen er seinen Namen »auf einem lateinischen Anschlagbogen« als »Reiserus«

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V g l . die Parallelsteile der »Unterredungen mit seinem Vater«, welche Antons »Selbstzutrauen« stärken können. Gemeinsam besuchen »sie den Prediger und die Honoratioren des Orts, wo Reiser allenthalben mit ins Gespräch gezogen« wird (166).

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gedruckt sieht (265^). Anton wird dieses »sonderbare[] Dokument[]« von nun an immer bei sich haben (325), um sich bei Bedarf als »litteratus« (324) - als ein in die Gesetze und Geheimnisse der Schrift Initiierter auszuweisen. Der Erzähler schreibt dem Prinzip der Schrift eine subjektbegründende Funktion zu, denn Anton kann aufgrund der Schriftstücke alle »Zweifel« tilgen, »daß der nicht wirklich wäre, der seinen Namen so oft, und auf so verschiedene Weise gedruckt aufzeigen« kann (326; vgl. 359). Antons Erfolg ist aber keineswegs als »Sieg zu betrachten« (292). Denn Antons wahre Leidenschaft ist das »öffentlich[e] Deklamieren« (252), bei dem er nach erprobtem Muster sein Beziehungsideal in die Tat umsetzt. Anton deklamiert nicht allein »mit einem wirklichen Pathos, das er in Stimme und Bewegung« äußert, er bleibt, »nachdem er schon stillgeschwiegen hat[], noch einen Augenblick mit emporgehobnem Arm stehen, der gleichsam ein Bild seines fortdauernden unaufgelösten schrecklichen Zweifeins« ist (256). Diese im >Anton Reiser< nie anders als mit dem Tod konnotierte Identität zwischen Zeichen und Sache währt allerdings nicht länger als den Augenblick, und Anton möchte »am Ende seiner Rede hinfallen und sterben« (267). Die Präsentation der Erinnerungsszenen, ihre Wortwahl und ihre Metaphorik verraten, wie wenig der Erzähler Herr der Lage ist und in welchem Maße er der eigentlichen, nicht kausalpsychologischen, sondern triebökonomischen Logik seiner Assoziationen ausgeliefert ist. Dem Aufstieg und Fall in der Gunst seiner Retter lassen sich in ebenso schlichter wie offenkundiger Korrelation die beiden kausalpsychologischen Kategorien Eitelkeit und Einbildungskraft zuordnen. 1 7 2 Die »Eitelkeit« liegt »im Hinterhalt verborgen« (92), stellt der Erzähler ein ums andere Mal fest, wenn Anton sich seinen potentiellen Rettern annähert. Bahnt sich die Überblendung durch die Mutterimago und mithin der Umschlag der Beziehung an, beeilt sich der Erzähler zu betonen, Antons »Eitelkeit« habe wohl »mehr als zu viel Nahrung« erhalten, so daß es »wieder einer kleinen Demütigung für ihn« bedürfe (125). Hat sich diese Überblendung vollzogen, versieht der Erzähler Antons Regreßphantasien mit dem MelancholieIndex: Der »>Furor poeticusDie Leiden des jungen Werthers
Anton Reiser< erscheinen von 1 7 8 5 an, im J a h resabstand. Der vierte, erst 1 7 9 0 erscheinende Romanteil konzentriert Antons eingeschlagenen Bildungsweg auf dessen »Trieb zur [...]

Schauspiel-

kunst« ( 3 1 2 ) und komplettiert derart die melancholischen Paradigmen des

• 73 Vgl. Alo Allkemper: Ästhetische Lösungen. Studien zu Karl Philipp Moritz. München 1990. S. 148 — 193.

136

Romans. 174 Das Theater ist dazu prädestiniert, das väterlich konnotierte Prinzip der Schrift, und das heißt jegliche materielle Vermittlung von Gefühl, Idee, Sinn und Bedeutung, durch die Unmittelbarkeit verheißende Präsenz des Schauspielers auszuschalten. Anton will den »Beifall [ . . . ] gleichsam aus der ersten Hand haben« und, wie der Erzähler im Hinblick auf diesen imaginären Modus des Selbst- bzw. Objektbezugs boshaft anmerkt, »ernten ohne zu säen« (289). 1 7 5 Sein Körper und seine Stimme sollen die Einheit von »Zeichen und Sache« garantieren (374). Damit ist für Anton »eine Referenzillusion« verbunden, »in der er sich selbst zum Referenten der von ihm agierten Zeichen macht«.' 7 6 Denn auf dem Theater droht dem Sprecher scheinbar keine Entzweiung, so daß es Anton »eine natürlichere und angemeßnere Welt als die wirkliche Welt« darstellt (174). Die dramatischen Helden - Goethes Clavigo oder Beaumarchais, Shakespeares gesammelte Heroen oder Klingers Guelfo — spiegeln ihm seine eigene imaginäre Integrität vor. Das Theater steht jedoch nicht nur für die ideale (Kunst-)Produktion, sondern auch fur die ideale Rezeption. »Durch Stimme und Ausdruck« hofft Anton (293), 1 7 7 die Zuschauer in seinen Bann zu schlagen — wie einst der Pastor P. ihn selbst. Mit dieser Stimmgewalt gedenkt er, »solche erschütternde Empfindungen wieder bei tausenden« zu erregen, »wie Reinicke, der den Klavigo spielt[], in ihm erregt« hat (293). Am Ende des dritten Teils tritt Anton von Hannover aus daher bereits seine Reise in das Reich der »Musensöhne[]« in der Absicht an (357), auf dem Theater »gleichsam wieder aufzuerstehen], nachdem er hier bürgerlich gestorben wäre« (308). Anton will wie der Phönix aus der Asche steigen und »in einer edlern Gestalt« auf der Bühne erscheinen (316). Dennoch geben die Ereignisse in Erfurt sogar einigen Anlaß zu der Hoffnung, Anton könne unter dem Patronat des Doktor Froriep 178 — der 174

Catholy behandelt das Zeitsyndrom Theatromanie unter soziologischen bzw. sozialkritischen Gesichtspunkten und bezieht dabei die zentralen Kategorien des Romans auf Antons Theaterleidenschaft, so ζ. B. Gemeinschaftssehnen, Machttrieb, Mittelpunktsbegriff. Vgl. Eckehard Catholy: Karl Philipp Moritz — Ein Beitrag zur Theatromanie der Goethezeit. Euphorion 45 (1950). S. 1 0 0 — 1 2 3 ; ders.: Karl Philipp Moritz und die Ursprünge der deutschen Theaterleidenschaft. Tübingen 1962; Wuthenow: Im Buch die Bücher oder der Held als Leser. S. 8 7 - 9 5 .

175

Vgl. 292, 299. Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. S. 366. Unter der Überschrift »Theater der Stimmen« stellt sie einen Zusammenhang zwischen der Kompensationsthese und dem Melancholiediskurs her und exponiert ζ. B. den Topos des stimmbrüchigen, stammelnden Melancholikers (vgl. 1 3 2 , 1 5 5 , 168, 2 1 2 , 381). In diesem Zusammenhang steht auch die Gleichsetzung von Pastor P. und den Schauspielern (vgl. 1 9 1 , 247, 288, 338). Doktor Froriep reißt Anton zwischenzeitlich aus seiner »gänzlichen Hülflosigkeit« und »Müdigkeit« (354) und wird zu seinem »Schutzengel« (358). Selbst das schlechte Zeug-

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178

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letzten Besetzung des Initiationshelfers — sein Identitätsbegehren überwinden. A n dessen Hand hat Anton sich aufgrund seines »Dichter- und Schriftstellertalent[s] unter den Studenten in Erfurt schon einen gewissen Namen gemacht« (360), »und alle die schimmernden Theaterphantasien« scheinen »auf eine Zeitlang aus seinem Kopfe verschwunden zu sein« (362). Das Theater wird kurzfristig zu einem neutralen Ort, an dem Anton sich auch als Schauspieler durchsetzen kann, ohne daß er »von seinen Wünschen und Begierden«, die ihn quälen, überwältigt wird (368). Anton ist Schauspieler und bleibt »doch dabei Student« (370) — in diese Worte kleidet der Erzähler die Anerkennung des realitätsgerechten Beziehungsmodus im theatralischen Medium. Doch lange kann sich das Realitätsprinzip auf dem Theater nicht halten. »Was Wunder«, bemerkt der Erzähler nichtsahnend, »daß bei der ersten Veranlassung seine alte Leidenschaft wieder Feuer« fängt, »und er wiederum seine Gedanken auf das Theater« heftet (387), das Anton nun »nicht sowohl Kunstbedürfnis, als Lebensbedürfnis« wird (388; vgl. 295). Der Erzähler beschreibt, wie sich erneut »Melancholie und Empfindsamkeit« (377) zwischen Anton und seine Gönner schieben. »Diese Versuchung« ist in der Tat »zu stark« (388). »Die Lampen« sind »schon angezündet, der Vorhang aufgezogen, und alles voll Erwartung, der entscheidende Moment« ist da (318): Auf der Bühne der Erinnerung spielt der tragische Fall des Helden Anton Reiser! In der für den >Anton Reisen charakteristischen Ambivalenz eines materiellen Mediums ist das Theater nur eine Fortsetzung des elterlichen Bücherkampfes. Als daher das Debüt in einer kleinen Rolle bei der Speichschen Schauspielergesellschaft Anton die »Aussicht auf seine theatralische Laufbahn« eröffnet, wiederholt sich der im Roman vielfach variierte Konflikt zwischen Vater- und Mutterimago: Im »Taumel seiner Leidenschaft« hat Anton nämlich die Rechnung ohne Doktor Froriep gemacht (389), der beim Statthalter gegen das Spektakel interveniert. Doktor Froriep plötzlich nicht mehr Antons Verbündeter, sondern Agent der dämonischen Kehrseite der Mutterimago — verhängt »wie ein Vater« die Kastrationsdrohung über das Theater (390). Die Scheidewand fordert also wieder einmal ihr Recht, 1 7 9 und Antons »Begierde« nach dem Theater verwandelt sich in dessen bedrohliche »Gewalt über ihn« (298). Dieses Eingreifen wäre aber gar nicht nötig gewesen. Das Inzestverbot zeichnet sich nämlich bereits an Antons Körper selbst ab, »als eine Bemerkung, die unter diesen

