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German Pages [329] Year 2014
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Giovanni Maio (Hg.) Altwerden ohne alt zu sein?
VERLAG KARL ALBER
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Die moderne Medizin ist längst nicht mehr nur Heilkunst, sondern immer mehr zugleich auch wunscherfüllender Dienstleistungsmarkt. Sinnbild für diesen Identitätswandel ist die so genannte »Anti-AgingMedizin«, die die Sehnsüchte vieler Menschen nach der ewigen Jugend bedient und kommerziell ausnutzt. Je mehr sich solche Angebote vom Kernanliegen der Medizin, Krankheiten zu verhindern oder zu behandeln entfernt, desto mehr werfen sie grundlegend anthropologische Fragen auf: Welche Bedeutung hat das Alter für das Menschsein? Wie könnte man ein anthropologisch fundiertes Konzept des guten Alterns formulieren? Was bedeutet es, wenn weite Teile der modernen Medizin das Konzept des guten Alterns auf die Kriterien der Fitness und Leistungsfähigkeit reduzieren? Welche anthropologischen Vorverständnisse verbergen sich hinter solchen Anti-Aging-Angeboten?
Der Herausgeber: Giovanni Maio ist Arzt und Philosoph und Professor für Bioethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er ist geschäftsführender Direktor des Interdisziplinären Ethik-Zentrums Freiburg und Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin. Sein Arbeitsschwerpunkt sind anthropologische Grundfragen der Bioethik.
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Giovanni Maio (Hg.)
Altwerden ohne alt zu sein? Ethische Grenzen der Anti-Aging-Medizin
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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2. Auflage 2012 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise Föhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48434-0
(Print)
ISBN 978-3-495-86009-0 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Inhalt
Vorwort
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Giovanni Maio Vom Sinn des Alters Reflexionen zum Alter jenseits des Fitnessimperativs
9
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Peter Gross Altersakzeptanz versus Jugendwahn Dimensionen der Selbstoptimierung . . . . . . . . . . . . . .
21
Tobias Eichinger, Claudia Bozzaro Die bioethische Debatte um Anti-Aging als Lebensverlängerung Bezugspunkte und Argumentationsmuster . . . . . . . . . . .
34
I.
Anti-Aging und die Rolle der Medizin
Holger Gothe, Philipp Storz, Agata Daroszewska, Bertram Häussler Innovationen in der Anti-Aging-Medizin Eine Analyse des Angebots, der Versorgungssituation und zukünftiger Entwicklungen an drei ausgewählten Beispielen . .
73
Hermann Wolfgang Heiß Anti-Aging-Medizin und Geriatrie im Widerstreit für ein gutes Altern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
Dorothée Nashan Jung aussehen als legitimer Wunsch an die Medizin? Dermatologie und Anti-Aging-Medizin . . . . . . . . . . . .
110 5
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Inhalt
Tobias Eichinger Anti-Aging als Medizin? Altersvermeidung zwischen Therapie, Prävention und Wunscherfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
118
II. Sozialrechtliche und gerechtigkeitsethische Probleme der Anti-Aging-Medizin Wolfgang Mazal Sozialrechtliche Entscheidungspraxis bei wunscherfüllender Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
Mark Schweda, Beate Herrmann, Georg Marckmann Anti-Aging-Medizin in der Gesetzlichen Krankenversicherung? Sozialrechtliche Entscheidungspraxis und gerechtigkeitsethische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
172
Hans-Jörg Ehni, Georg Marckmann Gerechter Zugang zu »altersmedizinischen Innovationen« Medizinische Eingriffe in den biologischen Alterungsprozess als möglicher Bestandteil einer gerechten Gesundheitsversorgung .
194
III. Maßstäbe für gutes Altern jenseits von Jugend und Fitness Claudia Bozzaro Der Traum ewiger Jugend Anti-Aging-Medizin als Verdrängungsstrategie eines Leidens an der verrinnenden Zeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
Heinz Rüegger Anti-Aging und Menschenwürde Zu einer Lebenskunst des Alterns jenseits von Leistung und Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249
6 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Inhalt
Eva Birkenstock Altern jenseits von Selbstüberhöhung und Selbsthass Was die Anti-Aging-Mode übersieht . . . . . . . . . . . . . .
273
Dietrich von Engelhardt Altern und Alter im Medium der Literatur und Künste . . . . . .
299
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
325
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Vorwort
Dies Buch ist das Resultat einer dreijährigen interdisziplinären Auseinandersetzung mit der Anti-Aging-Medizin als Teil eines Trends in der Medizin, der unter dem Schlagwort der »wunscherfüllenden Medizin« eine breite ethische Diskussion entfacht hat. Was ist die Aufgabe der Medizin? Hat sie den Auftrag, Krankheiten zu heilen und Gesundheit zu fördern, oder kann sie ihre Methode auch für Ziele einsetzen, die damit weniger zu tun haben? Mittlerweile ist die Medizin ein Dienstleistungsbetrieb, der gegen Geld eine immer größer werdende Palette an Optimierungsmitteln und Wunsch-Leistungen anbietet. Die AntiAging-Medizin, sofern man sie überhaupt als Medizin bezeichnen möchte, ist ein paradigmatischer Ausdruck dieser neuen Ausrichtung der Medizin in Richtung Wunscherfüllung und Enhancement. Das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der AlbertLudwigs-Universität Freiburg hat zu diesem Themenkomplex Alter, Medizin und Anti-Aging-Medizin ein Verbundprojekt auf den Weg gebracht, das vom Bundesforschungsministerium für Bildung und Forschung finanziert worden ist und an dem sowohl verschiedene Kliniken der Universitätsklinik Freiburg als auch als Mitantragsteller drei weitere Institutionen in Freiburg, Tübingen und Berlin mitgewirkt haben. Die beteiligten Kliniken in Freiburg waren die Universitätshautklinik (Frau Prof. Dr. Leena Bruckner-Tuderman), das Zentrum für Geriatrie und Gerontologie (Prof. Dr. Wolfgang Heiß und Prof. Dr. Michael Hüll) und die Klinik für Endokrinologie und Reproduktionsmedizin (Prof. Dr. Hans-Peter Zahradnik). Ohne den Austausch mit diesen Kliniken und ohne die vielfältigen Anregungen der beteiligten Klinikerinnen und Kliniker hätte das Projekt nicht realisiert werden können. Daher sei an dieser Stelle den kooperierenden KollegInnen herzlichst gedankt. Als Mitantragsteller für dieses Konsortium fungierten das Philosophische Seminar der Universität Freiburg, in der Person von Frau 9 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Vorwort
Prof. Lore Hühn (Professur für Philosophie mit Schwerpunkt Ethik), das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen, in der Person von Prof. Georg Marckmann (mittlerweile München) und das IGES-Institut in Berlin, in der Person von Dr. Holger Gothe (mittlerweile Hall/Tirol). Für den sehr konstruktiven Austausch mit diesen beteiligten Institutionen sei ein herzlicher Dank ausgesprochen. Die Art und Weise, wie die zahlreichen Projektsitzungen abgehalten wurden, und der so rege und für alle Beteiligten gewinnbringende Austausch unter den verschiedenen Disziplinen kann als Idealform interdisziplinären Arbeitens gelten. Möge sich diese ideale Kommunikations- und Austauschform auch in der Güte des Buches niederschlagen. Am Ende sei dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für die Begutachtung und finanzielle Unterstützung dieses Verbundprojektes herzlich gedankt. Für die wertvolle und unverzichtbare Hilfe von Raphael Rauh und Peter Steinkamp bei der Fertigstellung des Manuskripts gebührt großer Dank. Ein besonderer Dank geht an Tobias Eichinger, der nicht nur das Gesamtprojekt souverän koordiniert, sondern entscheidend an der Fertigstellung des Buches mitgewirkt hat. Freiburg, März 2011
Giovanni Maio
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Vom Sinn des Alters Reflexionen zum Alter jenseits des Fitnessimperativs Giovanni Maio
»Älter werden – kein Problem. Nachzulassen kommt für mich nicht in Frage!« 1 – Dieser Werbeslogan für eine Hautcreme mag in eindrücklicher Weise verdeutlichen, in welcher Einstellung zum Alter weite Teile der heutigen Gesellschaft leben. Die implizite Botschaft dieses Slogans besteht darin, dass ein gutes Altern nur das sein kann, das die Signaturen des Altseins, nämlich das Nachlassen, nicht zulässt. Mehr noch: Wenn das Nachlassen im Alter doch eintritt, so liegt es an einem selbst, ist dies Resultat der eigenen Versäumnisse. Diese Werbung möchte zum Ausdruck bringen, dass das Alter in der eigenen Hand liegt und dass man wohl beraten ist, früh genug das Alter in die Hand zu nehmen. Das Alter früh genug in die eigene Hand zu nehmen, um das Alter selbst zu vermeiden. Das ist letztlich die paradoxe Botschaft dieses Slogans und zugleich das Bestreben weiter Teile der Gesellschaft. Das Alter soll vermieden werden. Es soll nicht bewältigt oder gemeistert oder gefüllt, sondern vermieden werden. Es soll vermieden werden, weil das Alter letzten Endes an den Tod erinnert, weil es Vorbote des Sterbenmüssens ist. Wenn das Credo unserer Zeit die Verhinderung des Alters als implizites Ziel formuliert, so steckt dahinter die radikale Abwehr der Zeitlichkeit des Seins. Zugleich versteckt sich dahinter eine tiefe Abwehr jeglicher Abhängigkeitsverhältnisse, und nichts anderes ist mit dem »Nachlassen« in dem Werbeslogan gemeint. Die heutige Zeit möchte nicht nur ein gesundes Altern, sie möchte im Grunde gar kein Altern, sondern ein »Einfrieren« des jungen Menschen bis ins hohe Alter und bis kurz vor dem Ablebenmüssen. Diese Denkweise kommt nirgendwo deutlicher zum Ausdruck als in dem gegenwärtigen Boom der Anti-Aging-Medizin 2 . Schon der Ausdruck des
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Zitiert in Klie (2009), S. 176. Maio (2006).
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Giovanni Maio
Anti-Aging bringt diese altersverneinende Grundeinstellung plakativ zum Ausdruck. Das Leben besteht in Zyklen. Die Zyklenhaftigkeit des Lebens ist es erst, die den Menschen vor die Aufgabe stellt, sein Leben zu planen, Sorge für sein Leben zu tragen. Die Besonderheit des Alters lässt sich nur verstehen vor dem Hintergrund der Zyklenhaftigkeit des Lebens; das Alter ist eben nur zu begreifen in Relation zu den anderen Phasen des Lebens. Das gesamte Leben ließe sich in dieser Konzeption begreifen als ein Prozess der Wandlung »vom tätigen zum betrachtenden Leben« 3 . Der vorangestellte Werbeslogan verneint genau diese Phasenhaftigkeit des Lebens, er negiert die antike Auffassung, dass jedes Lebensalter sein Charakteristikum und seinen Sinn hat, und erklärt stattdessen das mittlere (aktive und tätige) Lebensalter zum Modell für das ganze Leben. Dass diese Hochstilisierung der mittleren Lebensphase als Modellphase für das gesamte Leben problematisch sein kann, wird erst deutlich, wenn wir uns über den Sinn und Eigenwert des Alters näher Gedanken machen. Worin liegt der Sinn des Altseins?
1.
Alter als unbestechlich-klarer Blick auf die Wirklichkeit
Seit der Antike wurde es als besonderer Vorzug des Alters gesehen, dass der Mensch in dieser Lebensphase weniger von seinen Begierden und Leidenschaften abhängig sei und ihm dadurch ein klarerer Blick auf die Wirklichkeit ermöglicht würde. 4 Georg Scherer hat in Anlehnung an Goethe diesen Vorzug des Alters in der Möglichkeit gesehen, »eine Ruhe des Geistes zu finden, welche Gelingen und Scheitern, Zufall und Vernunft des menschlichen Lebens übersteigt« 5 . Diese Ruhe des Geistes wird möglich, sobald das Materiell-Körperliche nicht mehr so im Mittelpunkt steht. Manche Autoren sprechen dem Alter eine Affinität zum Geistigen, ja zum Spirituellen zu. 6 So hat Romano Guardini dafür plädiert, den Eigenwert des Altseins nicht in der Dynamis, sondern im »Durchsichtigwerden für den Sinn« zu sehen. 7 Durch die
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Blättner (1957), S. 15. Siehe dazu näher Scherer (1994), S. 114 ff. Ebd., S. 121 f. Siehe z. B. Kanowski (2005). Guardini (1957).
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Vom Sinn des Alters
Abnahme der Aktivitätsmomente im Alter und durch die Vergegenwärtigung der Bedingtheit allen Seins und allen Könnens erhält der Mensch die Chance, das Wichtige vom Unwichtigen, das wirklich Tragende vom vermeintlich Tragenden zu unterscheiden. Odo Marquard spricht vom Alter als Phase der Theoriefähigkeit und meint damit die Befähigung, ohne Illusionen zu sehen und zu sagen, wie es ist. 8 Diesen klaren Blick des Alters führt Marquard vor allem darauf zurück, dass der alte Mensch keine große Zukunft hat und dadurch weniger anfällig ist für Illusionen: »Wer nichts mehr will, gewinnt – kompensatorisch – die Fähigkeit, viel zu sehen.« 9 Es ist also die fehlende Zukunft, die den alten Menschen davor bewahrt, sich durch seine Wünsche und Sehnsüchte sozusagen blenden zu lassen. Gerade weil der alte Mensch sich nicht konform zeigen muss mit einer Zukunft, die er nicht mehr hat, erhält er die Chance, die Dinge zu sehen, wie sie sind und dadurch eben theoriefähig zu werden, denn die Theorie sei, so Marquard, »das, was man macht, wenn nichts mehr zu machen ist« 10 .
2.
Alter als Radikalisierung der Grundbedingungen des Menschseins
Der Dresdner Philosoph Thomas Rentsch geht noch einen Schritt weiter und schreibt dem Alter nicht nur einen klareren Blick auf die Dinge zu, sondern sieht im Alter eine Auszeichnung, die darin besteht, dass das Alter die Grundbedingungen des Menschseins radikalisiert und damit dem Menschen wesentliche Einsichten mitgibt, wie seine grundsätzliche Verletzlichkeit, Leidbedrohtheit und Schutzlosigkeit. 11 Thomas Rentsch macht darauf aufmerksam, dass über diese akzentuierten Manifestationen der Grundbedingungen des Menschseins der Mensch erst befähigt wird, die grundsätzlich begrenzten Möglichkeiten, die das Leben als Mensch mit sich bringt, zu realisieren und somit zu etwas zu gelangen, was die Antike als Altersweisheit bezeichnet hat. Auf diese Weise wird das, was viele Menschen als schmerzhaft empfinden, nämMarquard (2000). Ebd., S. 137. 10 Ebd., S. 137. 11 Rentsch (1997), S. 97. 8 9
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Giovanni Maio
lich die Vergegenwärtigung der Endlichkeit ihres Seins, in der Weise zum Positiven gewendet, dass der Mensch über diese Erfahrung zu Einsichten gelangt, die dem jugendlichen Alter tendenziell eher versperrt bleiben. Über diese Vergegenwärtigung und im Bewusstsein der Endgültigkeit, mit der das Leben sich im Alter definitiv abrundet, bekäme, so Rentsch, der Mensch die Chance verliehen, »das menschlich Wichtige vom vielen Unwichtigen in einem klärenden Rückblick dauernd zu unterscheiden.«12 Dieser klärende Rückblick wird eben dadurch ermöglicht, dass der Mensch im Altsein realisieren kann, wie sehr die Endlichkeit des Menschen überhaupt erst Sinn ermöglicht und wie sehr die Erfahrung der Begrenztheit überhaupt eine Grundbedingung für das Gefühl der Erfüllung darstellt.
3.
Alter als Lernmodell für die Gesellschaft
Der Theologe Hans-Martin Rieger geht noch einen Schritt weiter und sieht im Alter gerade angesichts seiner Radikalisierung der Grundbedingungen des Menschseins eine notwendige »Signalfunktion für die Gesamtgesellschaft, die ihrerseits in Versuchung steht, Angewiesenheit ins Reservat des vierten Alters zu verbannen« 13 . Das Alter ist eine wichtige Lebensphase, nicht nur des betroffenen Menschen, sondern für die gesamte Gesellschaft, weil über die Konfrontation mit dem Altwerden die Gesellschaft selbst daran erinnert wird, dass nicht die Unabhängigkeit, sondern die Angewiesenheit eine Grundsignatur des Menschen darstellt, die der Mensch als Mensch nicht abstreifen kann. 14 Für Rieger kann dem Altern »ein desillusionierender und antifiktionaler Charakter zugesprochen werden, welcher dazu auffordert, alles Gestalterische und alles Produktive zu ›erden‹ – zurückzubinden an eine Anerkennung menschlicher Angewiesenheit« 15 . Das Alter lässt sich also als eine Rückerinnerung betrachten, als eine Rückerinnerung an das, was den Menschen ausmacht, als eine Rückerinnerung, die der Mensch braucht, um nicht der Illusion der absoluten Machbarkeit zu verfallen. Das Alter als Lebensphase des Umgangs mit Begrenzungen 12 13 14 15
Ebd., S. 101. Rieger (2008), S. 77. Siehe hierzu näher Maio (2007). Rieger (2008), S. 78.
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Vom Sinn des Alters
und Verlusten kann auf diese Weise eine stete »Anamnese« für eine Gesellschaft sein, die der stetigen Erinnerung bedarf, dass der Mensch nur in einem »konstruktiven Umgang mit Angewiesenheitsverhältnissen« 16 gut leben kann. Das Altsein wäre dann so etwas wie ein Präsenthalten der Begrenztheit und somit ein »Lernmodell für die Gesellschaft« 17 . Gerade dieser Aspekt macht deutlich, wie enggeführt die Perspektive ist, die das Alter nur als die Lebensphase betrachtet, für die die Gesellschaft etwas tun muss. Man kann im Hinblick auf diesen Modellcharakter des Alters auch davon sprechen, dass das Alter nicht nur etwas braucht, sondern vor allen Dingen eben etwas gibt. Das Alter gibt wertvolle Einsichten, es gibt eine Tiefe, die den anderen Lebensaltern eher versperrt bleibt. Der Mainzer Theologe Christian Mulia hat kürzlich dafür votiert, das Alter als eine Bildungsaufgabe zu betrachten, als eine Lebensphase, in der ein »konstruktiver Umgang mit den eigenen Grenzen« 18 gezeigt und vorgelebt werden kann.
4.
Alter als Geschenk
Der Theologe und Caritaswissenschaftler Heinrich Pompey weist zu Recht darauf hin, dass nach der biblischen Tradition das hohe Alter als besondere Gnade betrachtet wurde. 19 Das Erreichen eines hohen Alters ist demgemäß nicht die Last des Nicht-mehr-Könnens, sondern grundsätzlich und zunächst einmal ein Geschenk. Dies ist auch eine Grundaussage von Romano Guardini, der zu Recht betont: »Denn auch das Alter ist Leben. Es bedeutet nicht nur das Ausrinnen einer Quelle, der nichts mehr nachströmt; oder das Erschlaffen einer Form, die vorher stark und gespannt war; sondern es ist selbst Leben, von eigener Art und eigenem Wert.« 20 In eine ähnliche Richtung geht auch die Leipziger Theologin Gunda Schneider-Flume, wenn sie betont: »Alter ist Schicksal mit vielen Beschwerlichkeiten und dennoch zugleich Gnade, Leben, das sich als Geschenk ohne Bedingungen, als Leben-Dürfen erschließen kann.« 21 16 17 18 19 20 21
Ebd., S. 95. Ebd., S. 103. Mulia (2009). Pompey (1998). Guardini (1957), S. 108. Schneider-Flume (2008), S. 11.
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Giovanni Maio
5.
Alter als Vollwerden des Lebens
Je mehr die Leitkategorie der Jugendlichkeit gepriesen wird – und das ist eben das Grundproblem der Anti-Aging-Medizin –, desto mehr tritt das Alter lediglich als das Defiziente in Erscheinung und ins Bewusstsein. Das Alter als das Nicht-mehr. Je mehr man aber das Alter als das Nicht-mehr betrachtet, desto mehr wird der Blick verstellt auf die viel tiefere Wahrheit, die darin besteht, dass ohne das Alter das Leben nicht rund werden kann. Damit soll nicht eine Bagatellisierung der Beschwernisse des Nicht-mehr-Könnens vorgenommen werden – im Gegenteil. Diese Beschwernisse sind nicht zu leugnen, und sie sind – wie auch schon die Antike wusste – schwer zu ertragen. Aber dieses Ertragen wird eben nicht durch die Aufwartung von Anti-Aging-Medizin leichter. Je mehr die Medizin das Alter als zu Bekämpfendes bezeichnet (Anti-Aging), desto schwerer wird das Alter. Denken wir an den Slogan am Anfang, dessen Botschaft doch darin besteht: Wenn ich mich nur anstrenge und viel dafür tue (oder viel dafür kaufe), dann kann ich das Nachlassen vermeiden. Eine solche Botschaft nährt die Illusionierung und sie nährt das bornierte Festhalten an dem Können-Müssen. Sie verstetigt die Abhängigkeit von den Produkten der Gesundheitsindustrie und sie verschließt den Menschen vor der Einsicht, dass das Nachlassen zum Leben, zu einem runden Leben dazugehört. Fremd ist in dieser Doktrin die Vorstellung, dass das Leben sich mit dem Alter erst abrundet, damit erst voll wird. Dies hat wiederum Romano Guardini treffend auf den Punkt gebracht, indem er sagte: »Es gibt ein falsches und ein richtiges Sterben; das bloße Ausrinnen und Zugrundegehen – aber auch das Fertig- und Vollwerden, die letzte Verwirklichung der Daseinsgestalt. Wenn das vom Tode gilt, dann umso mehr vom Altern.« 22 Daraus leitet Guardini die Forderung ab, »dass unser Bild vom Dasein die Phase des Alters als Wertelemente enthalte und damit der Bogen des Lebens voll werde, nicht aber sich in ein Fragment hineinbeschränke und den Rest als Abfall ansehe.« 23 In eine ähnliche, wenn auch betont anti-theologische Richtung geht auch Thomas Rentsch, wenn er das Alter als das »Endgültigwerden des Lebens« bezeichnet und darin die Chance eines »Werdens zu sich selbst« sieht. 24 22 23 24
Guardini (1957), S. 108. Ebd., S. 111. Rentsch (1997), S. 283.
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Vom Sinn des Alters
Heinz Ruegger hat es treffend auf den Punkt gebracht, als er schrieb: »Menschliches Leben ist aber wesensmäßig alterndes Leben. Auch wenn der lebenslange Alternsprozess über große Plastizität verfügt, bleibt er ein Alternsprozess, der in seinen Chancen und seinen Defiziten zu würdigen ist, wenn menschliches Leben human bleiben und sich reifend erfüllen soll.« 25 Zur Menschwerdung, zur Reifung des Menschen, ja zur Erfüllung des Menschen gehört letzten Endes die Anerkenntnis, dass das gesamte Leben ein Teil dieses Alterns ist. Je mehr die Anti-Aging-Medizin, wie dies in dem anfangs aufgeführten Slogan verdeutlicht wurde, das Ideal eines alterslosen Lebens propagiert, desto mehr leitet sie in die Irre und unterminiert die grundsätzliche Befähigung des Menschen, sich dem Alter nicht nur in einer Grundhaltung des Abwehrens, sondern in der zielführenderen Grundhaltung der Annahme des Alters als Annahme seiner selbst zu nähern.
6.
Abschließend: Anti-Aging als problematische Antwort auf das Alter
Mit den letzten Punkten kommen wir zur Kernkritik des Anti-Aging als sichtbar gewordenem Ausdruck einer Pejorisierung des Alters und einer Glorifizierung der Leistungsfähigkeit und Jugendlichkeit. Das Problem des Anti-Aging liegt ja nicht so sehr darin, dass Mittel entwickelt werden, mit denen man unter Umständen bestimmte Beschwerlichkeiten des Alters lindern könnte. Das ist doch vielmehr zu begrüßen. Das Grundproblem des Anti-Aging liegt im dahinter sich nur maskiert verbergenden Konzept des guten Alterns. Anti-Aging suggeriert – wie unser Slogan am Anfang schön gezeigt hat –, dass ein gutes Altern nur ein fittes Altern sein kann. Damit wird ein Fitsein-Müssen zum Ausdruck gebracht und zugleich signalisiert, dass das Altsein ab dem Moment, da es nicht in Fitness gelebt werden kann, in sich keinen Wert mehr habe. Die Bedenklichkeit von Anti-Aging liegt daher vor allen Dingen in der altersfeindlichen Botschaft, die viele Menschen, die in Krankheit, mit Gebrechen und Behinderungen im Altsein leben, gerade deswegen in die Isolation, ja gar in die Verzweiflung drängt, weil sie nach dieser Anti-Aging-Konzeption im Grunde
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Ruegger (2007), S. 154.
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Giovanni Maio
alle Möglichkeiten verspielt hätten, überhaupt ein gutes Leben zu führen. 26 Die Problematik des Anti-Aging-Trends liegt gerade darin, dass in der Glorifizierung des Jungseinmüssens die Sensibilität für den Wert des Altseins unterminiert wird. Dies fängt schon mit dem Ansatz an, den alternden Menschen durch die verschiedensten Methoden ein jüngeres Aussehen zu verpassen. Dies muss nun zwar jeder für sich entscheiden, aber problematisch ist doch die unterschwellige Gleichsetzung von Jugendlichkeit und Schönheit. Wir sind es weitestgehend gewohnt, Schönheit in dieser Konnotation zu deuten, und merken gar nicht, wie verschränkt unser Blick dabei von vornherein ist. Es liegt an den Verschränkungen des Blicks als Ausdruck der Verschränkungen des Denkens, die dem modernen Menschen den annehmenden Zugang auf das Alter verunmöglichen. Würde man statt der Abwehr des Alters eine Haltung der Annahme des Alters einnehmen, würde man unweigerlich offen werden für die Einsicht, dass nicht nur die Jugend, sondern jedes Alter mit dem Attribut der Schönheit versehen werden kann. 27 Die Schönheit des Alters, sie wird sich eben nur dem offenbaren, der sich dem Alter nicht mittels Anti-Aging-Cremes verschließt, sondern der es zunächst als Teil seiner selbst annimmt, zulässt und auf sich wirken lässt. Nach diesem Zulassen kann die Creme vielleicht helfen, aber das Zulassen ist eben eine Grundbedingung dafür, das Alter nicht nur zu bewältigen, sondern auch die Potentiale des Altseins neu zu entdecken. Es sind eben Potentiale, die weniger mit den gängigen Qualifikationsmerkmalen einer auf Jugendlichkeit orientierten Leistungsgesellschaft zu tun haben. Aber es sind Potentiale, die jede Lebensphase auf ihre Weise in sich trägt und die keinem Sein abgesprochen werden können. 28 Der moderne Mensch betrachtet das Alter lediglich unter der Perspektive der »wachsenden Schatten des untergehenden Lichts« 29 . Die Einengung des modernen Blicks auf die Schatten kommt einer Verblendung gleich, weil auf diese Weise der moderne Mensch sozusagen blind geworden ist für das Licht, das im Altsein immer noch leuchtet, leuchtet auf seine eigene Weise.
26 27 28 29
Siehe dazu Maio (2007). Siehe dazu näher Kern (2009), S. 98. Siehe Maio, G. (2011, im Druck). Dürckheim (1965), S. 14.
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Vom Sinn des Alters
Literatur Blättner, F. (1957): Vom Sinn des Alters. Kiel Dürckheim, K. v. (1965): Der Sinn des Alters – Gereifte Menschlichkeit. In: Mendelssohn Bartholdy, E. (Hg.): Souverän altern. Psychologie des Alterns und des Alters. Zürich, S. 13–23 Guardini, R. (1957): Vom Altwerden. In: Arzt und Christ 3, S. 133–137 Kanowski, S. (2005): Alter: Kult oder Kultur. In: Bäurle, P. et al. (Hg.): Spiritualität und Kreativität in der Psychotherapie mit älteren Menschen. Bern, S. 89–99 Kern, U. (2009): Der Mensch bleibt Mensch. Anthropologische Grunddaten des alten Menschen. In: Kumlehn, M./Klie, T. (Hg.): Aging – Anti-Aging – ProAging. Altersdiskurse in theologischer Deutung. Stuttgart, S. 56–102 Klie, T. (2009): Die Grauen als Bild und Vorstellung. Wenn Verheißung auf alt macht. In: Kumlehn, M./Klie, T. (Hg.): Aging – Anti-Aging – Pro-Aging. Altersdiskurse in theologischer Deutung. Stuttgart, S. 176–188 Maio, G. (2006): Die Präferenzorientierung der modernen Medizin als ethisches Problem. Ein Aufriss, am Beispiel der Anti-Aging-Medizin. In: Zeitschrift für Medizinische Ethik 52, S. 339–354 – (2007): Medizin im Umbruch. Ethisch-anthropologische Grundfragen zu den Paradigmen der modernen Medizin. In: Zeitschrift für Medizinische Ethik 53, S. 229–254 – (2011, im Druck): Mittelpunkt Mensch. Ethik in der Medizin – Eine Einführung. Stuttgart Marquard, O. (2000): Theoriefähigkeit des Alters. In: Ders.: Philosophie des Stattdessen. Ditzingen, S. 135–139 Mulia, C. (2009): Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische und theologische Anthropologie im Angesicht des Alters. In: Kumlehn, M./Klie, T. (Hrsg.): Aging – Anti-Aging – Pro-Aging. Altersdiskurse in theologischer Deutung. Stuttgart, S. 103–127 Pompey, H. (1998): Die »Wirk«-lichkeit des Glaubens bei der Bewältigung des Alters. In: Götzelmann, A. (Hg.): Diakonie der Versöhnung: ethische Reflexion und soziale Arbeit in ökumenischer Verantwortung. Stuttgart, S. 348–364 Rentsch, T. (1997): Altern als Weg zu sich selbst. In: Blonski, H. (Hg.): Ethik in Gerontologie und Altenpflege. Hagen, S. 93–104 Rieger, H. (2008): Altern anerkennen und gestalten. Ein Beitrag zu einer gerontologischen Ethik. Leipzig Ruegger, H. (2007): Altern im Spannungsfeld von »Anti-Aging« und »Successful Aging«. Zürich Scherer, G. (1994): Grundphänomene menschlichen Daseins im Spiegel der Philosophie. Düsseldorf Schneider-Flume, G. (2008): Alter – Schicksal oder Gnade? Göttingen
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Altersakzeptanz versus Jugendwahn Dimensionen der Selbstoptimierung Peter Gross
I. Nie in der bisherigen Geschichte konnten so viele Menschen so gut alt werden wie heute. Dank gesunder Lebensführung, großartiger medizinischer Versorgung und einer allgemeinen Hebung des Lebensstandards sind in den letzten hundert Jahren fast drei Jahrzehnte an Lebenserwartung gewonnen worden. Erstmals in der Geschichte können die Menschen des westlichen Kulturkreises damit rechnen, alt und noch älter zu werden. Die moderne Gesellschaft hat mit den »gewonnenen Jahren« 1 einen Rohling aus sich herausgetrieben, der noch weitgehend unbearbeitet seiner Beschriftung harrt. Insofern ist nicht nur das Hochbetagtendasein (das »vierte« Alter), sondern auch der neu entstandene »dritte« Lebensabschnitt, das »dritte« Alter, das sich nun zwischen Erwachsensein und Hochbetagtendasein schiebt, eine nachhaltige Herausforderung und dementsprechend ist die Nutzung dieses Potentials durch die Erwerbswirtschaft und die politische Repräsentation der neuen Alten, der »Best Agers«, wie sie auch gerne genannt werden, Gegenstand umfangreicher öffentlicher und wissenschaftlicher Debatten. Weniger gilt dies für die private Lebensführung. Diese ist, da neu und unerprobt, pröbelnd und experimentierend. Der altersbedingte Individualisierungsschub, in dem die überkommenen Muster der erwerbswirtschaftlichen Regulierung des Lebens und des Miteinanders wegfallen, verlangt neue Anstrengungen und neue Kompetenzen. Trotz einem ständig wachsenden Angebot an Leistungen, von den Vorsorgeprodukten der Banken und Versicherungen bis zu medizinischen Therapien und philosophischen oder theologischen Sinnangeboten, ist die persönliche Lebensführung von Unsicherheiten geprägt und ist das 1
Imhof (1981).
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private Tun und Lassen mit vielen Fragezeichen versehen. Das sich immer weiter öffnende Feld entsprechender medizinischer AntiAging-Therapien ist beispielhaft für ein durch die Medien unterstütztes Suchen und Experimentieren. Wer den Begriff »Anti-Aging-Medizin« in eine Suchmaschine eingibt, erhält Millionen von Treffern. Und wer entsprechende Literatur sucht, findet bei Amazon fast tausend Bücher zum Suchbegriff »Anti-Aging-Medizin«. Der heimliche Lehrplan all dieser Aktivitäten, vom Face-Lifting bis zum Hirndoping, von Botox bis zur genetischen Gegensteuerung, ist, wie es der Sammelbegriff »Anti« impliziert, eine Anti-Aging-Vorstellung. Altern wird als defizienter Modus des Seins angesehen, pathologisiert. Alt werden wollen alle, wie es so schön heißt, aber nicht alt sein. Jungbleiben und jung sein, mit anderen Worten die Abwehr und Korrektur und nicht seine Akzeptanz und Hinnahme, nicht ein »Pro-Aging« stehen im Vordergrund. Der Rohling, den die moderne Gesellschaft als neues drittes Alter aus sich herausgetrieben hat, will wie zum Verschwinden gebracht, der Alterungsprozess bekämpft werden. Das dritte Alter ist nicht ein staunenswerter neuer Trieb, sondern eine angstmachende und dementsprechend zu kaschierende und zu verbergende Wucherung. Entsprechend mirakulös sind die Maßnahmen und Therapien, die Vorschläge und Programme, die unter dem Titel »Anti-Aging«-Medizin angeboten werden. Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass es alles andere als einfach ist, zwischen altersrelevanten und nicht altersrelevanten Leistungen zu unterscheiden. Außerdem sind die medizinischen Anti-Aging-Therapien nicht immer deutlich trennbar von Therapien, die medizinisch indiziert sind. Wenn hier von Anti-AgingTherapien die Rede ist, so ist damit das Angebot an medizinischen Maßnahmen gemeint, das explizit zum Ziel hat, die Alterung zu verzögern oder zu stoppen, sei es, so typische Beispiele, durch Faltenbehandlungen oder Maßnahmen der plastischen Chirurgie, sei es durch Lippenaufspritzungen oder Fettabsaugungen. Insofern die entsprechenden Therapien und Angebote in den letzten Jahren in einem erstaunlichen Maße zunehmen und trotz allen Beschwörungen, das Altern zu akzeptieren und anzunehmen, die Behandlungszahlen Jahr für Jahr extrem wachsen, stellt sich die Frage, woher diese Anstrengungen, jung zu bleiben, rühren. Natürlich gibt es einen Eigenlauf der Forschung und Entwicklung! Und natürlich sind auch kommerzielle Interessen von Belang. Der Beweggrund ist aber, so 22 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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die Vermutung, in einem epochal neuen Mit- und Gegeneinander der Generationen zu sehen. Die künftige Entwicklung andererseits wird wesentlich durch die gesellschaftlich präjudizierte Lesart des Alterns und des Alters befeuert – und diese wird, so die zweite Vermutung, durch das massenhafte Altern in Zukunft erheblichen Veränderungen unterliegen.
II. Moderne Gesellschaften sind zwar bezüglich des generativen Miteinanders auch ein Glücksfall. Nie konnten in der bisherigen Geschichte so viele Generationen so friedlich nebeneinander leben. Unsere Gesellschaft bildet derart ein robustes Rückgrat aus. An die Stelle von kinderreichen »Niederstammfamilien« tritt die generationenreiche »Hochstammfamilie«. Die daraus resultierende fundamentale Veränderung der Generationenbeziehungen ist noch wenig bedacht. Das gilt auch für die Tatsache, dass die Altersgesellschaft spätestens ab dem achtzigsten Lebensjahr eine Frauengesellschaft ist. Dieses Zusammenleben von Generationen ist neu, eine Premiere. Es bewirkt auch eine neue Sicht des Alterns. Aber dieses Rückgrat hat eine noch wenig bedachte Schwachstelle, nicht nur das Hochbetagtendasein, sondern auch das neue »dritte« Alter. Immer hat der Mensch seinen eigenen Alterungsprozess beobachtet und gestaltet. Aber das neuartige generative Miteinander führt dazu, dass man auch ständig Umgang mit anderen und mehr Altersgruppen hat. In den Supermärkten und auf der Straße, in den Medien und in den Zügen sind nicht mehr Gleichaltrige, sondern Verschiedenaltrige zusammen und zwar nicht mehr nur zwei, sondern häufig drei und nicht selten vier Generationen. Daraus nun wiederum resultiert eine manchmal friedliche, manchmal schiedliche Reibung und Konfrontation der Altersgruppen, ein sich Messen mit anderen Kohorten und Generationen. Neuartige intergenerative Kompetenzen werden jedem Lebensalter abverlangt. In der eigenen Altersgruppe, wenn es nur diese gäbe und wenn man sich nur in ihr bewegen würde, geschähe das Altern unmerklich. Es fehlten die Vergleiche. Und das Leben ließe sich fortführen wie immer. Diese Unmerklichkeit des eigenen Alters wird nun durchbrochen durch das unvermeidliche und überall offensichtliche Zusammenleben und Zusammensein mit anderen Generationen, 23 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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in der eigenen Familie, am Wohnort, in der Welt. Und zwar, wenn man nicht zu den Kleinkindern oder Hochbetagten gehört, mit Jüngeren und Älteren. Damit wird die Selbstaufmerksamkeit erhöht und die Selbstbeobachtung intensiver. Auch die Frage nach dem sich Geben und Einpassen in die Generationenfolge und jene nach einem guten Sterben. Die gewählte Optimierungsstrategie resultiert letztlich aus der Lesart, der Deutung des Alterungsprozesses. In einer Gesellschaft, in der der Jugendwahn grassiert, will der ältere Mensch sich anstrengen, die gesellschaftliche Wertigkeit der Jugend in seinem eigenen Verhalten zu bestätigen. Wenn darüber hinaus die Medizin immer neue Angebote bereitstellt, um den Alterungsprozess zu bekämpfen, wird davon auch Gebrauch gemacht. Die Skala entsprechender Optionen ist endlos und wird tagtäglich erweitert. Unterdessen sind es allein in Deutschland Hunderttausende von korrigierenden chirurgischen Eingriffen und Aberhunderttausende von nicht-chirurgischen AntiAging-Behandlungen. Dass von den Transhumanisten auch an der Abschaffung des Todes gearbeitet wird, mag dabei eine kuriose Nebenerscheinung sein. Dieses Altersbild macht das Altern zum Gegenstand von Optimierungsstrategien nach dem Maßstab jüngerer Jahre. Nur in einer Gesellschaft, in der der ältere Mensch nicht nur wegen seiner Weisheit, sondern auch in Bezug auf sein Sein und die unvermeidlichen Symptome des Älterwerdens als der Jugend gleichwertig gesehen wird, erübrigen sich die Verjüngungsanstrengungen. Die Explosion von Optimierungsstrategien nach dem Maßstab jüngerer Jahre findet zwar ihre Grenze in finanziellen Gegebenheiten und Möglichkeiten. Auch die Stadt-Land-Unterschiede sind, wie jeder Augenschein zeigt, beträchtlich. Was die Geschlechter-Unterschiede betrifft, befinden sich, will man den Verkaufs- und Operationsstatistiken glauben, die Männer in einer raschen Aufholbewegung. Von der Behandlung der Zornesfalte bis zur Brustverkleinerung nehmen die Behandlungen und Eingriffe stark zu. Die Phasenverschiebung zwischen Frauen und Männern mag mit der betrüblichen Einsicht der Männer zusammenhängen, dass sie weniger gut und weniger lang altern. Möglicherweise hat sich durch den Alterungsprozess der Gesellschaft das Selbstbild der Männer, das sich überkommenerweise weit weniger an Schönheitsidealen misst, verschlechtert. Und nicht immer ist die Anti-Aging-Strategie von der Pro-Age-Vorstellung trennbar. Nicht selten, etwa bei den Fitness- und Diätstrategien unternimmt 24 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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man ja etwas gegen das Altern, um gut zu altern! Wer bei den BestAgern selber nachfragt, stößt auf große Unsicherheiten und höchst differente Einschätzungen. Die medizinischen Hinweise sind häufig diffus und widersprechen sich. Lassen sich, aus gesellschaftswissenschaftlicher Sicht, Einschätzungen des künftigen Altersbildes vorausnehmen?
III. Wie immer die Anti-Aging-Medizin ausgreift, ist in Deutschland und in Europa eher ein Umdenken zu bemerken. Eine Revision des Bildes vom Alter als einem korrektur- und reparaturbedürftigen Zustand ist absehbar. Zumindest in der Selbstbeschreibung der Best-Agers im dritten Lebensabschnitt. Der massenhafte Alterungsprozess trägt entscheidend dazu bei. Das generative Miteinander wird überwölbt von der Zunahme der Vertreter des dritten Lebensalters. Die Jungen werden immer weniger und die Alten immer mehr. Noch wenig ist von ProAge-, Health-Age- oder Good-Age-Vorstellungen und Therapien zu hören. Der Begriff ist vom Konsumgütergigant »Unilever« mit der an sich verdienstvollen Produktelinie »Dove pro age« besetzt. Immer noch triumphiert die Defizit-Vorstellung vom Alter, wie immer die Altersforschung neue, den Eigenwert des dritten Lebensabschnittes herausstellende Überlegungen anstellt. Dass die nachlassende Gedächtniskraft kompensiert werden kann durch neue Erfahrungen, ja das Löschen von Erinnerungen Platz machen kann für Neues, dass die nachlassende Sexualität der Auftakt für neue Formen der Zuneigung sein kann, dass die vermehrt notwendig werdende Ruhe als Quelle stimulierender oder meditativer Erlebnisse fungiert, dass schließlich auch Alter schön sein kann und dass ein alterndes Gesicht bezaubernd sein kann, bleibt trotz massenhaftem Altern in einer merkwürdigen Weise unterbelichtet. Aber die Best-Agers sind die Konsummotoren nicht nur von morgen, sondern schon von heute. Darüber hinaus sind, allen verfügbaren Untersuchungen zufolge, die Menschen über 60 wesentlich glücklicher als Frauen und Männer zwischen 20 und 40 und wollen von den über 50-Jährigen nur wenige ihre Jugend wiederholen. 2 Insofern sich also die nicht mehr Jungen mehr und mehr unter 2
Quelle: Forsa (2008).
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nicht mehr ihresgleichen angesichts eines erst entstehenden vierten Alters, des Hochbetagtendaseins, vermehrt unter noch Älteren bewegen, ist anzunehmen, dass die »ewig jung und immer fit«-Vorstellung, die ja den Titel dieser Tagung abgibt, zunehmend verblasst. Auch an dieser Tagung sind wir, die Best-Agers, ja unter uns! Schließlich zeigt sich in der Gesellschaft insgesamt eine Tendenz zur Authentizität und Offenheit. Vor einem halben Jahrhundert noch hat der amerikanische Soziologe Erving Goffman ein kleines Büchlein mit dem Titel »Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität« verfasst. Darin beschreibt er die Praktiken von Stotterern oder mit körperlichen Gebresten unterschiedlicher Art geschlagener Personen, die absonderliche Techniken des Verbergens dieser Gebresten entwickeln. Heute müsste Goffman sein Buch umschreiben. Der Titel müsste lauten »Stigma. Techniken zum Demonstrieren und Darstellen beschädigter Identität«. Denn Zeigen und Authentischsein ist angesagt. Der Paradigmenwechsel hat unterdessen die medizinischen Abteilungen der Anti-Aging-Policy auch erreicht. Entsprechende Ratgeber warnen unterdessen vor dem »Haifischbecken Schönheitschirurgie«. 3 Aber endlos sind die neu beworbenen Techniken der Verjüngung oder der Konservierung. Sei es das Face-Lifting oder die Faltenunterspritzung, seien es Diät-Programme oder das Neuro-Doping, sei es die Hormon- oder die Testosterontherapie, sei es die ästhetische Chirurgie oder seien es die Nutzung der Converging Technologies, in denen Biound Nanotechnologien zur Erweiterung und Verbesserung der sensorischen, motorischen und kognitiven Fähigkeiten integriert werden. Auch die Prüfindustrie versagt angesichts der schieren Menge. Das biologische Alter soll selbst bestimmt, die Altersuhr zurückgestellt werden können. Die Ratgeberliteratur schwillt im gleichen Maße an wie die operative und praktische Seite des Anti-Aging. Amazon weist allein 750 deutschsprachige Titel aus, die sich mit dem Thema AntiAging in einer für den Eigengebrauch aufbereiteten Form befassen.
IV. Wie immer noch Jugendlichkeit gegenüber dem mittleren Alter und der nicht mehr ganz faltenfreien Haut triumphiert, die persönliche 3
Mang (2009).
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Akkomodation und Einpassung hat noch anderes zu bedenken. Genau besehen ist die gesellschaftliche und die persönlich-biographische Integration des dritten Lebensalters ja ein zweiseitiger Prozess. Er muss gleichermaßen von jenen geleistet werden, die den dritten Lebensabschnitt erleben oder erleiden, und von jenen, die in einer Mehrgenerationengesellschaft es mit den »Drittlingen«, um sie einmal so zu nennen, zu tun haben. Das gilt insbesondere für die Einpassung des dritten Lebensalters in die eigene Familie oder Verwandtschaft oder Freundschaft. Die Eltern müssen mit ihren Kindern, die Kinder mit ihren Eltern, die Enkelkinder mit ihren Eltern und Großeltern, die Großeltern mit ihren Kindern und Kindeskindern klar kommen. Es muss ein Gespür für die kommunikativen Spielräume entwickelt werden. Die Kinder von heute haben weniger Geschwister und mehr Erwachsene um sich herum, die Enkelkinder haben es plötzlich mit drei oder vier Großeltern und allenfalls noch Urgroßeltern zu tun, auch wenn ihnen die Geschwister fehlen. Das will heißen, die Akkomodation ist eine Einpassung auch in die Kinderaugen, ein sich Ausrichten an den Gepflogenheiten und auch Forderungen der Kinder und allenfalls Enkelkinder, besonders wenn diese erwachsen werden und ihre Eltern beginnen, bezüglich ihres Äußern zu kritisieren. Je älter die Kinder werden und je länger die Eltern mit ihnen verbunden sind, desto mehr ist auch die Bereitschaft gefordert, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was man sagt und was man nicht sagt. Auch das Leben in einer Partnerschaft ist einer erhöhten sozialen Kontrolle unterworfen, die zur Einfühlung und zur Selbstdisziplin nötigt. In der Pensionierung verlangt die Partnerschaft eine ungewohnt neue Zweisamkeit, die – zumindest für den Mann – ohne die bislang klar definierte Rollenverteilung erfolgt. Überdies wird man im Alter, auch wegen der sich verändernden Körperlichkeit, naturgemäß genierter. So wird das Altern so etwas wie ein Dauertrainingscamp der Selbstdisziplinierung. Der Maßstab der privaten Lebensführungspraktiken ergibt sich deshalb immer auch in der Rücksichtnahme auf andere. Wer sich zum Beispiel Viagra verschreiben lässt, ohne diese Aktion mit seinem Partner oder seiner Partnerin zu besprechen, wird möglicherweise mit Fragen konfrontiert werden, die schlussendlich der Sexualität nicht eben dienlich sind. Kurzum: Ob Falten unterspritzt oder der Bauchspeck abgesaugt werden wollen, ist nicht nur eine individuelle, sondern auch eine Frage des gesellschaftlichen Miteinanders. Schwieriger wird es, wenn man 27 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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über die Partnerschaft hinausgehende Lebenskreise miteinbezieht. Wie wollen einen die Kinder sehen? Was ist angezeigt an einem Geburtstag? Ist für die Service-Club-Veranstaltung ein Anzug oder ein Pullover, allenfalls die grüne Cordhose angesagt? Kann ich es mir noch leisten, in den Ferien am Strand mit Shorts oder gar knappen Badehosen herumzulaufen? Fragen über Fragen. Obwohl sich in den Lifestyle-Beilagen, um die ja keine Zeitung, die etwas von sich hält, mehr herum kommt, die Ratschläge bezüglich neuer Kosmetik-Produkte, Gesichtscremes, die Verfahren zur Verjüngung und Erfrischung des Gesichts oder das Angebot an praktischen Haushaltshilfen wie Sicherheitstritten, Duschhockern, Kniekissen und Fußtunnels, Fitness-Trainingsgeräten und Stützstrümpfen häufen, wird, weil dieser Lebensabschnitt neu ist, ein Rohling eben, herumgepröbelt und herumexperimentiert. Es fehlt, wie immer, wenn Neues auftritt, an einer allgemein akzeptierten Deutung. Denn die Deutung oder Lesart einer Situation bestimmt den Umgang mit ihr. Werden Situationen als real definiert, so das »ThomasTheorem«, sind sie real in ihren Konsequenzen. Der Glaube kann Berge versetzen. Aber auch Menschen. Die demographische Entwicklung hat, weil sie in dieser Form ohne Vorbild ist, wie gesagt unterschiedliche Deutungen hervorgerufen. Angstmachende Katastrophenszenarien oder gar Deutungen der Überalterung als einer Krankheit, haben die letzten Jahrzehnte bestimmt. Schon der Ausdruck »Überalterung« enthält ein demographiepolitisches Vorurteil. Nämlich dass es zu viele alte Menschen gebe. Und zu viele können es ja nur sein, wenn der Glaube fehlt, dieser neue dritte Lebensabschnitt könne nicht nur integriert, sondern schöpferisch der Gesellschaft zugutekommen. Dasselbe gilt ja von der Rede einer »Unterjüngung« unserer Gesellschaft, ist doch damit implizit ein Geburtennotstand gemeint, den es zu beheben gelte, aus welchen Gründen auch immer. Dieser eher negativen Lesart zufolge muss die Politik alles daran setzen, diese durch Überalterung und Unterjüngung gekennzeichnete Entwicklung zu stoppen.
V. Die Tatsache, dass nie in den bisher bekannten Gesellschaften eine so große Zahl an Menschen so gut alt werden konnte, die Tatsache, dass wir im letzten Jahrhundert mehr an Lebenserwartung dazugewonnen haben als in den letzten zehntausend Jahren zusammen, die Tatsache 28 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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ferner, dass in der modernen Gesellschaft gerade wegen der so genannten Überalterung, mehr Generationen als je friedlich zusammen leben, und die Tatsache schließlich, dass die Kinder in freiheitlichen offenen Gesellschaften prinzipiell Wunschkinder sind und damit von ihren Eltern eine ganz andere Zuneigung erfahren, lässt die jetzige demographische Struktur und die Alterung in einem durchaus positiven Licht erscheinen. Geht doch diese Entwicklung letztlich auf die Fortschritte der Medizin und der Lebensführung zurück und ist doch der Geburtenschwund letztlich ein Ergebnis millionenfacher Entscheidungen junger Paare, Kinder haben zu wollen oder nicht. Auch das individuelle Altwerden ist, wie die gesellschaftliche Selbstbeschreibung, was die Alterung betrifft, bestimmt durch die Lesart. In ähnlicher Weise, wie eine negative Deutung der demographischen Entwicklung zu Rückkommensanträgen auf die Vergangenheit führt, resultiert aus der Abwehr des eigenen Alterns eine Anti-AgingHaltung, die auch entsprechende private Selbstbearbeitungspraktiken bevorzugt. Eine ausschließlich positive Lesart, die diese Entwicklung gelassen hinnimmt, führte freilich zu einer bedingungslosen Akzeptanz aller mit dem Älterwerden auftretenden körperlichen und geistigen Phänomene; zu einer heroischen Haltung. Zur bedingungslosen Annahme der eigenen Vergänglichkeit ohne den unermesslichen Reichtum der Möglichkeiten, mit der dritten Lebensphase umzugehen, zu nutzen oder sich dafür zu interessieren. Der richtige Umgang mit dem eigenen Altwerden muss deshalb weder ein verbissener Kampf gegen dieses werden, noch ein bedingungsloses Akzeptieren von diesem sein. Wie immer man die Lust verspürt, sich einfach nach dem Motto »… der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen« gehen zu lassen und aufs Friedhofsbänkli zu sitzen! Die Gefahr ist besonders groß bei Alleinstehenden! Deren soziale Kontrolle ist jedenfalls in den eigenen vier Wänden schwächer im Vergleich zu in Partnerschaft und in Familien Lebenden. Aber sich an anderen ausrichten und zeigen, dass man auch in seinem Äußeren angenommen werden möchte, gilt auch für sie. Sich herrichten für andere ist darüber hinaus beileibe nicht nur Frauen selbstverständlich, sondern auch und gerade Männern, die aufgrund ihres überkommenen Selbstverständnisses schneller in Gefahr geraten, zu verlottern. Die Sorge um sich selbst ist immer gepaart mit der Sorge, von den Mitmenschen angenommen zu werden. Wohl jenen, die gleichgültig darüber hinweggehen können. Man kann dem Altern sein Recht lassen 29 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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und sich dennoch, was das Äußere betrifft, einfügen. Was nützt das Functional-Food und die Botox-Spritze, wenn man ungepflegt mit Speiseresten zwischen den Zähnen, mit Ohrhaarbüscheln und durch die Augenbrauen eingewachsenen Augen herumläuft? Was nützt es, wenn der Bauchspeck abgesaugt wird, aber ein verflecktes zehnjähriges Jacket und beige, zwanzigjährige Cordhosen getragen werden? Was nützt es, wenn Muskeln trainiert, der Kreislauf in Schwung gehalten, aber die Beziehung zu Freunden wegen offensichtlich äußerem oder innerem Querulantentum versagt? Was nützt es schlussendlich, wenn die Welt mit ihrem Reichtum offen steht, man indes ein gebrochenes Verhältnis zu den Kindern hat und allein zu Hause sitzt? Keineswegs will damit die Freiheit des Einzelnen, seine Gestaltungs- und Erfindungskraft bestritten werden. Aber die private Lebensführung im dritten Alter, das Wohlergehen in diesem ist immer auch von den Ansprüchen der anderen geformt. Kompetenz heißt hier Interaktionskompetenz. Nicht nur was die Partnerschaft betrifft, nicht nur in Familie und Verwandtschaft. Sondern auch und vor allem in den Freundschaften, die man pflegt. Pflegen heißt, sich im Kleinen akkomodieren. Pflegen heißt, es denjenigen, die man mag und mit denen man weiterhin in Freundschaft verbunden bleiben möchte, eben auch sich selber pflegen. Der Maßstab für das Selbstsorgeprogramm, auch was die medizinischen und nichtmedizinischen Optimierungsstrategien betrifft, misst sich immer auch an Mitmenschen. Zur Selbstsorge tritt die Sorge um tragfähige Beziehungen. Diese sind letztendlich der Maßstab der Selbstsorge.
VI. Zusammengefasst: Der Umgang mit dem Alterungsprozess bewegt sich zwischen zwei Extrempositionen: dem Laisser-faire einerseits und dem Kampf gegen die Alterung andererseits. Das gesamte Spektrum der individuellen Aging-Policy lässt sich letztlich unter dem Blickwinkel behandeln, ob damit die Restauration und Beibehaltung einer immerwährenden Jugendlichkeit anvisiert wird, oder ob das Altern, einschließlich der nachlassenden Fähigkeiten, Beschwerden und Gebresten hingenommen und gegebenenfalls offensiv gezeigt werden sollen. Die Extrempositionen präferieren auf der einen Seite eine andauernde Korrektur aller Alterungsvorgänge, auf der anderen das na30 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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türliche Belassen des Alterungsprozesses. Sie sind letztlich motiviert durch differente Altersbilder und Wertungen. Je nachdem, ob der Alterungsprozess insgesamt, dem wir in den europäischen Staaten unterliegen, als ein Glücksfall oder aber als eine gesellschaftliche Katastrophe wahrgenommen wird, werden auch die entsprechenden Maßnahmen projektiert und praktiziert. Und je nachdem, ob das Altern akzeptiert und bejaht oder negiert und verneint wird, hat dies Auswirkungen auf die Bearbeitung dieses neu entstandenen Lebensabschnittes. Natürlich erstreckt sich zwischen diesen beiden Polen ein weites Feld von Möglichkeiten, bei denen die individuelle Gestaltungskraft gefragt ist. Noch gar nicht abzusehen ist, inwiefern die CT (Converging Technologies) und die Entwicklung neuroelektronischer Implantate (Enhancement Technologies) die Anti-Aging-Medizin erneut befeuern und einen neuen Schub von Optimierungsstrategien erzeugen. Wie auch immer, die aktive, individuelle Arbeit an diesem dritten Lebensabschnitt, seine Einpassung und Konfigurierung, der Erwerb der dafür notwendigen Kompetenzen bewegt sich zwischen Tun und Lassen, zwischen Akzeptanz und Nicht-Akzeptanz. Vieles, ja das meiste, was wir unternehmen, liegt irgendwo dazwischen und ist dem persönlichen Gutdünken überlassen. Aufgrund des massenhaften Alterns zeichnet sich vielleicht ein Sinneswandel ab. Vielleicht gewinnt eine Selbstbeschreibung des Alterns und des Alters an Gewicht, welche dieses annimmt und akzeptiert. Vielleicht lässt sich, insofern in der ganzen Altersdiskussion mehr und mehr einer positiven Annahme und Akzeptanz dieses Lebensabschnittes das Wort geredet wird, von einem allmählichen Wandel des Selbstbildes der Best-Ager reden: eine Abwendung von Brachialtherapien und eine Zuwendung zu nichtmedizinischen Formen der Bearbeitung und Optimierung. Von der passiven Hingabe an medizinische Behandlungen zur selbstaktiven Gestaltung. Vermutlich sind nichtmedizinische Techniken, etwa durch ausgewogene Ernährung, regelmäßige Bewegung, Nikotinverzicht und Vermeidung von Stress, im Vormarsch – mit unabsehbaren Konsequenzen für die medizinischen Angebote. Und möglicherweise sind therapeutische Angebote, die sachte auf eine Akzeptanz des Alterns und des Alters hinführen, nicht nur kostengünstiger, sondern hilfreicher. Und schließlich: Älterwerden ist eine Aufgabe, die man nicht nur mit sich selber verhandeln und lösen muss! Man muss lernen, sich selber zu mögen. Aber das genügt so wenig wie es in einer Unterneh31 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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mung genügt, Vertrauen unter den Mitarbeitern herzustellen. Im Mittelpunkt der Vertrauensbildung steht der Andere, der Kunde. Neben dem Verhältnis zu sich selber ist deshalb immer auch ein befriedigendes Verhältnis zum Mitmenschen, zu den Freunden und Bekannten, zu Kindern und Lebenspartnern, die ja auf ihre Art »Kunden« unserer Lebensführung sind, zu entwickeln. Man hat also nicht nur die Passung mit sich selber zu suchen, sondern auch die Passung mit anderen. Nicht nur auf sich, sondern auf die anderen Menschen und die Welt insgesamt muss man sich beziehen. Einpassen, sich akkomodieren bedeutet also immer auch Bereitschaft zur Rücksichtnahme auf die anderen und sich arrangieren mit den Welten, in denen man sich bewegt. Sonst sehen wir das Schreckbild einer Bevölkerung vor uns, die aus unangepassten und undisziplinierten Alten besteht, wie es der britische Autor Martin Amis kürzlich provozierend gesagt hat, die die Restaurants und Cafés und Läden »vollmuffen«. Das wollen wir genau so wenig, wie eine Ansammlung von obszönen Greisinnen und Greisen, die in Jugendkleidchen gesteckt, die Straßen und Läden und Hotels mit ihrer Wichtigtuerei vollprotzen. Gutes Altern ist immer eingelassen in eine ihre Altersbilder und –vorstellungen produzierende Gesellschaft. Die Selbstbeschreibungen sind, wie es unserer aktiven fortschrittsbeseelten Zeit entspricht, unterschiedlich. Es ist zu hoffen, dass weder resignative noch juvenile Altersbilder die Oberhand gewinnen. Sondern lebensdienliche, das Altern und das Alter nicht einfach akzeptierende oder korrigierende, sondern nutzende Altersvisionen. Die neue Kraft dieser dritten Lebensphase muss unserer älter werdenden Gesellschaft zugute kommen.
Literatur Amis, M. (2010): Martin Amis calls for euthanasia booths on street corner. In: The Sunday Times. 24. 01. 2010 Birkenstock, E. (2008): Angst vor dem Altern? Zwischen Schicksal und Verantwortung. Freiburg Coenen, Ch. (2009): Konvergierende Technologien und Wissenschaften. Der Stand der Debatte und politische Aktivitäten zu »Converging technologies«. In: http://www.tab.fzk.de/de/bp.htm (download 04. 09. 09) Goffman, E. (1967): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a. M. Gross, P. (2005): Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt a. M.
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Altersakzeptanz versus Jugendwahn – (2008): Jenseits der Erlösung. Die Wiederkehr der Religion und die Zukunft des Christentums. Bielefeld Gross, P./Fagetti, K. (2008): Glücksfall Alter. Alte Menschen sind gefährlich, weil sie keine Angst vor der Zukunft haben. Freiburg i. Br. Grün, A. (2007): Die hohe Kunst des Älterwerdens. Münsterschwarzach Guardini, R. (1953): Die Lebensalter. Würzburg Höffe, O. (2009): Bilder des Alters und des Alterns im Wandel. In: Ehmer, J./Höffe, O. (Hg.): Bilder des Alterns im Wandel. Historische, interkulturelle und aktuelle Perspektiven. Stuttgart, S. 189 – 198 Imhof, A. E. (1981): Die gewonnenen Jahre. München Kinder, H. (2006): Mein Melaten. Der Methusalem-Roman. Frankfurt a. M. Kruse, A. (2007): Alter. Was stimmt? Die wichtigsten Antworten. Freiburg, Basel, Wien Kurzweil, R. (1999): Homo S@piens. München Maio, G. et. al. (Hg.) (2008): Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinschen Ethik. Freiburg Mang, W. L. (2009): Die Wahrheit – Haifischbecken Schönheitschirurgie. Stuttgart Merton, R. K. (1995): The Thomas Theorem and the Matthew Effect. In: Social Forces 74 (2), S. 379 – 424 Rosenmayr, L. (2006): Schöpferisches Altern. Eine Philosophie des Lebens. Berlin, Wien
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Die bioethische Debatte um Anti-Aging als Lebensverlängerung Bezugspunkte und Argumentationsmuster Tobias Eichinger, Claudia Bozzaro
Einleitung Anti-Aging ist ein Phänomen, das nicht nur die Medizin vor die Frage nach ihrem Wesen und ihren Grenzen stellt, sondern das ethische Probleme aufwirft, die kaum einen Aspekt des menschlichen Lebens unberührt lassen. Diese Probleme verweisen dabei nicht selten auf Zusammenhänge, die eine Reflexion grundlegender Fragen zum Selbstverständnis des Menschen verlangen. So hängt die Bewertung altersbekämpfender und lebensverlängernder Maßnahmen direkt mit soziopolitischen und ökonomischen Belangen zusammen, was ein Blick auf die demographischen und gesellschaftlichen Auswirkungen schnell verdeutlicht, die eine radikal verlängerte durchschnittliche Lebenserwartung mit sich brächte – noch stärker wären diese Effekte im Falle einer Ausdehnung der absoluten Lebensspanne des Menschen. Aber auch zentrale philosophisch-anthropologische Aspekte wie die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Technik, zu seiner Naturhaftigkeit oder einem angemessenen Umgang mit der zeitlichen Dimension seiner Existenz drängen sich im Zuge einer umfassenden Erörterung der Voraussetzungen, Implikationen und Konsequenzen von Anti-Aging auf. In der beständig anwachsenden Literatur zum Thema existiert mittlerweile eine Fülle von Texten, die verschiedene ethische Aspekte zusammenführen, doch sind darunter nur ansatzweise Arbeiten, die beanspruchen, systematisch einen möglichst umfassenden Überblick über die aus ethischer Perspektive relevanten Gesichtspunkte von Anti-Aging und Anti-Aging-Medizin zu geben. 1 Meist konzentrieren sich die Autoren der einschlägigen Texte auf eine (oder zwei) FragehinSiehe: Au (2006), Feeser-Lichterfeld et al. (2007), Fisher/Hill (2004), Fuchs (2006), Gems (2003), Gordijn (2004), Harris (2002), Juengst (2003), Juengst et al. (2003), Knell
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Die bioethische Debatte um Anti-Aging als Lebensverlängerung
sicht(en) und verzichten zugunsten der Entwicklung einer eigenen These darauf, ein vollständiges Panorama der ethischen Debatte um lebensverlängernde Maßnahmen zu zeichnen. Übersichtsartikel, die den Diskussionsstand und die gesamte Bandbreite gängiger Argumente für und wider Anti-Aging darstellen, gibt es nicht. Diese Lücke soll die folgende Zusammenstellung schließen. Im Vordergrund steht dabei die Differenzierung und Systematisierung einer mittlerweile sehr breit gefächerten Debatte mit den verschiedensten Argumenten, die mitunter in verkürzter und vermengter Form die Diskussion bestimmen. Der Vorzüge einer geordneten Zusammenstellung halber werden die Argumentationsfiguren in ihrer Kernaussage präsentiert und schematisch nach Pro und Contra sortiert, nicht jedoch im Einzelnen kritisch besprochen. Am Ende jeder Argument-Skizze wird jeweils auf die maßgeblichen Autoren und einschlägigen Texte verwiesen, in denen sich der jeweilige Gedankengang pointiert und exemplarisch findet. Dabei wird allerdings darauf verzichtet, zwei die Auseinandersetzung bestimmende Lager gegeneinander abzugrenzen – wie es mitunter mit den Etiketten ›Apologists‹ oder ›Anti-Posthumanisten‹ für die eine und ›Prolongevists‹ oder ›Posthumanisten‹ für die andere Seite geschieht. Im Vordergrund sollen weniger die Protagonisten eines »Kulturkampfes« um Anti-Aging oder die Kräfteverhältnisse innerhalb entsprechender »moralischer Kreuzzüge« 2 , als vielmehr die inhaltlichen Argumente stehen, um so zu einem strukturell möglichst vollständigen Bild der ethischen Debatte um Anti-Aging als radikale Lebensverlängerung zu gelangen. Inhaltlich lassen sich vier Gruppen von Argumenten unterscheiden: Den Anfang machen Positionen, die naturwissenschaftlich-technische Aspekte behandeln, welche bei der Realisierung lebensverlängernder Maßnahmen aus ethischer Sicht zu berücksichtigen sind (I). Daran schließt sich jene Gruppe von Überlegungen an, die soziopolitische sowie ökonomische Auswirkungen radikalen Anti-Agings zum Thema ethischer Abwägungen machen (II). Nach einer Erläuterung jener Argumente, die sich mit der Relevanz von Anti-Aging für das Selbstverständnis und die Zielbestimmung der Medizin befassen (III), bilden philosophisch-anthropologische Fragestellungen den gewich(2009), Mackey (2003), Moody (2001), Partridge/Hall (2007), Post (2004b), PCBE (2003), Rippe (2008), Wittwer (2004). 2 Siehe dazu: Mauron (2005).
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tigsten Teil ethischer Pro- und Contra-Argumente hinsichtlich der Realisierung von Anti-Aging-Maßnahmen. Auf drei Punkte sei vorab noch hingewiesen: 1. Nicht berücksichtigt wird im Folgenden der Streit um die tatsächliche Wirksamkeit von Anti-Aging-Maßnahmen zum Zweck effektiver Lebensverlängerung. Für die ethische Beurteilung der hier verfolgten Ziele ist es von nachgeordneter Bedeutung, ob es – unabhängig von jeder Bewertung – technisch überhaupt möglich ist, die versprochenen Effekte zu realisieren oder es sich bei den einschlägigen AntiAging-Angebote nicht vielmehr um unlautere ›Quacksalberei‹ handelt. 3 Der entsprechende Vorwurf ist aus ethischer Perspektive nur insofern relevant, als durch die Anwendung ineffektiver Behandlungen wertvolle Ressourcen (v. a. Zeit, Geld) eingesetzt werden müssen, die dadurch nicht mehr für bekannte und bewährte Verfahren zur Verfügung stehen, deren Einsatz aus einem ärztlichen Ethos heraus aber geboten erscheint. So finden sich im Folgenden Argumente, die pro oder contra Anti-Aging sprechen unter der Voraussetzung, dies wäre tatsächlich in effektiver Weise realisierbar. 2. Die gesammelten Argumente beziehen sich nicht nur auf bereits etablierte Produkte und Maßnahmen innerhalb einer praktizierten Anti-Aging-Medizin, sondern auch auf weitergehende mit dem Begriff ›Anti-Aging‹ verknüpfte Zielsetzungen. So gehören neben der präventivmedizinischen Absicht, Gebrechen und Krankheiten im Alter vorzubeugen und zu verhindern, sowohl die moderate bis deutliche Ausdehnung der menschlichen Lebensdauer als auch die Manipulation und Abschaffung der biologischen Alterungsvorgänge zu Anti-AgingZielsetzungen. 4 Auch wenn es sich dabei um drei klar unterscheidbare Formen von Anti-Aging handelt, besteht doch ein Übergang von den moderaten über mittlere bis hin zu den radikalen Zielsetzungen, der als fließend bezeichnet werden muss. Darüberhinaus kann unterstellt werden, dass alle drei Formen auf dem gleichen Grundgedanken und Motiv basieren, welches jeweils in unterschiedlich starker Ausprägung konDieser Angriff auf Anti-Aging erfolgt vor allem von Seiten der Geriatrie und Gerontologie, für deren Vertreter die eigene berufliche und wissenschaftliche Position auf dem Spiel steht. Vgl. dazu den Beitrag von Eichinger in diesem Band. 4 Vgl. zur Differenzierung unterschiedlicher Zieltypen von Anti-Aging die Beiträge von Bozzaro und Eichinger in diesem Band. 3
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kretisiert wird. Letztlich laufen alle Pro-Anti-Aging-Argumente auf den Wunsch hinaus, nicht zu altern und damit unsterblich zu sein. 5 Dementsprechend dient im Folgenden stets die Vision von Anti-Aging als radikaler Lebensverlängerung als argumentativer Fluchtpunkt der ethischen Debatte. 3. Die Abfolge der Positionen (jeweils Pro und Contra) verläuft nicht durchgängig nach dem gleichen Muster, sondern variiert innerhalb der vier Gruppen: die Darstellung in I und II sowie IV.1) beginnt mit den Contra-Positionen, während bei III, IV.2) und 3) auf die befürwortenden Argumente die entsprechenden Einwände folgen. Diese formale Inkonsistenz ist kein Versehen oder Zufall, sondern hat inhaltliche Gründe, bildet sie doch ein wesentliches Merkmal der Struktur der Debatte ab. So sind Positionen, die für Anti-Aging plädieren und dafür auf naturwissenschaftliche oder soziopolitisch-ökonomische Aspekte rekurrieren (I und II), in aller Regel Erwiderungen auf Einwände und Warnungen vor »Risiken und Nebenwirkungen der Lebensverlängerung« 6 . Umgekehrt sind skeptische Anti-Aging-Bewertungen und ablehnende Stellungnahmen, die vor einer Etablierung von Anti-Aging als Medizin warnen (III) oder Verbindungen zur grundsätzlichen Haltung zum Leben (z. B. hinsichtlich der Einschätzung seiner quantitativen und qualitativen Dimension) sowie dem jeweiligen Menschenbild herstellen (IV), in ihrem argumentativen Aufbau überwiegend Reaktionen auf Autoren, die Anti-Aging als medizinischen Auftrag propagieren, generell die Option zur Lebensverlängerung als großen Gewinn auffassen und für diese Chance werben. Dieser diskursiven Dynamik, die einer nicht einheitlichen Verteilung der Beweislast innerhalb der Debatte entspricht, soll der wechselnde Pro-Contra-Aufbau im Folgenden Rechnung tragen.
5 6
Vgl.: Kass (2001), PCBE (2003). So der Titel von Wittwer (2004).
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Gliederung: I.
Die Debatte: Naturwissenschaftlich-technische Aspekte 1) Direkte Folgen und technische Risiken . . . . . . . 2) Indirekte Folgen: Überbevölkerung . . . . . . . . 3) Kontinuität und Fortschritt . . . . . . . . . . . . II. Die Debatte: Soziopolitisch-ökonomische Aspekte . . . 1) Gerechtigkeitsprobleme . . . . . . . . . . . . . . a) Unmittelbar: Allokation im Gesundheitswesen . b) Mittelbar: Soziale Ungleichheit . . . . . . . . . 2) Altersdiskriminierung (Ageism) . . . . . . . . . . 3) Lebensphasen und Generationsabfolge . . . . . . . III. Die Debatte: Medizintheoretische Aspekte . . . . . . IV. Die Debatte: Philosophisch-anthropologische Aspekte . 1) Personale Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2) Wert des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Quantität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Qualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3) Machbarkeit und Natur des Menschen . . . . . . .
I.
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38 38 40 43 44 44 44 46 48 49 53 55 55 56 56 61 62
Die Debatte: Naturwissenschaftlich-technische Aspekte
I. 1) Direkte Folgen und technische Risiken Contra Anti-Aging als Verlängerung der absoluten Lebensspanne des Menschen ist nur möglich durch direkte Eingriffe in den natürlichen Alterungsprozess. Da derartige Interventionen die biologische Verfassung des Menschen in bisher ungekannter Weise und Tiefe verändern würden, sind die Neuartigkeit solcher Verfahren und die daraus folgende Unklarheit über mögliche unbeabsichtigte Folgen der Ansatzpunkt für zahlreiche Einwände und Skepsis gegen Anti-Aging-Maßnahmen zum Zweck der Lebensverlängerung. Hier stehen ablehnende Einschätzungen in einer langen Tradition philosophischer Technikkritik, deren Hauptmotiv die Unwägbarkeit von Folgewirkungen der Anwendung neuartiger Technologien betont und die auf zahlreiche negative Beispiele aus der Zivilisationsgeschichte verweisen kann. Für die Kritiker 38 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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hat das generelle Gebot zur Vorsicht im Falle der Manipulation der Grundlagen des menschlichen Körpers und Genoms besonderes Gewicht, da negative Folgen solcher Eingriffe sowohl in unabsehbarer Weise als auch direkt den Menschen selbst betreffen würden. Das Vorsorgeprinzip (›precautionary principle‹), das die Entwicklung und den Einsatz neuartiger Technologien nur gestattet, wenn mögliche Risiken realistisch absehbar und minimal sind, wird im Kontext der AntiAging-Debatte häufig mit dem Verweis auf die einzigartige Qualität der biologischen Beschaffenheit des Menschen als Naturwesen verbunden. Mechanismen und Verlauf der menschlichen Alterung sind demnach als sensibel ausbalanciertes Ergebnis des über Jahrmillionen verlaufenden und sich dabei perfektionierten Evolutionsprozesses höchst bewahrens- und schützenswert, tiefgreifende Veränderungen der natürlichen Lebensspanne drohen das natürliche Gleichgewicht aus Fortpflanzung, Alter und Tod womöglich unwiderruflich aufs Spiel zu setzen. Damit ergibt sich für Skeptiker der biologischen Lebensverlängerung eine eindeutige Verteilung der Beweislast: angesichts der umfassenden und tiefgreifenden Risiken muss nicht die Schädlichkeit, sondern die Unschädlichkeit der neuen Technologie nachgewiesen werden (in dubio pro malo) – was auch einem basalen Grundsatz der Technikfolgenabschätzung entspricht (vgl. H. Jonas’ Verantwortungsprinzip). 7 Darüberhinaus werden gegen Anti-Aging als einer Manipulation des menschlichen Alterungsprozesses Bedenken erhoben, die betonen, dass das angestrebte Ziel weder klar umrissen noch realistisch vorstellbar sei. Die tatsächliche Gestalt und konkrete Erfahrung eines permanent jugendlichen, alterslosen und womöglich ewigen Lebens sei im Vorhinein schlicht nicht bestimmbar und rechtfertige damit in keinem Fall die erheblichen Schwierigkeiten und Risiken der Umsetzung dieser Vorstellung. 8 Pro Anti-Aging-Befürworter nehmen einige der skeptischen Einwände, die gegen Verfahren zur Ausdehnung der menschlichen Lebensspanne geltend gemacht werden und zur Vorsicht mahnen, für ihre eigene PosiVgl.: Wittwer (2004), Partridge/Hall (2007), Moody (2001), Glannon (2002a), Gordijn (2004). 8 Vgl.: Lachs (2004). 7
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tion in Anspruch. So gilt gerade der Bezug auf die fehlende Erfahrung mit biologischer Lebensverlängerung und die Unabsehbarkeit aller möglichen Auswirkungen als gänzlich ungeeignet, für eine Verlangsamung oder Einschränkung der Entwicklung und Anwendung entsprechender Techniken zu argumentieren. Da Wechselwirkungen, ungeplante Folgen sowie der zukünftige Verlauf technologischer Innovationen immer nur zum Teil vorhersehbar seien, dürfe diese prinzipielle Offenheit allein nicht als Argument zur Behinderung des ohnehin unaufhaltsamen Fortschritts und der Nutzung der darin liegenden positiven Potenziale dienen. Außerdem vertrauen derart innovationsfreundliche Positionen ganz auf die ebenso beständig verlaufende Dynamik der Problemlösung. Auch wenn neue Technologien negative Auswirkungen zeigen sollten, könnten diese durch darauf reagierende Erfindungen sowie Innovationen aus anderen Bereichen beseitigt bzw. Nachteile kompensiert werden. Da auch im sehr unwahrscheinlichen Fall, dass sämtliche biologischen Anti-Aging-Strategien effektiv und erfolgreich umgesetzt werden könnten, die extreme Verlangsamung des Alterns bzw. die Abschaffung des Alterstodes weder für alle Menschen noch über Nacht Realität würde, bliebe ausreichend Zeit, um zur Bekämpfung unerwarteter Nebenwirkungen geeignete Gegenmaßnahmen zu entwickeln und sich mit der neuen Herausforderung deutlich längerer Lebenszeitspannen auseinanderzusetzen. 9
I. 2) Indirekte Folgen: Überbevölkerung Contra Zu den naheliegendsten Konsequenzen einer radikal erhöhten (geschweige denn einer unbegrenzten) absoluten Lebensspanne gehören die verschiedenen Facetten des Problems der Überbevölkerung. Die Erde bietet den auf ihr exisitierenden Lebewesen ein endliches Potenzial an Raum, Nahrung und Energiequellen, das durch einen deutlichen Anstieg der Anzahl der Individuen – eine Konsequenz, die lebensverlängerndes Anti-Aging im großen Stil automatisch bedeuten würde – in bedrohlichem Ausmaß knapp und umkämpft werden würde. Neben der existenziellen Konkurrenz um begrenzte Ressourcen, die sich unter Vgl.: Petersen (1998), Mackey (2003), Moody (2001), Gordijn (2004), Harris (2004), Callahan (2003).
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einer unaufhaltsam anwachsenden Weltbevölkerung immer weiter verschärfen würde, droht ein ökologisches Desaster. Ähnlich wie bei der Frage, ob die menschliche Alterung als Bestandteil des evolutionärnatürlichen Gefüges vor manipulierenden Eingriffen besonders zu schützen seien, erinnern Anti-Aging-Skeptiker mit Blick auf einen drohenden Verteilungskampf um basale Überlebensbedingungen an die ›Weisheit der Natur‹, die das Verhältnis der Größe einer Population zu ihrem Lebensraum nach Kriterien biologischer Zweckmäßigkeit und ökologischer Verträglichkeit abstimmt und reguliert. Massenhafte biologische Lebensverlängerung durch Anti-Aging würde das sichere Ende dieser natürlichen Balance bedeuten 10 – einer Balance, die durch die räumliche Ausbreitung des Menschen ohnehin längst empfindlich gestört ist. 11 Pro Angesichts des im Zuge erfolgreicher Lebensverlängerung unvermeidlichen Problems der Ressourcenknappheit halten Anti-Aging-Befürworter verschiedene Verfahren für geeignet, einer drohenden Überbevölkerung zu begegnen. Der radikalste und sicherlich umstrittenste Vorschlag zur Eindämmung explosiven Bevölkerungswachstums aufgrund erfolgreicher Alterungsabschaffung bzw. extremer Lebensverlängerung sieht Regelungen vor, die unter neuen Vorzeichen auf dem alten Prinzip der Euthanasie basieren. So könnten im Rahmen »generationeller Säuberungen« (»generational cleansing«, J. Harris) Menschen, die ein bestimmtes Alter erreicht haben, durch geregelten Freitod ihren Platz in der Gesellschaft zugunsten der nachrückenden Generationen räumen. Sowohl die alles entscheidende Altersgrenze – die sich an einer »vernünftigen Länge« einer Generationsfolge orientieren soll – als auch die Organisation des freiwilligen Ablebens der zu alt gewordenen Menschen sollen nach diesem Konzept in demokratischen Verfahren kollektiv ausgehandelt werden und so allgemeine Ak-
10 Vgl.: Glannon (2002), Moody (2001), Gems (2003), Mackey (2003), Kass (2001), Louria (2005). 11 Die von dem Biologen und Neodarwinisten August Weismann stammende These, derzufolge die biologische Funktion des Alterns (und des darauf unausweichlich folgenden natürlichen Todes) darin bestehe, nachrückenden Generationen Platz zu machen, wird im Zuge der Anti-Aging-Debatte immer wieder angeführt, obwohl sie inzwischen als widerlegt gelten kann und nurmehr von theoriehistorischem Interesse ist.
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zeptanz und Durchführbarkeit garantieren. 12 Angesichts der Tatsache, dass sich die Menschen jenseits der Altersgrenze aber durch effektives Anti-Aging unbeeinträchtigter Gesundheit und womöglich sogar ungeminderter Lebenslust erfreuen würden, erscheint es allerdings mehr als zweifelhaft, ob die vormals erfolgte Einwilligung weiterhin aufrecht erhalten würde. Als Alternative zu derart krass gegen fundamentale Grundsätze des Menschenrechts und der Menschenwürde verstoßende Verfahren liegen Lösungsmöglichkeiten auf der Hand, die die Fortpflanzung extrem langlebiger Menschen einschränken. So wird für eine adäquate Geburtenkontrolle die Aufhebung bzw. Erschwerung des Individualrechtes der freien Fortpflanzung erwogen. In diesem Zusammenhang existieren auch Überlegungen, den Zugang zu Anti-Aging-Therapien gegen das Recht auf eigene Nachkommen ›einzutauschen‹. 13 Mit Blick auf etwaige globale Auswirkungen von Anti-Aging als radikale Lebensverlängerung werden neben problematischen Entwicklungen der Ressourcenknappheit auch deutlich positive Effekte auf die persönlichen Einstellungen und das ökologische Bewusstsein der langlebigen Erdenbewohner erwartet. So würden durch die extreme Ausdehnung der eigenen Lebenszeit kurzsichtige und egoistische Verhaltensweisen zugunsten eines langfristig orientierten, um Nachhaltigkeit bemühten Umgangs mit der Umwelt und den natürlichen Ressourcen verschwinden. Aus einer nur schwach motivierenden, abstrakten Zukunftsverantwortung für Generationen, zu denen keine direkte persönliche Verbindung besteht, würde eine handlungswirksame, konkrete Sorge um die natürlichen Lebensbedingungen im eigenen Interesse. 14 Außerdem wird auch angesichts des sich verschärfenden Problems des Bevölkerungswachstums auf die innovative Kraft und allgemeine Lösungskompetenz des Menschen vertraut, erhebliche demographische Veränderungen erfolgreich zu meistern, was ein Blick in die Menschheitsgeschichte mehrfach belegen kann. 15 Darüberhinaus wird auch in diesem Zusammenhang aufgrund der anfänglich geringen Wirksamkeit und nur allmählichen Verbreitung von Anti-Aging-Maßnahmen angenommen, dass die Folgen zunächst eher marginal wären 12 13 14 15
Vgl.: Harris (2004). Vgl.: Singer (1991), Gesang (2007), De Grey (2004). Vgl.: Petersen (1998), Klatz (2002). Vgl.: Moody (2001), Ehni/Marckmann (2008).
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und so eine schrittweise Anpassung und umsichtige Reaktion möglich wären. 16 Neben verschiedenen Strategien, mit einer unaufhaltsam wachsenden Bevölkerung umzugehen, bestreiten einige Autoren die Grundannahme dieses Szenrios. Da Menschen, die durch erfolgreiche Anti-Aging-Behandlungen zwar nicht mehr altern und eines natürlichen Todes sterben würden, weiterhin tötbar wären und durch Infektionen, Hunger, Gewaltverbrechen oder Unfälle aus dem Leben scheiden würden, würde sich das Problem der Überbevölkerung so gar nicht stellen. 17
I. 3) Kontinuität und Fortschritt Contra Für Anti-Aging als radikale Lebensverlängerung ist die forcierte Ausdehnung der für den Menschen erreichbaren Lebensdauer nicht mehr ein (Neben-)Effekt von zivilisatorischen und wissenschaftlichen Fortschritten, von medizinischer Praxis und Forschung, sondern das erklärte Ziel selbst. Dementsprechend verstehen manche Autoren AntiAging als völlig neues Paradigma des Zugriffs auf den Menschen und seine Natur und sehen damit die Grenze ethisch akzeptabler Anwendung von Wissenschaft und Technik überschritten. Die Neuartigkeit der Zielsetzung allein wird als Argument gegen Anti-Aging angeführt und im Rahmen einer Kritik einer umfassenden »Vernaturwissenschaftlichung« und »Technologisierung« (H.-J. Kondratowitz) des gesamten menschlichen Alterungsprozesses abgelehnt. 18 Pro Dagegen sehen Anti-Aging-Befürworter sowohl Zielsetzungen als auch Methoden zur radikalen Lebensverlängerung in einer ungebrochenen Kontinuität des medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts und damit als konsequent und gerechtfertigt an. Abgesehen von direkten historischen Vorläufern und Versuchen, den Alterungsprozess experimentell zu beeinflussen, steht generell das Ziel des Gesundheits16 17 18
Vgl.: Gordijn (2004). Vgl.: Fossel (1997), Horrobin (2005), Harris (2004). Vgl.: Kondratowitz (2003), Lachs (2004).
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erhalts und der Prolongation des Lebens in der langen und unstrittigen Tradition der Medizin. Als neuartig werden lediglich die Anti-AgingMittel verstanden, mit denen diese Ziele erreicht werden sollen – allerdings nicht im Sinne einer unzulässigen Überschreitung einer normativ entscheidenden Grenze, sondern als logische und akzeptable Weiterentwicklung bestehender Techniken und Ansätze. Vor allem der beträchtliche Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung in den letzten 200 Jahren wird als Beleg für die These einer schleichenden und allmählichen Entwicklung aufgefasst und als schlagende Legitimationsgrundlage für eine intensive Weiterverfolgung des Expansionsziels angeführt. 19
II.
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II. 1) Gerechtigkeitsprobleme II. 1) A. Unmittelbar: Allokation im Gesundheitswesen Contra Angesichts der bestehenden Mittelknappheit und anhaltenden Finanzierungsproblemen im Gesundheitswesen wird immer wieder gegen die Einführung und Anwendung kostspieliger Anti-Aging-Maßnahmen die höhere Dringlichkeit der Sicherstellung einer konventionellen medizinischen Grundversorgung angemahnt. Statt umfangreiche Mittel für alternsvermeidende Leistungen mit fraglicher Wirksamkeit und zweifelhaften Nebeneffekten aufzuwenden, sollten finanzielle und personelle Ressourcen vielmehr für die Durchführung bewährter Therapien und die Erfüllung unstrittiger medizinischer Bedürfnisse eingesetzt werden. Selbst wenn man von der Möglichkeit schädlicher Nebenwirkungen absieht und Anti-Aging-Maßnahmen harmlose Wirkungslosigkeit unterstellt, wäre ihr Einsatz abzulehnen, wenn dies etablierte Behandlungsalternativen, deren Effektivität nachgewiesen ist, zu ersetzen droht. Analog wird für den Bereich medizinischer Forschung befürchtet, dass durch die Bewilligung kostspieliger AntiAging-Experimente im Wettbewerb um limitierte Forschungsgelder Vgl.: Wittwer (2009), Post (2004b), Kondratowitz (2003), Miller (2002), Juengst (2003), Moody (2001), Partridge/Hall (2007), Wittwer (2004), Kass (2001).
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seriösen Versuchsprojekten weniger der wertvollen Mittel zur Verfügung stünden. 20 Da außerdem wegen des ungesicherten Erkenntnis- und Effizienzniveaus möglicher Anti-Aging-Interventionen nicht garantiert werden kann, dass mit der Extension der Quantität auch die Qualität des Lebens verlängert werden kann, muss von einer starken Zunahme degenerativer Alterserkrankungen sowie einem deutlich steigenden Pflegebedarf als realistischen Nebenwirkungen von lebensverlängernden Anti-Aging-Behandlungen ausgegangen werden. So gilt als gewichtiges Argument gegen Anti-Aging-Konzepte, die die Ausdehnung der menschlichen Lebensdauer betonen, das sog. »Globale-PflegeheimSzenario« (F. Fukuyama), demzufolge ein wachsender Bevölkerungsanteil pflegebedürftig würde, was auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zu erheblichen Belastungen und desaströsen Auswirkungen auf das Gesundheitssystem führen würde. 21 Pro Das Ziel der Lebensverlängerung betrifft für Anti-Aging-Befürworter nur die Verlängerung der gesunden und produktiven Lebensabschnitte. Da sich für eine Ausdehnung der von Gebrechlich- und Hinfälligkeit geprägten Lebensabschnitte naheliegenderweise schwerlich argumentieren lässt, halten sich prolongivistische Positionen nicht mit Erwägungen dieser Möglichkeit auf, sondern beziehen sich auf Szenarien, die den sog. Compressed-morbidity-Effekt anstreben. Ausgehend von dieser optimistischen Grundannahme wird in der Einführung von Anti-Aging-Behandlungen die Chance gesehen, durch eine deutliche Ausdehnung der gesunden und arbeitsfähigen Lebenszeit Gesundheitskosten in erheblichem Maße reduzieren zu können. Zum einen würden extrem langlebige und dabei leistungsfähige Menschen über entsprechend lange Zeiträume hinweg produktiv sein und Krankenkassenbeiträge in die Sozialkassen einzahlen können und zum anderen würden die unausweichlichen Kosten für die medizinische Versorgung und Pflege am Lebensende erst in einer weit entfernten Zukunft anfallen – die außerdem aufgrund der komprimierten Morbiditätsphase sehr viel geringer als bisher ausfallen würden. Auch staatliche AufVgl.: Juengst et al. (2003), Fisher/Hill (2004), Moody (2001). Vgl.: Moody (2001), Chadwick (1999), Fukuyama (2002), Glannon (2002), Lachs (2004), Wittwer (2004), Wittwer (2009). 20 21
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wendungen für Renten- und Pensionszahlungen könnten durch gesundheitserhaltende Anti-Aging-Maßnahmen gesenkt oder gar überflüssig werden. 22 II. 1) B. Mittelbar: Soziale Ungleichheit Contra Es ist davon auszugehen, dass Anti-Aging-Behandlungen mit deutlich lebensverlängernden Effekten kostspielig und daher nicht für alle Menschen gleichermaßen erschwinglich sein werden. Solange die entsprechenden Maßnahmen nicht in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen 23 aufgenommen werden – was sehr unwahrscheinlich ist – und stattdessen auf dem freien Markt angeboten werden und privat finanziert werden müssen – was bei den bisher existierenden Leistungen bereits der Fall ist –, wird sich der Zugang zu Anti-Aging sehr ungleich gestalten. So würden viele Menschen von möglichen positiven Effekten lebensverlängernden Anti-Agings nicht profitieren können, während wenige Wohlhabende – ähnlich wie in anderen gesundheitlichen Belangen – aufgrund ihres privilegierten gesellschaftlichen Standes Anti-Aging-Innovationen relativ problemlos nutzen können. Indem dadurch Anti-Aging als Lebensverlängerung den ohnehin – auch gesundheitlich – Bessergestellten vorbehalten bliebe, würden bereits bestehende Ungleichheiten und Diskrepanzen in der gesellschaftlichen Verteilung von Wohlstand, Macht und Einfluss nicht nur nicht gemindert, sondern zudem noch deutlich verstärkt werden. In diesem sehr wahrscheinlichen Effekt einer Einführung von Anti-Aging-Therapien unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen sehen viele Kritiker eines der schwerwiegendsten Probleme aus sozialethischer Perspektive. Die schon aus anderen Anwendungsgebieten bekannten Schwierigkeiten, Fragen der Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit bei Gesundheitsleistungen angemessen zu lösen, erscheinen im Falle von Maßnahmen, die zu einer deutlichen Lebensverlängerung (oder gar zur Abschaffung eines natürlichen Todes) führen, als besonders dringliche Herausforderung. So prognostizieren einige Autoren das Vgl.: Ehni/Marckmann (2008), Harris (2004), Fossel (1997), De Grey (2005a), Singer (1991), Gesang (2007), Miller (2002), Klatz (2002), Partridge/Hall (2007). 23 Vgl. zur Frage der Aufnahme von Anti-Aging-Maßnahmen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen den Beitrag von Schweda et al. in diesem Band. 22
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Schreckensszenario von Parallelgesellschaften, die sich als Folge von stark ungleichen Zugangsmöglichkeiten zu Anti-Aging herausbilden und sehen die Bevölkerung in zwei Lager auseinanderdriften, in denen reiche Langlebige armen ›Normalsterblichen‹ (!) gegenüberstehen. An manchen Stellen der Debatte wird diese Vision, die auch im globalen Maßstab auf das weltweite Wohlstandgefälle zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern übertragbar ist, noch weiter gedacht und im Sinne radikaler Anti-Aging-Zielsetzungen vor einer Aufspaltung der menschlichen Spezies in »Sterbliche« und »Unsterbliche« gewarnt. 24 Pro Angesichts der massiven gerechtigkeitsethischen und gesellschaftspolitischen Probleme, die eine rein marktgesteuerte Einführung radikaler Anti-Aging-Maßnahmen bedeuten würde, fordern Anti-Aging-Befürworter die Schaffung möglichst breiter Zugangsmöglichkeiten und z. T. sogar »sozialstaatliches Anti-Aging für jedermann« (B. Gesang). Zudem wird gegen Bedenken, lebensverlängerndes Anti-Aging vergrößere unverhältnismäßig die Schere zwischen Arm und Reich, eingewandt, dass die ungleiche Verteilung sozialer Güter ohnehin bereits bestehe und zudem kein spezifisches Problem der Medizin selbst, sondern eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung sei, die somit nur auf politischer Ebene gelöst werden könne. Außerdem dürfe die Tatsache, dass nicht sofort alle Menschen in gleichem Maße von einer neuartigen Errungenschaft aus Wissenschaft und Technik profitieren könnten, keinesfalls grundsätzlich die Entwicklung und Einführung der jeweiligen Innovation verhindern. Derart anspruchsvolle Einschränkungen zeugten von unrealistischem Idealismus und wären das Ende jeglichen wissenschaftlichen Fortschritts. Hier wird wiederholt auf den sog. ›Durchsickereffekt‹ einer allmählichen gesamtgesellschaftlichen Verbreitung von zunächst exklusiven Produkten verwiesen, der in der Regel mit deutlichen Preissenkungen einher gehe, welche im Zuge der Markteinführung und einer sich ergebenden Anbieterkonkurrenz zu erwarten wären. Als weiterer Vorteil einer reglementierten Einführung von Anti-Aging-Behandlungen gilt manchem
24 Vgl.: Post (2004b), Petersen (1998), Gems (2003), Fukuyama (2002), Kass (2001), Mauron (2005), Harris (2004), Chadwick (1999), Hayflick (2000).
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die Verhinderung eines Anti-Aging-Schwarzmarkts und unkontrollierter Illegalität. 25
II. 2) Altersdiskriminierung (Ageism) Contra Einen negativen Effekt von Anti-Aging-Angeboten sehen Kritiker schon im Begriff ›Anti-Aging‹ selbst angedeutet. Indem Anti-Aging dem Alter den Kampf erklärt und als positive Zielvorstellung Funktionstüchtigkeit, Vitalität und jugendliches Aussehen anstrebt, wird diese Lebensphase und die Menschen, die sich in ihr befinden, unweigerlich und in nicht unerheblichem Maße abgewertet. Insofern stellt Anti-Aging eine aktuelle Form von Ageismus dar, die hauptsächlich negative Aspekte des Älterwerdens betont und von einem Defizitmodell des Alterns ausgeht. Dies führt vor allem auch durch die medial verstärkte Präsenz der Anti-Aging-Idee zu einer pejorativen Stereotypisierung des Alters und wachsenden Intoleranz gegenüber alten Menschen in der Gesellschaft. Einige Autoren werten dies als Rückfall hinter die Errungenschaften des gerontologischen Fortschritts, welcher längst zwischen Erscheinungsformen des ›normal aging‹ und Alterserkrankungen zu differenzieren versucht. Gleichzeitig wird die »Ideologisierung« bzw. »Glorifizierung des mittleren Lebensalters« (G. Maio) durchaus als symptomatisch für den auf Jugend und Schönheit fixierten Zeitgeist und die Werte einer leistungsorientierten Konsumgesellschaft verstanden und Vorbehalte gegen Anti-Aging im Rahmen einer allgemeineren und größer angelegten Gesellschafts- und Kulturkritik vorgebracht. Dabei wird auch auf die Wirkung hingewiesen, die altersabwertende Ideale und Praktiken auf alte Menschen selbst hätten, die die entsprechenden Stigmatisierungsformen leicht internalisierten. Nicht zuletzt durch den Boom der Anti-Aging-Medizin verspüre diese Bevölkerungsgruppe einen zunehmenden Konformitätsdruck, durch Selbstdisziplinierung den eigenen, bislang als normal und natürlich empfundenen Zustand optimieren zu müssen. Dass durch die lebenslange Orientierung an Jugendlichkeit und Kraft sowie durch die AntiAging-Versprechen, Jugend und Leistungsfähigkeit ewig konservieren Vgl.: Post (2004b), Gesang (2007), Mackey (2003), Partridge/Hall (2007), Davis (2004), Harris (2004), Juengst (2003).
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zu können, der irgendwann unausweichlich eintretende Sterbeprozess und der nahende eigene Tod umso schlimmer erfahren werden, liegt in diesem Zusammenhang auf der Hand. 26 Pro Anti-Aging-Befürworter versuchen zur Erwiderung des Diskriminierungsvorwurfes diesen in sein Gegenteil zu verkehren und zu argumentieren, dass Anti-Aging nicht ein pejoratives Altersbild befördere, sondern vielmehr selbst besonders geeignet sei, negativen Stereotypen entgegen zu wirken. Aufgrund der Erfolge von Anti-Aging würde sich das Altersbild grundlegend wandeln und durch entsprechende Maßnahmen und Eingriffe könnten – freilich nur defizitäre – Merkmale, die bisher unausweichlich zum Alterungsprozess gehörten, zum Verschwinden gebracht werden. In diesem Zusammenhang findet sich dann sogar die erstaunliche Ansicht, das Vorenthalten von Anti-AgingInterventionen sei Ausdruck von Altersdiskriminierung und ein Verstoß gegen das »Menschenrecht auf Weiterleben« (A. De Grey). 27
II. 3) Lebensphasen und Generationsabfolge Contra Anti-Aging als Technik zur radikalen Lebensverlängerung hätte weitreichende Auswirkungen auf die sozialen Verhältnisse der Menschen und die demographische Zusammensetzung der Gesellschaft. Neben Effekten auf der intragenerationellen Ebene – Familien- und Beziehungsstrukturen würden unter völlig neue zeitliche Vorzeichen gestellt – werden vor allem intergenerationelle Auswirkungen extremer Langlebigkeit diskutiert. Würden weite Teile der Bevölkerung deutlich später eines natürlichen Todes sterben als bisher (bzw. gar nicht mehr), würde nicht nur die Gesamtzahl aller Menschen rapide anwachsen, sondern sich auch das Verhältnis zwischen den Generationen massiv verändern. Die bisherige Generationsabfolge, die trotz des demographischen Wandels infolge des kontinuierlichen Anstiegs der durchschnittlichen Lebenserwartung in ihrer Grundstrukur relativ stabil ge26 Vgl.: Juengst et al. (2003), Kondratowitz (2003), Maio (2006), Mackey (2003), Butler (2001), Haber (2001), Haber (2004), Viehöver (2008), Gordijn (2004). 27 Vgl.: Post (2004b), De Grey (2005a).
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blieben ist, gilt manchen Anti-Aging-Kritikern als derart grundlegend und überlebensnotwendig für die Gesellschaft, dass eine tiefgreifende demographische Verschiebung durch die massenhafte Anwendung erfolgreicher Anti-Aging-Behandlungen als verheerende Störung dieser empfindlichen Balance unbedingt zu vermeiden ist. 28 Zahlreiche Einwände gegen die Etablierung von Anti-Aging als Lebensverlängerung verweisen dabei auf konkrete Folgen eines Aufbrechens der seit Jahrtausenden vorherrschenden generationellen Struktur. Im Mittelpunkt der Kritik steht die Befürchtung, dass durch eine zunehmende Überalterung die Kraft der gesamtgesellschaftlichen Erneuerung und Anpassungsfähigkeit immer mehr abgeschwächt würde. Die Potenziale an Kreativität, Flexibilität, Spontanität und Vitalität, die so nur neu nachrückende, junge (und nicht bloß jugendlich erhaltene) Menschen besitzen und in den »Sozialkörper« (H. Jonas) einbringen, ginge mehr und mehr verloren, was schließlich zu abnehmender Innovations- und Adaptionsfähigkeit und -bereitschaft führen würde. Würde Anti-Aging dazu beitragen, den unaufhörlichen Fluss der Regeneration durch die Frische der Jugend zu unterbrechen und auszutrocknen, käme die intellektuelle Evolution an ein Ende, eine allgemeine Stimmung von vermindertem Ehrgeiz, zunehmender Unsensibilität, Ermüdung und Zynismus wäre zu befürchten. Da Amtsinhaber und Personen in Machtpositionen nicht mehr (früher oder später) auf natürlichem Wege ihre Positionen frei machen würden, würde AntiAging letztlich hierarchische Strukturen bestärken und verfestigen – den politischen Extremfall sehen manche Autoren hier in Tyrannen und Diktatoren, die nurmehr gewaltsam beseitigt werden könnten. Den verschiedensten Institutionen innerhalb der Gesellschaft stünde ein tiefgreifender Transformationprozess in Richtung einer Gerontokratie bevor, was vor allem zu Lasten junger Menschen ginge. Diesen würde die eigene Identitätsfindung und generationelle Positionsbestimmung sowie die gesellschaftliche Teilnahme und Mitwirkung immer weiter erschwert oder gar verwehrt. Generell sehen einige AntiAging-Skeptiker durch radikale Lebensverlängerung den Stellenwert von Kindern (und des Kinderhabens) deutlich schwinden, was das Ausbleiben nachwachsender Generationen nur noch weiter verschärfen würde. Mit Blick auf die langfristigen gesellschaftlichen Folgen lebensverlängernden Anti-Agings existieren in der Debatte große Bedenken, 28
Vgl.: Hackler (2001), Kass (2001), Post (2004b), Fukuyama (2002), Borst (2004).
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die »eine Tragödie der Allgemeinheit« (PCBE), die »Dehumanisierung der Gesellschaft« durch absoluten Stillstand (E. Borst) und schließlich das Ende der Vitalität der menschlichen Gattung (J. Lachs) befürchten. 29 Mit Blick auf mögliche Auswirkungen von Anti-Aging auf die Generationenfolge wird von manchen Autoren auch die Frage diskutiert, ob und inwieweit zukünftige, noch nicht geborene Menschen Rechte besitzen, die bei Entscheidungen über lebensverlängernde und alternsabschaffende Maßnahmen heute zu berücksichtigen wären. Als grundlegend gilt einigen Anti-Aging-Kritikern dabei das Recht, überhaupt exisitieren zu können. Sie sehen das Projekt, den Traum ewigen Lebens auf Kosten zukünftiger Generationen zu realisieren, die dadurch in ihrer Existenz eingeschränkt bis verhindert würden, als »kindlichen und narzisstischen Wunsch« (L. Kass), »Solipsismus« (S. Post) und »ultimativen Akt der Selbstsucht« (J. Lachs). 30 Ginge durch Anti-Aging die Notwendigkeit eines Bezugs auf künftige Generationen verloren, würde dies die Konzentration der Lebenden auf sich selbst, auf die eigenen konkreten Interessen verstärken, egoistische Haltungen begünstigen und gleichzeitig eine natürliche Quelle altruistischer Gefühle verdrängen. Befürworter von Konzepten natürlicher Lebenszyklen und harmonischer Generationsfolgen befürchten durch einen Verlust der Erfahrung von Zuwendung an Jüngere, wie sie paradigmatisch in familiären (Groß-)Eltern-(Enkel-)Kind-Beziehungen gefordert und gegeben ist, das Schwinden der Fähigkeit zu Güte, Menschlichkeit, Opferbereitschaft und Nächstenliebe, was schließlich eine Erosion moralisch fundamentaler Werte wie der grundsätzlichen Anerkennung der natürlichen Menschenwürde zur Folge hätte. Außerdem wird mit dem Verschwinden des Alters und alter Menschen auch das Ende wertvoller Alterstugenden wie Gelassenheit, Altersweisheit und Selbstlosigkeit prognostiziert. 31
29 Vgl.: Gems (2003), PCBE (2003), Hildt (2009), Singer (1991), Harris (2004), Wittwer (2004), Borst (2004), Lachs (2004), Fukuyama (2002), Ehni/Marckmann (2008), Hackler (2001), Jonas (1979). 30 Vgl.: Kennedy (2009), Singer (1991), Post (2004a), Post (2004b), Kass (2001), Lachs (2004). 31 Vgl.: Post (2004a), PCBE (2003), Fukuyama (2002), Post (2004b), Schramme (2009), Callahan (2000), Kass (2001), Juengst (2003).
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Pro Gegen Befürchtungen, durch Anti-Aging würde sich die Generationsfolge auflösen, wird eingewandt, dass sich lebensverlängernde Maßnahmen nur allmählich auf die demographische Situation auswirken würden und somit genug Zeit zur Anpassung an die veränderten Anforderungen bliebe. Außerdem würden durch Anti-Aging zwar die einzelnen Lebensphasen verlängert, die Phasenhaftigkeit des Lebens selbst bliebe davon aber unberührt. Überdies seien sowohl die Lebensphase der Kindheit als auch die des Ruhestandes und der Freizeit erst im Zuge der steigenden Lebensdauer des modernen Menschen möglich geworden, was auf die Adaptionsfähigkeit sozialer Praxis vertrauen lassen könne. Die heute schon deutliche Entwicklung hin zu Familienstrukturen, die über vier und mehr Generationen reichen, wiese in die entsprechende Richtung und könne sogar zu einem positiven Wandel des Bewusstseins für die Mitverantwortung und Pflege alter Familienmitglieder beitragen. 32 Aus utilitaristischer Perspektive ist eine starke Alterung der Gesellschaft zunächst nicht problematisch, da das wesentliche Kriterium der Glückserfahrung und maximalen Interessenbefriedigung nicht altersabhängig sei. Somit erscheint das Szenario einer Gerontokratie weniger beunruhigend, als vielmehr direkter Ausdruck demokratischer Machtverteilung zu sein. Gesamtgesellschaftliche Tendenzen zu mehr Unflexibilität, Reformfeindlichkeit und Starrheit durch einen zunehmenden Bevölkerungsanteil alter Menschen sind für optimistische Anti-Aging-Befürworter ebenfalls unwahrscheinlich, da durch AntiAging nicht nur körperliche, sondern auch geistige Fähigkeiten auf jugendlichem Niveau erhalten und vor dem Erstarren bewahrt würden. In der Kombination von verbesserten Bildungsmöglichkeiten mit Verfahren biologischer Verjüngung, die den Erhalt zerebraler Frische beinhalten, erkennen manche Autoren gar ungeahnte Potenziale, benachteiligte Menschen ganzheitlich zu optimieren und »aus vormaligen Klempnern neue Da Vincis« (A. De Grey) zu machen. Schon in der Rede des für Frische und Innovation notwendigen Platzmachens der Alten entdecken andere die Bestärkung altersdiskriminierender Stereotypen und Vorurteile, zu deren Entkräftung und Verschwinden Anti-Aging einen wichtigen Beitrag leisten könne. 33 32 33
Vgl.: Gesang (2007), Arking (2004), Klatz (2002). Vgl.: Gesang (2007), De Grey (2005a), Mackey (2003).
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Da naturalistische Argumente in der Anti-Aging-Debatte notorisch ambivalent und widersprüchlich verwendet werden (können), lassen sich Verweise auf evolutionäre Zusammenhänge immer auch im Sinne der Anti-Aging-Forschung und -praxis nutzen. So kontern Befürworter die Bedenken, durch radikale künstliche Lebensverlängerung werde die fein austarierte natürliche Balance der Evolution empfindlich gestört, mit dem Hinweis auf das evolutionär zwecklose Abfallprodukt Altern sowie die generelle Nutzlosigkeit der Evolution für den heutigen Menschen. 34
III. Die Debatte: Medizintheoretische Aspekte Pro Viele Befürworter von Anti-Aging sehen in alternsvermeidenden Maßnahmen eine beispielhafte Umsetzung der humanitären Idee von Medizin an sich. Wie kaum eine zweite Innovation im medizinischen Bereich scheint Anti-Aging demnach geeignet, den ärztlichen Kernauftrag der Leidensvermeidung, Lebensverbesserung und sogar Lebensrettung zu erfüllen. Um dies plausibel zu machen, mahnen einige Positionen ein gänzlich neues Verständnis der biologischen Alterungsvorgänge – als pathologische Prozesse – an und reklamieren durch die Neudefinition von Altern als Krankheit die (pathozentrierte) Zuständigkeit der Medizin (sog. Pathologisierung). 35 Die meisten Autoren folgen allerdings dem mittlerweile vorherrschenden Selbstverständnis der Anti-Aging-Mediziner, die es vermeiden, Altern selbst als Krankheit zu bezeichnen und stattdessen ihr Fach als einzigartig konsequente Form der Vorsorgemedizin verstehen. Anti-Aging-Medizin als Präventivmedizin gilt so als Ausdruck und Vorreiter des grundlegenden Perspektivenwechsels im Gesundheitswesen, wonach die Ausrichtung auf Krankheit (ihre Entstehung und Bekämpfung – Pathogenetisches Paradigma) zunehmend von einer Konzentration auf Gesundheit (ihre Erhaltung und Steigerung – Salutogenetisches Paradigma) abgelöst wird. Anti-Aging-Medizin reagiere somit direkt auf die Bedürfnisse der Menschen, die mit der herkömmlichen Vgl.: Mauron (2005), Caplan (2005). Vgl.: De Grey (2005a), Caplan (2005), De Grey/Rae (2007). Zu den argumentativen Strategien der Pathologisierung und Medikalisierung sowie dem folgenden Abschnitt siehe auch den Beitrag von Eichinger in diesem Band. 34 35
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Reparaturmedizin immer unzufriedener sind. Als langfristig überlegene Alternative zu dem überkommenen Nachsorgeparadigma gebe sie dadurch die zukünftige Entwicklungsrichtung der Medizin im Ganzen vor. Dass Anti-Aging, indem es primär Prävention und Gesundheitssteigerung betreibt, somit nur indirekt auf Krankheit bezogen und tendenziell als Enhancement einzustufen ist, stellt für Anti-Aging-Fürsprecher kein Problem dar. Entweder sehen diese Altern als Quelle unnötigen Leidens an, das es mit medizinischen Mitteln zu beseitigen gilt oder aber die Steigerung der Lebensqualität jenseits von therapeutischer Krankheitsbehandlung ist für sie ohnehin eine wichtige und legitime Aufgabe der Medizin (sog. Medikalisierung). 36 Einzelne Autoren gehen in ihrer Argumentation sogar soweit, von einem Grundrecht des Menschen auf ein unbegrenzt langes Leben zu sprechen und fassen Anti-Aging als moralisch gebotene Lebensrettung auf, indem sie die künstliche Verlängerung des Lebens über ein natürliches Maß mit der Abwendung eines vorzeitigen Ablebens (etwa durch Unfälle oder Erkrankungen) gleichsetzen. 37 Contra Positionen, die Anti-Aging für unvereinbar mit den Zielsetzungen der Medizin halten, bestreiten vehement jeglichen Krankheitswert des Alterns und betonen dagegen die Hilfsfunktion der Medizin zur persönlichen Annahme des Alter(n)s. In der Umwertung biologischer Vorgänge und Zustände, die bislang als natürlich und (statistisch) normal gelten, sehen Kritiker der Pathologisierungs-These eine eklatante Verletzung des traditionellen ärztlichen Ethos, wonach es zu den Aufgaben der Medizin gehört, dem Menschen in seiner grundsätzlichen Vulnerabilität und Sterblichkeit beizustehen und keine falschen Hoffnungen auf eine Überwindung der körperlichen und geistigen Unvollkommenheit mit medizinischer Hilfe zu wecken. Gerade angesichts starker gesellschaftlicher Tendenzen, die Werte wie Jugendlichkeit, Schönheit und Perfektion verherrlichen und Alter und Gebrechlichkeit negieren bzw. marginalisieren, wird die Anwendung von Anti-Aging durch Ärzte als bedenkliche Instrumentalisierung aufgefasst und vor einer »Komplizenschaft« der moralischen Autorität der Medizin gewarnt. Außerdem sehen einige Autoren durch eine Ausweitung des medizi36 37
Vgl.: Gesang (2007), Post (2004a), Mackey (2003), Klatz (2002), Mykytyn (2006). Vgl.: Harris (2004), De Grey (2005a).
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nischen Zuständigkeitsbereiches auf Alterungsphänomene die ohnehin schon kritisierte Entwicklung der Medizin zu einer Dienstleistung auf Wunsch forciert, was als Gefahr für die Identität der Medizin und damit als Ende einer garantierten ärztlichen Verantwortung verstanden wird. Generell wird – wie schon in der allgemeinen Debatte um Medikalisierung der Lebenswelt – bezweifelt, ob eine medizinische ›Behandlung‹ des Alterns überhaupt die richtige Strategie darstellt, um Problemen zu begegnen, die mit dem Älterwerden zusammenhängen und die sich aus dem Altern von Körper und Geist ergeben. Häufig wird angeführt, dass hierzu Interventionen auf einer gänzlich anderen Ebene, z. B. der der Sozialpolitik oder Psychologie, gefordert sind, die für die Belastungen des Alter(n)s angemessener und nachhaltig erfolgreicher scheinen, als es ein Arzt mit seinen Möglichkeiten sein kann. Bestritten wird auch die Gleichsetzung der – bestehenden – ärztlichen Verpflichtung, Krankheiten vorzubeugen und zu heilen mit einer – behaupteten – Pflicht, Maßnahmen zu direkter Lebensverlängerung durchzuführen. 38
IV. Die Debatte: Philosophisch-anthropologische Aspekte IV. 1) Personale Identität Contra Im Falle extremer Lebensverlängerung durch radikales Anti-Aging befürchten Skeptiker schwerwiegende Probleme bzgl. der personalen Identität langlebiger Menschen. So beziehen sich entsprechende Einwände auf Konzepte des menschlichen Selbst, die die zeitliche Kontinuität von Geist und Seele zur Bedingung für die Ausbildung eines Selbst und den Begriff der Identität postulieren. Beide Konzepte sehen einige Autoren durch eine extreme Ausdehnung der Lebenszeit stark gefährdet. Die Verknüpfungsleistung des autobiographischen Gedächtnisses, welches als elementare Bedingung der personalen Identität gilt, wäre schlicht überfordert und eine mehrhundertjährige Lebensdauer für einen Menschen im Rahmen eines kohärenten und stabilen Selbst38 Vgl.: PCBE (2003), Schramme (2009), Kondratowitz (2003), Juengst et al. (2003), Maio (2006), Gordijn (2004), Partridge/Hall (2007), Wittwer (2009).
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konzeptes nicht mehr zu bewältigen. Die zeitliche Kontinuität des Selbst würde schwinden und der alterslose Körper wäre nurmehr die Hülle verschiedener Personen, deren aufeinanderfolgende Bewusstseinszustände und -inhalte nicht mehr oder nur sehr schwach verbunden wären, was schließlich dazu führen würde, dass die Lebensverlängerung nicht mehr der Person zugute käme, die sie anfangs gewollt hatte. Eine derartige Abkopplung der physischen von der psychologischen Lebensspanne würde die gewonnenen Jahre ihrer Authentizität berauben und käme einem Verlust der personalen Identität gleich. 39 Pro Befürworter radikalen Anti-Agings bezweifeln, ob allein durch die quantitative Verlängerung des Lebens die personale Identität fragmentiert würde und stellen statt der Psyche die Körperlichkeit als Identitätskriterium in den Vordergrund. Einer in diesem Sinne auch über Jahrhunderte hinweg identischen Person stünde eine verlockende Vervielfachung möglicher Lebensentwürfe offen, über deren Verlauf durchaus verbindene Erinnerungen bzw. Erinnerungsketten denkbar erscheinen. Damit würde sich eine serielle Identitätenabfolge nicht wesentlich von den vertrauten Veränderungen in einem heute üblichen langen Leben (zwischen Kindheit, Jugend, Reife und Alter) unterscheiden, die ebenfalls einen sehr grundlegenden Wandel im Erleben der eigenen Identiät bedeuten können. Daneben wird die Notwendigkeit einer stabilen personalen Identität für ein kohärentes Selbstkonzept angesichts eines unbegrenzten Lebens bestritten und außerdem die Möglichkeit angeführt, ein starkes Interesse an zukünftigen Menschen, die nicht personenidentisch sind, auszubilden. 40
IV. 2) Wert des Lebens IV. 2) A. Quantität Pro Positionen, die Maßnahmen zu radikaler Lebensverlängerung und entsprechende Forschungsbemühungen uneingeschränkt befürworten, se39 40
Vgl.: Glannon (2002b), Gordijn (2004), Jonas (1992), Hildt (2009). Vgl.: Gems (2003), Horrobin (2005), Gesang (2007), Gordijn (2004), Harris (2004).
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hen in der rein quantitativen Steigerung der menschenmöglichen Lebenszeit eine Errungenschaft, die alle etwaigen Risiken und Gefahren solcher Eingriffe bei weitem überwiegt und rechtfertigt. Gerade weil die grenzenlose Erhöhung verfügbarer Zeit völlig unabhängig davon, wofür der Einzelne seine zusätzlichen Lebensjahre tatsächlich nutzt, erheblich erweiterte Möglichkeiten für die individuelle Lebensgestaltung bietet, gilt die Aussicht auf eine extrem verlängerte Lebensspanne vielen Autoren als fraglos positives und erstrebenswertes Ziel. Die so simple wie bestechende Argumentation dahinter lautet: wenn es gut ist zu leben, dann ist es besser, länger zu leben – und am besten ist es, gar nicht damit aufzuhören, also nicht zu sterben. Auch die anspruchsvollere Zielsetzung, die nicht nur bloßes Weiterleben, sondern auch ein gutes und glückliches Leben anstrebt, verspricht sich von einer Erweiterung der zeitlichen Dimension des Lebens unschätzbare Vorteile, denn um Lebenspläne und -ziele zu entwerfen und zu erreichen, zu korrigieren und zu optimieren, braucht es vor allem Zeit. Außerdem böte eine signifikant verlängerte Lebensdauer nicht nur die Chance, verpasste Gelegenheiten nachzuholen, sondern auch die Möglichkeit, mehrere Projekte, die bisher jeweils ein ganzes normal langes Leben beanspruchten, nacheinander zu realisieren. So ließen sich etwa verschiedene berufliche Karrieren absolvieren und mehrere aufeinander folgende langjährige Partnerschaften eingehen, was ein menschliches Leben wiederum potentiell erfüllter und glücklicher machen dürfte. Überhaupt versprechen sich viele Anti-Aging-Befürworter von einem mehrhundertjährigen Leben die Entstehung ganz neuer Formen von Sozialität, die geprägt sind von durchweg begrüßenswerten Effekten wie vertieften menschlichen Beziehungen und gesteigertem Altruismus, erweitertem Wissen, Verständnis und Weisheit, geschärftem Bewusstsein für Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und intergenerationellen Zusammenhalt – so mancher träumt gar von der »Ankunft einer wahren Zivilisation« durch extreme Langlebigkeit (M. Fossel 1997, 28). Sofern von Befürwortern radikaler Lebensverlängerung dabei mögliche negative Folgen überhaupt erwähnt werden, geben diese nur wenig Anlass zur Beunruhigung und scheinen sicher zu bewältigen. Diese Zuversicht verweist auf das immense Potential an ungeahnten Lösungsstrategien und kulturell-sozialen Innovationen, die als Reaktionen auf einen so grundlegenden Entwicklungsschritt des Menschen mit Sicherheit zu erwarten seien. Für Anti-Aging-Befürworter belegt dies unzweifelhaft schon die historische Erfahrung mit fundamentalen 57 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Umbrüchen, technologischen Revolutionen und wissenschaftlichen Paradigmenwechseln im Verlauf der gesamten Menschheitsgeschichte (vgl. auch I.1). 41 Einige Autoren, die in Maßnahmen zu radikaler Lebensverlängerung einen beträchtlichen Gewinn erkennen, betonen außerdem den vielfach existierenden und stark ausgeprägten Wunsch, alle Mittel und Wege zu nutzen, um den uralten Menschheitstraum nach ewigem Leben Realität werden zu lassen, selbst wenn sich dies nur auf Kosten der Lebensqualität umsetzen ließe. 42 Der vielfach vorgebrachten Befürchtung, dass durch lebensverlängerndes Anti-Aging mit dem Verlust der grundsätzlichen Endlichkeit der menschlichen Existenz auch eine unerlässliche Voraussetzung für ein ernsthaftes und bewusstes Leben verloren gehe (s. u.), wird von Befürwortern häufig entgegnet, dass extreme Langlebigkeit nicht identisch mit Unsterblichkeit sei. Deshalb bliebe der Mensch auch als extrem langlebiges Wesen weiterhin vulnerabel und sterblich, was eine unendliche Wiederholbarkeit von Erfahrungen und Handlungen, die diese letztlich entwerten würde und die Menschen gleichgültig werden ließe, ausschließe. Durch eine beträchtliche Erweiterung der Lebenszeit würde allerdings der spezifisch tragische Ernst irreversibler Fehlentscheidungen gemildert oder sogar ganz verschwinden, was vielen dagegen begrüßenswert erscheint. Ohnehin wird, um dem Vorwurf einer plumpen Gleichsetzung von Quantität und Qualität zu entgehen, häufig darauf hingewiesen, dass durch einen Zugewinn an Lebensjahren zwar nicht automatisch auch die Lebensqualität und das Maß des erfahrenen Glücks zunehme, da diese Art der Lebensverbesserung immer von dem Einzelnen, seinem Charakter und der jeweiligen Grundeinstellung abhänge. Eine beträchtliche Ausdehnung der Lebensdauer müsse aber für Menschen, die generell offen für neue Erfahrungen und interessiert an prinzipiell infiniten Projekten wie Kunst oder Wissenschaft sind, keineswegs Langeweile, Indifferenz und Antriebslosigkeit, sondern könne zweifellos einen unschätzbaren Nutzen bedeuten. 43 Vgl.: Klatz (2002), Moody (2001), Mauron (2005), Mackey (2003), Fossel (1996), Gesang (2007), De Grey (2005b), Knell (2009), Gems (2003), Stock et al. (2007), Schloendorn (2006), Overall (2003), Fossel (1997). 42 Vgl.: Harris (2004), Singer (1991). 43 Vgl.: Moody (2001), Horrobin (2005), Gesang (2007), Knell (2009), Gems (2003), Harris (2004). 41
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Neben individualethischen Vorteilen lebensverlängernder Maßnahmen bestehen auch Hoffnungen auf positive Effekte, die »aus einer Außenperspektive« (B. Gesang) für radikales Anti-Aging sprechen. So rechnen manche Autoren mit einer Zunahme und Festigung altruistischer Motive sowie einem deutlich stärker ausgeprägten Risikobewusstsein und der Abnahme lebensgefährlichen Verhaltens (wie etwa Extremsportarten oder bestimmte Formen der Freizeitgestaltung). 44 Contra In einer langen philosophischen Tradition finden sich Argumente für die Unabhängigkeit von Qualität und Quantität des Lebens, die bestreiten, dass die bloße zeitliche Verlängerung ein menschliches Leben auch notwendigerweise erstrebenswerter mache. Als wesentliche Kriterien für ein erfülltes und gelungenes Leben werden dementsprechend in der Anti-Aging-Debatte Werte und Errungenschaften genannt, deren Erreichen nur indirekt von der Anzahl der Jahre abhängt, die zur Verfügung stehen. So könne nicht nur ein Leben der heute üblichen Durchschnittsdauer von rund 80 Jahren, sondern auch ein kürzeres Leben angefüllt sein mit bedeutenden und bewusst gemachten Erfahrungen, reichen sozialen Beziehungen, tief gehender und befriedigender Selbstentfaltung. Die Vollendung narrativer Vollständigkeit oder eine Steigerung der »lebensholistischen Wohlfahrt« (S. Knell) eines biographischen Ganzen werde durch eine verlängerte Zeitspanne nicht einmal wahrscheinlicher, geschweige denn garantiert. Zudem würde das Problem der Endlichkeit des Lebens durch eine (auch extreme) Verlängerung ohnehin nicht berührt. Das ewige Hinausschieben des eigenen Todes würde vielmehr eine fragwürdige Verdrängung der essenziellen Fragen nach dem Sinn des Lebens bedeuten. 45 Zahlreiche Autoren, die in der Anti-Aging-Debatte Zweifel an positiven Effekten einer quantitativen Ausdehnung für die qualitative Dimension des Lebens anführen, gehen noch einen Schritt weiter und sehen in radikaler Lebensverlängerung eine Gefährdung der Chance auf ein erfülltes Leben. So belege die in Jahrtausenden angereicherte kulturelle und geistige Erfahrung und Erkenntnis des Menschen einVgl.: Gesang (2007), De Grey (2005a). Vgl.: Knell (2009), Lachs (2004), Pijnenburg/Leget (2007), Callahan (2003), Gordijn (2004). 44 45
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drücklich, dass die wesentlichen, sinngebenden Werte und Ziele eines (irdischen) Lebens nicht nur im bisher erreichten zeitlichen Rahmen von 60–80 Lebensjahren (»natural life span«, D. Callahan) erlebt und erreicht werden könnten, sondern eine bewusste und ernsthafte Sinngebung überhaupt nur angesichts der Tatsache der Begrenztheit möglich sei. Erst durch das Bewusstsein der endlichen Zeit und limitierten Möglichkeiten sei der Mensch in der Lage, die zahllosen Optionen der Lebensführung zu bewerten, um sinnvoll auswählen und sich richtig entscheiden zu können. Diese Einsicht, die Philosophen wie Seneca, Kierkegaard, Heidegger, de Beauvoir und Bernard Williams bereits lange vor dem Aufkommen von Anti-Aging entwickelt haben, findet sich in der aktuellen Diskussion um radikale Lebensverlängerung wieder, wenn vor dem Verlust von Ernsthaftigkeit, Bedeutsamkeit und Entschlossenheit, vor dem Schwinden des Sinns für Verbindlichkeiten und vor der Gefahr von Langeweile, Lebensüberdruss, Antriebs- und Bedeutungslosigkeit durch ewige Wiederhol- und Revidierbarkeit aller Entscheidungen und Handlungen gewarnt wird. 46 Die biologische Sterblichkeit des Menschen erscheint manchem auch als ein »Segen« (H. Jonas), wenn man sich klar mache, dass eine grundlegend veränderte Struktur der Lebenserwartung durch radikale Lebensverlängerung auch das Verhältnis zum Tod und den Umgang mit dem eigenen Sterben erheblich belasten würde. So würde die weiter bestehende Tötbarkeit bei dem gleichzeitigen Verlust einer natürlichen und in groben Zügen berechenbaren Lebens- und Todeserwartung für den Einzelnen bedeuten, einer beständigen unterschwelligen Angst vor dem plötzlichen Ende ausgesetzt zu sein. Dies würde die antizipative Zukunftorientierung sowie die Möglichkeit, im Sinne biographisch-narrativer Vollständigkeit das nahende Ende des eigenen Lebens bewusst zu erfahren, in fataler Weise untergraben. Durch die Beseitigung des Alterns und natürlichen Sterbens würde so die Angst vor Unfällen oder einem gewaltsamen Ableben sowie der Schrecken des Todes, der dann immer vorzeitig, unerwartet und schockierend wäre, erheblich zunehmen. 47
Vgl.: Callahan (1995), PCBE (2003), Kass (2001), Borst (2004), Wittwer (2004), Schramme (2009), Post (2004b), Moody (2001), Ehni/Marckmann (2008), Gems (2003), Post (2004a), Callahan (2003). 47 Vgl.: Knell (2009), Lacina (2009), PCBE (2003), Kass (2001), Jonas (1992). 46
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IV. 2) B. Qualität Pro Unabhängig von quantitativen Aspekten sehen viele Befürworter der Anwendung alternsvermeidender Maßnahmen ein schlagendes Argument in der Aussicht gegeben, durch die Minimierung der vielfältigen Übel, die mit dem Prozess des Alterns und dem Zustand des Alters assoziiert werden, das Leben effektiv zu erleichtern und so unbestreitbar Gutes zu tun. Dass die biologische Alterung als Quelle von Leiden und Beschwerlichkeiten bisher als unveränderlicher natürlicher Vorgang verstanden wurde, spielt dabei keine Rolle. Vielmehr wird die neuartige Möglichkeit, hier wirkungsvoll einzugreifen, als revolutionärer Fortschritt der Wissenschaft und Segen für die Menschheit gefeiert. Viele Fürsprecher medizinischer Anti-Aging-Anwendungen sehen frühzeitige und umfassende Altersbekämpfung insofern nicht nur gerechtfertigt, sondern mit Verweis auf den ärztlichen Auftrag zu Leidensvermeidung und Krankheitsbekämpfung auch als ethisch geboten an. Dass derartige Ansichten mit einem einseitigen Negativ- und Defizitmodell des Alters einhergehen (Altern als Krankheit bzw. »uralte Geißel der Menschheit«, B. Gesang), liegt auf der Hand. 48 Contra Dem stehen Auffassungen gegenüber, die an dem Konzept des Alters als normalem, natürlichen und keineswegs pathologischen Prozess festhalten. Demnach gehört der biologische Vorgang des Alterns zur menschlichen Natur wie die Nahrungsaufnahme und Fortpflanzung, und nur Personen, die ihrem Wesen als natürliches Geschöpf entfremdet seien und die essentielle Untrennbarkeit von Leben, Wachsen, Altern und Sterben leugneten, könnten Projekte wie künstliche Lebensverlängerung oder die Abschaffung des Alterns ernsthaft verfolgen. Viele Autoren, die einen etwaigen Krankheitswert des Alterns bestreiten, sind darüberhinaus auch der Auffassung, dass Alter(n), auch wenn es häufig mit Leidenserfahrungen verbunden ist, weder selbst als Leidenszustand noch in erster Linie als negatives Phänomen zu verstehen sei, sondern vielmehr eine besondere Chance und privilegierte Lebensphase darstellen könne. So böte das Alter auch Gelegenheit, eine Vertiefung und Intensivierung des Lebens zu erfahren, bedeutende soziale Rollen zu 48 Vgl.: Wittwer (2004), Post (2004b), Mackey (2003), Gesang (2007), Stock et al. (2007), Caplan (2005).
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übernehmen, gleichzeitig gesellschaftlichem Druck und beruflicher Konkurrenz enthoben zu sein und sich spezifischer Tugenden wie Weisheit, Gelassenheit und generell reicher Lebenserfahrung zu erfreuen. Nicht zuletzt trüge ein allmählicher Alterungsprozess mit zunehmender Gebrechlich- und Hinfälligkeit zur Entwöhnung von Jugendfixierung und Lebensbezogenheit bei und mache den unausweichlichen Tod akzeptabler. Überhaupt wird von vielen Philosophen und Theologen eine so prinzipielle wie umfassende Verteufelung jeglichen Leidens in Frage gestellt und dagegen die Notwendigkeit der Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und negative Erfahrungen in das eigene Leben zu integrieren, akzentuiert. 49
IV. 3) Machbarkeit und Natur des Menschen Die grundlegendste philosophisch-anthropologische Ebene der ethischen Debatte um Anti-Aging führt zu der Frage nach dem Menschen. So hängt es letztlich von dem jeweiligen Menschenbild ab, wie man zu Praktiken der Altersvermeidung und radikalen Lebensverlängerung steht und ob man die Zielsetzungen, die hinter Anti-Aging stehen – sei es als Medizin oder als visionäre Grundlagenforschung –, für erstrebenswert, akzeptabel, bedenklich oder völlig verfehlt hält. Pro Die Befürworter von lebensverlängernden Maßnahmen sehen den Menschen in der Regel zuallererst als selbstbestimmtes und autonomes Wesen an, das möglichst frei von Zwängen, Traditionen oder Autoritäten in seiner Handlungsfreiheit allein dem Gebot der eigenen Vernunft und Glückseligkeit untersteht. Dementsprechend werden keinerlei äußere Beschränkungen der Selbstgestaltung akzeptiert und der Mensch solle sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und Techniken selbst verändern dürfen, sofern er sich dazu freiwillig und glaubhaft entscheidet. Auf Eingriffe in den Alterungsprozess bezogen, wird vehement gefordert, dass der Einzelne uneingeschränkt selbst bestimmen können müsse, wie lange er leben und ob bzw. in welcher Form er Vgl.: Kennedy (2009), Schramme (2009), Hayflick (2001), Lachs (2004), Moody (1986), Kass (1983), Callahan (2000), Murphy (1986), Kass (2001), Waldenfels (1986), Rüegger (2007), Rentsch (1994).
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altern wolle. Dabei wird häufig auf das Verbesserungsstreben des Menschen als anthropologische Konstante verwiesen, welche manche AntiAging-Befürworter als Rechtfertigung selbstmanipulativer Praktiken zur Alternsbekämpfung, andere sogar als Gebot zu forciertem Enhancement interpretieren. Einige Autoren können sich ›nichts Menschlicheres‹ vorstellen, als die Mechanismen der biologischen Alterung so grundlegend wie nur möglich erforschen zu wollen, um den Verlauf dieses Naturprozesses dann in die eigene Hand nehmen und den persönlichen Bedürfnissen und Wünschen anpassen zu können. Bei diesem auch häufig als ›nächster großer Schritt der menschlichen Evolution‹ bezeichneten Vorhaben kommt der Natur und Natürlichkeit des Gegenstandsbereiches, in den mit hochentwickelten Technologien interveniert wird, ein nur geringer Stellenwert zu. Unter dem Motto ›Biologie ist kein Schicksal‹ wird die naturhafte Seite des Menschen als Verfügungsmasse für den innovativen Zugriff des Homo faber verstanden und der Verweis auf die Natürlichkeit des menschlichen Alterns zwar nicht bestritten, nicht jedoch als Einwand akzeptiert. Mit Blick auf die Medizin wird gefordert, dass in einer freien Gesellschaft autonomen Ärzten und ihren Patienten nicht die Ausübung ihres Rechts auf freie Entscheidung über den Einsatz von Anti-Aging-Maßnahmen verwehrt werden dürfe. Überholter Paternalismus sei selbst in Fällen nicht gerechtfertigt und strikt zu vermeiden, in denen die Wirkungslosigkeit der betreffenden Leistungen erwiesen sei, solange sie den Patienten/Klienten keinen direkten Schaden zufügten. 50 Die Befreiung von der Last des Altern-Müssens wird von AntiAging-Befürwortern mehrheitlich als große Errungenschaft der wissenschaftlich-technischen Fortschrittsgeschichte des Menschen verstanden, die angesichts der evolutionären Funktionslosigkeit des Alterns als auch nachbessernde Umarbeitung der blind ablaufenden natürlichen Entwicklungsgeschichte gepriesen wird. An diesem Punkt setzen auch trans- und posthumanistische Argumente an, die die Überwindung der körperlichen Begrenztheit des Menschen propagieren, radikales Anti-Aging als wichtigen Teilerfolg in diesem Kampf gegen die Natur begrüßen und die baldige Realisierung menschlicher Unsterb-
50 Vgl.: Gesang (2007), Klatz (2002), Arking (2004), Mackey (2003), Wittwer (2004), Post (2004a), Juengst et al. (2003), Partridge/Hall (2007), Moody (2001), Pijnenburg/ Leget (2007), Post (2004b), Horrobin (2005).
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lichkeit – als menschheitsgeschichtlich erstmalige Chance auf eine »wirklich offene Zukunft« (J. Harris) – erwarten. 51 Contra Im Vergleich zu sozialethisch und medizintheoretisch motivierter Kritik sind die Einwände, die Anti-Aging-Gegner aus philosophisch-anthropologischer Perpektive vorbringen, von besonderer Tragweite. Nichts weniger als die Abschaffung des Menschen wird als Folge extremer Lebensverlängerung antizipiert, und radikales Anti-Aging gilt vielen Autoren insofern als erster Schritt zum Transhumanismus (»Ein unsterblicher Mensch wäre ein Nicht-Mensch«, C. F. Gethmann). Die Phasenhaftigkeit des menschlichen Lebenszyklus, der natürliche Alterungsprozess und das Wissen um die eigene Sterblichkeit seien konstitutive Wesensmerkmale des Menschen und würden durch eine erfolgreiche Umsetzung der Anti-Aging-Visionen verschwinden, was das menschliche Leben fundamental verändern würde. Da Altern und Tod notwendig zur biologischen Dimension des Menschen gehörten und insofern unverzichtbare Elemente der conditio humana seien, würde das Vorhaben, die menschliche Natur zu ›verbessern‹, bedeuten, diese auszulöschen und den Menschen in seiner bekannten Gestalt zu überwinden. Auch wenn sich die tatsächlichen Auswirkungen extremer Lebensverlängerung nur äußerst schwer abschätzen ließen, spräche vieles dafür, dass nicht die Probleme, die mit Hilfe radikaler Anti-Aging-Behandlungen gelöst werden sollen, verschwinden, sondern dass sich vielmehr die Phänomene auflösen würden, um die es geht. Hinter dem Wunsch, dem Älterwerden zu entkommen, stehe demnach das Verlangen, das eigene leibliche Selbst abschütteln zu können. Und auch wenn Perfektion erreicht werden würde, wäre dies ein zweifelhafter Erfolg, scheint doch gerade die menschliche Unvollkommenheit die »Quelle von etwas, das wir an uns selbst am meisten schätzen« (PCBE) zu sein. 52 Viele Anti-Aging-Skeptiker halten die hinter den altersvermeidenden und -bekämpfenden Maßnahmen stehende Grundeinstellung für bedenklich und erkennen, indem sie über das Altersthema hinausgehen, in der Frage nach dem Menschenbild den geeigneten AnsatzVgl.: Mauron (2005), Lacina (2009), Gesang (2007), De Grey/Rae (2007), Bostrom (2005), Singer (1991), Harris (2002). 52 Vgl.: Kass (2001), Gethmann (2006), PCBE (2003), Fukuyama (2002), Kennedy (2009), Welsch (2008), Ehni/Marckmann (2008), Rüegger (2007). 51
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und Zielpunkt aller Kritik. So wird vermehrt der Vorwurf laut, das gesamte Projekt, gegen das Altern und seine Erscheinungen biogerontologisch und medizinisch vorzugehen, sei symptomatisch für eine gewisse Grundeinstellung zu Leib und Leben, durchdrungen von überzogenem Perfektionismus, unheilvoller Oberflächlichkeit und narzisstischem Materialismus. Unter dem Banner der Autonomie und Selbstverwirklichung füge sich Anti-Aging als Motiv und Praxis nahtlos in das Wertespektrum der Gegenwartsgesellschaft, das übermäßig von Makellosigkeit, Jugend, Leistung und Perfektion dominiert sei. Als verfehlte Ideologie »einer regressiven Gesellschaft voller Berufsjugendlicher« (E. Borst) repräsentiere und verstärke die Altersgegenerschaft bedenkliche Entwicklungstendenzen des technisierten modernen Menschen und führe zu Entfremdung, Dehumanisierung und Selbstobjektivierung. Zudem lehre ein Blick in die Geschichte des technischen Fortschritts, dass die Entwicklung der menschlichen Natur keineswegs mit der technologischer Errungenschaften Schritt halte, und Fragen der Gerechtigkeit, Solidarität und friedlichen Kooperation weiterhin große Herausforderungen für die Menschheit darstellten. 53 Mit Verweis auf philosophisch-anthropologische Positionen warnen Kritiker der Anti-Aging-Idee vor einer zu starken Fokussierung auf die eigene (körperliche) Existenz und deren Verlängerung im Hier und Jetzt. Statt solipsistisch bloß mehr um das eigene Selbst und die unmittelbaren egoistischen Belange zu kreisen, mahnen sie neben Selbstdistanzierung und Bescheidenheit auch Akzeptanz und Wertschätzung äußerer Grenzen an. Statt ihrer permanenten Bekämpfung und Manipulation rufen sie zu einer (Wieder-)Annäherung an die »schon vollkommene« Natur und zu einer Neuentdeckung der »stillen Herrlichkeit des Universums« (J. Lachs). Gerade im Alter dürfe der Mensch nicht vergessen, dass Wertvolles nicht nur durch aktives Handeln und das Ergreifen etwa von medizinisch-technologischen Maßnahmen erreicht werden könne, sondern »das Gute auch durch ein Sein zur Realisierung kommen kann« (G. Maio). Zu schnell werde versucht, die Leere des Lebens durch seine endlose Verlängerung zu heilen, was das über das Diesseits hinausweisende, tiefere Sehnen des Menschen doch niemals befriedigen könne. 54 53 Vgl.: Borst (2004), Jonas (1979), Lachs (2004), Kass (2001), Post (2004b), Hayflick (2001), Callahan (2000). 54 Vgl.: Post (2004a), Pijnenburg/Leget (2007), Callahan (1995), Lachs (2004), Maio (2006), Kass (2001), Callahan (2003).
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Schluss Ein umfassender Überblick über die in der ethischen Debatte um AntiAging wesentlichen Argumentationen zeigt, daß die Bewertung von Anti-Aging-Maßnahmen im Sinne radikaler Lebensverlängerung letztlich auf die allgemeine Frage nach der Rolle der Medizin sowie grundlegenden Konzeptionen des Menschen und des Alters verweist. Die Möglichkeiten und Ziele von Anti-Aging können nicht unabhängig von der eigenen philosophisch-anthropologischen Theorie und Position beurteilt werden. Im Gegenzug kann sich eine Erörterung des Für und Wider von Anti-Aging aber auch als geeignet erweisen, um fundamentale Fragestellungen zu theoretischen Voraussetzungen und allgemeinen Zusammenhängen der menschlichen Existenz an einem konkreten Anwendungsfall aufzuwerfen und die Stimmig- wie Gültigkeit bestehender Überzeugungen zu überprüfen.
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I. Anti-Aging und die Rolle der Medizin
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Innovationen in der Anti-Aging-Medizin Eine Analyse des Angebots, der Versorgungssituation und zukünftiger Entwicklungen an drei ausgewählten Beispielen Holger Gothe, Philipp Storz, Agata Daroszewska, Bertram Häussler
1.
Einleitung
1.1. Anti-Aging-Maßnahmen als Bestandteil einer »präferenzorientierten« Medizin Anti-Aging-Maßnahmen sind mittlerweile zu einem festen Bestandteil der modernen Medizin geworden. Der Wunsch, den Alterungsprozess aufzuhalten bzw. rückgängig zu machen, wird von vielen Patienten geäußert. Im Vergleich zur kurativen Medizin weisen die angebotenen Technologien erhebliche Unterschiede auf. So steht nicht die Heilung einer Erkrankung im Vordergrund, sondern die »Wunscherfüllung« der Erwartungen der Patienten hinsichtlich der auf den Alterungsprozess bezogenen Interventionen ist ausschlaggebend dafür, ob sich eine Anti-Aging-Maßnahme auf dem Gesundheitsmarkt etablieren kann. Dies wirft die Frage auf, ob es gerechtfertigt ist, den Patientenwünschen nachzugehen und der »präferenzorientierten« Medizin in der gesundheitlichen Versorgung Raum zu gewähren. Um diese übergeordnete Frage beantworten zu können, ist eingangs zu klären, welche Bestandteile »die« Anti-Aging-Medizin ausmachen. Dazu ist es zum einen notwendig, medizinische Felder abzugrenzen, in denen Anti-Aging-Maßnahmen eine Rolle spielen könnten. Zum anderen ist zu untersuchen, welche Entwicklungstendenzen sich hinsichtlich dieser Behandlungsfelder aufzeigen lassen und welche Angebote an Innovationen in den jeweiligen Bereichen bestehen. Der Angebotsseite ist eine Analyse der Nachfrageseite gegenüberzustellen, in der zu erkunden ist, ob und, falls ja, welche Parallelen sich zwischen den Patientengruppen ziehen lassen. Der Erörterung dieser Fragen wird zunächst eine Klärung des Innovationsbegriffs vorangestellt. 73 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Holger Gothe, Philipp Storz, Agata Daroszewska, Bertram Häussler
1.2 Innovationen in der medizinischen Versorgung Unter »Innovation« wird jede Neuerung verstanden, die das verfügbare Repertoire von Interventionen durch den Einsatz von Gesundheitstechnologien verändert. Die Veränderung kann eine Erweiterung darstellen, wenn eine gesundheitstechnologische Innovation zu einer neuen Interventionsmöglichkeit führt, die neben die bereits bestehenden tritt. Eine Innovation kann jedoch ebenso darin bestehen, dass eine (oder mehrere) verfügbare Technologie(n) durch eine Innovation ganz oder teilweise ersetzt wird (Substitution). Häufig ist zu beobachten, dass eine neue Interventionsmöglichkeit, die auf einer neuen Technologie (z. B. einem neuen Arzneimittelwirkstoff) basiert, zunächst neben bestehende Technologien tritt. Im weiteren Verlauf, der sich nicht selten über mehrere Jahre erstreckt, kann dann ein immer größerer Anteil der Behandlungen mit Hilfe der neuen Technologie durchgeführt werden, während der Anteil des Einsatzes der zuvor bestehenden Technologie sinkt. Es kann jedoch auch vorkommen, dass sich die neue Technologie nicht bewährt, sich in der Praxis nicht durchsetzt und nur eine geringe Bedeutung erlangt oder schließlich gar nicht mehr eingesetzt wird. Derartige Überlegungen stehen in engem Zusammenhang mit der Bewertung von Innovationen, d. h. mit der Frage, ob Innovationen Verbesserungen und Fortschritt erbringen. In der Entwicklung des medizinischen Wissens und des Angebotes an neuen Verfahren und Technologien ist insgesamt zweifelsohne ein Fortschritt zu konstatieren: Die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der Gegenwart sind denen der Vergangenheit oft deutlich überlegen. Dies muss aber nicht in Bezug auf jede einzelne Innovation der Fall sein, denn die Innovation stellt zunächst eine bloße Neuerung dar. Ob ihre Einführung und Anwendung letztlich die Behandlungsmöglichkeiten in der Alltagspraxis verbessern, ist zu Beginn, also bei erstmaliger Verwendung der neuen Technologie, in der Regel noch nicht sicher zu beurteilen. Dies gilt trotz der gesetzlichen Auflagen und des erheblichen Aufwandes, der bei neuen Gesundheitstechnologien getrieben wird, um schon vor deren praktischer Anwendung ihre Wirkungsweise und insbesondere ihr Gefährdungs- und Schadenspotenzial (unerwünschte Wirkungen, »Nebenwirkungen«) zu erkennen. Dabei handelt es sich u. a. um Unsicherheiten, die auf die Komplexität physiologischer Vorgänge, die Interaktion mit anderen Therapien, die Unterschiedlichkeit von Patientengruppen und der ggf. 74 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Innovationen in der Anti-Aging-Medizin
erst längerfristig zu Tage tretenden Auswirkungen der Anwendung zurückgehen. Die Frage, wie lange bzw. unter welchen Umständen eine Therapie bzw. Technologie als »innovativ« zu bezeichnen ist, kann verschieden beantwortet werden, da es dabei sowohl auf den Zeitverlauf selbst als auch auf das Innovationsgeschehen insgesamt ankommt. Sicherlich ist eine Therapie, die seit geraumer Zeit in der Praxis etabliert ist, nur noch im Rückblick als innovativ anzusehen, sofern sie eine vormals übliche Praxis abgelöst hat. In diesem Sinne ist wohl der Großteil der heute angewandten Gesundheitstechnologien als innovativ zu bezeichnen.
1.3. Die ZIM-Innovationsdatenbank als Quelle zur Recherche innovativer Gesundheitstechnologien Als entscheidendes Instrument für die empirische Aufarbeitung diente insbesondere im ersten Teil dieser Studie – der Innovationsrecherche – die Innovationsdatenbank des Zentrums für Innovation in Medizin und Versorgung (ZIM), das am Berliner IGES Institut ansässig ist. Die ZIM-Innovationsdatenbank (ZIM db) wurde im Jahre 2003 ins Leben gerufen, um Antworten auf die Vielzahl von Fragen zu innovativen Gesundheitstechnologien zu finden. Die ZIM db spiegelt wider, dass medizinischer Fortschritt und Innovationen heutzutage als zentrale Triebkräfte für die Entwicklung unseres Gesundheitssystems anerkannt werden. Neben hohen Erwartungen im Hinblick auf die Lösung gesundheitlicher Probleme beherrschen jedoch meist düstere Prognosen die Diskussion um die Finanzierbarkeit des Fortschritts. Dabei fällt auf, dass es so gut wie keine substantiierten Prognosen über die zukünftigen Entwicklungen gibt – weder in medizinischer noch in finanzieller Hinsicht. Weitgehend unbeantwortet sind Fragen, welche Innovationen denn derzeit in Vorbereitung sind, welche sich durchsetzen könnten und welche Möglichkeiten sich daraus für die Prävention, die Behandlung und die Beeinflussung von körperlichen Prozessen und sozialen Potenzialen bieten. In der ZIM db sind derzeit mehr als 26.000 (Stand 2009 n=26.677) Dokumente aus allen medizinischen bzw. gesundheitstechnologischen Gebieten gesammelt. Nach dem Prinzip des »horizon scanning« werden ausgewählte online zugängliche Quellen aus Wissenschaft sowie 75 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Holger Gothe, Philipp Storz, Agata Daroszewska, Bertram Häussler
Fach- und Laienpresse mit Suchwörtern auf allen medizinischen bzw. gesundheitstechnologischen Gebieten tagesaktuell abgefragt. Bei den Quellen handelt es sich ausschließlich um veröffentlichtes Material aus wissenschaftlichen Zeitschriften (deutschsprachig oder international), Internetportalen und Nachrichtenagenturen und/oder technologiespezifischen Informationsportalen. Vertrauliche Informationen oder interne Daten irgendeiner Einrichtung oder irgendeines Unternehmens gehen nicht ein. Die Erfassung erfolgt durch medizinisch und informationswissenschaftlich qualifizierte Mitarbeiter des IGES Instituts. Die aufgenommenen Meldungen werden in einer nicht öffentlich zugänglichen relationalen Datenbank abgelegt und nach Art der Innovationen, ihrem Entwicklungsstand sowie Krankheitsgruppen (kodiert nach ICD) klassifiziert. Experten aus Biomedizin und Klinik nehmen eine initiale Bewertung der Meldung vor. Kriterien sind die medizinische Relevanz, das Innovationspotenzial und eine Abschätzung der Zeit bis zum Markteintritt der Technologie. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Aufnahme in die Datenbank – im Sinne der oben angegebenen Definition von »Innovation« – keine weitere Qualitätsbeurteilung der in den Meldungen bzw. Dokumenten wiedergegeben Informationen darstellt. Ziel der Erfassung ist es vielmehr, im Rahmen bestimmter Recherchen zu spezifischen Fragestellungen alle in Aussicht gestellten innovativen Interventionen einbeziehen zu können. Eine sachliche Bewertung erfolgt dann entsprechend dem Informationsbedarf der jeweiligen Recherche. Diese Vorgehensweise ist bereits in einer Reihe von Untersuchungen praktiziert worden (Storz et al. 2007; Storz & Gothe 2008; Ostendorf & Gothe 2010). Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Quellen, die bei der systematischen Suche nach Dokumenten für die ZIM-Innovationsdatenbank berücksichtigt werden. Der Nutzen der ZIM-Innovationsdatenbank liegt insbesondere darin, Forschungsaktivitäten auch im Zeitverlauf abzubilden und technologieübergreifende Parallelentwicklungen und Trends sowie einflussreiche bzw. budgetrelevante Innovationen zu identifizieren. Die gewonnenen Erkenntnisse können – wie in der vorliegenden Analyse geschehen – einen Überblick über das aktuelle Spektrum der AntiAging-Innovationen liefern. Durch die Kategorisierung der Einträge in der ZIM db ist darüber hinaus eine Zuordnung der innovativen An76 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Innovationen in der Anti-Aging-Medizin
Tabelle 1: Quellen und Anzahl der aus diesen Quellen stammenden Einträge in der ZIM-Innovationsdatenbank (Gesamtsumme seit 2003: n=26.677; Stand 15. Oktober 2009) Quellen (Auswahl)
Anzahl der Einträge [n]
Internationale wissenschaftliche Zeitschriften • Nature • JAMA (Journal of the American Medical Association) • NEJM (New England Journal of Medicine) • BMJ (British Medical Journal) Deutschsprachige (Fach-)Zeitschriften und Zeitungen • Deutsches Ärzteblatt • Ärztezeitung • Bild der Wissenschaft • FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) Internetportale, Agenturen und Nachrichtendienste • Innovationsreport • Medical News Today • EurekAlert! (Nachrichtenportal der AAAS) • Yahoo! • Reuters Technologiespezifische Informationsportale • Pharmaceutical Business Review Online • Medical Design Online • BVMed Innovationspool • PharmaLive
2.294
5.767
13.808
4.808
Quelle: IGES (ZIM-Innovationsdatenbank)
sätze zu dominierenden Erkrankungsgruppen und Behandlungsfeldern möglich.
2.
Vorgehensweise
Die Recherche wurde in zwei Phasen gegliedert: Zur Bestimmung der Innovations- bzw. Interventionsfelder erfolgte zunächst eine explorative Suche in der ZIM-Innovationsdatenbank nach Dokumenten zu Technologien, die für die präferenzorientierte Anti-Aging-Medizin potenziell relevant sein könnten (»Innovationsrecherche«). Bei dieser orientierenden Recherche wurden unterschiedliche Strategien erprobt. Die Ergebnisse wurden den Partnern des Verbundprojektes in mehreren Diskussionsrunden vorgestellt. Nach der ersten Sichtung ermög77 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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lichte die Auswahl an Treffern und die Abstimmung mit den anderen Projektbeteiligten die Eingrenzung und Definition von drei Themenfeldern, deren weitere systematische Untersuchung Gegenstand der vertiefenden Analyse war. Dabei handelt es sich um: • Hormontherapien verschiedenster Art bei Frauen und Männern, bei denen durch Auslösen hormonaler Veränderungen körperliche Vorgänge beeinflusst werden können. • Kosmetische bzw. a¨sthetische Interventionen zur Beeinflussung des äußeren Erscheinungsbildes durch verschiedene Verfahren. • Interventionen und Ansa¨tze zur Sta¨rkung und Aufrechterhaltung der kognitiven Leistungsfa¨higkeit bzw. zum Schutz vor dem Nachlassen von Denk- und Gedächtnisleistungen infolge von Alterungsprozessen oder von altersbedingten Erkrankungen. In diesen Interventionsfeldern war zwar zu erwarten, dass oft ein Alterns- bzw. Alterungsbezug herzustellen ist, er wurde allerdings im Zuge der Recherche nicht als Einschlusskriterium für die Berücksichtigung innovativer Entwicklungen herangezogen. Ziel der anschließenden Phase 2 war die Analyse der Versorgungssituation, das Vorgehen ist in Abschnitt 2.2 ausführlicher beschrieben.
2.1. Innovationsrecherche Um im weiteren Verlauf die für unsere Fragestellung relevanten Technologien auswählen zu können, benötigte die systematische Suche eine entsprechende Syntax. Es wurden spezifische Suchbegriffe bzw. Suchbegriffskombinationen für die drei genannten Themenfelder, Hormontherapien, ästhetische/kosmetische Interventionen und kognitionsbezogene Interventionen entwickelt. Diese sind in der folgenden Tabelle 2 aufgeführt. Diese Suchbegriffe wurden auf den Bestand der Datenbank vom 01. 01. 2003 (Beginn der Erfassung und Archivierung von Dokumenten in der Datenbank) bis zum 31. 01. 2007, jeweils bezogen auf das Veröffentlichungsdatum der Dokumente, angewandt. Insgesamt wurden n=15.552 Dokumente anhand dieser Suchsyntax geprüft. Ein Followup zu dieser initialen Recherche für den Zeitraum vom 01. 02. 2008 bis zum 16. 12. 2008 diente dem Zweck, mögliche Veränderungen der In78 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Tabelle 2: Suchbegriffe für die vertiefende Recherche Themenfeld
Suchbegriffskombination
Hormontherapien
*hormon*
Ästhetische/ kosmetische Interventionen
*kosmetisch* ODER (*plastisch* UND *chirurg*) ODER (*rekonstrukt* UND *chirurg*) ODER *schönheit* ODER *beauty* ODER *cosmetic* ODER (*plastic* AND surg*) ODER (*reconstruct* AND *surg*)
Kognitionsbezogene Interventionen
*geistig* ODER *kognition* ODER *kognitiv* ODER _mental* ODER *cognition* ODER *cognitive*
Anmerkung: Die Angabe von »*« vertritt eine beliebige Zeichenfolge. Die Angabe von »_« vertritt ein Leerzeichen oder ein anderes nicht druckbares Zeichen. Quelle: Eigene Darstellung
novationsfoci im Zeitverlauf zu erkennen. Für diese zweite Welle wurden ebenfalls dieselben Suchbegriffe verwendet. Es wurde in den Textfeldern »Titel«, »(Voll-)Text« und »Kommentar« der Datenbankeinträge (Dokumente) gesucht. Weitere Einschränkungen, basierend auf Quellen oder Klassifikationsmerkmalen der Dokumente, wurden nicht vorgenommen. Die Entwicklung der Suchbegriffskombinationen erfolgte anhand explorativer Suchvorgänge und war an möglichst großer Sensitivität bezüglich der Erfassung relevanter Dokumente des jeweiligen Themenfeldes orientiert, d. h. es wurde hingenommen, dass auch Dokumente aufgefunden wurden, die sich in der inhaltlichen Analyse als nicht relevant erweisen würden – zu Gunsten der Minimierung des Risikos, relevante Dokumente zu übersehen.
2.2. Analyse der Versorgungssituation Dieser Teil der Untersuchung hatte zum Ziel, die gegenwärtige Versorgungssituation der Anti-Aging-Medizin zu analysieren und eine differenzierte Darstellung der Versorgungssituation zu Anti-Aging-Maßnahmen sowohl hinsichtlich der Anbieter als auch der Nachfrager zu liefern. Hierzu gehört eine Kategorisierung der entsprechenden Angebote und der nachfragenden Personen bzw. der unterschiedlichen Zielgruppen. Die Bewertung der Wirksamkeit oder des Nutzens der iden79 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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tifizierten Anti-Aging-Maßnahmen war hingegen nicht Ziel der Untersuchung. Die Versorgungssituation wurde mittels einer systematischen Literatur- und Internetrecherche aufgearbeitet. Tabelle 3 ist zu entnehmen, mit welchen Suchbegriffen in welchen Medien recherchiert wurde. Tabelle 3: Systematische Recherche zur Analyse der Versorgungssituation Suchsyntax
»Anti-Aging ODER Verjüngung ODER Alternsprozess ODER Kosmetik ODER hormon ODER Ernährung ODER Vitalstoffe ODER Vitamine«
Recherchierte Medien Deutsches Ärzteblatt Ärztezeitung »Google«-Suchmaschine Veröffentlichungszeitraum
Januar 2002 bis April 2008 (Printmedien) April 2008 (Internetrecherche)
Quelle: Eigene Darstellung
Die Ergebnisse der Recherche wurden anhand des von der Deutschen Gesellschaft für Anti-Aging-Medizin (www.gsaam.de) entwickelten Kategoriensystems vier Dimensionen zugeordnet, die in den folgenden Abschnitten kurz spezifiziert werden. 2.2.1. »Lifestyle«-Veränderungen im persönlichem Umfeld Diese Kategorie umfasst körperliche und geistige Aktivitäten, gesunde Ernährung sowie die Vermeidung von Giftstoff-Belastungen. 2.2.2. Zufuhr von »Vitalstoffen« Zu dieser Kategorie zählt die Einnahme von Vitaminen, Mineralien, Spurenelementen, Antioxidantien usw. 2.2.3. Hormontherapie In dieser Kategorie werden Behandlungen mit z. B. Geschlechtshormonen, Schilddrüsenhormonen, DHEA (Dehydroepiandrosteron), Pregnenolon, Melatonin und Somatotropin zusammengefasst. 80 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Innovationen in der Anti-Aging-Medizin
2.2.4. »Kosmetische Interventionen« Diese Kategorie schließt alle Interventionen ein, die ein aktives Eingreifen in das äußere Erscheinungsbild des Menschen darstellen und primär die Veränderung des Aussehens als Ziel haben.
3.
Ergebnisse
3.1. Ergebnisse der Innovationsrecherche in der ZIM-Datenbank Aus der Vielzahl der in der ZIM-Innovationsdatenbank vorhandenen Dokumente konnten insgesamt n=2067 in der 1. Phase und n=1007 in der 2. Phase als für die weitere Analyse von Interesse identifiziert werden. Die durch die Recherche aus den drei ausgewählten Themenfeldern zunächst identifizierten Dokumente (n=994 betreffend Hormontherapien, n=302 betreffend kosmetische/ästhetische Interventionen, n=771 betreffend die Kognition) wurden durchgesehen, um zu entscheiden, ob die in diesen Feldern dargestellten innovativen Gesundheitstechnologien relevant für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung sind. Das Kriterium bildete die Frage, ob hinsichtlich der jeweils vorgestellten Technologie eine mögliche Anwendung im Sinne der »Präferenzorientierung« wie oben dargestellt vorliegen könnte. Dabei wurden die in den jeweiligen Dokumenten selbst gemachten Angaben herangezogen. Dokumente, die innovative Technologien ohne Referenz auf solche Möglichkeiten und für eindeutige medizinische Indikationen ohne unmittelbaren Präferenzbezug (z. B. bezüglich Krebs- oder neurologischen Erkrankungen) vorstellten, wurden dabei von der weiteren Analyse ausgeschlossen. Die verbleibenden Dokumente wurden in den jeweiligen Themenfeldern nach weiteren Anwendungsbezügen untergliedert. Dabei wurde keine vorab definierte Gliederung verwendet, diese wurde vielmehr an Hand des Materials iterativ entwickelt. Die Dokumente wurden auf diese Weise genau einem Anwendungsfeld zugeordnet. So konnten im Anschluss n=97 Treffer für Hormontherapien, n=47 Treffer für kosmetische/ästhetische Interventionen und n=8 Treffer für kognitionsbezogene Interventionen als relevant eingeschlossen werden. Für die zweite Welle der Innovationsrecherche (Follow-up-Phase) 81 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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konnten die identifizierten Dokumente in folgender Größenordnung den einzelnen Themenfeldern zugeordnet werden: n=386 zu Hormontherapien, n=169 zu kosmetischen/ästhetischen Interventionen und n=452 zu kognitionsbezogenen Interventionen. Aus dieser Auswahl wurden erneut die für die Analyse relevanten Dokumente selektiert. So konnten für das Themenfeld Hormontherapie insgesamt n=33, für das Themenfeld kosmetische/ästhetische Interventionen n=21 und für das Themenfeld Kognition n=7 Dokumente gefunden werden. Abbildung 1: Thematische Zuordnung von Meldungen der ZIM-Datenbank zu innovativen Anti-Aging-Interventionen nach Erkrankungsgruppen (Vergleich von n=39 Meldungen aus initialer Recherche bis Feb. 2007, und weiteren n=61 Meldungen aus Follow-up-Recherche bis Dezember 2008), Angaben in Prozent, Mehrfachnennungen möglich.
Quelle: Eigene Darstellung
Abbildung 1 zeigt, welche Erkrankungsgruppen den identifizierten Technologien zugeordnet werden können. In der Tendenz ist zu sehen, dass es im Vergleich der beiden Untersuchungsphasen teils zu erheb82 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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lichen Veränderungen gekommen ist: während 2007 überwiegend Meldungen zu neurologischen und Muskel-Skelett-Erkrankungen vorlagen, dominierten 2008 Meldungen zu Urogenital-Erkrankungen, Haut- sowie Stoffwechselkrankheiten.