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nis, das der Rektor aus Hannover schickt, bringt »ihn ganz wider Reisers Vermuten [ . . . ] bei dem Doktor Froriep noch weit mehr« Gunst ein, so daß Anton sogar hoffen darf, »die Gnade des Prinzen« wiederzugewinnen (369). V g l . 8 1 , 2 1 6 , 2 2 1 , 2 7 0 , 384.

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Hoffnungen die fürchterlichste für ihn« ist, »ihn mit Angst und Schrekken« erfüllt. Ihm ist es, »wie einem, den des Satans Engel mit Fäusten« schlägt: Er bemerkt, »daß ihm der Verlust seines Haars« droht (389). 1 8 0 Antons Körper — das Unterpfand der Unmittelbarkeit — versagt seinen Dienst als natürliches Medium »ohne Fehl« (389), das den fremden Text in einen eigenen, ursprünglichen, identischen verwandeln soll. Dieser Körper erweist sich in letzter Konsequenz selbst als ein Text, welcher der signifikanten Konvention des Schauspielerkörpers widerspricht. A m Ende seines Debüts »zernagt[]« Anton in aggressiver Verzweiflung »seine Rolle, die er in der Hand« hält (390). Diese Aggression, Reaktion auf das väterlich konnotierte Differenzpotential, wird nach Antons Abweisung als Darsteller des Clavigo in einer Aufführung der Erfurter Studenten besonders anschaulich. In Klingers >Zwillingen< liest Anton und mit ihm der Erzähler von Guelfos »Abscheu vor sich selber«. Der Erzähler stilisiert Antons furor melancholicus nach dem Vorbild des »unterdrückten Guelfo« (283). In der Ökonomie der kindlichen Zerstörungsspiele richtet Anton das Differenzpotential der Schrift gegen sich selbst. »Als der Klavigo probiert« wird, berichtet der Erzähler, »wütet[] Reiser, der in der Loge ausgestreckt am Boden« liegt, »gegen sich selber, und seine Raserei« geht so weit, »daß er sich das Gesicht mit Glasscherben, die am Boden« liegen, zerschneidet, »und sich die Haare rauft[]« (295). Die Lektüre ist also wie die vorherigen Lektüren auch diesmal wieder nicht kritisch genug, den. beiden Lesern die eigene Problematik vorzuführen. Weder Anton noch der Erzähler sind in der Lage, die Parallelen zwischen den Kapitalverbrechen des biblisch präfigurierten Brudermordes und des Inzests zu reflektieren und mithin das im Klingerschen Drama mit großem Pathos inszenierte ödipale Drama auf die eigene Situation zurückzubeziehen, um durch diese kritische Reflexion vielleicht »den Spiegel« imaginärer Integrität »entzwei[zuschlagen]« (283). 1 8 1

180

Vgl. Giovanni Gurisatti: Die Beredsamkeit des Körpers. Lessing und Lichtenberg über die Physiognomik des Schauspielers. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993). S. 3 9 3 - 4 1 6 . Der ebenfalls der Topik des Melancholiediskurses entstammende Haarausfall spricht, vergleichbar mit der Kleiderproblematik, von einer eindeutigen Depotenzierung des narzißtischen Helden. Bereits Eckhofs Abweisung führt der Erzähler auf Antons »Wuchs« zurück, der »allein schon den Schauspieler in Reisern ganz vernichtet haben würde, wenn nicht Eckhof gleich darauf zufälligerweise ihm wieder etwas Aufmunterndes gesagt hätte« (339f·)· Diese Problematik steht in enger Beziehung zu den Passagen, in denen die »Zeichen und Symptome«, die Anton zeigt, im Widerspruch zu seinem Wesen stehen (vgl. 82).

181

Vgl. Friedrich Maximilian Klinger: Die Zwillinge. Hrsg. von Karl S. Guthke. Stuttgart 1990. S. 58.

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D e r vierte Teil des >Anton R e i s e n verdichtet das von Gartier hervorgehobene Textverfahren des zeitlich-räumlichen A u f s c h u b s der ersten drei R o m a n t e i l e nun in signifikanter W e i s e zur T e x t f i g u r der Erinnerung und ihrer spezifischen Ikonographie. 1 8 2 »Theater — und reisen — « , l 8 3 k o m m e n tiert der Erzähler, werden nun »die beiden herrschenden Vorstellungen in seiner E i n b i l d u n g s k r a f t « (282), wobei das Theater eine M e t o n y m i e der M u t t e r i m a g o , die Reise ein B i l d des permanenten A u f s c h u b s darstellt. A n t o n überfällt daher nicht von ungefähr »eine sonderbare Begierde z u m Reisen« (274). »Das Wandern« fängt an, i h m »so lieb zu werden (280), weil die W e g b e g l e i t e r i n seine mütterliche »Muse« (320), das Z i e l des W e g e s der mütterliche »Tempel der K u n s t und de[r] Musen« ist (334). Für A n t o n ist das Theater der heilige O r t , an d e m seine V e r e i n i g u n g m i t der M u t t e r i m M e d i u m der K u n s t vollzogen werden soll. Dieser Vereinig u n g f o l g t entweder die V e r n i c h t u n g oder die W i e d e r g e b u r t des Initianden als g ö t t l i c h e r Heros. »Soll[] denn nun«, läßt der Erzähler seinen H e l den und dessen Leser — den Erzähler — hoffen, »nicht endlich einmal die Morgenröte aus jenem D u n k e l hervorbrechen?« ( 3 3 6 ) . 1 8 4 Denn das Türmchen bezeichnete ihm nun deutlich den Fleck, wo der unmittelbare laute Beifall eingeerntet, und die Wünsche des ruhmbegierigen Jünglings gekrönt würden [...] Da war nun der Ort, wo die erhabene Träne des Mitleids bei dem Fall des Edlen geweint, und lauter Beifall dem Genius zugejauchzt wurde, der mit Macht die Seelen zu täuschen, die Herzen zu schmelzen wußte. (334) D e r Erzähler piaziert seinen Stellvertreter neben die g r o ß e n Initianden der abendländischen Literatur. A n t o n w i r d zu einem »der J ü n g e r Christi« ( 3 2 1 ) , ja gar z u m leidenden Heiland selbst, bedenkt m a n die »blutigen M e r k m a l e « an A n t o n s H ä n d e n (83, v g l . 107). Er tritt aber vor allem in die Fußstapfen von Homers >OdysseeTheatromania< ( 1 6 8 1 ) motiviert, das Moritz auf seine Theaterleidenschaft bezogen haben mag, ebenso wie der redende N a m e Reiser seine Existenzform des Reisens bezeichnet«. Stellenkommentar zum >Anton Reiser«. S. 563.

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V g l . 306, 318. Catholy weist schon auf die Motive von Emanation und Palingenesie hin, bewertet sie aber vor dem Hintergrund der Säkularisierung religiöser Begriffe. Das Scheitern an der sozialen Realität werde durch die Verwirklichung einer neuen Existenz auf der Bühne kompensiert. Der Schauspieler selbst hat aber einen Sozialstatus, so daß der Palingenesiegedanke rein ästhetisch definiert werden kann: »Jede Rolle ist eine neue Palingenesie«. Karl Philipp Moritz. S. 120.