3.2. Systematische Literatur- und Internetrecherche zur Analyse der Versorgungssituation Die Literaturrecherche ergab 93 relevante Treffer (Deutsches Ärzteblatt n=42, Ärztezeitung n=51), die sich der Anti-Aging-Thematik widmen. Inhaltlich befasst sich die Mehrzahl der gefundenen Artikel mit den Vor- und Nachteilen der Anti-Aging-Medizin. Auf das Angebot selbst, die Anbieter und potentiellen Nachfrager bezieht sich dagegen keine der gefundenen Quellen. Die Internetrecherche über die Suchmaschine »Google« erbrachte 200 in die weitere Auswertung eingeschlossene Treffer. Im Ergebnis wurden von diesen insgesamt 43 Quellen als relevant für die Untersuchung eingestuft. Das Einschlusskriterium dafür war entsprechend der Fragestellung der Bezug zur Angebots- und Versorgungssituation in der Anti-Aging-Medizin. 3.2.1. Lifestyle-Veränderungen im persönlichem Umfeld Grundsätzlich ist zu sagen, dass bei allen Lifestyle-orientierten Interventionen eine integrative Behandlung angeboten wird, die verschiedene Elemente umfasst. Individualisierung wird dabei in besonderem Maße betont. Die identifizierten Interventionen sind z. B. darauf zugeschnitten, durch präzise Messung entweder des Fettgehalts und des Kalorienverbrauchs oder der Belastung mit Stress und Schadstoffen eine Grundlage für einen individualisierten Ernährungs- und Bewegungsplan zu erstellen und langfristig einen Gewichtsverlust zu garantieren. Die Relevanz einer ausgewogenen Ernährung wird in vielen Quellen erwähnt. Dabei liegt die Betonung darauf, eine Änderung herbeizufühen, die nicht nur kurzfristig die gewünschten Effekte auslöst, sondern längerfristig den Gesamt(gesundheits-)zustand des Patienten optimiert. Anbieter sind Ärzte, insbesondere Allgemeinmediziner, Privatkliniken, Apotheken, sowie Institutionen aus dem nicht-medizi83 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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nischen Bereich wie Kurhotels u. ä. Obwohl in der Regel bei den meisten Interventionen die klassische Schulmedizin nicht im Vordergrund steht, wird ihnen gerne eine pseudowissenschaftliche Bezeichnung verliehen, die einen medizinischen Bezug herzustellen beabsichtigt, vermutlich um mehr Professionalität und medizinische Kompetenz zu suggerieren (z. B. »Bodymed-Ernährungskonzept«). 3.2.2. Zufuhr von Vitalstoffen Auch im Zusammenhang mit »Vitalstoffen« werden im Wesentlichen integrative, kombinierte Interventionen angeboten. Häufig berücksichtigen die Maßnahmen, z. B. im Rahmen eines »Punkte-Plans«, neben »Vitalstoffen« auch weitere Aspekte, wie gesunde Ernährung, Bewegung und Stressbewältigung. Es geht in diesem Zusammenhang verstärkt um die Steigerung der allgemeinen Leistungsfähigkeit, der Vorbeugung von Krankheiten, sowie dem Aufhalten des Alterungsprozesses (insbesondere der Haut); Sauerstofftherapie soll die Regeneration der Zellen beschleunigen. Das Anbieterfeld ist weitgehend homogen, überwiegend sind Anbieter aus dem medizinischen Bereich (niedergelassene Ärzte sowie Kliniken) anzutreffen. 3.2.3. Hormontherapie Hormontherapie verfolgt in der Regel zwei Ziele, zum einen sollen die Mangelerscheinungen der Meno- bzw. Andropause behoben, und gleichzeitig sollen schwerwiegende chronische Erkrankungen vorgebeugt werden. Die Anbieter sind vor allem Gynäkologen und Allgemeinmediziner, wie auch Kliniken der Fachrichtung Anti-Aging. Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei der angebotenen Hormontherapie oft um eine Ergänzung weiterer Interventionen. Häufig erfolgt keine genauere Spezifizierung der Therapie, sondern es wird die Notwendigkeit einer eingehenden Analyse betont und die Erstellung eines individuellen Indikationsplans vorgeschlagen, unter anderem um auch ein mögliches Risiko gering zu halten. Der Einsatz von professionellen Fachkräften geht oft mit dieser Intervention einher, was jedoch den illegalen Vertrieb über das Internet nicht auszuschließen bzw. verhindern vermag.
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3.2.4. Kosmetische Interventionen Im Unterschied zu den anderen Anti-Aging-Maßnahmen handelt es sich bei den kosmetischen Interventionen vor allem um Eingriffe in das äußere Erscheinungsbild und nicht um eine direkte Einflussnahme auf den Alterungsprozess insgesamt. Trotzdem sind kosmetische Maßnahmen ein fixer Bestandteil des Anti-Aging-Angebots vieler Anbieter. Jedoch handelt es sich bei den geschilderten Angeboten nicht um »reine« Anti-Aging-Maßnahmen: einige der Eingriffe – insbesondere die invasiven – werden auch in der »regulären« plastischen Chirurgie angewendet. So kommen z. B. die geschilderten Bauchdecken- und Bruststraffungen auch nach starkem Gewichtsverlust bzw. nach einer Schwangerschaft zum Einsatz. Auch hieran wird deutlich, dass die dargestellten Maßnahmen als Ergänzung zu weiteren Anti-Aging-Angeboten zu sehen sind bzw. als »ultima ratio«, wenn andere Maßnahmen nicht die gewünschten Resultate geliefert haben oder der Alterungsprozess bereits sehr weit fortgeschritten ist. Dies wird besonders deutlich bei den invasiven Eingriffen. In der Regel klären die Anbieter über die Risiken der Interventionen auf, allerdings wird in den meisten Fällen betont, dass ein umfangreiches Aufklärungsgespräch bzw. eine individuelle Beratung essentiell ist. Die Anbieter lassen sich anhand der Klassifizierung »invasiv« und »nicht-invasiv« in zwei Gruppen einteilen. So ist das Angebot der invasiven Maßnahmen vor allem auf Anbieter aus dem medizinischen Bereich beschränkt, hier dominieren Kliniken der plastischen Chirurgie, wohingegen der nicht-invasive Teil des Angebotsspektrums heterogen vermarktet wird – angefangen von Supermarktketten bis hin zu pharmazeutischen und kosmetischen Unternehmen. Die Frage, welche Zielgruppenorientierung die Angebote verfolgen, lässt sich in der Mehrzahl nicht explizit beantworten. Offensichtlich lassen sich im Falle von Hormontherapien oder bestimmter operativen Eingriffen Rückschlüsse auf das Geschlecht oder auf eine entsprechende Altersgruppe treffen, in der Regel wird aber das Lebensalter nicht direkt angesprochen, sondern die »richtige« Einstellung zum Alter wird in den Vordergrund gerückt. So spricht Jacobi (2005) vom »älteren Menschen im Ruhestand« sowie vom »aktiven Menschen in der Lebensmitte«. Es wird des Öfteren von den Anbietern angeführt, dass der Höhepunkt der Leistungsfähigkeit eines Menschen im Alter von 25 Jahren erreicht sei. Erklärtes Ziel sei es, diesen Zustand so lange 85 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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wie möglich zu erhalten, womit die Anti-Aging-Medizin in die Nähe der Prävention gerückt wird. Manche der geschilderten Alterungsfaktoren wie Stress, Nikotin und falsche Ernährung etc. können bereits im jüngeren Lebensalter bekämpft werden, womit wiederum auch diese – jüngere – Altersgruppe eingeschlossen wäre. Zugleich wird AntiAging-Medizin im selben Kontext als Lifestyle- oder GesundheitsCoach eingesetzt. Die Orientierung auf bestimmte Zielgruppen wird vermutlich auch vermieden, weil der gruppenbezogene Ansatz – wie er bei klassischen Präventionsangeboten zu finden ist – einer Betonung individueller Bedürfnisse und darauf »zugeschnittener« Interventionen gewichen ist.
4.
Diskussion und Fazit
4.1. Einordnung der Ergebnisse Die Recherche nach neuen Interventionsansätzen in den Bereichen Hormontherapie, kosmetische/ästhetische und kognitionsbezogene Interventionen hat zur Identifikation einer Fülle von innovativen Ansätzen geführt. Die Analyse war darauf angelegt, die Frage zu beantworten, inwiefern derartige Ansätze und experimentelle Interventionen den Charakter von Anti-Aging-Maßnahmen oder von allgemeinen präferenzorientierten Leistungen besitzen. Damit wurde eine Auswahl getroffen, die es im Ergebnis der hier vorgelegten Analyse ermöglichte, eine umfassende Innovationsrecherche auf der Grundlage der ZIM-Innovationsdatenbank und weiterer Quellen durchzuführen. Gleichwohl sind Limitationen zu beachten, die auf Grund der Methodik, der Schwierigkeiten des zu untersuchenden Feldes bzw. der verfügbaren Informationen bestehen (Abschnitt 4.2). Bei vielen der beschriebenen innovativen Interventionen bzw. zukünftigen Interventionsmöglichkeiten handelt es sich entweder um Schritt-Innovationen, d. h. eher geringfügige Veränderungen gegenüber bestehenden Möglichkeiten, oder um Forschungsarbeiten in relativ frühen Entwicklungsstadien, sodass sich eine konkrete Anwendung noch nicht klar abzeichnet. Bei nur relativ geringfügigen Änderungen bereits bestehender Interventionen ist zu erwarten, dass sich die ethi86 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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sche Bewertung von deren Anwendung im Rahmen einer »präferenzorientierten Medizin« nicht wesentlich von der Bewertung der bereits angebotenen Verfahren unterscheidet. Bei sich noch nicht klar abzeichnenden Interventionsansätzen ist mit einer erschwerten Bewertung zu rechnen. Auf Grund der Komplexität und Vielgestaltigkeit der Bezüge von Interventionen, deren Wirkungsintentionen und möglichen Verwendungszusammenhängen bzw. Nachfrageaspekten wurde der Versuch unternommen, zu einer übersichtshaften Gliederung von Interventionsfeldern zu gelangen, die in der Analyse identifiziert wurden (siehe Abbildung 1). Diese »Cluster«-Bildung beruht wesentlich auf der folgenden Gliederung der Technologien und Indikationen mit anzunehmendem Präferenzbezug: • Wirksamkeitserwartung: Ist die Wirksamkeit kurz- oder langfristig angelegt? Sind unmittelbar spürbare Auswirkungen vorhanden? Wie hoch ist das Ausmaß der Wirksamkeit einzuschätzen? Gibt es Bedenken mit Blick auf Anwendungssicherheit bzw. (mögliche) Risiken? • Krankheits- und Populationsbezug: Welche Bevölkerungsgruppen kommen als Nutzer in Frage? Welchen Stellenwert hat die Krankenbehandlung mit Hilfe der Technologie? • Psychosoziale/kulturelle Einbettung: Welche gesellschaftlichen Wertvorstellungen sind für die Betrachtung der Technologie bzw. der Indikation von Bedeutung? Welche Reaktionen Dritter sind für Nutzer von Bedeutung, und sind Dritte von der Anwendung betroffen? • Medizinische und rechtliche Rahmenbedingungen: Wie ist der Stellenwert ärztlichen Handelns bei der Anwendung der Technologie? Welche rechtlichen Rahmenbedingungen gelten für die Anwendung? Gibt es Anwendungen, von denen zu erwarten ist, dass sie illegal oder in einer rechtlichen »Grauzone« stattfinden? Diesbezüglich ist zu konstatieren, dass bei Interventionen, die dem Feld »Lebensweise« zuzuordnen sind, zwei sehr unterschiedliche Aspekte relevant sind. Zum einen handelt es sich um Interventionsansätze mit eher langfristiger Wirksamkeitserwartung (Klimakterium, »Alterung«), von denen eine günstige Beeinflussung des Lebens(ver-)laufs erwartet wird. Die Frage der Wirksamkeit und Anwendungssicherheit hat hier einen hohen Stellenwert, vergleichbar der Verwendung sonstiger präventiver Interventionen. Zum anderen sind 87 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Abbildung 2: Einordnung/Übersicht von Interventionsfeldern
"
»Alterung«
"
Fertilität, Kontrazeption Klimakterium »Lebensweise«
Stress
Übergewicht
Sexualfunktion "
"
"
»Leistung«
Physische Leistung Kognitive Leistung Kognitive Steuerung
Körperwachstum »Formung«
"
Haut, Gesicht, Zähne, andere Körperregionen
Quelle: Eigene Darstellung
Interventionsansätze zu nennen, die eine eher kurzfristige Wirksamkeit zeigen sollen, die vom Nutzer unmittelbar wahrgenommen werden kann (Sexualfunktion, Fertilität) – auch wenn diese ebenfalls auf biografisch bedeutende, langfristige Entwicklungen der Lebensweise abstellen. Kulturelle Wertvorstellungen und z. T. sehr spezifische gesetzliche Normen (insbesondere auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin) sind ebenfalls prägend für dieses Anwendungsfeld. Auch für Ansätze, die auf körperliche oder kognitive Fähigkeiten (Feld »Leistung«) abzielen, gilt, dass sowohl eine eher langfristige Interventionsabsicht (z. B. bezogen auf den Versuch, die kognitiven Fähigkeiten zu erhalten bzw. zu stärken) als auch eine unmittelbar die aktuelle Situation beeinflussende Absicht (z. B. bei der Verwendung von akut leistungssteigernden Mitteln) verfolgt wird. Kulturelle Normen und gesellschaftliche Haltungen könnten zu einer skeptischen Einstellung gegenüber solchen Ansätzen führen, insbesondere im Kontext des »Enhancement«, da hier mitunter suggeriert wird, dass über das »natürliche« Maß an Fähigkeiten des Menschen hinausgegangen werden könne. Die Gestaltung des körperlichen Erscheinungsbildes (Feld »Formung«) wird in der öffentlichen Perzeption gegenwärtig am ehesten mit der Verwendung u. U. medizinisch nicht unbedingt indizierter Eingriffe verbunden. Hier ist mit unterschiedlichen kulturellen und sozia88 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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len Wahrnehmungen und Wertvorstellungen zu rechnen. Anzunehmen ist auch, dass einige Interventionsziele (z. B. bezogen auf die Zahnästhetik) in geringerem Ausmaß kontroverse Bewertungen hervorrufen dürften als andere (z. B. ästhetisch-chirurgische Eingriffe). Bis auf Ausnahmen (z. B. bezogen auf die Beeinflussung der für das Erwachsenenalter zu erwartenden Körpergröße bei Kindern/Jugendlichen) ist die Wirksamkeitserwartung auf einen unmittelbaren und wahrnehmbaren Effekt gerichtet. Fragen der Anwendungssicherheit bzw. möglicher Spätfolgen und die Verantwortung für die Übernahme der Kosten solcher Folgen werden jedoch diskutiert. Für die genannten Interventionsfelder gilt generell, dass sich der Bevölkerungsbezug bzw. der Bezug zu bestimmten Nutzergruppen in der Regel nicht sicher eingrenzen lässt. Ein gewisser Schwerpunkt liegt jedoch vermutlich auf einer Personengruppe des mittleren bis höheren Erwachsenenalters. In geringerem Maße werden Jüngere (unter 30-Jährige) oder Ältere (über 70-Jährige) zu den primär anzunehmenden Nutzergruppen zu zählen sein.
4.2. Limitationen der Analyse Im Hinblick auf die Ergebnisse der hier durchgeführten explorativen Analyse zukünftiger innovativer Gesundheitstechnologien sind einige Limitationen zu benennen. Diese beziehen sich zum einen generell auf die Möglichkeiten, die Entwicklung und Etablierung von neuen Gesundheitstechnologien im Versorgungssystem bzw. im Gesundheitsmarkt abzuschätzen. Speziell bei der Frage nach spezifischen Technologien bzw. Produkten und Leistungen, bei denen die Präferenzorientierung im Sinne des vorliegenden Analysekontextes dominiert, sind weitere Limitationen zu berücksichtigen. Generell sind die Möglichkeiten begrenzt, die Entwicklung und die Einführung neuer Gesundheitstechnologien sowie deren Auswirkungen zu prognostizieren. Je früher das Entwicklungsstadium einer Technologie, desto größer wird diese Unsicherheit der Prognose in der Regel ausfallen. Viele experimentelle Interventionen gelangen nie in die Anwendung am Menschen und viele weitere, die in experimentellen Settings erprobt werden, erreichen nicht den Behandlungsalltag. Dafür sind unterschiedliche Gründe maßgeblich. Bei Arzneimitteln sind z. B. häufig unerwünschte Arzneimittelwirkungen, die im Rah89 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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men der experimentellen Erprobung beobachtet werden, dafür ursächlich, dass ein Entwicklungsstrang nicht weiter verfolgt wird. Die primäre Quelle der vorliegenden Analyse, die ZIM-Innovationsdatenbank, umfasst Dokumente bzw. Berichte über innovative Gesundheitstechnologien in einem sehr breiten technologischen Anwendungsspektrum. Dies bedingt, dass nicht für alle medizinischen und technologischen Felder alle Neuentwicklungen verzeichnet werden können. Insbesondere kleinere Verbesserungen oder geringfügige Veränderungen des Anwendungsspektrums werden möglicherweise nicht erschöpfend registriert. Zudem enthält die Datenbank lediglich Berichte, keine Bewertungen. Eine eingehende Bewertung, wie sie im Rahmen des Paradigmas der evidenzbasierten Medizin vorgenommen wird, konnte und sollte mit der vorliegenden Analyse nicht geleistet werden. Vielmehr sollte als erster Schritt einer Horizon-ScanningAnalyse eine deskriptive Übersicht gegenwärtig verfolgter Ansätze in den ausgewählten Feldern gegeben werden. Die Gliederung der Interventionsfelder erfolgte empirisch-heuristisch, orientiert an den Funden zu technologischen Ansätzen. Die Ausführlichkeit der Darstellung des Kontextes des Interventionsfeldes bzw. des Spektrums gegenwärtiger Interventionsansätze in dem Feld wurde in der Regel angepasst an die Menge und den Differenzierungsgrad innovativer Ansätze im jeweiligen Feld. Sie entspricht damit nicht immer derjenigen Bedeutung des betreffenden Feldes, die für die meisten Menschen zu unterstellen wäre. Dies erscheint jedoch im Rahmen einer technologiefokussierten Perspektive als gerechtfertigt. Es ist auch nicht auszuschließen, dass bestimmte innovative Ansätze bezüglich mancher Anwendungsgebiete nicht identifiziert wurden, sofern sie außerhalb des Spektrums der Beispielfelder liegen, die der Analyse zu Grunde gelegt wurden. Es wurde jedoch durch zusätzliche Recherchen nach aktuell angebotenen Interventionen versucht, Hinweise auf weitere Interventionsmöglichkeiten bezüglich des Indikationsgebietes zu finden. Die Analyse hat gezeigt, dass die innovativen Interventionsansätze in aller Regel zunächst mit Bezug auf eine definierte therapeutische Indikation und Patientengruppe entwickelt werden. Dies hat zur Folge, dass eine Zuordnung zu Innovationen, bei denen eine »präferenzorientierte« Leistung bedeutsam ist, zumeist nicht unmittelbar aus der Beschreibung der Technologie hervorgeht. Damit wurde eine schon in den orientierenden Analysen erkennbare Problematik bestätigt. Auch 90 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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die Auswahl der exemplarischen Felder, die im Hinblick auf ein Potenzial an Interventionen vorgenommen wurde, für die eine zwingende medizinische Indikation vermutlich kaum vorliegt, hat generell nicht zur Identifikation präferenzorientierter Interventionsansätze »in Reinform« geführt. Dies ist auch deshalb plausibel, da insbesondere bei Arzneimitteln zunächst eine Zulassung erwirkt werden muss, die sich auf eine oder mehrere spezifische Indikationen/Krankheitsentitäten beziehen muss. Dies erschwert die Identifikation von möglichen »OffLabel«-Anwendungen innovativer Interventionen. Je nach Indikation können in unterschiedlichem Maße zumeist auch Symptome benannt werden, denen ein Krankheitswert zuzumessen ist. Es sind verschiedentlich quantitative »Grenzwerte« im Gebrauch (wie z. B. bei kindlichem Minderwuchs), bei deren Über- bzw. Unterschreitung aus medizinischer Sicht ein Behandlungsbedarf bejaht wird. Aus dieser Sachlage resultiert die Schwierigkeit der Differenzierung zwischen Dokumenten zu Interventionen, die in der Analyse (gerade noch) berücksichtigt wurden, gegenüber solchen, die unberücksichtigt blieben. Trotz aller konzeptionellen Bemühungen kann nicht ausgeschlossen werden, dass an manchen Stellen auch andere Zuordnungen hätten getroffen werden können. Dies resultiert wesentlich aus der Vielfalt der Kriterien, die zur Definition der »Präferenzorientierung« herangezogen wurden.
4.3. Ausblick auf weitere Analysen Für mögliche weitere Analysen soll im Folgenden auf einige zusätzlich bedeutsame Aspekte eingegangen werden: • Die Orientierung an Pra¨ferenzen der Patienten im Rahmen der Therapie nicht in Zweifel zu ziehender, manifester Behandlungsindikationen wird zukünftig wahrscheinlich von noch größerer Bedeutung sein, als dies gegenwärtig der Fall ist. Dies drückt sich in verschiedenen Entwicklungen aus, wie beispielsweise in der Forderung nach »Patientenrelevanz« empirischer Erkenntnisse zum Wert von Gesundheitstechnologien, in der stärkeren Repräsentanz von Patienteninteressen in Entscheidungsgremien der Gesundheitspolitik sowie in mehr Wahlmöglichkeiten bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, z. B. im Rahmen neuer Versorgungsformen. In Bezug auf diese Entwicklung wäre 91 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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z. B. die Frage zu stellen, ob Leistungen bei (chronisch) Kranken, die zu einer Verbesserung ihrer Lebensqualität beitragen, auch wenn sie nicht unmittelbar Teil der Therapie der Erkrankung sind, anders bewertet werden müssen als bei Nutzern, die an keiner solchen Erkrankungen leiden. Pra¨ferenzorientierte und ggf. umstrittene Indikationen bzw. Leistungen müssen unterschieden werden. Auch die Behandlung von Erkrankungen oder Symptomen, deren »Krankheitswert« wissenschaftlich umstritten sein mag, könnte als »präferenzorientiert« aufzufassen sein, wenngleich die Beteiligten den Behandlungsprozess so verstehen, als sei er auf eine Erkrankung gerichtet. Diese Konstellation wurde in der vorliegenden Analyse allerdings nicht in den Vordergrund gestellt, da sie eine andere Bewertungsperspektive vorausgesetzt hätte. Eine Unterscheidung verschiedener Mittel, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen kann wichtig sein. Hierbei ist z. B. daran zu denken, dass »traditionelle« Präventionsmaßnahmen bezogen auf die Lebensweise (Ernährung, Bewegung, Vermeidung eines schädigenden Gebrauchs von Genuss- bzw. Suchtmitteln) eine durchaus positive Wertschätzung erfahren können, andere Interventionen (z. B. bezogen auf Arzneimittelanwendungen) hingegen in möglicherweise geringerem Maße positiv besetzt sein können. Hier ist u. E. zu klären, ob eine Bewertung der Mittel separat von einer Bewertung der Ziele erfolgen kann und soll und wie dann die Mittel-Zweck-Relation beschaffen wäre. Unter Umständen mag es auch sinnvoll sein, Charakteristika herauszuarbeiten, die für die Bewertung einer Intervention hinsichtlich ihres »Mittel-zumZweck«-Charakters ausschlaggebend sein können (z. B. das Maß an Eigenaktivität, das ein Patient erbringen muss). Der Stellenwert der a¨rztlichen Behandlung wird in unterschiedlichen Interventionsbereichen auch unterschiedlich ausfallen, gedacht sei dabei vor allem an kosmetische Interventionen oder »Wellness«-Angebote. Auch Anwendungen durch nicht-ärztliche Gesundheitsdienstleister (z. B. Heilpraktiker, Physiotherapeuten, Kosmetiker) werden hier eine größere Rolle spielen als bei »krankheitsnahen« Interventionen. Unter dem Aspekt der Klassifizierung von Technologien und Interventionen kann auch die Anwendung von komplementären, »alternativen« Verfahren bedeutsam sein, zumindest wenn man die Perspektive der Nutzer einbezieht.
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Innovationen in der Anti-Aging-Medizin
4.4. Verwertbarkeit der Ergebnisse und Schlussfolgerungen Der Erfolg der hier unternommenen Anstrengungen liegt in der Identifikation und Deskription der wesentlichen Anwendungsfelder für präferenzorientierte Medizin. Die enge Verbindung von medizinisch begründeter Indikation und möglicher Anwendung im Rahmen von Präferenzleistungen, die aus innovations- und technologieorientierter Perspektive besteht, ist demnach auch nicht als methodisches Problem der Analyse zu sehen, sondern ist selbst ein wesentliches Resultat der Untersuchung. Aus den Ergebnissen lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: In der Vision der wunscherfüllenden Medizin und Gesundheitsversorgung spielen gegenwärtig Konflikte über Wirksamkeit, Sicherheit und Kosten nur eine geringe Rolle. Entweder sind die Interventionswirkungen unmittelbar erfahrbar (z. B. die in Aussicht gestellte Wirkung der Hormontherapie auf die Haut), oder die Erwartung einer langfristig günstigen Wirkung erscheint der Zielgruppe ausreichend attraktiv, ohne dass Nachweise im engeren Sinne verlangt werden. Dies kann Indiz dafür sein, dass »Individualisierung« in einer zukünftigen Medizin als Suche nach neuen Versorgungskonzepten begriffen wird und sich darin schließlich ihr »innovativer« Charakter zeigt.
Literatur Jacobi G. et al. (2005): Kursbuch Anti-Aging. Stuttgart Ostendorf, L./Gothe, H. (2010): Antikörpertherapie in der Onkologie. Innovationen im Spiegel eines Prognoseinstrumentes. In: Häussler, B. et al. (Hg.): Jahrbuch der medizinischen Innovationen. Band 6: Innovation und Gerechtigkeit. Stuttgart, S. 129–136 Storz, P. et al. (2007): Future relevance of genetic testing: a systematic horizon scanning analysis. In: International Journal of Technology Assessment in Health Care 23 (4), 495–504 Storz, P./Gothe, H. (2008): Innovationen im Spiegel eines Prognoseinstruments: Anti-Aging-Interventionen – Innovative Gesundheitstechnologien in der präferenzorientierten Medizin. In: Häussler, B. et al. (Hg.): Jahrbuch der medizinischen Innovationen. Band 5: Innovationen im Wettbewerb. Stuttgart, S. 117– 124
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Einleitung Die Erfüllung von Patientenwünschen nach Genesung, der Linderung von Beschwerden und nach Gesundheit ist seit jeher wesentlicher Bestandteil ärztlichen Handelns. Das von Anti-Aging-Medizinern als besonderes Merkmal immer wieder herausgestellte Desiderat einer wunscherfüllenden Medizin, ist also keineswegs neu. Neu ist allerdings die Art der von ihnen akzeptierten Klientenwünsche nach Jugendlichkeit, Schönheit, gesteigertem Selbstwertgefühl, verbesserter Eigenvermarktung, Realisierung modischer Trends oder manchen anderen Körper- und Traumbildern mehr. Sie sind die stark von Lifestyle-Einflüssen geprägt. Ihnen fehlt als gemeinsames Merkmal ein pathogenetischer Krankheitsbezug, der für Geriatrie und Altersmedizin typisch ist. Andererseits können AntiAging-Wunschvorstellungen im weitesten Sinn in Einklang mit der WHO-Definition von »Gesundheit als eines Zustandes vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen« stehen (»Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.« WHO 1946–1948), wenn es darum geht, einen dauerhaften Zustand von Wohlbefinden zu erzielen, und nicht darum, eine Laune zu befriedigen. Nicht in die seit 1948 unveränderte WHO-Definition von Gesundheit einzubinden sind die weiter reichenden illusionären Wünsche der Anti-Aging-Klientel, Alternsprozesse aufzuhalten oder umzukehren (Kleine-Gunk 2007) oder gar Unsterblichkeit zu erlangen, obwohl eine solche Einstellung durch Äußerungen und Versprechungen bestimmter Anti-Aging-Mediziner, dies erreichen zu können, unterstützt wird. Selbst wenn man der Antonovskyschen Salutogenese folgt und Gesundheit und Krankheit als Eckpunkte eines Kontinuums ver94 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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steht (Bengel et al. 2001), hängt man bei diesen Wünschen Vorstellungen nach, die von Menschheitsträumen und Mythen bis hin zur Quacksalberei (Heiß 2002 und 2008) und Scharlatanerie reichen. Der ärztliche Bereich ist da längst verlassen, auch der ethische. Sucht man an den Wurzeln der Philosophie nach Erhellendem, stößt man auf die Eudemische Ethik des Aristoteles (Kraut 2007). Er beschäftigt sich darin ausführlich mit dem guten Leben, von dem gutes Altern ein Teil ist: Gutes Lebens ist das schönste, beste und lustvollste Sein des Individuums. Es ist geleitet vom Intellekt und dessen Werkzeugen, den Charaktertugenden. Gutes Leben gelingt, wenn das Sein eines Individuums eine Einheit bildet. Dessen Bestandteile sind für das ganze Leben relevant. Sie sind stabil und unbeeinflusst von an sich nichtguten Teilen, wie den Affekten – oder in heutiger Sprache – kurzlebigen modischen Trends, unrealistischen Wünschen oder Schönheitsidealen Dritter, wie etwa von bestimmten »Schönheitschirurgen« vorgegeben. Folgt man den aristotelischen Überlegungen, verhilft Anti-Aging-Medizin im Allgemeinen nicht zu einem guten Leben.
Anti-Aging-Medizin Es war absehbar, dass bei dem Versuch, Grenzziehungen vorzunehmen zwischen etablierter Geriatrie und Altersmedizin einerseits sowie der aufkommenden Anti-Aging-Medizin zur Gründung eines neuen Zweiges der Medizin andererseits, ein heftiger Kampf um Wertvorzüge und Verfahren entbrennen würde. Er bezog sich weniger auf die Vorstellungen von einem guten Altern als vielmehr auf die stark kommerzielle Ausrichtung der Anti-Aging-Aktivisten und die durch sie verbreiteten leicht zu durchschauenden Tricks, vermittels irreführender unwissenschaftlicher Aussagen und Behauptungen zu Altern, Alternsprozessen und Alterskrankheiten Kunden zu gewinnen. Die wichtigsten Streitpunkte sind nachfolgend näher ausgeführt. Glaubt man durch Anti-Aging-Medizin, Medien und anderen öffentlich oder privat verbreiteten Meinungen, sind Interesse und Bemühungen von Älterwerdenden und Älteren generell und global auf ewige Jugend und Vitalität gerichtet. Gefragt, jedoch nur selten hinterfragt, sind Möglichkeiten, um Idealvorstellungen von Schönheit, Gesundheit und Fitness zu verwirklichen und um den im Alter aufkom95 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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menden Defiziten zu entrinnen. Denn bereits »mit 25 Jahren geht es bergab«, so ein weltweit verbreiteter Slogan. Unterstützung finden die Anliegen solcher Menschen bei willfährigen Medizinern, die seit etwa 30 Jahren die Erfüllung von Klientenwünschen, und seien sie noch so abstrus, als vordringlichen ärztlichen Auftrag zu verstehen meinen und dies vehement vertreten. Sie haben sich in der Vergangenheit nicht gescheut, Heilsversprechungen der Art zu machen, dass Alternsprozesse generell aufzuhalten oder umzukehren und Maßnahmen zur Verjüngung oder gar zur Erlangung der Unsterblichkeit möglich seien oder kurz vor der Anwendung stünden. Auch Alterskrankheiten seien schon jetzt zu besiegen. Der Schritt zur Gründung von medizinischen Anti-Aging-Gesellschaften war da nur folgerichtig. Sie haben in vergangenen Jahren unzweideutig kommerzielle Interessen in den Vordergrund ihrer Aktivitäten gestellt und damit geworben. Die weltweit größte medizinische Anti-Aging-Gesellschaft, die American Academy of Anti-Aging Medicine, kurz A4M genannt und erst vor wenigen Jahren in American Academy of Anti-Aging und Regenerative Medicine umbenannt, hat heute ca. 20.000 Mitglieder aus mehr als 100 Ländern (Tab. 1). Sie wurde 1993 von 12 Ärzten, darunter 2 mit fraglich erworbenem Doktor-Grad/M.D., gegründet. Ihr Präsident, Dr. Ronald Klatz, 43 Jahre alt, prägte 1981 den Begriff »AntiAging Medicine«. Er lässt sich mit den Worten zitieren: »We’re not about growing old gracefully, we’re about never growing old.« Er und sein Stellvertreter, Dr. Robert Goldman, sind bekannte Sportmediziner und Osteopathen mit guten Verbindungen zu Politik, Society und Showbusiness. Tabelle 1: Mitgliederschlüssel der A4M im Jahre 2009 1 85 % 12 % 3%
Ärzte (MD, DO, MBBS) Wissenschaftler, Forscher, Gesundheitswesen Vertreter von Behörden, Presse, Öffentlichkeit
Quelle: http://www.worldhealth.net/pages/about (Stand: 29. 08. 2009), D.O. = Doctor of Osteopathic Medicine; D.C. = Doctor of Chiropractic; MBBS = Bachelor of Medicine, Bachelor of Surgery (Medicinae Baccalaureus, Baccalaureus Chirurgiae).
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Die Ärzte stammen aus folgenden Fachgebieten: 23 % Hausärzte 15 % Allgemeinmedizin 11 % Endokrinologie 8% Innere Medizin 8% Dermatologie 8% Kardiologie 6% Plastische Chirurgie 6% Osteopathie (DO) 5% Gynäkologie und Geburtshilfe 4% Sportmedizin 2% Orthopädie 2% Notfallmedizin 2% Chiropraktiker (DC) Bis etwa zum Jahre 2000 verkündeten verschiedene Zusammenschlüsse von Anti-Aging- Medizinern die realitätsfernen Meinungen führender Mitglieder, ohne dass wissenschaftliche Grundlagen vorgelegen hätten. Der Anspruch auf Unterstützung durch das Gesundheitssystem von einem jeden, der unter unangenehmen Vorstellungen vom Altern oder unter Alternsprozessen leidet oder den Wunsch nach Verschönerung des Körpers artikuliert, sei legitim. Erst danach, nämlich als solche Botschaften unerträglich wurden, griffen seriöse medizinische Fachgesellschaften die von Anti-AgingMedizinern vorschnell besetzten Themen auf und begannen damit, fundierte wissenschaftliche Untersuchungen zum physiologischen Altern und Möglichkeiten seiner Verzögerung einzuleiten (NIA und NIH 2007). Mit gesicherten Ergebnissen ist erst in vielen Jahren zu rechnen. Ein Nebeneffekt dieser Bemühungen um eine sachgerechte Betrachtung bestand darin, dass es wesentlich ruhiger um strittige Aktivitäten der Anti-Aging-Medizin wurde, besonders nachdem auch 51 führende Geriater, Altersmediziner und Gerontologen eine eindeutige Gegenposition bezogen hatten (Olshansky et al. 2002). Hinzu kam starker fachlicher, politischer und ökonomischer Druck von außen. Die A4M vollzog eine Kehrtwende und bekennt seither ihrerseits, sich mit ihren Aussagen auf gesicherte Ergebnisse zu den verschiedenen Themenbereichen stützen zu wollen. Heute widmet sie sich nach eigenen Angaben:
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dem technischen Fortschritten, um Alterskrankheiten feststellen, verhindern und behandeln zu können, der Förderung von Forschungsmethoden, die das Ziel verfolgen, den menschlichen Alternsprozess zu verzögern und zu optimieren und der Verbreitung von Informationen bzgl. innovativer Wissenschaft und Forschung sowie Behandlungsverfahren zur Verlängerung der menschlichen Lebensspanne.
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Es wird versichert, dass die Anti-Aging-Medizin auf den wissenschaftlichen Prinzipien beruht, die im Einklang mit der medizinischen Behandlung und anderer Spezialisten im Gesundheitswesen stehen, außerdem: – dass die Anti-Aging-Medizin weder spezifische Behandlungsverfahren unterstützt oder begünstigt, – noch kommerzielle Produkte verkauft oder unterstützt. In einem Nebensatz findet sich allerdings der Hinweis, dass die AntiAging-Medizin unverändert auch darum bemüht ist, Alterskrankheiten rückgängig zu machen. Man sei stolz darauf, ein neues medizinisches Gesundheitsparadigma zu verfolgen und verstehe sich als die medizinische Spezialität des 21. Jahrhunderts und als Erweiterung der präventiven Medizin. Akzeptiert man, von den beiden Ausrutschern einmal abgesehen, diese offizielle Linie der A4M, wäre kein Widerstreit zwischen AntiAging-Medizin und Geriatrie/Altersmedizin zu konstatieren, wenn nicht unterhalb der auf wohlwollende Akzeptanz schielenden confessiones der A4M, hier im augustinischen Sinn durchaus als Schuld- und Glaubensbekenntnis zu verstehen, die alten Mythen nicht weiter gepflegt würden. So gibt die German Society for Anti-Aging-Medicine (GSAAM) mit dem Untertitel Deutsche Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging-Medizin, die im Gleichklang mit der amerikanische Gesellschaft ihre Ziele neu formuliert hatte, unverändert vor, »(…) vorzeitige Alterungsprozesse (…) umzukehren«. 2 Die Bemühungen der Anti-Aging-Medizin in den letzten Jahren um mehr Solidität sind durchaus anzuerkennen. Dennoch weist sie auf
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(http://www.gsaam.de/, Stand: 29. 08. 2009).
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der Ebene der praktischen Anwendung, also unterhalb der verkündeten offiziellen Linie, mehrere gravierende Mängel auf: 1. Die stark am Profit orientierte Ausrichtung unter Ausnutzung des Unwissens ihrer Klienten. 2. Die fachliche Ausrichtung an einer volatilen, vom jeweiligen Zeitgeist geprägten persönlichen Ästhetik seitens der Behandler und ihrer Kunden, wie z. B. der global unterschiedlichen und wechselnden Vorstellungen von Jugend und Schönheit. 3. Die bewusste Missachtung und Leugnung der bislang nur marginalen Kenntnisse vom natürlichen Altern des Menschen. ad 1. Die von der Anti-Aging-Medizin propagierte Erzeugung des Bedarfs von medizinischen Handlungen (Tab. 2 und 3), die sich stellenweise nicht oder nur unwesentlich von Quacksalberei (Heiss 2002) unterscheiden, hat ein neues medizinisches Geschäftsfeld geschaffen. Es wird aktiv betrieben und suggeriert Klienten somatische und psychische Defizite, wenn sie sich nicht den empfohlenen Maßnahmen unterziehen, wie z. B. Einnahmeverordnungen von Präparaten, die für den propagierten Zweck nicht einmal geprüft sind. 3 Erste Studienergebnisse aus der Grundlagenforschung (z. B. Stammzellforschung) und noch nicht gesicherten medizinischen Publikationen werden rasch übernommen und unabhängig von Evidenzkriterien als im Einzelfall beim Menschen wirksam dargestellt und empfohlen. Der Kunde ist außerstande, die Vielzahl der ihm angeratenen Maßnahmen zu bewerten oder mangels ausreichender Information kritisch zu hinterfragen. Zusätzlich vertreten Anti-Aging-Mediziner die Ansicht, 4 der menschliche Körper sei eine biologische Maschine, somit Lebensverlängerung ein rein technisches Problem. Auch die Rückführung in einen jugendlichen Zustand, die Rejuvenisation, werde gelingen. Sie setzen dazu Jugend = Schönheit und Alter = Häßlichkeit und huldigen dem Postulat »Forever Young«. Diese und andere Einstellungen haben in verschiedenen Standardpublikationen der Anti-Aging-Medizin 5 ihren Niederschlag gefunden. 3 4 5
Heiss (2008). Tab. 4. Tab. 4.
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Sie haben der Anti-Aging-Medizin schon früh den Vorwurf der unwissenschaftlichen und irreführenden Vorgehensweise eingetragen. Er ist bis heute nicht ausgeräumt. Tabelle 2: Typische Anti-Aging-Maßnahmen (Auswahl) – –
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Ausführlichste Labortests, ohne klinischen Bezug Hormontherapie ohne Hormonmangel: Melatonin,Testosteron, Dehydroepiandrosteron (DHEA), Progesteron, Östrogen, Thyroxin, menschliches Wachstumshormon/hGH (Behandlungskosten US $ 20.000,00/Jahr) Behandlung mit Vitaminen und Spurenelementen ohne Krankheitsbezug Gabe von Antioxidantien ohne ausreichenden Wirknachweis Wunscherfüllende plastische/ästhetische chirurgische und dermatologische Eingriffe jeder Art ohne Krankheitsbezug und ausschließlich dem Zeitgeist geschuldet bestimmte physiotherapeutische Maßnahmen Kalorienreduktion ohne Krankheitsbezug Botox-Injektionen
Tabelle 3: »Schönheitschirurgische« Eingriffe (Auswahl) Schlauchbootlippen Uniforme Barbie-Körper Po-Implantate Wespentaille durch Entfernung von Rippen Eurasische Nase (Mang-Nase) Eurasische Augenlider Brustimplantate bei Männern Brustverkleinerungen bei Männern Tabelle 4: Führende Anti-Aging-Bücher (Auswahl) Stopping the Clock (Ronald Klatz, Robert Goldman 1996) Reversing Human Aging (Michael Fosset 1997) Renewal: The Anti-Aging Revolution (Timothy J. Smith 1998) Ending Aging: The Rejuvenation Breakthroughs That Could Reverse Human 100 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Aging in Our Lifetime (Aubrey de Grey 2007) My Beautiful Mommy (Michael Salzhauer 2008) Verlogene Schönheit – Vom falschen Glanz und eitlen Wahn (Werner Mang 2009) ad 2. Schönheitsideale überspringen rasch kulturelle Grenzen und erweisen sich als überraschend volatil. Dafür einige Beispiele: a) Weltweit suchen Brasilianerinnen am häufigsten Schönheitschirurgen auf. Sie taten dies noch vor 2–3 Jahrzehnten, um einen üppigen Hintern und kleine Brüste zu erlangen. Aktuell sind allerdings jetzt unter dem Einfluss des amerikanischen Schönheitsideales große Brüste gefragt. Ein wunscherfüllender plastischer Chirurg hätte demzufolge die Brüste seiner Klientin zunächst verkleinert, um sie wenige Jahre später wieder zu vergrößern, ein Vorgehen, das ärztlicherseits nicht vertretbar ist. b) Asiatinnen stellen, allgemein formuliert, die Vorstellungskraft über die Form. Sie verhüllen deshalb ihre Körper lieber, als sie zu zeigen. Bei ihnen besitzen Gesicht und Augen den höchsten Stellenwert auf der Schönheitsskala, wie dies in der chinesischen Oper und im Kabuki Theater traditionell verankert ist. Dennoch macht sich auch hier ein Wandel des Schönheitsideals bemerkbar. So bevorzugen heute Ostasiatinnen statt kleiner dunkler Augen große blaue, ferner blonde statt schwarze Haare, eine klassizistische Nase und ein längeres Kinn, insgesamt also ein eher westliches Gesicht. Es soll die Chancen der Frauen auf dem Heirats- und Arbeitsmarkt verbessern. Ein Zentrum für solche wunscherfüllenden Eingriffe ist das 9. Volkskrankenhaus in Shanghai. Hier wird die kleine asiatische Lidspalte am Fließband korrigiert, um den Eindruck der verschlafenen Augen der Asiatinnen zu beseitigen, was besonders bei großen Augäpfeln als störend empfunden wird. c) Männer machen von den Möglichkeiten der plastischen Chirurgie zwar auch Gebrauch, jedoch in geringerem Umfang. Allerdings sind für manchen Mann z. B. ästhetische Brustoperationen ein Thema. Eher bevorzugen sie aber die härtere Tour und begeben sich dafür nach dem Motto »Älterwerden ist nichts für Feiglinge« in Bodmod-Studios. Statt der inzwischen langweiligen, weil weit 101 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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verbreiteten Tattoos, unterziehen sie sich bei Body Modifiern Eingriffen wie Gewebedehnungen (stretching; z. B. Ohrläppchen um 8cm verlängern), lassen sich Ziernarben (scars) anbringen oder Metallteile unter die Haut implantieren (dermal implants). Gefragt ist auch die Spaltung des Penis, bei Frauen die der Zunge, wobei es danach möglich ist, die beiden Zungenhälften unabhängig voneinander horizontal und vertikal wie bei einer Schlange zu bewegen. Vertreter beider Geschlechter lassen sich an intimen Stellen piercen, weil sie es schön finden, sich dann besser gefallen. Vermarktet wird all dies unter dem Begriff der typgerechten Bodyart. Als extremste Form der body modification gilt die »suspension«: ohne Betäubung werden Haken durch die Haut geführt und der Körper langsam an einem Seil in die Höhe gezogen. Auf diese Weise löst sich die Haut allmählich vom subkutanen Fettgewebe. Der Körper hängt dann u. U. stundenlang an der Haut, eine körperliche Grenzerfahrung mit der Wirkung einer Droge, eines Kicks. Stellvertretend für die Grundeinstellung der Medizin zu derartigen Eingriffen sei die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe zur Intimchirurgie (Tab. 5) vom 13. 07. 2009 zitiert: »Eingriffe in die körperliche Integrität von Frauen und Männern waren und sind auf Grund geschlechtsspezifischer Normen in allen Kulturkreisen üblich und nicht Bestandteil der Heilkunde – auch wenn es sich um nicht unerhebliche operative Eingriffe handelte.« Tabelle 5: Kosmetische Genitaloperationen bei Frauen 6 Verkleinerung der inneren und Vergrößerung der äußeren Schamlippen (Labioplastien, mit ggf. Reduzierung des Präputiums oder Neupositionierung der Clitoris) Gewebsveränderung und Eigenfettunterspritzung sowie Liposuktionen (Fettabsaugung) am Schamhügel und an den äußeren Schamlippen zur optischen Veränderung
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Quelle: Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (2009).
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Vaginalverengung (durch zirkuläre Eigenfettunterspritzung oder chirurgisch) bei zu weit empfundener Vagina Vergrößerung des G-Punktes durch Kollagen-, Hyaluronsäure- oder Eigenfettinjektionen in diesem Bereich (was zu einem Anschwellen der G-Punktregion und damit zur Steigerung des sexuellen Lustempfindens führen soll) Unbestritten ist, dass verschiedene der hier genannten Maßnahmen lustvolle Empfindungen auszulösen vermögen. Unzweifelhaft ist auch, dass Schönheit, oder was ein Individuum dafür hält, Glücksgefühle vermittelt. Anti-Aging-Mediziner beanspruchen allerdings für sich das Primat zu wissen, was Schönheit ist. Es sind sie, die dafür die Normen festlegen, und nur sie wissen, der Schönheit die richtige Form und Bedeutung zu geben, wie dies z. B. Sheldon Sevinor und Ivo Pitanguy in Brasilien und Werner Mang in Deutschland tun. Sie lenken, wechselseitig unterstützt und induziert von globalisierten Medien, die Vorstellung ihrer Klienten auf ein von ihnen entworfenes Körperbild, das sie als Gesamtkunstwerk (body art s. o.) ansehen und das dem Klienten verhilft, sich von der Masse abzuheben. Die oben erwähnten Beispiele verdeutlichen außerdem, zu welchen Ab- und Irrwegen rein wunscherfüllende Handlungen am Körper, d. h. ohne ärztliche Indikation, seien sie nun medizinisch oder nichtmedizinisch ausgeführt, Menschen verleiten können. Komplikationen sind dabei unvermeidbar. Sie werden häufig verschwiegen, als Erkrankung kaschiert und dem Gesundheitssystem in unzulässiger Weise angelastet. Das gilt auch für bestimmte Anti-Aging-Maßnahmen, wie z. B. die Verschreibung von Supplementen oder Nahrungsergänzungmitteln ohne ärztlich begründeten Anlass. ad 3. Trotz der bestehenden Unkenntnis über das physiologische Altern des Menschen, 7 gibt die Anti-Aging-Medizin vor, die Alternsprozesse verlangsamen, 8 aufhalten oder umkehren zu können. Belastbare Beweise werden nicht erbracht. Ihre aktuellen Hoffnungen und Spekulationen ruhen derzeit auf der Stammzellforschung.
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De Grey et al. (2002). De Grey/Rae (2007).
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Geriatrie Die Wurzeln der Geriatrie liegen auf einem gänzlich anderen Gebiet, nämlich dem Bemühen um eine verbesserte medizinische Versorgung älterer vernachlässigter Pflegeheimbewohner. Den Begriff »geriatrics« prägte 1904 der gebürtige Wiener Arzt I. L. Nascher. 9 Im Verbund mit Gerontologen und Altersmedizinern haben Geriater im Gegensatz zu Anti-Aging-Medizinern das Altern stets als natürlichen Vorgang begriffen und das Altsein akzeptiert. 10 Sie fokussieren ihre Tätigkeiten auf: – Prävention und Rehabilitation von Alterskrankheiten, – vorbeugende Maßnahmen, um die belastenden Manifestationen des Alterns und der Alterskrankheiten erträglich zu gestalten oder zu vermeiden, – Erhalt der sozialen Kontakte alternder Menschen, – Zuwendung für Alternde und Alte, um sie frühzeitig zu beraten und langfristig zu begleiten, eine Haltung, die sich als ProAging 11 in bewusster Abgrenzung zu Anti-Aging-versteht. Man wartet zukünftige Forschungsergebnisse ab, um den Alternsprozess besser zu verstehen und ihn dann evtl. modifizierend zu beeinflussen. Selbst wenn man die Alterserkrankungen eliminieren könnte, wofür es bislang aber keine Hinweise gibt, würden die Reduktion der Organfunktion und der Adaptationsfähigkeit 12 des menschlichen Organismus im Alternsprozess und die Einflüsse der Seneszenz zum Tode führen. 13 Ob sich begleitend dazu die individuelle maximale Lebensdauer des Menschen von derzeit ca. 125 Jahren verlängern würde, ist völlig offen. Die Abgrenzung zur Anti-Aging-Medizin hat die weltweit führende geriatrische Institution, das National Institut on Aging (NIA) der USA, wiederholt und ausführlich veröffentlicht. 14
Stamm/Heiss (2009). Tab. 7. 11 Lang (2009). 12 Heiss (2007). 13 Heiss (2009). 14 Tab. 6. 9
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Tabelle 6: NIA-Statements 15 – –
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Es gibt keine spezifische Behandlung, das Altern zu verhindern Es gibt derzeit unter Langzeitaspekten keine Belege dafür, dass Hormonbehandlungen (auch menopausale und bioidentische Hormone) mit DHE, Melatonin, Wachstumshormon, Testosteron oder Verfahren wie Kalorienrestriktion, Nahrungsergänzungsmitteln – auch Resveratrol (enthalten in geringen Mengen in Weintrauben und Nüssen) –, den Alternsprozess beeinflussen oder für die Gesundheit älterer Menschen nützlich oder schädlich sind oder aber darauf überhaupt keine Wirkung haben. Es gibt keine verbindliche Theorie vom Altern Im Stadium der Erforschung befinden sich: der Einfluss von Genen auf den Alternsprozess, der Zusammenhang von Alterskrankheiten und Langlebigkeit, die Interaktionen von Genen (Genetik, Epigenetik, molekulare und zelluläre Prozesse), die Rolle der Stammzellen im Alternsprozess, die Einflüsse von Umwelt, Lebensstil auf das Altern sowie des Verhaltens und der soziale Faktoren, der Einfluss des Stoffwechsels, die Sensomotorik und psychologischen Einflüsse, die Unterscheidung des Alternsprozesses von altersassoziierten Erkrankungen, wie z. B. chronische Entzündungen, die Bedeutung der Immunität, der Anämie, Osteoporose, des Schwindels, der Seh- und Hörstörungen, der Demenz, von Gebrechlickkeit und Inkontinenz, der optimalen Schlafqualität, Ernährung, Nahrungsergänzungsmitteln, körperlichen Betätigung (Bewegung) sowie der mentalen und emotionalen Stimulation
Auch diese Klarstellung verdeutlicht die grundlegenden Unterschiede zwischen Geriatrie und Anti-Aging-Medizin. Vereinfacht ausgedrückt, bezieht sich Geriatrie auf solide, wissenschaftlich erarbeitete Kenntnisse, die Anti-Aging-Medizin in der mehrheitlich bislang praktizierten Form stützt sich auf Behauptungen. Oder aus einer anderen Perspektive beschrieben: Geriatrie nimmt den Menschen in all seinen körperlichen, geistigen und sozialen Bezügen wahr, die Anti-Aging-Medizin verändert die Natürlichkeit des Menschen durch Korrekturen an Körperteilen oder Teilfunktionen von Organen. Es verwundert deshalb 15
www.nia.nih.gov/HealthInformation; Stand: 06. 08. 2009.
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nicht, wenn die Vorstellungen beider Bereiche von einem guten Altern stark voneinander abweichen. 16 Tabelle 7: Gutes Altern aus Sicht von Anti-Aging-Medizin und Geriatrie/Altersmedizin/ Gerontologie (Auswahl) Anti-Aging-Medizin Altern als Krankheit Wunscherfüllung zum Erhalt von: Körperästhetik Fitness und Vitalität Prävention Verwirklichung des Selbstbildes Schönheit (Narzissmus) Selbsttäuschung Normierung Dienstleistungsmedizin (Kunde) Negation von Altern und Tod
Geriatrie/Altersmedizin/Gerontologie Altern als physiologischer Prozess Erhalt von: Selbständigkeit, Kompetenz, Sozialisation, Fitness und Vitalität Erwerb neuer Kompetenzen Prävention und Rehabilitation Zufriedenheit trotz Behinderungen Wahrhaftigkeit (Realismus) Stützung des Selbstwertes Individualität Beziehungsmedizin (Patient) Affirmation von Altern und Tod Bildung Arbeit Mobilität Kulturelle und religiöse Bindung Ärztliche und medizinische Versorgung Coping Finanzielle Sicherheit/Unterstützung Hilfen (ambulante/stationäre) Pflege Hospiz/Sterbebegleitung
Ausblick Es bleibt festzuhalten: a) Die Anti-Aging-Medizin unterscheidet sich im Jahre 2009 in ihren offiziell verkündeten Zielen nur unwesentlich von denen der Geriatrie und Altersmedizin. Anti-Aging-Medizin ist kein neuer anerkannter medizinischer Fachbereich, neu ist lediglich die Unverfrorenheit mit der manch
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b)
c)
einer ihrer Vertreter ohne wissenschaftliche oder evidenzbasierte Grundlagen unhaltbare Thesen verbreitet oder, raffinierter, sie durch ungesicherte Daten oder Einzelbefunde zu hinterlegen versucht. Unterhalb der offiziellen Linie der Anti-Aging-Medizin werden allerdings unverändert Überlegungen angestellt und medizinische Handlungen praktiziert, die den früheren/bisherigen normativen Ansprüchen der Anti-Aging-Medizin entsprechen. Sie genügen nicht kurativen, präventiven und rehabilitativen Qualitätskriterien der Geriatrie und Altersmedizin. Im Widerspruch zu mancher Äußerung im Vorfeld dieses Symposiums stehen Ärzte nicht immer häufiger im Dienste der Selbstverwirklichung von Patienten. Sie sind allerdings immer häufiger damit beschäftigt, solche durch Medien und andere induzierte Wünsche auf den Boden der Sachlichkeit zu bringen, sie, wo immer erforderlich, zu entkräften und Patienten aufwendig über die Sachverhalte zu informieren. Der Auftrag der Medizin ist nicht, eine rein wünscherfüllende Behandlung zu betreiben, sondern vielmehr Gesundheitsrisiken zu erkennen und ihnen vorzubeugen, Krankheiten zu heilen oder in ihren Auswirkungen zu lindern sowie sich um Prävention und Rehabilitation zu kümmern. Der durch Unwahrhaftigkeit und persönliche Normen seitens bestimmter Behandler induzierte Boom der Anti-Aging-Medizin stellt den traditionellen Auftrag der Medizin keinesfalls in Frage. Er stimuliert jedoch stark die wissenschaftlichen Anstrengungen von Geriatrie und Altersmedizin, Altern und Alterskrankheiten besser zu verstehen. Man darf der Anti-Aging-Medizin durchaus zugute halten, dafür einen entscheidenden Anstoß gegeben zu haben. Eine Wunscherfüllung als dominierendes Tätigkeitsmerkmal kann nicht ein primäres Desiderat der ärztlichen Berufe sein. Die Position der Ärzte im Gesundheitswesen ist vertraglich fixiert, ihr Bewegungsspielraum angesichts der ökonomischen Vorgaben gering oder nicht mehr vorhanden. Im Gegensatz dazu stellt sich die Anti-Aging-Medizin in den Dienst der Selbstverwirklichungsbestrebungen ihrer Kunden nach Jugendlichkeit und Schönheit. Sie versteht sich als rein oder überwiegend wunscherfüllende Medizin im Dienste der persönlichen Präferenzen von Menschen 107 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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d)
mit Ansprüchen an das Gesundheitssystem, ohne in dessen Strukturen und Verpflichtungen eingebunden zu sein. Der gewisse Anklang, den Anti-Aging-Maßnahmen finden, wirft ferner Fragen auf, worin heute der Auftrag der Medizin besteht: – Kann alleine die autonome Formulierung eines Klientenwunsches ohne Krankheits- oder Präventionsbezug die Grundlage für ein gutes und richtiges ärztliches Handeln sein? – Vermag das Angebot von medizinischen Anti-Aging-Maßnahmen einen möglichen Paradigmenwechsel von einem bisher als natürlich empfundenen Vorgang, dem Altern, hin zu einem krankhaften Zustand, wie von der Anti-Aging-Medizin postuliert, überhaupt ansatzweise zu rechtfertigen? – Auf welcher Grundlage könnte dies geschehen – und was wären die Folgen für das Gesundheitssystem, der Solidargemeinschaft von Gesunden und Kranken? – Sind dann alle Menschen von Kindheit an krank? – Läuft die Medizin unter dieser Prämisse Gefahr, Normen und Werte wie Jugendlichkeit und Schönheit als Handlungsauftrag zu übernehmen und alte Mitmenschen als nicht-insBild- passend auszuklammern oder sogar zu eliminieren?
Die Antworten auf diese Fragen hängen letztlich davon ab, was unsere Gesellschaft als gutes Leben und gutes Altern versteht und was sie als adäquaten Umgang mit dem Altern und seinen Folgen einfordert.
Literatur American Academy of Anti Aging Medicine, http://www.worldhealth.net/aboutanti-aging-medicine/ und http://en.wikipedia.org/wiki/American_Academy_ of_Anti-Aging_Medicine Bengel, J. et al. (2001): Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung Band 6, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Köln De Grey, A. et al. (2002): Time to talk SENS: Critiquing the immutability of human aging. In: Ann NY Acad Sci 959, S. 452–462 De Grey, A./Rae, M. (2007): Ending Aging: The Rejuvenation Breakthroughs That Could Reverse Human Aging in Our Lifetime. New York
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Anti-Aging-Medizin und Geriatrie im Widerstreit für ein gutes Altern Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Stellungnahme der DGGG zur Intimchirurgie. Stand: 13. 07. 2009 (http://www.dggg.de/) Fossel, M. (1997): Reversing human aging. New York Heiss, H. W. (2002): Anti-Aging Medizin zwischen Wunsch und Wirklichkeit. In: Euro J Ger 4, S. 7–10 – (2006): Vitalität und Fitness. In: Altersmedizin aktuell. Landsberg, S. 1–18 – (2007): Adaptation. In: Altersmedizin aktuell. Landsberg, S. 1–25 – (2008): Anti-Aging-Medizin: Der Wunsch nach einem langen Leben ohne Altern? In: G. Maio et al. (Hg.): Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik. Freiburg, S. 392– 404 – (2009): Altern und Seneszenz. In: Altersmedizin aktuell. Landsberg (im Druck) Klatz, R./Goldmann R. (2002): Stopping the clock: Longevity for the New Millenium. North Bergen Kleine-Gunk, B. (2007): Anti-Aging-Medizin – Hoffnung oder Humbug? In: Deutsches Ärzteblatt 104 (28–29), S. 2054–2060 Kraut, R. (2007): Aristotle’s Ethics. In: Stanford Encyclopedia of philosophy. Revision July 17, 2007. http://plato.stanford.edu/entries/aristotle-ethics/#HumGoo FunArg Lang, E. (2009): Pro-Aging – Länger gesünder leben. Hessdorf-Klebheim Mang, W. (2009): Verlogene Schönheit – Vom falschen Glanz und eitlen Wahn. München National Institute on Aging, National Institutes of Health, U.S. Department of Health and Human Services. Living Long & Well in the 21st Century. Strategic Directions for Research on Aging. NIH Publication Number: 07–6252, November 2007 Olshansky, S. J. et al. (2002): Position Statement on Human Aging. In: The Journal of Gerontology 57, S. B292–B297 Preamble to the Constitution of the World Health Organization, signed on 22 July 1946 and entered into force on 7 April 1948 Salzhauer, M. (2008): My Beautiful Mommy. Savannah Smith, T. J. (1999): Renewal: The Anti-Aging Revolution. New York Stamm, T./Heiss, H. W. (2009): Ärztliche Aus-, Fort- und Weiterbildung. In: Heiss, H. W. (Hg): Altersmedizin aktuell. Landsberg, S. 1–17
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Jung aussehen als legitimer Wunsch an die Medizin? Dermatologie und Anti-Aging-Medizin Dorothée Nashan
»Anti-Aging, ein Synonym für ewige Jugend, liegt voll im Trend. Ein wahres Eldorado und ein enormer Markt, den es zu erobern gilt. Dieser Markt wird weltweit auf 5,3 Milliarden Euro geschätzt und kann mit einem jährlichen Wachstum von 22 bis 25 % aufwarten.« 1
In Assoziation mit unserer Leistungsgesellschaft ist die Branche des Well-Agings und Anti-Agings in nicht zu übersehende Dimensionen gewachsen. Die Gesellschaft entwickelt einen ästhetischen Gesundheitsanspruch, mit dem verschiedene Sparten des Gesundheitssystems konfrontiert werden. Entsprechend der Werbeaktionen in allen Medien, der Werbeplakate, dem zunehmenden Angebot ästhetisch fokussierter Fachzeitschriften, publizierter Bücher von Fachleuten und sonstiger assoziierter Berufsgruppen kann man sich einer Entscheidung nur schwer entziehen: pro oder contra? Die Gesellschaft, gutgläubig und gedrängt durch Leistungsanforderungen, gestresst durch Arbeitsverdichtung und einen sich schnell wandelnden Markt scheint im Hinblick auf einen zu erwartenden Gewinn zur Akzeptanz zu tendieren. Kritisch wertende Stimmen sind zu wenig laut, als dass nicht mancher seine Haut im zweifachen Sinne »zum Markte trägt«, nachteilig und gefährlich für das eigene Wohlbefinden und die Gesundheit und dazu noch teuer bezahlt. Jedoch darf die Gesellschaft sich nicht unkritisch »unter das Messer« begeben. Nachdem alles machbar und möglich erscheint, was das AntiAging angeht, sollte eine ärztlich-medizinisch-ethische Entscheidung angebracht sein, insbesondere, wenn eine konsumierende Haltung Ankündigung des 8. Anti-Aging Medicine World Congress & Medispa in Monte-Carlo, 8.–10. 4. 2010.
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Jung aussehen als legitimer Wunsch an die Medizin?
nicht ganz unverständlich ist, da Konsumenten durch Anti-Aging und angestrebte Verjüngung in jeder Lebenslage ein Wettbewerbsvorteil versprochen wird. Das Anti-Aging befasst sich mit der »Fassade« der Menschen, also auch in großem Maße mit der Haut. Zu den Themen der Haut wie Falten und Pflege kann insbesondere jede weibliche Person sich äußern und sei es nur aus eigener kritischer Betrachtung und Erfahrung; jedoch als Adressat der Werbebranche mehr oder weniger gefangen genommen, wenig bis vielfach beraten, sind die Glaubensbekenntnisse für Produkte und Anwendungen unendlich breit gefächert. Doch auch die Männer sind seit langen im Fokus der Firmen und Werbung. Als Motiv wird die Angst vor dem Altern genutzt, so dass ihnen, wenn auch mit einer gewissen Resistenz und Zeitverzögerung, zunehmend ästhetisch geprägte Hautpflege und Behandlungen nahegebracht werden. Schnell folgen für eine empfängliche Klientel weitere, eingreifende Maßnahmen. Die Schönheitsoperationen verursachen längst keine Ängste mehr, da sie in verschiedensten Medien einschließlich LiveÜbertragungen im Fernsehen präsentiert werden und fast harmlos und alltäglich erscheinen. Befreundete Personen aller Altersgruppen tauschen Erfahrungen und Adressen aus und schaffen einen eigenen Markt der Befindlichkeit und Sorglosigkeit. Längst haben die BotoxParties andere Interessen-Parties abgelöst. »Weg von den alltäglichen Dingen und Sorgen« verheißen Anbieter, und Adressaten hoffen auf eine bessere Darstellung, mehr Erfolg – oder wie die Werbung verspricht »bessere Stelle, mehr Gehalt, den attraktiveren Partner bis hin zum besseren Sex«. Das Spektrum der erfüllbaren Wünsche bietet Antrieb für jedes geheime Motiv. Geld scheint dabei jedoch nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. »Jung aussehen – um jeden Preis?« Wenn auch in Zeiten der Staatsverschuldung und der Arbeitslosigkeit von Geldsorgen und -nöten die Rede ist, boomt hier dennoch ein neuer Markt. Was macht das Anti-Aging heute so unvergleichlich erfolgreich? Der Wunsch nach wiedergewonnener Jugend ist uralt und hat trotzdem in vielen Jahrhunderten keinen vergleichbaren Schub auslösen können. Sehr anschaulich hat 1546 Lucas Cranach (1472–1553) in seinem Bild »Der Jungbrunnen« den Wandel von alt und gebrechlich hin zur frisch erblühten Jugend alleine durch das Durchwaten eines Wasserbeckens illustriert. So einfach stellt es sich heute nicht dar. Das Spektrum der 111 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Dorothée Nashan
Behandlungen für eine Verjüngung umfasst unter anderem Straffungen, Liftings, Fettabsaugungen, Injektionen mit Botulinumtoxin, Hyaluronsäure und vieles mehr. Allein die Methode sorgt noch nicht dafür, dass es eine Schönheitsbehandlung ist, werden doch vergleichbare Verfahren ebenso in der plastischen Chirurgie und Dermatochirurgie angewendet, dort jedoch unter der Zielsetzung einer therapeutischen Maßnahme, die auf die Heilung oder Linderung einer Krankheit ausgerichtet ist. Im Sinne des Sozialversicherungsrechtes zu ergänzen: Es gilt Krankheiten zu behandeln, die als solcher Körper- oder Geisteszustand definiert werden, die eine ärztliche Behandlung erforderlich machen und/oder Arbeitsunfähigkeit hervorrufen. Die Erwartung eines Heilerfolgs durch ärztliche Behandlung wird nicht gefordert; um einen Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu begründen, genügt es, wenn eine Aussicht auf Besserung oder Linderung des Zustandes oder auf Erleichterung im Befinden des Patienten besteht. In der Interpretation von »Besserung oder Linderung eines Zustandes oder Erleichterung im Befinden de Patienten« mag manch einer auch die Möglichkeit sehen, den eigenen, als solchen empfundenen Belastungszustand zur Begründung einer Anti-Aging-Maßnahme heranzuziehen. Richtet sich die Behandlung somit auf eine weniger, kaum oder gar nicht nachvollziehbare Belastung ohne wirklichen oder eigentlichen Krankheitswert, so ist der subjektive Leidensdruck Motivation für die gewünschte Behandlung. Die Skala reicht von objektivierbaren Befunden bis hin zur rein subjektiven Problematik und gewünschten Behandlung, wobei die Definition der »Grauzone« Schwierigkeiten macht. Die Fragen »wo fängt die individuell zumutbare Befindlichkeit an«, und »wie wird das messbar«, sind zu stellen. Für eine Differenzierung genügt die allgemein gültige Definition von Krankheit als Gegensatz zu Gesundheit nicht. Die Aufgabe des Arztes ist es, eine regelrechte Erkrankung zu diagnostizieren. Grundlagen dafür bieten die Anamnese, die Zeichen spezifischer Krankheitsbilder, ein laborchemisch- und gerätetechnisch diagnostisch angemessenes Procedere. Warum ist dann die Grenzziehung so schwierig? Angenommen, nur die Anamnese und das Beschwerdebild des Klagenden gäben einen Anhalt für eine vorliegende Problematik? Der Arzt ist ein Ansprechpartner auch für die psychosozialen Komponenten von »krank sein« und »sich krank fühlen«, wie auch 112 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Jung aussehen als legitimer Wunsch an die Medizin?
die Definition der WHO die ganzheitliche Betrachtung von Gesundheit mit der Formulierung »einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit« herausstreicht. Die Verantwortung des Arztes liegt darin, seinem Patienten gerecht werden zu wollen, richtig zu erkennen, nicht über- und nicht unterschätzen sowie nicht subjektiv wertend Beschwerden abzutun. Um eine Erkrankung nicht zu verkennen, gilt es, in den feinen Nuancen zu differenzieren, nämlich ob vielleicht eine beginnende Erkrankung oder eine schwer zu diagnostizierende, möglicherweise sogar unbekannte Variante einer Erkrankung vorliegt. Medizin ist eine Herausforderung und entwickelt sich ständig weiter. Nihilismus ist nicht gefragt; und doch ist eine Grenze zu ziehen, und manchem Patienten ist der eigene Wunsch als nicht tragbar und die individuelle Wahrnehmung, die nicht von der Solidargemeinschaft zu tragen ist, als solche vor Augen zu führen. Nicht alles, was medizinisch möglich ist, ist ärztlich zu befürworten. Auf Grund der Betonung des Krankheitswertes und der medizinisch basierten Maßnahmen muss nochmals die Verantwortung der Ärzteschaft betont werden. Eine Handlungsvorschrift, feste Regeln für die Differenzierung einer medizinischen Maßnahme und für rein kosmetisch-ästhetische Maßnahmen gibt es bisher nicht. Beim Lösen kosmetisch-ästhetischer Probleme, mit denen der Arzt konfrontiert wird, lauten mögliche Fragen: Welches Problem hat der Patient (wirklich)? Welche Lösungsmöglichkeiten können ihm persönlich angeboten werden? Ist der Anspruch mit den Zielen in Einklang zu bringen? Was sind die zu erwartenden Effekte der medizinischen Maßnahme(n)? Wurde der Patient angemessen hinsichtlich einer autonomen Entscheidung über Erfolg, Misserfolg, Nebenwirkungen und sonstige Folgen aufgeklärt? Punkte, die in einem Regressfall auch von Seiten der Juristen gefordert werden, ebenso wie die zugehörige Kostenargumentation untersucht wird. Gerade auch der Dermatologe ist Adressat, wenn es um »weg machen« und »schöner machen« geht. Die Haut in ihrer Struktur, Form und Beschaffenheit ist wichtigster Bestandteil des körperlichen Aussehens und Befindens. Genetisch determiniert sowie geprägt durch Umwelteinflüsse und Alterungsprozesse entsteht häufiger ein nicht zufriedenstellendes Ergebnis, mit dem sich der Mensch auseinandersetzen muss. Bedeutsame Umwelteinflüsse auf die Hautalterung sind Nikotin, Alkohol, Fehlernährung und Stress. Gezielt wäre hier die 113 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Eigenverantwortung zur Prävention zu fordern. Denn im Gegensatz zu Anti-Aging-Behandlungen ist die Prävention nicht durch assoziierte Risiken und mögliche Komplikationen belastet. Doch sie fordert den Menschen in seiner Selbstverantwortung und verlangt Anstrengungen, insbesondere in der konsequenten und dauerhaften Selbststeuerung. Als Teil einer Lebensbilanz entstehen Hautcolorit, Elastolyse, Hautatrophie, Faltenbildung, UV-Freckling und Altersflecken (Lentigo seniles). Im dermatologischen Spektrum der alternden Haut kommen in individueller Prägung Sebostase, Alterswarzen (senile Keratosen) und senile Angiome hinzu. Diese Liste von Diagnosen bedarf primär keiner ärztlichen Intervention. Die Diagnose ermöglicht jedoch nicht die Differenzierung und den »cut-off« für eine medizinisch notwendige Behandlung oder ein rein kosmetisches Vorgehen. Indikationen für eine medizinische Intervention sind mögliche Differentialdiagnosen, wie beispielsweise Altersfleck und Lentigo maligna Melanom, oder Komplikationen, wie beispielsweise superinfizierte, irritierte Alterswarze oder deren Differenzierung zu assoziierten Kanzerosen. Eine Verzerrung in der Therapiewahl kann durch Arzt-spezifische Möglichkeiten und Techniken, eigene finanzielle Vorstellungen und Kostendruck wie auch durch Patientenbegehrlichkeiten geprägt sein. Der Leidensdruck des »Patienten« kann zum spürbaren Druck für den Therapeuten werden, dem dieser sich kaum oder gar nicht entziehen kann. Im Praxisalltag dominieren Zeitmangel und Forderungen nach Strukturierung, welche eine schnelle Zusage begünstigen mögen. Der Arzt als Gesprächspartner und Analyst ist mehr denn je nötig und doch sozialpolitisch nicht eingeplant. So ergeben sich eine fragwürdige gesellschaftliche Normalität und eine Verselbständigung im Umgang mit den Themen und Behandlungen zum verjüngenden Anti-Aging. Wie weit sind in diesem Kontext die Aufklärung des zu Behandelnden und damit seine autonome Entscheidung gewährleistet? Insbesondere Werbe-Angebote zielen nicht auf eine kritische Reflektion von Vor- und Nachteilen. Wo und in welchem Rahmen findet dann eine individuelle Beratung zu den Risiken und Alternativen statt? Während im Zusammenhang mit vielen persönlichen Entscheidungen die Sicherheit ganz groß geschrieben wird, scheint bei angestrebten ästhetischen Zielen das Bewusstsein dafür unterentwickelt. 114 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Jung aussehen als legitimer Wunsch an die Medizin?
Als ein einfaches Beispiel für ein deklariertes ästhetisches Profil gilt der sportlich gebräunte Mensch. Eine zunehmende UV-Exposition wird mitsamt dem nachweislich steigenden Hautkrebsrisiko in Kauf genommen. Welche Folgen werden sich nach den aktuellen Anti-Aging-Maßnahmen zeigen? Wir müssen uns noch einmal verstärkt Gedanken machen, was die Menschen bewegt, diesen Weg der Verjüngung und Verschönerung so zu forcieren. Ist es eventuell die fehlende Akzeptanz der eigenen Person? Dafür werden das Aussehen und die Kleidung verantwortlich gemacht. Dass das äußere Erscheinungsbild auch auf abstrakten Werten wie Verhalten, Ausstrahlung und Persönlichkeit basiert, ist weniger gefragt, da zu diesen Kriterien Reflektion, Eigenkritik und möglicherweise Anstrengungen zu eigenen Änderungen erforderlich sind. Lieber aber möchte man mit einer einmaligen Behandlung und abgegebener Verantwortung ein neues Selbstbild herbeiholen und den Behandelnden zum »Wunderheiler« machen. Wenn die Interventionen nicht allgemein verfügbar sind, wonach richten sich dann die Entscheidungskriterien? Insbesondere wenn sozio-ökonomische Kriterien zur Auswahl beitragen, dürfte das nicht im Interesse der demokratisch-solidaren westlichen Gesellschaften sein. Hier sei noch einmal auf die Verfassung der WHO verwiesen, welche in Paragraph 1 als Zweck ihrer Gemeinschaft festlegt, »allen Völkern zu Erreichung des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu verhelfen«. 2 Ein Bewusstsein, wie weit hier in Gesellschafts- und Finanzstrukturen eingegriffen wird, ist zu schaffen. Wollen wir dann oder sollen wir überhaupt und mit welchen Finanzressourcen verjüngen? Für das Gesundheitsbudget gilt, dass ärztliche Maßnahmen zu sichern sind. Eine Klärung der »Grauzone« zwischen objektiv erkrankt und subjektivem Wunsch ist notwendig. Des Weiteren ist die Anwendung ästhetischer Maßnahmen hinsichtlich der Patientensicherheit zu überprüfen. Gerade wenn es um so etwas Bedeutsames wie den Eingriff am Menschen geht, sollte man über die Zuweisung und Zertifizierung von Kompetenzen nachdenken, und auch die ärztliche Kompetenz als eine Grundlage für Entscheidungen, bei denen in irgendeiner Form die Gesundheit direkt oder indirekt betroffen sein könnte, bei der Beurteilung einfordern (Tab. 1). Was nützt die Behandlung ästhetischer Probleme, wenn der Herzinfarkt droht oder bei unbedachtem Vorgehen 2
Verfassung der WHO vom 22. 7. 1946, Stand 25. 6. 2009.
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Dorothée Nashan
die Komplikationen einen unnötigen medizinischen Zwischenfall hervorrufen oder Anzeichen einer schwerwiegenden Erkrankung verkannt und unsachgemäß behandelt werden. Dass in dermatologischen und chirurgischen Gesellschaften das Problem bereits erkannt und entsprechend angegangen wurde, zeigt sich beispielsweise in den Qualitätsrichtlinien für Lasertherapie der Deutschen Dermatologischen Lasergesellschaft (DDL), der Weiterbildungsordnung der Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie Deutschland (GÄCD), wie auch in den Therapiestandards und Anforderungsprofilen medizinischer Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Ästhetische Botulinumtoxin-Therapie oder der Arbeitsgemeinschaft Assoziierter Dermatologischer Institute. Qualitätsstandards Qualitätsrichtlinien, Leitlinien Fachbezogene Definition von Kompetenzen Ausbildungscurricula in Fachbereichen Ausschluss und Ahndung von Fehlern Gewährleistung einer ärztlichen ganzheitlichen Medizin Verantwortlichkeit für Nebenwirkungen und ihr Management Initiierung von Studien Wissenschaftliche Untersuchungen Anstreben von Evidenzen Ständige Aktualisierung des Wissens
Tabelle 1: Mögliche Kriterien für eine Qualitätssicherung ästhetischer Maßnahmen Empfehlungen, welche den Behandlungswilligen zur Seite gestellt werden können, sind in Tabelle 2 zusammengefasst. Insbesondere das Recht auf umfassende Informationen insbesondere im direkten Gespräch mit dem jeweiligen Behandelnden ist zu fordern. Zu einer Zweitmeinung kann bei elektiven Eingriffen nur geraten werden. Fragen nach Risiken, das Abwägen aller Vor- und Nachteile, die Beurteilung des zu erwartenden Behandlungserfolges sowie möglicher Nebenwirkungen und auch Langzeitfolgen sind zu fordern.
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Jung aussehen als legitimer Wunsch an die Medizin? Individuelle Ziele Internetinformationen kritisch hinterfragen Zweitmeinung einholen Aufklärung über Vor-, Nachteile, Nebenwirkungen und mögliche Langzeitfolgen fordern (Unbedenklichkeitsnachweis) Informationsbroschüren für eigene Reflektion Allgemeingültige Ziele Suche nach grundlegenden Faktoren Kritik an falschen Schönheitsidealen fördern und gesundes Altern fordern Forschung zum Leidensdruck und zur Lebensqualität anmahnen Entscheidungswege strukturieren
Tabelle 2: Individuell und gesellschaftlich denkbare Zielsetzungen
Zusammenfassung Die primären Ziele unserer Gesellschaft zum Themenkomplex »AntiAging« sollten lauten: Vorbeugen von Alterskrankheiten und Erhaltung von Gesundheit. Einer politischen und gesellschaftlichen Verselbständigung bezüglich einer forcierten Verjüngung ist vorzubeugen. Weder Diagnose noch Methode lassen eine Abgrenzung zwischen notwendiger Therapie und kosmetischer Anti-Aging-Maßnahme zu. Thematisch und methodisch liegen große Überschneidungen vor. Die Abklärung und Differenzierung der »Grauzone« ist notwendig. Der Arzt sollte als Vertrauensperson seines Patienten in Entwicklungen und Entscheidungen eingebunden werden, hat er doch auch die Möglichkeiten, Krankheiten abzugrenzen, Risiken auszuschließen und in einem interdisziplinären Kontext alternative Wege zu bahnen. Der Eingriff in menschliches Sein ist niemals trivial, und daher sollte die Verjüngung nicht auf dem freien Markt durch die verschiedensten ökonomisch interessierten Berufsgruppen zur freien Gestaltung und Verfügung gelangen. Die ethischen und rechtlichen Anforderungen der Medizin sollten die Grundlage für derartige Interventionen darstellen.
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Anti-Aging als Medizin? Altersvermeidung zwischen Therapie, Prävention und Wunscherfüllung Tobias Eichinger
I.
Anti-Aging und die Identität der Medizin
Anti-Aging ist der zeitgemäße Ausdruck eines uralten und tiefsitzenden Menschheitstraums: nicht älter werden zu müssen, jeglichen Beschwerlichkeiten eines alternden Körpers und abbauenden Geistes zu entgehen. Das Verlangen, den Traum ewiger Jugend und Fitness wahr werden zu lassen, erscheint dabei genauso naheliegend und unangreifbar, wie es die längste Zeit unerreichbar war. Durch die fortschreitende biotechnologische Entwicklung, die zu immer neuen und weitergehenden Eingriffsmöglichkeiten in den menschlichen Körper und den natürlichen Alterungsprozess führt, rückt das Ziel, das Altern aufzuhalten, aus dem Bereich unrealistischer Utopien in die Nähe konkreter Umsetzung und Erfüllung. Dabei ist es der Bereich medizinischer Forschung und Versorgung, in dem sich das Projekt der Altersvermeidung in wissenschaftlich ambitionierter Weise formiert. Anti-Aging als Spezialgebiet der Medizin ist eine Erfindung der frühen neunziger Jahre; seither hat die sog. Anti-Aging-Medizin einen beachtlichen Boom erlebt, viele Fürsprecher und Anhänger gefunden, aber auch zahlreiche Gegner und Verächter herausgefordert, die das Vorhaben medizinischer Altersbekämpfung zum Teil heftig kritisieren. Tatsächlich wirft Anti-Aging als Medizin zahlreiche Fragen und Probleme auf. Als medizinische Innovation auf der Höhe der Zeit verbindet die Anti-Aging-Medizin das mythische Sehnen nach ewiger Jugend mit einem der plausibelsten Grundsätze pragmatischer Vernunft: Vorbeugen ist besser als Heilen. Konsequente Anti-Aging-Medizin will weniger – im klassischen Sinne kurativer Therapie – manifeste Alterserscheinungen behandeln, ihr geht es vielmehr darum, Altern selbst zu verhindern. Doch ist eine Präventivmedizin, die sich gegen Erscheinungen und Zustände richtet, die als normal und natürlich gelten, in Einklang zu bringen mit dem vertrauten Konzept einer Medizin, deren 118 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Anti-Aging als Medizin?
Wesenskern in der Behandlung und Heilung von Kranken und Verletzten, in der Hilfe für Menschen in Not liegt? Wie ließe sich Anti-Aging als Medizin legitimieren? Kann Alternsbekämpfung als erstrebenswertes Ziel guter Medizin verstanden und gerechtfertigt werden?
II.
Praxis und Selbstverständnis der Anti-Aging-Medizin
Eine differenzierte Einschätzung der Anti-Aging-Medizin verlangt zunächst eine Bestandsaufnahme der Mittel und Methoden, die hier zum Einsatz kommen, sowie eine Analyse der verfolgten Ziele. Anschließend ist es für eine medizinethische Beurteilung entscheidend, sich klarzumachen, was diese Praktiken im Einzelnen der medizinischen Anwendung, aber auch im größeren Zusammenhang der angestrebten Zielsetzungen bedeuten. Was bezweckt Anti-Aging als Medizin, wie verstehen sich die Vertreter dieser medizinischen Subdisziplin und in Bezug zu welchen allgemeinen Verschiebungen innerhalb der Medizin und des ärztlichen Behandlungskontextes muss der Einsatz von AntiAging-Behandlungen interpretiert werden?
A.
Mittel – Methoden – Anbieter
Das Spektrum von Produkten und Leistungen, die unter dem Schlagwort ›Anti-Aging‹ firmieren, ist sehr breit und heterogen zusammengesetzt. Von merkwürdigen Etikettierungen der Lebensverlängerung bislang unverdächtiger Nahrungsmittel (Anti-Aging-Pralinen, AntiAging-Bier) bis hin zu Zellbiologen, die durch Genmanipulation im Labor die Lebensspanne von Fruchtfliegen vervielfachen, findet sich das Anti-Aging-Label in den unterschiedlichsten Kontexten. Dabei hat nicht alles, was von der alltäglichen Konsumwelt des Normalverbrauchers bis zur spezialisierten High-Tech-Forschung mit Anti-Aging in Verbindung steht, mit Medizin zu tun. Gleichwohl bilden das Zentrum und die Hauptstoßrichtung entsprechender Bemühungen Fragen der medizinischen Anwendbarkeit und des therapeutischen Nutzens für Menschen, denen das Altern und seine Auswirkungen zu schaffen machen. Mittlerweile existieren auch im deutschsprachigen Raum einige einschlägige Hand- und Lehrbücher, die Anti-Aging als medizinisches Feld zu etablieren versuchen und gleichzeitig dokumentieren, 119 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Tobias Eichinger
in welchem Umfang und welcher Gestalt Anti-Aging-Medizin tatsächlich praktiziert wird. 1 Die Maßnahmen, Methoden und Mittel, die in der Praxis der Anti-Aging-Medizin zur Anwendung kommen, lassen sich in vier große Komplexe unterteilen: Neben Interventionen, die die persönliche Lebensführung betreffen (Lifestyle), werden Nahrungsergänzungsmittel als Anti-Aging-Präparate (Vitalstoffe) sowie endokrinologische Behandlungen (Hormontherapien) und Verfahren, die das äußere Erscheinungsbild korrigieren sollen (Kosmetische Interventionen), offeriert. Die geringste medizinische Eingriffstiefe weist dabei der Lifestyle-Bereich auf. Dieses Teilgebiet der Anti-Aging-Medizin basiert auf wenig spektakulären und längst zum Allgemeingut gewordenen Ratschlägen für eine gesundheitsbewusste Lebensführung: körperliche Bewegung, gesunde und ausgewogene Ernährung, Abstinenz von Giften wie Nikotin und Alkohol, ausreichend Schlaf und Regeneration, kontinuierliches Training geistig-kognitiver Fähigkeiten sowie die regelmäßige Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen – diese Anweisungen bilden den Grundstock an medizinisch vernünftigen Verhaltensweisen, den jeder Gesundheitswillige sich und seinem Körper ohnehin schuldet. Im Spektrum der Anti-Aging-Medizin sind hier vor allem die gegen Alterserscheinungen und -beschwerden wirksamen Effekte dieses Common-sense-Wissens akzentuiert. Allerdings sind Ratschläge zur Lebensstiländerung wenig altersspezifisch, und Verhaltensweisen und Lebensgewohnheiten, die ein möglichst langes Leben begünstigen, scheinen identisch zu sein mit altersunabhängigen Grundsätzen gesunder Lebensführung. Deutlicher auf direkt lebensverlängernde Effekte zielen dagegen Vitalstoffe ab, wie sie häufig in Anti-Aging-Programmen zu finden sind. Als medizinisch intendierte Nahrungsergänzungsmittel – sog. ›Nutraceuticals‹ 2 – enthalten diese Zusatzstoffe typischerweise Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente, Aminosäuren, ungesättigte Fettsäuren, Antioxidantien u. a. und werden zur Prävention von altersassoziierten Zivilisationskrankheiten wie Osteoporose oder kardiovasSiehe Kleine-Gunk (2003), Römmler/Wolf (2003a), Jacobi et al. (2004b), Jacobi et al. (2004a), Gasser (2004a). 2 Begriffsbildung aus ›Nutrition‹ (engl. f. ›Ernährung‹) und ›Pharmaceutical‹ (›Arzneimittel‹). 1
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kulären und neurodegenerativen Erkrankungen eingesetzt. Hier bedient sich die Anti-Aging-Medizin der Konzepte der orthomolekularen Medizin, die auf die Bedeutung von Mikronährstoffen zur Krankheitsvermeidung setzt. Die auch als ›funktionelle Lebensmittel‹ (›Functional Food‹) bezeichneten Zusatzstoffe sollen im Rahmen von Anti-AgingAnwendungen dazu beitragen, Vitalität und Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter zu erhalten. Im Gegensatz zu alterungsverzögernden Stoffen, die ohne ärztliche Unterstützung oder Aufsicht frei gewählt und dosiert werden können, ist für den Einsatz von Hormontherapien medizinisches Fachwissen und eine ärztliche Verordnung notwendig. Im Rahmen der Anti-Aging-Medizin spielen Therapien, die einem altersbedingten Rückgang der körpereigenen Hormonproduktion entgegenwirken und den jugendlichen Hormonspiegel wiederherstellen sollen, eine besondere Rolle. Insbesondere von Wachstumshormonen, Melatonin, DHEA sowie Östrogenen und Testosteron werden hier deutliche Anti-Aging-Effekte erwartet. Allerdings ist die Wirksamkeit solcher Substitutionstherapien bislang nicht nachgewiesen und ihre Anwendung aufgrund der fehlenden Evidenz für eine auch auf Dauer positive Nutzen-RisikoBilanz höchst umstritten. Der vierte Bereich bereits praktizierter Anti-Aging-Maßnahmen umfasst kosmetische Interventionen. Hierbei handelt es sich weniger um eine Besonderheit der Anti-Aging-Medizin, als vielmehr um den spezifischen Einsatz eines schon länger praktizierten und umstrittenen medizinischen Feldes. Gleichwohl bilden Eingriffe und Anwendungen, die das körperliche Erscheinungsbild verändern sollen, den wohl größten und wichtigsten Bereich der Anti-Aging-Interventionen, die derzeit angeboten, nachgefragt und durchgeführt werden. Wo die Änderung von gesundheitsgefährdenden Lebensgewohnheiten mühsam ist, der Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln und Hormontherapien nur indirekt und mittel- bis langfristig Wirkung zeigt, versprechen dermatologische und plastisch-chirurgische Maßnahmen schnelle und vor allem deutlich sichtbare Erfolge im Kampf gegen Alterserscheinungen. Im Mittelpunkt solcher ›Korrekturen‹ stehen in erster Linie augenfällige Anzeichen der Hautalterung. Kosmetische Anti-Aging-Maßnahmen (›dermatologische Reparaturmaßnahmen‹ wie ›Laser-Resurfacing‹, ›chemical peeling‹, ›Dermokosmetik‹, ›Faltenkorrektur‹ etc.) zielen somit auf die Beseitigung von Falten, schlaffen Hautpartien und Altersflecken sowie die Entfernung von Fettgewebe. Ein Teilgebiet 121 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Tobias Eichinger
altersbezogener Kosmetik mit sehr hohem Innovationswert stellt die Entwicklung von Verfahren zur Stimulierung des Zahnwachstums dar, was allerdings noch nicht über das experimentelle Stadium hinaus ist. Wie die Interventionsformen, die zu Anti-Aging-Zwecken genutzt und eingesetzt werden, nahe legen, ist das Spektrum der Berufsgruppen und Einrichtungen, die solche Leistungen anbieten und durchführen, ebenfalls sehr uneinheitlich. So sind die Verbreitung und der Konsum von vielen Nahrungsergänzungsmitteln (Vitamintabletten, probiotisch angereicherte Lebensmittel) sowie etlichen Kosmetika zur nicht-invasiven Behandlung der Haut (Anti-Aging- und Anti-FaltenCremes) keinerlei Einschränkungen unterworfen und auf dem freien Markt erhältlich (abgesehen von Verordnungen, die Lebensmittel und Kosmetika im Allgemeinen betreffen). Hier ist vor allem das Angebot entsprechender Produkte in Supermärkten, Drogerien und Apotheken, zunehmend auch in Arztpraxen zu nennen. Auch Ratschläge zu einer gesundheitsbewussten und lebensverlängernden Lebensführung sind in vielfältigen Formen (v. a. Broschüren und Bücher) problemlos verfügbar. Dass hierbei eine ärztliche Ausbildung und medizinisch-wissenschaftliche Kompetenz, akademisch bescheinigt durch Doktor- und Facharzttitel, für seriöses Renommee sorgen und durchaus förderlich für den Absatz entsprechender Ratgeber und Produkte sein können, liegt auf der Hand. Dies impliziert aber in keiner Weise einen Arztvorbehalt für die genannten Leistungen, was die zahlreichen nicht-medizinischen Anbieter aus dem Wellnessbereich (Gesundheitsreiseveranstalter, Kurhotels etc.) auch belegen. Invasive kosmetische Eingriffe und Hormontherapien dagegen gehören zum Kompetenzbereich des chirurgischen bzw. endokrinologischen Faches, unterliegen damit der Auflage des Arztvorbehalts und dürfen nur von dazu autorisierten Medizinern durchgeführt werden. Charakteristisch für den Anti-Aging-Bereich ist, dass auch schwache Formen von Interventionen wie Lifestyle-Tipps oder Ernährungsberatung explizit als ärztliche Aufgaben verstanden und entsprechend im fachlich fundierten Duktus von Sicherheit und Vertrauen präsentiert werden. Somit können auch Maßnahmen, die nur in geringem Maße medizinspezifisch sind, dennoch als Leistungen einer AntiAging-Medizin gelten.
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Anti-Aging als Medizin?
B.
Ziele der Anti-Aging-Medizin
Um die Alterslast zu minimieren, setzt die Anti-Aging-Medizin ganz auf die Verlängerung von Lebensphasen. Hierbei lassen sich drei Bereiche voneinander unterscheiden und gegeneinander abgrenzen. 3 Zunächst geht es der Anti-Aging-Medizin darum, den gesunden Anteil der Lebenszeit zu verlängern (Ziel A). Die zu diesem Zweck eingesetzten Maßnahmen richten sich gegen alternsbedingte Krankheiten, allerdings nicht im Sinne einer kurativen Behandlung bereits eingetretener Erkrankungen. Im Vordergrund gemäßigter Anti-Aging-Medizin steht vielmehr die frühzeitige Verhinderung und Verzögerung alternsbedingter Einschränkungen mit eindeutigem Krankheitswert. Daneben ist es ein erklärtes Ziel der Anti-Aging-Medizin, die jugendlich-leistungsfähige Lebensphase möglichst weit auszudehnen (Ziel B). Die Funktionstüchtigkeit und Leistungsfähigkeit von Körper und Geist 4 sollen so lange wie möglich auf dem Niveau jugendlicher Höchstwerte erhalten werden, was allerdings das Problem einer Abgrenzung zwischen ›bloß‹ vorbeugenden einerseits und verbessernden Maßnahmen andererseits aufwirft. Schließlich fallen unter die Bezeichnung ›Anti-Aging‹ auch all jene tiefgreifenden Anstrengungen, die eine Erweiterung der absoluten Lebensspanne des Menschen über das bisher erreichbare Normalmaß hinaus anstreben (Ziel C). Strategien zur Lebensverlängerung in diesem Sinne verstehen ›Anti-Aging‹ wörtlich und stellen die tatsächliche Abschaffung des Alterns in Aussicht. Hier stehen spektakuläre Visionen von der Erlösung bzw. vom Untergang der Menschheit im Vordergrund. Da dieses Ziel nur durch eine direkte Manipulation der körperlichen Alterungsvorgänge erreicht werden kann, ist dieses Projekt
Alternativ zu dieser Dreiteilung werden vier Formen von Anti-Aging hinsichtlich des erwünschten Effektes unterschieden. So wird die Zielsetzung einer möglichst zusammengedrängten, von Gebrechlichkeit und Morbidität gezeichneten Lebensendphase als compressed morbidity-Strategie bezeichnet und vom prolonged senescence-Effekt einer verlängerten, aber nicht verbesserten Lebensdauer unterschieden. Daneben werden Maßnahmen, die in den Alterungsprozess selbst eingreifen, hinsichtlich ihrer Radikalität differenziert: Interventionen, die den Alterungsvorgang verlangsamen sollen, folgen dem Ziel des decelerated aging, während mit der Zielsetzung des arrested aging das völlige Anhalten des Alterns gemeint ist. Vgl. Fries (1980), Juengst et al. (2003). 4 Unter ›Geist‹ wird im Anti-Aging-Kontext die Gehirnleistung und -kapazität verstanden. 3
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angewiesen auf Grundlagenforschung der entsprechenden Natur- und Laborwissenschaften wie Molekular- bzw. Zellbiologie und Genetik. So ist die Absicht, in den Alterungsprozess selbst einzugreifen und die absolute Lebensspanne des Menschen zu erweitern, zwar kein medizinisches Vorhaben, sie gibt aber die visionäre Richtung vor, der auch die weniger radikalen Anti-Aging-Strategien, die in der Medizin bereits zur Anwendung kommen, letztlich folgen: ewige Jugend und die Überwindung des Alterns. 5
C.
Strukturelemente und Leitmotive
Die offerierten und bereits praktizierten Leistungen sowie die Gesamtstruktur der Anti-Aging-Medizin sind von Leitmotiven geprägt, die exemplarisch für den grundlegenden Wandel gelten können, den die moderne Medizin seit einigen Jahren durchläuft. 6 Die beiden zentralen Größen sind dabei Autonomie (bezogen auf das Interaktionsverhältnis zwischen Arzt und Patient) und Prävention (den medizinischen Ansatz betreffend): während das Prinzip der Selbstbestimmung zu einem der wichtigsten normativen Kriterien medizinethischer Reflexion geworden ist, gewinnt in medizinisch-praktischer Hinsicht der Vorbeugungsgedanke einen immer größeren Stellenwert. Der vielfach als grundsätzlicher Paradigmenwechsel beschriebene Wandel von einer kurativ ausgerichteten Heilkunst und nachsorgenden Reparaturmedizin hin zu einer präventiven und gesundheitsfördernden Vorsorgemedizin, die sich nicht mehr primär an der negativen Leitgröße ›Krankheit‹, sondern an der positiven Zielgröße ›Gesundheit‹ orientiert und somit von einer pathogenetischen zu einer salutogenetischen Konzeptuierung übergeht, 7 findet in der Anti-Aging-Medizin seine konkrete Gestalt und konsequente Umsetzung. Nicht zufällig verstehen führende Vertreter des medizinischen Anti-Aging ihre Tätigkeit explizit als Form
Dies belegen die verschiedenen Einlassungen von Anti-Aging-Medizinern zu den möglichen zukünftigen Entwicklungen in der biogerontologischen Altersforschung. Die sehr unsichere Grundlage solcher Prognosen ist dabei offenbar kein Hinderungsgrund für hoffnungsfrohe Spekulationen über einen in Kürze bevorstehenden sensationellen Durchbruch. 6 Siehe Toellner (1991), Maio (2007). 7 Siehe Antonovsky (1997), Maoz (1998). 5
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der Präventivmedizin. 8 Dieses Selbstverständnis lässt sich schon an Namen und Titeln entsprechender Institutionen unschwer erkennen: so nennt sich die Schweizer Fachgesellschaft für Anti-Aging-Medizin Swiss Society for Anti-Aging Medicine and Prevention und die deutsche Vereinigung German Society of Anti-Aging-Medicine übersetzt ihren Namen in Deutsche Gesellschaft für Prävention und AntiAging-Medizin. Gerade angesichts der demographischen Entwicklung und der damit verbundenen Zunahme an chronischen Erkrankungen scheinen präventive Ansätze besonders erfolgversprechend, den Kostenanstieg, der für die medizinische Versorgung einer alternden Bevölkerung befürchtet wird, zu dämpfen. 9 Doch auch jenseits von Fragen, die die Finanzierung des Gesundheitswesens betreffen, betonen AntiAging-Mediziner die vorausschauende Vernünftigkeit ihres Behandlungsansatzes, die jedem einzelnen Empfänger ihrer Leistungen mit einem deutlichen Gewinn an Lebensqualität einen großen individuellen Nutzen beschert. 10 Dabei ist im deutschsprachigen Raum eine Differenzierung und Profilierung der Anti-Aging-Medizin zu beobachten, die ganz auf die Plausibilität und Seriosität des Präventionsgedankens setzt. So lautet eine der »vier Doktrinen«, die ein österreichisches Lehrbuch für »angewandte Anti-Aging-Medizin« aufstellt: »Seriöse AntiAging-Medizin hat heute das Ziel, […] vorzeitiges Altern zu verhindern« 11 . Die Betonung wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit ist hierbei vor allem als Reaktion auf die polarisierende Entwicklung der US-amerikanischen Anti-Aging-Bewegung zu verstehen, deren Vertreter seit Mitte der neunziger Jahre mit überzogenen Versprechungen unrealistische Hoffnungen schüren und für z. T. heftige Auseinandersetzungen und Widerstand vor allem von Seiten der Geriatrie und Gerontologie sorgen. 12 Neben der Präventionsidee ist das Prinzip der Autonomie für die Anti-Aging-Medizin besonders charakteristisch. Die Orientierung an diesem Leitwert moderner Medizin und Medizinethik soll mithilfe des Vgl. den im Deutschen Ärzteblatt vertretenen programmatischen Anspruch, »die Präventivmedizin des 21. Jahrhunderts« zu sein (Kleine-Gunk 2007, hier 2059). 9 Siehe Baessler et al. (2006), S. 278, Scriba et al. (2001). 10 So heißt es in einem Handbuch der Anti-Aging-Medizin: »Frühzeitige Intervention zur Verhinderung von Alterserkrankungen […] kann alten Menschen viel Leid und Schmerzen ersparen.« Römmler/Wolf (2003b), S. IX. 11 Gasser (2004b), S. 5. 12 Vgl. Binstock (2003), Heiß (2008) und den Beitrag von Heiß in diesem Band. 8
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Instrumentes der informierten Zustimmung (informed consent) paternalistische Bevormundung von Patienten vermeiden und steht für die explizite Berücksichtigung der persönlichen Interessen und Präferenzen der Patienten bei Behandlungsentscheidungen. Dabei belegt die Anti-Aging-Medizin eindrücklich den konzeptuellen Zusammenhang zwischen Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Individualisierung. Wenn die maßgebliche und letzte Entscheidungsinstanz des Einzelnen sein eigener Wille ist, ist es auch der Betreffende allein, der verantwortlich für seine Entscheidungen und deren Folgen ist. So macht es die Emanzipation von der Figur des fürsorglich entscheidenden Arztes notwendig, das gesundheitliche Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und erhöht bei allem Zugewinn an persönlicher Freiheit gleichzeitig den Druck, dabei möglichst erfolgreich zu sein und keine Fehler zu machen. Optimales medizinisches Selbstmanagement ist die Forderung, die sich gerade aus der Verbindung des hochgeschätzten Autonomieprinzips mit der Strategie der Vorbeugung, wie sie in der Anti-Aging-Medizin zu finden ist, ergibt. Denn indem präventive Maßnahmen sich letztlich nicht auf akut zu behandelnde Notstände richten, sondern bei Zuständen ansetzen, die noch nicht pathologisch und damit nicht mehr eindeutig behandlungsbedürftig sind, muss der Noch-nicht-Patient als Klient erst überzeugt und motiviert werden, entsprechende Schritte einzuleiten. Dies erfordert nun ein geschärftes Bewusstsein für die Alternativlosigkeit eigenverantwortlicher Selbstsorge. Zu deren zentralen Ansatzpunkten gehören gesundheitliche Belange, welche am besten, d. h. am wirksamsten, in präventiver Ausrichtung erfüllt werden. Mit Blick auf die Anti-Aging-Medizin steht das »aus der fürsorglichen Belagerung in die Freiheit der Selbstsorge« 13 entlassene Individuum vor der Herausforderung, seiner Verantwortung für das eigene Alter(n) gerecht zu werden und gemäß dem Motto ›Jeder Mensch bestimmt selbst, wie alt er und wie er alt wird‹ gesundheitliche Vorsorge zu betreiben. Die Tatsache, dass es dabei ganz auf den Einzelnen selbst ankommt, wird in der Anti-Aging-Medizin durch die individuelle Plastizität des Alterungsprozesses noch verstärkt. Denn indem die körperlichen und geistigen Veränderungen im Lebensverlauf bei jedem Menschen in unterschiedlicher Gestalt und Geschwindigkeit erfolgen, scheinen weder allgemeine noch standardisierte Behandlungsmethoden für eine effektive Altersprävention son13
Bröckling (2008), hier S. 46.
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derlich angemessen. Damit kann die Anti-Aging-Medizin als paradigmatisch für eine weitere Entwicklung innerhalb der Medizin gelten, die aus dem gestärkten Autonomieprinzip hervorgeht: die Tendenz zur Individualisierung im Sinne einer »Maßschneiderung auf die Gegebenheiten und Präferenzen einzelner Personen«14 . Im Bereich der AntiAging-Prävention spielt der individuelle Zuschnitt der Behandlung jenseits von universellen Gesundheitstipps eine Schlüsselrolle, da die Risikoprofile, an denen die Anti-Aging-Medizin als Vorsorgemedizin ihre Behandlung ausrichtet, sehr stark von Klient zu Klient variieren können. Entsprechend werden die drei Komplexe von Anti-Aging-Interventionen Lifestyle, Vitalstoffe und Hormontherapien im Rahmen individualisierter Behandlungskonzepte angeboten. 15 Wie sich zeigt, führt der Umstand, dass konsequente Altersprävention sich weniger an alte und kranke, als vielmehr an junge und vitale Menschen richtet, dazu, dass es der Anti-Aging-Mediziner nicht mit pathologischen Erscheinungen und manifesten Krankheitsbildern, sondern mit Dispositionen und Verhaltensweisen beschwerdefreier Gesunder zu tun hat. Dementsprechend stehen neben diagnostischen Verfahren, die sich auf die Genese des jeweiligen Risikoprofils richten (wie einer ausführlichen Familienanamnese und DNA-Testung) Maßnahmen zur Beeinflussung bzw. Optimierung der persönlichen Lebensführung im Mittelpunkt individualistischer Anti-Aging-Behandlungen. Hier präsentiert sich die Anti-Aging-Medizin als »Lebensstilmedizin« 16 , die die Erkenntnis ins Zentrum rückt, dass vielen Erkrankungen und Beschwerden – allen voran den klassischen Zivilisationskrankheiten – am effektivsten mit einer Änderung der Lebensführung (Essgewohnheiten, körperliche Bewegung etc.) vorgebeugt werden kann. 14 Hüsing et al. (2008), S. 30. Diese Tendenz ist bezeichnenderweise verbunden mit dem »permanente[n] Rekurs auf Selbstbestimmung, informierte Zustimmung und Patientenautonomie in der medizinischen Praxis« (Lemke 2003). 15 Vgl. Kley (2003), S. 49. Dabei lassen sich die Kennzeichen der individualisierten Medizin, wie sie das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) formuliert, erstaunlich passgenau auf die Anti-Aging-Medizin übertragen: »Ein Kernelement der individualisierten Medizin ist die Erwartung, dass in absehbarer Zeit für jedes Individuum eine personalisierte Risikospezifizierung auf Basis der Kenntnis prädisponierender Gene erstellt werden könne, um die betreffenden Personen in die Lage zu versetzen, in Kenntnis ihres Erkrankungsrisikos Eigenverantwortung für die Gesundheit zu übernehmen und präventive Maßnahmen zu ergreifen.« Hüsing et al. (2008), S. 20. 16 Haber (2007).
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Im Anti-Aging-Betätigungsfeld Lifestyle findet die Bedeutung individueller Lebensgestaltung für Gesundheit und Lebensqualität im Alter ihren direkten Niederschlag. Hier ist die Anti-Aging-Medizin ganz wesentlich auf das Bewusstsein für die Notwendigkeit von gesundheitlicher Eigenverantwortung sowie die Bereitschaft zur Selbstsorge angewiesen. Dies gilt umso mehr, als die Anti-Aging-Medizin in besonderem Maße auf Selbstzahlerleistungen (IGeL) ausgerichtet ist. Von umfangreichen Diagnoseverfahren zur Erstellung des »Anti-Aging Profils« 17 über die Gabe von Mikronährstoffen bis zu Hormontherapien sind im üblichen Anti-Aging-Angebot so gut wie keine Kassenleistungen enthalten. 18 Dies verdeutlicht, wie sehr Anti-Aging-Medizin auch die zunehmende Tendenz einer Kommerzialisierung der Medizin bedient und damit in nicht unerheblichem Maße dazu beiträgt, die Tätigkeit des Arztes als Dienstleistung auf Abruf aufzufassen. Dies wiederum ist charakteristisch für die individualisierte Medizin, die doch »in hohem Maße Aspekte der Patientenautonomie und der Konsumentensouveränität« anspricht. 19 So zeigt sich, dass AntiAging-Medizin weit mehr beansprucht als punktuelle medizinische Intervention, indem sie »immer auch Modelle der Lebensführung anbietet und verkauft« 20 . Ein weiteres Kennzeichen von Anti-Aging-Behandlungen, das eng mit der Individualisierung und dem Bezug auf die Lebensführung zusammenhängt, ist, dass sie sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen zusammensetzen. So gilt als ideales Anti-Aging-Konzept eine abgestimmte Mischung aus der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln, Lifestyle-Verhaltensänderungen, Fitness-Trainingsprogrammen, Hormonsubstitution und ästhetisch-chirurgischen Eingriffen. Das Konzept einer personalisierten Kombinationsbehandlung, die grundsätzlich offen für die Wünsche und Präferenzen des individuellen Klienten ist, bedient damit das Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit und Konsum auf Seiten der Leistungsempfänger. Da Anti-Aging-Medizin als radikale Vorbeugungs- und Vermeidungsmedizin funktionieren soll, betrifft der ganzheitliche Zugriff auf Schlink/Helden (2005), S. 283. Siehe Bleichrodt (2003), S. 199, Kleine-Gunk (2005), S. 375. Entsprechend wendet sich ein einschlägiges Lehrbuch explizit »an alle Berufssparten, in denen das Produkt Anti-Aging in seiner ehrlichen Variante weitergegeben wird« (Jacobi et al. 2005: VI). 19 Hüsing et al. (2008), S. 21. 20 Viehöver (2008), hier S. 2761. 17 18
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die Lebensführung des Anti-Aging-Klienten nicht nur dessen aktuelle Situation, sondern erstreckt sich auf weite Teile des gesamten Lebensverlaufs. So handelt es sich bei Anti-Aging-Maßnahmen weniger um akute Eingriffe, die ein klar definiertes Behandlungsziel erfüllen sollen, als vor allem um Elemente einer permanent notwendigen Lifestyleberatung und Gesundheitskontrolle. Diese zeitliche Dimension einer lebenslängliche Anti-Aging-Begleitung – »vom Säugling bis zum Senior« 21 – ergibt sich aus dem end- und ziellosen Moment, das spezifisch in der Idee von Prävention begründet liegt: »Wer vorbeugen will, darf niemals aufhören.« 22 Am Moment des prinzipiell nie voll erfüllbaren Vorbeugungsbedarfs wird evident, wie die Strukturmerkmale und Leitmotive, die für die Anti-Aging-Medizin kennzeichnend sind, aufeinander verweisen und sich wechselseitig bedingen. So impliziert auch die Idee der Selbstsorge und Eigenverantwortung eine virtuell-prophylaktische Dimension der Permanenz, wo sie auf zukünftige Zustände gerichtet ist, die im Idealfall gar nicht eintreten sollen, und wie der Präventionslogik »haftet dem Verantwortungsimperativ etwas Unabschließbares an«. 23 Entsprechend ist die Tätigkeit des ratgebenden Anti-Aging-Mediziners von Unabschließbarkeit geprägt, da analog zur zieloffenen Präventions- und Verantwortungslogik auch das Konzept der Beratung prinzipiell auf Dauer gestellt ist. Rat und Hilfestellung bei Fragen der Lebensführung und Selbstgestaltung werden in aller Regel gesucht, um beste Ergebnisse zu erzielen – doch »da das Optimum nie eintreten kann, ist Beratung immer angezeigt« 24 . Während präventive AntiAging-Begleitung keinen klar definierten Endpunkt kennt, erscheint es umso wichtiger, so früh wie möglich mit der aktiven Sorge zu beginnen. Auch das ergibt sich aus der präventiven Ausrichtung, denn »Vorbeugen kann man nie genug und nie früh genug« 25 – und so ist Anti-Aging auch nicht an alte, sondern an noch-nicht-alte, an junge Menschen adressiert. Der idealtypische Anti-Aging-Konsument ist Römmler/Kleine-Gunk (2009). Bröckling (2008), S. 44. 23 Lemke (2007), S. 40. 24 Duttweiler (2004), S. 42. Wie gut Anti-Aging als Beratungs-Medizin damit zur gegenwärtigen Hochkonjunktur von Prävention passt, zeigen Projekte, die den präventiven Ansatz auch in der alltäglichen Hausarztpraxis etablieren wollen und dies als »Gesundheitscoaching« bezeichnen, siehe Grüninger et al. (2009). 25 Bröckling (2008), S. 42. 21 22
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jung, gesund und fit – und soll dies mit Hilfe der entsprechenden Leistungen auch möglichst lange bleiben. Indem der präventive Ansatz bei aller Konservierung von Jugendlichkeit aber am Alterungsprozess – und dessen Beeinflussbarkeit – ausgerichtet bleibt, macht die AntiAging-Medizin Altern zum »lebenslangen Projekt« und stellt aus biopolitischer Perspektive mit ihren Angeboten neue Formen der Politisierung der Lebensführung und »methodischen Selbstdisziplinierung« bereit. 26 Die in der Anti-Aging-Medizin dominierenden Merkmale von Individualisierung, ganzheitlicher Lifestyle-Orientierung und Kommerzialisierung, der hohe Stellenwert von Gesundheitsbewusstsein und Eigenverantwortlichkeit, sowie nicht zuletzt ihre spezifisch unabschließbare Zielsetzung der Prävention führen zu einer deutlichen Erweiterung des traditionellen ärztlichen Tätigkeitsbereichs. Diese Überschreitung herkömmlicher Grenzen ärztlichen Handelns ist allerdings kein exklusives Merkmal der Anti-Aging-Medizin, sondern als Ergebnis verschiedener konvergierender Tendenzen der Medizinentwicklung insgesamt zu verstehen, die die Anti-Aging-Medizin jedoch besonders akzentuiert aufnimmt und unter dem Leitmotiv der Altersprävention vereint. Insofern kann die Anti-Aging-Medizin als paradigmatisch für die gegenwärtige Ausdifferenzierung und Umbruchsituation der modernen Medizin gelten.
D.
Anti-Aging-Medizin als Revolution der Medizin
Das Verhältnis der Anti-Aging-Medizin zur etablierten Medizin mit ihren ausdifferenzierten Spezialfächern und Subdisziplinen ist vielschichtig bis ambivalent. Einerseits greift die Anti-Aging-Medizin zeittypische Tendenzen der Medizinentwicklung insgesamt auf, andererseits positionieren Anti-Aging-Mediziner sich bewusst und explizit in Opposition zur verbreiteten medizinischen Praxis und Tradition. Aufgrund ihrer spezifischen Beschaffenheit ist die Anti-Aging-Medizin in besonderem Maße der von Ressourcenknappheit geprägten Wettbewerbssituation im Gesundheitswesen ausgesetzt. Sowohl das breite und sehr heterogen zusammengesetzte Spektrum an Angeboten und Anbietern innerhalb der Anti-Aging-Medizin, als auch die Diver26
Vgl. dazu Viehöver (2008).
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sität der Kompetenz- und Tätigkeitsfelder, die außerhalb des AntiAging-Bereichs sehr ähnliche – in manchen Fällen sogar die gleichen – Leistungen anbieten, führen dazu, dass die Anti-Aging-Medizin sich von ihrer direkten, fest etablierten Konkurrenz deutlich unterscheiden und besonders innovativ präsentieren muss. Entsprechend ist die Entwicklung der Anti-Aging-Medizin seit ihren Anfängen eine Geschichte der Abgrenzungen, die in hohem Maße von einem Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit, medizinische Attraktivität und wissenschaftliche Anerkennung geprägt ist. 27 Die Betonung der eigenen Wissenschaftlichkeit spielt für die Anti-Aging-Medizin aber nicht nur mit Blick auf die etablierte Altersmedizin eine wichtige Rolle. Die ausgewiesene Zugehörigkeit zur scientific community ist vor allem für Abgrenzungsbemühungen in die entgegengesetzte Richtung überlebenswichtig. Um als seriöse Unternehmung ernst genommen zu werden, muss sie sich vor allem von dem unüberschaubar breiten und heterogenen Spektrum gänzlich unwissenschaftlicher Anti-AgingProdukte und -Anbieter absetzen. Neben der Aussicht für den einzelnen Arzt, mit einer Spezialisierung als Anti-Aging-Mediziner viel Geld verdienen zu können, steht im Zentrum der Anti-Aging-Rhetorik der Anspruch, die Speerspitze wissenschaftlicher Forschung und Vorreiter eines so fundamentalen wie dringlichen und medizinisch hochvernüftigen Perspektivenwechsels zu sein. Die Anti-Aging-Medizin versteht und präsentiert sich durchweg als segensreiche Praxis, die das unbezweifelbare Prinzip der Vorbeugung beim Wort nimmt, dabei auf dem neuesten medizinischwissenschaftlichen Forschungsstand operiert und sämtliche Defizite der überkommenen Reparaturmedizin zu kompensieren vermag. Damit ist der Anspruch verbunden, kein weiteres Ergebnis der fortschreitenden Binnendifferenzierung der Medizin, sondern einen medizinhistorischen Paradigmenwechsel darzustellen. 28 Und nicht nur die ohnehin weniger zurückhaltenden Protagonisten aus den USA sehen die Anti-Aging-Medizin als »the next great model of health care for the new millennium« 29 , auch deutschsprachige Anti-Aging-Mediziner propagieren ihre Mission als Medizin der Zukunft und Zukunft der Vgl. hierzu Binstock (2003), Vincent (2003), Eichinger (2011). Vgl. American Academy of Anti-Aging Medicine (2009), Stuckelberger/Wanner (2008), Mykytyn (2006). 29 American Academy of Anti-Aging Medicine (2009). 27 28
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Medizin. Entsprechend visionär und revolutionär lauten die mitunter beschwörenden Selbstbezeichnungen der wortführenden Anti-AgingMediziner: »Anti-Aging ist das Zauberwort des neuen Jahrtausends« 30 , Anti-Aging-Medizin »die absolute Avantgarde der Medizin« 31 , »bedeutendste Errungenschaft« 32 und »wichtigster Gesundheitstrend des 21. Jahrhunderts«33 , »der goldene Weg der Medizin von morgen«, 34 »die Chance auf eine völlig andere Zukunft« 35 , und das alles »nach modernsten Erkenntnissen der Biochemie, Genetik und Medizin« 36 . Neben dem zukunftsweisenden (natur-)wissenschaftlichen Niveau wird als gewichtigstes Argument, das das Bild von der AntiAging-Medizin als der ›besseren‹ und ›nachhaltigeren Medizin‹ belegen soll, der typisch ganzheitliche Ansatz angeführt, der die je spezifischen Lebensumstände und -bereiche des individuellen AntiAging-Klienten in Rahmen eines maßgeschneiderten Behandlungskonzeptes berücksichtigt. Damit weist die Anti-Aging-Medizin eine auffallende Parallele zur Alternativmedizin auf, die ihre Attraktivität ebenfalls aus einer programmatischen Abkehr von der herkömmlichen, als unpersönlich empfundenen Schulmedizin bezieht und explizit deren negative Auswüchse wie Anonymisierung, Standardisierung oder Objektivierung zu vermeiden beansprucht. 37 Überhaupt ist das Verhältnis der Anti-Aging-Medizin zur etablierten (Schul-)Medizin von einer grundsätzlichen Widersprüchlichkeit geprägt, wie der inkonsistente Umgang mit dem Anti-Aging-Label sehr deutlich zeigt. Während Anti-Aging-Mediziner sich dezidiert als Ärzte verstehen und Attribute des Arztberufs, die eindeutig entspreVorwort von Kleine-Gunk (2003). Huber/Buchacher (2007), S. 11. 32 Schmitt/Homm (2008), S. 11. 33 Klentze (2003), S. 8. 34 Huber/Buchacher (2007), S. 160. 35 Schmitt/Homm (2008), S. 505. 36 Wüster (2003), S. 208. Die Überzeugung von der eigenen Zukunftsfähigkeit führt bei manchen Anti-Aging-Medizinern zu der selbstbewussten Prognose, dass künftig sämtliche medizinischen Richtungen ein Stück von der Anti-Aging-Medizin übernehmen werden müssen, da »jedes Fachgebiet aus seinem Blickwinkel an der Anti-Aging-Medizin interessiert« ist. Römmler/Wolf (2003b), S. XI. 37 Darüber hinaus teilt die Anti-Aging-Medizin mit den verschiedenen Formen der Komplementärmedizin die Schwierigkeiten, die das Bemühen bereitet, die sog. Alternative Medizin im Sinne ihrer eigenen Ansprüche und Definitionsversuche begrifflich kohärent von der Schulmedizin abzugrenzen. Vgl. dazu Wiesing (2004). 30 31
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chende Standeszugehörigkeit markieren und traditionell Vertrauen und Seriosität ausstrahlen (Doktor- und Facharzttitel, Berufskleidung/ weißer Kittel, Diagnoseinstrumente/Stethoskop etc.), essentieller Bestandteil ihrer Selbstdarstellung sind, ist gleichzeitig das Bild einer besseren Alternative zur vorherrschenden Schulmedizin bestimmend, die deren in vielerlei Hinsicht negative Seiten und Missstände zu vermeiden und zu kompensieren verspricht. Indem die Anti-Aging-Medizin sich als Spezialisierung darstellt, die alles (oder zumindest sehr vieles) ganz anders als herkömmliche Heilkunde macht, dabei aber echte Medizin zu bleiben beansprucht und sich gewissermaßen als Reform- oder Revolutionsbewegung von innen inszeniert, erscheint sie als Abweichler und Fortschrittsmotor der Medizin zugleich.
III. Anti-Aging und die Ziele der Medizin Nicht nur der Widerstand, den die Anti-Aging-Medizin in weiten Teilen der Bevölkerung und bei vielen Medizinern auslöst, nicht nur die intuitive Abwehr und die erbitterten Abgrenzungsstreitigkeiten mit der Geriatrie sind es, die eine medizinethische Perspektive im Sinne einer normativen Reflexion notwendig erscheinen lassen, sondern vor allem die Zielsetzungen der Anti-Aging-Medizin und der damit verbundene Anspruch, Anti-Aging als Medizin aufzufassen und als ärztliche Tätigkeit zu betreiben, fordern eine kritische Überprüfung heraus. So setzt die Frage nach etwaigen ethischen Grenzen der Anti-Aging-Medizin bei der Frage an, inwieweit die Anti-Aging-Medizin den anerkannten Zielen der Medizin entspricht.
A.
Ziele der Medizin
Die – im Folgenden als klassisch bezeichneten – primären Ziele der Medizin umfassen vier Punkte: Neben der Linderung krankheitsbedingter Schmerzen und Leiden stehen traditionell die Heilung und Pflege erkrankter Menschen, die Verhinderung eines frühzeitigen Todes und das Streben nach einem friedvollen Tod sowie die Krankheitsverhütung und die Gesundheitserhaltung im Zentrum ärztlichen Tuns. 38 Von den 38
Vgl. Callahan et al. (1996), dt. Allert/Baitsch (2002).
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drei Zielen der Anti-Aging-Medizin (s. o.) fällt zunächst nur die Erweiterung des krankheitsfreien Anteils der Lebenszeit (Ziel A) in den üblichen Zuständigkeitsbereich der Medizin – weder die Ausdehnung der jugendlich-leistungsfähigen Lebensphase (Ziel B) noch die Verlängerung der maximalen Lebensspanne des Menschen über das bisher erreichbare Normalmaß hinaus (Ziel C) sind klassische Ziele der Medizin. Am deutlichsten ist dies bei Verfahren, die die direkte Ausdehnung der absoluten Lebensdauer des Menschen und die Abschaffung des Alterns anstreben. Um das Ziel der ewigen Jugend(lichkeit) zu erreichen, wird nicht auf bereits bekannte (und größtenteils akzeptierte) Mittel der Präventivmedizin oder Schönheitschirurgie, sondern auf die direkte Beeinflussung der körperlichen Alterungsvorgänge gesetzt. Derartige Eingriffe in den Alterungsprozess werden allerdings bislang nur in Laborversuchen an tierisch-pflanzlichen Modellorganismen wie Fruchtfliegen, Fadenwürmern und Hefezellen vorgenommen und sind weit davon entfernt, im Rahmen einer medizinischen Behandlung am Menschen praktiziert zu werden. Das gemäßigtere Ziel der Anti-Aging-Medizin, den gesunden Anteil der Lebenszeit zu verlängern (Ziel A), kann zunächst als konsequente Umsetzung des Präventionsziels (Krankheitsverhütung und die Gesundheitserhaltung) verstanden werden und scheint für die klassische Bestimmung der Medizin problemlos zu sein. Allerdings agiert die Anti-Aging-Medizin als radikale Prävention von Altersmorbidität hier in einem altersmedizin-spezifischen Graubereich, da sich nur schwer eine belastbare Grenze ziehen lässt zwischen altersbedingten Krankheitsbildern einerseits und Erscheinungen des Älterwerdens, die ›nur‹ beschwerlich und belastend, aber nicht krankhaft sind andererseits. Hinzu kommt, dass viele degenerative Alterserscheinungen als Risikofaktoren für das Auftreten pathologischer Zustände verstanden werden müssen. Angesichts der großen Unklarheit über die physiologischen Ursachen und Zusammenhänge des Alterungsprozesses sowie der typischen Multimorbidität in zunehmendem Alter scheint eine befriedigende Differenzierung höchst schwierig. So lässt sich in vielen Fällen nicht eindeutig klären, ob die frühzeitige Verhinderung oder Verzögerung eines Altersgebrechens als präventivmedizinische, d. h. krankheitsvermeidende Maßnahme anzusehen ist oder – ganz ohne Krankheitsbezug – der Steigerung der individuellen Leistungsfähigkeit und Lebensqualität dient. Wie sich zeigt, ist der Übergang von dem Ziel der Anti-Aging-Medizin, den gesunden Anteil der Lebenszeit zu ver134 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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längern (Ziel A), zum Anti-Aging-Ziel der Ausdehnung jugendlicher Leistungsfähigkeit (Ziel B) fließend. Gleichzeitig unterscheiden sich die drei Typen von Anti-Aging-Medizin deutlich in ihrem Verhältnis zu den klassischen Zielen der Medizin. Während Maßnahmen, die gegen Alterserkrankungen gerichtet sind (Ziel A), zweifelsfrei zum Aufgabengebiet der Medizin zu gehören scheinen, müssen medizinische Bemühungen, Alterungsprozesse direkt zu manipulieren und abzuschaffen (Ziel C), als klare Überschreitung der ärztlichen Zuständigkeit verstanden werden.
B.
Anti-Aging als Erweiterung der Medizin
Da Anti-Aging-Maßnahmen bislang weder übliche Bestandteile normaler ärztlicher Praxis sind, noch unstrittige Weiterentwicklungen oder Ausdifferenzierungen bestehender Behandlungskonzepte darstellen, müssen Bemühungen, Anti-Aging als Medizin zu etablieren, grundsätzlich als Ansätze zur Erweiterung des medizinisches Feldes verstanden werden – dies ganz abgesehen von der Frage, ob AntiAging-Medizin den klassischen Zielen der Medizin folgt oder nicht. Für die Identität und das Selbstverständnis der Medizin ist dabei von entscheidender Bedeutung, wie eine »Entgrenzung der Medizin« 39 begründet wird. Ein Blick auf die Bereiche, in denen Anti-Aging-Maßnahmen angeboten werden, zeigt, dass für eine Inanspruchnahme zahlreiche und z. T. sehr unterschiedliche Gründe angeführt werden. Die argumentative Vielfalt pro Anti-Aging entspricht dabei der Heterogenität der offerierten Angebote. Dass Argumente, Anti-Aging-Bier zu sich zu nehmen, grundlegend anderer Art sind als diejenigen, die für ästhetisches Anti-Aging per Skalpell ins Feld geführt und akzeptiert werden, liegt auf der Hand. Um Anti-Aging als medizinische Tätigkeit zu legitimieren, sind verschiedene Typen der Begründung denkbar. Für diese Differenzierung ist es hilfreich, Ziele und Zuständigkeit der Medizin anhand des Krankheitsbezugs zu bestimmen, der für die herkömmliche Aufgabenbestimmung der Medizin unerlässlich ist, sei es explizit (Ziel der Krankheitsheilung) oder indirekt (Prävention von Erkrankungen). Die bestehenden Ansätze zur Rechtfertigung von Anti-Aging als Medizin 39
Viehöver/Wehling (2010).
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lassen sich dann auch in drei Typen einteilen, die sich hinsichtlich ihrer Bezugnahme auf Krankheitszustände unterscheiden. So können Auffassungen von Anti-Aging-Medizin, für deren Selbstverständnis Krankheitsbehandlung zentral ist, als pathologisierende, daneben jene, die sich an Erkrankungswahrscheinlichkeiten orientieren und in erster Linie auf weitreichende Prävention setzen, als probabilisierende, und schließlich diejenigen Argumente, die ganz auf einen Krankheitsbezug verzichten, als medikalisierende Formen der Begründung einer Erweiterung des medizinischen Feldes bezeichnet werden. 40 Entgegen der häufig vorzufindenden begrifflichen Unschärfe soll an dieser Stelle nachdrücklich zwischen Medikalisierung und Pathologisierung differenziert werden. So wird im Folgenden ein enges Verständnis des Medikalisierungsbegriffs zugrunde gelegt, das sich nur auf jene Formen einer »Ausweitung eines Marktes für medizinische Dienstleistungen« 41 bezieht, die nicht über den Krankheitsbezug bzw. therapeutischen Heilungsauftrag der Medizin legitimiert werden – auch wenn rein wunscherfüllende Expansion wiederum pathologisierende Effekte haben kann. 42 1.
Pathologisierung: Anti-Aging-Medizin als Therapie
Die vermeintlich stärkste Argumentationsform für Anti-Aging als Medizin geht von dem Ziel der Krankheitsbekämpfung als zentraler Legitimationsgrundlage für medizinisches Handeln aus und interpretiert Altern selbst als Krankheit, um Anti-Aging-Medizin im klassischen Sinne als ärztliche Aufgabe begründen zu können (Pathologisierung). 43 Indem Zustände und Prozesse, die bislang als natürlich, normal oder zumindest nicht-krankhaft angesehen wurden, als pathologisch (und damit behandlungsbedürftig) gelten, werden altbekannte Diese Dreiteilung trifft auch die Einschätzung der »rhetorical umbrellas for labeling anti-aging interventions«, auf deren strategische Bedeutung für Legitimität und zukünftige Entwicklung der Anti-Aging-Medizin Binstock et al. hinweisen: »medical treatments, enhancements, or prevention« Binstock et al. (2006), S. 434. 41 Siegrist (2000), S. 240. 42 Damit wird hier nur zur Hälfte der üblichen Verwendung des Medikalisierungsbegriffs gefolgt, derzufolge auch die Anwendung medizinischen Vokabulars – allen voran des Krankheitsbegriffs – auf bisher nichtmedizinische Probleme und Zusammenhänge diese medikalisiert. Vgl. Conrad (2007), S. 4. 43 Siehe Caplan (2005), De Grey (2005a), De Grey/Rae (2007), S. 321. 40
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Phänomene durch bloße Neudefinition pathologisiert. Der legitime Tätigkeitsbereich des Arztes wird ausgedehnt, ohne weitere, evtl. strittige Zusatzannahmen oder Änderungen an der Aufgabenbeschreibung des Mediziners vornehmen zu müssen. 44 Aus dem Ansatz, Altern zur Krankheit zu erklären, leitet sich dann aber nicht nur die Möglichkeit ab, Anti-Aging als legitime Medizin zu betreiben. Vielmehr wird die Bekämpfung des Alterns mit der ›Entdeckung‹ seines Krankheitswertes zur dringlichen Forderung, vor der der gewissenhafte Mediziner nicht mehr länger die Augen verschließen kann. 45 Anti-Aging-Medizin rückt damit von der Position einer tolerierten Neuerung am Rand der Medizin ins Zentrum ihrer Bestimmung und wird zur Umsetzung eines der obersten Ziele, dem ein Arzt folgen kann: die Rettung vom Tode bedrohter Menschen. In ihrem Eifer, sich die moralische Tragweite potentieller Anti-Aging-Effekte zu verdeutlichen, gehen manche Autoren soweit, das Unterlassen von altersbekämpfenden Maßnahmen bedingungslos zu verurteilen und werfen der konventionellen ›Mainstream-Position‹ vor, durch Ignoranz von Anti-Aging (verstanden als Lebensrettung durch Lebensverlängerung und Altersabschaffung) Menschenleben in unvorstellbarem Ausmaß zu kosten. 46 Allerdings geht diese Argumentation von recht zweifelhaften Annahmen aus, die zu schwerwiegenden Problemen führen. So lässt sich im Fall des Nichtanwendens von Anti-Aging-Maßnahmen nur von unterlassener Lebensrettung sprechen, wenn in ethischer Hinsicht weder zwischen aktivem Tun und passivem Unterlassen noch zwischen dem ärztlichen Gebot zur Hilfeleistung und dem Schädigungsverbot differenziert wird. Aus dem Umstand, dass man ›täglich dem vorherzusehenden Alterstod tausender und abertausender Menschen tatenlos zusieht‹ auf 44 Freilich zieht auch die pathologisierende Expansionsform, die vorgeblich am klassischen ärztlichen Heilungsgebot festhält, vermehrt Kritik auf sich. Diese hierzulande vor allem von (Wissenschafts-)Journalisten breitenwirksam vorgebrachte Kritik ist darum bemüht, die »krankmachende« Kehrseite dieser Ethos-Treue aufzudecken und der Gesellschaft ihre eigene Manipulierbarkeit vorzuführen. So erfährt der Leser einschlägiger Bestseller, »wie Ärzte und Patienten immer neue Krankheiten erfinden« (so der Untertitel von Bartens 2005) und davon, wie »die moderne Medizin dem Menschen [einredet], die Natur schlage ihn mit immer neuen Krankheiten, die nur von Ärzten geheilt werden könnten« (Blech 2005, S. 7). 45 Vgl. die prägnante Formulierung des Philosophen und Transhumansiten Nick Bostrom: »Searching for a cure for ageing is […] an urgent, screaming moral imperative.« Bostrom (2005), S. 277. 46 Vgl. De Grey (2005b).
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eine Verantwortlichkeit für diese Todesfälle zu schließen, ist argumentationslogisch fahrlässig und abenteuerliche Rhetorik. 47 Grundsätzlich muss sich eine pathologisierende Alterssicht außerdem den nicht unerheblichen Einwand gefallen lassen, kein angemessenes Verhältnis zu unabänderlichen Grundkonstituentien der menschlichen Existenz (wie Zeitlichkeit und Endlichkeit) einzunehmen. Indem Anti-Aging das Altern als Teil des natürlichen Lebensverlaufs eines biologischen Organismus bestreitet, muss nicht nur eine zweifelhafte Negierung der Naturhaftigkeit des Menschen, sondern auch ein prekäres Verhältnis zur prinzipiellen Verletzlichkeit und Sterblichkeit befürchtet werden, das die allseits beklagte Todesverdrängung moderner Gesellschaften noch verschärft. Und selbst wenn die Abschaffung des Alterns und damit die ›Heilung‹ dieser ›Lebenskrankheit‹ gelänge, würden mit der Krankheit gerade die basalen anthropologischen Gegebenheiten, die das spezifisch Menschliche des Menschen ausmachen, eliminiert werden. 48 2.
Probabilisierung: Anti-Aging-Medizin als Prävention
Die aussichtsreichste, weil für viele Mediziner, die Medikalisierungstendenzen (im weiten Sinne) kritisch bis ablehnend gegenüber stehen, akzeptabelste Möglichkeit, Anti-Aging als Medizin zu interpretieren, besteht in dem Ansatz, Anti-Aging-Medizin als konsequente Umsetzung der Idee präventivmedizinischer Vernunft (›Vorbeugen ist besser als Heilen‹) stark zu machen (Probabilisierung). Entsprechend lauten die programmatischen Erklärungen, mit denen die wortführenden Vertreter der Anti-Aging-Medizin im deutschsprachigen Raum ihre Unternehmung als »die Präventivmedizin des 21. Jahrhunderts« zukunftsweisend zu positionieren versuchen.49 Indem pathologischen Erscheinungen, die typischerweise in einem höheren Alter gehäuft auftreten, vorgebeugt werden soll, ist auch in diesem Ansatz ein Bezug auf Krankheiten vorhanden, der hier allerdings nur indirekt, nämlich über die Ausrichtung an Wahrscheinlichkeiten (des Auftretens von Krankheiten), wirksam ist. Anti-Aging als präventive Medizin, die Altern selbst zwar nicht zur Krankheit, doch aber zum Hauptrisikofaktor 47 48 49
Siehe zu stichhaltigen Einwände gegen De Greys Position Kennedy (2009). Vgl. Kass (2001), Post (2004), Welsch (2008). Kleine-Gunk (2007), S. 2060.
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für altersbedingte oder -assoziierte Erkrankungen erklärt, kann deshalb als probabilisierende Erweiterung der Medizin bezeichnet werden. Das generelle Problem einer an Wahrscheinlichkeiten ausgerichteten Medizin liegt allerdings in der grundsätzlichen Schwierigkeit, Erkenntnisse, die auf statistischen Daten beruhen und die damit immer nur auf Kollektive bezogen sein können, angemessen auf den individuellen Einzelfall des jeweiligen Patienten anzuwenden. 50 Durch die Einbeziehung genetischer Analyse- und Prognoseverfahren, die herkömmliche Untersuchungsmethoden der Lebensstilmedizin (Befragungen zum individuellen Lebenswandel, Familienanamnesen) ergänzen, scheint in einer Anti-Aging-Behandlung diese prinzipielle Kluft verringert werden zu können. 51 Doch sowohl für das Bestimmen präventivmedizinischer Schritte, die sich aus quantifizierten Risikowerten ergeben, als auch für die Interpretation eines Genprofils ist besondere Erfahrung und ärztliche Urteilskraft erforderlich. 52 Dies gilt umso mehr, als das probabilisierende Verständnis von Anti-Aging als Medizin beständig einer doppelten Gefahr ausgesetzt ist: zum einen ist weder eindeutig bestimmbar, wo Prävention anzusetzen hat, noch wann das Ziel erreicht ist. 53 Diese Schwierigkeit, der Präventionsdynamik sinnvolle Grenzen zu setzen, ist schon in der Idee der Vorbeugung begründet, die einer prinzipiell zieloffenen Logik folgt. Das präventive Prinzip geht somit bruchlos über in das Gebot unabschließbarer Optimierung, was dazu führt, dass probabilisierende Argumente für AntiAging als Medizin schließlich weniger Altersprävention als vielmehr Enhancement von Jugendlichkeit und damit die Verbesserung von Gesunden zum medizinischen Ziel erklären. Hinzu kommt, dass Prävention als zielloses Projekt dazu tendiert, »›Defizitmenschen‹ zu verhindern und ›Voll-‹ bzw. ›Normalmenschen‹ zu schaffen«, 54 dabei aber keinerlei Kriterien für Normalität bereit hält, was ein inhuman-perfektionistisches Menschenbild befördert. Zum anderen suggeriert das Konzept einer umfassenden Risikomedizin, Krankheit sei grundsätzlich und vollständig vermeidbar, wenn der Einzelne nur frühzeitig und gründlich genug das Nötige un-
50 51 52 53 54
Vgl. Wieland (1986), S. 90 ff. Vgl. Kley (2003), S. 49. Vgl. Wieland (1986). Siehe Bröckling (2008), S. 43. Ibid., S. 42.
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ternehme. 55 Dem korrespondieren die in der Anti-Aging-Medizin verbreiteten Vorstellungen von Gesundheit und gesundem Altern, die ganz auf die körperlichen Parameter von Leistung und Funktion reduziert sind. So heißt es exemplarisch im Kursbuch Anti-Aging: »Hohes Alter ist nur in Leistungsfähigkeit erstrebenswert«56 , andere AntiAging-Mediziner sehen ihre Aufgabe ganz ähnlich darin, »alternde Organe in Aufbau und Funktion wiederherzustellen und zu verbessern« 57 und im Alter »die Leistungskapazität (physisch und kognitiv) zu erhalten« 58 . Die Bezugsgrößen der Leistung und Funktion, die als relative Begriffe für sich genommen wenig Aussagewert besitzen, sind im Anti-Aging-Kontext am Idealmaß jugendlicher Spitzenwerte ausgerichtet, was nicht nur in grundsätzlich anthropologischer Hinsicht, sondern gerade angesichts der Herausforderung einer altersgemäßen Medizin höchst fragwürdig erscheint. 59 3.
Medikalisierung: Anti-Aging-Medizin als Wunscherfüllung
Schließlich kann Anti-Aging als Medizin gerechtfertigt werden, indem die Anti-Aging-Zielsetzungen nicht unter die bestehenden Ziele der Medizin subsumiert, sondern als reine Wunscherfüllung neu hinzugefügt werden (Medikalisierung). Anti-Aging-Medizin ist dann keine therapeutische Praxis, die – ob präventiv oder kurativ – an pathologischen Zuständen ausgerichtet ist, sondern wird als optionale Dienstleistung aufgefasst, die bei ›bloß‹ beschwerlichen altersbedingten Einschränkungen Abhilfe schaffen und so die Lebensqualität verbessern soll. 60 Auch die sehr starke Form dieses Arguments, wonach AntiAging-Medizin zur Linderung des Leidens am Altern und seinen Auswirkungen geeignet und aufgerufen ist, muss in diesem Sinne als medikalisierender Ansatz verstanden werden, da der Imperativ zur medizinischen Leidensbekämpfung gerade nicht unter Verweis auf paVgl. Schmidt-Semisch (2004), S. 224. Jacobi (2005), S. 3. 57 Huber/Buchacher (2007), S. 155. 58 Rabe/Strowitzki (2007), S. 352. 59 Vgl. zur Gefahr, durch eine Überbewertung von Gesundheit diese zu verfehlen: Dörner (2004), S. 126. Als Alternative zu den kritisierten Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit der Anti-Aging-Medizin sei hier an die holistischen Konzeptionen von Hans-Georg Gadamer und Franz Vonessen erinnert: Gadamer (1993), Vonessen (1971). 60 Siehe Schmitt/Homm (2008), S. 13. 55 56
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thologische Umstände vorgebracht wird – was für die Formulierung der vier klassischen Ziele jedoch wesentlich ist. 61 Die Zielsetzungen der Anti-Aging-Medizin lassen sich dann nicht unter die bestehenden Ziele der Medizin subsumieren, sondern verweisen auf einen Zweck, der diesen neu hinzugefügt wird: die Erfüllung individueller Wünsche ohne medizinische Indikation. Damit fallen Gegebenheiten und Befindlichkeiten in den Zuständigkeitsbereich der Medizin, die vorher außerhalb der Sphäre medizinischen Handelns wahrgenommen und bewältigt wurden. Da für derartige Argumente der Krankheitsbezug keine Rolle spielt, kann hier von medikalisierenden Begründungsformen im engeren Sinne gesprochen werden. 62 Freilich ist davon auszugehen, dass Formen der Medikalisierung auch pathologisierende Effekte zeitigen können 63 , doch hinsichtlich der Frage, wie neue Zuständigkeiten der Medizin gerechtfertigt werden, ist das entscheidende Kennzeichen medikalisierender Positionen, Medizin rein instrumentell zu verstehen, als zur Erfüllung nichtmedizinischer Zwecke geeignet – und deshalb auch berechtigt. In diesem Sinne wird Anti-Aging als eine Form der Wunscherfüllung verstanden, die der Mediziner aufgrund seiner Expertise und Erfahrung besonders zielgenau und professionell leisten kann. 64 Da allein aus dem Umstand, dass eine Zielsetzung nicht den bisherigen Legitimationsansprüchen der Medizin genügt, nicht gefolgert werden kann, dass diese Zielsetzung grundsätzlich nicht zu den legitimen Zielen der Medizin gehören kann, stellt sich die Frage, wie weit sich »das legitime Territorium der Medizin« er61 Zur Verknüpfung der Anti-Aging-Medizin mit dem Ziel der Leidenslinderung siehe Fossel (2002), S. 320. Zur Frage, inwieweit Leidenszustände ohne direkten Krankheitsbezug Gegenstand legitimer medizinischer Behandlung sein können, siehe den Beitrag von Bozzaro in diesem Band. 62 Dagegen wären nach einer weiten Interpretation sämtliche Formen einer »Ausweitung all dessen, was im Leben für wichtig gehalten wird, auf die Praxis der Medizin« als Medikalisierungsphänomene einzustufen – ganz unabhängig davon, ob dabei die Zuschreibung eines Krankheitswertes eine Rolle spielt, vgl. Zola (1979), S. 65. Ähnlich lautet auch die Medikalisierungs-Definition im Bericht zu den Zielen der Medizin des Hastings Center: »Anwendung medizinischen Wissens und medizinischer Technologie auf Problembereiche […], die historisch nicht als medizinische Probleme gesehen wurden« (Callahan et al. 1996, dt. S. 35). 63 Maio (2006), S. 346. 64 Vgl. dazu die von Anti-Aging-Medizinern antizipierte Erwartungshaltung ihrer Klientel, die völlig ohne einen Verweis auf Krankheit auskommt: »Der Wunsch der Menschen an die so genannte Anti-Aging-Medizin besteht darin, dass man ihnen das numerische Alter nicht ansieht.« (Rabe/Strowitzki 2007, S. 353).
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streckt, hier als Frage nach der »Grenze einer legitimen Medikalisierung« 65 . Im Fall von Anti-Aging-Maßnahmen ohne jeglichen Krankheitsbezug erachten medikalisierende Positionen im engen Sinne allein das Zusammentreffen von medizinischer Machbarkeit und selbstbestimmter Nachfrage (sowie Zahlungsfähigkeit) als ausreichend, um den Einsatz medizinischer Leistungen zu legitimieren. Diese Begründung einer Erweiterung des medizinischen Feldes durch Anti-Aging bringt beträchtliche Probleme mit sich, die zunächst diejenigen Aspekte des menschlichen Lebens betreffen, die damit unter die Definitions- und Behandlungsmacht der Medizin fallen. Wenn medizinische Mittel zur Abhilfe unerwünschter Zustände schnelle und effektive Wirkung versprechen, geraten oft die komplexen Hintergründe einer schwierigen Lebenssituation, die nicht durch Medikamente oder Operationen (allein) behandelbar sind, aus dem Blick. 66 Durch die Konzentration auf die somatisch-technisch orientierten Möglichkeiten der Medizin drohen alternative – und womöglich weitaus nachhaltigere – Möglichkeiten zum Umgang mit dem betreffenden Problem verdrängt und schließlich gar nicht mehr wahrgenommen zu werden. Im Falle von Alterserscheinungen, die die Anti-Aging-Medizin zu bekämpfen verspricht, sind gravierende Zweifel angebracht, ob wirklich die äußerlich erkennbaren Alterungsmerkmale oder nicht eher die dagegen opponierende Einstellung und Unzufriedenheit mit dem Altern das Problem sind – welche sich freilich kaum mit medizinischer Hilfe lösen lassen. Indem die Anti-Aging-Medizin den körperlichen Anzeichen der Zeitlichkeit der menschlichen Existenz (und damit auch ihrer Endlichkeit) den Krieg erklärt, scheint sie sich überdies in ein aussichtsloses Unterfangen zu begeben, welches die empfundenen Schattenseiten des bekämpften Unausweichlichen nur noch verschlimmern dürfte. 67 Aber auch was die Medizin als normative Praxis angeht, sind medikalisierende Expansionsformen im Allgemeinen und die Anwendung von Anti-Aging-Maßnahmen als ärztliche Tätigkeit im Besonderen sehr problematisch. Wenn der frei erklärte Wunsch eines ›Gesundheitskunden‹ – der unter diesen Umständen kaum mehr als Patientenwille bezeichnet werden kann – zum alleinigen Kriterium für ärztliches 65 66 67
Callahan et al. (1996), dt. S. 29. Siehe Lanzerath (2008a), S. 210. Vgl. dazu den Beitrag von Bozzaro in diesem Band.
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(Be-)Handeln wird, ist die Medizin in ihrem Kern bedroht, da als unausweichliche Folgen einer konsequent präferenzorientierten Medizin eine zunehmende Kommerzialisierung und bedenkliche Erosion der ärztlichen Garantenpflicht und Vertrauensstellung zu erwarten wären. 68 Der Mediziner als bloßer Erfüllungsgehilfe individueller Präferenzen, der sich nicht (mehr) erlaubt, mit seiner so geschulten wie kritischen Urteilskraft die an ihn gestellten Anforderungen nach Maßgabe etablierter fachlicher Kriterien uneigennützig zu prüfen und diese mit Blick auf das gesundheitliche Wohl seines Gegenübers unter Umständen abzulehnen, macht sich darüber hinaus leicht zum Komplizen beliebiger Werte und Normen, die der Einzelne mit seiner Hilfe verwirklicht sehen möchte. 69
IV. Probleme und Grenzen der Anti-Aging-Medizin A.
Rollenverschiebungen
»In Prävention ausgebildete Ärzte sind in einer Anti-Aging-Sprechstunde in der Lage, die Aufgaben eines Gesundheitslotsen zu übernehmen. Sie geben individuelle Orientierung, und zwar bei alternativen medizinischen Behandlungskonzepten […], in den Bereichen Wellness und Fitness, in der Veränderung des Lebensstils, im Lebenswandel schlechthin. […] Gefordert wird ein Spezialist [mit] lebenslanger Sorgefunktion.« 70
Diese bedenkenswerte Formulierung eines ärztlichen Berufs- und Selbstbildes ist einem medizinischen Sammelband zu Anti-Aging entnommen, der Beiträge zahlreicher Spezialisten »aus verschiedenen Fachgebieten und Kompetenzfeldern« versammelt und in einem großen und renommierten medizinischen Fachbuchverlag erschienen ist. An dieser ärztlichen Aufgabenbeschreibung aus der Perspektive der Vgl. Maio (2006), Unschuld (2009). Wieviel hier auf dem Spiel steht, macht der Bericht des Hastings Centers klar, in dem die Gefahr für die Medizin betont wird, sich durch radikale Präferenzorientierung zu einer Anthropotechnik zu wandeln, die sich in ihrer Zielbestimmung schließlich weder auf Krankheit noch Gesundheit bezieht: »Die Medizin gefährdet sich selbst, wenn sie sich selbst primär als ein Instrument sieht, um die individuelle Wahlfreiheit und die persönlichen Wünsche zu maximieren, und sie verführt die Gesellschaft dazu, von ihr für nicht gesundheitsorientierte Ziele Gebrauch zu machen.« Callahan et al. (1996), dt. S. 60. 70 Jacobi (2004), S. 187. 68 69
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Anti-Aging-Medizin lassen sich einige der wichtigsten Entwicklungsrichtungen des gegenwärtigen Gestaltwandels der Medizin (s. o.) in Bezug auf die Rollen der beteiligten Akteure erkennen. Wie generell in den stark auf wissenschaftliche Seriosität bedachten deutschsprachigen Publikationen wird hier der grundlegende präventivmedizinische Ansatz betont und gleichzeitig der damit einhergehende Wandel der normativen Funktion des Arztes im Begriff des ›Gesundheitslotsen‹ aufgenommen. Der Anti-Aging-Mediziner sieht sich nicht wie in der klassischen, kurativ ausgerichteten Arzt-Patient-Beziehung mit Menschen in Krisensituationen konfrontiert, die auf medizinischen Beistand und fürsorgliche Behandlungsentscheidungen mehr oder weniger existenziell angewiesen sind. Genauso wenig wie sich Anti-Aging an alte oder gar gebrechliche Menschen richtet, hat der Anti-Aging-Mediziner es mit Menschen zu tun, die sich in einer Notlage befinden oder nach herkömmlichem Verständnis als krank und medizinisch hilfsbedürftig einzustufen sind. Anti-Aging-Medizin ist ihrem Wesen nach für Noch-nicht-Kranke und Noch-nicht-Alte, für Junge und Gesunde konzipiert. 71 Damit entspricht die Anti-Aging-Medizin in wesentlichen Punkten dem Konzept einer »wunscherfüllenden Medizin«, als dessen presonales Zentrum »ein neuer Mensch der neuen Medizin« identifiziert worden ist. 72 Diese bislang im medizinischen Kontext weitgehend unbekannte Figur nutzt die Fähigkeiten des Arztes zur Selbstgestaltung und Lebensplanung und setzt medizinische Möglichkeiten ein, »um sich zu seiner Lebensführung genau diejenige körperliche Verfassung zu schaffen, die er oder sie sich wünscht«. Ähnlich prognostizieren Trendforscher die künftige Entwicklung der Patientenrolle, die weniger von der Hoffnung auf Krankheitsheilung geprägt sein wird, als mehr und mehr von dem Wunsch »nach ganzheitlicher Behandlung, Selfness, Selfenhancement« 73 , deren sachgerechte Erfüllung schließlich vertraglich eingefordert werden kann. In der Anti-Aging-Medizin rückt an die Stelle ärztlicher Urteilskraft und Behandlungsfreiheit als maßgebliches Kriterium für die Vgl. zum Effekt der Anti-Aging-Medizin, junge in noch-nicht-alte Menschen zu verwandeln, die analoge Entstehung einer »potential sick role« durch überzogene Prävention, Crawford (1980), S. 379. 72 Siehe dazu Junker/Kettner (2009), S. 66. 73 Huesmann et al. (2006), S. 21. 71
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Durchführung medizinischer Altersbekämpfung die subjektive Einschätzung und das individuelle Begehren des mit seinem Älterwerden Unzufriedenen. Der Anti-Aging-›Arzt‹ stellt sein Wissen und Handeln bereitwillig in den Dienst des eigenverantwortlichen und gesundheitsbewussten Individuums, das Adressat bzw. Abnehmer der Anti-AgingLeistungen ist und als selbstbestimmter »Patientensouverän« 74 seinen krankheitsfreien Zustand möglichst lange erhalten oder sogar noch verbessern möchte. Der Patient einer sich auf Prävention und Gesundheitssteigerung spezialisierten Anti-Aging-Medizin nimmt seine gesundheitliches Schicksal selbst in die Hand gemäß dem Anti-AgingCredo, wonach es jeder Mensch selbst zu verantworten hat, ›wie alt er und wie er alt wird‹. Aufgrund der hierbei angesprochenen Plastizität und Diversifizität des Alterungsprozesses spielt in der Anti-AgingMedizin das Leitmotiv der Individualisierung eine wichtige Rolle. Dabei führt gerade die Notwendigkeit des individuellen Zuschnitts einer Anti-Aging-Behandlung dazu, dass trotz des hohen Stellenwerts, der der Autonomie und Entscheidungsfreiheit des Klienten eingeräumt wird, das Arzt-Klient-Verhältnis von einer prinzipiellen Asymmetrie geprägt bleibt. Denn die effektive Nutzung und Anwendung präventiver und prädiktiver Maßnahmen versteht sich nicht von selbst. Um auf die ausdifferenzierten Testergebnisse und ermittelten Risikowerte auch angemessen reagieren zu können, »ist ein hohes Maß an Gesundheitskompetenz bei den Patienten erforderlich« 75 . Auch das vorsorgewillige Individuum ist damit angewiesen auf den Sachverstand des Mediziners, und so entspricht der Anti-Aging-Adressat dem Profil der zeittypischen Figur des Klienten, der professionelle Beratung in Anspruch nimmt. Die Spannung, die darin liegt, gleichzeitig autonom entscheidender und auf Hilfe angewiesener Abnehmer medizinischer Leistungen zu sein, findet in dem ungelenken Kombinationsbegriff des »Kundenpatienten« ihren charakteristischen Ausdruck. 76 Die ambivalente Rolle des Anti-Aging-Mediziners, der aufgrund seiner einschlägigen Fachkompetenz zwar unerlässlich ist, die Anwendung seines Wissens und Könnens dem Klienten aber nicht bevormunIbid., S. 11. Hüsing et al. (2008), S. 21. In diesem Sinne ist auch die Warnung eines Münchner Hormonspezialisten zu verstehen, die gleichzeitig die eigene Unersetzbarkeit und damit Legitimität belegen soll: »Anti-Aging aus dem Supermarkt funktioniert nicht« Klentze (2003), S. 90. 76 Vgl. Huesmann et al. (2006), S. 21. 74 75
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dend verordnen kann, passt wiederum genau zu der Verschränkung des Widersprüchlichen, die für Beratung spezifisch ist, welche in einer »Gleichzeitigkeit von Selbstbestimmung und Abhängigkeit von Experten(wissen)« 77 wirksam wird. So nehmen im Angebotsspektrum der Anti-Aging-Medizin Beratungsleistungen einen hohen Stellenwert ein und Anti-Aging-Mediziner treten in erster Linie als »Gesundheitsconsultants« 78 auf – in einschlägigen Kreisen wird bereits mit der Berufsbezeichnung des »Salutologen« operiert. 79 Als ›Gesundheitslotse‹ (be-)handelt der Mediziner nicht mehr länger als akut angerufener Fachmann, von dessen Einsatz man sich einen sowohl räumlich als auch zeitlich klar umgrenzten Nutzen verspricht (diese jetzt aufgetretenen Symptome bzw. Erkrankung zu heilen), sondern er soll aufgrund der prinzipiell zieloffenen Logik von Prävention und durch die umfassende Einbeziehung aller Bereiche der individuellen Lebensführung gleichsam als Spezialist fürs Ganze fungieren. Diese GanzheitlichkeitsAnforderung ist dabei eine doppelte, da der Arzt zum lebenslänglich begleitenden Gesundheitsberater wird, der zudem sämtliche Bereiche des Lebenswandels in sein Vorsorge- und Risikomanagement einbezieht. Schließlich gehört zu den wesentlichen strukturellen Verschiebungen innerhalb der Arzt-Patient-Beziehung, die in der Anti-AgingMedizin in exemplarischer Weise stattfinden, die Tendenz zu einer Marktförmigkeit dieses personalen Verhältnisses. In einem freien Markt bestimmen Angebot und Nachfrage das Geschehen, die explizit formulierte Präferenz und selbstbestimmte Forderung genügt für die Erbringung einer Leistung. Dieses Muster dient nun auch in der Medizin zunehmend als Vorbild, was die ohnehin erodierenden Grenzen zwischen der Figur des Patienten und der eines Klienten/Kunden/Konsumenten als auch zwischen der Arztrolle und der eines Dienstleisters/ Verkäufers weiter auflöst. Die gerade in der Anti-Aging-Medizin notorische Ausrichtung an einem Dienstleistungsmodell, in dem Produkte bereit gestellt, an den Kunden gebracht und zu diesem Zweck beworben werden müssen, trägt dazu bei, dass der Anti-Aging-Mediziner in Duttweiler (2004), S. 26. Huesmann et al. (2006), S. 22. 79 Bleichrodt (2003), S. 203. Ein weiteres aussagekräftiges Selbstbild sieht für den AntiAging-Mediziner »die Funktion des Weichenstellers im Kompetenzfeld Anti-Aging« vor (Jacobi 2004, S. 182) – sicher keine unwichtige Aufgabe, aber, um im Bild vom Schienenverkehr zu bleiben, ohne Einfluss auf die Bestimmung des Fahrziels. 77 78
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erster Linie als Marktteilnehmer agiert. 80 Der wachsenden Dienstleistermentalität der Berater-Mediziner entspricht eine zunehmende konsumistische Erwartungshaltung auf Seiten der Kunden-Patienten, »die seitens eines professionellen Providers eine individualisierte, von ihnen erwünschte Dienstleistung nachfragen« 81 . Da es sich aufgrund der uneingeschränkten Selbstbestimmung und Souveränität des AntiAging-Kunden dabei nur um optionale Dienstleistungen handeln kann, ist es für den Anti-Aging-Mediziner unabdingbar, Aufklärungsund Überzeugungsarbeit leisten, um einen (Behandlungs-)Auftrag zu erhalten, und er hat es »weniger mit medizinischen als mit pädagogisch-psychologischen Problemen zu tun« 82 .
B.
Verantwortung und Komplizenschaft
Anti-Aging-Medizin ist stark geprägt von einem emanzipatorischen und einem instrumentellen Motiv. Das emanzipatorische Motiv sieht in Anti-Aging eine doppelte Befreiungsmöglichkeit für den Einzelnen. Einerseits verspricht die selbstverantwortliche Sorge für die eigene Gesundheit und das eigene Altern die Befreiung von einer tendenziell bevormundenden Behandlung durch eine paternalistisch geprägte Medizin, die wenig Spielraum für individuelle Wünsche und Vorlieben lässt. Andererseits wird Anti-Aging-Medizin verstanden als Chance, sich von der unveränderlichen Übermacht schicksalshaften AlternMüssens freizumachen, indem Geschwindigkeit und Verlaufsform dieses Naturprozesses mit medizinischen Mitteln beeinflusst und gestaltet werden. Das instrumentelle Motiv schließt sich an das emanzipatorische insofern direkt an, als ihm die Auffassung zugrunde liegt, wonach Medizin ein geeignetes Mittel zur Verwirklichung individueller Zwecke ist. Als großer Vorteil einer individuell ausgerichteten Medizin gilt die Berücksichtigung der Präferenzen des Einzelnen. So wird auch die Anti-Aging-Medizin als Möglichkeit begrüßt, nicht mehr standardi80 Auch wenn genauere Angaben zum (markt-)wirtschaftlichen Aspekt schwer zu ermitteln sind (s. Stuckelberger/Wanner 2008, S. 203 f.), kann doch festgestellt werden, dass das Feld der Anti-Aging-Medizin in nicht unerheblichem Maße von Profitstreben und Gewinnmaximierung geprägt ist. 81 Junker/Kettner (2009), S. 69. 82 Haber (2007), S. 9.
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sierte Formen des Umgangs mit dem Älterwerden hinnehmen zu müssen, sondern passgenau die persönlichen Vorstellungen eines guten Alterns – bzw. eines erst sehr späten, komprimierten Alterns – realisieren zu können. Wie für Formen der wunscherfüllenden Medizin generell muss dabei allerdings unbedingt die Genese der Vorstellungen und Präferenzen hinterfragt werden, die die Anwendung der Anti-AgingMaßnahmen initiieren. Dabei ist vor allem der Einfluss zu bedenken, den das Angebot auf die Nachfrage haben kann. Gerade im medizinischen Feld, das durch ein deutliches Kompetenzgefälle und asymmetrische Experten-Laien-Beziehungen gekennzeichnet ist, entstehen die Vorstellungen und Präferenzen der Patienten-Klienten nicht unabhängig von den medizinischen Möglichkeiten, wie sie die Medizin selbst vermittelt. Die Kundenwünsche, die von Anti-Aging-Medizinern oft als anthropologische Konstanten aufgefasst und damit als unveränderlich gegeben vorausgesetzt werden, sind in ihrer Zielrichtung und konkreten Ausgestaltung immer auch das Ergebnis der Art und Weise, in der die Leistungen zur Befriedigung dieser Wünsche offeriert und präsentiert werden. Hinzu kommt, dass nicht nur die Form des Angebots der medizinischen Möglichkeiten die Erwartungshaltung der potentiellen Kunden prägt, sondern dass schon allein die Tatsache, dass es sich bei den Anbietern um Mediziner (Ärzte) handelt, etwaigen Zweifeln an der grundsätzlichen Legitimität sowie dem Wert von Anti-Aging die Grundlage entzieht. 83 So macht sich Medizin, die Anti-Aging praktiziert, allzuleicht zur Komplizin derjenigen Werte und Ideale, die im Alter nur Abbau, Verlust und ein mit allen Mittel zu bekämpfendes Übel sehen. Allein mit ihrem grundsätzlichen Ansatz, ›gegen‹ das Altern vorzugehen (Anti-Aging!), vermittelt und verstärkt die AntiAging-Medizin ein Defizitmodell des Alters. Anstatt älteren und alten Menschen, die durch Gebrechlichkeit und alterstypische Einschränkungen vermehrt auf einfühlende Hilfe angewiesen sind, beizustehen und sie bei einer altersgerechten Lebensführung zu unterstützen, tragen Anti-Aging-Mediziner letztlich zur Diskriminierung alter und gebrechlicher Menschen, die nicht mehr voll funktionstüchtig und leis»Eine sich an Präferenzen orientierende Medizin gibt nolens volens zu verstehen, dass sie den hinter den Präferenzen stehenden Lebensentwurf samt seinen ethisch-anthropologischen Implikationen bejaht.« Pöltner (2007), S. 199. Vgl. auch Maio (2006), S. 347 f.