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hat, und endlich nach langen Jahren in seiner Heimat wieder anlangt«. Odysseus findet »dieselben Menschen« wieder, »die er dort verlassen hat«, und diese erkennen vor allem den Helden — strahlender und mächtiger denn je (317). Der Erzähler läßt nun seinen Helden nach dem Vorbild von dessen Lektüre eine Unterweltfahrt antreten. Das narrative Muster der >Odyssee< wird von langer Hand vorbereitet: Der Odysseus-Mythos wird als Bedeutungspotential des Romans bereits durch die Lektüre der »Acerra philologica« eingeführt, die Anton »mit Bewilligung des Hrn. v. F.« in die Hände bekommten hat. Hier liest er nun zum ersten Mal »die Geschichte von Troja, vom Ulysses, von der Circe, vom Tartarus und Elysium« (50). Auf das Epos vom Helden aus Ithaka stößt Anton bei Goethe und führt seinen Homer seither — ob als »zurückgebliebene Idee aus Werthers Leiden [...], oder nicht« — wie dieses andere literarische Vorbild als zweiten steten Reisebegleiter mit sich (317). Der > Werther < schlägt darüber hinaus den Bogen zu demjenigen Roman, der für den > Anton Reiser< strukturbestimmend ist — zur Jugendlektüre des Initianden, Fenelons >TelemachMagazin< genannte Theseus, wie der Herakles aus den »Leiden der Poesie« und nicht zuletzt wie sein Vater Odysseus den Gang in die Unterwelt an, um dort nach eben diesem zu suchen. Dieser >suite du quatrieme livre de l'Odysee d'Homere< l85 geschriebene Roman zitiert zu diesem Zwecke die einschlägigen Heroenepen wie Vergils >AeneisOdysseeAnton Reiser< ebenfalls als Nachschrift zu bezeichnen, als komplexe Verflech-

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Der Originaltitel lautet: >Les aventures de Telemaque. Suite du .. .< Mittlerweile werden die Abenteuer des Telemach als intertextuelles Kaleisdoskop der Antike gelesen, das seinesgleichen sucht: Homers >Ilias< und >Odyssee< sowie Vergils >Aeneis< und >Georgica< sind ebenso strukturbestimmend für den Roman wie Ovids >Metamorphosen< und die klassischen antiken Dramen. Darüber hinaus weist Gore die mystische Struktur des Romans nach und stellt ihn in einen Kontext mit Fenelons >Totengesprächen< und seinen >ErzählungenAnton Reiser< einführt (vgl. 60). Vgl. den Kommentar von Jeanne-Lydie Gores kritischer Ausgabe: Fenelon: Les Aventures de Telemaque. Paris 1987. S. 02ff.

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Im 18. und 19. Gesang der >Odyssee< wird Telemachs Unterweltgang beschrieben, bei dem ihm im Tartarus das Spektrum menschlicher Verfehlungen vorgeführt wird, bevor er die Elysischen Gefilde erreicht. Als Parallelstelle gilt Aeneas' Gang in die Unterwelt, auf dem er seinen Vater Anchises sucht und von ihm mit seinen zukünftigen Aufgaben vertraut gemacht wird. Vgl. Vergil: Aeneis. Übers, von Johannes Götte. München 1990. 6. Buch.

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Im 1 1 . Gesang wird Odysseus' Gang zu den Toten beschrieben, auf dem ihm der Seher Teiresias seine langsame Heimkehr voraussagt und wo Odysseus seine Mutter trifft. Odysseus widersteht dem Verlangen, die Mutter vor dem Seher das Blut des Opfertieres trinken zu lassen, von dem er sein Schicksal erfragen will.

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tung der durch Antons Lektüre benannten Texte zum »eigentliche[n] Roman seines Lebens« (204). Anton erhält seinen »poetischen Anstrich« also »durch das Bild von dem homerischen Wanderer«, und die Erinnerungen des Erzählers erhalten »etwas Übereinstimmendes mit dem poetischen Vorbilde« (322). In Anton Reiser spiegeln sich aufgrund dieser komplexen intertextuellen Vernetzung sowohl Odysseus', Werthers und Telemachs Züge wie in einem Vexierbild. Mit dem Beginn des vierten Romanteils tritt Anton »heroischen Mutfes]« (343) seinen Gang in die Unterwelt an. Lesend übersteht er Odysseus' Abenteuer im Wirtshaus und fühlt sich so wie »in der Odyssee« an der »Stelle von den Menschenfressern, die in dem ruhigen Hafen, die Schiffe des Ulysses zerschmettern, und seine Gefährten ergreifen und verzehren« (321). Einschlägig wird aber vor allem Odysseus' Nachtfahrt im elften Gesang. Der Weg zum Theater, das heißt zu einer Schauspielergesellschaft, die Anton in ihre Reihen aufnimmt, versammelt die klassischen Initiationstopoi. So muß Anton immer wieder vor den »kaiserlichen Werbern« (325 pass.) auf der Hut sein, die ihn von seinem ersehnten Reiseziel abbringen könnten und als Kontrafakturen der »grauenvolle[n] Gestalt e n ] « (56), Dämonen und Teufel in Antons Träumen - den Wächtern des Initiationsgeheimnisses bzw. Agenten der dämonischen Kehrseite der Mutterimago — auf den Plan treten. Die Imago selbst wird von der Kirke (vgl. 50) und den Sirenen nun auf eine »alte Frau« verschoben, durch deren Blick Anton »wie in eine Art von wachenden Traum« gerät, »als ob er auch hier bleiben« müsse »und nicht aus der Stelle« könne (3 ιγί.). Dieser mütterliche Blick erinnert nicht von ungefähr an den versteinernden Blick der Medusa, die im kulturellen Gedächtnis den Topos bedrohlicher Weiblichkeit schlechthin darstellt. 188 Antons Suche nach den Schauspielergesellschaften findet in einer regelgerechten, durch einen weiteren einschlägigen Topos vermittelten Initiationslandschaft statt. Der Raum zwischen Mühlhausen und Erfurt kommt dem Erzähler »wie eine furchtbare Wüste vor, durch die er [Anton, F. B.] ohne einen Labetrunk und ohne Stärkung reisen« soll (352). Diese Landschaft schließt an den locus melancholicus im dritten Romanteil an, vor dessen Hintergrund Anton sich als Dichter stilisiert (vgl. 233ff.). Hier wie dort erliegt Anton seiner »unwiderstehlichen Trägheit« — Antons άκηδία als »Moritzsche[] Version der Melancholie« 189 —, die ihn lähmt und immer wieder einschlafen läßt, so daß er »vom rechten Wege« abkommt und

188 189

V g l . IV. 3. »Höllenfahrt«: Die Frauenfiguren. Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. S. 353.

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sich nur noch im Zeitlupentempo vorwärts bewegen kann. »Auf dem Wege von Eisenach bis Gotha, den er auf der Hinreise in wenigen Stunden zurückgelegt« hat, so beschreibt der Erzähler diese zunehmende Retardierung und schließliche Erstarrung der Bewegung unter dem medusenhaften Blick, bringt er nun »beinahe vier Tage« zu (349). Dabei kommt der Tatsache, daß Anton Reiser eine mystische Variante des Heros, nämlich eine Postfiguration des heiligen Antonius ist, besondere Bedeutung zu. 1 9 0 Es ist sicherlich kein Zufall, daß Antons erste Flucht 1 9 1 durch die Lektüre des »Leben[s] der Altväter« ausgelöst wird (45). Anton will auf den Spuren seines »großen Namensgenossen«, des »heiligen Antonius«, Vater und Mutter »verlassen und in eine Wüste« fliehen (45). Zu den ikonographischen Attributen des heiligen Antonius gehören »Stab« (233) und Glocke, 192 mit denen der Erzähler seinen Helden als Wüstenwanderer ausstattet. Die Ikonographie des Heiligen koinzidiert mit den um die dämonische Kehrseite der Mutterimago zentrierten Erinnerungsbildern im >Anton ReiserVersuchung des heiligen Antonius< mit dem Topos des Sündenfalls enggeführt (Abb. 10). Zur Bestätigung dieser Postfiguration spricht der Erzähler ganz allgemein von Antons »Pilgrimschaft durchs Leben« (233) und hat schon mit Antons Schiffsreise nach Bremen die traditionelle peregrinatio, die Weltumwanderung auf der Suche nach Gott, als navigatio variiert. 194 Diese Reise hat Anton kurzfristig in seine civitas dei, vor allem aber zum wohlgesonnenen Fremden geführt (vgl. 2y8ff.). Nun fühlt er sich, als irre er durch die einsamste »Wüste des Lebens« (229, 233), ohne zu wissen, wo »er nun in dieser großen öden Welt festen Fuß fassen« soll (232). Diese Landschaft wird mit der inneren Landschaft des Helden enggeführt: dem »bezauberten Lande«, in dem »Wahn und Irrtum« den Helden bedrohen. Denn dort ist der seine Prüfungen imaginierende Initiand — »keine Stütze, 190

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Vgl. L. Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. S. 4 1 5 ; Mark Boulby: Karl Philipp Moritz. At the Fringe of Genius. Toronto, Buffalo, London 1979. S. 48; K. D. Müller: Autobiographie und Roman. S. 159. Vgl. III. 2. »Die ungeheuren Bilder«: Ursprungsvisionen. Vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie. Art. Antonius Abbas (der Große), Stern der Wüste, Vater der Mönche. Sp. 205 — 2 1 7 ; Reclams Lexikon der Heiligen und der biblischen Gestalten. 7. durchges. Aufl. Stuttgart 1 9 9 1 . S. 252f. Der Isenheimer Altar setzt dem Heiligen Antonius mit drei Bildern das wohl prominenteste Denkmal. Carl Gustav Jung: Psychologie und Alchemie [1 u. 2]. In: Grundwerk C. G. J u n g in neun Bänden. Bde. 5 u. 6. 3. Aufl. Ölten, Freiburg 1989. Bd. 5. S. 2 1 0 . Im folgenden zitiert als Psychologie und Alchemie 1/Psychologie und Alchemie 2. Vgl. III. 3. »Anton Reisers Wanderungen«: Auf der Suche nach dem verlorenen Vater.