83
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tungsfähig sind, bei. Die Hochschätzung und Idealisierung leistungsstarker Jugendlichkeit, die die Anti-Aging-Behandlungskonzepte durchzieht (»Hohes Alter ist nur in Leistungsfähigkeit erstrebenswert«, s. o.), verstärkt die Abwertung von alterstypischen Zuständen eingeschränkter Fitness und Funktion nur noch. Abgesehen von diskriminierenden Implikationen, die individuelle Wünsche und Vorlieben von Anti-Aging-Klienten haben können, ist die primäre Präferenzorientierung der Anti-Aging-Medizin aus einem weiteren Grund sehr problematisch. Zwar wird die Erfüllung der Wünsche des Einzelnen prinzipiell als Gewinn für dessen Selbstbestimmung verstanden, doch muss dies nicht nur positive Effekte zeigen. So bringt eine Erweiterung und Stärkung der individuellen Rechte und Spielräume immer auch einen Zuwachs an Verantwortung mit sich, wodurch wiederum der Druck der Verpflichtung steigt, dieser gerecht zu werden. Es ist zwar ein Vorzug von Gesundheitsberatung, »den Menschen in seiner Freiheit, Vernunftbegabung und moralischen Verantwortung gegenüber sich selbst und der Gesellschaft« anzusprechen 84 , mit Blick auf die Anti-Aging-Medizin ist eine derartige Stärkung des Einzelnen aber gleichzeitig auch die Quelle neuer Belastung. Neben der finanziellen Kosten – Anti-Aging-Medizin ist nicht nur eine Selbstbestimmer-, sondern auch eine Selbstzahlermedizin – fordert präventives AntiAging auch eine erhöhte Bereitschaft, Zeit und Energie in die kontinuierliche Selbstbeobachtung und -kontrolle zu investieren. 85 So muss im Zuge einer totalen Verantwortungsübernahme für das gesundheitlich optimale Altern mit dem Aufkommen einer permanenten Überforderung gerechnet werden. Während zum einen der Anspruch konsequenter Selbstverantwortung – das eigene »Selbst nach allen Seiten hin gleichzeitig zu perfektionieren« 86 – nie vollständig erfüllt werden kann, ist zum Andern das Spektrum der verfügbaren Möglichkeiten zu groß, um sich selbständig Orientierung für eine zufriedenstellende Auswahl verschaffen zu können. Die perfektionistische und multioptionale Situation völliger Wahl- und Gestaltungsfreiheit in Fragen der eigenen Lebensführung87 Vgl. Brinkmann-Göbel (2004), S. 288. Insofern lassen sich im Rahmen umfassender Anti-Aging-Programme durchaus Züge einer »protestantischen Ethik des Alterns« ausmachen, siehe Viehöver (2008). 86 Fach (2004), S. 233 87 Vgl. hierzu Gross (1994). 84 85
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Tobias Eichinger
scheint in medizinischen Zusammenhängen besondere Probleme mit sich zu bringen. Nicht nur ist der um Gesundheitsoptimierung und Vorsorgeperfektionierung bemühte Laie bei der angemessenen Wahl geeigneter Maßnahmen tendenziell überfordert, mit der Entwertung des überindividuellen Kriteriums des Patientenwohls durch die Gleichsetzung bzw. Ersetzung durch den Klientenwillen geht eine unentbehrliche Orientierungshilfe verloren, die zudem eine einzigartige Stärke ärztlicher Kompetenz darstellt. Unter dem traditionellen medizinischen Paradigma findet diese Orientierungshilfe im Begriff und Behandlungsschritt der Indikation als »begründeter Entschluss« zu einer ärztlichen Handlung 88 Eingang in die Entscheidungsfindung – selbstverständlich unter Berücksichtigung der individuellen Vorstellungen und des Lebensentwurfs des Patienten, nicht jedoch diesen völlig untergeordnet. Verzichtet die Medizin im Zuge anti-paternalistischer Wandlungsprozesse ganz auf die fachliche Objektivität und Urteilskraft des Arztes und damit auf intersubjektiv überprüfbare Maßstäbe, die für eine Indikationsstellung wesentlich sind und im Zweifelsfall auch gegen den erklärten Willen des eine Behandlung einfordernden Patienten-Klienten sprechen können, wird ärztliches Handeln zu einer reinen Dienstleistung. Medizin als »Kundendienst« 89 tritt dem Empfänger ihrer Maßnahmen in einem vertraglichen Verhältnis moralisch neutral gegenüber und ist an der Wirkung einer Behandlung letztlich nur insoweit interessiert, als diese der Kundenbindung dient und einen erneuten Auftrag vorbereitet. Damit ist die für die Medizin fundamentale Hilfsverpflichtung und Garantenstellung des Arztes, die unbedingtes Vertrauen innerhalb der Arzt-Patient-Beziehung garantiert und stabilisiert, dahin. Denn der Patient ist nicht nur auf einen Mediziner angewiesen, der fachlich kompetent ist und für sein medizinisches Wissen und Können verantwortlich ist, er braucht auch einen Arzt, der Verantwortung »für seine humanitäre Gesinnung und mitmenschliche Haltung« 90 trägt. Wo es einzig um das fachgerechte Erbringen einer gewünschten Leistung geht, kann Aufmerksamkeit und Freundlichkeit freilich nicht schaden, echte Mitmenschlichkeit und Empathie aber sind zeitaufwendige und damit kostspielige Qualitäten, die für ein gelingendes Vertragsverhältnis überflüssig sind. 88 89 90
Raspe (1995), S. 22. Vgl. zum Folgenden Lanzerath (2008b). Maio (2010). Pöltner (2007), S. 198. Siehe dazu auch Wiesing (1996).
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Anti-Aging als Medizin?
Eine strikte Präferenzorientierung im Sinne indikationsloser Wunscherfüllung nach dem Muster medikalisierender Anti-AgingMedizin würde das Ende einer Medizin bedeuten, deren Zentrum die Hilfe für Menschen in Not darstellt – Menschen, die in ihrer bedrängten Lage angewiesen sind auf fürsorglichen Beistand, die in ihrer Fähigkeit zur Urteilsbildung und Selbstbestimmung eingeschränkt sind und gerade nicht souverän über Ziele und Wege der benötigten ärztlichen Hilfe entscheiden können. Die Vulnerabilität des Menschen als anthropologische Konstante ist eines der unverzichtbaren Elemente bei der Bestimmung der Ziele und Identität der Medizin. Dementsprechend ist es einer der problematischsten Aspekte der Anti-Aging-Medizin, dass sie die Kontingenz des Menschseins systematisch bekämpft und zu verdrängen versucht. Die prinzipielle Anfälligkeit, Verletzlichkeit und Sterblichkeit des Menschen, die im Alternsprozess auf paradigmatische Weise sichtbar und unabweisbar werden, zugunsten vermeintlicher Verbesserungsmöglichkeiten und Vervollkommnungstechniken aus dem Blick zu verlieren, wäre die fatale Konsequenz einer Instrumentalisierung der Medizin und gleichzeitig ihr Ende als humanitäre Praxis.
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II. Sozialrechtliche und gerechtigkeitsethische Probleme der Anti-Aging-Medizin
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Sozialrechtliche Entscheidungspraxis bei wunscherfüllender Medizin Wolfgang Mazal
1.
Einleitung
1.1. Ausgangslage Der Wunsch, ewig jung und immer fit zu sein, bewegt die Menschen seit Jahrtausenden. Gefäße aus dem alten Griechenland zeigen Bilder idealisierter Jugendlichkeit, die Kunst des Schminkens im alten Ägypten versuchte, das Aussehen der Menschen idealen jugendlichen Typen anzunähern, der Körperkult, der vom alten Rom über Jahrhunderte bis in die heutige Zeit das körperliche Training zum Maß der Gesundheit und eines fitten Körpers erklärt, spiegeln den Wunsch des Menschen wider, den natürlichen degenerativen Abläufen im Körper ein Schnippchen zu schlagen. Die Entwicklung der Medizin in den letzten Jahren erweckt Hoffnungen, diese alten Träume auf relativ einfache Weise in Erfüllung gehen zu lassen und darüber hinaus gewünschte Änderungen im Körper und in der Seele auslösen zu können. Der Drang, diesem Wunsch nachzugeben steigt, je mehr die Werbung die Illusion von Perfektion in der Gestaltung des Lebens und des Aussehens forciert, und je mehr der Eindruck besteht, dass sämtliche Wünsche erfüllbar seien und es nur auf die richtige Methode ankomme, die gewünschte Beeinflussung der Körpervorgänge zu erreichen. Hier trifft sich die subjektive Wunschlage tatsächlich mit den Potenzialen, die die Entwicklung der Medizin in den letzten Jahren geschaffen hat, mit den durch das Sozialsystem erweckten Erwartungen an kostenfreie Wunscherfüllung und mit den Vorstellungen eines »Rechts auf Glück«, die im gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein verankert sind und die der politische Diskurs mit seinen Versprechungen fördert. Weil diese Veränderungen in der subjektiven und der gesamtgesellschaftlichen Sichtweise in den letzten Jahren rasant vonstatten gegangen sind, verwundert nicht, dass die normative Bewältigung die159 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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ser Situationen Probleme bereitet. Hier ist auf der einen Seite die Frage ungeklärt, wie weit es aus Sicht des ärztlichen Berufsrechts und der ärztlichen Ethik erlaubt oder gar geboten ist, medizinisch nicht indizierte, aber vom Patienten gewünschte Behandlungen vorzunehmen; Unklarheiten bestehen weiters darüber, in welchem Maß Kosten für derartige Behandlungen von der Allgemeinheit oder vom Individuum zu tragen sind, und letztlich ist auch eine philosophische Bewältigung der Frage offen, warum die wunscherfüllende Medizin im Denken von immer mehr Menschen einen immer größer werdenden Stellenwert einnimmt: liegt hier nicht vielleicht ein Teil der Sinnkrise vor uns, ein Teil des Glaubens an die Allmacht menschlichen Handelns, ein Teil des unbewältigten Alterns, ein Teil des Trauerns über verlorene Jugend, ein Teil von Sehnsucht nach dem schnellen Glück, das durch planbare Maßnahmen gewonnen, nicht jedoch mühsam erkämpft werden muss? Faktum ist jedenfalls auch, dass sich die Judikatur im Bereich der sozialen Krankenversicherung in den letzten Jahren verstärkt mit der Frage der Kostenträgerschaft für Maßnahmen der wunscherfüllenden Medizin befassen musste: mag dabei auch der Druck der leeren Kassen einer allzu großzügigen Handhabung entgegenstehen, ist doch evident, dass eine homogene administrative Umsetzung der wunscherfüllende Medizin noch keineswegs gelungen ist: Sozialversicherungsträger, Sozialhilfeträger, aber auch Ärzte und Patienten ringen um Fragen, wie weit wunscherfüllende Medizin in Anspruch genommen werden darf und in welchem Maß ihre Kosten von der Allgemeinheit zu tragen sind; da die Normen praktisch keine expliziten Aussagen dazu treffen, ist die Unsicherheit groß. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist jedenfalls nicht, einzelnen dogmatischen Fragen der wunscherfüllenden Medizin im Kontext des Sozialrechts nachzuspüren, weil dies bereits durch zahlreiche Autoren allenthalben in anderen Publikationen geschehen ist; vielmehr soll darauf aufbauend die Anwendung und Auslegung der krankenversicherungsrechtlichen Regelungen dahingehend überprüft werden, wie die Judikatur die Position der Gesellschaft zu diesen Entwicklungen konkretisiert, und allgemeine Fragen der Handhabung der Abgrenzung von Eigenverantwortung und Solidarität, und damit die Grenzen der Bezahlung der wunscherfüllenden Medizin durch die Allgemeinheit auf Basis sozialrechtlicher Regelungen erörtert werden.
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Sozialrechtliche Entscheidungspraxis bei wunscherfüllender Medizin
1.2. Zur Begrifflichkeit Im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs könnte man als wunscherfüllende Medizin jede medizinische Handlung bezeichnen, die dem Wunsch eines Patienten folgt. Ein derartiges Begriffsverständnis wäre jedoch deswegen unzweckmäßig, weil es angesichts der rechtsdogmatischen Struktur des ärztlichen Behandlungs- und Therapievorgangs auf jedes medizinische Handeln zutrifft: Soweit jedes ärztliche Handeln nur im Konsens mit dem Patienten erfolgen darf, kann es streng genommen keine ärztliche Behandlung geben, die nicht dem Wunsch des Patienten entspricht. Die gängige Definition im Online-Lexikon Wikipedia zeigt allerdings, dass mit dem Begriff der wunscherfüllenden Medizin eine andere Vorstellung verbunden ist, sodass der Begriff enger zu fassen ist, als es sich aus dem allgemeinen Sprachgebrauch ergibt: Als wunscherfüllende Medizin werden nicht medizinisch indizierte Eingriffe in den menschlichen Organismus mit dem Ziel der Verbesserung, Veränderung oder Erhaltung von Form, Funktion, kognitiven Fähigkeiten oder emotionalen Befindlichkeiten (Enhancement), die unter ärztlicher Verantwortung durchgeführt werden, bezeichnet. Dazu zählen insbesondere operative, pharmakologische, biotechnische (z. B. neurobionische) und gentechnische Maßnahmen. Im speziellen werden Anti-AgingMaßnahmen dargestellt, die zum Ziel haben, die biologische Alterung der Menschen hinauszuzögern, die Lebensqualität im Alter möglichst lange auf hohem Niveau zu erhalten und auch das Leben insgesamt zu verlängern. Die typischen Methoden, die dabei eingesetzt werden, sind neben der plastischen Chirurgie medizinische Methoden wie die Nahrungsmittelergänzung, die Frischzellentherapie, die Hormonsubstitution, der Einsatz von Statinen, Acetylsalicylsäure und ACE-Hemmern. Andere Methoden sind etwa die Verabreichung von Melatonin, von DHEA (Dehydroepiandrosteron), Behandlung mit Wachstumshormonen, die Thymustherapie sowie Diäten, wie die Okinawadiät oder die Kretadiät. Wunscherfüllende Medizin deckt sich so gesehen mit jener Medizin, die als Lifestyle-Medizin bezeichnet wird, dazu werden Behandlungen bei Potenzstörungen, Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung, zur Raucherentwöhnung und – früher – auch Maßnahmen der Refertilisierung gezählt, wie der Ausdruck »Wunschkind« indiziert, der in
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der einschlägigen literarischen Diskussion in den neunziger Jahren auch sozialrechtliche Relevanz gefunden hat. Dies zeigt, dass dem Begriff der wunscherfüllenden Medizin im Grunde genommen Behandlungen subsumiert werden, bei denen eine breite medizinische Akzeptanz nicht besteht, von denen sich jedoch der Einzelne einen positiven Effekt für seine Gesundheit erwartet. Insofern möchte der Begriff wunscherfüllende Medizin zum Ausdruck bringen, dass für die Behandlung nicht primär das Wissen und die Entscheidung des Arztes, sondern der Wunsch des Patienten ausschlaggebend ist, Behandlungsmethoden, über die der Arzt verfügt, die dieser jedoch nicht aufgrund anerkannter medizinischer Indikation setzen möchte, nach seinen Vorstellungen anzuwenden. Hier besteht also eine Diskrepanz zwischen dem, was allgemein akzeptiert und was subjektiv gewünscht ist.
1.3. Sozialrechtliche Grundlagen Es ist klar, dass sich die Frage nach der sozialrechtlichen Leistungspflicht in diesen Fällen in besonderer Schärfe stellt, weil es hier letztlich um die Frage geht, in welchem Maß die Solidargemeinschaft Kosten übernehmen soll, deren Verursachung überwiegend in subjektiven Vorstellungen und Wünschen des Einzelnen liegt. Hier ist ein besonderes Spannungsfeld von Individualität und Solidarität angesprochen, dessen Auflösung auf Basis eines sozialen Leistungssystems sowie von Normen zu geschehen hat, die zu Zeiten ihrer Entstehung nicht mit vergleichbaren Diskrepanzen konfrontiert wurden und rechnen mussten. Damit könnte überhaupt fraglich sein, ob die bestehenden Normen und das Sozialsystem strukturell geeignet sind, diese Fragen zu lösen, oder ob das System und die Normen nicht grundsätzlich überfordert sind, als Entscheidungsgrundlage für die Kostentragungspflicht zu dienen, weil die wunscherfüllende Medizin gewissermaßen systemfremd ist. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass der sozialen Krankenversicherung von Anbeginn eine exakte Leistungsabgrenzung fremd war, weil der Medizin immer ein Spielraum der Abwägung zwischen ärztlichem Urteil über die Notwendigkeit einer Behandlung und Autonomie des Patienten immanent ist. So gesehen ist die Frage nach der sozialrechtlichen Relevanz der wunscherfüllenden Medizin wohl eher als eine der aktuellen Ausprägungen eines grundsätzlichen Problems 162 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Sozialrechtliche Entscheidungspraxis bei wunscherfüllender Medizin
der sozialen Krankenversicherung zu sehen und zu lösen: im Grunde genommen geht es eben »nur« um die Frage, in welchem Maß die Krankenversicherung für nicht allgemein anerkannte Leistungen zuständig ist. In sozialrechtlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass für Deutschland Versicherte gem. § 27 SGB V Anspruch auf Krankenbehandlung haben, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Gem. § 2 Abs. 1 und 12 SGB V haben die Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen. Die für Österreich einschlägigen Rechtsgrundlagen sind § 117 ASVG, nach dem Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung haben, wenn der Versicherungsfall der Krankheit vorliegt, der gem. § 120 ASVG als regelwidriger Körper- oder Geisteszustand definiert ist, der die Maßnahmen der Krankenbehandlung notwendig macht. Der Anspruch auf Krankenbehandlung umfasst in seinem Kern gem. §§ 131 ff. ASVG ärztliche bzw. der ärztlichen Hilfe gleichgestellten Hilfe, Heilmittel und Heilbehelfe. Gem. § 133 ASVG muss die Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein, sie darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Durch die Krankenbehandlung sollen die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden. Ausdrücklich ist normiert, dass kosmetische Behandlungen dann als Krankenbehandlung gelten, wenn sie zur Beseitigung anatomischer oder funktioneller Krankheitszustände dienen. Andere kosmetische Behandlungen können als freiwillige Leistungen gewährt werden, wenn sie der vollen Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit förderlich oder aus Berufsgründen notwendig sind.
2.
Zu den Grenzen des Behandlungsanspruchs
2.1. Allgemeines Sozialrechtliche Judikatur und die sich damit auseinandersetzende Literatur sind in Österreich und Deutschland durch enorme Kasuistik 163 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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und Differenzierung gekennzeichnet, die umfassende Analysen nicht nur unter arbeitstechnischen Gesichtspunkten problematisch macht, sondern auch zur Gefahr führt, sich in Details der einzelnen Entscheidungen zu verlieren, aus Randaspekten, die in Halbsätzen der Begründung angerissen sind, tief schürfende Ableitungen anzustellen und auf diese Weise den Blick für die Grundlinien zu verlieren. Dies ist vor allem dort problematisch, wo es darum geht, die Judikatur für die Beantwortung von Fragen nutzbar zu machen, zu denen noch kein fein ausdifferenziertes Geflecht an Entscheidungen vorliegt, sondern erst wenige Pflöcke in einen noch weitgehend unbeackerten Bauplatz gesetzt sind. Was die wunscherfüllende Medizin betrifft, kommt erschwerend dazu, dass es keine Entscheidung gibt, die sich mit diesem Begriff explizit auseinandergesetzt hat, sodass die Nagelprobe, wie weit wunscherfüllende Medizin in die Leistungspflicht einer Krankenversicherung fällt, formal aussteht: es gibt keine Entscheidung, die eine Aussage darüber trifft, ob und wie weit wunscherfüllende Medizin in den Leistungsanspruch des Versicherten fällt.
2.2. Überlegungen zum Beurteilungsvorgang Dennoch ist es möglich, Aussagen zur Leistungspflicht der Krankenversicherung in diesem Bereich zu machen, wenn man die Nähe der wunscherfüllenden Medizin zu alternativen und unkonventionellen Behandlungsmethoden erkennt und einschlägige Analysen von Fällen heranzieht, die sich mit diesen Fragen befassen. Dabei zeigt sich, dass es sinnvoll ist, die Beurteilung unter Heranziehung verschiedener Topoi vorzunehmen, die im Gesetzestext angesprochen sind und die bei Zusammenschau sowohl in Österreich als auch in Deutschland eine geschlossene Systematik der relevanten Beurteilungsfelder hergeben, weil auf diese Weise die Vielfalt der beurteilungsrelevanten Kriterien in eine überschaubare Systematik gegossen und damit überschaubare Beurteilungslinien erkennbar werden. An anderer Stelle habe ich dargelegt, dass dem historischen Gesetzgebungsakt zur Beurteilung der Leistungspflicht der sozialen Krankenversicherung sowohl in Deutschland wie in Österreich offenbar ein systematisch klares Konzept der Umgrenzung der Leistungs164 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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pflicht zugrunde lag, das auch eine sichere Grundlage zum systematischen Verständnis des heutigen Normenmaterials bilden kann. Geht man davon aus, dass es im Krankheitsbegriff letztlich um die Frage geht, in welchen Situationen das Individuum Anspruch auf die Hilfe der Gemeinschaft in Form von Krankenversicherungsleistungen hat, und erkennt man, dass zur Beurteilung dieser Frage durch Judikatur und Gesetzgebung eine Vielzahl anderer Argumentationsfelder implementiert wurden, ist es naheliegend, diese Argumentationsfelder zum Verständnis des Krankheitsbegriffs zu nutzen und die Frage der Leistungspflicht über die gesetzlichen Grenzen der Maßnahmen der Krankenbehandlung zu beurteilen. Diese Beurteilung deckt sich mit der in historischer Analyse gewonnenen Erkenntnis, dass die Leistungspflicht der Krankenversicherung nicht in Folge einer Krankheit normiert wurde, sondern als Krankheit jener Zustand gesehen wurde, in dem die Maßnahmen der Krankenbehandlung »greifen können«. Logisch führt dies zu einer Umkehrung des Voraussetzung/Folge-Modells: Nicht der Krankheitsbegriff wird damit zum entscheidenden Faktor der Abgrenzung der Leistungspflicht der Krankenversicherung, sondern die Maßnahmen werden zum Indikator eines Zustandes, der – normativ unbedeutend – als Krankheit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn gesehen wird. Im Endeffekt kann Krankheit als jener Zustand angesehen werden, der durch Maßnahmen der Krankenbehandlung im Rahmen des Gesetzes behandelt werden kann und soll. Die entscheidenden Auslegungs- und damit Wertungsfragen werden jedoch anhand der Auslegung der verschiedenen Facetten des Behandlungsanspruchs abgehandelt; diese besitzen den Vorteil, in ihren Grundlagen nicht so schillernd zu sein wie der Krankheitsbegriff und ermöglichen daher eine wertungshomogenere Auslegung und Rechtsanwendung. Vertiefende Normenanalyse hat dabei gezeigt, dass der Leistungsanspruch vom Gesetz durch drei Aspekte beschrieben ist, nämlich durch spezifisch aus dem Leistungstypus selbst fließende Grenzen, durch Ziele der Krankenbehandlung und durch ökonomische Determinanten. Ich habe diese Dimensionen als objektive, finale und ökonomische Dimensionen bezeichnet und gezeigt, dass die materiellen Grenzen des Krankenbehandlungsanspruchs durch eine Analyse dieser drei Dimensionen beschrieben werden können. Nach diesem Modell ist bei der Beurteilung der Frage, ob die Träger der Krankenversicherung für eine Behandlungsmaßnahme leistungspflichtig sind, an der Maßnahme anzusetzen und im Wege einer 165 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Prüfung der objektiven, finalen und ökonomischen Aspekte zu prüfen, ob sie in die Leistungspflicht der Krankenkassen fällt. Dabei sind zunächst im Rahmen der objektiven Dimension die sachlichen Grenzen des jeweiligen Leistungstypus für die Beurteilung der Frage maßgeblich, ob die in Rede stehende Maßnahme überhaupt einem bzw. welchem Leistungstypus zugeordnet werden kann. In weiterer Folge ist im Rahmen der finalen Dimension des Behandlungsanspruchs anhand ihrer tatsächlichen oder voraussichtlichen Effekte zu prüfen, welche Ziele der Krankenbehandlung durch die Maßnahme erfüllt werden können. Im Rahmen der Beurteilung der ökonomischen Dimension der Krankenbehandlung sind schließlich jene Wertungen durchzuführen, in der die Ziele bzw. Effekte der Behandlungsmaßnahme mit den Kosten der Behandlung sowie allfälliger Alternativen gegenübergestellt werden. Als Bewertungsmaßstab hat dabei nicht ein »feines« Maß zu dienen, sondern ein grobes Maß, das ich als Missbrauchskontrolle bezeichnet habe: Ist eine Maßnahme in ihren kausalen und finalen Aspekten der Krankenbehandlung zuzuordnen, kann sie aus der Leistungspflicht der Krankenversicherung nur ausgeschieden werden, wenn bei Abwägung der Interessen der Solidargemeinschaft einerseits bzw. des Individuums andererseits die Inanspruchnahme der Mittel der Krankenversicherung extrem zweckwidrig wäre. Für dieses grobe Maß spricht nicht nur eine historische Analyse der einschlägigen Gesetzesbestimmungen, sondern auch eine Vielzahl teleologischer Argumente: Letztlich wäre – wollte man eine Beurteilung nach einem feineren Maß vornehmen – die Therapiefreiheit von Arzt und Patient sowie die darin zum Ausdruck kommende Humanität gefährdet, die gerade im Zusammenhang mit der Erbringung medizinischer Leistungen unverzichtbar ist. Dass das Krankenversicherungsrecht diese Grundsätze zugunsten einer einseitigen ökonomischen Beurteilung außer Acht lassen wollte, lässt sich nicht überzeugend begründen: Auch die Judikatur hat deshalb ausgesprochen, dass eine solche ausschließlich auf die ökonomischen Aspekte ausgerichtete Beurteilung dem österreichischen Krankenversicherungsrecht fremd ist. Das Maß für die Zulässigkeit des Kostenarguments ist vielmehr die Betroffenheitsintensität des Patienten von einer Maßnahme bzw. den Effekten der gewählten und einer alternativen Maßnahme: Je höherwertig die Güter sind, die auf der Seite des Patienten betroffen sind, je größer die Risiken sind, die durch eine
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Maßnahme vermieden werden können, desto geringeren Stellenwert hat das Kostenargument in der Therapie-Entscheidung.
3.
Auswertung
3.1. Allgemeines Wertet man diese Überlegungen für die hier interessierenden Fragen der wunscherfüllenden Medizin aus, zeigt sich, dass die sozialrechtliche Leistungspflicht nur dort bestehen kann, wo der medizinische Konsens über Indikation hoch ist, und dass bei einem Abweichen von diesem Konsens eine Einbeziehung in die Leistungspflicht der Solidargemeinschaft nur dann in Frage kommt, wenn die Kosten der Behandlung gering sind. Die sozialrechtlichen Grundlagen bieten keinen Anhaltspunkt dafür, dass alleine der subjektive Wunsch nach Einsatz medizinisch möglicher Behandlungen das Maß dafür ist, die damit verbundenen Kosten im Wege der Leistungspflicht der Krankenversicherung der Solidargemeinschaft zu übertragen. Dem Sozialversicherungsrecht ist insofern ein typisiertes Menschenbild immanent, das durch eine Art Mainstream-Vorstellung über die Beeinflussung des menschlichen Körpers und Geistes geprägt ist, wie es der in der Judikatur des BSG geprägte Begriff vom »Leitbild des gesunden Menschen« zum Ausdruck bringt. Subjektive Vorstellungen haben dabei nur einen Platz, als sie sich mit diesen allgemeinen Vorstellungen decken.
3.2. Wertungsabhängigkeit der Beurteilung Evident ist freilich auch, dass sich diese letztlich gesellschaftlichen Wertungen verändern können: es ist möglich, dass sich innerhalb der Medizin Auffassungen über die Indikation und innerhalb der Gesamtgesellschaft Auffassungen über die ökonomische Risikozuordnung in wenigen Jahren anders darstellen als heute. Der Gesetzestext, so wie er heute vorliegt, bietet der Judikatur breite Ansätze, gesellschaftliche Wertungen aufzugreifen und ist daher auch offen für gesellschaftliche Veränderungen. So gesehen wird es für die sozialrechtliche Beurteilung letztlich darauf ankommen, wie weit die Gesellschaft bereit ist, 167 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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der Subjektivität in der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen Raum zu geben. Damit ist ein juristisches Problem großer Tragweite angesprochen, nämlich die Frage, ob die Auslegung unbestimmter Gesetzesbegriffe die Dynamik gesellschaftlicher Vorstellungen aufgreifen darf oder nicht. Man könnte beispielsweise die Auffassung vertreten, dass die Auslegung unbestimmter Gesetzesbegriffe nur jene Situationen erfassen darf, die im Zeitpunkt der Gesetzgebung von ihnen erfasst waren. Im vorliegenden Zusammenhang würde dies zu einem statischen Normverständnis führen und Veränderungen der gesellschaftlichen Bewertung von Situationen würden nur dann zu Veränderungen der Leistungsansprüche führen, wenn der Gesetzgeber eingreift. Damit ist auch eine Frage der Gewaltenteilung im Rechtsstaat angesprochen: steht es der Judikatur zu, dem Gesetz Sachverhalte zu subsumieren, die im Zeitpunkt seiner Entstehung unbekannt und möglicherweise auch anders bewertet wurden, als das Gerichte zu einem späteren Zeitpunkt sehen. Diese Frage ist gerade in kostenintensiven Bereichen wie der Bewältigung medizinischer Entwicklungen von enormer Bedeutung, weil Veränderungen der Judikatur das Systemgefüge stark belasten können. Die Tradition der Auslegung unbestimmter Gesetzesbegriffe sowohl in Deutschland als auch in Österreich zeigt freilich, dass einem dynamischen Normverständnis der Vorzug zu geben ist. In der Verwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass er Grundlinien der Wertung, wie sie durch die verwendeten Begriffe angesprochen werden, für die Auslegung auch dann relevant sein sollen, wenn sich das Begriffsverständnis – oft schleichend und über Jahrzehnte unbemerkt – verändert. Damit ist gewährleistet, dass die Norm zwar entscheidender Bezugspunkt für die Entscheidung über gesellschaftliches Konfliktpotenzial bleibt, dass gleichzeitig jedoch Verschiebungen in den Wertungsgrundlagen aufgegriffen werden können, um die Relevanz und Akzeptanz der Norm auch über die Zeit hinweg zu sichern. Hierin liegt auch eine entscheidende Funktion des sozialen Friedens: man müsste bei Veränderungen der gesellschaftlichen Wertung, obwohl sie vom Normtext noch getragen werden können, den Gesetzgeber zur immer neuen Entscheidung gesellschaftlicher Konflikte aufrufen. Durch die Verwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe bringt der Gesetzgeber jedoch zum Ausdruck, dass er bestimmte Argumentationsfelder entscheidungsrelevant erklärt und 168 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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offeriert der Rechtsanwendung Beurteilungsgesichtspunkte, in denen sie diese jeweils solange konkretisieren kann, bis die gesellschaftliche Entwicklung sich im Normtext nicht mehr widerspiegelt. Gerade für Regelungsbereiche wie die Medizin, die von einer enormen Dynamik geprägt sind, würde ein statisches Normverständnis inadäquat sein: Vielmehr wird durch eine dynamische Auslegung der unbestimmten Gesetzesbegriffe dem Willen des Gesetzgebers Rechnung getragen, der ja mit der Dynamik der von seinen Regelungen erfassten Lebenssachverhalte gerechnet hat oder jedenfalls rechnen musste. Wenn Politik nicht kasuistische, sondern offene Regelungen trifft, ist es geradezu Aufgabe der Judikatur, die damit angesprochenen gesellschaftlichen Wertungen in jedem Wandel aufzunehmen und dabei immer neue Beurteilungen der Lebenssachverhalte einfließen zu lassen. Gerade die Auslegung des Krankheitsbegriffs und der Behandlungsansprüche im Laufe der Geschichte hat gezeigt, dass ein und derselbe Sachverhalt im Laufe der Zeit unterschiedlich beurteilt wird: gibt es in den 1920er Jahren letztinstanzliche Entscheidungen, nach denen Milch als Kassenleistung zu gewähren war, wurde Ende der 1960er Jahre die Gewährung von Milch als Kassenleistung abgelehnt. Es ist klar, dass für diese Judikate bei gleich bleibendem Normtext die Neubewertung der gesellschaftlichen Situation maßgeblich war, und dass diese Souveränität der Judikatur nicht nur legitim ist, sondern ein anderes Verständnis der Sache inadäquat wäre: sollte die Judikatur auf die massiven Veränderungen der Gesundheitsversorgung und der Bedürfnisse der Bevölkerung vom Arbeiterhaushalt der 1920er Jahre zur Wohlstandssituation in den 1960er Jahren nicht eingehen dürfen?
3.3. Bedeutung der Bewusstseinsbildung Angesichts solcher Entwicklung sei allerdings abschließend noch darauf hingewiesen, dass diese Überlegungen den Stellenwert der Bewusstseinsbildung aufzeigen: Nicht nur von der Judikatur und der sozialrechtlichen Literatur ist ein hohes Maß an Reflexion darüber zu fordern, welche gesellschaftlichen Wertungen in die Abgrenzung der Leistungspflicht der Solidargemeinschaft einfließen sollen und welche außen vor bleiben müssen; letztlich geht es auch darum, in welchem Maß die Gesellschaft der Subjektivität in der Erfüllung von Wunschvorstellungen durch medizinische Methoden Vorschub leistet. Aus 169 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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meiner Sicht wäre dabei vor allem wichtig, die Menschen anzuregen, nicht erst dann an medizinische Methoden zu denken, wenn sie gleichsam Reparaturbedarf fühlen und daraus Wünsche ableiten, die die Medizin zwar erfüllen kann, deren Kosten die Menschen aber selbst nicht tragen wollen, sondern Fragen der Prävention mehr Raum zu geben. Nicht der Wunsch, fit und gesund zu werden, sondern eine gesund erhaltende Lebensweise sollte das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein in Zukunft stärker prägen. Dies ist nicht nur zur Vermeidung enormer Kosten, die aus der wunscherfüllenden Medizin und der Lifestyle-Medizin auf die Solidarsysteme andernfalls zukommen, sondern auch zur Vermeidung jener Beurteilungs- und Wertungskonflikte notwendig, die sich bei einem immer stärker werdenden Auseinanderklaffen zwischen einer »Mainstream-Medizin« und einer Medizin ergeben würden, die den rein subjektiven Wünschen nach Konsum medizinischer Leistungen untergeordnet ist, und zudem vom Wunsch nach Kostentragung durch die Solidargemeinschaft bestimmt ist.
Literatur Binder, M. (1997): Zur Kostendeckung alternativmedizinischer Behandlungsmethoden durch die Krankenversicherung. RdM, S. 39 Ettmayer, W./Posch, K. (2006): Gedanken zum Krankheitsbegriff – Erkenntnisse zur Potenz. In: öRdA, S. 199 ff. Kietaibl, C. (2008): Leistungspflicht der Krankenversicherung bei bestrahlungsbedingtem Haarausfall. In: ZAS, S. 5 Kletter, M. (1996): Wunschkind auf Krankenschein. An den Grenzen des sozialrechtlichen Krankheitsbegriffs. In: Soziale Sicherheit (Österreich), S. 325 Mazal, W. (1992): Krankheitsbegriff und Risikobegrenzung. Wien – (2004): Krankheit als Rechtsbegriff. In: Mazouz, N. et al. (Hg.): Krankheitsbegriff und Mittelverteilung. Beiträge zum Krankheitsmanagement. Baden-Baden, S. 127–138 Mazouz, N. et al. (Hg.) (2004): Krankheitsbegriff und Mittelverteilung. BadenBaden Pfeil, W. (2007): Lifestyle-Medizin. In: Jabornegg, P. et al. (Hg.): Grenzen der Leistungspflicht in der Krankenbehandlung. Wien, S. 96 ff. – (2006): Erektile Dysfunktion keine Krankheit iSd KV. In: ZAS, S. 88–94 Radics, J. (2007): Die Grenzen der Krankenbehandlung – Der Versicherungsfall der Krankheit. In: Soziale Sicherheit (Österreich), S. 100 Radlingmayer, C. (2009): Die Grenzen des Krankenbehandlungsanspruchs am Beispiel der erektilen Dysfunktion. In: Soziale Sicherheit (Österreich), S. 446 Risak, M. (2007): Der Krankheitsbegriff und der Anspruch auf Krankenbehand-
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Sozialrechtliche Entscheidungspraxis bei wunscherfüllender Medizin lung nach österreichischem Recht. In: Jabornegg, P. et al. (Hg.): Grenzen der Leistungspflicht in der Krankenbehandlung. Wien, S. 33 f. Schmidt-Rögnitz, A. (1996): Die Gewährung von alternativen sowie neuen Behandlungs- und Heilmethoden durch die gesetzliche Krankenversicherung. Berlin Schrammel, W. (1986): Veränderungen des Krankenbehandlungsanspruchs durch Vertragspartnerrecht. In: ZAS, S. 147 Schulin, B. (1984): Die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung bei Außenseitermethoden. In: SGb, S. 45 Vogel, G. (1994): Medikation mit Außenseitermethoden – eine Kostenfrage? In: RdM, S. 108
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Anti-Aging-Medizin in der Gesetzlichen Krankenversicherung? Sozialrechtliche Entscheidungspraxis und gerechtigkeitsethische Reflexion Mark Schweda, Beate Herrmann, Georg Marckmann
1.
Einleitung
In ihrer Arznei- und Verbandmittelvereinbarung für das Jahr 2004 einigten sich die KV Nordrhein und die AOK Rheinland auf »die strikte Anwendung der Empfehlungen und Richtlinien zur Hormonersatztherapie bei Frauen«. Damit sollte »der Umsatzanteil der Hormonpräparate um mindestens 40 % im Vergleich zum Vorjahr zurückgehen«. 1 Hintergrund war die Debatte um die so genannte postmenopausale Hormontherapie, die noch vor knapp 10 Jahren als die »erste wahre Anti-Aging-Therapie« 2 gehandelt wurde. Schon seit Anfang der 90er Jahre waren Östrogen- bzw. Gestagen-Präparate zunehmend nicht nur zur Behandlung von akuten Wechseljahrsbeschwerden wie Hitzewallungen oder Schweißausbrüchen eingesetzt worden, sondern auch zur Prävention bestimmter Erscheinungen des höheren Alters, z. B. Harninkontinenz, koronarer Herzerkrankungen und Hirnleistungsstörungen. Im Laufe der 90er Jahre avancierte dieses Vorgehen regelrecht zur Standardbehandlung – allein in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hat sich die Zahl der behandelten Frauen zwischen 1991 und 1999 beinahe verdoppelt. 3 Seit 1999 jedoch begann sich unter dem Eindruck der Ergebnisse einiger groß angelegter Studien weithin Ernüchterung breitzumachen: 4 Nicht nur konnte die unterstellte Wirksamkeit nicht nachgewiesen werden; es fanden sich auch alarmierende Hinweise auf erhöhte Risiken, z. B. für Thrombose, Schlaganfall und Brustkrebs. 5 Allerdings wurde von Gynäkologen der Verdacht ge1 2 3 4 5
Amtliche Mitteilung (2004). Butler et al. (2002), S. B334. Vgl. Günther/Zawinell (2005). Vgl. Gothe et al. (2007). Vgl. Günther/Zawinell (2005), S. 5 f.
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Anti-Aging-Medizin in der Gesetzlichen Krankenversicherung?
äußert, die Studienergebnisse würden von den Kassen »für Kostensenkungszwecke missbraucht.«6 Was auf der einen Seite unter dem Aspekt von Sicherheit, Nutzen und Risiken erörtert wurde, erhielt so andererseits einen Bezug zu der unvermindert brisanten Frage der Leistungsbegrenzung im Gesundheitswesen. 7 In der Tat ist – sieht man einmal vom Problem der technischen Machbarkeit, der Wirksamkeit und der oft noch kaum abschätzbaren Risiken und Nebenwirkungen ab 8 – die Bestimmung des Umfangs und der Grenzen der gemeinschaftlich zu finanzierenden medizinischen Versorgung eine der entscheidenden Herausforderungen, vor die neue alternsbezogene Verfahren wie die postmenopausale Hormontherapie das Gesundheitswesen stellen: Welche medizinischen Leistungen sollten im Rahmen eines öffentlichen Gesundheitssystems solidarisch getragen werden? Welche Maßnahmen sollte der Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung umfassen und welche nicht? Welche Ansprüche auf medizinische Versorgung können – um den Blickwinkel des Versicherten einzunehmen – gegenüber der Krankenkasse geltend gemacht werden? Sollten insbesondere solche Leistungen übernommen werden, für die keinerlei klare medizinische Indikation besteht, die vielmehr lediglich der Prävention oder Behandlung ganz »normaler« Alterserscheinungen oder – wie einige der ambitionierteren Vertreter der Anti-Aging-Bewegung bereits in Aussicht stellen 9 – der Verlangsamung, Verzögerung oder womöglich gar der vollständigen Unterbindung des Alterungsprozesses selbst dienen? In der öffentlichen Debatte wie auch im medizinethischen Fachdiskurs werden Fragen, die sich auf Leistungsansprüche und -pflichten im Rahmen des öffentlichen Gesundheitssystems beziehen, nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit betrachtet und diskutiert. Dabei zeichnet sich die gerechtigkeitsethische Fragestellung zunächst generell dadurch aus, dass ihr eine intersubjektiv gefasste Perspektive zu Grunde liegt. Sie zielt mithin weder auf die teleologische Überlegung ab, was für den Einzelnen im Horizont der Frage nach dem guten, gelingenden Leben erstrebenswert ist, noch auf die konsequentialistische Erwägung, was der Gesellschaft als ganzer am meisten 6 7 8 9
Wenderlein (2005). Vgl. Abrecht (2009). Vgl. Stuckelberger (2008). Vgl. etwa De Grey/Rae (2007).
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nützt. 10 Stattdessen erfordert sie eine deontologisch ausgerichtete Auseinandersetzung darüber, was wir einander in einem strikten Sinne schuldig sind, welche Rechte und Pflichten wir also im Verhältnis zu einander und im Umgang mit einander haben. 11 Im Hinblick auf die Umfangsbestimmung der öffentlichen Gesundheitsversorgung steht dabei vor allem der Aspekt der distributiven Gerechtigkeit im Mittelpunkt, also der gerechten Verteilung von Gütern und Lasten. 12 Allerdings berührt das Problem des gerechten Umgangs mit der Anti-Aging-Medizin zugleich auch einige unserer grundlegendsten Ansichten, Überzeugungen und Wertvorstellungen bezüglich des menschlichen Lebens als solchen, seiner Dauer, seines Verlaufes und seiner Grenzen. So wirft es beispielsweise die Frage auf, was überhaupt als ein »normaler« Alterungsprozess gelten darf und wo dagegen von krankhaften Entwicklungen gesprochen werden muss, die der medizinischen Behandlung bedürfen. Ist das Altern nicht insgesamt ein ganz natürlicher, womöglich sogar wesentlicher Zug des menschlichen Daseins selbst, den es hinzunehmen und sinnvoll zu gestalten gilt? Oder hat es sich im Zuge des medizinischen Fortschritts als ein vermeidbares Übel erwiesen, ein Syndrom pathologischer Vorgänge, die mit den Mitteln der modernen Medizin bekämpft und besiegt werden können? Freilich zeichnet sich weder im akademischen Fachdiskurs noch in der breiteren Öffentlichkeit eine eindeutige Antwort auf derartige Fragen ab. Gerade moderne, pluralistische Gesellschaften sehen sich vielmehr mit einer großen Vielzahl unterschiedlicher, z. B. religiös oder weltanschaulich geprägter Auffassungen über das menschliche Leben als solches und damit auch das Altern, seine Bedeutung und seine Rolle im Lebensverlauf konfrontiert. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass die Frage nach dem Umgang mit der Anti-Aging-Medizin im Rahmen eines solidarisch getragenen Gesundheitswesens prinzipielle und diffizile Probleme aufwirft: Einerseits handelt es sich um eine Frage der Gerechtigkeit, die nach intersubjektiv anerkennungsfähigen und damit allgemein gültigen Antworten verlangt. Die gesetzlich Versicherten haben einen berechtigten Anspruch darauf, dass ihre zwangsweise entrichteten Beiträge Vgl. zu den normativen Dimensionen der Anti-Aging-Medizin: Ehni/Marckmann (2008). 11 Vgl. Höffe (2007), S. 118. 12 Vgl. Ehni/Marckmann (2009a). 10
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auf eine Art und Weise verteilt werden, die sie in ihren Grundzügen nachvollziehen und dabei nicht nur als wirtschaftlich sinnvoll, sondern auch als tatsächlich gerecht akzeptieren können. 13 Andererseits jedoch berührt die Einschätzung und Bewertung der betreffenden Maßnahmen zugleich grundlegende Überzeugungen und Wertvorstellungen bezüglich des menschlichen Lebens als solchen. Gerade die teils heftig geführte akademische und öffentliche Auseinandersetzung um die Anti-Aging-Medizin macht deutlich, dass auf dieser Ebene nicht einmal annäherungsweise Einigkeit besteht. 14 Wie unter diesen Bedingungen eine allgemein anerkannte und verbindliche Bestimmung des Leistungsumfangs solidarischer Gesundheitsversorgung erzielt werden soll, ist auf Anhieb nicht zu erkennen. 15 Im Folgenden soll die Entscheidungspraxis der deutschen GKV im Hinblick auf den Umgang mit der Anti-Aging-Medizin betrachtet und unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit ethisch reflektiert werden. Zu diesem Zweck sind zunächst (2.) kurz die Prinzipien der faktischen Ressourcenallokation der GKV darzustellen und ihre Implikationen für die betreffenden alternsbezogenen Maßnahmen zu erläutern. Im Anschluss daran wird (3.) einer der in der aktuellen Fachdebatte prominentesten Ansätze zur gerechtigkeitsethischen Begründung öffentlicher Gesundheitsversorgung skizziert, um daraus Schlussfolgerungen für einen gerechten Umgang mit der Anti-Aging-Medizin und damit auch für die Bewertung der faktischen Allokationspraxis ziehen zu können. Dabei wird sich allerdings zeigen, dass sich aus der allgemeinen gerechtigkeitsethischen Argumentation ganz unterschiedliche Versorgungsszenarien ableiten lassen, was letztlich darauf hindeutet, dass (4.) der Umfang und die Grenzen gerechter medizinischer Versorgung nur im Horizont einer bestimmten substantiellen Vorstellungen des guten Lebens bzw. guten Alterns konkret zu bestimmen sind. Da in modernen Gesellschaften eine Vielzahl solcher Vorstellungen existiert, sind faire deliberative Verfahren erforderlich, in deren Rahmen sich die Beteiligten selbst auf gemeinsame gesundheitsbezogene Vorstellungen guten Alterns verständigen können, die sie der Bestimmung öffentlicher Gesundheitsversorgung zu Grunde legen. Ein zentrales Ergebnis der Darstellung wird somit sein, dass (5.) die Konfrontation mit der 13 14 15
Vgl. Kliemt (2003). Vgl. Vincent (2006), (2003). Vgl. zur Problemstellung allgemein Werner (2002).
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Anti-Aging-Medizin uns auch aus gerechtigkeitsethischer Perspektive zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung darüber zwingt, wie wir in Zukunft überhaupt alt werden wollen und welche Rolle die Medizin dabei spielen soll.
2.
Anti-Aging-Medizin und Gesetzliche Krankenversicherung
Die faktische Allokationspraxis der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland stützt sich im Wesentlichen auf den Begriff der Krankheit. Die erklärte Aufgabe der GKV ist es, »die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern.« 16 Dementsprechend besteht genau dann ein Anspruch auf medizinische Versorgung, »wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern«. 17 Allerdings ist der Krankheitsbegriff als solcher im deutschen Sozialrecht nicht eindeutig definiert. Es handelt sich um einen so genannten unbestimmten Rechtsbegriff, dessen inhaltliche Füllung und Konkretisierung im Verlauf der Rechtssprechung selbst erfolgt. 18 Einschlägig ist in diesem Zusammenhang die vom Bundessozialgericht geprägte Auslegungsformel geworden, durch die Krankheit als ein »regelwidriger […] Körper- und Geisteszustand« bestimmt wird, »der ärztlicher Behandlung bedarf oder – zugleich oder ausschließlich – Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.« 19 Dabei wurde das Teilkriterium der Regelwidrigkeit durch die Vorstellung einer »Abweichung vom Leitbild des gesunden Menschen« spezifiziert und das der Behandlungsbedürftigkeit durch die Erforderlichkeit ärztlicher Hilfe bei der Behebung, Besserung bzw. Linderung des betreffenden regelwidrigen Zustandes konkretisiert. 20 Unter der Prämisse, dass die öffentliche Gesundheitsversorgung vorrangig dazu dient, Krankheiten zu erkennen, zu behandeln oder einhergehende Beschwerden zu lindern, lassen sich freilich im Hinblick auf die allermeisten medizinischen Maßnahmen, die derzeit unter dem
16 17 18 19 20
§ 1,1 SGB V. § 27 SGB V. Vgl. De Haan (1989). Vgl. BSGE 26, 240, 242. Vgl. ebd.
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Anti-Aging-Medizin in der Gesetzlichen Krankenversicherung?
Label »Anti-Aging« angeboten werden, keinerlei Leistungsansprüche begründen. Schließlich scheinen sie in erster Linie nicht kurative Zwecke zu verfolgen, sondern versprechen z. B. Befindlichkeits- oder Leistungssteigerung oder Lebensverlängerung. Entsprechend fällt die Anti-Aging-Medizin de facto aus dem Katalog der vom Gesetzgeber als ausreichend und notwendig definierten Leistungen der GKV heraus. 21 Die betreffenden medizinischen Maßnahmen werden beispielsweise unter dem Begriff der »Lifestyle- oder Wellness-Medizin« 22 rubriziert und müssen – wie Angebote aus den Bereichen der Reise-, Sport oder Komplementärmedizin – als so genannte individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) 23 privat bezahlt werden. Dass die Darstellung und Bewertung des sich in diesem Zuge entwickelnden »Zweiten Gesundheitsmarktes« je nach Standpunkt durchaus unterschiedlich ausfällt, kann kaum verwundern. So betonen Verlautbarungen ärztlicher Standesvertretungen, dass die hier angebotenen Leistungen »medizinisch erforderlich oder empfehlenswert, zumindest aber vertretbar sind« 24 und mitunter lediglich auf Defizite in der öffentlichen Gesundheitsversorgung verweisen. Dagegen unterstreicht die GKV, dass es sich oft um Leistungen handelt, »über deren diagnostischen und therapeutischen Nutzen Zweifel bestehen oder die risikoreich sind«. 25 Nun würde es gerechtigkeitsethisch zu kurz greifen, die Erörterung des Umgangs mit der Anti-Aging-Medizin auf die Frage nach dem Für und Wider von IGeL-Leistungen zu beschränken. Stattdessen ist das Abgrenzungskriterium selbst in den Blick zu nehmen, das dem Ausschluss der betreffenden Maßnahmen aus dem Katalog der GKV zu Grunde liegt. Schließlich wurde inzwischen verschiedentlich überzeugend dargelegt, dass der sozialrechtliche Begriff der Krankheit und entsprechend auch die sich auf ihn berufende Allokationspraxis alles andere als unproblematisch sind. 26 So steht der Krankheitsbegriff nicht nur im Verdacht, mit erheblichen logischen Schwierigkeiten behaftet, in einzelnen seiner Elemente etwa schlichtweg tautologisch oder zirku-
21 Zum Teil übrigens auch aus dem der Privaten Krankenversicherungen; vgl. z. B. Debeka (2009), S. 1. 22 Vgl. Filler et al. (2006), S. 56. 23 Vgl. ebd., S. 11–21. 24 Bundesärztekammer (2008), S. 3. 25 Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (2005), S. 2. 26 Vgl. insbesondere Mazal (1992).
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lär zu sein. 27 Er erscheint auch viel zu diffus und unbestimmt, als dass sich auf seiner Grundlage auch nur die faktische Allokationspraxis wirklich angemessen rekonstruieren ließe. Zudem macht ihn das zentrale Merkmal der Regelwidrigkeit angesichts der Pluralität und des Wandels gesellschaftlicher Normvorstellungen und unter dem Druck des medizinischen Fortschritts und der entsprechend wachsenden Erwartungen gegenüber Medizin und Gesundheitsversorgung schlicht untauglich zur effektiven Begrenzung von Leistungsansprüchen. 28 Aber selbst wenn an Stelle des sozialrechtlichen Krankheitsbegriffs ein vollkommen eindeutiges Konzept von Krankheit zur Verfügung stünde, erwiese sich die Hoffnung als illusorisch, mit seiner Hilfe zu einer objektiven, gleichsam naturwissenschaftlichen und insofern allgemeingültigen Lösung des Allokationsproblems zu gelangen. Aus der bloßen Feststellung einer Tatsache lassen sich nämlich ohne zusätzliche Annahmen keinerlei normative Schlussfolgerungen ziehen. Dass sich eine Person in einem Zustand befindet, den wir »krank« nennen, mag uns aus psychologischer Sicht zwar durchaus motivieren, ihr Hilfe und Unterstützung zu Teil werden zu lassen. Es erlaubt aber logisch betrachtet per se noch nicht die Ableitung irgendwelcher Leistungsansprüche bzw. -pflichten. 29 Zu diesem Zweck müssten vielmehr zusätzlich normative Prinzipien angegeben werden, die begründen, warum das Vorliegen einer Krankheit zu medizinischer Versorgung berechtigt bzw. die Solidargemeinschaft entsprechend verpflichtet: Warum sprechen wir gerade denjenigen Personen, die wir – auf Grund welcher Kriterien auch immer – als krank bezeichnen, ein Recht auf öffentlich finanzierte medizinische Versorgung zu? Welche moralischen Intentionen kommen in dieser Praxis zum Ausdruck?30 Auf diesem Weg scheinen wir freilich von einem geradewegs in das andere Extrem zu fallen. Denn sobald moralische Werte ins Spiel kommen, scheint einem vollkommen beliebigen »Anything Goes« im Bereich der Gesundheitsversorgung Tür und Tor geöffnet. Schließlich variieren Wertvorstellungen bekanntermaßen sowohl individuell als auch historisch und soziokulturell ausgesprochen stark. Wenn beispielsweise alle Zustände, die von den einzelnen Personen negativ be27 28 29 30
Vgl. ebd., S. 60–64. Vgl. ebd. Vgl. dagegen Wiesing (1998), S. 86. Vgl. Werner/Wiesing (2002), S. 404.
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wertet werden – oder doch immerhin solche, die dem Erreichen ihrer »maßgeblichen Ziele« 31 entgegen stehen –, per se bereits einen Anspruch auf medizinische Leistungen rechtfertigen würden, wäre die Möglichkeit einer allgemeingültigen Regelung der öffentlichen Gesundheitsversorgung grundsätzlich in Frage gestellt: Nicht nur ließen sich den verschiedenen individuellen Ansprüchen dann keinerlei legitime Grenzen mehr ziehen, was eine kaum zu bewältigende Kostenexplosion nach sich ziehen könnte (insbesondere wenn man einen maximalistischen Gesundheitsbegriff wie den der WHO im Hinterkopf hat, nach dem »Gesundheit« einen »Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens« 32 beschreibt). Es würde darüber hinaus schlechterdings jegliche gemeinsame Grundlage wegbröckeln, auf der über die Berechtigung solcher Ansprüche überhaupt auch nur einvernehmlich diskutiert und allgemein verbindlich befunden werden könnte. 33 Vor diesem Hintergrund soll im Hinblick auf die Anti-Aging-Medizin im Folgenden eine Art goldener Mittelweg zwischen den beiden hier angesprochenen Extrempositionen, dem krankheitsbasierten und dem rein präferenzorientierten Ansatz, eingeschlagen werden. 34 Denn auch wenn sich die Entscheidung über den Umfang und die Grenzen der solidarisch zu finanzierenden medizinischen Versorgung nicht auf der Grundlage eines naturalistischen Krankheitsbegriffs gleichsam naturwissenschaftlich begründen lässt, sondern stets bestimmten Werturteilen unterliegt, so wird sie damit doch noch keineswegs zwangsläufig in das subjektive Belieben der einzelnen Individuen gestellt. Eine solche Konsequenz erschiene nur unter der Prämisse eines strikten normativen Relativismus unausweichlich. Auf der Grundlage eines universalistischen Ansatzes gelangt man dagegen durchaus zu anderen Schlussfolgerungen. Schließlich ist es immerhin vorstellbar, dass sich bestimmte normative Prinzipien so begründen lassen, dass sie allseits Anerkennung verdienen und insofern als universal gültig und verbindlich anzusehen sind. Darüber hinaus könnte man einen Bereich legitimer Pluralität definieren, der für das Leben jedes Einzelnen eine große
31 32 33 34
Vgl. Nordenfeldt (1987). WHO (1948). Vgl. Schramme (2004), S. 72 f. Vgl. Werner (2002).
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Bedeutung besitzt und deshalb von einem universalen System der Gesundheitsfürsorge abgedeckt werden sollte.
3.
Anti-Aging und gerechte Gesundheitsversorgung
Um zu begründen, dass und inwiefern medizinische Versorgung ein Gebot der Gerechtigkeit und damit eine öffentliche Aufgabe darstellt, die entsprechend gemeinschaftlich übernommen werden sollte, lässt sich auf den Ansatz von Norman Daniels zurückgreifen, der an John Rawls’ allgemeine Theorie der Gerechtigkeit anknüpft und sie im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung konkretisiert. Rawls hatte seine Gerechtigkeitstheorie ausdrücklich als eine liberalistische Konzeption angelegt, deren Begründung ohne jede Bezugnahme auf eine bestimmte Vorstellung des guten Lebens auskommen sollte. In Rahmen eines kontraktualistischen Modells hatte er dargelegt, dass eine gerechte Gesellschaft soziale und ökonomische Ungleichheiten nur unter der Bedingung zulässt, dass erstens die am wenigsten begünstigten Mitglieder dadurch die bestmöglichen Aussichten erhalten und zweitens allen prinzipiell die gleichen Lebenschancen offen stehen. 35 Daniels argumentiert nun im Anschluss an das letztgenannte Prinzip der Chancengleichheit, dass gewisse gesundheitliche Bedingungen, die er mit Boorse unter dem Begriff der »normalen arttypischen Funktionsfähigkeit« 36 zusammenfasst, gegeben sein müssen, damit einer Person eine normale Bandbreite an Lebenschancen zur Verfügung steht. 37 Mit diesem Argument lassen sich durchaus starke moralische Ansprüche auf medizinische Leistungen geltend machen. Wenn nämlich erstens das Gebot der Gerechtigkeit verlangt, dass die Lebenschancen in einer Gesellschaft gleichmäßig verteilt sein sollten, und die Gesundheitsversorgung zweitens durch Erhaltung oder Herstellung der normalen arttypischen Funktionsfähigkeit zu einer solchen Chancenverteilung beiträgt, dann ist eine gerechte Gesellschaft schlichtweg dazu verpflichtet, einen allgemeinen Zugang zu den entsprechenden medizinischen Maßnahmen zu gewähren.
35 36 37
Vgl. Rawls, (1975), S. 81. Boorse (1977), S. 542; vgl. Daniels (1985), S. 28 f. Vgl. ebd., S. 32 f.
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Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus der skizzierten Argumentation für den gerechten Umgang mit der Anti-Aging-Medizin? Auf den ersten Blick scheint die Antwort vollkommen klar zu sein: Solidarisch zu tragen wären alternsbezogene medizinische Maßnahmen, sofern sie der Prävention und Behandlung von Zuständen dienen, durch die die normale Funktionsfähigkeit im Alter beeinträchtig wird, also möglicherweise etwa Verfahren zur Diabetes- oder Osteoporoseprophylaxe. Dagegen wären diejenigen Anwendungen aus dem Leistungskatalog auszugrenzen, die bloß kosmetischen oder verbessernden Charakter haben oder in erster Linie dem Wohlbefinden dienen, also – präsumptiv – Faceliftings oder solche bislang freilich nicht ausgereiften Interventionen, die auf eine so genannte radikale Lebensverlängerung abzielen. Auf den zweiten Blick zeigt sich allerdings, dass diese Grenzziehung nicht so eindeutig ist, wie es zunächst scheint. Es ist nämlich keineswegs evident, worin überhaupt die normale Funktionsfähigkeit im Alter besteht, zu deren Wahrung medizinische Versorgung gerechtfertigt, ja, geboten sein soll. Lässt sich zu ihren Gunsten etwa die solidarische Übernahme der eingangs angesprochenen Hormontherapien rechtfertigen? Oder die von Viagra im Falle von erektiler Dysfunktion bei 75-Jährigen? Oder von Therapien für das so genannte »mild cognitive impairment« (MCI), das zwar durchaus eine Funktionseinbuße darstellt, im Alltagsleben aber zu keinen wesentlichen Einschränkungen führt? An diesen Beispielen zeichnet sich bereits ab, dass aus dem oben skizzierten gerechtigkeitsethischen Argument prinzipiell ganz unterschiedliche, ja, entgegengesetzte Konsequenzen gezogen werden können. Zu Zwecken der Systematisierung lassen sich idealtypisch zwei verschiedene Versorgungsszenarien entwerfen: Das erste Szenario würde sich aus Daniels’ eigenem Ansatz ergeben. Dieser arbeitet mit einer biostatistischen Konzeption, die die entscheidende normale Funktionsfähigkeit im Bezug auf altersspezifische Referenzklassen bestimmt. 38 Das bedeutet letztlich, dass seine Konzeption von einem gewissermaßen »natürlichen« Rückgang der Funktionsfähigkeit und der mit ihr verbundenen Möglichkeitsperspektiven im Verlauf des Alterungsprozesses ausgeht. Die Bandbreite an Lebensaussichten, die einer Person zur Verfügung stehen sollten, wäre sozusagen mit einem Altersindex zu versehen. Auf dieser Grundlage ließe sich gerechtigkeits38
Vgl. Boorse (1977), S. 555.
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ethisch durchaus eine altersabhängige Ungleichverteilung gesundheitsbasierter Lebenschancen und der entsprechenden Leistungsansprüche rechtfertigen. Weder die Hormontherapie noch das Viagra oder das Therapeutikum gegen MCI wären solidarisch zu tragen, genauso wenig wie überhaupt alle alternsbezogene Interventionen, die eine frühere Funktionsfähigkeit wiederherstellen oder über das in der jeweiligen Altersgruppe statistisch normale Maß hinaus verbessern würden. Freilich würde ein solches Versorgungsszenario zugleich auch erhebliche Probleme aufwerfen. Zunächst einmal ließe es sich kaum mit den moralischen Intuitionen vereinbaren, die in der weithin akzeptierten faktischen Allokationspraxis der GKV in diesem Bereich zum Ausdruck kommen. Schließlich werden auch Hörhilfen oder Zahnersatz anteilig übernommen, obwohl es statistisch durchaus normal sein mag, ab einem bestimmten Alter seine Zähne zu verlieren oder Einbußen beim Hörvermögen zu erleiden. Vor allem aber scheint dem Szenario begründungslogisch ein naturalistischer Fehlschluss zu Grunde zu liegen, also ein formal unzulässiger Übergang von Seins- zu Sollensaussagen. Denn altersspezifische Referenzklassen mögen sich zwar unter rein deskriptiven Gesichtspunkten mit Verweis auf die faktische statistische Altersverteilung gesundheitlicher Einschränkungen plausibel machen lassen. Ein Verweis auf statistische Normalität kann jedoch keinesfalls eine präskriptive Normierung des Leistungsumfangs öffentlicher Gesundheitsversorgung rechtfertigen. Dass ein Zustand weit verbreitet ist, bedeutet noch nicht, dass er auch moralisch gut zu heißen ist. Ein solches Vorgehen würde sich nicht nur dem Verdacht aussetzen, Ageism zu fördern, also die Diskriminierung und Benachteiligung älterer Menschen auf Grund negativer Altersstereotype. 39 Es liefe in der Debatte um die Anti-Aging-Medizin letzten Endes auch auf eine Art petitio principii hinaus, da es Ansprüche auf alternsbezogene medizinische Leistungen auf der Grundlage einer Annahme zurückweisen würde, die viele Befürworter des Anti-Aging gerade bestreiten: Dass das Altern letztlich einen natürlichen Abbauprozess darstellt, bei dem die Medizin nicht intervenieren kann und soll. 40 Würde man andererseits aber die unterschiedlichen Altersstufen bei der Definition moralisch maßgeblicher funktioneller Mindeststan39 40
Vgl. Butler (1969). Vgl. Caplan (2005).
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dards überhaupt nicht berücksichtigen, käme dies im Effekt wohl einer radikalen Entgrenzung des Anspruchs auf medizinische Versorgung gleich. Sämtliche Maßnahmen, die ein alterskorreliertes Absinken des individuellen Gesundheitszustands unter den gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt verhindern oder rückgängig machen könnten, wären dann gemeinschaftlich zu tragen. Unter den Bedingungen nicht zuletzt demographisch bedingt knapper werdender Ressourcen im Gesundheitsbereich könnte man den resultierenden Leistungsansprüchen womöglich nur noch durch Umverteilung zu Lasten anderer Altersgruppen oder im Rahmen einer Absenkung der Versorgung auf ein insgesamt gleichermaßen niedriges Niveau entsprechen. Damit jedoch wäre nicht nur das Problem der Gerechtigkeit zwischen den Generationen berührt. 41 Es bestünde auch die Gefahr einer Pathologisierung und Medikalisierung des Alterns: Was heute noch als normale Alterserscheinung gilt, könnte in dem Maße, in dem sich alternsbezogene Interventionen gesellschaftlich verbreiten, zunehmend als ein abweichendes, ja, pathologisches Phänomen erscheinen, das der medizinischen Korrektur bedarf. Mit dieser Entwicklung würde ebenfalls ein statistischer Durchschnittswert ohne normative Erörterung zur Norm avancieren, was letztlich wiederum einem naturalistischen Fehlschluss gleichkäme. Und schließlich läge auch hier eine Art petitio principii vor. Denn ob es sich beim Altern wirklich um einen pathologischen Prozess handelt, der medizinisch behandelt werden sollte, ist gerade einer der zentralen Streitpunkte in der Debatte um die Anti-AgingMedizin.
4.
Vorstellungen guten Alterns und die Rolle fairer Deliberationsverfahren
Welche Konsequenzen lassen sich aus der Gegenüberstellung dieser beiden Szenarien ziehen? Dass auf beiden Seiten naturalistische Fehlschlüsse vorkommen, bedeutet zunächst, dass hier wie dort normative Annahmen im Spiel sind, die nicht als solche ausgewiesen werden, sondern als unproblematische Tatsachenaussagen getarnt in die Argumentation Eingang finden. Dass sich beide Ansätze zudem in petitiones principii verfangen, deutet darauf hin, dass diese Prämissen in be41
Vgl. Feeser-Lichterfeld (2008).
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stimmten normativ gehaltvollen Konzeptionen des Alterns bestehen: Beide Szenarien setzen stillschweigend eine solche Konzeption voraus, eine Vorstellung davon, was es heißt, alt zu werden und zu sein, obwohl derartige Vorstellungen doch im Zusammenhang der Auseinandersetzung um die Anti-Aging-Medizin gerade zur Diskussion stehen und erst zu begründen wären. In diesem Sinne lässt sich das erste Szenario mit dem in der philosophischen und theologischen Tradition vielfach formulierten Gedanken in Verbindung bringen, das Altern sei im Grunde ein natürlicher Prozess, den es hinzunehmen und sinnvoll zu gestalten gilt. 42 Hinter dem zweiten Szenario hingegen steht die unter Befürwortern der Anti-Aging-Medizin verbreitete Vorstellung, das Altern sei letztendlich ein pathologisches Phänomen, das mit den Mitteln der modernen Medizin bekämpft und besiegt werden kann und muss. 43 Aus beiden Voraussetzungen ergeben sich ganz unterschiedliche gerechtigkeitsethische Einschätzungen: Wer beispielsweise die Vorstellung einer »natürlichen Lebensspanne« 44 vertritt, die prinzipiell ausreicht, um ein sinnvolles und erfülltes Leben zu führen, würde die Verwendung seiner Beiträge für medizinische Verfahren, die auf eine erhebliche Ausdehnung eben dieser Lebensspanne abzielen, wohl als Unterstützung eines überflüssigen und moralisch zutiefst fragwürdigen Strebens nach Unsterblichkeit und ewiger Jugend strikt ablehnen. 45 Wer dagegen der ›transhumanistischen‹ Vision einer radikalen Erweiterung menschlicher Handlungs- und Erfahrungsspielräume anhängt, wird es kaum gerecht finden, der Allgemeinheit die Früchte des wissenschaftlichen Fortschritts, den lang ersehnten, nun in greifbare Nähe rückenden Sieg im Kampf gegen Altern, Krankheit und Tod, auf Grund veralteter persönlicher Wertvorstellungen und letztlich religiös oder weltanschaulich geprägter Welt- und Menschenbilder vorzuenthalten. 46 Wenn sich somit erstens die gerechtigkeitsrelevante Identifikation und Gewichtung von alternsbezogenen Lebenschancen stets im Horizont einer bestimmten normativ gehaltvollen Konzeption des Lebens und Alterns vollzieht, es aber zweitens keinen gesellschaftlichen Kon-
42 43 44 45 46
Vgl. Kass (2002). Vgl. Bostrom (2005). Vgl. Callahan (1987). Vgl. auch Kass (2001). Vgl. Farrelly (2007).
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sens, sondern eine beträchtliche Pluralität solcher Vorstellungen des guten Alterns gibt, stellt sich die Frage, wie der Umfang der gerechtigkeitsethisch gebotenen medizinischen Versorgung im Hinblick auf die Anti-Aging-Medizin gleichwohl allgemein verbindlich bestimmt werden kann. Da eine gerechte Verteilung sich nicht ohne Weiteres auf die partikularen Ansichten und Werte bloß einer der am Streit beteiligten Parteien berufen kann, scheint es nahe zu liegen, eine breite gesellschaftliche Verständigung über diese Fragen anzustreben, in deren Zuge die Beteiligten und Betroffenen selbst ihre jeweiligen Lebensorientierungen und –chancen diskutieren und sich auf ihrer Grundlage über ihre gemeinsamen Versorgungsinteressen einigen können. 47 Damit wird substantielle Ergebnisgerechtigkeit durch Verfahrensgerechtigkeit ersetzt: Statt eine im Ergebnis gerechte Versorgung mit medizinischen Leistungen material zu definieren, werden faire Verfahren entworfen, in deren Rahmen über den Leistungsumfang der öffentlichen Gesundheitsversorgung entschieden werden kann. Allokationsmodelle, die im Rahmen solcher Verfahren vereinbart werden, gelten prima facie als gerecht, unabhängig davon, ob sie im Effekt z. B. Ungleichheiten in der Verteilung von Gütern einschließen. 48 Für die Gesundheitsversorgung im Allgemeinen ist ein solcher prozeduraler Ansatz exemplarisch von Ezekiel Emanuel ausgearbeitet worden. 49 Der zentrale Gedanke ist, dass sich die Beteiligten diskursiv auf eine gemeinsame Vorstellung des guten Lebens verständigen, die dem Zuschnitt der solidarischen Gesundheitsversorgung im Rahmen von kommunitär begrenzten Community Health Plans (CHPs) zu Grunde zu legen ist. 50 Dabei werden die verschiedenen Vorstellungen des guten Lebens in ein Verfahren eingebracht, das deliberativ, nach dem Vorbild eines republikanischen Beratungs- und Meinungsbildungsprozesses konzipiert ist, in dem sich ein Gemeinwesen über sein gemeinsames Wertefundament verständigt. Allerdings wird die Verbindlichkeit solcher Vorstellungen nicht essentialistisch, also als im Wesen des Menschen selbst begründet, vorausgesetzt, sondern stattdessen als das Ziel des deliberativen Verständigungs- und EinigungsVgl. Marckmann (2002). Vgl. Werner (2002). 49 Vgl. Emanuel (1991); zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt neuerdings auch Daniels (2008). 50 Vgl. Emanuel (1991), S. 178 f. 47 48
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prozesses anvisiert. Nach diesem Muster sind verschiedene CHPs vorstellbar, die auf die Lebensentwürfe und Versorgungsinteressen ganz unterschiedlicher Gruppen – z. B. kinderreicher Familien, Anhänger von Risikosportarten, Mitglieder religiöser Gemeinschaften oder Freunde alternativer Lebensweisen – zugeschnitten sind. Nun liegt es in der Natur solcher deliberativer Verfahren, ja, macht genau genommen geradezu ihre wesentliche Pointe aus, dass sich ihr Verlauf und ihre Ergebnisse nicht theoretisch antizipieren lassen. Gleichwohl ist in ihrem Rahmen nicht alles möglich. Es können immerhin Mindestanforderungen benannt werden, denen das ins Auge gefasste Verfahren genügen muss, um seiner Aufgabe gerecht zu werden. So sind zunächst gewisse grundlegende Rahmenbedingungen zu schaffen, etwa im Hinblick auf den Zugang zum Verfahren und die Zusammensetzung der Teilnehmerschaft. Desweiteren sind zweifellos auch elementare Spielregeln fairer Auseinandersetzung – Ergebnisoffenheit, Zwanglosigkeit, gleiches Rederecht – einzuhalten, sofern von einem fairen Verfahren die Rede sein können soll. Schließlich hat die Diskussion auch gewissen formalen Kriterien zu entsprechen, die z. B. die Informiertheit, Stringenz und Kohärenz der erörterten Argumente betreffen. Inwieweit darüber hinaus auch inhaltliche Gesichtspunkte vorgreifend geltend gemacht werden können, ist gewiss eine heikle Frage. Allerdings ergeben sich aus der Zielsetzung, eine Verständigung über eine gemeinsame Vorstellung des guten Lebens zu erreichen, die konkreten Allokationsentscheidungen im Bereich alternsbezogener medizinischer Maßnahmen zu Grunde gelegt werden kann, doch einige sachliche Bedingungen, denen die Deliberation Rechnung tragen muss. So ist zum einen festzuhalten, dass die Frage nach dem guten Leben in diesem Zusammenhang nicht in der thematischen Bandbreite zu erörtern ist, die etwa die entsprechende Debatte innerhalb der philosophischen Ethik aufweist. Es geht also keinesfalls um ein Räsonieren über den Sinn des Lebens im Allgemeinen, sondern allein um die Erörterung der gesundheitsbezogenen Aspekte von Lebensorientierungen, und zwar soweit sich aus ihnen Präferenzen im Hinblick auf das Angebot der Anti-Aging-Medizin ergeben. Damit verengt sich der Fokus der Diskussion auf Perspektiven guten Alterns, die sich entlang bestimmter gesundheitlicher Leitvorstellungen wie z. B. Selbstständigkeit und körperliche Aktivität, geistige Leistungsfähigkeit, äußeres Erscheinungsbild und Attraktivität oder auch schlicht Lebensdauer unter186 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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scheiden und gruppieren ließen. Entsprechend sind auch die in Frage stehenden Anti-Aging-Maßnahmen keineswegs pauschal über einen Kamm zu scheren, sondern unter ethisch relevanten Gesichtspunkten zu differenzieren. Da das Verfahren der Anwendung eines gerechtigkeitsethischen Ansatzes dient und dieser auf dem Prinzip der fairen Chancengleichheit beruht, sind dabei insbesondere die Auswirkungen der fraglichen Maßnahmen auf die Lebenschancen zu berücksichtigen. 51 Unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit erscheint es angemessen, die verschiedenen Maßnahmen nach dem Allgemeinheitsgrad der jeweils betroffenen Lebenschancen abgestuft zu betrachten und zu bewerten. Denn je allgemeiner diese Lebenschancen sind, desto stärker muss das Interesse an den sie gewährleistenden medizinischen Maßnahmen ins Gewicht fallen. So wäre etwa im Hinblick auf die Bewegungsfähigkeit eine Intervention, die eine Person auch im fortgeschrittenen Alter noch zum Eiskunstlauf befähigt, auf der Ebene eines höchst spezifischen individuellen Wunsches einzustufen. Demgegenüber könnten Maßnahmen, die im gleichen Alter das Skilaufen ermöglichen, eine Art Zwischenstellung einnehmen: Einerseits scheinen sie bloß ein persönliches Hobby zu begünstigen; in bestimmten – etwa alpinen – Regionen könnten sie allerdings auch einem durchaus verallgemeinerungsfähigen Interesse an Fortbewegung dienen. Und schließlich wären alternsbezogene Maßnahmen denkbar, die Lebenschancen auf einer derart allgemeinen und grundlegenden Ebene betreffen, dass sich die Frage stellt, ob nicht überhaupt jeder bei unparteilicher Betrachtung das Interesse an ihnen als berechtigt anerkennen müsste, z. B. wenn es um den Erhalt einer elementaren Form von Mobilität geht, die den eigenen Alltag weitgehend selbstständig bewältigen lässt. Mit diesem Stufenmodell können die Grenzen des öffentlich finanzierten Bereichs auch in Abhängigkeit von den verfügbaren bzw. zur Verfügung gestellten Ressourcen weiter oder enger gezogen werden: Bei engen Budgetvorgaben würden nur die Maßnahmen finanziert, die eine Voraussetzung für die Ermöglichung sehr grundlegender Lebenschancen darstellen. Sofern sich eine Gemeinschaft im Hinblick auf altersbezogene Interventionen mehr leisten kann bzw. leisten will, könnten auch diejenigen Maßnahmen im Leistungsumfang enthalten sein, die auf die Realisierung weniger allgemeiner oder sogar sehr spezi51
Vgl. Ehni/Marckmann (2009b).
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fischer Vorstellungen eines guten Lebens im Alter ausgerichtet sind. Grundsätzlich erscheint es sinnvoll, einen gewissen Spielraum legitimer Pluralität abzustecken, da es Zielvorstellungen gibt, die zwar nicht sensu strictu verallgemeinerbar sind, aber dennoch für den jeweiligen Einzelnen und das Gelingen bzw. die Erfüllung seines Lebens zentrale Bedeutung haben. Gewiss bergen deliberative Modelle wie das von Emanuel vorgeschlagene auch erhebliche Schwierigkeiten, zumal im Hinblick auf die praktische Umsetzung. Der Gedanke, Bürger könnten sich auf der Basis gemeinsamer gesundheitsbezogener Vorstellungen des guten Alterns im Rahmen kommunitär begrenzter Versorgungspläne zusammenschließen, erscheint kaum praktikabel. 52 Immerhin müssten die Beteiligten dabei nicht nur weitgehend Klarheit über ihre Lebensentwürfe und die daraus resultierenden Versorgungsinteressen erlangen, sondern auch dazu bereit sein, sie im Zuge einer inhaltlichen Auseinandersetzung zur Disposition zu stellen und gegebenenfalls sogar zu modifizieren. Zudem ist fraglich, ob Lebensentwürfe überhaupt kohärent genug sind, um in ganz verschiedenen medizinischen Hinsichten gemeinsame Positionen zu erlauben. So kann der skizzierte Ansatz zwar deutlich machen, dass der gerechte Umgang mit der Anti-AgingMedizin im Rahmen eines solidarisch getragenen Gesundheitswesens eine Verständigung über gesundheitsbezogene Konzeptionen des guten Alterns voraussetzt. Die Frage, wie eine solche Verständigung praktisch-politisch konkret umzusetzen ist, bleibt allerdings offen. Immerhin ist damit eine der wesentlichen theoretischen Herausforderungen markiert, vor denen die gerechtigkeitsethische Erörterung der Anti-Aging-Medizin gegenwärtig steht.
5.
Schluss
Die eingangs angesprochene Kontroverse um den Einsatz der Hormontherapie zu Anti-Aging-Zwecken wurde letzten Endes auf der Grundlage von Argumenten ausgefochten, die auf die Wirksamkeit und die Chancen und Risiken des Verfahrens 53 abheben und damit allenfalls auf das im Sozialgesetzbuch dem Krankheitsbegriff nachgeordnete Ge52 53
Vgl. für das Folgende die kritischen Einwände bei Marckmann (2003), S. 126 f. Vgl. Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (2003).
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bot der Wirtschaftlichkeit verweisen. Ihm zufolge müssen zu übernehmende Leistungen »ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein« und dürfen »das Maß des Notwendigen nicht überschreiten«.54 Insofern verlief die Diskussion vorwiegend diesseits der prinzipiellen Fragen, ob den betreffenden physiologischen oder psychischen Erscheinungen eigentlich ein echter Krankheitswert zukommt und ob das überhaupt das ausschlaggebende Kriterium für eine Kostenübernahme durch die GKV sein sollte. 55 Angesichts des stetig expandierenden Angebots an und der wachsenden Nachfrage nach medizinischen Maßnahmen, die keinen klaren Krankheitsbezug aufweisen und keinen kurativen Zweck verfolgen, wird sich diesen Fragen allerdings auf Dauer kaum ausweichen lassen. Gerade die Anti-Aging-Medizin, die ein ganzes Spektrum solcher Maßnahmen umfasst, berührt hier prinzipielle Probleme. So zeigt sich an ihr, dass der Begriff der Krankheit allein nicht hinreicht, um zu einer gerechtigkeitsethisch stichhaltigen Bestimmung des Leistungsumfangs öffentlicher Gesundheitsversorgung zu gelangen. Das gilt insbesondere für die sozialrechtliche Fassung des Krankheitsbegriffs, die der gegenwärtigen Allokationspraxis dem Anspruch nach zu Grunde liegt, aber auch für alle Versuche, sie mit naturalistischen medizintheoretischer Krankheitskonzeptionen zu unterfüttern. Vielmehr sind die normativen Prämissen der faktischen Allokationspraxis offen zu legen, um sie der gerechtigkeitsethischen Erörterung und öffentlichen Diskussion zugänglich zu machen und auf diesem Weg zu einer tragfähigen Begründung – oder ggf. auch einer Kritik und Reformulierung – zu gelangen. Dabei wird an der Anti-Aging-Medizin auch das Dilemma deutlich, dass die Einschätzung des Wertes medizinischer Leistungen zwar von substantiellen Vorstellungen des guten Lebens abhängig ist, solche Vorstellungen aber in modernen, pluralistischen Gesellschaften stark divergieren. Unter diesen Umständen erscheint es notwendig, über deliberative Verfahren nachzudenken, in deren Rahmen eine Verständigung über gemeinschaftliche gesundheitsbezogene Vorstellungen des guten Alterns angestrebt werden könnte. Damit ist freilich nur eine erste Lösungsperspektive aufgezeigt, Vgl. § 12 I SGB V. Immerhin gab es Ansätze zur Kritik an der Pathologisierung und Medikalisierung des Klimakteriums, die z. B. in Begriffsprägungen wie ›Hormonersatztherapie‹ greifbar wird; vgl. Lademann (2000). 54 55
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die weitere theoretische Anstrengungen erforderlich macht. So bedarf es eines differenzierten und unparteilichen Begriffs von Anti-AgingMedizin, der die betreffenden alternsbezogenen Maßnahmen unter gerechtigkeitsethisch relevanten Gesichtspunkten zu gruppieren erlaubt. Ein pauschales Urteil über die Anti-Aging-Medizin und ihren Stellenwert in der öffentlichen Gesundheitsversorgung erscheint in Anbetracht des breiten Spektrums heterogener Ansätze kaum möglich, zumal das Label »Anti-Aging« nicht nur deskriptiv, sondern meist auch strategisch – sei es in beschönigender oder diffamierender Absicht, mit standespolitischen oder kommerziellen Hintergedanken – eingesetzt wird. 56 Darüber hinaus wird eine Erörterung gesundheitsbasierter Lebenschancen notwendig, in die nicht nur empirische – z. B. medizinische und gesundheitsökonomische – Informationen, sondern vor allem auch ethische Überlegungen über das gute Altern eingehen müssen. Der Anti-Aging-Sektor expandiert weiterhin rapide. 57 Mit ihm wachsen auch die Ansprüche, die gegenüber der Medizin und dem Gesundheitssystem geltend gemacht werden. Die Frage nach dem Umfang und den Grenzen solidarisch zu tragender medizinischer Leistungen, die diese Entwicklung aufwirft, verweist am Ende auf die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung über Leitbilder künftigen Alterns und die Rolle, die die Medizin dabei spielen soll. 58 Damit konvergiert die Forderung, die sich aus der deontologischen Perspektive der Gerechtigkeitsfrage in letzter Konsequenz ergibt, mit einem Appell, der auch aus dem teleologischen Blickwinkel individuell gelingenden Lebens in den letzten Jahren verstärkt geltend gemacht wurde: »Wir alle gewinnen Zeit und Raum, aber wir haben keine Bilder und keine Texte. Unsere Kultur hat uns nicht vorbereitet. […] Unsere Vorgänger haben nämlich in unseren Vorstellungswelten nichts gepflanzt und nichts gebaut und nichts gedacht oder geschrieben für ein Alter, das lange dauert und in dem wir alle alt sind. […] Da die Mehrheit der Menschen in den bisherigen Gesellschaften gar nicht lange genug lebten, um die Auswirkungen des Alters zu erleben, können wir auf Vorbilder, die für unser Selbstbild doch so wichtig wären, kaum zurückgreifen. […] Wir müssen uns diesen Bestand selber schaffen.« 59
56 57 58 59
Vgl. Spindler/Streubel (2009). Vgl. Stuckelberger (2008), S. 203 f. Vgl. Moody (1994); Agich (2001). Schirrmacher (2004), S. 104 f.