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kein Führer!« — den Angriffen der »Teufel«, »Ungeheuer« und »Satyr[n]« ausgesetzt: »Ach«, läßt der Erzähler Anton in einem Brief an Philipp Reiser seufzen, die »Larve fällt ab [ . . . ] und zur Hölle wird mir nun die Wüste« (22C){.). In diesem Sinne positioniert etwa das Gemälde der Cranach-Werkstatt >Der heilige Antonius als Eremit< die Versuchung des Heiligen als melancholische meditatio bzw. als inventio im Rahmen eines asketisch-geistlichen Exerzitiums am oberen Bildrand (Abb. 1 1 ) . 1 9 5 Das aufgrund seines imaginären Beziehungsmodus mütterlich konnotierte Theater treibt Anton(ius)-Odysseus-Telemachos-Werther nun an. 1 9 6 Seine Wanderung führt Anton von Hannover in Richtung Weimar. Nach einer kurzen Unterbrechung der Reise in Gotha, wo sich Anton vergeblich bei Eckhof um eine Debütrolle bemüht, bricht Anton auf dessen Rat nach Eisenach auf, um sich der Barzantischen Schauspielergesellschaft anzuschließen. Von dort wandert er in Richtung Mühlhausen zurück, wo er die Schauspieler zu finden hofft, die »gerade diesen Morgen nach Mühlhausen abgereist [sind]!« — »eben dahin [ . . . ] , wo er hergekommen« ist (347). Er verweilt in Erfurt und bricht schließlich nach Leipzig auf, um sich dort der Speichschen Truppe anzuschließen. Anton geht aber nicht nur »gleichsam wie in der Irre umher[]« (349), er beschreibt dabei einen Kreis, der den mütterlichen Bannkreis nachzeichnet (vgl. 44ff.). »So labyrinthisch wie sein Schicksal« ist, werden »auch nun seine Wanderungen«. Er weiß sich aus ihnen »nicht mehr herauszufinden«, schreibt der Erzähler. Die »gerade Straße« scheint sich plötzlich »zurückzubiegen«. Diese Biegung des Raumes zum Labyrinth — vor dem Hintergrund der Heiligen-Vita die christliche Vantias-Allegorie schlechthin — objektiviert Antons Regression: Es ist Anton »gewissermaßen lieb, wenn er sich verirrt[]« (349), ja er gibt sich seiner Melancholie immer »mit einer Art von Wollust« hin

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Dieses Bild markiert die Schnittstelle von Antonius- und Melancholieikonographie. Vgl. Andre Chastel: La tentation de saint Antoine ou le songe du melancholique. Gazette des Beaux-Arts 1 5 (1936). S. 2 1 8 - 2 2 9 . Z u r Serie der in diesem Zusammenhang einschlägigen Cranachschen Melancholiebilder vgl. Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt a. M. 1 9 9 2 . S. 5 34ff. Z u m Topos des heiligen Antonius' als Melancholiker und zur Exerzitiums-Praxis vgl. V. 1. »Protokollführer — nach ihrem Willen«: Erinnerung als imitatio passionis. Abschn. II. Diese Wanderungen stehen in Verbindung mit Antons Fluchtvisionen: »Er fühlte sich groß und frei in der ihn umgebenden Natur — nichts drückte ihn, nichts engte ihn ein — er war hier auf jedem Fleck zu Hause. [ . . . ] Er fand zuletzt eine ordentliche Wonne darin, durch das hohe Korn hinzugehen, ohne Weg und Steg — durch nichts, nicht einmal durch ein eigentliches Ziel gebunden, nach welchem er seine Schritte hätte richten müssen. Er fühlte sich in dieser Stille der Mitternacht frei, wie das Wild in der Wüste« (305)·

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(385)· Als schließlich der Bibliothekar Reichard und der Schauspieler Eckhof Anton definitv den Eintritt ins Paradies verweigern, sieht Anton gar »keinen Ausweg aus diesem Labyrinthe [...], in welches seine eigene Torheit ihn geleitet« hat (341; vgl. 368). Und wie aufs Stichwort fällt für diesen Aufschub des begehrten Ziels die hochbesetzte Metapher der »Scheidewand« (384). Anton — und mit ihm das Erinnerungsprojekt des Erzählers — ist endgültig in die »Krisis« geraten (381). Denn der Erzähler kann das Prinzip des Aufschubs bzw. das Gesetz der Metonymie nicht durchschauen und produktiv in Anspruch nehmen. Er produziert mit Antons Irrweg das Labyrinth der Erinnerung. Als Kreis ist dieses Labyrinth eine Regreßfigur und steht in krassem Widerspruch zur Teleologie der >Abenteuer des Telemach< oder der >OdysseeAnton Reiser< findet keinen Platz in der familialen und gesellschaftlichen Ordnung. Die labyrinthische Kreisfigur im vierten Romanteil verdichtet aber nur die zirkulären Strukturen der ersten drei Romanteile. So gehen alle erinnerten Episoden des Bildungsweges in Braunschweig und Hannover von Antons Elternhaus aus und führen dorthin zurück. Das Konfliktpotential des Romans wird durch die Einblendung dieser kurzen Zwischenspiele aufgefrischt (vgl. 106). Denn dort erneuert Anton die Bindung an die Mutter und sie wiederholt ihren Bannspruch — »das Gott walte über ihn« - dadurch, daß sie »über seine Stirne das Kreuz dazu« schlägt, »wie sie es ehemals getan« hat (166; vgl. 47). Dort verschärft sich aber auch der Konflikt mit dem »kalt[en] und verschlossen[en]« Vater (106), der den Sohn seinen »unversöhnlichen Haß« spüren läßt (109). Diese zirkulär strukturierten Episoden werden schon in den ersten drei Romanteilen mit der Metapher des Labyrinths versehen, 197 die im >Anton Reiser< ganz konkrete räumliche Formen annimmt. So stellt jede neue Stadt, wenn sie sich mit »vier Türmen, und dem umgebenden mit Bäumen bepflanzten Walle« so »wie ein Bild« (243) — diese Beschreibung koinzidiert mit der Topographie von Lochners >Muttergottes im Paradiesgarten< (vgl. Abb. 9) —, eine architektonische Realisation des Labyrinths dar. Der gesamte Landschaftsraum des Romans wird zur Labyrinthanlage, in der die Türme aber keineswegs als integrative Momente »die nachträgliche Rekonstruktion des Wegs und damit die Übersicht« ermöglichen. 198 Denn dieses Labyrinth

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Vgl. 6 4 f „ 99, 3 4 1 . Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. S. 3 8 1 : »Kreis und Linie verbinden sich zu der im >Anton Reiser< am häufigsten zum Einsatz gelangenden, aus der Geschichte der Melancholiedarstellung wohlvertrauten räumlichen Metapher des Labyrinths« (S. 380). Zur grundsätzlichen Umwertung der die Topik des Romans dominierenden Türme vgl. III. 1. »Und ich erinnere mich«: Erinnerung als unio mystica.

145

mit seinen Türmen — den Inzestsymbolen des >Anton Reiser< — ist die letzte und konsequenteste Objektivation der M u t t e r i m a g o . 1 " Die Türme sind, der Logik ihrer Einführung folgend, »äußerst reizende[]« Gegenstände, die Anton »mit Entzücken« betrachtet ( 1 0 1 ) , markieren sie doch den vermeintlichen Ursprung. 2 0 0 Es erstaunt daher nicht, daß Anton bei dem Anblick der Türme und Wälle »traurige Ahndungen« (166), »mannigfaltige[] Leiden« (188) und »ängstliche[] Gefühl[e]« befallen, »da er aus der weiten Welt nun wieder in diesen kleinen Umkreis aller seiner Verhältnisse und Verbindungen zurückkehren« soll (28if.). 2 0 1 Diese Türme überschatten die einschlägigen Initiationsorte, ob nun das Theater oder das »Heiligtum« der Gelehrsamkeit (75). 2 0 2 Im Umfeld der Türme fehlt daher auch nicht das von der ambivalenten Mutterimago evozierte Fluchtmotiv. Die Stadt wird zum »engsten Kreis seines eigentlichen wirklichen Daseins« ( 1 8 8 ; vgl. 99) — der Erzähler spricht allgemein vom »umschränkten Zirkel seines Daseins« ( 1 6 5 ) —, aus dem sich Anton im Geiste »große angenehme Aussichten, Labyrinthe der Zukunft« eröffnen (99). Denn »so lange wie er in jenen Kreis hineingebannt« ist, kann er »kein Zutrauen zu sich selber fassen« (314). Sobald aber Anton »aus dem Gewühle der Stadt« tritt »und die Türme von H . . . hinter sich« sieht, bemächtigen »sich seiner tausend abwechselnde Empfindungen [ . . . ] - sein Stolz und Selbstgefühl« streben empor ( 2 3 1 ) . Türme lösen also Antons Wanderungen und die Erinnerungen des Erzählers aus: »Der Aufenthalt in H.« wird Anton »unerträglich«, berichtet der Erzähler anläßlich einer der ersten Reisen des Wanderers, »neue Türme, Tore, Wälle und Schlösser« steigen »beständig in seiner Seele auf, und ein Bild verdrängt[] das andre« (70). 2 0 3 199

Vgl. 7 1 , i o i f . , 107, 165, 166, 188, 243, 275, 28if., 305, 3 1 0 , 329, 330, 3 3 i f . 334, 3 4 6 , 3 7 7 ; vgl. III. 1 . »Und ich erinnere mich«: Erinnerung als unio mystica\ III. 2. »Die ungeheuren Bilder«: Ursprungsvisionen.

200

»Die vier schönen T ü r m e von H . . . « ragen »endlich wieder hervor«, heißt es beispielsweise nach der Abweisung durch L., »und wie einen Freund, den man nach langer Trennung wieder sieht«, betrachtet Anton den neustädtischen Turm, »und seine Glockenliebe e r w a c h t f ] auf einmal wieder« [Hervorh. F. B . ] ( 1 0 7 ) . Z u m Inzestsymbol Glocke in A n tons Initialtraum vgl. III. 2. »Die ungeheuren Bilder«: Ursprungsvisionen.

201

N i c h t nur die T ü r m e von Braunschweig und Hannover sind von dieser Umschlagstruktur betroffen, sondern alle Türme auf Antons Reise, z . B . Erfurt (vgl. 3 3 2 , 354), Gotha (vgl. 3 3 3 , 3 3 4 ) und Eisenach (vgl. 346).

202

Insbesondere ist »ihm der hohe, eckichte, und oben nur mit einer kleinen Spitze versehene Marktturm«, bemerkt der Erzähler anläßlich der Hannoveraner Ereignisse, »ein fürchterlicher Anblick — dicht neben diesem« ist die Schule. U n d dieser Turm ist in der Erinnerung eins mit dem »Spotten, Grinsen und Auszischen seiner Mitschüler« (188).

203

Z u r erinnerungsauslösenden Funktion der T ü r m e vgl. III. 1. »Und ich erinnere mich«: Erinnerung als unio mystica.

146

Diese zirkulären, von der Mutter ausgehenden und zu ihr zurückführenden Wege sind aber von Anfang an mit dem Tod konnotiert. So schließt schon die Dorfepisode mit dem Bild der kleinen, engen, »umschlossen[en]« Stube, die in Anton dieselbe »Art von Bangigkeit« (59) wie das »enge Haus« des Grabes aus der zentralen Todesvision auf dem Kirchhof evoziert (304). 2 0 4 A n anderer Stelle vergleicht der Erzähler Antons Heimkehr zur Mutter mit einem verschlingenden Grab: Es war ihm, als ob das G r a b noch einmal hinter ihm seinen Schlund eröffnete. - D a er aber nun die Stadt mit ihren grünbepflanzten W ä l l e n im Rücken hatte, und die Häuser, wie er zurückblickte, sich immer dichter zusammendrängten, so wurde ihm leichter, und immer leichter, bis endlich die vier T ü r m e , welche den bisherigen Schauplatz aller seiner Kränkungen und B e k ü m mernisse bezeichneten, ihm aus dem Gesichte schwanden. ( 3 1 0 )

Diese chthonische Konnotation der (All-)Mutter, der im Rahmen des Initiationsmodells virulente Topos der mythologischen Erdgöttin Gaia und ihrer Epiklesen, klingt hier an. Die Vision gipfelt in der ambivalenten Vorstellung, mit dieser Herrin über Leben und Tod vereinigt zu sein, eine Vorstellung, in welcher der klassische Topos des Liebestodes mit Antons erotischen und aggressiven Wünschen vereint wird (vgl. 2 8 1 ) . Wucherpfennig faßt die Komplexität dieser Sterbephantasie treffend zusammen: »Die Grabphantasie dient somit der Identifikation mit der Mutter, der Rache an ihr — wen wünscht der Sohn denn nun ins Grab gebracht, sich oder die Mutter? Oder beide? [ . . . ] —, der Liebe zu ihr und, im schließlich eigenen, einsamen Tod, auch der Selbstbestrafung« 2 0 5 für sein inzestuöses Begehren. 2 0 6 204

205 206

»Die Kirche mit dem kleinen spitzen Turm [ . . . ] und eben [ . . . ] so enge und klein war auch der Kirchhof [ . . . ] . Der Himmel schien in der trüben Dämmerung allenthalben dicht auf zu liegen, das Gesicht wurde auf den kleinen Fleck Erde, den man um sich her sähe, begrenzt, [ . . . ] das Ende aller Dinge schien ihm in solch eine Spitze hinauszulaufen — der enge dumpfe Sarg war das letzte [ . . . ] die zugenagelte Bretterwand — die jedem Sterblichen den fernem Blick versagt. Das Bild erfüllte Reisern mit Ekel — der Gedanke an dies Auslaufen in einer solchen Spitze, dies Aufhören ins enge, und noch engere, und immer engere [ . . . ] — die Idee des Kleinen ist es, welche Leiden, Leerheit und Traurigkeit hervorbringt — das Grab ist das enge Haus, der Sarg ist eine Wohnung, still, kühl, und klein - Kleinheit erweckt Leerheit, Leerheit erweckt Traurigkeit — Traurigkeit ist der Vernichtung Anfang — unendliche Leere ist Vernichtung« (303f.; vgl. 2 0 1 , 2 8 1 ) . Wucherpfennig: Versuch über einen aufgeklärten Melancholiker. S. 1 7 7 . Darüber hinaus verweist diese Szene auf einen Vorläufer, der seine Initiation in das göttliche Geheimnis als unto mystica mit der Mutter feiert. Gemeint ist das neunte Buch von Augustinus' >ConfessionesAnton R e i s e n schlägt diese m i t d e m MelancholieIndex versehene labyrinthische K r e i s f i g u r vollends z u m S y m p t o m u m . D i e bedrohliche, ja todbringende

R e g r e ß f i g u r des Kreises m ü n d e t

in ein

Schlußtableau, das die A t t r i b u t e der M u t t e r i m a g o noch einmal auf ähnlich e n g e m R a u m w i e in der Dorfepisode konzentriert. D i e Pointe dieses Tableaus besteht darin, das es die Melancholieikonographie m i t der Marienikonographie der Dorfepisode verschränkt, so daß A n f a n g und Schluß des >Anton Reiser< in eins fallen — der Kreis hat sich geschlossen: Dann irrte er weiter umher, bis es Abend wurde, wo der Himmel sich mit Wolken überzog, und ein starker Regen fiel, der ihn bald bis auf die Haut durchnetzte. Der Fieberfrost, welcher sich nun zu den innern Unruhen seines Gemüts gesellte, trieb ihn in Sturm und Regen umher, bei altem Gemäuer und durch einsame öde Straßen [...] Er stieg die hohe Treppe zu dem alten Dom hinauf [...] und suchte sich unter altem Gemäuer eine Weile vor dem Regen zu schützen. Vor Müdigkeit fiel er hier in eine Art von betäubendem Schlummer [...] Er war, wie in einer Behausung, vor dem Regen geschützt, und doch war dies keine Wohnung fur die Lebenden [...] Reiser fühlte sich auf der Bank im Dom in eine Art von Abgeschiedenheit und Stille versetzt, die etwas unbeschreiblich Angenehmes für ihn hatte, die ihn auf einmal allen Sorgen und allem Gram entrückte, und ihn das Vergangene vergessen machte. Er hatte aus dem Lethe getrunken, und fühlte sich in das Land des Friedens sanft hinüber schlummern. ( 3 8 4 0 Das M o t i v des »Lethe«, eines der Flüsse des Tartaros, und des »Abend[s]« ergänzen die Topoi des U n t e r w e l t g a n g e s , auf die der Erzähler für die Schilderung von A n t o n s sehnsuchtsvoller Suche nach den Schauspielergesellschaften zurückgreift. schen« -