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Gerechter Zugang zu »altersmedizinischen Innovationen« Medizinische Eingriffe in den biologischen Alterungsprozess als möglicher Bestandteil einer gerechten Gesundheitsversorgung Hans-Jörg Ehni, Georg Marckmann Fragwürdiges »Anti-Aging« und Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung Unter das Schlagwort »Anti-Aging« fällt gegenwärtig ein breites Spektrum von angebotenen Substanzen und Dienstleistungen, das von Nahrungsergänzungsmitteln, wie Anti-Oxidantien, verschiedensten Faltencremes, Hormon-Ersatztherapien, Botox-Spritzen bis zu Schönheitsoperationen reicht. Aus medizinischer Sicht müssen viele von diesen Maßnahmen fragwürdig erscheinen. Denn die Belege für ihre Wirksamkeit sind häufig spärlich und ihr Schaden überwiegt teilweise den Nutzen, wie etwa bei Hormon-Ersatztherapien mit Östrogen, die das Krebsrisiko steigern und nur in bestimmten Fällen das Osteoporose-Risiko bei Frauen signifikant senken. 1 Um »Anti-Aging«-Therapien handelt es sich dabei nur insofern, als oberflächliche Begleiterscheinungen des Alternsprozesses verändert werden. Alternsassoziierte Erkrankungen oder die Seneszenz werden ebenso wenig verhindert, wie die individuelle Lebensspanne verlängert wird. 2 Fragwürdig ist diese Form des »Anti-Aging«, weil sie verhindern könnte, dass das Altern und das Alter bzw. hohe Alter als unvermeidliche und notwendige Abschnitte der menschlichen Existenz gesehen werden, denen der einzelne Mensch einen Sinn abgewinnen kann und möglicherweise für ein gelungenes Leben auch abgewinnen muss. 3 Anstatt dessen wird so gesellschaftlich ein ohnehin verbreitetes Ideal der Jugendlichkeit weiter befördert und propagiert, dem die Lebenswirklichkeit alternder Per1 2 3
Schulkin (2008). Hadley et al. (2005). Vgl. z. B. Vincent (2009).
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Gerechter Zugang zu »altersmedizinischen Innovationen«
sonen nicht entsprechen kann. Im Gegenzug besteht die Gefahr, dass negative Altersstereotype und Altersdiskriminierung verstärkt werden. Zudem könnte eine »Biomedikalisierung« des Alterns vorangetrieben werden, die manche Kommentatoren besorgt festgestellt haben. 4 Wie andere Probleme der Lebenswelt und der Existenz wird das Altern zu einem Problem der Medizin gemacht, die individuelle Verantwortung und andere Möglichkeiten der Bewältigung abgelegt und die potentielle Schädlichkeit medizinischer Eingriffsmöglichkeiten wird übersehen. Manche staatlichen Behörden haben in diesem Zusammenhang festgestellt, dass von Privatpersonen für »Anti-Aging« große Summen ausgegeben werden, die bestenfalls einen finanziellen Schaden zur Folge haben, zu dem im schlechtesten Fall auch noch ein gesundheitlicher hinzukommt. 5 »Anti-Aging«, dessen Nutzen, Empfehlung und Anwendung aus diesen Gründen fragwürdig sind, muss offensichtlich daher kein Bestandteil einer gerechten, staatlichen Gesundheitsversorgung sein. Aus der Perspektive der Gerechtigkeit stellt sich hier eher die Frage, ob es legitim wäre, den Zugang zu solchen Maßnahmen durch Verbote zu beschränken, als ihn allgemein zu ermöglichen. Es zeichnet sich jedoch eine Entwicklung in der relativ jungen Disziplin der Biogerontologie ab, an deren Ende biotechnologische oder medizinische Eingriffsmöglichkeiten stehen könnten, die tatsächlich das biologische Altern selbst erfolgreich verlangsamen. Um solche Eingriffsmöglichkeiten von »Anti-Aging« im obigen Sinn abzugrenzen, soll dafür in der Folge der Begriff »altersmedizinische Innovationen« verwendet werden. Ob solche »altersmedizinischen Innovationen« Bestandteil einer gerechten Gesundheitsversorgung sein sollten, ist eine schwierigere Frage mit zahlreichen Teilaspekten. Einer dieser Teilaspekte besteht darin, ob es aus individueller Sicht überhaupt wünschenswert ist, den biologischen Alterungsprozess mit medizinischen Mitteln zu bekämpfen. Vielmehr wird von manchen Bioethikern behauptet, wie bereits kurz erwähnt, das Altern und das hohe Alter seien notwendige Bestandteile eines gelungenen und guten menschlichen Lebens. Außerdem würde eine deutlich längere als die jetzige durchschnittliche Lebensspanne in den Industriestaaten von 80 Jahren keinen bedeutenden Zugewinn an Glück oder wertvollen Erfahrungen erwarten lassen. 4 5
Kaufman et al. (2004), Estes/Binney (1989). United States (2001).
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Einer von uns hat an anderer Stelle argumentiert, dass sich für solche Positionen keine zwingenden Argumente finden lassen und dass sie auf in einer pluralistischen Gesellschaft nicht allgemein geteilten anthropologischen Annahmen beruhen. 6 Wir klammern in diesem Zusammenhang solche eudaimonistischen Argumentationen aus, 7 mit dem Hinweis, dass der Nachweis zu führen wäre, dass notwendigerweise ein langsameres Altern und ein deutlich längeres Leben aus eudaimonistischer Sicht unglücklich machen und insofern keine Güter sind. Eine philosophische Anthropologie und transzendentale eudaimonistische Ethik, auf der ein solcher Nachweis beruhen müsste, sucht man jedoch vergebens. Wir gehen in diesem Zusammenhang davon aus, dass altersmedizinische Innovationen und ihre Resultate aus eudaimonistischer Sicht Güter sein könnten und dass sie es aus gerechtigkeitstheoretischer Sicht sind.
Die Ziele zukünftiger Eingriffsmöglichkeiten Berichte über mögliche Eingriffe in den Alterungsprozess, die in regelmäßigen Abständen in populärwissenschaftlichen Medien erscheinen, 8 haben zum jetzigen Zeitpunkt möglicherweise die Folge, dass die Nachfrage nach »Anti-Aging« im oben genannten fragwürdigen Sinn verstärkt wird, da falsche Erwartungen geweckt werden. 9 Diskutiert werden als altersmedizinische Innovationen Interventionen, wie Kalorienrestriktion oder Substanzen, die deren Effekt imitieren, mögliche Therapien, die Langlebigkeitsgene nutzen, verschiedene Anti-Oxidantien und Telomerase, um nur einige Beispiele zu nennen. Keine dieser Eingriffsmöglichkeiten besitzt im Moment eine für den Menschen nachgewiesene Wirksamkeit. Auch wenn manche der möglichen InterEhni (2009). Aus ähnlichen Gründen klammern wir die Fragen aus, ob der gesamtgesellschaftliche Nutzen oder die Glücksumme kleiner wird bei einer Zusammensetzung einer Gesellschaft aus langsamer alternden Menschen, die gleichzeitig den Altersdurchschnitt deutlich anheben. Obwohl man einiges gegen eine solche utilitaristische Annahme anführen könnte, geht es bei der Gerechtigkeitsproblematik um etwas anderes. Selbst wenn es aus anderen Gründen vielleicht nicht wünschenswert sein könnte, eine solche Gesellschaft herbeizuführen, so dann eine entsprechende Entwicklung in diese Richtung doch außerdem auch Probleme der Gerechtigkeit aufwerfen, die zu berücksichtigen sind. 8 Z. B. Anonymus (2008). 9 Olshansky et al. (2002). 6 7
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ventionen in näherer Zukunft in klinischen Versuchen erprobt werden sollten, ist ihre Zulassung noch in weiter Ferne und Daten über das mögliche Verhältnis von Kosten, Risiken und Nutzen einzelner Eingriffsmöglichkeiten sind nicht vorhanden. Überlegungen, wie solche zukünftigen medizinischen Möglichkeiten und der Zugang zu ihnen aus gerechtigkeitstheoretischer Sicht zu bewerten sind, sind dennoch nicht verfrüht. Wie neuere soziologische Studien zeigen, werfen Möglichkeiten den Alterungsprozess zu beeinflussen für die Mehrheit der Befragten vor allem Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf. 10 Es kommt zunächst darauf an, diese Fragen schlüssig zu formulieren, geeignete Maßnahmen zu empfehlen, die mögliche negative Entwicklungen verhindern können, und gegebenenfalls den Bedarf für zukünftige empirische Forschung festzuhalten, die für detaillierte Antworten nötig sein wird, sobald sich eine Zulassung bestimmter Interventionen abzeichnet. Anstelle einer »induktiven« Fragerichtung, die von Eigenschaften einzelner Interventionen wie etwa deren Kosten-Nutzen-Profilen ausgeht, bietet sich eine umgekehrte Vorgehensweise an. Anstelle der Frage, ob ein allgemeiner Zugang zu bestimmten Interventionen gerecht wäre und wie sich daraus abzuleitende Ansprüche auf die öffentlichen Gesundheitsausgaben auswirken würden, unterscheiden wir folglich in einem ersten Schritt die unterschiedlichen Ziele, die allgemein mit altersmedizinischen Innovationen verfolgt werden. Dann fragen wir in einem zweiten Schritt danach, wie sie aus der Perspektive der Theorie der Gerechtigkeit bewertet werden können. Solche Ziele werden in der bereits existierenden bioethischen bzw. biogerontologischen Debatte in drei Kategorien eingeteilt, in Abhängigkeit davon wie sich die menschliche Lebensspanne dadurch verändert, dass der Alternsprozess beeinflusst wird. Denkbar sind drei Stufen: Gutes Altern (»Well-Aging«). Der biologische Alterungsprozess selbst soll hier nicht zum Ziel von Eingriffen werden, sondern lediglich altersassoziierte Krankheiten. Eine mögliche Lebensverlängerung ist hier nur ein Nebeneffekt, der sich beim Erreichen dieses Hauptziels der medizinischen Interventionen einstellt. In erster Linie soll dabei die Phase der Altersmorbidität verkürzt werden (»compressed morbidity«). Ein Anstieg der jetzigen durchschnittlichen Lebensspanne in den Industriestaaten wäre bei einem Erreichen dieses Ziels nicht un10
Partridge et al. (2009b) und Partridge (2009a).
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wahrscheinlich, aber die maximale derzeit beobachtete menschliche Lebensspanne von 122 Jahren würde sich dadurch nicht verlängern. Verlangsamtes Altern (»Decelerated aging«). Sollte es gelingen, nicht nur altersassoziierte Krankheiten zu verhindern, sondern den biologischen Alterungsprozess selbst auch zu verlangsamen, könnte durch nicht nur die durchschnittliche, sondern die maximale menschliche Lebenserwartung ansteigen. Anhalten oder Umkehrung des Alternsprozesses (»Arrested Aging«)«. Ein utopisches Ziel im Rahmen des sogenannten Transhumanismus ist es, das biologische Altern vollständig anzuhalten. Damit würde eine biologische Unsterblichkeit einhergehen, wobei Steven Austad errechnet hat, dass dies eine Lebensspanne von 1200 Jahren bedeuten würde, wenn man die derzeitigen Unfallstatistiken berücksichtige. 11 Aus einer allgemeinen Gerechtigkeitsperspektive unproblematisch zu bewerten ist Ziel 1. Denn die erfolgreiche Prävention und Therapie von altersassoziierten Erkrankungen wäre prinzipiell unstrittig Bestandteil einer gerechten Gesundheitsversorgung. Im Einzelfall und unter den Bedingungen knapper Ressourcen würde sich dann die Fragen stellen, welche Auswirkungen dies auf öffentliche Gesundheitsausgaben hätte, welche Prioritäten hier gesetzt werden sollen und wie eine gerechte Rationierung, falls nötig, aussehen könnte. Im Hinblick auf Ziel 3 dürften wohl wenige den Standpunkt von John Harris teilen, dass die gleichzeitige parallele Existenz mehrerer Bevölkerungsgruppen (»parallel populations«) von Sterblichen und Unsterblichen problemlos sei, weil man dies an verschiedenen literarischen Beispielen sehen könne, wie sich ein solches Zusammenleben gestalten ließe. 12 Denn dies wäre letztlich der schlechteste Fall dessen, was die oben genannte Umfrage als Hauptsorge der Befragten ausgemacht hat. Abgesehen davon würde die Realisierung dieses Ziels die jetzige Form der menschlichen Existenz und des Zusammenlebens vollständig verändern, wodurch zahlreiche ethische Probleme aufgeworfen werden. Allerdings ist dieses Ziel, wie bereits festgehalten, utopisch und eine Antwort auf diese Fragen scheint nicht besonders zu drängen. AußerAustad (1997). Laut John Harris hat Austad jedoch seine Kalkulation in einer persönlichen Auskunft nochmals deutlich nach oben korrigiert: auf ca. 5000, Harris (2007), S. 69. 12 A. a. O. (2007), S. 62 ff. 11
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dem wäre es wohl kaum ohne den Zwischenschritt über Ziel 2 zu erreichen, so dass zuerst dieses in den Vordergrund rückt und sich die Frage stellt, wie langsameres Altern und eine längere maximale Lebensspanne durch mögliche medizinische Interventionen als die jetzige aus der Perspektive der Gerechtigkeit bewertet werden können.
Verschiedene Formen der Gerechtigkeit Wie ein gerechter Zugang zu Interventionen zu definieren ist, die ein langsameres Altern und eine längere Lebensspanne ermöglichen, ist vor allem ein Problem der distributiven Gerechtigkeit. Allerdings soll kurz umrissen werden, dass auch andere Formen der Gerechtigkeit, die in der philosophischen Tradition unterschieden werden, relevante Fragestellungen aufwerfen, die an dieser Stelle nicht ausführlich berücksichtigt werden können. 13 Bereits Aristoteles unterscheidet von der allgemeinen Gerechtigkeit, die er als Tugend versteht, gegenüber anderen die Forderungen von Gesetz und Moral freiwillig zu erfüllen, verschiedene Formen der speziellen Gerechtigkeit. Demnach sind Machtbeziehungen Gegenstand der politischen Gerechtigkeit. Die Tauschgerechtigkeit oder iustitia commutativa regelt als erste Form der ausgleichenden Gerechtigkeit den fairen Tausch von Gütern etwa in Vertragsbeziehungen. Eine Frage, die sich im Hinblick auf diese Form der Gerechtigkeit stellt, wäre welchen Nutzen die Teilnehmer an medizinischer Forschung aus dieser ziehen sollten. Insbesondere die Verlagerung von Forschung in Entwicklungsländer und die umstrittene Frage, wie der entsprechende Nutzen geteilt werden soll (wer soll profitieren? In welcher Form?) 14 , werfen dieses Problem auf. Eine weitere mögliche Forderung der Tauschgerechtigkeit besteht darin, dass die Ergebnisse und der Nutzen aus öffentlichen Mitteln finanzierter Forschung auch tatsächlich allgemein zugänglich gemacht werden. Auch in Industriestaaten ist dies bei altersmedizinischen Innovationen nicht selbstverständlich. Die Strafgerechtigkeit oder iustitia correctiva bezieht sich als zweite Form der ausgleichenden Gerechtigkeit darauf, wie Unrecht wieder gut gemacht werden soll. Ein Problem der ausgleichenden Gerechtigkeit 13 14
Vgl. z. B. Ehni/Marckmann (2008). Vgl. z. B. Emanuel et al. (2004).
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könnte sein, wie benachteiligte Minderheiten, die bereits jetzt eine kürzere Lebenserwartung als die durchschnittliche in der jeweiligen Gesellschaft, bei der Forschung und beim Zugang zu altersmedizinischen Innovationen berücksichtigt werden. Als weitere Grundform, die von Aristoteles festgehalten wurde, gibt schließlich die Verteilungsgerechtigkeit oder iustitia distributiva, auf der unser Hauptaugenmerk liegt, die gerechte Verteilung von Gütern und Lasten vor. Dagegen ist das gegenwärtig häufig diskutierte Konzept der sozialen Gerechtigkeit erst im 19. Jahrhundert entwickelt worden. Diese kann als Kombination aller anderen Formen verstanden werden, die sich auf die Regeln, Gesetze, Institutionen und die Verteilung von Gütern und Lasten in einer Gesellschaft beziehen. Probleme der intergenerationellen Verteilungsgerechtigkeit wollen wir in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigen. Wenn man davon ausgeht, dass altersmedizinische Innovationen einmal vorhanden sind und alle zukünftigen Generationen von ihnen profitieren, indem sie einen verlangsamten Alterungsprozess durchlaufen, stellt sich dieses Problem nicht in dieser Hinsicht, sondern eher durch die Umstrukturierung von gesellschaftlichen Hierarchien. Ein größeres Problem wirft die globale Gerechtigkeit auf, wenn die Differenz der Lebenserwartung in den Industriestaaten und in den Entwicklungsländern durch verlangsamtes Altern in den ersteren noch größer wird als sie es ohnehin ist. Hinzu kommt, dass selbst eine medizinische Grundversorgung in den Entwicklungsländern häufig nicht gewährleistet ist und die medizinische Forschung die dort vorherrschenden Erkrankungen lange vernachlässigt hat. Aber die Frage, welche Pflichten Industriestaaten haben, die altersmedizinische Innovationen erforschen und möglicherweise zugänglich machen, sprengt den vorliegenden Rahmen, was nicht bedeutet, dass diese Frage unbedeutend ist. Wir wollen uns in diesem Aufsatz vor allem mit einem ethischen Rahmen für einen gerechten Zugang zu altersmedizinischen Innovationen in einer Gesellschaft auseinandersetzen, in der eine medizinische Grundversorgung gewährleistet ist. Für einen solchen ethischen Rahmen gibt es mehrere mögliche Begründungsstrategien.
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Strategien zur Begründung eines gerechten Zugangs zu altersmedizinischen Innovationen Um einen gerechten Zugang zu altersmedizinischen Innovationen zu begründen, werden wir die Grundzüge eines gütertheoretischen Ansatzes entwickeln. Allerdings sind auch andere Strategien denkbar. Ganz allgemein könnte man bei positiven Freiheitsrechten und einem Recht auf Gesundheit ansetzen und hier eine Verbindung herstellen. Dies hätte den Vorteil, dass sich daraus ein konkreter und starker rechtlicher Anspruch ableiten ließe. Weitgehend akzeptiert ist, dass der Zugang zur Gesundheitsversorgung ein wichtiges Menschenrecht darstellt. Eine weitreichende Formulierung findet sich beispielsweise in der Präambel zur WHO-Konstitution als »right to health«: »The enjoyment of the highest attainable standard of health is one of the fundamental rights of every human being …«. Gesundheit wird dabei nicht nur als Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern als generelles Wohlbefinden: »Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity«. Da hierdurch zunächst unbegrenzte Ansprüche begründbar sind, ist im Einzelfall danach zu fragen, was der »höchste erreichbare Standard« ist. Darin besteht allerdings auch das Problem eines solchen Ansatzes. Da ein allgemeines Recht auf Gesundheit bzw. auf eine gerechte Gestaltung der staatlich beeinflussbaren Faktoren, wie Gesundheitsversorgung, Public Health und soziale Determinanten, unbestimmt ist, ist es als Ausgangspunkt für die Frage ungeeignet, was genau Bestandteil einer gerechten Gesundheitsversorgung sein sollte. Wie Daniels daher zu Recht anmerkt, kann es erst am Ende solcher Überlegungen als Resultat derselben stehen. 15 Daniels selbst schlägt als Alternative eines solchen »top down« von allgemeinen Rechten einen »bottom up« Ansatz vor, der von der weitgehend akzeptierten besonderen ethischen Bedeutung von Gesundheit ausgehen soll. Demnach löse ein Fall, in dem eine lebensrettende medizinische Intervention aus ökonomischen Gründen verweigert wird, selbst in Gesellschaften moralische Empörung aus, die in anderen Beziehungen bedeutende Ungleichheiten ihrer Bürger akzeptieren. Daniels entwickelt daraus eine Konzeption und ethische Bewertung von Gesundheitsbedürfnissen, die sich eng an John Rawls Theorie 15
Daniels (2008).
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der Gerechtigkeit anschließt. Der Kern dieser Auffassung besteht darin, dass Gesundheit als normales, speziestypisches Funktionieren verstanden relevant für Chancengleichheit bzw. »equality of opportunity« ist. Da dies nicht nur für Rawls Theorie der Gerechtigkeit ein relevantes Kriterium ist, um den Soll- bzw. Ist-Zustand einer Gesellschaft zu bewerten, kann Daniels argumentieren, dass nicht nur die einflussreichste Theorie der Gerechtigkeit der Gegenwart seine Auffassung stützt, sondern auch andere eine parallele Argumentation ermöglichen, wobei er sich vor allem auf den »Capability«-Ansatz bezieht, den Martha Nussbaum und Amartya Sen in wechselseitigem Bezug, aber unterschiedlicher Fassung entwickelt haben. 16 Der ethische Rahmen, den wir hier in knapper Form entwickeln wollen, ähnelt demjenigen von Daniels. Er weicht allerdings etwas von ihm ab, insofern Daniels zunächst danach fragt, was für eine Art Gut Gesundheit ist, um dann die Verbindung zu Rawls Konzeption von »Primary Goods« herzustellen. Dabei ist diese Konzeption implizit in seiner Interpretation der ethischen Bedeutung von Gesundheit bereits enthalten. Wir gehen, etwas mehr »top down« als Daniels, zunächst von der Frage aus, welche Art von Gütern gerechtigkeitsrelevant sind und stellen dann die Verbindung zu verschiedenen Ebenen von Gütern her. Wir glauben, dass so die gütertheoretische Grundstruktur unserer Überlegungen am klarsten herausgearbeitet wird. Ein weiterer Vorteil dieser Vorgehensweise besteht darin, dass mögliche Widersprüche deutlich werden, die durch die abweichenden Bewertungen auf den unterschiedlichen Ebenen entstehen.
Fünf Stufen zur Bestimmung gerechtigkeitsrelevanter Güter im Bereich der Gesundheitsversorgung Thomas Pogge zufolge kann man »ist gerecht« als vierstelliges Prädikat auffassen, etwa wie folgt: 17 I ist gerecht, wenn X G für Y gewährleistet. »I« steht dabei für eine Institution, etwa das Gesundheitswesen, »G« für gerechtigkeitsrelevante Güter, »X« für denjenigen, der verpflichtet ist, den Anspruch auf bestimmte Güter »G« zu gewährleisten, und »Y« steht für denjenigen, der einen solchen An16 17
Vgl. z. B. Nussbaum (2006), Sen (2009), für eine knappe Übersicht: Robeyns (2005). Pogge (1999).
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spruch geltend machen kann. »G« allgemein zu bestimmen ist eine Aufgabe der Theorie der Gerechtigkeit. Für Amartya Sen ist diese Aufgabe von zentraler Bedeutung, denn in der unterschiedlichen Lösung derselben liegt für ihn der wesentliche Unterschied verschiedener Theorien der Gerechtigkeit begründet. 18 Mit guten Gründen kann man nun Rawls Lösung dieser Aufgabe für unseren Zweck zugrunde legen. Denn Rawls hat nicht nur die einflussreichste Theorie der Gerechtigkeit der Gegenwart formuliert, sondern auch die gerechtigkeitsrelevanten Güter als »primary goods« darin so bestimmt, dass diese Konzeption selbst von Kritikern übernommen wird und als Ausgangspunkt von Modifikationen dient. Nach einer verbreiteten Grundposition sind Güter insofern gerechtigkeitsrelevant als sie allgemeine Grundvoraussetzungen der Handlungsfähigkeit und für die Realisierung individueller Freiheit darstellen. 19 Wie kann man nun eine Verbindung zwischen diesen allgemein gerechtigkeitsrelevanten Gütern und einer bestimmten altersmedizinischen Innovation herstellen, so dass daraus gleichzeitig folgt, welche dieser Innovationen Bestandteil einer gerechten Gesundheitsversorgung sein sollten? Um diese Frage zu beantworten, schlagen wir Kategorien von Gütern vor, die auf unterschiedlichen Ebenen Mengen definieren, wobei die jeweils durch die untergeordnete Ebene bestimmte Menge von Gütern in der allgemeineren enthalten sein sollte. Beginnend mit der allgemeinsten Ebene der Theorie der Gerechtigkeit sind dies: 1. Güter, die auf der Ebene einer allgemeinen Theorie der Gerechtigkeit als relevant betrachtet werden, z. B. »primary goods« nach Rawls, »capabilities« nach Nussbaum oder Sen, »ressources« nach Dworkin etc. 20 2. Güter, die auf der Ebene einer Theorie der gerechten Gesundheitsversorgung als relevant betrachtet werden, z. B. medizinische Interventionen, die das normale, speziestypische Funktionieren erhalten oder wiederherstellen. 3. Güter, die durch die gesetzlichen Kriterien der öffentlichen Gesundheitsversorgung zum Bestandteil derselben gemacht werden. Z. B. in Deutschland durch § 11 und 12 SGB V. 18 19 20
Sen (1992). Vgl. dazu ebenfalls Sen a. a. O. Sen (2009).
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Güter, die von einer bestimmten Kategorie medizinischer Interventionen erzeugt werden, z. B. im vorliegenden Fall von Interventionen, die zur Prävention von altersassoziierten Erkrankungen dienen. 5. Güter, die von einzelnen medizinischen Interventionen erzeugt werden, z. B. eine (hypothetische) Gentherapie gegen die Parkinson’sche Erkrankung. Diese Ebenen erfüllen jeweils bestimmte theoretische Funktionen. Auf Ebene 1 wird allgemein die Relevanz bestimmter Güter für die Gerechtigkeit im Zusammenhang einer umfassenden theoretischen Konzeption derselben begründet und erläutert. Die Aufgabe der Theorie der gerechten Gesundheitsversorgung ist es, eine Verbindung zwischen relevanten Gütern auf dieser Ebene und der allgemeineren Ebene herzustellen, da auf diese Weise die Argumente für den ethischen Geltungsanspruch aus dem Bereich der Theorie der Gerechtigkeit übernommen werden können. Dazu gehört, wie es Daniels tut, genauer zu bestimmen, inwiefern Gesundheit ein besonderes Gut darstellt, das in die Kategorie der gerechtigkeitsrelevanten Güter fällt, wie sie eine überzeugende Theorie der Gerechtigkeit bestimmt, oder im Idealfall, die große Mehrheit der Theorien der Gerechtigkeit. Auf Ebene 3 sollte im positiven Recht umgesetzt werden, was eine gut begründete Theorie der gerechten Gesundheitsversorgung als Bestandteil derselben definiert. Ebene 4 dient dazu mehrere medizinische Interventionen in Kategorien zu gruppieren, um so die Bewertung zu vereinfachen. Schließlich wird auf Ebene 5 danach gefragt, welches Gut oder welche Güter durch eine bestimmte medizinische Intervention erzeugt werden. Im Idealfall lässt sich eine eindeutige, einheitliche ethische und rechtliche Zuordnung vornehmen. D. h. wenn eine bestimmte medizinische Intervention, in eine Kategorie fällt, die nicht von der öffentlichen Gesundheitsversorgung übernommen wird, sollte sie weder durch die Theorie der gerechten Gesundheitsversorgung als Bestandteil einer solchen bestimmt werden, noch durch die Theorie der Gerechtigkeit. Eine medizinische Intervention, die zu einer Kategorie von Gütern gehört, die auf der Ebene der Gerechtigkeitstheorie relevant sind, sollte sich ebenfalls den relevanten Gütern auf der Ebene der gerechten Gesundheitsversorgung zuordnen lassen. Aus dieser doppelten Zuordnung sollte folgen, dass diese Intervention im Rahmen der öffentlich finanzierten Gesundheitsversorgung abgedeckt wird. Dabei sind allerdings noch Verteilungsprinzipien und Bedingungen der Res204 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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sourcenknappheit zu berücksichtigen, worauf wir noch im abschließenden Ausblick eingehen werden. Die Kategorie medizinischer Interventionen zur Prävention von Kinderkrankheiten mit bleibenden Schäden kann ohne Schwierigkeiten aufgrund des Kriteriums der normalen speziestypischen Funktionsfähigkeit der gerechten Gesundheitsversorgung zugeordnet werden. Ebenso wird sie durch die allgemeine Theorie der Gerechtigkeit durch den Bezug zur Chancengleichheit ebenfalls relevanten Gütern zugeordnet. Ein wirksamer Impfstoff gegen Kinderlähmung sollte daher aus Gerechtigkeitsgründen Bestandteil der öffentlich finanzierten Gesundheitsversorgung sein. Es ergibt sich eine einheitliche, widerspruchsfreie Bewertung auf allen Ebenen der unterschiedlichen Güterkategorien. Im Fall altersmedizinischer Innovationen ist jedoch eine solche Widerspruchsfreiheit nicht zu erwarten. Einige Kategorien altersmedizinischer Interventionen, wie z. B. solche, die auf die Heilung altersassoziierter Krankheiten abzielen, können nun ohne Einschränkung als relevant für die gerechte Gesundheitsversorgung zugeordnet werden. Für andere gilt dies möglicherweise zumindest nicht auf den ersten Blick, wie etwa für Interventionen, die primär auf ein langsameres Altern und die dadurch erreichte deutliche Steigerung der menschlichen Lebenserwartung abzielen. Während diese Kategorie durch das Kriterium des normalen speziestypischen Funktionierens nicht unmittelbar der gerechten Gesundheitsversorgung zugeordnet wird, könnte diese Einschätzung auf der Ebene der Theorie der Gerechtigkeit jedoch entgegengesetzt ausfallen. Es läge daher ein Widerspruch zwischen der normativen Einschätzung auf der Ebene der allgemeinen Theorie der Gerechtigkeit und derjenigen auf der Ebene der gerechten Gesundheitsversorgung vor, der aufgelöst werden muss. Einen Vorschlag dazu wollen wir unterbreiten, nachdem wir die einzelnen Güter auf den verschiedenen Ebenen noch etwas näher erläutert haben.
Primary goods, capabilities und gerechte Gesundheitsversorgung nach Daniels »Primary goods« dienen als Kriterien, um die Position eines Bürgers in einer Gesellschaft zu bestimmen, und gleichzeitig als Gegenstand einer möglichen gerechten Verteilung. Wie solche Güter verteilt sind, ist für 205 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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die Gerechtigkeit einer Gesellschaft entscheidend. Da nicht festgelegt werden kann, welche Ziele oder Lebenspläne jemand verfolgt, handelt es sich dabei um notwendige Vorbedingungen jeder Art von Lebensplan. Da die »primary goods« oder Grundgüter allgemeine Grundbedingungen der Handlungsfähigkeit darstellen, meint Rawls, dass ein rationaler Handelnder über diese Güter in einem möglichst großen Ausmaß verfügen will. Solche »primary goods« sind die folgenden Güter: 1. Rechte, 2. Freizügigkeit und freie Berufswahl, 3. Befugnisse und Vorrechte, die mit Ämtern und verantwortlichen Positionen verbunden sind, 4. Einkommen und Vermögen und 5. die sozialen Grundlagen der Selbstachtung. 21 Eine wichtige Alternative zu diesem Modell von Rawls besteht in der zeitgenössischen Theorie der Gerechtigkeit im capability approach, den Amartya Sen und Martha Nussbaum jeweils etwas unterschiedlich, aber im gegenseitigen Austausch entwickelt haben. Das grundlegende Argument beider lautet, dass »primary goods« nicht ausreichen um die tatsächlichen Vorteile und Chancen eines bestimmten Mitglieds einer Gesellschaft zu bestimmen. Es geht dabei vor allem um eine erweiterte Informationsgrundlage gegenüber einem Ansatz der lediglich misst, über welche Ressourcen eine Person verfügt. 22 Anstatt lediglich die Mittel zu messen, um individuelle Freiheit zu realisieren, soll dieser Ansatz den Grad der Freiheit selbst umreißen. Nicht Güter sollen entscheiden sein, sondern die Fähigkeit ein bestimmtes Leben zu führen, das ein Person für wertvoll hält. 23 Diese Fähigkeit hängt von Faktoren ab, die dazu beitragen, dass eine Person Chancen zur Verfügung hat, Güter tatsächlich in ein gutes Leben zu konvertieren. Sen benennt vier Arten solcher Faktoren: 1. Personale Heterogenität, z. B. körperliche Einschränkungen, 2. Unterschiede in der physischen Umwelt, wie das Klima, 3. das soziale Umfeld, etwa Kriminalität, 4. Unterschiede in relationalen Perspektiven, d. h. Verhaltensmuster in einer Gemeinschaft. 24 Sen beschreibt verschiedene Listen von Capabilities und deren Zielen als Aspekt oder Form eines guten Lebens. Er führt zuletzt auch ein prozedurales Element ein, um die Bestimmung offen zu lassen und einer öffentlichen Deliberation in einer bestimm21 22 23 24
Vgl. Rawls (1975), S. 111 ff. Sen (2009), 232. A. a. O., 253. A. a. O. 255.
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ten Gesellschaft zu überlassen. 25 Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Nussbaum und Sen besteht darin, dass erstere eine substantielle und universal gültige Liste vorschlägt, die zehn verschiedene »human functional capabilities« enthält, unter anderem 1. Life, 2. Bodily Health, und 4. Senses, Imagination, and Thought. 26 Insofern der biologische Alterungsprozess die »functional capabilities« einschränkt, wäre aus dieser Perspektive eine medizinische Intervention, die dies verlangsamt, gerechtigkeitsrelevant. Eine wichtigere Erweiterung eines gütertheoretischen Ansatzes besteht jedoch darin, einen größeren gesellschaftlichen Kontext zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall bedeutet das, danach zu fragen, wie ein möglicher Zugang zu altersmedizinischen Innovationen tatsächlich genutzt wird, und wie die jeweiligen Güter voraussichtlich in individuelle Chancen und deren Realisierung konvertiert werden können. Auch Norman Daniels, der von Rawls ausgeht, hat in seinem neuesten Werk den »capability approach« berücksichtigt und kritisiert. 27 Eine weitreichende Forderung der Gleichheit von »capabilities«, die individuelle Vorteile natürlicher Talente ausgleicht, weist er dabei zurück. Dagegen hält er eine bescheidenere Form der Forderung nach einem adäquaten oder ausreichenden »capability set« für äquivalent mit einem Rawls’schen Ansatz. Obwohl eine ausführlichere Diskussion der Positionen von Rawls, Sen/Nussbaum und Daniels den vorliegenden Rahmen sprengt, berücksichtigt Daniels offensichtlich den wesentlichen Punkt nicht, dass die »capabilities« nicht nur von individuellen Fähigkeiten abhängen, sondern von den oben genannten weiteren Kontexten. Er selbst schließt in seine eigene Analyse gerechter Gesundheit Public Health und soziale Determinanten ein. Gerade dadurch wäre eine Verknüpfung der unterschiedlichen Grundansätze noch einfacher, als Daniels ohnehin zu glauben scheint. Seine eigene Begründung der ethischen Bedeutung von Gesundheit und Gesundheitsversorgung als Gütern beruht dabei, wie bereits erwähnt, auf der Gewährleistung der fairen Chancengleichheit. Die Begründung hierfür lässt sich in Form einer mehrstufigen Argumentation rekonstruieren: 1. Entscheidend ist zunächst die normale Bandbreite an Chancen, die einer Person zuteil werden. Dabei handelt es 25 26 27
A. a. O. 241 ff. Z. B. Nussbaum (2000), 70 ff. Zuletzt in Daniels (2008), 65 ff.
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sich um eine normale Bandbreite an Lebenschancen innerhalb einer Gesellschaft, in Abhängigkeit von den Fähigkeiten eines Individuums. 2. Auf dieser Grundlage lassen sich berechtigte Interessen und Bedürfnisse als Vorbedingungen für mögliche Lebenspläne bestimmen. 3. Gesundheit gehört zu solchen Vorbedingungen. Eine Beeinträchtigung der normalen arttypischen Funktionsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung schränkt die Chancen eines Individuums ein. 4. Folglich ist es Aufgabe einer gerechten Gesundheitsversorgung, die normale speziestypische Funktionsfähigkeit und damit eine faire Chancengleichheit aufrechtzuerhalten oder gegebenenfalls wiederherzustellen. Darüber hinaus sind keine Ansprüche aus der Perspektive der Gerechtigkeit zu begründen, wie er in einem kurzen Abschnitt »treatment vs. Enhancement« darlegt. 28 Er vergleicht dabei sog. »enhancement« mit Luxusbedürfnissen, die als solche nicht Gegenstand der Verteilungsgerechtigkeit seien. Am Beispiel geringer, aber nicht pathologischer Körpergröße wiederholt er die Kritik am »capability approach«, dass der Nachteil durch individuelle natürliche Gaben schwer messbar und kaum immer auszugleichen sei. Außerdem sei eine allgemeine Akzeptanz ein solches enhancement durch öffentliche Mittel zu ermöglichen kaum zu erwarten. Es gibt mögliche Ausnahmen, vor allem wenn eine bestimmte Intervention Kosten spart, aber in der Regel gilt der Vorrang der Behandlung und das normale speziestypische Funktionieren sei das einzige objektive Kriterium, das auf breite Zustimmung setzen könne. Norman Daniels hat auch die Bedeutung von altersmedizinischen Innovationen, etwa solchen die das biologische Altern verlangsamen, für die faire Chancengleichheit thematisiert. Seiner Auffassung nach stellt der natürliche Alternsprozess keine Einschränkung des normalen speziestypischen Funktionierens dar. Daniels zufolge wäre daher eine faire Verteilung altersmedizinischer Interventionen, die dem Ziel dienen, die menschliche Lebensspanne über den gegenwärtig als speziestypisch angesehenen Umfang hinaus zu verlängern, für eine gerechte Gesundheitsversorgung irrelevant. 29
28 29
A. a. O., 149–155. Ders. (1981), S. 172.
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Altersmedizinische Innovationen als Güter Um zu prüfen, ob das Urteil, zu dem Daniels hinsichtlich altersmedizinischer Interventionen gelangt, überzeugen kann, ist es zunächst erforderlich, Kategorien zu entwickeln, unter die solche Interventionen subsumierbar sind. Es ist dann die Frage, ob die Güter, die mit solchen Kategorien in Verbindung gebracht werden können, vergleichbar irrelevant für die Chancengleichheit sind, wie das bei den Beispielen der Fall ist, die Daniels in seinem kurzen »enhancement«-Kapitel diskutiert. Dazu kann wie oben beschrieben die Verbindung zu den allgemeineren Ebenen des gütertheoretischen Rahmens hergestellt werden. Indem einzelne altersmedizinische Innovationen übergeordneten Kategorien zugeordnet werden, wird schließlich die ethische Bewertung vereinfacht. Wie weiter oben bemerkt, wollen wir hier Ziel 2 des verlangsamten Alterns bevorzugt berücksichtigen, daher wird Unsterblichkeit als Gut nicht in die Liste aufgenommen. Die Güter, das Ziel 1 zum Gegenstand hat, wäre die Verhinderung oder Behandlung von altersassoziierten Erkrankungen und eine Verlängerung der Lebenszeit, die frei von Einschränkungen ist, ohne dass die durchschnittliche Lebensspanne selbst deutlich angehoben wird (Morbiditätskompression). Es ist aus der hier verwendeten Perspektive nicht umstritten, dass solche Güter Bestandteil einer gerechten Gesundheitsversorgung sein können, da sie vermutlich auch mit einer Kostenersparnis verknüpft sind und so Ressourcen für andere Zwecke frei bleiben bzw. die durch den demografischen Wandel befürchtete Kostensteigerung geringer ausfallen würde. Welche Kategorien, deren Einteilung auf den erzeugten Gütern beruht, lassen sich nun bei Interventionen unterscheiden, die das biologische Altern verlangsamen? 1. Interventionen, die altersassoziierte Erkrankungen verhindern oder deren Verlauf lindern: verlangsamtes Altern bedeutet zunächst erst einmal auch die mögliche Prävention assoziierter Erkrankungen. 2. Interventionen, die bestimmte Fähigkeiten steigern bzw. erhalten, welche durch den biologischen Alterungsprozess beeinträchtigt worden sind oder voraussichtlich sonst beeinträchtigt würden. Dies reicht von Mobilität bis zu Sinneswahrnehmung und kognitiven Fähigkeiten.
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3.
Interventionen, die nicht der Behandlung von Krankheiten oder der Behebung von Funktionsstörungen dienen, sondern lediglich Wohlbefinden verbessern, das durch altersbedingte Veränderungen eine subjektive Beeinträchtigung erfährt. Davon betroffen wären etwa Falten oder graues Haar. 4. Interventionen, die erfolgreich die maximale menschliche Lebensspanne verlängern, während gleichzeitig die körperliche Leistungsfähigkeit erhalten bleibt (Verbindung zu 2.). Das zuordenbare Gut wäre Lebenszeit. Um einzelne Interventionen diesen Kategorien zuzuordnen, muss eine klare Grenze zwischen dem biologischen Altern und altersassoziierten Erkrankungen bzw. deren Prävention gezogen werden. Dies ist gegenwärtig ein stark umstrittenes Thema und kann nicht Gegenstand dieses Aufsatzes sein. 30 Die vorgeschlagene Klassifikation macht jedoch bereits deutlich, dass nicht jede dieser Kategorien durch Daniels Kriterium des normalen speziestypischen Funktionierens abgedeckt ist. Weder der längere Erhalt von Fähigkeiten, die durch das biologische Altern abnehmen (vgl. oben) noch die Verlängerung der maximalen menschlichen Lebensspanne werden durch dieses Kriterium zu einem Bestandteil einer gerechten Gesundheitsversorgung. Beides stellen jedoch Güter da, deren Bedeutung für die Chancengleichheit offensichtlich ist. Ein mögliches Beispiel wäre die genannte Steigerung oder der längere Erhalt körperlicher Kraft und Ausdauer, etwa durch eine Verhinderung des Abbaus von Muskelgewebe. Resultat wären eine verminderte Sturzgefahr, eine erhöhte Mobilität sowie die damit verbundene Möglichkeit, verschiedenen Tätigkeiten (in Freizeit und Beruf) länger als sonst nachzugehen. Innerhalb des weiter oben aufgelisteten Kategorienspektrums müssten entsprechende Interventionen unter Punkt 2. eingeordnet werden. Sie bieten die Chance, Fähigkeiten zu steigern, die durch den Alterungsprozess beeinträchtigt werden, verbunden mit einem möglichen indirekten Effekt der Lebensverlängerung. Aufgrund des fehlenden Krankheitsbezugs würde allerdings die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland die Kosten für eine solche Intervention voraussichtlich nicht abdecken. Die resultierende Sturzprophylaxe könnte jedoch andererseits die Kostenübernahme rechtfertigen, da sie Verletzungen – und damit Zustände mit unbestrittenem Krankheits30
Vgl. für eine Übersicht: Blumenthal (2003).
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wert – verhindert. Dies macht erneut deutlich, wie schwierig in diesem Zusammenhang eine Grenzziehung ist. Ferner wäre nach Daniels’ Theorie der Zugang zu einer solchen Intervention für eine gerechte Gesundheitsversorgung irrelevant, da dabei die normale speziestypische Funktionsfähigkeit nicht bloß wiederhergestellt, sondern verbessert wird. Offensichtlich fällt jedoch sowohl eine Bewertung in Bezug auf »primary goods« als auch »capabilities« aus. Eine bessere Mobilität würde es ermöglichen einen Beruf oder ein Amt länger auszuüben, sie wäre also mit dem »primary good« »Befugnisse und Vorrechte durch die Ausübung von Ämtern« verknüpft. Infolgedessen wären auch positive Auswirkungen auf Einkommen und Wohlstand zu erwarten. Selbst die sozialen Grundlagen der Selbstachtung könnten berührt sein, falls der fehlende Zugang zu einer solchen Therapie als diskriminierend empfunden würde. Auch die Handlungsfähigkeit selbst, wenn sie wie im »capability approach« der Bewertung zugrunde gelegt wird, würde gesteigert. Eine Intervention, die zu einer besseren Mobilität durch verlangsamtes biologisches Altern führt, wird nach dem gütertheoretischen Rahmen wie folgt bewertet: 1. Sie würde voraussichtlich nicht von der deutschen, gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckt, da der hierfür notwendige Krankheitsbezug fehlt. Nach § 11 SGB V müssen medizinische Maßnahmen notwendig für die Verhütung, Diagnose oder Behandlung einer Krankheit sein, damit sie übernommen werden können. 2. Nach Daniels muss sie kein Bestandteil einer gerechten Gesundheitsversorgung sein, denn das »normale speziestypische Funktionieren« ist nicht beeinträchtigt. 3. Aus einer an Rawls bzw. Sen und Nussbaum angelehnten Perspektive wäre sie prinzipiell gerechtigkeitsrelevant. Eine analoge Bewertung lässt sich ohne große Schwierigkeit für eine längere Lebenszeit als Gut herleiten. Denn hinzugewonnene Lebenszeit in einem leistungsfähigen Zustand kann als Vorbedingung für jede Art von Lebensplan, für Chancengleichheit und für das Handlungsvermögen generell gesehen werden. Da Interventionen, die das biologische Altern verlangsamen, offensichtlich in einem ganz allgemeinen Sinn zur Gesundheitsversorgung gehören – denn es handelt sich generell um medizinische Methoden, wenn auch um solche, die gegenwär211 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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tig noch nicht erfolgreich erprobt und zugelassen sind – und prinzipiell gerechtigkeitsrelevant sind, müssten sowohl Daniels’ Kriterien als auch diejenigen der öffentlichen Krankenversicherung angepasst werden. Allerdings genügt diese allgemeine Forderung nicht, um geeignete ethisch begründete Maßnahmen zu empfehlen.
Gerechte Verteilungsprinzipien und voraussichtlicher Zugang zu altersmedizinischen Innovationen Man kann Thomas Pogges Interpretation von »gerecht« als vierstelliges Prädikat noch durch Verteilungsprinzipien ergänzen. Demnach wäre I gerecht, wenn X G für Y gemäß P gewährleistet. Im Fall altersmedizinischer Innovationen kommen verschiedene allgemeine Verteilungsprinzipien infrage. Dies können entweder minimale (»sufficientarian«), prioritäre (»prioritarian«) oder egalitäre (»egalitarian«) Prinzipien sein. Ein minimales Verteilungsprinzip würde ein allgemein akzeptables Minimum des Zugangs zu altersmedizinischen Innovationen definieren. Ein prioritäres Prinzip würde nach Rawls Differenzprinzip bei gewahrter Chancengleichheit gleichzeitig den Vorrang für die am Schlechtesten gestellten fordern. Ein egalitäres Prinzip würde einen gleichen universalen Zugang zu allen gerechtigkeitsrelevanten altersmedizinischen Innovationen begründen. Aufgrund der oben erläuterten Bedeutung der relevanten Güter, kann man argumentieren, dass die Teilnehmer an einem fairen Urzustand, wie etwa demjenigen, den das Rawls’sche Gedankenexperiment des Schleiers des Nichtwissens beschreibt, ein Prinzip des akzeptablen Minimums ablehnen würden. Denn die am schlechtesten Gestellten müssten im Zweifelsfall einen beträchtlichen Unterschied bei den allgemeinen Lebenschancen durch die längere Lebensspanne hinnehmen. Das Differenzprinzip, das eines der Prinzipien ist, das aus dem fairen Urzustand bei Rawls resultiert, ist auch in diesem Fall ein akzeptables Verteilungsprinzip. Ohne dass die Chancengleichheit beeinträchtigt werden würde, könnte eine gewisse Ungleichheit zu rechtfertigen sein, wenn dadurch die am schlechtesten Gestellten einen Vorteil hätten. Ein pragmatisches Problem einer egalitären Verteilung, das hierbei insbesondere zu berücksichtigen ist, besteht in den gesteigerten individuellen Ansprüchen. Da aufgrund der existierenden Mittelknappheit und der demografischen Entwicklung nicht zu erwarten ist, 212 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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dass die zunächst als berechtigt erscheinenden Ansprüche durch die gesetzliche Krankenversicherung tatsächlich vollständig abgedeckt werden können, und da sich außerdem der Zugang zu den jeweiligen medizinischen Interventionen auf dem freien Markt kaum mit einer Einschränkung versehen lässt, ist ein vollkommen gleicher Zugang nur sehr schwer zu erreichen. Denn hierzu müssten entweder altersmedizinische Innovationen allgemein finanziert werden, oder sofern dies nicht möglich ist, der Zugang durch Verbote eingeschränkt werden. Beide Maßnahmen könnten sich als schwer durchführbar erweisen und möglicherweise auch im Einzelfall als schwer zu rechtfertigen. Ein prioritäres Verteilungsprinzip liefert dabei auch einen wichtigen Ausgangspunkt für den nächsten Schritt einer umfassenden Untersuchung im Hinblick auf den gerechten Zugang zu altersmedizinischen Innovationen. Denn hat man geklärt, um welche Güter es sich handelt und wie sie verteilt werden sollen, stellt sich die Frage, wie sie voraussichtlich im Kontext der jetzigen Gesellschaft verteilt sein werden. Insbesondere ist dabei bereits bestehende gesundheitliche Ungleichheit im Alter zu berücksichtigen und zu fragen, inwiefern sich der prognostizierte Zugang zu altersmedizinischen Innovationen dabei auf die jetzt am schlechtesten Gestellten auswirken wird. Der »capability approach« kann sich dabei wiederum als besonders nützlich erweisen, denn zieht man ihn heran, kann man hier die wichtige Frage stellen, inwiefern einzelnen Personen und Gruppen fähig sind, Vorteile, die der Zugang zu altersmedizinischen Innovationen bietet, in Lebenspläne zu konvertieren. Dabei ist vor allem die neuere Forschung zu sozialen Determinanten der Gesundheit zu berücksichtigen. Denn zahlreiche Faktoren, wie Bildung, sozialer Status, Kontrolle über das Arbeitsumfeld, Wohnumgebung Lebensstile haben ohnehin Einfluss auf den Alterungsprozess und die Lebenswartung. 31 Dies könnte sich durch eine Wechselwirkung mit altersmedizinischen Innovationen noch verstärken, vor allem wenn diese durch einen bestimmten Lebensstil unwirksam werden würden. Ferner könnte der Zugang zu altersmedizinischen Innovationen durch Faktoren eingeschränkt werden, die bereits jetzt mit Ungleichheit der Gesundheit im Alter korreliert sind. 32 Strukturelle Hindernisse eines solchen Zugangs könnten rechtliche sein, wie etwa die Krite31 32
Vgl. z. B. Marmot/Wilkinson (2006). Vgl. z. B. von dem Knesebeck/Vonneilich (2009).
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rien der öffentlichen Krankenversicherung, oder ökonomische wie das Fehlen von Ressourcen um sich den Zugang leisten zu können, bzw. allgemein Ressourcen für ein deutlich längeres Leben. Subjektive Hindernisse eines solchen Zugangs könnten Lebensstile und deren Resultate ein, wie Rauchen, ungesunde Ernährung, oder Adipositas. Auch könnten manche Personen oder Gruppen aus kulturellen Gründen und allgemeinen Einstellungen den Zugang zu altersmedizinischen Innovationen nicht suchen, wobei zu fragen wäre, ob dies auf einer aufgeklärten, bewussten Entscheidung beruht, was durchaus der Fall sein könnte. Im Hinblick auf die Gefahr der Diskriminierung oder Benachteiligung bestimmter sozialer Gruppen oder Minderheiten ist zu fragen, ob zu erwarten ist, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen von solchen Interventionen de facto ausgeschlossen sein werden. Um eine solche Entwicklung genauer einzuschätzen, muss vor allem danach gefragt werden, welche Art von Medizin in diesem Zusammenhang am Entstehen ist und wie sich der Zugang zu derselben im oben knapp umrissenen Kontext abzeichnet. Insgesamt besteht das Risiko, dass sich im Hinblick auf die bereits bestehende gesundheitliche Ungleichheit im Alter die Lage der bereits jetzt am schlechtesten Gestellten weiter verschlechtert, was aufgrund des ethischen Rahmens, den wir hier umrissen haben, zu vermeiden wäre. Da sowohl ein allgemeiner Zugang wie ein durch Verbote eingeschränkter Zugang keine geeigneten Mittel zu sein scheinen, wäre eine Alternative zu suchen. Wie bereits an anderer Stelle dargelegt, 33 schlagen wir vor unter Berücksichtigung der umrissenen empirischen Fragen (welche Art von Medizin? Wer hat voraussichtlich Zugang? Wodurch wird dieser Zugang eingeschränkt? Welche Gruppen oder Personen sind dadurch am schlechtesten gestellt?) entsprechende Prioritäten in der öffentlich finanzierten Forschung zu setzen. Auf eine systematische Weise, die bisher völlig in den existierenden Förderprogrammen fehlt, müsste dabei der Zugang zu möglichen Interventionen berücksichtigt werden und wie mögliche Hindernisse beseitigt werden könnten. Voraussichtlich kostensparende Interventionen, die daher einen breiteren Zugang ermöglichen, sollten bevorzugt werden. Ferner müsste auch berücksichtigt werden, durch welche ergänzenden Maßnahmen, etwa solche, die sich auf die sozialen Determinanten der Gesundheit beziehen, der Zugang zu solchen Innovationen tatsächlich die Chancen und die 33
Ehni/Marckmann (2009)
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Handlungsfähigkeit oder »capability« der am schlechtesten Gestellten steigern kann.
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Hans-Jörg Ehni, Georg Marckmann Equity. In: Harvard Center for Population and Development Studies Working Paper Series 99 (2) Rawls J. (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. Robeyns, I. (2005): The capability approach: a theoretical survey. In: Journal of Human Development 6 (1), S. 93–117 Schulkin, J. (2008): Medical decisions, estrogen and aging. Berlin Sen, A. (1992): Inequality reexamined. New York – (2009): The idea of justice. Cambridge United States (2001): Health products for seniors. Washington, DC Vincent, J. A. (2009): Ageing, Anti-ageing, and Anti-anti-ageing: Who are the Progressives in the Debate on the Future of Human Biological Ageing? In: Medicine Studies 1 (3), S. 197–208
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III. Maßstäbe für gutes Altern jenseits von Jugend und Fitness
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Der Traum ewiger Jugend Anti-Aging-Medizin als Verdrängungsstrategie eines Leidens an der verrinnenden Zeit? Claudia Bozzaro
1.
Einleitung
Eines der klassischen Ziele der Medizin neben der Behandlung von Krankheiten ist die Linderung von Leiden. Vertreter der Anti-AgingMedizin verweisen zur Legitimierung ihres medizinischen Handelns darauf, dass das Altern Ursache von Leiden sei und daher behoben werden müsse. 1 Dabei scheint der Hinweis auf das Leiden per se eine hinreichende Begründung für medizinisches Handeln zu sein. Aus ethischer Sicht ist dies keineswegs verwunderlich, gehört die moralische Verpflichtung zur Leidenslinderung zum Kernbestand wirkungsmächtiger Traditionen wie der Mitleidsethik und des Utilitarismus. 2 Der Imperativ der Leidenslinderung kann allerdings nicht in un-differenzierter Weise gelten, sondern muss der Tatsache Rechnung tragen, dass der Begriff des Leidens höchst problematisch ist, da er rein subjektive Erfahrungen bezeichnet und völlig heterogene Erlebnisse umfasst. 3 Es versteht sich von selbst, dass die Medizin nicht für jegliches Leiden zuständig sein kann. Es stellt sich daher die Frage, ob und inwiefern der Rekurs auf den Leidensbegriff zur Legitimation eigener Zielsetzungen seitens der Anti-Aging-Medizin gerechtfertig ist. Um diese Frage zu klären, muss untersucht werden, auf welches Leiden die AntiAging-Medizin reagiert. Nimmt man den Begriff Anti-Aging-Medizin wörtlich, so geht es darum, eine Medizin gegen das Altern zu etablieren, was wiederum bedeuten würde, dass ein Leiden am Altern – wohlgemerkt nicht lediglich an altersbedingten Erkrankungen – gelindert oder geheilt werden soll. Doch was genau heißt es, am Altern zu leiden? 1 2 3
De Grey (2005); Harris (2007). Hühn (2007). Vgl. dazu: Wandruszka (2009).
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Diese Frage kann auf indirektem Weg durch eine Analyse der Angebote und der Versprechen der Anti-Aging-Medizin beantwortet werden. Als erster Schritt der folgenden Überlegungen soll daher durch eine exemplarische Analyse der Vermarktungsrhetorik der AntiAging-Medizin gezeigt werden, dass deren Zielsetzung schlussendlich auf die Verheißung des Traumes ewiger Jugend hinausläuft (II). Anschließend soll diese Zielsetzung selbst einer kritischen Reflektion unterzogen werden, um zu klären inwiefern sie ein erstrebenswertes Ziel darstellt und ob dieses durch medizinisches Handeln erfüllt werden sollte. Dafür werden weitere drei Punkte auszuführen sein. Als Erstes soll geklärt werden, warum die Jugend im Vergleich zum Alter so attraktiv erscheint. Dabei wird sich zeigen, dass dasjenige, was die Jugend und das Alter unterscheidet, nicht so sehr eine unterschiedliche körperliche Verfassung ist, sondern ein verschiedenes Zeiterleben. Der Alterungsprozess wird zwar anhand physischer Veränderungen offensichtlich, aber im Wesentlichen stellt er eine zeitliche Erfahrung dar: die Konfrontation mit der eigenen endlichen und verrinnenden Lebenszeit. Diese oft als leidvoll erfahrene Konfrontation soll, so die hier vertretene These, durch die Abschaffung des Alters umgangen werden. Der Traum ewiger Jugend kann daher im Umkehrschluss als eine Reaktion auf ein Leiden an der verrinnenden Zeit verstanden werden (III). Des Weiteren soll gezeigt werden, worin das Leiden an der verrinnenden Zeit besteht. Es handelt sich dabei nämlich nicht um ein Leiden an der eigenen Endlichkeit, verstanden als die eigene Sterblichkeit. Vielmehr geht es um das Leiden an den beschränkten Verwirklichungsund Erfüllungsmöglichkeiten, die dem Einzelnen auf Grund der Begrenztheit der eigenen Lebenszeit zu Verfügung stehen (IV). Zuletzt soll gezeigt werden, dass die Anti-Aging-Medizin einer Verdrängung des Leidens an der verrinnenden Zeit Vorschub leistet, indem sie dieses somatisiert und dabei die Tatsache verdeckt, dass die körperlichen Veränderungen im Altern zwar die Symptome, nicht aber die Ursache des Leidens am Alter darstellen. Dadurch weitet sie den Wirkungsbereich der Medizin auf existentielle Erfahrungen aus und fördert eine bedenkenswerte Verdrängung und nicht eine Linderung des eigentlichen Leidens am Altern (V).
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Der Traum ewiger Jugend
2.
Anti-Aging-Medizin
2.1. Zielsetzungen und Angebote der Anti-Aging-Medizin Mit der Gründung der American Academy of Anti-Aging Medicine 4 im Jahr 1993 trat eine neue medizinische Spezialdisziplin in Erscheinung die seither eine enorme Verbreitung und Popularität erlangt, daneben aber auch für erhebliche Kontroversen gesorgt hat – Robert Binstock spricht gar von einem »Krieg«. 5 Kontrovers diskutiert wurden dabei nicht lediglich fachinterne Positionierungsfragen – beispielsweise das Verhältnis zur Geriatrie –, sondern maßgeblich die wissenschaftliche Fundiertheit und Seriosität der heterogenen Palette an AntiAging-Mitteln und Maßnahmen sowie die grundlegende Frage, ob es eine Anti-Aging-Medizin geben sollte – was voraussetzen würde, dass das Altern als unnormal und krankhaft angesehen werden müsste und nicht als ein natürlicher und notwendiger Lebensprozess 6 – und ob es eine Anti-Aging-Medizin überhaupt geben kann – da noch nicht geklärt ist, wovon der Alterungsprozess abhängt, herrscht keine Einigkeit über die Möglichkeiten, in den Alterungsprozess intervenieren zu können. 7 Problematisch ist darüber hinaus die Tatsache, dass der Begriff Anti-Aging-Medizin zu einem erfolgreichen Label geworden ist, das ein buntes Spektrum an unterschiedlichen Maßnahmen und verschiedenartigen Zielsetzungen bezeichnet, so dass die Rede von der AntiAging-Medizin irreführend ist. Der Begriff wird sowohl zur Bezeichnung von Ansätzen benutzt, die als reine Präventivmaßnahmen mit dem Ziel eines gesunden Alterns zu gelten haben, als auch für Anliegen, die dem Bereich der so genannten Enhancementmedizin, also der Optimierungsmedizin, zuzuordnen sind. Hierbei geht es um Bestrebungen, welche unter dem Motto Jugend statt Alter gefasst werden können, und die eine Verbesserung der Lebensqualität im Altern anvisieren – wobei die eingeforderte Lebensqualität im Alter an Leistungsund Funktionsmaßstäben der Jugend gemessen wird – und um noch ehrgeizigere Projekte, welche durch genetische Eingriffe das Ziel einer 4 5 6 7
Im Folgenden A4M. Binstock (2003). De Grey (2005); Harris (2007); Callahan (1998), S. 125–132; Kass (2001). Fossel (2002); Olshansky, Hayflick and Carnes (2002).
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gänzlichen Abschaffung des Alterns, und damit einhergehend eine Erweiterung der maximalen Lebensspanne des Menschen anvisieren. 8 Um diese letzten beiden Formen von Anti-Aging-Medizin soll es im Folgenden gehen. Ob die Versprechen der Anti-Aging-Medizin, Jugendlichkeit im Alter zu erhalten oder gar das Altern gänzlich abzuschaffen, tatsächlich eingelöst werden können oder ob es sich dabei um bloße Utopien handelt, sei hier offen gelassen. Auch unabhängig von der Realisierbarkeit ist das Versprechen der Anti-Aging-Medizin auf Grund der breiten öffentlichen Resonanz von Interesse und soll einer kritischen Reflektion unterzogen werden. Dafür soll exemplarisch dargestellt werden, wie dieses Versprechen formuliert und an die Öffentlichkeit herangetragen wird.
2.2. Anti-Aging-Rhetorik Der Begriff Anti-Aging-Medizin wurde von Ronald Klatz und Robert Goldman ins Leben gerufen, die an der Gründung der A4M, der wirkungsmächtigsten Institution im Bereich der Anti-Aging-Medizin, beteiligt waren. Ihre Definition von Anti-Aging-Medizin lautet folgendermaßen: Anti-aging Medicine is a medical speciality founded on the application of advanced scientific and medical technologies for the early detection, prevention, treatment, and reversal of age-related dysfunctions, disorders, and diseases. It is a healthcare model promoting innovative science and research to prolong the healthy lifespan in humans. 9
Anti-Aging-Medizin wird als Erweiterung der Präventivmedizin verstanden und hat dementsprechend die Aufgabe, altersbedingte Krankheiten und altersbedingte Gebrechen frühzeitig zu diagnostizieren, präventiv Maßnahmen zu entwickeln und dazu beizutragen die gesunde Lebensspanne des Menschen zu verlängern. Die A4M präsentiert sich auf ihrer offiziellen Homepage als eine Institution, die 20.000 Mitglieder (Mediziner, Wissenschaftler, Angestellte im Gesundheitswesen) aus 105 Ländern zählt und als unbestrittener Führer in der Ver-
8 9
Stuckelberger/Wanner (2008). Klatz (2002).
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breitung der Anti-Aging-Medizin in der Welt angesehen ist. 10 Ihr Ziel ist die Förderung von Technologien zur Prävention von altersassoziierten Krankheiten sowie die Ausbildung von Medizinern. 11 Obwohl die A4M von der American Medical Association 12 nicht anerkannt wird, bietet sie Weiterbildungsprogramme für Ärzte, Zahnärzte, Osteopathen, Chiropraktier usw. mit einer eigenen Zertifizierung an, organisiert regelmäßige internationale Kongresse und gibt die Zeitschrift Anti-Aging Medical News heraus. Obwohl sich die A4M als eine Non-profit Organisation versteht, 13 findet sich auf ihrer offiziellen Homepage der Hinweis zu einer alljährlich stattfindenden internationalen Anti-Aging-Show, die unter dem Motto: »It’s about looking and feeling years younger« steht. Geworben wird für die Anti-Aging-Show mit folgendem Text: Come and explore the hundreds of anti-aging products and services available to help you stay young, look young and feel healthier. Talk one on one with TOP doctors from around the world, medical spa directors, beauty, health and wellness experts and anti-aging experts and more. This show is all about you and it’s dedicated to all the options available to better yourself. Come join us and you too can feel good about yourself again! 14
Das Ziel der Veranstaltung ist hier klar definiert: Es geht um eine Wiedergewinnung und Steigerung des eigenen Wohlbefindens, und dieses soll durch Jugendlichkeit und Gesundheit erlangt werden. Das Angebot 10 »The American Academy of Anti-Aging Medicine (A4M) is a US federally registered 501(c) 3 non-profit organization comprised of 22,000-plus member physicians, health practitioners, scientists, governmental officials, and members of the general public, representing over 105 nations.« www.worldhealth.net 11 »The A4M is dedicated to the advancement of technology to detect, prevent, and treat aging related disease and to promote research into methods to retard and optimize the human aging process. The A4M is also dedicated to educating physicians, scientists, and members of the public on biomedical sciences, breaking technologies, and anti-aging issues.« www.worldhealth.net, abgerufen am 09. 02. 2008. 12 Die größte Standesvertretung von Ärzten und Medizinstudenten in den USA. 13 »The A4M seeks to disseminate information concerning innovative science and research as well as treatment modalities designed to prolong the human lifespan. AntiAging Medicine is based on the scientific principles of responsible medical care consistent with those of other healthcare specialties. Although the A4M seeks to disseminate information on many types of medical treatments, it does not promote or endorse any specific treatment nor does it sell or endorse any commercial product.« www.worldhealth.net, abgerufen am 09. 10. 2008. 14 Vgl. dazu: www.theantiagingshow.com/Vegas/LasVegasHome.html, abgerufen am 09. 10. 2008. Die Seite ist direkt über die Seite der A4M abrufbar.
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der Anti-Aging-Show reicht von wissenschaftlichen Seminaren (von der A4M organisiert) bis hin zu Live-Eingriffen, die vor Ort durchgeführt werden (Botox, Restylan Wrinkle Microdermabrasion, Scrubs, Hair and Eyelash Extensions, Non-Surgical Facelifts, Detoxifications usw.). Es geht letztendlich um ein Potpourri aus »fun, education, wonder, shopping, show specials, on-site demonstrations, non-invasive procedures and so much more!« 15 Laut der oben genannten Definition will sich die Anti-Aging-Medizin als Präventivmedizin gegen Krankheiten und Gebrechen des Alters verstanden wissen, doch letztendlich wird sie zur Anbieterin von Lifestyle-Produkten. 16 Das Beispiel der A4M zeigt deutlich, wie seriöse medizinische und wissenschaftliche Ansätze sowie die Vermarktung von reinen Lifestyle-Produkten fließend ineinander übergehen. Dadurch verschiebt sich auch die Zielsetzung der Erweiterung der gesunden Lebensspanne, durch Prävention und Behandlung von altersassoziierten Krankheiten hin zum Erhalt der Jugendlichkeit und der Steigerung des Wohlbefindens. Anders als in den Vereinigten Staaten hat sich in Europa die AntiAging-Medizin vergleichsweise unbemerkt und ohne lautstarke Kontroversen hervorzurufen, verbreitet. Doch auch hier wird mit einer vergleichbaren Rhetorik für Anti-Aging-Maßnahmen geworben und der fließende Übergang von Maßnahmen für ein gesundes bzw. gutes Alter und so genannten Enhancement-Maßnahmen, die Fitness, Leistungsfähigkeit und Jugendlichkeit ermöglichen sollen, ist ebenfalls zu beobachten. 17 Wenn man die Vermarktungsrhetorik der zahlreichen deutschVgl. dazu: www.theantiagingshow.com/Vegas/LasVegasHome.html, abgerufen am 09. 10. 2008. 16 »Aesthetic and Anti-Aging Medicine is expected to reach $ 106 billion dollars by the year 2009 and $ 115.5 billion by the year 2010«, so die Einschätzung von Ronald Klatz. www.theantiagingshow.com /Vegas/A4MSeminarsVegas.html, abgerufen am 09. 10. 2008. 17 Auf der Homepage des Anti-Aging-Instituts von Dr. Klenze, dem Generalsekretär der europäischen Anti-Aging-Gesellschaft (ESAAM), findet sich beispielsweise folgende Definition: »Wir verstehen Anti-Aging als Präventivmedizin nach modernsten Erkenntnissen der Biochemie, Genetik und Medizin. Unser Ziel ist die Beeinflussung von Alterungsprozessen auf molekulargenetischer und biochemischer Ebene, Vermeidung altersbedingter Erkrankungen und den Erhalt von Vitalität, Leistungsfähigkeit und Jugendlichkeit.« www.anti-aging.med.de. Aufgerufen am 14. 02. 2008. Einerseits wird der Bezug zur klassischen Zielsetzung der Prävention und der Behandlung altersbedingter 15
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sprachigen Anti-Aging-Anbieter im Internet 18 unter dem Stichwort gutes Alter untersucht, stößt man immer wieder auf folgende Gleichung: Ein gutes Alter ist in erster Linie ein gesundes Alter, d. h. ein gutes Alter wird nur durch Gesundheit ermöglicht. Wie kommt diese Gleichung zustande? Die Argumentationskette verläuft folgendermaßen: Wer gesund und körperlich fit ist, ist leistungsfähig, autonom und aktiv, daher erfolgreich und attraktiv, ergo selbstzufrieden. Daraus ergibt sich der Schluss: Gesundheit ist der Schlüssel zum guten bzw. erfolgreichen Altern. Das Credo dieser Form von Anti-Aging-Medizin lässt sich auf ein einziges Stichwort reduzieren: körperliche Gesundheit. 19 Es ist unbestritten, dass körperliche Gesundheit einen hohen Wert hat, und es versteht sich von selbst, dass ein gesunder körperlicher Zustand Lebensmöglichkeiten erschließt, die im Falle der Krankheit verschlossen bleiben. Doch damit ist die Annahme, dass ein gesundes Alter zugleich ein gutes, also ein erfülltes und damit ein erstrebenswertes Alter sei, keineswegs begründet. Es wird suggeriert, dass aus einem gesunden körperlichen Zustand, durch einen nicht näher bestimmten Automatismus alle weiteren positiven Aspekte, die das Leben erfüllen, einhergehen. Dies kann aber nur dann legitim sein, wenn man ernsthaft davon ausgeht, dass sich das menschliche Leben auf körperliche Zustande reduzieren lässt und demnach äußerliches Erscheinen und körperliches Wohlbefinden die einzige Art und Weise unseres Verhältnisses zu uns selbst, zur Welt und den Mitmenschen ist. Während die Anti-Aging-Medizin mit dem Anspruch auftritt, den Menschen in seiner Ganzheit anzusehen, verfällt sie letztlich in einen Körper-Monismus. Die Hochstilisierung der Gesundheit zum Passepartout für das gute Alter beeinflusst zugleich auch das Bild des Alters, das im Bereich der Anti-Aging-Medizin propagiert wird. Krankheiten hergestellt, andererseits wird der Bereich des Lifestyle betreten durch die Zielsetzung des Erhalts von Vitalität, Leistungsfähigkeit und Jugendlichkeit. 18 Aktuell findet man über die Suchmaschine Google an die 25.900.000 Einträge unter dem Stichwort Anti-Aging-Medizin. Dabei handelt es sich meistens um Werbeeinträge von Anti-Aging-Praxen, Kliniken, Produkten. Stand am 03. 02. 2010. 19 Daraus wird meistens die Forderung hergeleitet, jeder müsse die Verantwortung für den Verlauf des eigenen Alterungsprozesses selbst übernehmen. Dies führt dazu, dass Gesundheit nicht mehr als Gabe, sondern als Produkt der eigenen Anstrengungen aufgefasst wird. Dadurch, so bemerkt John Butler zu Recht, wird eine Haltung gefördert, die zur Diskriminierung kranker älterer Menschen führt. Vgl. dazu: Butler (2001); Hayflick (2000).
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Alexander Römmler, der Präsident der German Society for AntiAging Medicine, ist der Auffassung, der Alterungsprozess des Menschen könne und müsse verhindert werden, da er kein natürlicher und schon gar nicht ein notwendiger Prozess sei. »Altern ist unnormal« 20 schlussfolgert Römmler im Gegenteil und weist, den Vorwurf der Pathologisierung 21 umkehrend, daraufhin, dass »die degenerativen Alterungsprozesse derzeit offiziell nicht als krankhaft definiert werden, da sie von vielen als alterstypisch, normal (daher etwas auch gesund?) angesehen werden.« 22 Anders gesagt, bedeutet allein die Tatsache, dass man den degenerativen Alterungsprozess heute noch als »normal« bewertet, nicht, dass er deshalb erstrebenswert sei. Erstrebenswert sei dagegen, so Römmler, ein »langes Leben in Gesundheit – und damit ein »hohes Alter« in Lebensjahren gerechnet – (…) »Aging« im Sinn von Altern bzw. Alterung ist dagegen als krankhafter körperlicher Prozess anzusehen, der zu chronischen Erkrankungen und schließlich zum vorzeitigen Tod führt.«23 In diesem Zitat wird die Dichotomie ersichtlich zwischen den Begriffen Alter und Altern. Das Wort Alter bezeichnet im Deutschen ein Zweifaches: Eine hohe Zahl von Lebensjahren, also den letzten Lebensabschnitt eines Menschen, oder aber schlicht eine Anzahl von Jahre, ein Lebensalter. In beiden Fällen wird der Begriff rein quantitativ und wertneutral verwendet. Das Wort Altern meint dagegen den Prozess des Alt-Werdens. Dieser Prozess ist oft negativ konnotiert, da er als ein irreversibler Verfallsprozess angesehen wird, durchsetzt mit Krankheiten, Gebrechen und Unannehmlichkeiten, kurz Leiderfahrungen verschiedener Art. Dieser Differenzierung folgend, wäre das, was durch die Anti-Aging-Medizin erzielt werden soll, ein hohes Alter ohne Altern. Ein gutes Alter wäre daher erst einmal ein hohes Alter. Doch dies ist lediglich eine quantitative, nicht aber eine qualitative Aussage. Worin bestünde dann das Gute am Alter? Das Gute besteht aus drei Schlagwörtern, die man unweigerlich im Zusammenhang mit AntiAging-Angeboten findet: Vitalität, Leistungsfähigkeit und Jugendlich-
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Interview mit A. Römmler in der Zeit 18/2002. Vgl. den Beitrag von Eichinger in diesem Band. Römmler (2003), S. XI. Römmler (2003) S. XI. Hervorhebung von C. Bozzaro.
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keit. Das gute Alter, das durch die Anti-Aging-Medizin erreicht werden soll, liegt in einer hohen Anzahl an jugendlichen Lebensjahren. Jugend und Alter sind per definitionem zwei Lebensphasen, die man daher anders benennt, weil sie durch andere Merkmale und Lebensinhalte gekennzeichnet sind. Wenn nun das Alter mit dem Lebensinhalt Jugend gefüllt werden soll, so kommt dies faktisch einer Abschaffung dieser Lebensphase zu Gunsten einer Verlängerung und, wie Giovanni Maio bemerkt, einer »Ideolosierung« der jungen und mittleren Phase gleich. 24 Ein gutes Alter besteht der Rhetorik vieler Anti-Aging-Anbieter zufolge in einer rein quantitativen Erweiterung der Lebenserwartung, die mit dem Lebensinhalt Jugendlichkeit gefüllt werden soll. Es wird hieraus ersichtlich, dass das Versprechen der Anti-Aging-Medizin schlussendlich in der impliziten Verheißung der Erfüllung des Traumes von ewiger Jugend besteht.
3.
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Der Traum ewiger Jugend ist ein Thema, das sich konstant durch die gesamte abendländische Kulturgeschichte zieht: vom Gilgamesch-Epos über den griechischen Mythos von Eos, und Cranachs Darstellung des Jungbrunnens bis hin zu Wildes Das Bildnis des Dorian Gray reichen die künstlerischen Darstellungen dieses Traumes. Auch der Ehrgeiz von Wissenschaftler und Laien hat sich an diesem Traum entflammt und sie dazu angeregt, nach dem Elixier der ewigen Jugend zu forschen: Alchimisten suchten nach dem »Stein des Wassers« als Verjüngungsmittel oder nach der richtigen Zusammensetzung von Metallen, der Säfteaustausch mit jungen Frauen, sowie der Verzehr von Stierhoden wurden im Verlauf der Geschichte als probate Verjüngungsmittel gefeiert. 25 Parallel dazu lässt sich eine ebenso lange Tradition ausmachen, welche die unerwünschten Folgen der ewigen Jugend thematisiert hat. 24 Maio bemerkt diesbezüglich: »Mit allen Mitteln nicht alt aussehen zu wollen und nicht gebrechlich sein wollen, ist somit Ausdruck einer Ideologisierung der mittleren Lebensphase.« Maio (2006), S. 349. Zur Debatte über die Bedeutung einer Einteilung des Lebens in Lebensphasen vgl.: Callahan (1988); Overall (2004). 25 Zur Geschichte des Anti-Aging vgl.: Minois (1987) sowie: Trüeb (2006).
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In der Orestie von Aischylos langweilen sich die unsterblichen Götter und neiden den Menschen ihre Sterblichkeit, durch die erst jeder Augenblick einzigartig wird. In De Beauvoirs Roman Alle Menschen sind sterblich sowie in Capeks Die Sache Makropoulos sind die unsterblichen und ewig jung bleibenden Protagonisten desillusionierte, einsame und gelangweilte Hauptfiguren. Die Gefahr der Langeweile und des Lebensüberdrusses wie auch die Angst vor dem Verlust an Lebensintensität sind die gängigen Motive, mit denen auch heute Kritiker von Unsterblichkeitsambitionen argumentieren. 26 Seitdem durch den medizinischen und technischen Fortschritt die Realisierung des Traumes ewiger Jugend immer wahrscheinlicher erscheint, werden ebenfalls sozioökonomische sowie ökologische Folgen diskutiert. 27 Was bezüglich des Traumes ewiger Jugend meistens nicht explizit problematisiert wird, ist dessen angebliche Selbstverständlichkeit, beziehungsweise die Frage, wodurch der Wunsch nach ewiger Jugend motiviert ist. Was soll überhaupt durch die Verwirklichung ewiger Jugend erreicht werden? Diese Frage stellt sich erst recht in Anbetracht der Tatsache, dass es durch den medizinischen Fortschritt der letzten beiden Jahrhunderte gewissermaßen bereits gelungen ist, den Traum ewiger Jugend zu verwirklichen: Die aktuelle durchschnittliche Lebenserwartung ist in den westlichen Ländern bereits doppelt so hoch wie die Lebenserwartung um die Mitte des 19. Jahrhunderts. 28 Es kann daher gesagt werden, dass heutige Generationen bereits zwei, wenn nicht gar drei mal so lange leben wie ihre Vorfahren. Selbstverständlich ist diese Entwicklung begrüßenswert, doch ist ebenso offensichtlich, dass die gewonnene Lebenszeit und Lebensqualität das Verlangen nach noch mehr Jugend keineswegs gestillt haben. Im Gegenteil wird »der Wunsch nach Lebensverlängerung«, wie der Theologe Heinz Rüegger zu Recht bemerkt, »mit jeder Erfüllung, die er erfährt, erneut generiert.« 29 Dies lässt die Vermutung aufkommen, dass die bloß quantitative VerlängeVgl. dazu: Kass (2001). Vgl. dazu: Ehni/Markmann (2009); Jonas (1992). 28 Vgl. die vom statistischen Bundesamt erstellte Tabelle zur Lebenserwartung in Deutschland unter: www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/ Content/Statistiken/Bevoelkerung/GeburtenSterbefaelle/Tabellen/Content50/Lebens erwartungDeutschland,templateId=renderPrint.psml 29 Rüegger (2007). 26 27
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rung der Lebenszeit oder die bloße Verlängerung der Jugendphase seien gar nicht per se das anvisierte Ziel. Der Traum ewiger Jugend scheint vielmehr Ausdruck einer Sehnsucht zu sein, die man als anthropologische Konstante annehmen muss. Um zu klären, worauf sich diese Sehnsucht bezieht, muss erst einmal deutlich werden, worin sich die Jugend und das Alter im Wesentlichen unterscheiden und was daher die Jugend so attraktiv macht.
3.1. Das Zeiterleben als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Jugend und Alter 3.1.1
Alter und Körperlichkeit
Abgesehen von äußeren Merkmalen wie der Schönheit der Jugend oder der höheren Leistungs- und Funktionsfähigkeit, – allesamt Merkmale, welche laut Anti-Aging-Medizin keineswegs mehr der Jugend vorbehalten sein müssen –, gibt es einen Aspekt, der die Jugend und das Alter unweigerlich unterscheidet, nämlich die Zeit. 30 Wie vital, fit und voller jugendlichem Elan ein älterer Mensch auch sein mag, eines steht fest: Er hat immer schon mehr Lebenszeit hinter sich und weniger vor sich als dies in der Jugend der Fall war. Das Altern wird meistens als ein körperliches Phänomen betrachtet. Dies hängt damit zusammen, dass man den Alterungsprozess anderer Menschen, aber auch den eigenen, primär anhand körperlicher Veränderungen wahrnimmt; doch bei näherem Hinsehen weisen die körperlichen Veränderungen auf etwas anderes, nämlich das Verrinnen der Zeit. In der Wiedergefundenen Zeit beschreibt Marcel Proust, wie der Protagonist, nach vielen Jahren der Abwesenheit eine Gruppe alter Bekannter trifft und bestürzt ist über die teilweise grotesken Veränderungen ihres Äußeren. Doch was ihn am meisten betroffen macht, ist, dass die Zeit plötzlich mit bloßem Auge sichtbar wird: »ich bemerkte«, so schildert er die Situation, »zum ersten Mal an den Metamorphosen, die sich an allen diesen Leuten vollzogen hatten, die Zeit, die für sie 30 Im Folgenden wird die Rede von »dem Alter« oder »dem alten Menschen« sein. Beide Ausdrücke sollen hier als Chiffren dienen, um einige besondere Züge des vielschichtigen Phänomens Alter zu bezeichnen. Die Darstellung skizziert ein extremes Bild des Alters, um daran deutlicher Aspekte hervorzuheben, die für unsere Thematik relevant sind, das als solches aber nicht zu verallgemeinern ist.
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vergangen war; das aber trug mir die bestürzende Offenbarung ein, dass sie ebenso für mich vergangen war.« 31 Auch der alltägliche Sprachgebrauch trägt dem Zusammenhang zwischen körperlichen Veränderungen und Zeitvergehen Rechnung, wenn beispielsweise in Bezug auf ein stark gealtertes Gesicht gesagt wird: die Zeit habe ihre Spuren auf ihm hinterlassen. Der Körper ist also der Ort, an dem das Verrinnen der Zeit sichtbar wird. Doch was hat das Verrinnen der Zeit speziell mit dem Alter zu tun? Vergeht die Zeit für die Jugend nicht genauso wie für das Alter? Diese Frage kann aus unterschiedlichen Perspektiven beantwortet werden. Wenn man unter Zeit die so genannte physikalische, also die objektiv messbare Zeit meint, so vergeht diese gleichermaßen für die Jugend wie für das Alter. Betrachtet man die Zeit hingegen aus der Perspektive der individuellen, subjektiven Zeit, so verändert sich das Zeiterleben in der Jugend von dem Zeiterleben im Alter grundlegend. Wie sich die Sicht des alternden Menschen auf die Zeit verändert und weshalb die Zeit dadurch zum Problem wird, soll gleich besprochen werden, doch zunächst muss eine Definition des Alterns eingeführt werden, da sie für den weiteren Verlauf der Überlegungen relevant ist. In Anlehnung an den Philosophen Thomas Rentsch kann man das Altern als einen Prozess der »Radikalisierung« der menschlichen Grundsituation und als ein »Werden zu sich selbst« definieren. 32 Im Altern kommen nämlich Grundstrukturen, die sich faktisch durch das gesamte Leben ziehen, auf eine dringlichere und deutlichere Weise zum Vorschein und machen dadurch ihre Relevanz für das menschliche Leben erkennbar. Das Alt-werden ist dadurch gekennzeichnet, dass alle Dimensionen des menschlichen Lebens – die leibliche, die zeitliche, die kommunikativ-soziale usw. – eine meist negativ konnotierte Verschärfung erfahren. In jeder Dimension treten Störungen – in Form von Verlusterfahrungen, Mangelzuständen, Schmerzerfahrungen, Entfremdungserlebnissen usw. – auf, die den unbeschwerten Lebensablauf durchkreuzen und dessen Selbstverständlichkeit in Frage stellen. Doch gerade diese Störungen sind es, die den Einzelnen auf den Wert und die Bedeutung dessen, was verloren geht, aufmerksam machen. Analog spricht Hans Georg Gadamer von der Verborgenheit der Gesundheit: 31 32
Zit. nach: De Beauvoir (1993), S. 245–246. Rentsch (1992).
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Wir vergessen sie, solange wir gesund sind und erkennen ihren Wert erst, wenn sie beeinträchtigt ist. 33 Auf leiblicher Ebene erfolgt im Alterungsprozess eine Radikalisierung durch eine »Materialisierung« 34 des Körpers. 35 Durch Krankheiten, Gebrechen und körperliche Einschränkungen, wie sie im Alter typisch sind, kommt der Körper, den man sonst im alltäglichen Tun kaum bewusst wahrnimmt, immer stärker zum Vorschein und zwingt den Einzelnen zur Auseinandersetzung mit der eigenen Leiblichkeit. Während der junge und gesunde Mensch in der Regel selbstverständlicher Herr des eigenen Leibes ist und diesen für seine Zwecke einsetzen kann, erfährt der Alte eine Umkehrung dieses Verhältnisses, indem ihn sein Körper durch seine immer häufiger werdenden Dienstverweigerungen zum »Sklaven seiner Launen« macht. Durch den Verlust von selbstverständlichen Körperfunktionen, durch die Erfahrung von Schmerz, aber auch schlichtweg durch die Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes wird der Einzelne auf seine leibliche Konstitution verwiesen und festgelegt. 3.1.2. Alter und Zeitlichkeit Ein ähnlicher Prozess vollzieht sich auf zeitlicher Ebene. Arthur Schopenhauer hat in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit den Unterschied zwischen dem Zeiterlebnis des jungen und dem des alten Menschen folgendermaßen beschrieben: Vom Standpunkt der Jugend aus gesehen, ist das Leben eine unendlich lange Zukunft, vom Standpunkt des Alterns aus eine sehr kurze Vergangenheit; so dass das Leben sich anfangs uns darstellt wie die Dinge, wenn wir das Opernglas ans Auge legen, zuletzt aber wie wenn das Okular. Man muß altgeworden seyn, also lange gelebt haben, um zu erkennen, wie kurz das Leben ist. 36
Während man in der Jugend durch Hoffnungen, Pläne und Erwartungen eine gespannte Ausrichtung auf eine unbegrenzt erscheinende Zukunft hat, reduziert sich diese Ausrichtung im Alter, denn die Zukunft Gadamer (1993). Amèry (2005). 35 Die »Materialisierung« des Körpers ist eine Erfahrung, die nicht ausschließlich im Alter erlebt werden kann. Auch Erfahrungen des Schmerzes oder der Krankheit führen zu einem veränderten Empfinden des eigenen Körpers. Vgl. dazu Grüny (2004). 36 Schopenhauer (1974 /1851), S. 243. 33 34
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des alten Menschen schrumpft aufgrund des sich unweigerlich nähernden Todes, täglich. Obwohl jeder um die Notwendigkeit des eigenen Sterbens weiß, »glaube niemand«, so Sigmund Freud, »an seinen eigenen Tod, oder, was dasselbe ist: Im Unbewussten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt.« 37 Während der junge, gesunde Mensch die Illusion der eigenen Unsterblichkeit aufrechterhalten kann, da das Ende seiner Zukunft nicht in Sichtweite ist, steht der alternde Mensch vor einer durch den sich nähernden Tod versperrten Zukunft und kann die Auseinandersetzung mit der Tatsache nicht mehr aufschieben, dass seine Lebenszeit eine begrenzte und vergehende Zeit ist, dass seine Zeit eben nicht die Ewigkeit, sondern die Endlichkeit ist. Will er in der ihm verbleibenden Zeit dem Leben noch etwas abgewinnen, so wird der alternde Mensch den vergänglichen Charakter der Zeit nicht mehr ignorieren können, zumal ihn der Verlust seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten oft zu Langsamkeit zwingt und dies das unaufhaltsame Verrinnen der Zeit noch stärker hervorhebt. Darüber hinaus erfährt die durch den eigenen Körper erzwungene Langsamkeit unter den Voraussetzungen moderner Gesellschaften eine weitere Radikalisierung. Denn, wie der Soziologe Hartmut Rosa betont, ist »die konstitutive Grunderfahrung der Moderne eine ungeheure Beschleunigung« 38 aller Lebensprozesse. Die rasanten Neuerungen der Technik und die immer schneller werdende Wissensvermittlung in einer medialen und globalen Welt, welche der älterwerdende Mensch nur noch mit Mühe nachvollziehen kann, führen häufig zum Ausschluss des Alternden. Da er das sich ständig beschleunigende gesellschaftliche Tempo nicht mehr halten kann, wird der alte Mensch, etwas überspitzt gesagt, zurückgelassen und auf sich selbst zurückgeworfen. Dadurch verschärft sich das Gefälle zwischen der eigenen begrenzten Lebenszeit und der äußeren, gesellschaftlich und geschichtlich unbegrenzt erscheinenden Zeit noch deutlicher. Doch nicht nur der vergängliche Charakter der Zeit wird dem alternden Menschen auf Grund der Radikalisierung des Zeiterlebens deutlich, sondern ebenfalls die Endgültigkeit des Vergehens der eigenen Lebenszeit. Während der junge Mensch Entscheidungen immer 37 38
Freud (1946), S. 341. Rosa (2005), S. 71.
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noch auf ein Morgen vertagen und Hoffnungen und Erwartungen auf eine ungewisse, offene Zukunft projizieren kann, steht vor dem Alten nur noch der Tod und hinter ihm sein Leben als ein vergangenes, entschiedenes und unwiderrufliches Werk. Derjenige, der im Alter auf eine glückliche Vergangenheit zurückblicken kann, wird aus ihr Trost schöpfen oder gar Erfüllung erfahren; aber die Erinnerung an eine glückliche, aber dennoch unwiederbringliche Vergangenheit kann ebenfalls Wehmut, Nostalgie und Verzweiflung über ihren Verlust hervorrufen. Erst recht wird derjenige verzweifeln, der sein Leben lang mit seiner Gegenwart und seiner bis dahin gelebten Vergangenheit nicht einverstanden war und daher auf die Zukunft hin gelebt hat und es letztlich nicht vermochte, sich von ihr zu scheiden, und sich nun, da es keine offene Zukunft mehr gibt, als auf diese Vergangenheit festgelegt erfährt. Gerade der Aspekt der Endgültigkeit und Unwiederbringlichkeit des Zeitvergehens kennzeichnet allerdings auch eine andere Facette des Alters: die in ihm stattfindende Verdichtung, aufgrund derer das Altern auch als ein Prozess des Werdens zu sich selbst verstanden werden kann. Sofern das Vergangene in seiner Unwiederbringlichkeit unveränderbar geworden ist, hat es eine Gestalt angenommen, die nun in ihrer Ganzheit sichtbar wird. Der Alte, der nicht mehr mitten im Geschehen aktiv ist, hat gerade dadurch die nötige Distanz, um Zusammenhänge und Strukturen zu erkennen. Im Alter liegt dem Einzelnen sein gesamtes Leben vor Augen, mit seinen Sinngestalten, aber auch mit seinen Verfehlungen und Brüchen. Daher sieht Thomas Rentsch, dem antiken Topos der Altersweisheit folgend, im Alter die Chance, »das menschlich Wichtige vom vielen Unwichtigen zu unterscheiden.«39 Das Zeiterleben eines alten Menschen, so kann zusammenfassend festgehalten werden, besteht letztendlich in der unumgehbaren Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit. Diese zeitliche Konfrontation beinhaltet zwei wesentliche Aspekte: einerseits das unaufhaltsame Verrinnen der eigenen Lebenszeit, das dem Einzelnen gerade durch ihr »Zu-Ende-Gehen« bewusst wird, und andererseits die Endgültigkeit und Unwiederbringlichkeit der eigenen vergangenen Lebenszeit. Etwas pointiert könnte man sagen, dass im Gegensatz zur Jugend, die die Zeit
39
Rentsch (1992): hier S. 303.
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nicht wahrnimmt, weil sie noch unendlich viel davon vor sich zu haben scheint, das Alter keine Zeit mehr hat, sondern seine Zeit geworden ist.
3.2. Anti-Aging-Medizin als Verdrängung der Endlichkeitserfahrung Wenn das Zeiterleben das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen Jugend und Alter ist, so folgt daraus, dass das Ziel, welches durch die Behebung des Alterungsprozesses und den Erhalt der Jugend anvisiert wird, letztlich die Abschaffung des Zeiterlebens im Alter ist. Das Zeiterleben des Alters besteht in dem »Gewahr-Werden« der Endlichkeit der eigenen Lebenszeit. Die Anti-Aging-Medizin zielt letztlich auf eine Abschaffung der Endlichkeitserfahrung ab. An dieser Stelle ist eine Präzisierung vonnöten, denn mit Abschaffung der Endlichkeit ist nicht gemeint, dass die Sterblichkeit des Menschen, also die Faktizität des Todes eliminiert werden soll. So weisen die meisten Befürworter von Anti-Aging-Medizin explizit darauf hin, dass ihr Ziel nicht eine gänzliche Abschaffung des Todes sei, sondern lediglich die Abschaffung des Alterstodes. Durch die Verhinderung des Alterungsprozesses wäre theoretisch ein Zustand der Unsterblichkeit erlangt; allerdings, so der englische Bioethiker und Anti-Aging Befürworter John Harris, bedeutet Unsterblichkeit nicht Unverwundbarkeit: »We should note that immortality is not the same as invulnerability, and even ›immortals‹ could die or be killed.« 40 Wenn Menschen nicht mehr altern würden, sondern ihre Körper sich immer und immer wieder regenerieren könnten, würden sie zwar nicht mehr an dem so genannten Alterstod sterben, und es würde sich potenziell die Möglichkeit ergeben, unbegrenzt leben zu können; da sie dabei aber nicht unverwundbar wären, würden sie faktisch nach wie vor durch andere Todesursachen sterben. Der Tod würde durch die Abschaffung des Alters nicht verhindert werden. Er wäre weiterhin ein unverfügbares und unvorhersehbares Widerfahrnis. In gewisser Weise würde sich der unverfügbare Charakter des Todes sogar verschärfen, denn während man in Bezug auf den Alterstod eine einschätzbare Zeitspanne für sein Eintreten ausrechnen kann, würde nach der Abschaffung des Alters der Tod viel mehr als jetzt ein gänzlich unvorhersehbares und zufälliges Ereignis sein. 40
Harris (2007).
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Wenn die Sterblichkeit des Menschen nicht abgeschafft werden kann, so stellt sich die Frage, worin dann die Abschaffung der Endlichkeitserfahrung besteht, worin also der wesentliche Unterschied zwischen einem Leben mit Alterstod und einem Leben ohne diesen besteht. Was unterscheidet den Alterstod von anderen Todesfällen? Der Unterschied ist durch die Tatsache gegeben, dass die meisten Todesfälle unvorhersehbar sind und daher plötzlich eintreten, während der Alterstod, zumindest in den westlichen Industrienationen, berechenbar, dass heißt absehbar geworden ist. 41 Der Alterstod dient somit als Maßangabe dafür, wie viel Lebenszeit dem Einzelnen im Idealfall zusteht. Dies bietet wiederum die Möglichkeit, das eigene Leben mit Blick auf das zur Verfügung stehende Quantum an Zeit zu entwerfen und zu planen. Ein Leben ohne Alterstod wäre dagegen ein Leben, das keine einschätzbare Ausrichtung mehr auf sein Ende ermöglichen würde. Dadurch würde eine bewusste Ausrichtung des Lebens auf sein Ende hin was Martin Heidegger das »Vorlaufen zum Tode« genannt hat, abhanden kommen. 42 Der Alterstod begrenzt deshalb anders das Leben des Menschen, als der plötzliche Tod, weil man sich bewusst auf ihn ausrichten kann, da er von vornherein die Zeitlichkeit des eigenen Lebens festlegt. Wenn der Tod, der das Ende des Lebens, d. h. das Ende der eigenen Lebenszeit markiert, dagegen gänzlich unvorhersehbar ist, verliert das Leben selbst seinen Endlichkeitscharakter und damit zusammenhängend auch seine zeitliche Ausrichtung. Es wird ersichtlich, dass das, was durch die Behebung des Alters und der damit zusammenhängenden Einsicht in die eigene Sterblichkeit letztlich erreicht werden soll, weniger eine Verdrängung des Todes als punktuelles einmaliges Ereignis ist, 43 sondern vielmehr die Verdrängung der Bewusstwerdung der zeitlich-endlichen Konstitution menschlichen Lebens. Daraus wird ersichtlich, dass der Traum ewiger Jugend durch den Wunsch motiviert ist, die Endlichkeitserfahrung, verstanden als die Erfahrung der eigenen endlichen und daher verrinnenden Zeitlichkeit, 41 Laut Angaben des statistischen Bundesamts haben bereits heute neugeborene Männer eine Lebenserwartung von 77, 17 und Frauen von 82, 40 Jahren und Prognosen sagen eine weitere Steigerung an. 42 Vgl. dazu: Heidegger (1979). 43 Im Gegenteil: während im Mittelalter die mors repentina gefürchtet wurde, weil sie dem Sterbenden keine Gelegenheit bot sich auf den Tod vorzubereiten, ist der plötzliche Tod heute zum Ideal geworden. Ariés (2005).
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zu umgehen. Anders gewendet bedeutet dies, dass der Wunsch nach ewiger Jugend durch ein Leiden an der verrinnenden Zeit generiert wird. Die Tatsache, dass die Abschaffung der Endlichkeitserfahrung von Seiten der Anti-Aging-Medizin durch die Abschaffung des Alters von statten gehen sollte, erklärt sich wiederum daraus, dass das Verrinnen der Zeit im Alter in aller Deutlichkeit ersichtlich wird. Der Umstand aber, dass sich die Anti-Aging-Medizin nicht an die jetzigen Alten, sondern an Menschen im jungen und mittleren Erwachsenenalter wendet, lässt den Schluss zu, dass die Endlichkeitserfahrung bereits früher, wenn auch in veränderter Weise, erfahrbar ist.
4.
Das Leiden an der verrinnenden Zeit
Worin besteht das Leiden an der verrinnenden Zeit? Es wurde gezeigt, dass die Jugend die Zeit faktisch nicht wahrnimmt, weil sie einen unbegrenzt erscheinenden Zeithorizont vor sich hat, in dem sie sich entfalten kann. Im Alter dagegen sind die Zeit und damit zusammenhängend die eigenen Lebensmöglichkeiten erschöpft, und dem Alten bleibt lediglich das Betrachten der von ihm realisierten oder aber verfehlten Lebensmöglichkeiten. Zwischen den beiden Extremen der Jugend und des Alters vollzieht sich der Prozess des Alterns. Als zeitliches Phänomen bedeutet Altern eine ständige Zunahme der Vergangenheit und ein äquivalentes Schrumpfen der Zukunft. Die Zunahme von vergangener Zeit bedeutet nicht nur eine gleichwertige Minderung der zukünftigen Zeit, sondern eine Begrenzung von zukünftigen Lebensmöglichkeiten. Die in der Vergangenheit bereits gelebten Erfahrungen, die realisierten oder verfehlten Pläne, die wahrgenommenen oder verstrichenen Möglichkeiten haben einen Lebenskontext, eine Lebensgeschichte ergeben, die den künftigen Horizont an noch zu erlebenden Erfahrungen, an noch zu entwerfenden Plänen und offenen Möglichkeiten im vorhinein eingrenzen und beschränken. Indem der Einzelne durch sein Handeln eine Lebensgeschichte entwirft, definiert er sich als die Person, die dieses und jenes getan, gedacht, gewünscht hat und nicht anderes. 44 Durch Handeln eine Lebensgeschichte zu entwerfen, ist eine Bedingung
44
Vgl. dazu: Bieri (1986).
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menschlichen Lebens, welche sich, wie Hannah Arendt betont, aus der Natalität des Menschen ergibt. 45 Der Vollzug einer Lebensgeschichte geht zwangsläufig mit dem Ausschluss anderer möglicher Lebensgeschichten einher. Jede erlebte Erfahrung und jede getroffene Entscheidung schließen andere mögliche Erfahrungen und Entscheidungen aus. Lebensmöglichkeiten zu realisieren und damit eine Lebensgeschichte zu entwerfen, ist daher immer mit dem schmerzhaften Verzicht auf andere Lebensmöglichkeiten verbunden. Man kann davon ausgehen, dass Menschen unterschiedliche Talente und Interessen haben, sowie völlig disparate Pläne und Wünsche, die sie in verschiedenster Weise realisieren könnten. Und dennoch steht ihnen gerade aufgrund der zeitlich-endlichen Konstitution menschlichen Lebens nur der Vollzug einer Lebensgeschichte zu. Diese Tatsache kann in zweifacher Hinsicht problematisch sein: einerseits geht damit eine ständige Frustration der eigenen Selbstverwirklichungsansprüche einher, da man nicht alle möglichen Facetten der eigenen Person entfalten kann und nicht alle Vorstellungen und Wünsche verwirklichen kann; andererseits stellt sich dadurch die schwierige Frage nach den Kriterien, anhand derer die Entscheidung zu Gunsten der einen oder der anderen Möglichkeit gefällt werden sollen. Eine Frage, die deshalb brisant ist, da sie letztlich über das Gelingen oder aber das Misslingen der eigenen Lebensgeschichte entscheidet. Sofern man sich der Tatsache bewusst ist, dass man als Autor der eigenen Lebensgeschichte auch die Verantwortung für ihren Verlauf trägt, wird ersichtlich, dass der Entwurf der eigenen Lebensgeschichte leicht zur Überforderung des Einzelnen führen kann. Die Frustration, sich entscheiden zu müssen, angesichts der Vielheit dessen was man machen und sein könnte, sowie die Überforderung angesichts der Entscheidungskriterien erfahren unter den Voraussetzungen moderner westlicher Gesellschaften eine Verschärfung. Die starke Individualisierung, welche moderne Gesellschaften prägt, und die Tatsache, dass das Individuum nicht mehr als Teil eines übergreifenden, wohlgeordneten Ganzen verstanden wird – wie es noch in der griechischen Antike oder in der christlichen Tradition der Fall war –, führt zu einer starken Aufwertung des individuellen Lebens. »Die vertikale Bewegung der Auferstehung im Jenseits«, so schildert Dietrich 45
Vgl. dazu: Arendt (2002).
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von Engelhardt diese Verschiebung, »wird in die Horizontale des Diesseits verlegt.« 46 Sofern man die eigenen Glücks- und Erfüllungserwartungen nicht mehr auf ein »ewiges Leben« im Jenseits projiziert, hängt alles Glück und das Streben nach Erfüllung von Möglichkeiten ab, die sich im Hier und Jetzt ergeben müssen, nämlich in jenem einen Lebensentwurf, den man eigenständig und selbstverantwortlich gestalten muss. Parallel zu dem individuellen Anspruch der Selbstverwirklichung wächst in der modernen westlichen Gesellschaft – Peter Gross spricht dabei von der »Multi-optionsgesellschaft« 47 – das Angebot an Verwirklichungsmöglichkeiten so rasch, dass das Leben unwahrscheinlich kostbar wird: denn es bleibt immer weniger Zeit für immer mehr Möglichkeiten und Wünsche. Die Menschen, so sieht es der britische Soziologe Michael Young »sind sich vermehrt bewusst, dass es andere Orte auf der Welt gibt, wo sie sein könnten, zusammen mit anderen Männern oder mit anderen Frauen, in anderen Zusammenkünften bei anderen Konferenzen oder Ausstellungen, auf anderen Wanderwegen. Sie könnten andere Bücher lesen, in anderen Mondnächten.« 48 Die Angst, das Wichtigste und Beste zu versäumen, wird zum Grundgefühl des Lebens. Hans Blumenberg hat diese kollektive Neurose als das Leiden unter der Schere gedeutet, die sich zwischen der begrenzten Lebenszeit und der unbegrenzten Weltzeit auftut. 49 Die Angst, das Eigentliche zu versäumen, die Frustration, die aus der Tatsache erwächst, überhaupt entscheiden zu müssen, statt alles, was man will, ausprobieren und ausleben zu können, sowie die Orientierungslosigkeit oder Überforderung in Anbetracht des reichen Angebots an Verwirklichungsmöglichkeiten ergeben das Leiden an der verrinnenden Zeit. Durch ihr Verrinnen zwingt die Zeit den Einzelnen dazu, Lebensmöglichkeiten zu verwirklichen. Sie zwingt Entscheidungen herbei, unbekümmert darüber, ob der Einzelne diese nun treffen will oder nicht. Aus dieser »Herrschaft der Zeit« 50 kann sich der Einzelne nicht freimachen. Selbst wenn er keine Entscheidung trifft, so trifft er sie dennoch, wenn auch in einer uneigentlichen Weise, indem er nämlich 46 47 48 49 50
v. Engelhardt (2006), S. 243. Gross (2005). Young zit. nach Nowotny (1993), S. 138. Vgl. dazu: Blumenberg (1986). Vgl. dazu: Theunissen (1991).
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die Zeit, und damit eine bestimmte Lebenskonstellation, mit den damit zusammenhängenden besonderen, weil einmaligen Möglichkeiten verstreichen lässt. Er überlässt die Entscheidung schlicht dem »Lauf der Dinge.« Das Verrinnen der Zeit macht zugleich die Notwendigkeit der »richtigen« Entscheidung so dringend. Denn da man die Zeit nicht zurückdrehen kann, können getroffene Entscheidungen, verfehlte Lebensgeschichten und verpasste Chancen nicht einfach ungeschehen gemacht werden. Das Leiden an der verrinnenden Zeit besteht im Wesentlichen aus drei Aspekten: erstens in der Frustration des unbegrenzten Begehrens nach immer mehr Glück und Erfüllungsmöglichkeiten, in der Beschneidung und Eingrenzung des individuellen Selbstverwirklichungsanspruches; zweitens in der Überforderung, in Anbetracht der vielfältigen Lebensoptionen, Kriterien für die »richtige« Entscheidungsfindung auszuloten und drittens in der Angst bzw. in der Trauer darüber, verpasste Möglichkeiten und Chancen nicht noch einmal erleben zu können. Wie bereits gesagt wurde, ist das Leiden an der verrinnenden Zeit nicht identisch mit dem Leiden an der endenden und unwiederbringlich vergangenen Zeit, von welchem ältere Menschen betroffen sein können. Das Leiden an der verrinnenden Zeit hängt mit dem Altern zusammen und betrifft somit bereits Menschen im jüngeren und erwachsenen Alter, die deshalb die Zielgruppe der Anti-Aging-Medizin darstellen. Es soll nun gezeigt werden, wie die Anti-Aging-Medizin auf das Leiden an der verrinnenden Zeit reagiert.
5.
Anti-Aging-Medizin als Verdrängungsstrategie des Leidens an der verrinnenden Zeit
5.1. Reaktionen der Anti-Aging-Medizin auf das Leiden an der verrinnenden Zeit Die Anti-Aging-Medizin bietet drei Bewältigungsstrategien im Umgang mit dem Leiden an der verrinnenden Zeit an, die sich jeweils auf einen der Aspekte dieses Leidens beziehen. Die erste Strategie besteht in dem Versuch, die Zeit zu entgrenzen, indem die menschliche Lebensspanne ad infinitum erweitert wird. 239 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Auf die Frustration über das Scheitern des eigenen Selbstverwirklichungsanspruches wird mit der Forderung und der Verheißung einer Erweiterung der menschlichen Lebensspanne reagiert. Befürworter dieser starken Form der Anti-Aging-Medizin wie de Grey, Fossel oder Harris 51 postulieren das Leben des Einzelnen als absoluten und höchsten Wert mit der Begründung, dass das Leben der einzige Ort sei, an dem Glück erfahren werden kann. Dementsprechend wird jegliche Form von Lebensverlängerung implizit zur Lebensverbesserung deklariert, da sie die Möglichkeit steigere, Glück zu erfahren. Aus dieser Hypostasierung des Lebens zum höchsten Wert wird ein uneingeschränkter moralischer Imperativ der Lebensrettung abgeleitet. Dementsprechend müsse der Tod, der das Ende des Lebens sanktioniert und damit gegen den Imperativ der Lebensrettung verstößt, vermieden werden. Da wiederum das Alter im wortwörtlichen Sinne als eine Krankheit zum Tode aufgefasst wird, also als eine Krankheit, deren unvermeidlicher Ausgang der Tod ist, ergibt sich die Forderung nach der Abschaffung des Alters, um dadurch den Tod zu vermeiden und das Leben mit den damit zusammenhängenden Möglichkeiten des Glücks zu bewahren. Wie bereits gezeigt wurde, gehen die Befürworter der Lebensverlängerung selbst davon aus, dass der Tod nicht gänzlich abgeschafft werden kann. Was durch die Abschaffung des Alters und des Alterstodes verhindert wird, ist lediglich die Bewusstwerdung der eigenen Endlichkeit. Dadurch lässt sich faktisch nicht die Zeit entgrenzen, sondern ihre Endlichkeit und Begrenztheit werden unkenntlich machen, um dadurch die leidvolle Auseinandersetzung mit ihr zu umgehen. Die zweite Strategie der Bewältigung des Leidens an der verrinnenden Zeit besteht darin, das Verrinnen der Zeit anzuhalten, indem man das Altern verhindert und durch Jugendlichkeit ersetzt. Dadurch soll der Druck der Entscheidungsfindung bezüglich der zu realisierenden oder aber zu verwerfenden Lebensmöglichkeiten behoben werden: Wenn die Zeit nicht vergeht, so bleibt der Horizont an zukünftigen Lebensmöglichkeiten weiterhin offen, und Entscheidungen können suspendiert und vertagt werden. Durch den Erhalt von Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit werden auf körperlicher Ebene die »Spuren der Zeit« wegretuschiert, um dadurch das Verrinnen der Zeit unsichtbar zu machen. 51
Vgl. dazu: De Grey (2005), Harris (2007), Fossel (2002).
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Die dritte Strategie zielt darauf ab, die Zeit umzudrehen. Das Leiden an der verrinnenden Zeit ist auch Ausdruck der Angst, versäumte Erfahrungen nicht mehr nachholen zu können. Um auf diesen Aspekt reagieren zu können, muss die Zeit nicht lediglich angehalten, sondern sogar zurückgedreht werden. Hierfür bietet die Anti-Aging-Medizin ebenfalls eine Lösung, indem sie sich die Unterscheidung zwischen biographischem bzw. chronologischem und biologischem Alter zu Nutze macht. Während mit dem biographischen oder chronologischen Alter die geläufige zeitliche Altersangabe gemeint ist, die sich nach dem Geburtsdatum errechnet, bezeichnet man mit biologischem Alter den Zustand des Körpers und die geistige Fitness. Während das biographische Alter eine feste Größe darstellt, ist das biologische Alter durch eine gewisse Plastizität ausgezeichnet, und »kann vom biologischen Alter in erheblichem Maße abweichen. Und zwar in beide Richtungen.« 52 Die Anti-Aging-Medizin verfolgt das Ziel »das biologische vom chronologischen Lebensalter abzukoppeln und die biologischen Alterungsprozesse zu verlangsamen.« 53 Das biologische Alter hängt von unterschiedlichen, äußerst individuellen Faktoren ab. Diese werden durch so genannte Biomarker 54 gemessen, um dann, durch ein individuelles Anti-Aging-Programm dahingehend beeinflusst zu werden, dass sie zu einer Reduzierung des biologischen Alters führen. »Mit einem maßgeschneiderten Programm«, so das Angebot, »können Sie lernen, ab jetzt mit jedem weiteren Geburtstag biologisch jünger zu werden. Dafür ist es erfreulicherweise nie zu spät. Praktisch jeder Mensch kann tatsächlich die Uhr ein paar Jahre zurückdrehen oder anhalten.« 55 In einem weiteren Prospekt heisst es: »Mit der richtigen Hormon-, Vitamin- und Mineralstoffdosis, einer Prise Kraft- und Ausdauertrainig und viel Humor können Sie ihr wahres Alter (Real Age) bis zu 20 Jahre zurückkurbeln.« 56 Die angeführten Zitate zeigen deutlich, dass hier eine Sphärenvermengung stattfindet, die symptomatisch ist für die Anti-Aging-Medizin im Allgemeinen. Das Altern, verstanden als zeitlicher Prozess der Zunahme der Vergangenheit und der Minderung der Zukunft, wird
52 53 54 55 56
Jacobi et al. (Hg.) (2005), S. 378. Ebenda. Vgl. dazu: Römmler (2003), S. 29 f. www.internationale-praxis.de/biologisches-alter.html. Abgerufen am 22. 02. 2010. Hansen (2002), S. 30.
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umgewandelt und auf einen körperlichen Prozess reduziert. Die oben beschriebene Tatsache, dass das Verrinnen der Zeit an körperlichen Veränderungen offensichtlich wird, dient als Anlass, um jene körperlichen Veränderungen zur eigentlichen und alleinigen Dimension des Alterungsprozesses zu deklarieren. Eine »Verjüngung« auf körperlicher Ebene wird dann mit einer »Verjüngung« der Zeit schlichtweg gleichgesetzt. Alle drei Bewältigungsstrategien sind zu guter Letzt als fadenscheinige Lösungsansätze zu beurteilen, da sie die Zeit weder zu entgrenzen, noch aufzuhalten oder umzudrehen vermögen. Was sie vermögen, ist, das individuelle Zeiterleben zu täuschen. Dadurch wird das Leiden an der verrinnenden Zeit nicht geheilt, sondern verdeckt und womöglich erträglicher gemacht. Wobei die Täuschung das Leiden selbstverständlich nur so lange erträglicher macht, wie sie aufrechterhalten werden kann. Ist die Täuschung als solche einmal erkannt, wird das Leiden vermutlich noch unerträglicher als das, was verdeckt werden sollte.
5.2. Die Somatisierung des Leidens an der verrinnenden Zeit Zu Beginn wurde die Frage aufgeworfen, ob und in welchem Sinne die Medizin für die Linderung eines Leidens am Altern zuständig ist oder sein sollte. Der Imperativ der Leidenslinderung zählt zu den klassischen Zielen der Medizin. 57 Vertreter der Anti-Aging-Medizin verweisen zur Legitimation ihrer Zielsetzungen darauf, dass das Altern ein Leidensprozess sei, der deshalb behoben werden müsse. Wie gezeigt wurde, geht es dabei aber nicht darum, lediglich altersassoziierte Erkrankungen zu beheben, sondern den Alterungsprozess als solchen. Doch ist, nach der bisher durchgeführten Analyse der Verweis auf den Leidensbegriff in Bezug auf das Altern seitens der Anti-Aging-Medizin legitim? Um diese Frage zu beantworten, soll zum Schluss anhand eine Einteilung von Leidenstypen der Leidensbezug der Anti-Aging-Medizin beurteilt werden. Gemäß Emil Angehrn lassen sich zwei Hauptformen des Leidens unterscheiden: das schmerzhafte Leiden (Typ 1) und das reflexive Lei57
Vgl. dazu: Callahan et al. (1996), S. 28 f.
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den (Typ 2). Beiden liegt als Vorrausetzung das passive »Erleiden« zu Grunde. 58 Es beschreibt das simple Affiziert-werden, das HinnehmenMüssen von etwas, das dem Subjekt zustößt. Mit dieser Fähigkeit, affiziert zu werden, wird eine grundlegende Struktur der conditio humana bezeichnet. Das passive Erleiden hat dabei stets eine doppelte Valenz: einerseits ist darin die Möglichkeit einer positiven Interaktion mit der Umwelt begründet (in Form von sinnlichen Empfindungen und Wahrnehmungen, Gefühlen, ästhetischer Empfänglichkeit, zwischenmenschlichen Beziehungen), andererseits ist darin die Möglichkeit einer negativen Affizierung enthalten. Das passive Erleiden ist in der leiblichen – daher endlichen, begrenzten und verwundbaren – Verfasstheit menschlichen Lebens begründet. Diese an sich wertneutrale Passivität kann selbst eine negative Färbung annehmen und als Ursache von Leiden erfahren werden, wenn sie im Gegensatz zur Eigentätigkeit und Selbstaffirmation des Subjekts als Begrenzt-Werden erlebt wird. Wenn Passivität und Aktivität nicht mehr als sich gegenseitig bedingende Grundkomponenten des Lebens angesehen werden, sondern das TätigSein-Wollen die Überhand gewinnt und einen absoluten Machtanspruch äußert, wird die Passivität selbst als Negativum erfahren. Die erste Form des Leidens (Typ 1) besteht in dem Erleiden von etwas Negativem, dem Erdulden von etwas, das dem eigenen Streben zuwiderläuft. Diese Leidform kann sich in zwei unterschiedlichen Weisen äußern: als unerfülltes Bedürfnis bzw. unerfüllter Wunsch und damit als Mangel, oder als aktives Verletztwerden, als Erleben eines zugefügten Schmerzes. Anders als die erste Leidform ist diese durch ihren negativen Charakter gekennzeichnet. Sowohl der Mangel als auch der zugefügte Schmerz sind Zustände, die immer als nicht-sein-sollend empfunden werden und damit auf einen Sollzustand verweisen, der in der Leiderfahrung verschlossen ist. Das reflexive Leiden (Typ 2) ist eines, das nicht durch ein unmittelbar negatives Erlebnis ausgelöst wird, sondern von der Interpretation und der Stellungnahme, die das Subjekt gegenüber sich selbst, seiner Umwelt und den eigenen Sinnkonstrukten einnimmt, abhängig ist. Es setzt daher ein Verstehen und Interpretieren des eigenen Zustandes voraus. Verzweiflung, Angst und Trauer sind Erfahrungen eines reflexiven Leidens. Diese grobe Differenzierung ist hilfreich bei der Klärung des Pro58
Angehrn (2003).
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blems, das sich durch die Anti-Aging-Medizin in Bezug auf den Leidensbegriff stellt. Hier wird nämlich ein reflexives Leiden (Typ 2), das sich auf ein passives Erleiden bezieht, so behandelt, als wäre es ein physisches Widerfahrnis (Typ 1). Wie gezeigt wurde, ist das, was sich hinter dem Wunsch nach ewiger Jugend verbirgt, ein existentielles Leiden: nämlich das Leiden an der endlichen und daher verrinnenden Lebenszeit, die jedem Einzelnen zur Verfügung steht, und, die ihn dazu zwingt, Entscheidungen zu treffen, die immer mit dem Verlust anderer angestrebter Lebensmöglichkeiten einhergehen. Durch die Vertuschung und Abschaffung des Alterns, wie sie durch die Anti-AgingMedizin anvisiert werden, können die Erfahrung und die Erkenntnis der eigenen, endlichen und begrenzten Natur vordergründig umgangen werden. Dies entspricht allerdings nicht einer Linderung des Leidens an der eigenen Endlichkeit und Verletzbarkeit, sondern lediglich einer Verschiebung und Verdeckung desselben. Die Verschiebung wird dadurch vollzogen, dass das Leiden an der eigenen Endlichkeit, also ein existentielles, reflexives Leiden (Typ 2), somatisiert wird und in ein pathologisches Leiden (Typ 1) umgewandelt wird, das den Vorteil hat, mittels medizinisch-technischer Maßnahmen therapierbar zu sein. Diese Verkehrung ist in zweifacher Hinsicht problematisch: zum einen, weil sich die Medizin dadurch in einen Bereich begibt, der nicht mehr mit den klassischen Zielen der Medizin vereinbar ist, da es nicht darum geht, ein pathologisches Leiden (Typ 1) zu lindern, sondern das Leiden an den Bedingungen menschlichen Lebens selbst zu behandeln. 59 Dadurch werden Lebensprozesse, die bisher als »natürlich« oder »normal« aufgefasst wurden, pathologisiert und in den Zuständigkeitsbereich der Medizin überführt. Zum anderen wird die unhintergehbare und unverfügbare Faktizität der eigenen Endlichkeit als eigentliche Ursache des Leidens verdrängt und dadurch womöglich die Chance einer gelingenden Auseinandersetzung mit demselben verdeckt. Dies gilt umso mehr, als das passive Erleiden, welches in der leiblichen und endlichen Konstitution menschlichen Lebens begründet ist, zwar das Risiko birgt, Negatives erleiden zu können, zugleich aber die Bedingung dafür ist, überhaupt etwas erleben zu können. Daher muss mit dem Philosophen Bernhard Waldenfels davor gewarnt werden, dass »mit den Quellen des Leidens nicht auch die Quellen des Lebens verstopf
59
Vgl. den Beitrag von Eichinger in diesem Band.
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und damit die Erfahrungen, die wir mit der Welt, mit andern und mit uns selbst machen, austrocknen.« 60
6.
Schluss
Der Mensch ist ein »Zeitmängelwesen.« 61 Dieser konstitutive Mangel wird im Alter besonders offensichtlich durch das faktische »Zu-EndeGehen« der eigenen Lebenszeit. Das Alter bietet daher in radikalisierter Weise die Möglichkeit der Einsicht in die wesentliche Inkongruenz der eigenen endlichen Lebenszeit und der unendlichen Weltzeit. Die Spannung zwischen der eigenen endlichen Natur und der Unendlichkeit der individuellen Verwirklichungs- und Erfüllungsansprüche kann die Anti-Aging-Medizin letztlich nicht lösen. Sie kann aber die Einsicht in die unhintergehbare Faktizität dieser Spannung verdecken, indem sie Narkotika gegen die Erfahrbarkeit der Zeit bietet, dadurch prophylaktisch vor der Einsicht in die eigene Endlichkeit schützt und das Leiden an der verrinnenden Zeit verdeckt und erträglicher macht. Durch diese Anästhesierung der Endlichkeitserfahrung besteht allerdings die Gefahr, dass der Zugang zu einem gelingenden Lebensvollzug verloren geht. Denn gerade die Einsicht in die eigene Endlichkeit kann für den Einzelnen die entscheidende Bedingung für einen gelingenden Lebensvollzug sein, sofern sie ihn dazu nötigt, qualitative Entscheidungen zu treffen. Die notwendige Voraussetzung, um eine qualitative Entscheidung treffen zu können, ist ein Maßstab, an dem das Gute bemessen wird. Es versteht sich von selbst, dass gerade in einer modernen »Multioptionsgesellschaft« die Frage nach den Werten und Kriterien, an denen man sich orientiert, um die »richtige Entscheidung« zu fällen, immer schwerer auszuloten ist. Nichtsdestoweniger ist die Frage nach dem guten Leben und nach dem guten Alter von einer Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Guten abhängig und nicht von der rein quantitativen Erweiterung der Lebensspanne, die es ermöglicht, die Frage auf morgen zu vertagen. Welche individuellen und auch gesellschaftlichen Bedingungen gegeben sein müssen, damit der Einzelne eine derartige Auseinandersetzung wahrnehmen kann, ist die eigentliche Frage, welche sich die 60 61
Waldenfels (1986). Marquard (1995), S. 28.
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Ethik, aber auch die Medizin angesichts des Leidens an der verrinnenden Zeit stellen müssen. Eine Verdrängung dieser notwendigen Auseinandersetzung, wie sie durch die Anti-Aging-Medizin geboten wird, kann daher nicht als eine befriedigende Antwort auf das Leiden an der verrinnenden Zeit beurteilt werden. Darüber hinaus muss nochmals deutlich darauf verweisen werden, dass die Verdrängung des Leidens an der verrinnenden Zeit durch die Anti-Aging-Medizin letztlich auf einer bedenkenswerten Verschiebung basiert: Denn faktisch wird das Leiden an der verrinnenden Zeit, ein an sich existentielles Leiden, somatisiert und dadurch in den Zuständigkeitsbereich der Medizin gebracht. Diese Verschiebung verkennt nicht nur die eigentliche Natur dieses Leidens, sondern kann auch als Zeichen der Unfähigkeit gedeutet werden, Leiden in einer anderen als der medizinisch-technischen Weise zu begegnen. Diese heikle Verkehrung unterschiedlicher Leidensformen muss die moderne Medizin, reflektieren.
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Anti-Aging und Menschenwürde Zu einer Lebenskunst des Alterns jenseits von Leistung und Erfolg Heinz Rüegger
1.
Das Problem mit dem Altern
Wir stehen vor keiner neuen Erkenntnis, wenn wir uns klar machen: Mit dem Altern haben wir ein Problem. Auf der einen Seite nimmt unsere durchschnittliche Lebenserwartung ständig zu, wir werden individuell und als Gesellschaft immer älter – zugleich werten wir das Alter aber weithin ab und scheuen keine Mühe, möglichst jung zu bleiben. James Hillman sieht etwas Richtiges, wenn er lapidar formuliert: »Je länger wir leben, desto weniger sind wir wert.« 1 Darum versuchen viele, das Altwerden zu umgehen. Parallel zum wissenschaftlich-kulturell errungenen Erfolg des durchschnittlichen Älterwerdens entwickelt sich in der westlichen Welt eine breite und einflussreiche Strömung, die sich den Kampf gegen das Altwerden im biologischen Sinne körperlicher und geistiger Veränderungen auf die Fahnen geschrieben hat und damit die Mentalitätslage vieler Zeitgenossen trifft. Denn die Schriftstellerin Monika Maron dürfte durchaus repräsentativ für die Mehrheit unserer heutigen westlichen Gesellschaften sein, wenn sie von sich bekennt: »Natürlich will ich, was alle wollen: Ich will lange leben; und natürlich will ich nicht, was alle nicht wollen: Ich will nicht alt werden. (…) Ich würde … auf das Alter lieber verzichten. Einmal bis fünfundvierzig und ab dann pendeln zwischen Mitte Dreissig … und Mitte Vierzig, bis die Jahre abgelaufen sind; so hätte ich die mir zustehende Zeit gerne in Anspruch genommen.« 2 Anti-Aging ist zu einem die Mentalität der Gegenwart tief prägenden globalen Megatrend geworden. Und man möge sich als kritisch denkender und gerontologisch sensibilisierter Zeitgenosse nicht allzu 1 2
Hillman (2001), S. 52. Maron (2002), S. 22, 26.
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Heinz Rüegger
schnell und allzu selbstsicher von dem ausnehmen, was nach Maron »alle wollen«. Wer sich auch nur ein bisschen geschmeichelt fühlt, wenn ihn jemand ein paar Jahre jünger einschätzt als es der kalendarischen Realität entspricht, partizipiert selbst an dieser weit verbreiteten kollektiven Mentalität der Abwertung des Alter(n)s. Aubrey D. N. J. de Grey ist gewiss ein Exponent der extremsten Spielform von Anti-Aging und biologischer Longevitätsforschung. Aber in logischer Konsequenz basiert die kulturell weithin zum allgemeinen Standard gewordene Devaluation des Alters durchaus auf der von de Grey formulierten Überzeugung: »Ageing really is barbaric. It shouldn’t be allowed.« 3 Oder anders gesagt: Alt werden ist eines Menschen unwürdig, ist zu bekämpfen wie die Pest und wenn irgendwie möglich zu überwinden. Ist Anti-Aging, ist der Kampf gegen das Altern etwa der tapfere Ritter, der sich mutig ins Schlachtgetümmel wirft zur Verteidigung der menschlichen Würde, weil es der menschlichen Würde widerspricht, spürbar und sichtbar zu altern mit allen Konsequenzen, die das nach sich ziehen kann? Einiges spricht dafür, dass dies von vielen heute so empfunden wird.
2.
Menschenwürde zwischen Normativität und Empirie
Unser Verständnis von Menschenwürde befindet sich derzeit auf weiten Strecken in einer Transformation – auf der Ebene des alltagssprachlichen, nicht reflektierten Gebrauchs des Begriffs Menschenwürde, zunehmend aber auch im Sprachgebrauch der Wissenschaft. Im klassischen, seit Mitte des letzten Jahrhunderts auch völkerrechtlich anerkannten Sinne bezeichnet Menschenwürde einen absoluten Wert, der jedem menschlichen Wesen eigen ist, und damit verbunden einen Anspruch auf Anerkennung und Schutz, der allen Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft zukommt, und zwar allen gleichermaßen. »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren«, formuliert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948. Es handelt sich also um eine angeborene, vorgegebene und deshalb unantastbare Würde (im Sinne einer unbedingten, inhärenten Wesenswürde), die man sich nicht erst zu erringen braucht, die man aber auch nie verlieren kann: 3
Zit. in: Stuckelberger (2008), S. 233.
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weder durch verbrecherisches Verhalten, noch durch den Verlust von Fähigkeiten und Gesundheit, noch durch äussere Lebensumstände, mögen sie auch noch so entsetzlich sein. Diese Menschenwürde beinhaltet – grob zusammengefasst – einen vierfachen Anspruch: – den Anspruch auf Schutz von Leib und Leben beziehungsweise der persönlichen Integrität, – den Anspruch auf Selbstbestimmung (Autonomie), – den Anspruch auf grundlegende Rechte (Menschenrechte) und in alledem – den Anspruch auf einen elementaren Respekt vor der menschlichen Person. Dieses Konzept von Menschenwürde galt in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts und mancherorts, insbesondere in berufsethischen Standards, auch heute noch als höchster ethischer Wert 4 und seine Anerkennung als fundamentales regulatives Prinzip aller ethischen Reflexion. 5 Als solches ist es auch den meisten Verfassungen moderner Rechtsstaaten vorangestellt und als Referenzpunkt allen positiven Rechts festgehalten, hinter den nicht zurückgegangen werden kann. 6 Bezeichnend für dieses Verständnis von menschlicher Würde ist, – dass Würde menschlichem Leben inhärent ist, – dass sie einen normativen Anspruch darstellt, der vollkommen unabhängig ist von allen empirischen Lebensumständen und darum unbedingt gilt, Georg Kohler formuliert es so: Menschenwürde »ist ein moralisches und metaphysisches Prinzip. Nicht aus Naturwissenschaft und überhaupt aus keiner Wissenschaft abzuleiten, markiert es das menschliche Nicht-mehr-Tiersein in seinem verletzbaren (…) Anspruch auf Achtung und personhaft-selbstverantwortete Individualität. ›Menschenwürde‹ ist nicht Science Fact und nicht Science Fiction, sondern ein letzter Wert, der a priori (…) auf praktisch verbindliche Geltung zielt« (Kohler 2001, S. 21). 5 Zur Bedeutung als regulatives Prinzip vgl. N. Knoepffler: »Die Funktion des Menschenwürdeprinzips kann nicht darin bestehen, konkrete Handlungsanweisungen vorzugeben, sondern darin, das Fundament verschiedener Einzelbestimmungen empirischer und normativer Art abzugeben und so als Regulativ für die ethische Reflexion zu dienen. Entscheidungen sollten vor dem Hintergrund dieses Prinzips geschehen, das aber nicht für die konkrete Handlungsebene direkt relevant sein muss« (Knoepffler 2004, S. 14). 6 So etwa im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 1 Abs. 1: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« 4
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– dass sie allen Menschen gleich zukommt und – dass sie unverlierbar ist. Demgegenüber setzt sich seit einiger Zeit auf breiter Front ein fundamental anderes Verständnis von Würde durch, das Würde an bestimmte Bedingungen und Voraussetzungen knüpft. Das lässt sich – stellvertretend für viele andere mögliche Beispiele – an Aussagen des großen Gerontologen Paul B. Baltes zeigen. In einem Text, den er in seinen letzten Lebensjahren an verschiedenen Orten in ähnlicher Form vorgetragen und publiziert hat, führt er unter dem Titel »Das hohe Alter – mehr Bürde als Würde?« aus, dass im hohen Alter die Demenzrate dramatisch ansteige und dass Demenzen »den schleichenden Verlust vieler Grundeigenschaften des Homo sapiens bedeuten wie etwa Intentionalität, Selbstständigkeit, Identität und soziale Eingebundenheit – Eigenschaften, die wesentlich die menschliche Würde bestimmen.« Angesichts der demenziell bedingten irreversiblen Verlustprozesse vieler alter Menschen konstatiert Baltes »eine neue und beängstigende Herausforderung: die Erhaltung der menschlichen Würde in den späten Jahren des Lebens.« 7 Demnach kann die Würde im Alter nur erhalten werden, wenn die Demenzerkrankung aufgehalten oder verhindert werden kann. Sonst führt der Verlust menschlicher Grundeigenschaften unweigerlich zu einem Verlust der Menschenwürde. Bezeichnend für dieses Verständnis von menschlicher Würde ist, – dass Würde kontingent ist, – dass sie von empirischen Gegebenheiten abhängig ist und darum nur bedingt gilt, – dass sie Menschen in unterschiedlichem Maß zukommt und – dass sie verlierbar ist, zum Beispiel durch altersbedingte Krankheiten wie Demenz. Die Auswirkungen dieses bereits in weiten Kreisen als politically correct geltenden empirischen, bedingten Würdeverständnisses für alte, insbesondere hochaltrige Menschen sind fatal. Wenn der Verlust von Eigenschaften wie Kognition, Selbstständigkeit und Leistungsfähigkeit mit einem Verlust an Würde gleichgesetzt wird, fallen gerade diejenigen Personen aus dem Schutzbereich der Menschenwürde und der auf Baltes (2003a), S. 17. In der englischen Fassung dieses Aufsatzes spricht Baltes sogar von einem eigentlichen »Dignity Drain« im Verlauf des demenziellen Prozesses (Baltes 2003b).
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ihr basierenden Menschenrechte heraus, die ihrer in besonders hohem Maße bedürfen: nämlich hochaltrige, multimorbide Pflegebedürftige. Von einem klassischen, normativen Würdeverständnis her muss man betonen, dass die Herausforderung gerade nicht, wie Baltes gemeint hat, in der Erhaltung der menschlichen Würde durch pharmakologisch-medizinische Forschung und Interventionen besteht, auch nicht darin, dass »im Prozess der Gesundung auch die Würde des Kranken wiederhergestellt werden müsse«, wie die Präsidentin der deutschen Akademie für Ethik in der Medizin, Claudia Wiesemann, meint. 8 Genau gleich problematisch ist, wenn Thomas Klie, Ex-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie meint, es gehe darum, sich für die »Herstellung« und »Sicherung« der Würde hoch betagter Menschen einzusetzen. 9 In all diesen Beispielen wird immer unterstellt, die Würde alter, hoch betagter und kranker Menschen stehe in Gefahr und müsse durch professionelle Interventionen im Gesundheits- und Sozialwesen »bewahrt«, »(wieder)hergestellt« oder »gesichert« werden, ansonsten die betroffenen alten Menschen ihrer Würde verlustig gingen. In Wahrheit geht es aber um etwas ganz anderes, nämlich darum, die auch im Alter grundsätzlich intakte und unverlierbare Würde jedes Menschen anzuerkennen und zu respektieren durch die Art, wie wir vom Alter und von alten Menschen reden, wie wir ihnen begegnen, sie begleiten und ihre Partizipationsmöglichkeiten in der Gesellschaft sichern. Auf dem Hintergrund des in weiten Teilen der Gesellschaft dominant gewordenen empirischen Würdekonzeptes scheint mir AntiAging mit seinem Ansatz der Pathologisierung und Medikalisierung des Alters auf problematische Weise geeignet, den Prozess des sichtbaren und spürbaren Alterns als entwürdigend zu stigmatisieren und dadurch die Entwürdigung des Alterns und des Alters selber noch voranzutreiben. Insofern dürfte die Gefahr, dass Anti-Aging zwar unreflektiert und unbeabsichtigt, aber deshalb nicht minder wirksam eine Kultur des ageism und der Altersdiskriminierung fördert, nicht von der Hand zu weisen sein.
8 9
Wiesemann (1998), S. 96. Klie (2005), S. 271.
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3.
Altern im Zeichen der Plastizität
Im Vergleich mit früheren Generationen verfügen wir heute über beachtliche Möglichkeiten, den Prozess des Alterns und die Bedingungen des Altseins zu beeinflussen. Die erstaunliche Plastizität des Alters gehört zu den zentralen Erkenntnissen, die uns die neuere Gerontologie gebracht hat. Diese Plastizität eröffnet uns ein Mehr an Freiheit, das Altern nach eigenen Vorstellungen und Wünschen zu gestalten. Damit verbunden ist aber zugleich ein höheres Maß an selbst zu tragender Verantwortung, weil der Alternsprozess nicht mehr einfach unter feststehenden, vorgegebenen Bedingungen verläuft, sondern unserer gestaltenden Einflussnahme offen steht. Wurde Altern früher vornehmlich als hinzunehmendes Schicksal verstanden, nimmt es zunehmend Züge eines »Machsals« (O. Marquard) an, das in unsere Verantwortung gestellt ist. Eine Folge dieser Entwicklung ist, dass Altern immer mehr einer bewertenden Beurteilung unterzogen wird: Es gibt gesundes Altern und krankhaftes, pathologisches Altern; es wird über erfolgreiches und weniger erfolgreiches Altern diskutiert; Menschen machen sich Gedanken über sogenanntes würdiges und sogenanntes unwürdiges Altern. In solchen Bewertungen ist in der Regel eine moralische Forderung oder zumindest eine moralische Empfehlung enthalten, nämlich den Alternsprozess durch entsprechende Vorkehrungen so zu gestalten, dass er ›gesund‹, ›erfolgreich‹, ›würdig‹ verlaufe – was auch immer im Einzelnen unter diesen Qualifizierungen verstanden werden mag. Dass solche Bewertungen, vor allem wenn sie plakativ erfolgen und nicht kritisch reflektiert werden, problematisch sein und das Altwerden unter einen fragwürdigen normativen Druck setzen können, ist offensichtlich. 10 Die Tatsache der Beeinflussbarkeit oder Plastizität des Alterns hat zu einer Vielfalt von Idealvorstellungen wünschbaren Alterns geführt. Diese Idealvorstellungen lassen sich idealtypisch verorten auf dem Spannungsbogen zwischen den beiden heute in vielfältigen Variationen gängigen Alterns-Paradigmen des »Anti-Aging« auf der einen Seite und des »erfolgreichen Alterns« (Successful Aging) auf der anderen.
10
Schneider-Flume (2004).
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3.1. Anti-Aging Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Anti-Aging ist schwierig, weil dieser Oberbegriff eine an Buntheit kaum zu überbietende Vielfalt von mehr oder weniger seriösen und mehr oder minder wissenschaftlichen Bestrebungen subsumiert, die nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist. Bedenkt man zudem, dass sich die vor allem in den USA etablierte biogerontologische Longevitätsforschung, die sich mitunter polemisch vom boomenden Markt des Anti-Aging abgrenzt, in mancherlei Hinsicht mit Anti-Aging-Anliegen überschneidet, scheint es noch schwieriger, ein klares Profil des Phänomens Anti-Aging zu erkennen, mit dem man sich auseinandersetzen könnte. Und selbst wenn man sich auf Vertreterinnen und Vertreter des AntiAging beschränkt, die sich der Tradition westlicher Wissenschaft zugehörig fühlen, bleibt – wie mir scheint – immer noch ein Nebeneinander von recht unterschiedlichen Positionen. Grob vereinfachend kann man zwei Lager unterscheiden: – einerseits radikale Anti-Aging Positionen, die den Prozess des Alterns, das Altsein und das Sterben grundsätzlich als etwas Unnatürliches, Pathologisches ansehen, das es umfassend zu bekämpfen und letztlich zu überwinden gilt. Bekanntester Vertreter dieser Position ist Aubrey D. N. J. de Grey mit seinem SENS-Ansatz; 11 – andererseits moderate Anti-Aging-Positionen, die nicht eigentlich das Altern als menschliches Phänomen an und für sich bekämpfen, sondern vielmehr die mit dem Alternsprozess oft einhergehenden Einschränkungen und Erkrankungen zu verhindern suchen. Die letztgenannte Position gewinnt in Europa zusehends auch in der universitären Medizin an Boden, wie etwa die Lehrbücher von Bernd Kleine-Gunk 12 oder von Günther Jacobi et al. 13 zeigen. Dass wissenschaftliche Alters- und vor allem Präventions11 SENS = Strategies for Engineered Negligible Senescence. De Grey geht davon aus, dass – wenn alles gut läuft und genug Forschungsgelder generiert werden können – bis ca. 2040 die Realisierung der negligible senescence möglich sein sollte und Menschen dann im Durchschnitt mindestens 1000 Jahre alt werden können (vgl. das Interview mit de Grey, das A. Stim unter dem Titel »Altern ist auf jeden Fall ungesund« in der OnlineAusgabe der Süddeutschen Zeitung vom 23. 06. 06 veröffentlichte: www.sueddeutsche. de/wissen/566/325431/text/10). 12 Kleine-Gunk (2003). 13 Jacobi et al. (2005).
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medizin sich allerdings anschickt, den Mantel des Anti-Aging anzuziehen, bleibt für mich nicht nachvollziehbar und scheint mir irreführend, denn faktisch intendieren die meisten Vertretrerinnen und Vertreter der moderaten Position gar kein Anti-Aging, sondern ein »Healthy Aging« oder »Good Aging« oder »Better Aging«. 14 Anti-Aging in beiden Varianten basiert wesentlich auf dem negativen Alternsverständnis, wie es der Biologie und der Medizin eigen ist. Biologisch-medizinisch gesehen ist Altern in der Tat als ein Prozess beschreibbar, der vor allem durch ein Nachlassen von Kräften und eine Reduktion der Funktionsfähigkeit des Organismus bestimmt ist. Entsprechend sind »physiologische (biologische) und pathologische Prozesse im Alternsgang eng verwoben.« 15 Dabei ist aber grundsätzlich zu unterscheiden zwischen einem normalen, natürlicherweise zum Alternsprozess gehörenden Abbau der Funktionsfähigkeit, der als solcher nicht als pathologisch zu bezeichnen ist, 16 und den damit assoziierten (Alters-)Krankheiten. 17 Dieses negative Alternskonzept von Biologie und Medizin hat sein begrenztes Recht als Teilperspektive im Blick auf den Alternsprozess, taugt aber nicht für ein angemessenes Gesamtverständnis des Alters. Hierzu ist eine umfassende gerontologische Perspektive unerlässSo erklärt B. Kleine-Gunk: »Eine Zukunft wird die Anti-Aging-Medizin … nur haben, wenn sie sich vom Image der Modemedizin befreit … Die unrealistischen Versprechungen vom ewigen Leben müssen ersetzt werden durch eine praktische Medizin für ein gesundes Altern. Nicht die Entdeckung des Jungbrunnens ist das Ziel, wohl aber die individualisierte, optimierte und möglichst frühzeitige Prävention altersassoziierter Erkrankungen. Wenn die Anti-Aging-Medizin diesen Weg weiter beschreitet, hat sie die Chance, zu dem zu werden, was ihre eigentliche Aufgabe ist: die Präventivmedizin des 21. Jahrhunderts« (Kleine-Gunk 2007, S. 2059). – Zum Vergleich der zwei Konzepte des »Better Aging« und des »Anti-Aging« vgl. Stuckelberger (2008), S. 45–78. 15 Schachtschabel (2004), S. 178. 16 Vertreter eines radikalen Anti-Aging sehen im Alternsprozess generell eine Krankheit; Vertreterinnen eines moderaten Anti-Aging würden der Unterscheidung zwischen Altern als normalem Prozess und altersassoziierten Krankheiten, die es zu vermeiden oder zu therapieren gilt, grundsätzlich zustimmen. 17 A. Kruse hält fest: »Altern ist nicht Krankheit. Alternsprozesse sind natürliche Veränderungen des Organismus – aus diesem Grunde werden sie mit dem Begriff der Biomorphose umschrieben. Krankheitsprozesse sind hingegen akut oder chronisch verlaufende pathologische Veränderungen des Organismus« (Kruse 2007, S. 13). Vgl. ebd., S. 14 auch die unterscheidende Gegenüberstellung des Verlaufs von Alterns- und Krankheitsprozessen. 14
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lich, die solche rein negativen, monodisziplinären und unidirektionalen Alternsdefinitionen seit langem überwunden hat. Aus einer integralen gerontologischen Sicht beurteilt, zieht AntiAging einen falschen Schluss aus der Einsicht in die Plastizität des Alterns: Denn nicht darum geht es, den Alternsprozess als solchen zu bekämpfen und nach Möglichkeit zu überwinden, sondern ihn als ein konstitutives anthropologisches Faktum ernst zu nehmen und verantwortlich zu modifizieren und zu gestalten. Im Unterschied zu AntiAging-Ansätzen sieht Gerontologie das Alter nicht generell als etwas Pathologisches, sondern leitet dazu an, Altern als multidimensionalen und multidirektionalen Veränderungsprozess mit Chancen und Grenzen, mit Zugewinnen und Verlusten wahrzunehmen und zwischen natürlichem Altern und mit dem Alternsprozess assoziierten krankhaften Entwicklungen zu differenzieren. Robert Butler vom International Longevity Center in New York kritisiert zu Recht: »The very concept of ›anti-ageing medicine‹ goes against the last fifty years of work in gerontology, devoted essentially to differentiating normative and natural ageing processes from diseases … The idea of ›anti-ageing‹ … promotes and reinforces ageism.« 18 Demgegenüber ist aus ethischer und anthropologischer Perspektive zu unterstreichen, dass wir nicht eine Anti-Aging-Medizin brauchen, sondern einen Gesundheitsbegriff und eine Medizin, die – wie die Ethikerin Regina Ammicht-Quinn sagt – »das Älterwerden … nicht als zu bekämpfender Feind …, sondern als Teil der Würde des Menschen betrachten.« 19
3.2. Successful Aging Gerontologie – vor allem. in ihrer sozialwissenschaftlich geprägten Sichtweise – zieht aus der Plastizität des Alternsprozesses die gegenteilige Konsequenz und versucht, Altern dahingehend zu gestalten, dass Gesundheit präventiv und kurativ erhalten, geistige und psychische Entwicklungsmöglichkeiten realisiert, vorhandene Ressourcen ernst genommen und Coping-Strategien im Umgang mit unvermeidbaren Verlusterfahrungen gefunden werden können. 18 19
Zit. in: Stuckelberger (2008), S. 220. Ammicht-Quinn (2005), S. 87.
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Es geht hier also nicht um ein »Anti-Aging«, eine Abwehr des Alterns, sondern um ein »Pro-Aging«: nämlich um ein »Good Aging«, »Better Aging«, »Active Aging«, »Positive Aging« oder »Successful Aging«, um nur einige der gängigen Schlagworte zu nennen. 20 Vor allem der von R. J. Havighurst bestimmte Begriff des erfolgreichen Alterns 21 wurde seit den 1990er Jahren zum Inbegriff für unterschiedliche gerontologische Bemühungen, aus der Einsicht in die Plastizität des Alterns Konsequenzen zu ziehen. 22 Wird das Alter im Zeichen von Anti-Aging entwertet, so wird es in der Perspektive des Successful Aging aufgewertet. Die Vorstellungen darüber, an welchen Kriterien ein erfolgreiches Altern gemessen werden könnte, variieren natürlich beträchtlich. Es werden eine Vielzahl innerer und äusserer, objektiver und subjektiver Faktoren genannt: etwa körperliche und psychische Gesundheit, materielle Absicherung, soziale Einbindung oder geistige, soziale und kulturelle Aktivitäten. Das alles sind Faktoren, die zu so etwas wie Lebenszufriedenheit im Alter führen können, wobei zu bedenken ist, dass gemäss dem in der Gerontologie immer wieder diskutierten Zufriedenheits-Paradox das subjektive Maß an Zufriedenheit oder Wohlbefinden im Alter nur bedingt mit dem Grad an positiven äußeren, objektiven Faktoren korreliert. 23 Abgesehen von der Schwierigkeit, eindeutige Kriterien eines erfolgreichen Alterns zu bestimmen, kann die Rede vom erfolgreichen Altern allerdings leicht Gefahr laufen, Altern als Leistungsakt misszuverstehen, von dessen erfolgreichem Bestehen womöglich gar die Würde des Alters abhängen soll. Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass zur Ganzheit, zur Reifung und Würde eines menschlichen Lebens notwendigerweise auch Negativerfahrungen wie Leiden, Behinderungen, Verluste und das Abnehmen der Kräfte gehören. Von »erfolgreichem Altern« – wenn denn überhaupt davon gesprochen werden soll – kann nur unter Einschluss beziehungsweise durch konstruktive Integration medizinisch-psychisch-sozialer Negativerfahrungen in die eigene Identität die Rede sein. Wenn Paul B. Baltes definiert: »Erfolg im Darauf, dass »sich zunehmend ein Spannungsfeld zwischen ›anti-aging‹ und ›pro aging‹-Ansätzen ergibt,« weist Höpflinger (2009), S. 57 hin. 21 Vgl. zum Beispiel: Havighurst (1963), S. 299–320. 22 Vgl.: Rowe/Kahn (1997), 433–440. 23 Vgl.: Höpflinger (2003), S. 69–88. 20
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Alter bedeutet, möglichst viel von dem zu erreichen, was man anstrebt, und möglichst wenig von dem zu erleiden, was im Alter als Negatives und Unerwünschtes auf uns zukommt,« 24 so ist das eine sehr oberflächliche, menschlich, philosophisch und theologisch nicht sehr tiefgründige Sicht dessen, was Menschsein im Alter ausmachen könnte. Reimer Gronemeyer hat darauf hingewiesen, dass »das Bild vom erfolgreich Alternden … dazu führen muss, dass Pflegebedürftigkeit zum Inbegriff des Altersschreckens wird. Je länger die Alten sich erfolgreich am Riemen reißen, je verbissener sie den Rüstigkeitswettlauf durchhalten, desto furchtbarer ist der Sturz in die Hinfälligkeit.« 25 Auch Leopold Rosenmayr hat das Konzept eines erfolgreichen Alterns kritisiert, weil Leben und Altern »nicht insgesamt planbar oder lenkbar sind. Das jeweilige Lebens-Ergebnis … kann … nicht nach einer umfassenden, von Misserfolg zu Vollerfolg reichenden Skala bewertet werden.« 26 Sehr viel fruchtbarer wäre es da etwa, im Nachdenken über die Zielvorstellung eines guten Alterns auf den anthropologischen Ansatz der von Viktor E. Frankl begründeten Logotherapie und Existenzanalyse zurückzugreifen, derzufolge es nicht der homo faber, der Leistungs-Mensch ist, der die höchsten Werte und das höchste Maß an Sinn verwirklicht, sondern der homo patiens, also der leidende Mensch. Er erweist sich durch aktive, innere Auseinandersetzung mit dem Schicksal, durch die Fähigkeit zu »aufrechtem Leiden« in der Lage, auch in schwierigen äußeren Situationen, etwa angesichts einer unheilbaren, zum Tode führenden Krankheit, Sinn und Erfüllung zu finden. 27
4.
Altern als Lebenskunst (ars senescendi)
Das Konzept erfolgreichen oder guten Alterns knüpft sachlich an die alte philosophische Tradition einer eudämonistischen Ethik an, der es nicht wie der normativen Ethik um Rechte und Pflichten geht, sondern um Lebensweisheit, die das Gelingen des Lebens durch das Erlangen 24 25 26 27
Baltes (1996), S. 62. Gronemeyer (1989), S. 116. Rosenmayr (1989), S. 100. Frankl (2005).
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von Glück (griechisch: eudaimonia) ermöglichen soll. Diese eudämonistische Fragestellung nach einer Lebenskunst des Alterns, nach einer ars senescendi, scheint mir angesichts der immer länger werdenden durchschnittlichen Lebenszeit und Altersphase von zentraler Bedeutung. Dass die Philosophie, die hier einen genuinen Beitrag zum gerontologischen Diskurs leisten könnte, sich aufs Ganze gesehen noch kaum mit dieser Thematik befasst hat – wie ihr das Alter überhaupt noch kaum zu einem relevanten Thema geworden ist! 28 – kann man nur bedauern. Auf theologischer Seite sieht es auch nicht anders aus. 29 Von Lebenskunst zu reden, scheint mir insbesondere angesichts der durch die gerontologische Forschung eindrücklich nachgewiesenen grossen Plastizität des Alternsprozesses angezeigt. Altern ist in verschiedener Hinsicht beeinflussbar, gestaltbar und liegt damit ein gutes Stück weit in unserer Verantwortung. Darum drängt sich das Thema Lebensgestaltung im Alter – und damit die Frage nach einer ars senescendi –, notwendigerweise auf. Denn gelingt es nicht, eine selbstbewusst gelebte Kunst des Alter(n)s zu entwickeln, wird vor allem das jüngere Alter unweigerlich vom Sog der ganz auf Jugendlichkeit fixierten Anti-Aging-Mentalität der gegenwärtigen Gesellschaft mitgerissen werden und unter deren Diktat ewigen Jungseins (oder mindestens ewigen Tuns, als ob man noch jung wäre!) geraten. Alter in der zeitlichen Ausdehnung, in der wir ihm in einer Gesellschaft der Langlebigkeit immer mehr begegnen, erweist sich als offener Raum, den es eigenverantwortlich zu gestalten gilt. Eva Gösken 30 greift dabei auf den deutschen Künstler Joseph Beuys zurück, der von einer »Sozialen Kunst« sprach und darunter die Kompetenz jedes Menschen verstand, sozialer Gestalter seiner selbst, seiner Arbeit, seiner Beziehungen und seines Lebensumfeldes zu sein. In diesem Sinne von »Sozialer Kunst« soll hier eine bewusst eingeübte Kunst des Alter(n)s, eine ars senescendi, postuliert werden, die uns hilft, den sich immer So das Urteil von Höffe (2002), S. 183. Ausnahmen gibt es allerdings durchaus, etwa die Beiträge von Rentsch (1994); oder Birkenstock (2008) und am deutlichsten zweifellos Schmid (2004). 29 Hier ist allerdings auf die pionierhafte Arbeit des Tübinger Ethikers Alfons Auer (1995) hinzuweisen, die dieser im Alter von bereits achtzig Jahren veröffentlicht hat! Aus neuerer Zeit gibt es Beiträge von Rieger (2008); Schneider-Flume (2008); Rüegger (2009). Neuere Zugänge finden sich auch in: Kumlehn/Klie (Hg.) (2009) und in Klie et al. (Hg.) (2009). 30 Gösken (2001). 28
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weiter ausdehnenden offenen Raum des Alters sinnvoll und verantwortlich zu gestalten. Voraussetzung einer solchen Lebenskunst des Alter(n)s ist einerseits, das Alter wahrzunehmen als Lebensphase mit spezifischen Möglichkeiten und Grenzen, vor allem aber mit eigenen Aufgaben und Herausforderungen, andererseits die Bereitschaft, »sich mit den Phänomenen des Alterungsprozesses zu befreunden.« 31 Zwei mögliche Missverständnisse sollen allerdings gleich zu Beginn aus dem Wege geräumt werden. Zum Einen: Wie Menschen eine für sie stimmige Kunst des Alter(n)s entwickeln, ist in mancherlei Hinsicht so unterschiedlich, wie Menschen sich eben voneinander unterscheiden. Es wäre sicher verfehlt, hier detailliert neue Normen aufstellen zu wollen, nach denen alle ihr Altwerden zu gestalten haben, wenn es denn als ein »erfolgreiches« Altern gelten soll. Um mehr als grundsätzliche Optionen kann es hier nicht gehen. Urs Kalbermatten ist darum zuzustimmen: »Das Alter ist eine eigenständige Lebensphase, der jeder seine eigene Gestalt verleihen kann.« 32 Zum andern ist zu betonen, dass »unter Lebenskunst hier nicht das leichte, unbekümmerte Leben zu verstehen ist, sondern die bewusste, überlegte Lebensführung. Sie ist«, wie der Philosoph Wilhelm Schmid betont, »mühevoll und doch auch eine Quelle der Erfüllung ohnegleichen.« 33 Es geht also nicht um eine realitätsfremde Idealisierung und Verharmlosung des Alters als Zeit der großartigen, »späten Freiheit«, 34 sondern um »ein Stück bewusst gelebten (und gestalteten, H. R.) Lebens.« 35 Dabei ist allerdings zu bedenken, dass sich die nachberufliche Lebenszeit zu einer so langen biografischen Etappe ausgeweitet hat, dass sie zwei in vielerlei Hinsicht unterschiedliche Phasen umfasst, die man in der Gerontologie grob als Phasen des dritten und des vierten Lebensalters bezeichnet. 36 Während die Alterskultur des dritten Lebensalters Schmid (2004), S. 416. Kalbermatten (2004), S. 123. 33 Schmid (2004), S. 9. 34 Vgl. die zu einem gerontologischen Klassiker gewordene Monographie von Rosenmayr (1983). Rosenmayr hat inzwischen eingeräumt, dass er heute ein kritischeres bzw. differenzierteres Bild des Alters, v. a. des hohen Alters, zeichnen würde, als er es in diesem Buch getan hat. So schreibt er in einer neueren Publikation: »Nur wenn man die marktkonforme Schönfärberei des Alters aufgibt, kann man wirkungsvoll mit dem Alter und in ihm leben«, Rosenmayr (2003), S. 317. 35 So der in seiner Stoßrichtung auch für eine heutige ars senescendi immer noch maßgebende Untertitel des Klassikers von Rosenmayr. 36 Höpflinger (2009), 58–62 benützt diese grobe Unterscheidung v. a. in der Differen31 32
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primär gesunde, aktive, kompetente Frauen und Männer im Pensionsalter betrifft, geht es bei der Alterskultur des vierten Lebensalters vornehmlich um Menschen in einer Situation erhöhter gesundheitlicher Fragilität und zunehmender Pflegebedürftigkeit, die verstärkt auf Solidarität, Unterstützung und Rücksichtnahme anderer angewiesen sind. Es versteht sich von selbst, dass eine Lebenskunst des Alter(n)s in diesen beiden Lebensphasen unterschiedlich akzentuiert sein muss. Ich kann an dieser Stelle nur in ein paar wenigen exemplarischen Punkten andeuten, wie eine Lebenskunst des Alterns inhaltlich zu entfalten wäre.
4.1. Das Altern grundsätzlich bejahen Der philosophische (und entwicklungspsychologische) Ansatz einer ars senescendi unterscheidet sich darin fundamental von demjenigen des Anti-Aging, dass er den Alternsprozess als eine konstitutiv zu menschlichem Leben gehörende Entwicklung und das Alter als eine aus dem Lebensverlauf nicht wegzudenkende Lebensphase versteht und deshalb grundsätzlich bejaht. Ars senescendi ist zutiefst Pro-Aging! Damit ist nicht gesagt, dass das Altern nicht durch mancherlei Interventionen beeinflusst werden darf. Im Gegenteil: Die ganze Diskussion um ein erfolgreiches Altern sieht in solch gestaltendem Intervenieren eine uns zugewachsene Freiheit und Verantwortung. Entscheidend ist aber die grundsätzliche Bejahung des Alterns und des Alters. Dahinter steht ein entwicklungspsychologisches Konzept, das den Lebensverlauf als eine Abfolge von verschiedenen Stufen versteht, die alle ihr eigenes Recht, ihre eigene Bedeutung sowie ihre spezifischen psychosozialen Möglichkeiten und Herausforderungen haben. Jede Phase ist allen anderen gleichwertig; keine kann beanspruchen, Maßstab für eine andere zu sein. Der vierte deutsche Altenbericht hält fest: »Grundlage einer humanen Ethik ist die grundsätzliche Gleichrangigkeit aller Lebensphasen im Sinne eines biologischen, psychologischen und sozialen Konzeptes einer einheitlichen zierung zweier grundlegender Alterskulturen, unterteilt das Alter aber noch weitergehend in vier verschiedene Phasen: 1. Phase der noch erwerbstätigen Senioren (50+), 2. Phase des gesunden Rentenalters, 3. Phase der verstärkten Fragilisierung, und 4. Phase der Pflegebedürftigkeit und des Lebensendes.
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Lebenslaufentwicklung, aus welcher keine einzelne Lebensphase wegzudenken ist. Dies schliesst eine Abwertung des Alters und der Hochaltrigkeit aus.« 37 Anti-Aging – jedenfalls in seiner radikalen Variante, die unter dem Motto »Forever young!« steht – kommt in dieser Perspektive als eine Form von Lebensverweigerung in den Blick: als Weigerung nämlich, den lebenslangen Entwicklungsprozess nachzuvollziehen, der über das Jungsein hinausdrängt und auf das Altwerden zustrebt. AntiAging ist in einem Juvenilitätswahn gefangen, der das Jungsein (»young«) auf ewig (»forever«) festschreiben will und damit lebendige Weiterentwicklung blockiert. Der Bereich Humanmedizin der Universität Göttingen und die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen haben darum schon vor Jahren dafür plädiert, die eigene Lebensgeschichte in ihren verschiedenen Entwicklungsphasen anzunehmen und »nicht durch Anti-Aging wichtige Entwicklungsschritte zu versäumen, sondern sich im Sinne von Pro-Aging ihnen zu stellen.« 38 Anti-Aging erliegt einer problematischen Ideologisierung und normativen Verabsolutierung der Lebensphase junger Erwachsener. Giovanni Maio hat treffend festgestellt: »Indem ältere Menschen von der Medizin äußerlich wie innerlich fit gemacht werden, werden diese alten Menschen gerade nicht in ihrem Altsein respektiert, sondern nur insofern sie noch so geblieben sind wie die Menschen in der mittleren Lebensphase. Mit allen Mitteln nicht alt aussehen und nicht gebrechlich sein wollen ist somit Ausdruck einer Ideologisierung der mittleren Lebensphase.« 39 Man kann durchaus sagen, dass sich aus dem Ernstnehmen der normativen Würde des Menschen in der Ganzheit seines Lebensverlaufs so etwas wie ein eudämonistisches Postulat ergibt, die Lebensentwicklung in all ihren Phasen zu respektieren und sich ihr zu stellen, um so die Möglichkeiten und Herausforderungen jeder Phase intensiv zu leben, ohne bei einer dieser Phasen stehen zu bleiben. Denn solches Stehenbleiben wäre zutiefst lebensfeindlich. Die psychische Verweigerung, ins Alter zu reifen, wird heute darum psychiatrisch als Form einer narzisstischen Regression verstanden und als »Dorian-GrayBundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2002), S. 355. Bereich Humanmedizin der Universität Göttingen und die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (2003), S. 7. 39 Maio (2006), S. 348 f. 37 38
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Syndrom« bezeichnet. 40 Diese Bezeichnung ist abgeleitet von einer Romanfigur Oscar Wildes, die das Heil ihrer Seele aufs Spiel setzt, um nur ja nicht den Alterungsprozess am eigenen Leib erfahren zu müssen. Hermann Hesse hat einmal formuliert: »Um als Alter seinen Sinn zu erfüllen und seiner Aufgabe gerecht zu werden, muss man mit dem Alter und allem, was es mit sich bringt, einverstanden sein, man muss Ja dazu sagen« 41 – auch wenn es einem nicht leicht fällt. Dies ist die Grundvoraussetzung jeder ars senescendi.
4.2. Eine Alterskultur leben Zu einer Lebenskunst des Alterns gehört, dass alte Menschen Werte leben und in ihrem Denken, Reden und Handeln Akzente setzen, die der spezifischen Entwicklungsphase des Alters entsprechen. Der schwedische Gerontologe Lars Tornstam ist durch Untersuchungen an älteren Menschen zur Überzeugung gelangt, es entspreche der persönlichen Entwicklung vieler Menschen im fortgeschrittenen Alter, ihr Leben nach anderen Werten zu gestalten als in jungen und mittleren Lebensjahren. Solche dem Alter besonders entsprechenden Werte, die er in einer als »Gerotranszendenz« bezeichneten Haltung verkörpert sieht, 42 liegen zum Beispiel – in der stärkeren Gewichtung des Kontemplativen gegenüber dem Leistungsorientiert-Kompetitiven; – in einer Haltung, die stärker ganzheitlich-holistisch das Zusammenhängen von allem mit allem ernst nimmt, statt nur auf sich selbst fixiert zu sein; – in einer weniger materialistischen, dafür stärker spirituellen Ausrichtung; – in einer Haltung, die nicht nur die Gegenwart betont, sondern den Reichtum der Geschichte einbezieht und zugleich um Nachhaltigkeit zugunsten kommender Generationen bemüht ist.
40 41 42
Brosig et al. (2006). Hesse (1990), S. 68 f. Tornstam (2005).
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Damit skizziert Tornstam eine Wertehaltung, die er als besondere Chance des Alters versteht und die er als ein Modell »positiven Alterns« (»a theory of Positive Aging«) bezeichnet. Demografisch gesehen werden die Alten immer zahlreicher. Wenn es ihnen gelingen könnte, nicht nur »Jugend zu spielen«, sondern ihr Leben an spezifischen, dem Alter entsprechenden Werten auszurichten und diese selbstbewusst, als genuinen Beitrag zum intergenerationellen Miteinander in das gesellschaftliche Leben einzubringen, könnte dies ein bedeutsamer Beitrag zu einer humanen Werteorientierung unserer ganzen Gesellschaft und damit eine zentrale Form von Altersgenerativität sein.