»Schreckliche N a c h t u m h ü l l t die elenden

Men-

m i t diesen W o r t e n leitet auch H o m e r Odysseus' A b s t i e g ins

Totenreich ein. 2 0 7 G l e i c h z e i t i g ruft die »einsame öde Straße« noch einmal die vergebliche Suche nach d e m Fremden — d e m Initiationshelfer — ins Gedächtnis zurück. Das zweimal wiederholte B i l d des Schutzes vor »Sturm und R e g e n « schließt nun deutlich an das zentrale B i l d der Dorfepisode an — die Ursprungsvision i m >Anton Reiser< (384). Es evoziert das B i l d der »Mutter«, die A n t o n »in ihren Mantel eingehüllt, durch Sturm und R e g e n « trägt (58). A u f den von dieser regressiven M u t t e r i m a g o provozierten Inzest verweist der » D o m « , der durch die »hohe Treppe« m i t A n t o n s Träumen in V e r b i n d u n g steht (385; v g l . 101). D i e Regression selbst wird durch den »betäubende[n] S c h l u m m e r « veranschaulicht (385), 2 0 8 der je207

Homer: Odyssee. 1 1 , 19. D a ß Moritz ein ausgezeichneter Kenner der Mythologie ist, beweist nicht zuletzt seine Götterlehre, die bis heute zu den besten Darstellungen des Themas gehört.

208

V g l . 208, 297, 342, 353, 393. Möglicherweise findet der Erzähler sogar den Topos des melancholischen »Schlummerfs]«, der schon auf Antons Regreß in die »Romanen- und

148

derzeit sanft in den Tod überzugleiten droht und etwas »unbeschreiblich Angenehmes« für Anton hat. Denn die Zuflucht im stillen, schauerlichen »dunkle[n] Gewölbe« steht mit dem regressiven Ort des Kohlenbeckens in Verbindung (385; vgl. 95). Und diese Orte sind wie auch das Grab aus Dorf- und Kirchhofepisode »keine Wohnung für die Lebenden« (385; vgl. 3 0 3 , 59)·

Wird die Dorfepisode vom Bildtypus der Schutzmantelmadonna präfiguriert, so steht für das Schlußtableau ein ebenso einschlägiger, ikonographisch erprobter Topos bereit. Faßt man die zerstreuten Attribute des Schlußtableaus zusammen, so verweisen diese auf einen Bildtypus innerhalb der Melancholieikonographie, der aus der Berührung mit der Mythologie hervorgeht. Dieser Bildtypus stellt die traditionellerweiser weiblich, ja mütterlich konnotierte Personifikation der Melancholie als Nacht dar und ist eine der Quellen für Dürers Bild der Bilder, für die >Melencolia I< (vgl. Abb. 4). 209 Von Einem skizziert die Korrelation von Nacht und Melancholie, indem er auf die Rolle der Literatur als Initiatorin dieser typologischen Quellenverbindung hinweist. Homers >IliasTheogonie< und Pausanias' >Beschreibung Griechenlands< stehen am Anfang einer Bildtradition, 210 die seit der italienischen Renaissance die Nacht — Mutter der Kinder Schlaf und Tod — wie Guercinos Fresko als Melancholiefigur darstellt (Abb. 12): »In dieser wohl berühmtesten Darstellung der italienischen Malerei mischt sich die Vorstellung der Nacht nach Pausanias mit der Vorstellung der Melancholie von Dürer«, stellt von Einem fest. 2 1 1 Im Kontext der impliziten Ikonographie des >Anton Reiser< ist es signifikant, daß die auf diesem Bild dargestellte Melancholiefigur mit dem Buch und den Kindern in unmittelbarer Beziehung zum ikonographischen Typus der lesenden Madonna steht und daß dieser Bildtypus der Nacht darüber hinaus auch auf die Darstellungen von »Aphrodite mit Eros und Himeros« hinweist, die »auf griechischen Vasen und in Skulpturen nachweisbar«

209

2,0

211

Komödienwelt« folgt (208), in den >ZwillingenDie Nacht mit ihren KindernFelsengrot-

tenmadonna< m a g diese Q u e l l e n v e r b i n d u n g v e r m i t t e l t haben ( A b b .

212 213

214

14).

Von Einem: Asmus J a c o b Carstens. S. 1 2 . Z u r genauen ikonographischen Analyse dieses aus »freien Michelangelo-Zitaten« komponierten, zwischen Allegorie und identifikatorischer Symbolik schwankenden Bildes vgl. Gerhard Kaiser: Mutter Nacht - Mutter Natur. In: Kaiser, Bilder lesen. Studien zur Literatur und Bildenden Kunst. München 1 9 8 1 . S. 1 1 — 3 2 . S. 1 7 . V g l . Frank Büttner: A s m u t h J a k o b Carstens und Karl Philipp Moritz. Nordelbingen 52 ( 1 9 8 3 ) . S. 9 5 - 1 2 7 . Asmus J a c o b Carstens. S. 28. Von Einem beschreibt Carstens Bild folgendermaßen: »Die schwarze, weiß gehöhte Kreidezeichnung auf braunem Karton, fast ein Meter breit und dreiviertel Meter hoch, zeigt vor dem Eingang einer nur angedeuteten Höhle sitzend die H a u p t f i g u r der Nacht. Die jugendlich mütterliche Gestalt ist aus der Mitte etwas nach rechts gerückt. M i t beiden Armen breitet sie ihren weiten Mantel über ihre Kinder aus: den Tod, der mit gesenkter Fackel zwischen ihren Beinen steht und den K o p f gegen ihr linkes K n i e lehnt, und den Schlaf, der, zwei Mohnkolben in der entspannten Linken, friedlich zur rechten Seite der Mutter auf dem Boden schlummert. Links von dieser G r u p p e , in der gleichen Bildebene, sitzt Nemesis, die Göttin der Wiedervergeltung, in der Rechten eine Geißel, die Linke am Gewand über ihrem Busen. Ihr K o p f ist scharf zur Seite gewandt, ihre Haltung gespannt, als wollte sie aufspringen. Im Halbdunkel der Höhle hinter diesen Gestalten das verschleierte Schicksal, das mit verhüllten Händen ein aufgeschlagenes Buch zum Antlitz hebt, und die drei Parzen: Lachesis, die das Los Zuteilende, sieht in das Buch und zieht mit ihrer Linken den Faden, Lotho, dicht neben ihr, hält den Rocken hoch und sieht nach oben, Atropos, hält in der erhobenen Linken das Knäuel, in der Rechten die Schere und schaut zu Nemesis hinüber. — Die Nacht ist selbstvergessen in den Anblick der Kinder versunken. Das Schicksal hat sein Haupt verschleiert. Die Parzen singen. Auch sie achten der Außenwelt nicht. Keine der Gestalten nimmt auf den Betrachter Bezug. N u r Nemesis, die Vergeltende, blickt drohend zur Seite« (S. 8f.).

150

Moritz zitiert in der >Götterlehre< auch die einschlägige antike Quelle des Bildes, das »nach einer Beschreibung des Pausanias entworfen« ist. Ein Seitenblick exponiert das den >Anton Reiser< auszeichnende semantische Potential dieser typologischen Quellenverbindung. >Die Nacht mit ihren Kindern< illustriert den Abschnitt »Die Nacht und das Vatum, das über Götter und die Menschen herrscht«. Moritz setzt nach der hesiodischen Rede von der Mutter das umhüllende nächtliche Dunkel als weibliche Allgöttin über die Schicksalsgöttin, die Göttin der Vergeltung und die Parzen. Die undurchdringliche Nacht ist »die Mutter alles Schönen« und gleichzeitig die Mutter »des in Dunkel gehüllten Schicksals; der unerbittlichen Parzen Lachesis, Klotho und Atropos; der rächenden Nemesis«. 2 1 5 Auf Carstens' Bild treten sie dementsprechend als Randfiguren auf. >Die Nacht mit ihren Kindern< rückt die idyllische Dyade von Mutter und Kind ins Bildzentrum und verlagert das bedrohliche Potential der Mutter Nacht an die Hintergrundfiguren. Das lesende Schicksal erweist sich vor dem Hintergrund der ambivalenten Mutterimago des >Anton Reiser< daher als Nachtseite der lesenden Madonna-Melancholia. Carstens' Dyade ist dennoch weit davon entfernt, ein Bild zeitlosen Friedens zu sein. Kaiser verweist auf die im Kontext der Kohlenbeckenphantasie, jenem »in die Erde gemauerte[n], oben mit Backsteinen zugewölbte[n] Loch« (84), relevante vierfache Staffelung des Bildraumes durch die Erdhöhle, die aus »dem Fleisch weiblicher Leiber« angeordnete Höhlung der Figuren und die Tuchhöhle der Nacht. »Die Beine der Mutter aber bilden zusammen mit einem Schleier, der den Unterkörper bedeckt, die vierte Höhle, die den Tod umfängt«. 2 1 0 Gleichzeitig weist Kaiser nach, daß dieses Bildmotiv Corregios Gemälde >Leda mit dem Schwan< und mithin den dort ins Zentrum gerückten Liebesakt von Leda und Zeus zitiert (Abb. 15). 2 1 7 Carstens Bild wohnt also eine geheimnisvolle, ebenso faszinierende wie bedrohliche inzestuöse Erotik inne, die im >Anton Reiser< in ihrer ganzen Ambivalenz entfaltet wird. Buchstabiert man die zerstreuten Attribute des Schlußtableaus zusammen und kontrastiert diese immanente Bildlichkeit mit der ihr eingezeichneten Ikonographie, wird im folgenden der chthonische Schauer verständlich, der Antons totenähnlichen Schlaf im Schutze des alten Gemäuers umgibt. Der ikonographische Intertext legt daher nicht nur offen, daß im >Anton Reisen Anfangs- und Schlußtableau in eins fallen, sondern daß Anton Reiser zu jenem mit der Dorfepisode illustrier2,5

216 217

Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten ( 1 7 9 1 ) . In: Moritz, Werke. Bd. 2. S. 633. Kaiser: Mutter Nacht - Mutter Natur. S. 10. Vgl. Kaiser: Mutter Nacht - Mutter Natur. S. ιηίί.

i5i

ten imaginären Ursprung (zurück-)geführt wird, der nichts anderes ist als ein kolossales Bild sanfter Vernichtung. Die Modernität der Moritzschen Mythologie besteht nun darin, daß sie den Topos der Nacht psychologisiert bzw. verinnerlicht, wenn es heißt: Die Nacht »ist ferner die Mutter der ganzen Schar der Träume«. 2 1 8 Dabei schlägt Moritz — so deutlich wie man es nur wünschen kann — über die Anspielung auf die >Odyssee< den Bogen zurück zum narrativen Muster der Initiation im vierten Teil des >Anton ReiserGötterlehre< wird die vom Schicksal bestimmte Irrfahrt des »Ulysses« zum Symbol dieser an die Mutterimago gebundenen Introversion erklärt. Die »weiblich und schön gebildeten]« Parzen bezeichnen diese »furchtbare, schreckliche Macht« — »spinnend und in den Gesang der Sirenen stimmend«. »Und gerade da, wo alles am angenehmsten und einladendsten scheinet, lauert immer die meiste Gefahr«, kann man dort lesen, wie »bei dem Gesänge der Sirenen und bein Zaubertrunk der Circe. — [ . . . ] Ulysses mag das Ziel seiner Wünsche noch so nahe vor sich sehen, so wird er doch immer wieder weit davon verschlagen«. Zwar sind auch Antons »Tränen und seine heißesten Wünsche« vergebens, 221 aber der Erzähler könnte dessen Vergessen in Erinnern, Antons fatales Identitätsbegehren in einen realitätsgerechten Beziehungs- bzw. (Text-)Produktionsmodus umwandeln. In seinem letzten 218 219 220

221

Moritz: Götterlehre. S. 633. Moritz: Götterlehre. S. 635. Karl Kerenyi: Die Mythologie der Griechen. 2 Bde. 2. Aufl. München 1968. Bd. 1. S. 83. Zur Bedeutung der Mnemosyne in der Orphik vgl. Der Kleine Pauly. Art. Mnemosyne. Sp. 1 3 7 0 - 7 1 . Moritz: Götterlehre. S. 637.

152

Traum antizipiert Anton diese der melancholischen Introversion folgende Wiedergeburt des verjüngten Helden als Künstler dadurch, daß »er den Zustand, den er vergeblich zu besingen gestrebt« hat, »nun gewissermaßen in sich selber darstellt[]«: »Durch seine Adern« scheint »sich ein neues Leben zu verbreiten; seine jugendlichen Hoffnungen« erwachen »wieder eine nach der andern; Ruhm und Beifall« krönen »ihn wieder; schöne Träume« lassen »ihn in eine goldne Zukunft blicken« (394). Diese Wiedergeburt des Initianden, die Phase der progressio, ist so wie in den »Leiden der Poesie« konstitutiv an ein Opfer gebunden, das der Erzähler Anton Reiser dann aber doch nicht vollziehen läßt. Dem melancholischen Finale folgt daher ein Epilog, der die Problematik der Handlung - die antagonistischen Modi des Selbst- bzw. Objektbezugs — noch einmal zur Schau stellt. In der >WertherGott! ich hörte einen Schuß fallen!Leiden des jungen Werthers< wie ein Schlußwort unter dem >Anton ReiserEmilia Galotti< bzw. die dort bearbeitete Virginia-Legende wartet dem Leser vor allem mit einem aufsehenerregenden, weil von der Hand des Vaters bewirkten Tod der Tochter auf, dessen Charakter als inzestuöser Liebestod kaum von der Hand zu weisen ist. »Die Tatsache, daß Werthers Leserkarriere bei Lessing endet«, folgert Wiethölter, »hätte vor diesem Hintergrund zweifelsohne die Bedeutung eines Eingeständnisses; Werther hätte sich zu einer Regression bekannt, wie sie verschlingender und lebensfeindlicher nicht denkbar ist«. 224 Gleichzeitig könnte der Leser Werther, könnte mit ihm der Leser des > Werthers < Anton Reiser, könnte vor allem der Leser des >Anton Reiser< in Odoardo aber auch die »ord-

222 223 224

Vgl. die Abschiedsszenen von Philipp Reiser (309^) und N . (398^). Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. S. 265. Wiethölter: Zur Deutung. In: Goethe, Die Leiden des jungen Werthers. S. 956.

153

nende Instanz« wahrnehmen, die dem eigenen Wunsch nach der rettenden, Werther an seinen Platz im Wahlheimschen Beziehungsdreieck weisenden Autorität entspräche. Diese für den >Anton Reiser< so zentrale dritte Position bzw. die daran gebundene Funktion des Initiationshelfers übernimmt Albert in der Beziehung Werther-Lotte-Ehemann eben nicht. Was bleibt Werther schließlich anderes übrig als dessen Pistolen? 2 2 5 Der psychologische Roman >Anton Reiser< bricht an dieser Stelle ab. Anton Reisers Initiation ist gescheitert und mit ihr die Initiation des Erzählers. Denn die permanente Wiederholung ein- und derselben von der Umschlagstruktur des Romans vorgegebenen Textfigur steht in krassem Widerspruch zum Anspruch des Erinnerungsprojektes, daß dem Erinnernden »dasjenige gewiß werden soll, was bei vielen Menschen ihr ganzes Leben hindurch, ihnen selbst unbewußt, und im Dunkeln verborgen bleibt, weil sie Scheu tragen, bis auf den Grund und die Quelle ihrer unangenehmen Empfindungen zurückzugehen« (380). Der Erzähler geht zwar auf diesen Ursprung zurück, kann sich aber den Rückweg durch die Etablierung eines Stellvertreters bzw. die Installierung jener dritten Position im Selbst- bzw. Objektbezug nicht sichern. Für den Roman gibt es kein Ende. Obwohl Antons Selbstmord ein ums andere Mal erwogen wird, 2 2 0 wäre er weniger das konstitutive Opfer einer Spielfigur, die auf den Kriegsschauplatz der Erinnerung geschickt wird und dessen Tod ein mögliches Sprungbrett in einen konfliktfreien Raum darstellt, 227 als vielmehr Indiz des unbewältigten Konfliktpotentials. In dem Maße, in dem das anfängliche Arrangement der indirekten Erinnerung dem direkten Zugriff auf Anton Reiser weicht, verstrickt sich der Erzähler in sein »künstlich verflochtne[s] Gewebe eines Menschenlebens«, verstrickt er sich in der Endlosschleife von Begehren und Tabu (120). Es ist also nicht etwa Anton, der »sich selbst nicht entfliehen« kann und »in sich selbst eingeengt und eingebannt« ist (223f.). Der Erzähler selbst wird nicht »von Fesseln« des Identitätsbegehrens »entbunden« (318), sondern muß das Konfliktpotential der Figur in den Metonymien des Romans ad infinitum erinnernd wiederholen. Der durch sein mitgeführtes Material angereicherte Text entwickelt im Sinne einer negativen Produktivität der Diskurse eine unkontrollierbare Dynamik, welche die vielfältigen Beherrschungsstrategien des Erzählers unterläuft. Aus diesem Wiederholungszwang gibt es keinen Ausweg. Das Romanfragment zeigt am Ende des

225 226 227

Vgl. Wiethölter: Zur Deutung. S. 957. Vgl. 1 0 5 , 204, 224. Vgl. V. 4. »Der Tod der Könige«: Allegorien des Opferns.

154

mitten in der Handlung abgebrochenen vierten Romanteils »nichts als Zivecklosigkeit, abgerißne Fäden, Verwirrung, Nacht und Dunkelheit« (120) — »ein verwirrtes Chaos«, das »die Vergangenheit unsers Daseins in undurchdringliches Dunkel hüll[t]«. 228 Die Erinnerungsanstrengungen des Erzählers laufen mit Antons absurder Suche nach den Schauspielergesellschaften buchstäblich ins Leere. Knüpft man an die Lektüre-Konstellation des Romans an, 229 so schafft es dieser Leser nicht mehr, die »unendliche[] Menge von Kleinigkeiten«, die »Verflechtung« zu (be-)deuten (120). Die Erinnerung, und das heißt die Lektüre des Textes Anton Reiser, erstarrt wie einst Antons erste, unter dem Zeichen der Melancholie stehenden Leseversuche in der Materialität und Opazität der einzelnen Buchstaben: »Die Sp[eich]sche Truppe war also nun eine zerstreute Herde« (399), lauten die letzten Worte des Erzählers. Er selbst ist wie Anton Reiser ein Agent der Umschlagstruktur und mithin die größte Verkennungsinstanz des psychologischen Romans. Gemäß der »Macht der Poesie« (322) produziert diese (Text-)Figur aber gleichzeitig ein ästhetisches Produkt, das in vieler Hinsicht klüger als sein Erzähler ist. Denn das, was im >Anton Reisen mit dem Verdikt des Mangels belegt bzw. zum Symptom wird, markiert den Königsweg der Erinnerung: die Wiederholung. 230

228 229 230

Moritz: Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik. S. 4 3 7 .

V g l . III. 1. »Und ich erinnere mich«: Erinnerung als unio mystica. Abschn. I. Z u m Unterschied zwischen Erinnerung und Wiederholung (Freud) im Kontext poetologischer (Selbst-)Reflexion vgl. Eckhard Lobsien: Wörtlichkeit und Wiederholung. Phänomenologie poetischer Sprache. München 1 9 9 5 . S. 7 2 f f .

155

IV. G o t t f r i e d K e l l e r >Der grüne H e i n r i c h . Roman< ( 1 8 5 3 / 5 5 )

1. »Geisterbeschwörer und Schatzgräber«: Erinnerung als opus magnum Ein Meister bin ich worden Zu weben Gram und Leid; Ich webe Tag' und Nächte Am schweren Trauerkleid. Ich schlepp' es auf der Straße Mühselig und bestaubt; Ich trag' von spitzen Dornen Ein Kränzlein auf dem Haupt. Keller >ln der Trauert

»Entweder könnte man«, erwägt Keller am 3. April 1871 in einem Brief an Emil Kuh einmal mehr die Umarbeitung seines ungeliebten Romans >Der grüne Heinrich·!,1 die Komposition in aller Gemütsruhe sorgfältiger ausbauen und abrunden, gleichzeitig durch gute Ökonomie etwas knapper und dadurch pikanter halten; oder man müßte die abgeschlossene Form ganz aufgeben und dem Roman einen künstlich fragmentarischen Anstrich verleihen, so daß alles drin stünde, was man sagen will, ohne daß der Rahmen fertig ist. Man würde den ganzen Eingang streichen und gleich mit der Jugendgeschichte beginnen, sodann dem übrigen Teil gleichfalls den Charakter einer Aufzeichnung von dritter Hand (nicht derjenigen des Romanschreibers) geben und die nötige äußere Wahrscheinlichkeit hinein bringen. 2 Seit dem Erscheinen der zweiten Romanfassung 1879/80 steht unumstößlich fest, daß Keller sich mit der »unpoetische[n] Form der Biographie« für die — nach seinem eignen Ermessen — kompositorisch kalkulierbarere Form entschieden hat.3 Seitdem steht aber auch fest, daß mit den beiden Roman1

Vom Umarbeiten ist bereits die Rede, als noch nicht einmal alle Bände des Romans erschienen sind, vgl. Keller an Johann Salmon Hegi am 19. Februar 1849. Gottfried Keller: Gesammelte Briefe. 4 Bde. Hrsg. von Carl Helbling. Bern 1 9 5 0 — 1 9 5 4 . Bd. 1. S. 2 1 6 — im folgenden zitiert als G B ; Keller an die Mutter am 16. März 1849. G B 1. S. 9 i f . ; Keller an Hermann Hettner am 3. August 1853, G B 1. S. 374^; Keller an Hermann Hettner am 14. Februar 1854. G B 1. S. 388ff.

2

Keller an Emil K u h am 3. April 1 8 7 1 . G B 3/1. I50f.; vgl. Keller an Theodor Storm am n . April 1881. G B 3/1. S. 45 5f.

3

Keller an Paul Heyse Samstag nach Martini 1880. G B 3/1. S. 48; vgl. Keller an Emil

157

fassungen, zwischen deren Entstehung immerhin gute fünfunddreißig Jahre liegen, zwei völlig unterschiedliche, ästhetisch eigenständige Erinnerungstexte vorliegen, die außer ihrem Titel wenig miteinander gemein haben. 4 Bis heute gibt es aber kaum eine Stimme, die das Naheliegende fordert und eine strenge Trennung der beiden Fassungen einklagt. Die gängige literaturwissenschaftliche Praxis besteht nach wie vor darin, je nach Erkenntnisinteresse eine der Fassungen zugrundezulegen, bei Bedarf aber jedoch völlig unbeschwert auf die jeweils andere Fassung zurückzugreifen — die Identität der beiden Romane voraussetzend bzw. skrupellos setzend, wenn es der eigenen Argumentation nur irgend zustatten kommt. 5 Die Forderung nach einer produktiven Selbstbeschränkung fällt um so leichter, als sich in der Regel die in die Waagschale geworfenen Unterschiede zwischen Erst- und Zweitfassung ohnehin auf grobe Markierungen beschränken: die Ersetzung des auktorialen Erzählers durch den Ich-Erzähler, den Wegfall der Badeszene, die Erweiterung des weiblichen Reigens um Hulda, die Hinzufügung der Zwiehan-Novelle, die Streichung des Romananfangs und die Änderung des Schlusses. Die Rekonstruktion und vor allem die kritische Diskussion der im Detail versteckten massiven Änderungen steht bis heute aus und könnte auch nur unter den strengen Prämissen einer intertextuellen Analyse der beiden Romanfassungen erfolgen: 6 »Der genauen Analyse kann das Spätere nicht Maßstab sein — um so eher dagegen Indiz«. 7

4

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Kuh am 10. September 1 8 7 1 . G B 3/1. S. i6off.; Keller an Ferdinand Weibert am 3. August 1875. G B 3/2. S. 20of.; Keller an Adolf Exner am 1 7 . August 1875. G B 2. S. 243ff.; Keller an Wilhelm Petersen am 4. Juni 1876. G B 3/1. S. 349f.; Keller an Ida Freiligrath am 19. Januar 1878. G B 2. 348f. In diesem Sinne schreibt Keller an Marie Frisch am 2 1 . November 1880. G B 2. S. 274. Vgl. Dominik Müller: Wiederlesen und Weiterschreiben. Gottfried Kellers Neugestaltung des »Grünen Heinrich< mit einer Synopse der beiden Fassungen. Bern, Frankfurt 1988. S. X I X ; Walter Morgenthaler: Bedrängte Positivität. Zu Romanen von Immermann, Keller, Fontane. Bonn 1979. S. 150. Diese Lektürepraxis geht mit einer bedenklichen Editionspraxis einher, die z.B. die zweite Fassung nur »vom Ende der Jugendgeschichte [der ersten Fassung] an« vorlegt. Vgl. Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. 3 Bde. Hrsg. von Clemens Heselhaus. München 1958. Bd. 1. Vgl. Müller: Wiederlesen und Weiterschreiben. S. X V I I . Müller stellt fest, daß »der Altersfassung die Konfrontation mit der Urfassung eingeschrieben ist« (XV); vgl. Morgenthaler: Bedrängte Positivität. S. 150. Einen unverzichtbaren Beitrag für einen solchen noch ausstehenden Vergleich der beiden Romanfassungen liefert Müllers kommentierte Synopse der beiden Fassungen vom Ende der Jugendgeschichte an. Sie ergänzt die Synopsen der Jugendgeschichte von Heselhaus (1979) und Sautermeister (1980). Ein Forschungsbericht zum Vergleich der beiden Romanschlüsse findet sich bei Müller: Wiederlesen und Weiterschreiben. S. 63 — 73. Morgenthaler: Bedrängte Positivität. S. 150. Vgl. Müller: Wiederlesen und Weiterschreiben. S. XV.

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Worin manifestiert sich nun unter formalen Gesichtspunkten der Unterschied zwischen Erst- und Zweitfassung des >Grünen Heinrich