4.3. Offenheit für die Passivität menschlichen Lebens Einen anderen Aspekt einer ars senescendi stellt die Auseinandersetzung mit der Erfahrung von Passivität als einer Grunddimension des Lebens dar. Unsere westliche Gesellschaft hat in extrem hohem Maße eine Kultur des Machens, des Leistens, des Bestimmens und Kontrollierens entwickelt. Anders als Menschen früherer Zeiten ist uns eine rezeptive, Aspekte des Empfangens und Mit-sich-geschehen-Lassens betonende Lebenshaltung eher fremd geworden. Auch haben wir die Bedeutung der pathischen Fähigkeiten des Lebens, also der Fähigkeit, Leiden, Grenzen, Zumutungen des Schicksals anzunehmen und sie durch innere Auseinandersetzung konstruktiv ins eigene Leben zu integrieren, eher abgewertet. Dennoch gehört es zu den Erfahrungen des Alters, insbesondere des vierten Lebensalters, solche Aspekte passiver Lebenserfahrung stärker gewichten und sich mit ihnen auseinander setzen zu müssen. Darin liegt eine wesentliche Aufgabe einer Lebenskunst des Alterns. Für Leopold Rosenmayr gehört es gerade zur Lebensphase des reifen Alters, nicht primär das Leben und seine Möglichkeiten zu ergreifen, sondern umgekehrt sich von ihm zuerst einmal ergreifen zu lassen; daraus kann sich dann ein neues, »ergriffenes Ergreifen als eine grundlegende Altershaltung« ergeben. 43 In diesem Sinne fordert das Alter zu einer neuen »Wertschätzung der Passivität neben der Aktivi-
43
Rosenmayr (2004), S. 23.
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tät und Kreativität« heraus. 44 Eine Neubewertung der Passivität ist auch nötig, um die Erfahrung zunehmenden Angewiesenseins auf Unterstützung und Betreuung durch andere verarbeiten zu können. Dabei wäre mit dem amerikanische Medizinethiker Daniel Callahan zu bedenken: »Das Ziel, stets unabhängig zu sein, kann nur für begrenzte Zeit erreicht werden. Früher oder später, für längere oder kürzere Zeit, werden wir von anderen abhängig sein. Zumindest begleitet uns dieses Risiko immer, ist ein unentrinnbarer Teil unseres Lebens.« »Es ist ein ganz schwerwiegender Irrtum zu glauben, dass unser Wert als Person sinkt, weil Abhängigkeit unser Teil sein wird. (…) Ein Selbst lebt in der ständigen Spannung zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Beide sind ein Teil von uns. Die Unabhängigkeit mag uns ein besseres Gefühl geben … Trotzdem bleibt sie nur die halbe Wahrheit unseres Lebens.« 45 Die Erfahrungen des Alters, insbesondere des hohen Alters, können nur auf dem Hintergrund eines Menschenverständnisses positiv verarbeitet werden, das sich nicht mit der »halben« Wahrheit begnügt, sondern um die »ganze« Wahrheit weiss, dass nämlich Unabhängigkeit und Abhängigkeit, Ergreifen und Ergriffenwerden, Geben und Empfangen, Aktivität und Passivität zu vollem Menschsein gehören, wobei der jeweils zweite Aspekt dieser Polaritäten im Alter, insbesondere im hohen Alter, verstärkt in den Vordergrund treten dürfte.
4.4. Ars moriendi Schließlich gehört zu einer ars senescendi unabdingbar auch eine ars moriendi, also die Fähigkeit, sich mit der eigenen Endlichkeit anzufreunden. 46 Es entspricht einer Jahrtausende alten philosophischen und theologischen Einsicht, dass besser, freier, intensiver lebt, wer sein eigenes Sterbenmüssen nicht verdrängt, sondern sein Leben bewusst als ein »Sein zum Tode« annimmt, wie Martin Heidegger es formuliert hat, 47 und in seinem Licht die noch verbleibende Lebenszeit nützt. Insofern sind die beiden sprichwörtlichen Ratschläge des memento mori und des carpe diem zwei Seiten ein und derselben Medaille. 44 45 46 47
Zimmermann-Acklin (2005), S. 379. Callahan (1998), S. 174, 176. Rüegger, (2006); ders. (2009), S. 191–218. Heidegger (2001) §§ 52 f.
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Eine solche ars moriendi kommt nicht darum herum, sich kritisch mit der sowohl in der Theologie 48 als auch in der Medizin 49 verhängnisvoll dominant gewordenen negativen Bewertung des Todes als eines zu bekämpfenden Erzfeindes auseinanderzusetzen. Denn nur wenn es gelingt, die grundsätzliche Endlichkeit des Lebens und damit das unweigerliche Sterbenmüssen positiv zu werten und in den eigenen Lebensentwurf zu integrieren, wird es auch möglich sein, zum Altern Ja zu sagen und den Träumen von ewiger Jugend zu entsagen. Eine solche ars moriendi wird mit Gewinn an alte Einsichten unserer kulturellen Tradition anknüpfen. Etwa an die urtümlich-biblische Einsicht, dass der Mensch – wie die für semitisches Danken so bezeichnenden sprachlichen Anklänge verdeutlichen – ein Adam (ein Erdling) ist, der aus adamah (aus Erdboden) geschaffen und dazu bestimmt ist, wieder zu diesem zurückzukehren (Gen 2,7; 3,19). Oder an eine lange philosophische Tradition, derzufolge »das ganze Leben der Philosophen 48 Es muss zu denken geben, dass von den vielen biblischen Vorstellungen und Deutungen des Todes dogmengeschichtlich v. a. zwei rezipiert und – in seltener ökumenischer Übereinstimmung quer durch das ganze Spektrum der christlichen Konfessionen und Denominationen hindurch! – lehrmäßig verbindlich geworden sind: diejenige vom Tod als Strafe für die Sünde Adams (Rö 5,12; 6,23) und diejenige vom Tod als dem letzten, d. h. unerbittlichsten Feind (1 Kor 15,26), den Gott einmal überwinden wird. Wie eigenartig gerade diese dogmatische Selektion biblischer Negativ-Deutungen für das Phänomen menschlicher Sterblichkeit anmutet, kommt deutlich zum Ausdruck in dem zum Standardwerk im Blick auf ein christlich-theologisches Todesverständnis gewordenen Buch über den Tod von Eberhard Jüngel, in dem er zuerst exegetisch feststellt und anschließend dogmatisch postuliert: »Es ist zwar nirgends im Alten Testament bestritten, dass der Tod grundsätzlich eben dies sein könnte: ein das Leben eines Menschen vollendendes Ende. Es gibt vielmehr hinreichend Anhaltspunkte dafür, dass der Tod auch so erfahren werden konnte und von Gott so gemeint war: ›Du gehst in Vollreife zum Grabe ein, gleichwie die Garbe eingebracht wird zu ihrer Zeit‹ (Hiob 5,26). So starben die Patriarchen, die den Tod im hohen Alter als etwas sehr Selbstverständliches akzeptierten. (…) So könnte jeder sterben. Aber de facto ist es anders. (…) De facto ist der Tod widernatürlich. De facto ist er ein Fluch« (Jüngel 1993, S. 93 f.). Dass in diesem Punkt eine sachkritische Revision der kirchlich-theologischen Lehrtradition unbedingt nötig ist, fordern Rüegger (2006), S. 42–48, 59–67 und Jörns (2006), S. 266–285 ein. 49 Frank Nager, der als internistischer Chefarzt, als Medizinprofessor und als Schriftsteller viel über die grundsätzliche Aufgabe der Medizin nachgedacht hat, beklagt immer wieder die »Todesverdrängung moderner Heiltechniker«. Er meint: »Von Berufs wegen ist er (der Tod, H. R.) unser Feind, um nicht zu sagen – unser Todfeind. Vor allem in modernen Spitalzentren, die so inbrünstig auf Heilung von Krankheit und auf Verlängerung des Lebens eingeschworen sind, ist der Tod ein Scandalon. Krankenhäuser wollen nicht Sterbehäuser sein« (Nager 1998, S. 61 f.).
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ein ständiges Nachdenken über den Tod ist« 50 – nicht um dem Leben seine Leichtigkeit und Schönheit zu nehmen, sondern um sie erst richtig wahrzunehmen und auskosten zu können. Denn entgegen einem weit verbreiteten oberflächlichen Empfinden gilt: »Wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben.« 51 Wie menschlich fragwürdig das Streben nach immer noch längerem Leben, ja letztlich nach einer Überwindung des Alterns und Sterbens im Sinne eines radikalen Anti-Aging anmutet, mögen Sätze des Sozialhistorikers Arthur E. Imhof verdeutlichen, eines Forschers, der sich wie wenig andere der Aufarbeitung der mittelalterlichen Tradition der ars moriendi und ihrer Herausforderung für unsere heutige Kultur des langen Lebens gewidmet hat: »Schon mit siebzig hätte ich längst mehr Jahre gehabt, als es die überwiegende Mehrzahl unserer Vorfahren jemals hatte und als es die Mehrzahl unserer Zeitgenossen auf der Welt heute hat. Zudem waren es weitaus bessere Jahre, frei von Hunger, frei von Krieg, frei von Seuchen, weitgehend frei von Gesundheitsbeeinträchtigungen. Wer all dies bekommen hat und dann trotzdem immer noch nach mehr verlangt und auch gleich noch die Unsterblichkeit und die Ewigkeit für sich in Anspruch nimmt, ist ein unverbesserlicher Egoist. (…) Nur wer ein leeres Leben lebt und lebte, schreit immer noch nach mehr. Wer dagegen vierzig, fünfzig, sechzig erfüllte Jahre hinter sich hat, wird eher bereit sein, auch dann schon mit seinem Leben abzuschliessen und Sterben und Tod gelassen hinzunehmen – wenn es denn sein muss.« 52
5.
Zum Schluss
Bereits aus diesen wenigen Hinweisen auf den Inhalt einer Lebenskunst des Alterns dürfte deutlich geworden sein, wie sehr eine philosophische ars senescendi dem Ansatz des Anti-Aging widerspricht. Ja, man muss die Haltung des Anti-Aging (jedenfalls in seiner radikalen Spielform) geradezu als Hindernis für die Entwicklung einer ars senesSo Cicero (1996), S. 32 f. Diese Einsicht führte im 16. Jahrhundert Michel de Montaigne fort, der das 19. Kapitel seiner Essais mit dem alten Satz Ciceros überschrieb: »Que Philosopher, c’est apprendre à mourir« (de Montaigne 2001, S. 124). 51 Lütz (2005), S. 52. Das entspricht auch dem Rat Sigmund Freuds: »Si vis vitam, para mortem« (Freud 1981, S. 355). 52 Imhof (1991), S. 173 f. 50
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cendi ansehen – und damit auch als Hindernis für die Verwirklichung dessen, worum es der Gerontologie insgesamt mit ihrem Leitbild eines positiven oder erfolgreichen Alterns geht. Eine vertiefte Beschäftigung mit dem Altern in der Perspektive einer eudämonistischen Ethik der Lebenskunst scheint mir jedenfalls lohnend, wenn wir als eine Gesellschaft des immer längeren Lebens zukunftsträchtige und lebensfreundliche Vorstellungen vom Altern und vom Alter entwickeln wollen. Vorstellungen, die das Alter weder als etwas Pathologisches perhorreszieren, noch es als idealisierte Zielvorstellung unter einen Leistungs- und Erfolgsdruck stellen. Es gilt daran festzuhalten, dass das Alter als spezifische Lebensphase an der Würde des ganzen menschlichen Lebens partizipiert und deshalb entsprechend gewürdigt und verantwortlich gestaltet zu werden verdient.
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Altern jenseits von Selbstüberhöhung und Selbsthass Was die Anti-Aging-Mode übersieht Eva Birkenstock
Natur! […] Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arm entfallen. […] Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen. J. W. v. Goethe 1
1.
Vorüberlegung: Blick auf die anthropologische Situation aus der Fernperspektive
Das Alter des Universums, in dem wir leben, beträgt ungefähr 13,7 Milliarden Jahre. Auf der Erde sind vor ca. 3,5 Milliarden Jahren Vorformen des Lebens in Gestalt von Proteinen entstanden. Vor 245 Millionen Jahren tauchten die ersten Säugetiere auf. Unsere direkten eigenen Vorfahren erschienen erst vor etwa 5 Millionen Jahren auf der Bühne der Evolution, der homo sapiens vor ca. 160.000 Jahren, und unsere Kulturgeschichte – deren Beginn wohl auch mit der vielschichtigen Reflexion über die Erkenntnis unserer eigenen Endlichkeit zusammenfällt – dauert erst seit etwa 5000 bis 6000 Jahren an. Was dem gewöhnlichen Bewusstsein als eine beinahe unvordenklich lange Zeit erscheint, ist, gemessen an der Entstehung, Entwicklung und Alterung des Kosmos, nur ein winziger Augenblick. Diese Tatsache mag, je nach Einstellung beruhigen (holistisch: wir sind Teil eines Ganzen) oder beunruhigen (existentialistisch: es ist erschreckend, wie wenig wir »objektiv« bedeuten, gemessen an unserem subjektiven Bewusstsein/Selbstgefühl). Unabhängig von unserem Urteil steht jedoch fest, dass unser jeweils einmaliger, individueller Altersprozess eine Fol1
v. Goethe (1783), S. 45.
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Erscheinen der Menschen
ge dessen ist, dass wir, wie alles andere Existierende auch, dem Gesetz der Zeit unterstehen, die uns entstehen, aber auch wieder vergehen lässt. Als Menschen ist es uns seit den wenigen tausend Jahren, in denen wir über das vorreflexive Selbstbewusstsein hinaus auch ein komplexes, reflexives Selbstbewusstsein entwickelt haben, möglich, unseren eigenen Alterungsprozess zu beobachten und ihn zu gestalten. Dazu gehört, dass er uns ängstigen kann, weil wir uns über die eigene Endlichkeit im Klaren sind, uns Sorgen machen über vitale wie kognitive und emotionale Einbußen an Kraft, Schnelligkeit, Auffassungsoder Kombinationsgaben, Einfühlungsvermögen, und schließlich auch über das unvermeidliche Übertreten der Grenze des Lebens, das Sterben. Altern nicht nur als unvermeidlichen Prozess durchzumachen, sondern planen, gestalten und auch immer weiter hinauszögern zu können, ist ein Phänomen, das sowohl biologisch, im Vergleich zu Lebewesen, die nah mit uns verwandt sind, außergewöhnlich ist, als auch sozialpolitisch global (noch) nicht zu den Selbstverständlichkeiten gehört. Von Natur aus sind wir primär nicht dazu gemacht, alt zu werden, sondern um das Leben weiter zu tragen, weiter zu geben. Worauf es in der Evolution ankommt, ist, anders gesagt, nicht das Altern als möglichst langer Erhalt des Individuums, sondern die Fortpflanzung – nicht nur im eng biologischen, sondern auch im sozialen Sinn der Weitergabe – als Prinzip von Erneuerung und Weiterentwicklung des Lebens. Das selbstbewusste Individuum, das gekränkt an seiner Endlichkeit verzweifelt, ist selbst das Ergebnis der Endlichkeit von Anderen – »Al274 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Altern jenseits von Selbstüberhöhung und Selbsthass
Geschichte der Menschen
tern war der Preis für unsere eigene Existenz« sagt dazu der Evolutionsbiologe Robert Zwilling. 2 Auch die mit uns am nächsten verwandten Spezies kennen kaum ein Alter über die reproduktive Zeit hinaus, es sei denn in raren Ausnahmefällen (Orcas, Wale), oder in Situationen, die der menschlichen Kultur analog sind (Primaten in Gefangenschaft). Als Grund für diese Sonderstellung des Menschen kommt, sozialwissenschaftlich erklärt, wohl am ehesten die Ausbildung einer Kultur intergenerativer Solidarität in Betracht: Alte Menschen hatten mit wachsender Sesshaftigkeit und Entwicklung vermutlich wichtige Aufgaben als Hüter/innen des Feuers, Betreuer/innen der Kinder, Lehrer/ innen des tradierten Wissens übernommen. Heute, nach Jahrtausenden durch Kindersterblichkeit, Infektionskrankheiten und Kriege ungesicherter Lebenszeit, stehen wir in der industrialisierten Welt vor einer Situation der »gewonnenen Jahre«: 3 Erstmals in der Geschichte überhaupt können und müssen die meisten von uns damit rechnen, ein hohes Alter zu erleben. Das bedeutet Chance und Aufgabe zugleich. Es ermöglicht eine grundsätzlich andere, langfristige Lebensplanung, bei der das Ganze des eigenen Lebens prospektiv entworfen und retrospektiv betrachtet werden kann. Ein relativ sicheres, langes Leben und sogar gerade die langwierigen, chronischen Krankheiten, die heute oft die letzte Lebensphase begleiten, bieten die 2 3
Vgl. Zwilling (1992), S. 2. Imhof (1981).
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Möglichkeit, Abstand zu nehmen, zu ordnen und nachzudenken. »Unseren Vorfahren«, schreibt der Sozialhistoriker Imhof, »war zumeinst nicht einmal dies vergönnt […] vor allem deswegen, weil sie von rasch tötenden Infektionskrankheiten dahingerafft wurden.« 4 Der amerikanische Psychologe James Hillman vertritt emphatisch die These, unsere lange Lebenserwartung sei vor allem eine noch gar nicht richtig begriffene Chance der Persönlichkeitsbildung: »Aging is no accident. It is necessary to the human condition, intended by the soul. […] The last years confirm and fulfill character.« 5 In Folge der Möglichkeiten moderner Bio- und Gentechnik (genetic engineering), regenerativer Medizin und einer immer weiteren Grenzverschiebung in Richtung des früher noch Undenkbaren, ergeben sich aus diesen neuen Optionen jedoch auch Gefahren kritikloser Machbarkeitsphantasien. In seinem Roman Homo faber, in dem Max Frisch den tragischen Konflikt eines modernen, aufgeklärten und technikbegeisterten Menschen mit dem Natürlichen schildert, fasst der Protagonist den Wunsch nach Beherrschung der Natur, und damit auch des Alterns und Sterbens mit folgenden Worten zusammen: »[…] nur der Dschungel gebärt und verwest, wie die Natur will. Der Mensch plant.« 6 Die Idee ist attraktiv, durch Forschung und Technik die Probleme des Lebensbeginns wie des Endes beherrschen und negative Aspekte zurückdrängen zu können, so dass z. B. die Lebenskurve nicht mehr gegen Ende hin abfällt, sondern – wie im Falle eines Unglücks – stabil verläuft, bis sie abbricht. Die meisten Menschen fürchten sich vor chronischen Krankheiten, Schmerzen, Einbußen an Autonomie und einem langsamen Ableben und wünschen sich einen »schnellen« Tod nach erfülltem Leben. Astrid Stuckelberger, eine entschiedene Vertreterin der Anti-Aging-Medizin, Mitglied der School of Public Health in Genf, auf deren Expertisen sich u. a. auch die WHO stützt, hält jede Skepsis gegenüber diesem Modell für antiquiert. 7 Ohne die gute Absicht dahinter bezweifeln zu wollen und indem auch der Verdacht zurückgestellt wird, es gehe neben dem subjektiven Wohlbefinden v. a. auch um die Bedürfnisse einer expandierenden Gesundheitsindustrie, stellt sich die Frage, ob die Kreierung
4 5 6 7
Imhof (1988), S. 160. Hillman (1999), S. xiii. Frisch (1980), S. 106. Vgl. Stuckelberger (2008), S. 79 ff.
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eines derart neuen bzw. erneuerten Menschen nicht eine anthropologische und v. a. psychologische Überforderung bedeutet. »Ihr lebt, als lebtet ihr ewig, niemals kommt euch eure Gebrechlichkeit in den Sinn«, redete Seneca schon vor zweitausend Jahren seinen privilegierten Zeitgenossen ins Gewissen. 8 Heute befinden wir uns in den Industrieländern mehrheitlich in dieser Situation. Unsere Stellung in der Welt ist einerseits eine sehr mächtige – in nur fünf Jahrtausenden Kulturgeschichte haben wir Technik, Kommunikation, soziale, politische und rechtliche Vorstellungen so weit entwickelt, dass wir an weltumspannenden Ordnungssystemen arbeiten –, anderseits ist sie aber auch eine immer noch schwache und verletzliche. Die immer perfektere Transformation von Ohnmacht in Macht verführt heute in zunehmendem Maße zu Phantasien über die Möglichkeit, den Alterungsprozess immer weiter hinauszuschieben, anzuhalten, vielleicht sogar gänzlich ausschalten oder revidieren zu können. Das käme einer Realisierung des von Freud diagnostizierten heimlichen, naiven und narzisstischen Glaubens an die eigene Unsterblichkeit entgegen. 9
Wir verleugnen die Natur auf ihrem rechtmäßigen Felde, um auf dem moralischen ihre Tyrannei zu erfahren […]. F. Schiller 10
2.
Anthropologische Prämisse: Die Kluft zwischen Erkenntnisvermögen und Moral
Die Rolle des Menschen als Lebewesen, das sich außer der natürlichen Welt auch eine komplexe soziale, theoretische und moralische Welt schaffen konnte, wird von einem fundamentalen Zwiespalt zwischen dem Notwendigen (Natur) und dem Möglichen (Kultur, Wissenschaft, Moral) durchzogen. In seiner Rede über die Würde des Menschen 11 stellte Giovanni Pico della Mirandola 1486 fest, dass der Mensch, nicht nach einem vorbestimmten Urbild geschaffen sei. 12 Vielmehr nehme er Seneca (1977), S. 11. Freud (1974), S. 341. 10 Schiller (1984), S. 453. 11 della Mirandola (1997). 12 Vgl. Rentsch (2000), S. 152 f. 8 9
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in der Welt keinen spezifischen Platz ein und besitze auch keine entscheidenden positiven Eigenschaften. Aus dieser konstitutionellen Schwäche heraus muss und darf er sich daher sein Wesen erst immer wieder selber neu schaffen. Es besteht also eine Art Zirkularität zwischen Intelligenz und Schwäche, zwischen Freiheit und Unsicherheit. Indem der Mensch durch keine engen Zwänge der Natur begrenzt ist, kann er mit freiem Willen Entscheidungen über sein Leben treffen und sich aufgrund seiner flexiblen, plastischen Intelligenz stets neu erschaffen. In § 5 der Rede wird er daher als »Bildhauer und Gestalter seiner selbst« beschrieben, 13 in § 7 als ein Chamäleon, 14 das sich perfekt und schnell seiner Umgebung anzupassen vermag. Zwar ist er ein Geschöpf der Natur, als deren Prinzip Pico Krieg und Kampf ausmacht, 15 aber er kann danach streben, »den Engeln gleich«, also gut zu werden. Wenn wir uns »die Hände und Füße mit Moralphilosophie waschen wie in einem Fluss«, 16 meint er, kletterten wir auf der Stufenleiter göttlicher Ordnung höher. Dies macht den entscheidenden Unterschied zu den religiösen Hierarchien aus, die den Menschen unterhalb der Engel und über den Tieren platzierten: In der Morgendämmerung der Neuzeit beginnt der Mensch sein Leben als Kreatur, kann sich aber durch eigenen Willen und das moralische Streben nach Verbesserung in die Nähe der Engel emporarbeiten. So wird die Anerkenntnis der konstitutionellen Schwäche sogar zu einer wesentlichen Voraussetzung für das Streben nach Selbstverbesserung. Der Begriff der Selbstverantwortung, der Selbstsorge gewinnt ethisch an Stärke: Man muss sich emporarbeiten, Bilanz ziehen, Rechenschaft ablegen, reflektieren, sich über Gelungenes freuen, Versäumtes bzw. Schlechtes bereuen, womöglich wieder gutmachen. Die Selbstsorge als »auf sich selbst achten« bzw. »um sich selbst kümmern«, wie Foucault schrieb, 17 ist nicht mit Egoismus oder Egozentrismus gleichzusetzen. Wie schon in Heideggers Analyse der Struktur der Sorge im 6. Kapitel von Sein und Zeit 18 hat sie vielmehr den doppelten Sinn der Bewährung eines zu jeder Zeit gefährdeten, verletzlichen und fragilen individuellen Daseins als Ent-
13 14 15 16 17 18
della Mirandola, P. (1997), § 5, Abs. 22. A. a. O. § 7, Abs. 32. A. a. O. § 17, Abs. 97. A. a. O. § 15, Abs. 85. Foucault (1993), S. 28. Heidegger (1986), S. 180 ff.
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wurf in die Zukunft einerseits und konkreter Realitätsbewältigung andererseits. Die über 500 Jahre alten Metaphern vom Chamäleon bzw. vom Bildhauer/der Bildhauerin sind heute noch aktuell, wobei sich der Schwerpunkt jedoch von der Arbeit an moralischer Vervollkommnung hin zum physischen oder auch neuro-enhancement, zur Verbesserung, Optimierung, Potenzierung eines von der Natur nur mangelhaft ausgestatteten Produkts verlagert hat: Wir werden älter und gesünder, haben Techniken und Medikamente gegen Alterserscheinungen und unterziehen das Leben vom ersten Anfang an (Pränataldiagnostik) einer zunehmend strengen Qualitätskontrolle. Viele der Verbesserungen sind das Ergebnis wissenschaftlichen Fortschritts im Namen der Vermeidung von Leid, doch es besteht auch die Gefahr, dass bei der Suche nach Optimierung der Fokus zu stark auf kurzfristige und egozentrische Motive verengt wird. Die moralische Evolution steht dabei noch am Anfang und ist immer in Gefahr, schwere Rückschläge zu erleiden. Die Doppelnatur als Natur- und Geistwesen macht es uns oft schwer, uns mit der eigenen Endlichkeit abzufinden, und unser reflexives Bewusstsein, das dazu führt, dass wir uns wie mit den Augen eines Anderen betrachten zu können, regt zur Selbstkritik an. Weil wir über uns hinaus denken können, weil unser potentiell unendlicher Geist, wie Kierkegaard sagt, in einem endlichen Körper steckt, wird die Endlichkeit zur Belastung. Christian Hermann Weiße, ein Nachfolger Schellings, sah z. B. geradezu eine »Anomalie« darin, 19 dass die mit einem zur Freiheit bestimmten und potentiell unendlichen Geist begabten Menschen sterben müssen, und Ernst Bloch gewann dieser Gespaltenheit sogar eine absurde Dimension ab: »dass der lange planende Mensch abfährt wie Vieh, ist auch gleichsam witzig.« 20 Zu diesem allgemeinen Phänomen kommt noch ein spezifisches dazu, nämlich, dass die Alterung des Körpers oft als phasenverschoben, d. h. als zu schnell, gegenüber der subjektiv empfundenen Alterung erlebt wird, woraus sich ein scheinbarer Anspruch auf »Korrektur« ableitet. 21 Diese erstreckt sich keineswegs nur auf den Bereich des ÄstheVgl. Weiße (1829), S. 25 f. Bloch (1982), S. 1299. 21 In seinem jüngst erschienen Erfahrungsbericht Nur nicht hängen lassen! Mein Facelifting setzt der Event-Manger Oliver Spiecker diese Auffassung als Selbstverständlichkeit des zeitgemäßen Homo faber voraus, s. Spiecker (2009). 19 20
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tischen, sondern auch des Genetischen und führt z. B. zur Life-Extention-Forschung, deren Verfechter eine Ausdehnung der Lebensspanne von bis zu 300 Jahren für möglich halten. Während noch bis vor 200 Jahren das Wünschbare, nämlich das allgemeine Erreichen des Alters als kaum machbar galt, müssen wir heute fragen, ob das vielleicht biotechnisch Machbare auch wirklich wünschbar ist. Im Folgenden möchte ich in drei Schritten erläutern, dass 1) das Altern als Ausdruck der Endlichkeit die bessere Alternative zur Suche nach unendlichem Weiterleben ist; dass 2) das Alter heute in Gefahr ist, zum Selbstzweck reduziert zu werden; und dass 3) eine Renaissance der Idee einer Einheit von Ethik und Ästhetik zu einem alternativen Altersbild beitragen könnte.
Die Schönheit der Seele ist schwerer zu erkennen als die des Körpers. Aristoteles, De anima
3.
Über die Chancen eines nicht manipulierten Alterns
3.1. Altern als bessere Alternative gegenüber der Suche nach unendlichem Weiterleben 3.1.1. Lebensverlängerung und soziales Gewissen Im Vorwort zu einer gemeinsamen Studie der Universitäten New Haven (Yale) und Seattle über Chromosomen-Instabilität und Altern schlägt Philip C. Hanawalt folgende Gewissensprüfung vor: »would we wish that all humans on the planet should be able to live that long, or just you and me?« 22 Dabei setzt er voraus, dass die partikularistische Antwort »just you and me« oder erst recht eine gänzlich solipsistische »just me« nicht zu legitimieren sind und deshalb die Suche nach einem genetischen Jungbrunnen kein selbstverständliches Ziel sein kann. Aber wäre es überhaupt wünschbar, auch wenn man den sozialpolitischen Aspekt ausklammern würde?
22
Hanawalt (2003), S. VI.
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3.1.2. Nichtsterben zu können ist schlimmer als sterben zu müssen Kierkegaard, der selbst mit 42 Jahren gestorben ist und in dessen Werk sich keinerlei rhetorische Überhöhung des Alterns finden lässt, gibt eine eindeutig negative Antwort: Im ersten Teil von Entweder–Oder thematisiert er das Unbehagen vor dem Altwerden, wobei er zugleich den Widerstand dagegen scharfsichtig kritisiert. In seinem Frühwerk hatte er noch nicht die Idee der zwei Tode entfaltet, 23 die später in der Krankheit zum Tode zum Tragen kam und die den physischen Tod als »Durchgang zum Leben«, nämlich zum ewigen Leben versteht. Das heißt, die physische Endlichkeit wird in Entweder–Oder nicht vom Licht des Glaubens an ein ewiges Lebens überstrahlt. Dennoch erachtet Kierkegaard sie auch hier schon als das geringere Übel gegenüber der schlechten Unendlichkeit des immer gleichen. Nur eine gelebte, dimensionierte, gestaltete Zeit garantiert, nicht in lähmender Langeweile zu erstarren: »vergeblich schminkst du einer alten Metze gleich dein zerfurchtes Antlitz, vergeblich lärmst du mit Narrenschellen; du langweilst mich, es ist doch immerzu das Gleiche, ein ewig Einerlei […].« 24 Die Sterblichkeit ist die bessere Alternative gegenüber einem schlechten unendlichen Leben, 25 das schlimmer wäre als der Tod, weil die Zeit nicht nur Endlichkeit, sondern auch die Bedingung für Liebe und Glück bedeutet. Unglücklich ist, wer sterben muss, aber der Unglücklichste ist der, der nicht sterben kann: Er kann nicht alt werden, denn er ist nie jung gewesen; er kann nicht jung bleiben, denn er ist schon alt geworden; er kann gewissermaßen nicht sterben, denn er hat ja nicht gelebt; er kann gewissermaßen nicht leben, denn er ist schon gestorben; er kann nicht lieben, denn die Liebe ist allezeit gegenwartsbestimmt, und er hat keine Gegenwart, keine Zukunft, keine Vergangenheit. 26
Der Unglücklichste ist ruhelos, doch in seiner Unruhe zugleich gelähmt, er lebt nicht wirklich, ist abwesend und hat weder Gegenwart noch Emotionen.
23 24 25 26
Vgl. hierzu Birkenstock (1997), S. 71 ff. Kierkegaard, (1922) (kursiv E. B.), S. 31. Vgl. a. a. O., S. I, 193 ff., »Der Unglücklichste«. Kierkegaard (1954), S. I 200.
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3.1.3. Die antagonistische Symbiose zwischen Individualismus und Sterblichkeit Die Keimzellen, die wir in uns tragen, repräsentieren ja die ganze Zukunft der Art; das Individuum, das um diesen »Schatz der Arterhaltung« herum aufgebaut wird, ist hinfällig, zum Tode verurteilt. A. Portmann 27
Hans Jonas betonte angesichts des wissenschaftlichen Optimismus über die immer weitere Ausdehnung der Lebensspanne bereits vor mehr als zwanzig Jahren, wie wichtig die Balance zwischen Vergehen und Erneuerung sei: Aber vielleicht ist eben dies die Weisheit in der harschen Fügung unserer Sterblichkeit: dass sie uns das ewig erneute Versprechen bietet, das in der Anfänglichkeit, der Unmittelbarkeit und dem Eifer der Jugend liegt, zusammen mit der stetigen Zufuhr von Andersheit als solcher. 28
Die Zustimmung zum harten Schicksal der eigenen Endlichkeit geschieht nicht ohne Melancholie, aber in der Einsicht in die ethische Gefahr egozentrischer Hybris und mit einer Offenheit gegenüber dem Anderen, ohne die das soziale und kulturelle Leben insgesamt zu verarmen drohte. Das Phänomen intergenerativer Weitergabe und Erneuerung nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, hieße in anmaßender Selbstüberschätzung zu leugnen, dass es dieselbe Evolution war, die über Jahrmillionen zu dem bislang einzigen Organismus geführt hat, der kognitiv so weit entwickelt ist, dass er seine eigene Endlichkeit überhaupt gedanklich antizipieren, darüber kommunizieren und sie gestalten und sogar zunehmend manipulieren kann.
3.2. Alter als Selbstzweck? Viele Bonmots kreisen darum, dass Altern, auch wenn es als negativ empfunden wird, immerhin noch die bessere Alternative zu einem frühen Tod darstelle. Die Denkfigur lautet: Niemand will sterben. Früher sterben zu müssen ist schlechter als einen Aufschub zu bekommen.
27 28
Portmann (1976), S. 119. Jonas (1987), S. 49.
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Deshalb ist Altwerden ein anzustrebender Zustand, und je älter man wird (man muss hinzufügen: bei guter oder zumindest akzeptabler Gesundheit), desto besser. Sie folgt einer Optimierungs- und Maximalisierungslogik, die nicht unbedingt selbstverständlich ist. Die New Economics Foundation, ein auf dem alternativen Wirtschaftsgipfel von 1986 gegründeter think tank veröffentlichte im Juli 2009 ihren zweiten Happy Planet Index, 29 in dem weltweit wesentliche Parameter für ein glückliches Leben gesammelt und statistisch ausgewertet werden. Das dadurch entstehende Länderranking spricht eine etwas andere Sprache: nicht die bloße Lebenserwartung spielt die primäre Rolle, sondern die Lebensqualität, die sich wiederum nicht in erster Linie in materiellem Reichtum (BSP), sondern in Lebenszufriedenheit und sozialen Bezügen bemisst. Ganz oben steht Costa Rica, gefolgt von einer Reihe südamerikanischer und karibischer Länder, während Europa, Nordamerika und Japan, die Länder mit der statistisch gesehen höchsten Lebenserwartung, erst im Mittelfeld folgen. Dieser empirische Befund gibt Epikur recht, der schon vor über 2300 Jahren lehrte, dass Glück vor allem bedeutet, sich in möglichst vielen Momenten von der Herrschaft der Zeit und von der panischen Sorge, etwas zu versäumen, zu befreien. Dadurch kann sich das Glück von äußerlichen Bedingungen emanzipieren. Es ist nicht deshalb endlich, weil wir sterben müssen, sondern es wird in jedem Moment vernichtet, in dem wir uns durch die Angst vor der verrinnenden Zeit und vor der eigenen Endlichkeit den Genuss an der Gegenwart stehlen lassen. Das Leben verlieren die Menschen eher abstrakt durch den Tod, der am Ende droht und nur vermittelt in das Leben integriert wird, konkret jedoch ständig im Nichtergreifen gegenwärtiger Möglichkeiten zugunsten einer Projektion des Glücks auf die ferne Zukunft: »Du aber bist nicht Herr des morgigen Tages und schiebst dennoch das Erfreuliche auf. Das Leben geht unter Zaudern verloren, und jeder einzelne von uns stirbt in seiner Unrast.« 30 Vergreisung droht also nicht vornehmlich am Ende des Lebens, sondern ständig – in der Verachtung
http://www.happyplanetindex.org Epikur (1980), S. 83. Zur umgekehrten Reziprozität zwischen dem verzweifelten Versuch, durch Beschleunigung dem Leben scheinbar mehr abzugewinnen und dem gerade dadurch verursachten Verlust an realen Erfahrungen von Glück und damit von erfüllter Lebenszeit vgl. Gronemeyer (1993), S. 102 ff. 29 30
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des Präsenten: »Gedenkt [der Mensch] nicht des ihm zuteil gewordenen Guten, so ist er schon heute zum Greis geworden.« 31 Auch Seneca betont 300 Jahre später die Unabhängigkeit des Lebensglücks (der Lebenszufriedenheit) von der zeitlichen Extension. Seine Schrift Von der Kürze des Lebens handelt nicht vom Wunsch eines langen, sondern eines erfüllten Lebens, womit er großes Gewicht auf die Selbstverantwortung legt, die darin besteht, die eigene Lebenszeit gut zu nutzen. Für ihn heißt das nicht, sie maximal zu funktionalisieren, sondern Möglichkeiten authentischer Existenz zu realisieren. »Nur ein kleiner Teil des Lebens ist es, in dem wir leben. Die ganze übrige Spanne ist nicht Leben, sondern Zeit.« 32 Wie quälend das Erleiden einer nackten, jeder Erfüllung beraubter Zeit ist, konnte eine an zeitbezogenem Zwangsdenken leidende Patientin des Psychiaters Victor v. Gebsattel reflektieren, die als Grund ihrer Störung ihre Angst vor dem Älterwerden angab. 33 Vergegenwärtigt man sich die Tristesse in manchen Alters- und Pflegeheimen oder auch auf bestimmten geriatrischen Stationen, wo die Zeit meist nur mühsam von einer (oft den physiologischen Rhythmus missachtenden) Mahlzeit zur nächsten, unterbrochen von Körperpflege, Anwendungen, und hin und wieder etwas Beschäftigungs- oder Musiktherapie verstreicht, zeigt sich die ganze Berechtigung der Sorge vor einer unerfüllten Zeit, die im Alter bedrohliche Ausmaße annehmen kann. Nachdem sich die Lebensspanne in den letzten zweihundert Jahren wieder kontinuierlich ausgeweitet hat (dies ist kein linearer Prozess, weil die Lebenserwartung im antiken Athen, vor allem aber im römischen Reich höher war als im Mittelalter und in der frühen Neuzeit; vgl. auch das Sinken der Lebenserwartung im nachsowjetischen Russland) war die erste Reaktion auf diesen Zugewinn an Lebenszeit uneingeschränkte Freude. Heute, in einer Phase der Konsolidierung und Ernüchterung werden wir uns des Mangels an positiven Altersbildern und der Gefahren einer Lebenszeitverlängerung, eventuell sogar ausgestattet mit partiellem Lustgewinn, aber ohne entsprechendes Wertereservoir bewusst. Eine pluralistische Gesellschaft reagiert darauf mit vielfältigen Konzepten. Zu einem dominierenden Ansatz gehört die Segmentie31 32 33
Epikur (1980), S. 83. Seneca (1977), S. 7. Vgl. Theunissen (1991), S. 218–281.
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rung des Alters in einen aktiven, relativ gesunden Abschnitt (jüngeres Alter, dritte Lebenszeit) und eine verletzlichere, von einem Schwund an Autonomie gekennzeichnete, vierte Lebensphase. Vor allem das jüngere Alter wird dabei zunehmend zum Gegenstand von Optimierungsstrategien nach dem Maßstab jüngerer Jahre. Dazu gehören Diätik, kognitives wie physisches Training, positives Denken, soziale Aktivität, aber auch eine explodierende Anti-Aging-Medizin, die zunehmend traditionelle Heil- und Präventionsverfahren mit marktorientierten Dienstleistungen vermischt. Die Definition von Anti-AgingMedizin ist schwierig: Es gibt typische »Alterskrankheiten« wie Diabetes vom Typ II, Demenz (Alzheimer), Parkinson, degenerative Prozesse wie Arthrose oder Makula-Degeneration, in deren Erforschung, Prävention und Therapie viele Ressourcen investiert werden, die aber insofern nicht in den engeren Bereich der Anti-Aging Medizin gehören, als es sich um spezifische Erkrankungen mit physiologischer Ursache handelt. Anders verhält es sich mit der Life-Style-Medizin im engeren Sinne, die nicht spezifische, medizinisch relevante Gesundheitseinbußen kuriert, sondern vor allem ein psycho-soziales Unbehagen zu beheben versucht – wobei sie durchaus mithilft, dieses zu induzieren. Allein die Inzidenz der typischen Alterserkrankungen führt in den industrialisierten Ländern, in denen es die materiellen Voraussetzungen dafür gibt, zu einer fortschreitenden Gerontologisierung der Medizin in dem Sinne, dass die für sie aufgewendeten Ressourcen diejenigen für die Bekämpfung der Armutskrankheiten wie Malaria, Tuberkulose, inzwischen auch HIV/Aids bei weitem übersteigen. Dieser demographische Prozess geht einher mit einer Verschiebung des Vermögens zugunsten älterer Menschen und mit ihrem zunehmenden politischen Gewicht. Dem Defizit der Altersdiskriminierung in der Arbeitswelt und im Bereich der Konkurrenz um Attraktivität oder Erfüllungschancen steht ein Privileg an Allokation gegenüber. Während die Gesellschaft Kinder nur noch knapp sechs Jahre von allen Pflichten freistellt (wobei die Schulpflicht natürlich auch eine unverzichtbare Bildungschance darstellt), bleibt das dritte Lebensalter ohne vergleichbare reziproke soziale Eingebundenheit (das Recht auf Altersversorgung ist an keine bürgerschaftlichen Pflichten gebunden). Die seit der Antike und in allen Kulturen durchaus bekannten Alterskrankheiten wachsen sich zu Massenepidemien aus. Diese sind nicht gefährlich, weil sie nicht infektiös sind, sondern sie sind ein Zei285 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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chen von Wohlstand. Allerdings stellen sie sowohl individuell als auch sozial vor erhebliche und neue Aufgaben. Diese Situation ist historisch gänzlich neu und ihr Paradigma muss erst noch formuliert werden. Es kann sein, dass die Optimisten Recht behalten, und die Zeit, in der das Durchschnittsalter steigt, eine friedliche, freundliche und sichere Epoche wird, 34 weil ältere Menschen weniger aggressiv sind und ältere Gesellschaften den Krieg mehr fürchten als junge, die zudem unter Umständen noch einen Männerüberhang haben. 35 Aber auch Pessimisten, die ein »Altersbeben«, 36 neue Generationenkonflikte und Verteilungskonkurrenz fürchten, haben stichhaltige Argumente für ihre Szenarien. Viel hängt von einer weitsichtigen und nachhaltigen Planung ab und davon, dass das dritte Lebensalter nach Maßgabe der Gesundheit – die sich Dank Prävention und Therapie in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verbessert hat – sozial verstärkt eingebunden wird, um dem vierten, dem besonders verletzlichen Lebensabschnitt maximalen Schutz zu garantieren.
3.3. Plädoyer für die Renaissance einer Idee der Einheit von Ethik und Ästhetik Die Primitiven versuchten den Tod zu annullieren, indem sie den Menschenleib abbilden – wir, indem wir den Menschenleib ersetzen. Technik statt Mystik! Max Frisch 37
An dieser Stelle ist eine Differenzierung nötig, weshalb die folgenden Überlegungen in drei Schritte unterteilt werden: Es ist erstens zu fraVgl. eine Studie der Soziologen Catherine Ross und John Mirowsky an der University of Texas (Austin) von 2008. (Aging brings a sense of peace and calm http://www. thaindian.com/newsportal/south-asia/aging-brings-a-sense-of-peace-and-calm_10050 567.html#ixzz0hJZ8G95K) 35 Letzteres gilt v. a. für die beiden neuen Wirtschaftsmächte China und Indien, aber auch für Länder im Süden der ehemaligen Sowjetunion und im ehemaligen Jugoslawien sowie für Südkorea, Hong Kong und Singapur. Wo alte Traditionen der Abwertung von Frauen mit einem Modernismus ohne Moderne zusammentreffen, der durch flächendeckende Diagnostik einen »Gendercide« möglich macht. Vgl. The Economist (2010) und Warren (1985). 36 Wallace (1999) 37 Frisch (1980), S. 77. 34
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gen, welche Rolle die Medizin zwischen Heilung und nachfrageorientierter Dienstleistung spielt, und zweitens ob es ethische Einwände gegen eine Gleichsetzung von Altern und Krankheit gibt. Schließlich möchte ich drittens eine alternative Sichtweise vorschlagen. Im Unterschied zu kosmetischen Anwendungen sind – das sei vorab im Sinne einer notwendigen Differenzierung bemerkt – medizinische Eingriffe irreversibel, je nach Schwere mit einem operationstypischen Risiko behaftet und können nicht in Eigenregie und -verantwortung durchgeführt werden (s. Haftungsprozesse 38 ). Anbieter ästhetischer Operationen werben gezielt holistisch mit einem Mischangebot aus Kosmetik, Wellness, Ernährungsberatung, und scheinbar eher beiläufig auch Chirurgie. 39 Oft wird der Service zusätzlich durch kulturelle Ambitionen – z. B. literarische Zitate oder Reproduktionen aus dem Bereich der bildenden Kunst (beliebt ist der Jungbrunnen Cranachs) – aufgewertet. 40 Mit der Frage nach der Legitimität einer Popularisierung dieses Marktes befassen sich die folgenden Abschnitte. 3.3.1. Es gibt keine Medizinkritik ohne Gesellschaftskritik Mediziner arbeiten in einem Bereich, in dem sich der klassische Heilungsanspruch und -auftrag mit einem Markt erwartungsbasierter Gesundheitsangebote überschneidet. Sie stehen unter hohem Erwartungsdruck: Die Gesundheitspolitik verlangt maximale Effizienz bei gedeckelten Kosten; die einzelnen Patienten projizieren ihre Erwartungen an ein langes, gesundes und glückliches Leben auf einen maximalen Einsatz an Ressourcen zu ihren Gunsten und sind ggf. auch zu privaten Finanzierungen bereit bzw. in der Lage. 38 Vgl. OLG Düsseldorf 20/03/2003, 8U 18/02; OLG Frankfurt a. M. 19/12/2006, 8U 268/05; OLG Hamm 29/03/2006 3U 263/05. 39 »Die moderne Körperpflege hat in Richtung eines ganzheitlichen Angebots die verschiedensten medizinischen, kosmetischen oder apparativen Methoden entwickelt.« (Internetportal der Lifestyle-Medizin: www.lifestylemed.net, kursiv E. B.) 40 Die Heidelberger Klinik »proaesthetik« warb z. B. einerseits im Sommer 2009 mit dem profanen Motto, Schönheit sei bezahlbar, auf Plakaten um ein breites Publikum, andererseits stellt sie ein Motto aus Goethes Wahlverwandtschaften auf ihrer Homepage obenan: »Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast«, wobei für Goethe allerdings äußere Schönheit untrennbar mit innerer verbunden war: »Schönheit ist Geist, der einen sinnlichen Leib hat.« heißt es in Bettina von Arnim, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Auf eine Symbiose zwischen Kunst und Medizin setzt auch die Klinik »Artemed« (Hamburg/München).
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Es gibt eine kontinuierliche Debatte darüber, welche Leistungen gesundheitlich nötig und welche überflüssig sind, wobei in der Regel utilitaristische Argumente angeführt werden: Was für die meisten den größten Nutzen bringt, ist anzustreben. Jenseits harter epidemiologischer Daten über die Effizienz von Prävention und Therapien öffnet sich allerdings ein weites Feld medizinischer Hilfen, die nicht nur der Lebensverlängerung dienen, sondern v. a. der Verbesserung der Lebensqualität, deren Einschätzung wiederum persönlichem Ermessen unterliegt, aber auch nicht unerheblich von gesellschaftlichen Normvorstellungen abhängt. Zahnlücken bei einem vierzigjährigen Menschen (welche die Natur in diesem Alter durchaus vorgesehen hat) gelten heute allgemein als unakzeptabel, weshalb eine rekonstruierende Therapie als normal gilt und unterstützt wird. Da wir uns beim Zahnersatz wie bei Gebisskorrekturen in einem Grenzbereich zwischen Medizin (Wichtigkeit des Kauvermögens für das Verdauungssystem) und Ästhetik bewegen, steht er nicht typisch für Eingriffe, die sich allenfalls in Bezug auf ein psychisches Unbehagen medizinisch und nicht nur ästhetisch rechtfertigen lassen. Auf diesen Punkt komme ich später zurück. Der Wandel gesellschaftlicher Idealbilder oder auch nur dessen, was allgemeinen Normvorstellungen entspricht, wird oft von Befürworterinnen und Befürwortern der Anti-Aging-Medizin herangezogen. Sie sehen sich als Pioniere im Kampf gegen die Diktatur der Zeit und als Befreier aus dem Gefängnis körperlicher Defizite. Interessant ist dabei das holistische Konzept, bei dem die Grenze zwischen Kosmetik, Diätik, Medikalisierung und medizinisch-ästhetischen Eingriffen bewusst eingeebnet wird. Schon die Athener Athleten schabten sich vor den Wettkämpfen die Körperhaare vom Leib. Heute existieren hierfür weiter entwickelte mechanische wie chemische Hilfsmittel, doch alternativ zu diesen konservativen Methoden gibt auch von Dermatolog/inn/en durchgeführte permanente Haarentfernung (»kosmetische Dermatologie«) – als ein Posten auf einem beeindruckenden Katalog von Anti-Aging-Angeboten zur Hautverjüngung, Haartransplantation oder Korrekturen »unästhetischer« Makel. Der Körper »muss infantilisiert werden« diagnostiziert der Theoretiker der Multioptionsgesellschaft Peter Gross, »zunächst durch Lifestyle und Potenzsteigerungsmittel, dann durch Schönheitsoperationen.« 41 Gross (2008), S. 61. Die Infantilisierungsthese wurde auch von Odo Marquard vertreten, vgl. Marquard (1987), S. 84 f.
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Alle Versuche, Körper, Seele und Geist durch Verhaltensmaßnahmen dessen zu regenerieren, was unter »Wellness« zusammengefasst wird: vernünftige Ernährung, Bewegung, Entspannung, Kosmetik, konstruktives Denken, kognitive Aktivität, entspringen zweifellos einer Einstellung zu sich selbst, die nicht frei von kritischen Vorbehalten sein muss, aber grundsätzlich positiv ist. Um den signifikanten Schritt über die körperliche Unversehrtheit hinaus zu einem operativen Eingriff zu tun, muss – solange das Motiv ein rein psychisches ist – eine Komponente des Selbsthasses hinzukommen: Angst, Risiko und Schmerzen nimmt jemand ansonsten organisch Gesunder nur auf sich, wenn sein oder ihr psychisches Leiden am eigenen Erscheinungsbild größer ist als der Wunsch, Verletzungen zu vermeiden. Eines der höchsten Grundrechte, die körperliche Unversehrtheit, wird vorübergehend freiwillig aufgegeben, weil das psychische Unbehagen am eigenen Aussehen analog gesetzt wird zur Risiko-Nutzen-Abwägung einer medizinisch indizierten Operation. Auf der Ebene der medikamentösen Rejuvenation spielen der, ebenfalls mit Risiken verbundene, Einsatz von Hormonen, Erythropoietin (EPO), Transmittern und Gewebe-Ersatz (Kollagen) eine erhebliche Rolle. Es wird eine selbstverständliche Identifikation des Alterns mit Krankheit oder zumindest Therapiebedürftigkeit suggeriert, die analytisch nicht ganz nachvollziehbar ist, denn wer alt wird, erbringt den Beweis, nicht schon an einer der lebensbedrohlichen Krankheiten oder kriegerischen Auseinandersetzungen gestorben zu sein, die bis vor kurzem für eine glatte Bevölkerungspyramide sorgten. Natürlich ist, obwohl die Gleichsetzung von Alter und Krankheit nicht evident ist, eine Häufung von Krankheiten im Alter zu verzeichnen, so dass man, wie der Humanbiologe Otto Schachtschabel sagt, nicht streng zwischen einem »normalen« und einem »kranken« Alter unterscheiden könne. Vielmehr seien die Übergänge fließend, weil beide Formen des Alterns auf molekularer Ebene wahrscheinlich durch gleiche Mechanismen (»genetische Dysfunktionen«) verursacht werden. Damit wäre Altern auch als Folge einer »pathologischen« Genexpression mit Krankheit verbunden, und der gealterte Mensch stirbt schließlich an einer Alterskrankheit. Auch unter evolutions-biologischen Aspekten spricht vieles dafür, dass in der Natur keine Selektion von Organismen mit dem Ziel eines »Alterns in Gesundheit« stattfindet. Vielmehr erfolgt im Allgemeinen eine Selektion mit dem Ziel
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von gesunden, fortpflanzungsfähigen Organismen, wobei die Phase nach der Aufzucht weniger wichtig ist. 42
Die Erkenntnis, dass Altern oft multiple Erkrankungen mit sich bringt, heißt jedoch nicht, dass mit der Therapie dieser Erkrankungen das Altern selber »heilbar« wäre. Für die Behandlung von Alterskrankheiten gelten ethisch dieselben Kriterien der Leidensvermeidung wie für Krankheiten während der gesamten Lebensspanne. Die Geriatrie hat sich zeitgleich mit der Pädiatrie, infolge einer Differenzierung und Spezialisierung medizinischer Forschung und Praxis entwickelt, und es ist eine normale Folge demographischer Entwicklung, dass ihre Bedeutung zunimmt und sich ihre Schwerpunkte verlagern. Nur indem Illusionen genährt werden, mit den Alterskrankheiten das Altern als Ausdruck der Endlichkeit, der zeitlichen Verfasstheit des Lebens selbst ausschalten zu können, verringert sich die Chance, sich von der Verurteilung zur Endlichkeit zur Reifung nötigen zu lassen und sozial solidarische Antworten auf die konstitutionelle Schwäche zu finden. Die Extension der Lebensspanne wird andernfalls zum Selbstzweck und zu einer Art futuristischem Alptraum im Sinne Huxleys und ist aufgrund der hohen Kosten nicht zuletzt auch sozial selektiv: Located in the Stasis Biotechnology Research Park and created by architect Stephen Valentine, the Timeship Building’s six-acre structure will be a centre for pioneering life extension research and cryopreservation, as well as the world’s most secure and technologically advanced facility for the storage of cryopreserved biological materials, including organs for transplant, DNA, and people travelling to a future where they can be reanimated to live healthy lives free from aging. 43
3.3.2. Gibt es normative Einwände gegen Anti-Aging-Medizin? Zur Begriffsklärung sei vorangestellt, dass im Folgenden weder Kritik an rekonstruierender plastischer Chirurgie noch an ästhetischen Bagatelleingriffen wie Warzenentfernungen oder an Programmen zur gesünderen Lebensführung geübt wird. Gegenstand sind rein ästhetisch motivierte Eingriffe im Dienst optischer Verjüngung mit operationstypischen Risiken und einer erheblichen Rekonvaleszenzzeit wie z. B. Facelifting, Haartransplantation etc. 42 43
Schachtschabel (2004), S. 179 f. http://www.timeship.org
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Das Hauptargument, das zur Begründung solcher ästhetischer Eingriffe verwendet wird, ist das bereits erwähnte psychische Leiden an einem zumindest partiell als hässlich oder unangemessen empfundenen Körper. Hier kann man natürlich zurückfragen, wodurch dieser Leidensdruck eigentlich erzeugt wird. Stellen wir uns vor, es gäbe eine Gesellschaft, in der noch kein Narziss gelebt hätte und in der das Interesse am eigenen Spiegelbild irrelevant und auch die ästhetische Beurteilung durch die Anderen unbekannt wäre. In einer solchen hypothetischen Gesellschaft gäbe es kein induziertes Leiden am nicht perfekten Aussehen, keine Diktatur des Erscheinens. Doch dieses Gegenargument ist nicht stichhaltig, wenn man die Natur selbst, die für unser Aussehen verantwortlich ist, studiert: Schon noch nicht gesellschaftlich geprägte Säuglinge schauen sich nach einer Studie des Psychologen Alan Slater der University of Exeter als schön geltende, ebenmäßige Gesichter aufmerksamer an; außerdem gibt es – abgesehen von einigen rituellen Extremen wie Tellerlippen oder Halsstreckungen – eine interkulturelle Vorliebe für harmonische Proportionen, und auch viele Tierarten, aus deren Verhalten wir einiges über uns selbst lernen können, haben etwas Analoges wie Schönheitsideale. Was die Natur im Einzelnen hervorbringt, muss also nicht automatisch schön und gut sein. Warum sollte ein Stiefkind der Natur daher nicht berechtigt sein, eine Korrektur vorzunehmen? »Corriger la fortune«, das Glück, das Schicksal zu korrigieren, gehörte so gesehen zur menschlichen Emanzipation und zum humanen Ausgleich kreatürlicher Ungerechtigkeit. Der kreationistische Einwand gegen ästhetische Eingriffe kann also als widerlegt gelten. Damit ist jedoch nicht gleichzeitig auch der gesellschaftskritische Einwand ausgehebelt. Moden kommen und gehen bekanntlich in rational nicht ganz nachvollziehbaren Zyklen; ihr Normierungsdruck ist erheblich, sie sind ein ernsthafter Wirtschaftsfaktor und dienen als Instrument einer Dynamik von Inklusion und Exklusion. Sollte man deshalb irreversible ästhetische Eingriffe als Kapitulation vor der Macht von Mode und Massengeschmack ächten? In der Selbstdarstellung der German Society for Anti-Aging-Medicine (GSAAM) findet sich die bereits erwähnte strategische Vermischung von Prävention, Therapie und ästhetischer Korrektur, die sich für eine Illustration des Problems eignet:
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Die GSAAM grenzt ästhetische Belange jedoch keinesfalls aus, sondern sieht sie im Gesamtkontext der Prävention. Führt doch ein erfolgreich durchgeführtes und komplettes Anti-Aging Programm nahezu immer auch zu einem besseren ästhetischen Gesamtergebnis. Beispiele hierfür sind die Verbesserung der Hautbeschaffenheit unter einer lege artis durch geführten hormonellen Therapie, oder die Verbesserung der Körperzusammensetzung und der Körperhaltung durch regelmäßiges Kraft- Ausdauertraining in Kombination mit einer effektiven Protein- und Aminosäure-Augmentation sowie ergogenen Mikronährstoffen. Im Falle operativer Eingriffe im Bereich der ästhetischen Chirurgie sind wir der Auffassung, dass Personen, die sich diesen unterziehen von einem begleitenden konservativen Anti-Aging Programm zusätzlich profitieren (Wundheilung, kosmetisches Resultat, kürzere Rekonvaleszenz). 44
Warum sollte ein solches Angebot, das sich an freie Menschen richtet, unethisch sein? Ohne paternalistisches Pathos lässt sich kaum eine generelle Ablehnung oder gar ein Verbot aussprechen. Selbstschädigendes Verhalten, zu dem man eine medizinisch nicht indizierte Operation durchaus rechnen kann, ist nur dann von öffentlichem Belang, wenn Andere mit betroffen sind wie beim Passivrauchen oder beim Unfalltod durch Nicht-Anschnallen. Doch der individuelle Liberalismus übersieht einerseits die politisch-ökonomische Komponente der Schönheits- und Gesundheitsindustrie, andererseits das Risiko verborgener psychischer Erkrankungen. Für Kulturkritiker wie Foucault oder Hardt und Negri gehört das Gesundheitswesen zu den zentralen Organen normierender Kontrolle. Dahinter steht keine Verschwörungstheorie, die ein Machtzentrum unterstellt, das sich subtiler Unterdrückungsinstrumente bediente. Das »Imperium«, von dem Hardt und Negri sprechen, 45 agiert weder von der Wallstreet, noch vom Weißen Haus oder, in diesem Fall, von Holly- oder Bollywood aus, sondern es ist global und kapillar präsent. Multiplikatoren wie Werbung und Medien sind nicht nur die Ursache genormter Bilder, sondern immer auch deren Spiegel. Das gilt inzwischen für alle Standards, Trends und Moden. Es gibt Muster von Schönheitsvorstellungen, die es in manchen Fällen fraglich machen, von Entscheidungsfreiheit zu sprechen. Wenn psychisches Leid aufgrund einer Inkongruenz zwischen Idealbild, gefühlter Identität und Realität das Motiv eines Eingriffs bil44 45
http://www.gsaam.de/informationzu/index.php Hardt/Negri (2000).
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det, ist zu fragen, ob eine Fokussierung auf die Ebene des Physischen produktiv ist, oder ob nicht seelisches Leid psychotherapeutisch, spirituell oder ethisch besser und nachhaltiger zu behandeln wäre. Der Psychiater Burkhard Brosig spricht vom Krankheitsbild einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die sich in einer Ablehnung des (eigenen) Alterns zeigt. Er nennt diese Störung nach dem Roman von Oscar Wilde Dorian-Gray-Syndrom. Es handelt sich um eine seelische Unfähigkeit zu altern und zu reifen, die mit einer Ablehnung der eigenen Gestalt (Dysmorphophobie) und massivem Gebrauch von Angeboten der Anti-Aging-Medizin einhergeht. 46 Es besteht somit eine psychodynamische Wechselwirkung zwischen narzisstischen Tendenzen, Reifungs- und Entwicklungsstörungen sowie einer Abwehrstrategie, die sich an den Wunsch einer Stagnation oder sogar Revision des Alterungsprozesses klammert. Mit philosophischem Hintergrund kann man das – wie ich meine – attraktivere Alternativangebot bewusster Reifung unterstützen, das vergleichsweise wenig kostet, schmerzlos ist und den Mehrwert »altmodischer« Sinnerfahrungen birgt. Dazu muss man zunächst einen einfachen, aber entscheidenden Perspektivenwechsel vollziehen und eine wichtige These umdrehen. Die immanente Anti-Aging-These lautet, wie gesehen, der Körper müsse dem seelischen Empfinden angepasst werden. Für die Inkongruenz zwischen dem gefühlten, psychologischen und dem vom Spiegel, oder in den Augen der Anderen enthüllten, physiologischen Alter gibt es zahlreiche Belege: – das Bonmot »Man ist so alt wie man sich fühlt«; – Shakespeare, der in Henry IV den alten Falstaff sagen lässt: »the truth is, I am only old in judgement and understanding«. – Oder die Überredungskünste des Barbiers in Thomas Manns Tod in Venedig, der den verliebten alternden Schriftsteller Aschenbach vom damals (für Männer) skandalösen Haarfärben und Schminken überzeugt: […] graues Haar bedeutet unter Umständen eine wirklichere Unwahrheit, als die verschmähte Korrektur bedeuten würde. In ihrem Falle, mein Herr, hat man ein Recht auf seine natürliche Haarfarbe. Sie erlauben mir, Ihnen die Ihrige einfach zurückzugeben? 47 46 47
Brosig et al. (2001), S. 279–283. Mann (1986), S. 377.
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Die grauen Haare nicht zu färben wäre somit unwahrer als die Fälschung, die im Färben liegt. Hier kommt ein neues Argument ins Spiel, nämlich die Wahrheit: Ist es wahrhaftig, den Leib der Seele anzupassen? (Thomas Mann verneint das und verhängt sogar die Todesstrafe.) Der Psychologe James Hillman dreht diese allen ästhetischen Eingriffen zugrunde liegende These um. Er zitiert eine Frau, die angibt, sich nach ihrer Schönheits-Operation wieder eins mit ihrem Körper zu fühlen und gibt zu bedenken, ob nicht der andere Weg zur Einheit zwischen Körper und Seele, nämlich die psychische wie kognitive Reifung der bessere gewesen wäre: »Was the former discrepancy the fault of the outside, or of an inside that had not kept pace with her face?« 48 Mit dieser umgekehrten Perspektive, die übrigens in Hinsicht auf den Leib-Seele-Dualismus die modernere ist, weil sie den Körper nicht auf ein Instrument reduziert, befasst sich der folgende Abschnitt. 3.3.3. Persönlichkeitsbildung als Alternative Hillman untersucht das Alter als Chance zur Vollendung des Charakters, zur Vervollkommnung der Persönlichkeit. Dem Antlitz widmet er ein ganzes Kapitel der Untersuchung The Force of Character. Darin zitiert er folgende Aussage Marilyn Monroes, die interessant ist, weil an ihr auch der Unterschied zwischen plastischer Chirurgie als Korrektur altersunabhängiger Symptome und Facelifting als Revision von Alterserscheinungen deutlich wird (sie hatte sich die Nase korrigieren lassen, lehnte jedoch Eingriffe gegen Altersanzeichen ab): I want to grow old without facelifts. They take the life out of a face, the character. I want to have the courage to be loyal to the face I’ve made. 49 (Kursiv E. B., weil im Englischen Altern sprachlich mit Wachstum verbunden ist)
Man hört fast das Albert Schweitzer zugesprochene Sprichwort, das zu bedenken gibt: Mit zwanzig Jahren hat jeder das Gesicht, das Gott ihm gegeben hat, mit vierzig das Gesicht, das ihm das Leben gegeben hat, und mit sechzig das Gesicht, das er verdient. 48 49
Hillman (1999), S. 137. A. a. O. (1999), S. 136.
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Oder Cicero, der feststellte: »vultus animi imago est– Das Gesicht ist das Abbild der Seele«. 50 Ob das reife Gesicht eine imago dei ist, entscheidet der Glaube. Auf jeden Fall ist es aber ein Spiegel der Persönlichkeit, und ein Facelifting vornehmen zu lassen, entspräche somit einem Verrat an sich selbst, einem zumindest partiellen Verkauf der Seele – mit dem zusätzlichen Nachteil, dass in diesem Falle der Verkäufer/die Verkäuferin über die ideellen Kosten hinaus auch noch die materiellen zu tragen hat. In die Erkenntnis, dass sich das Gesicht im Laufe des Lebens wesentlich und individuell unterschiedlich verändert, spielt also eine moralische Komponente hinein. Grund dafür ist, dass die durch die Hautalterung entstehenden Falten nicht nur Naturgesetzen folgen, sondern auch wesentlich durch die Mimik plastiziert werden, und zwar nicht nur durch die Bewegung der etwa 16 Muskeln, die hauptsächlich für die expliziten Stimmungsäußerungen verantwortlich sind, mit denen Augenbrauen oder Mundwinkel zusammengezogen, gehoben oder gesenkt werden, Lachfalten um die Augen erzeugt oder Stirnen gerunzelt werden, sondern auch durch ein minimales, unbewusstes Spiel des gesamten Gesichtsmuskelsystems (26x2). Nicht nur die universale Zeit hinterlässt also ihre Spuren, sondern auch das individuelle Denken und v. a. Empfinden. Es ist somit kein Naturschicksal, ob jemand im Alter eher verbittert oder gütig aussieht, und es hat auch weniger mit äußeren Bedingungen als mit der inneren Fähigkeit, auf das eigene Schicksal zu reagieren (»coping«) zu tun. Wenn stimmt, was Hillman sagt, »my face is my character exteriorized«, 51 dann bedeutet eine Gesichtsmanipulation ein Verbergen der Persönlichkeit, und damit eine Verweigerung wahrhaftiger Kommunikation, in der sich nach Lévinas der Eine durch den Blick ins Antlitz (nicht in die Maske) des Anderen zu dessen »Geisel« macht, bereit ist, sich ihm auszuliefern und sich im Spiegel selbst zu erkennen. 52 »Aging uses the face every day, and it is these traces of use that cosmetic surgery sets out to repair«, 53 meint Hillman. Facelifting ist also nicht nur eine ästhetische Fälschung, sondern auch eine ethische Verstellung, und zwar nicht in einem abstrakt mo50 51 52 53
Cicero (1976): De Oratore (Über den Redner). 3. Buch, Stuttgart. Hillman (1999), S. 142. Lévinas (1989). Hillman (1999), S. 148.
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ralistischen Sinn, sondern in einem konkret mitbürgerlichen: »it is a citizen’s duty to make his face public.« 54 Weil für eine humanistische Gesellschaft Kommunikation und Dialog auf der Grundlage der Wahrhaftigkeit, aber auch ein solidarisches Eingeständnis von Schwäche, Endlichkeit und Verletzlichkeit überlebensnotwendig sind – nicht Verdrängung, Kaschierung, narzisstischer Solipsismus und ein seelenloser Ästhetizismus, welcher die Anderen zur bloßen Kulisse egozentrischer Selbstdarstellung und zu Konkurrenten im Wettlauf um Positionen reduziert. Solange sich die chirurgischen Verjüngungsmaßnahmen nur auf die Welt von Film, Theater und Mode beschränkten, verblieben sie noch im Bereich einer Scheinwelt – statt Bilder zu retouchieren, wird gleich das Original bearbeitet. Es ist jedoch vielleicht kein Zufall, dass Silvio Berlusconi, der erste Politiker, der sich öffentlich zum Lifting bekannte, ein unklares Verhältnis zur Demokratie hat. Die beträchtlichen Ressourcen, die frei blieben, verzichtete man auf unnötige Eingriffe, ließen sich gewinnbringend in die Ausbildung der Persönlichkeit durch Kultur, Natur oder soziales Engagement investieren. Jedes Buch, das zum Nachdenken anregt, jedes Konzert, in dem man über die engen Grenzen egozentrischer Fixierung auf Tagesprobleme hinausgetragen wird, jeder Ausstellungsbesuch, der zum Verweilen einlädt, jedes gute Gespräch und jedes Engagement für andere setzt kreative Kräfte frei, die bessere und nachhaltigere Gestalter einer Gesichtslandschaft sind als Skalpell, Nadel und Faden. Was hier für den engeren, symptomatischen, aber auch exemplarischen Bereich ästhetischer Eingriffe ausgeführt wurde, kann auch für andere medizinische Hilfen in der Hinsicht einen Denkanstoß geben, dass immer folgende Kriterien berücksichtigt werden sollten: – Verbessert eine therapeutische Maßnahme tatsächlich die Lebensqualität? – Findet eine Therapie auf der richtigen Ebene statt? Die Sprache einer operativen Medizin ist oft einfacher als die der Psychologie oder der Ethik. – Stimmt die Balance zwischen Akzeptanz unvermeidbarer physischer Einbußen im Alter und medizinischen Eingriffen, oder wird durch therapeutischen Aktionismus ein fraglicher Zweckoptimismus verfolgt, der der Patientin oder dem Patienten vielleicht gar nicht nachhaltig hilft, sondern eher kurzfristig den Anbietern? 54
A. a. O. (1999), S. 151.
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Bleibt die Person mit ihren Bedürfnissen, ihrer Autonomie und ihrer Verletzlichkeit in jeder Dimension ihrer Existenz im Zentrum einer Therapie und werden ihr Wahlmöglichkeiten, d. h. ein Spielraum der Entscheidungsfreiheit eingeräumt? – Wurden sinnvolle Alternativen ausgelotet? – Ist sichergestellt, dass der Maßstab von Schönheit und Gesundheit eine vulnerable Existenz nicht in vielen Fällen überfordert und noch dort ein Leistungsprinzip hochhält, wo gelassene, vielleicht selbstironische Akzeptanz humaner wäre? Von der Philosophie kann man nur schwer verlangen, dass sie unmittelbar operationalisierbare und leicht standardisierbare Antworten gibt. Ihre Aufgabe besteht viel eher im offen halten von Horizonten, kritischer Prüfung von Scheingewissheiten, und vielleicht vor allem anderen in der Verteidigung einer Oase von Menschlichkeit, die sich nicht wiederum zum Teil eines Marktes instrumentalisieren lässt.
Literatur Birkenstock, E. (1997): Heißt philosophieren sterben lernen? Freiburg Bloch, E. (1982): Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3. Frankfurt a. M. Brosig, B. et al. (2001): The Dorian Gray Syndrome. Hair Growth Restorers and other »Fountains of Youth«. In: International Journal of Clinical Pharmacology and Therapeutics 39 (7), S. 279–283 Cicero, M. T. (1976): De Oratore (Über den Redner). 3. Buch. Stuttgart Epikur (1980): Briefe, Sprüche, Werkfragmente. Stuttgart Foucault, M. (1993): Technologien des Selbst. Frankfurt a. M. Freud, S. (1974): Zeitgemäßes über Krieg und Tod. (1915) In: Kulturtheoretische Schriften. Frankfurt a. M. Frisch, M. (1980): Homo faber. Frankfurt a. M. v. Goethe, J. W. (1783): Die Natur (Fragment). In: Goethes Werke. Hamburger Ausg., hrsg. v. E. Trunz, Bd. 13. München Gronemeyer, M. (1993): Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit. Darmstadt Gross, P. (2008): Glücksfall Alter. Freiburg Hanawalt, Ph. C. (2003): Vorwort zu: Hisama, F. M. et al. (Hg.): Chromosomal Instability and Aging. New York Hardt, M./Negri, M. (2000): Empire. Cambridge Heidegger, M. (1986): Sein und Zeit. Tübingen Hillman, J. (1999): The Force of Character and the Lasting Life. New York Imhof, A. E. (1981): Die gewonnenen Jahre. München – (1988): Reife des Lebens. München
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Eva Birkenstock Jonas, H. (1987): Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a. M. Kierkegaard, S. (1922): Entweder–Oder I. Ges. Werke, 1. Abt., S. I, 14 – (1954): Die Krankheit zum Tod. Ges. Werke. Düsseldorf Lévinas, E. (1989): Die Spur des Anderen. In: Humanismus des anderen Menschen. Hamburg Mann, T. (1986): Die Erzählungen. Frankfurt a. M. Marquard, O. (1987): Apologie des Zufälligen. Stuttgart della Mirandola, P. (1997): Oratio de hominis dignitate. dt.: Rede über die Würde des Menschen. Stuttgart Portmann, A. (1976): An den Grenzen des Wissens. Frankfurt a. M. Rentsch, T. (2000): Negativität und praktische Vernunft. Frankfurt a. M. Schachtschabel, D. O. (2004): Humanbiologie des Alterns. In: Kruse, A./Martin, M. (Hg.): Enzyklopädie der Gerontologie. Bern Schiller, F. (1984): Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Werke, Bd. 2, 5. Brief. München Seneca (1977): De brevitate vitae – Von der Kürze des Lebens. Stuttgart Spiecker, O. (2009): Nur nicht hängen lassen! Mein Facelifting. München Stuckelberger, A. (2008): Anti-Ageing Medicine. Zürich The Economist (08. 03. 2010): The worldwide war on baby girls. Theunissen, M. (1991): Melancholisches Leiden unter der Herrschaft der Zeit. In: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt a. M., S. 218–281 Wallace, P. (1999): Agequake. London, dt.: Altersbeben. Frankfurt Warren, M. A. (1985): Gendercide. Totowa (N. J.) Weiße, C. (1829): Über die philosophische Bedeutung der christlichen Lehre von den letzten Dingen. In: Über den gegenwärtigen Standpunkt der philosophischen Wissenschaft in besonderer Beziehung auf das System Hegel. Leipzig Zwilling, J. W. (1992): Aging – Still a Mystery. In: Zwilling, R./Balduini, C. (Hg.): Biology of Aging. Berlin
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Altern und Alter im Medium der Literatur und Künste Dietrich von Engelhardt
I.
Kontext
Altern und Alter sind ein wesentliches Thema der Literatur und Künste seit der Antike bis in die Gegenwart. 1 Die Anzahl entsprechender Texte und Abbildungen ist überaus groß; auch in der Musik wurden Altern und Alter immer wieder aufgegriffen, ebenso ist es mehrfach zu Verfilmungen gekommen, nicht selten auf der Grundlage literarischer Vorlagen. Wiederholt tauchen Altern und Alter in Redewendungen, Sprichwörtern sowie als Metapher und Symbol auf. Kunst, Wissenschaft und Wirklichkeit stehen, woran auch in der Wiedergabe von Altern und Alter zu erinnern ist, in Wechselbeziehungen, unterscheiden sich zugleich ontologisch, gehören unterschiedlichen Seinsbereichen an mit jeweils spezifischer Phänomenalität, Kausalität, Begrifflichkeit und Historizität oder raum-zeitlicher Prägung. Literaten und Künstler haben selbst auf dieses komplexe Verhältnis von Differenz und Identität mit Recht erinnert. Nach Fjodor M. Dostojewskij (1821–1888) schildern »Schriftsteller in ihren Romanen und Novellen nur solche Typen der Gesellschaft, die es in Wirklichkeit nur äußerst selten in so vollkommenen Exemplaren gibt, wie die Künstler sie darstellen, die aber als Typen nichtsdestoweniger fast noch wirklicher als die Wirklichkeit selbst sind.« 2 Thomas Mann (1875–1955) spricht in der Erzählung Bilse und ich (1906) von einem »abgründigen Unterschied« zwischen Literatur und Wirklichkeit: »der Wesensunterschied nämlich, welcher die Welt der Realität von derjenigen der Kunst auf immer scheidet.« 3 Boll (1913); v. Engelhardt (1991/2000); Ehmer/Höffe (Hg.) (2009); Englert (1905/ 1907): 15 (1905), 399–412, 17(1907), 16–42; Drazen Grmek (1958); Hermann-Otto (Hg.) (2004); Herwig (Hg.) (2009); Lüth (1965); Wackernagel (1862). 2 Dostojewskij (1963), S. 705. 3 Mann (1974), S. 16. 1
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Dietrich von Engelhardt
Altern und Alter sind stets ein Quartett von Erscheinungen: physische Erscheinung, psychische Erscheinung, soziale Erscheinung und geistige Erscheinung. Altern und Alter sind darüber hinaus nie nur ein Seinsurteil, sondern immer auch ein Werturteil, werden nicht nur festgestellt, sondern können negativ oder positiv beurteilt werden. Von besonderer Bedeutung im Umgang mit Altern und Alter sind die präventiven, kurativen und rehabilitativen Angebote der Medizin, Psychotherapie und Kunsttherapie, die Unterstützung durch private und staatliche Initiativen und Einrichtungen sowie der soziale und kulturhistorische Kontext, vor allem aber die Einstellung und das Verhalten des alternden und alten Menschen selbst. In den Darstellungen und Deutungen von Altern und Alter in Gesundheit und Krankheit verdienen im Medium der Literatur und Künste acht Dimensionen besondere Beachtung: 1. Pathophänomenologie, 2. Ätiologie, 3. Diagnostik und Therapie, 4. Subjektivität, 5. Arztbild, 6. medizinische Institution, 7. soziale Reaktion und 8. Symbolik. Das Alter steht nicht für sich, sondern muss stets auf das gesamte Leben und seine einzelnen Phasen bezogen werden. Im Verlauf der Geschichte kommt es zu unterschiedlichen Gliederungen wie Bewertungen der einzelnen Lebensphasen und nicht zuletzt des Alters. Das Alter kennt Gesundheit wie Krankheit und gewinnt einen spezifischen Sinn aus der Nähe zum Tod als dem natürlichen Ende des Lebens. Gerontologie meint die Lehre vom alten Menschen, Geriatrie die Lehre vom psychisch kranken und alten Menschen. Das Alter wird nicht nur im Blick auf den individuellen Lebenslauf mit seinen verschiedenen Phasen interpretiert, sondern kann auch in einen Zusammenhang mit dem Wechsel der Jahreszeiten, der Evolution der Natur und den Epochen der Geschichte und darüber hinaus sogar mit der transzendenten Heilsgeschichte gebracht werden.
II.
Antike: Kosmologie und Anthropologie
In der Antike bestimmt das kosmologisch-humoralpathologische Viererschema der Elemente, Qualitäten und Säfte die Grundstruktur des Mikrokosmos Mensch und Makrokosmos Natur und damit auch alle Lebensphasen in Gesundheit und Krankheit. Therapie besteht aus Diätetik, Medikament und Chirurgie. Diätetik heißt im anthropologischen Verständnis jener Epoche der Umgang des Menschen mit sechs Berei300 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Altern und Alter im Medium der Literatur und Künste
chen: Luft und Licht (aer), Bewegung und Ruhe (motus et quies), Essen und Trinken (cibus et potus), Schlafen und Wachen (somnus et vigilia), Ausscheidungen (secreta) und Gefühle (affectus animi). Diese sechs Bereiche verstehen sich nicht von selbst, sondern müssen vom jungen wie alten Menschen in die Hand genommen werden und werden deshalb als Schnittstelle zwischen Natur und Kultur, als »sechs nicht natürliche Dinge« (»sex res non-naturales«) bezeichnet. 4 Bereits in der Antike wird zwischen physiologischen und pathologischen Erscheinungen des Greisenalters unterschieden. Alter als Konstitution und als Krankheit ist in medizinischer Sicht durch die Qualitäten trocken und kalt charakterisiert, Phlegma herrscht als Saft und Temperament vor, die alterspezifische Tageszeit ist die Nacht, die entsprechende Jahreszeit der Winter. Marasmus gilt als Vertrocknung in physiologischer und Abkühlung in pathologischer Sicht; die Therapie soll entsprechend wärmend und feuchtigend ausfallen. Plädiert wird für Gerokomie als einer spezifischen Pflege des alten Menschen. In der hippokratischen Schriftensammlung (Corpus Hippocraticum) und bei dem Mediziner Galen (129–199 n. Chr.) finden sich zwar zahlreiche Beobachtungen und Analysen der Leiden und Belastungen des Alters (graues Haar und Haarverlust, steife Gelenke, Schlaflosigkeit, Sprachminderung); zu einer spezifischen Schrift der Medizin über die Krankheiten des alten Menschen kommt es in der Antike aber nicht. Die Gliederungen des Lebens fallen in den Wissenschaften, der Philosophie, Literatur und den Künsten jener Epoche sowie auf der politisch-staatlichen Ebene abweichend aus. Pythagoras (um 570–nach 510 v. Chr.) unterscheidet vier, Aristoteles (384–322 v. Chr.) drei, Varro (116–27 v. Chr.) fünf Phasen; selbst eine Zehngliederung des menschlichen Lebens – so bei Solon (um 640–um 560 v. Chr.) in seiner Elegie (um 594 v. Chr.) über die Lebensalter – kann in jener Zeit entworfen werden. Das Alter beginnt zwischen dem 60. und 75. Lebensjahr; von Greis (senex) kann im Lateinischen gelegentlich sogar unter 50 Jahren gesprochen werden. Nach Aulus Cornelius Celsus (um 25–um 50 n. Chr.) lässt sich der Prozess des Alterns nicht aufhalten. Plinius d. J. (62–ca. 113 n. Chr.) hebt Unterschiede im Altern von Frauen und Männern hervor (Zeugungs- und Gebärfähigkeit). Ebenso abweichend sind die Bewertungen des Alterns und Alters. v. Engelhardt (1995), S. 139–172; Schipperges (1968), S. 274–278; Rather (1968), S. 337–347.
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Homer (8. Jhdt. v. Chr.) berichtet von der Schwäche des trojanischen Königs Priamos und preist die klugen Ratschläge des alten Griechen Nestor als Ergänzung der Tatkraft der Jugend: »Denn das ist die Ehre der Alten.« 5 Von Hesiod (um 700 v. Chr.), Aristoteles (384–22 v. Chr.), Horaz (65–8 v. Chr.) und Terenz (um 190–159 v. Chr.) wird das Alter negativ beurteilt, während Plato (427–348/47 v. Chr.), Cicero (106–43 v. Chr.) und Seneca (4 v. Chr.–65 n. Chr.) dieser Phase auch positive Seiten abgewinnen: Beherrschung der Leidenschaften, Vernunft, Besonnenheit. Aristoteles hält Krankheit für »erworbenes Alter« und Alter für »natürliche Krankheit.« Zugleich ziele die Bestimmung oder Entelechie des Menschen auf das Alter, in dem sein Wesen erst auf vollkommene Weise in Erscheinung treten könne. »Gutes Alter ist das langsame Eintreten des Alters ohne Beschwerden; denn weder, wenn man rasch altert, hat man ein gutes Alter noch, wenn man zwar langsam, aber mit Beschwerden altert. Es rührt sowohl von den Vortrefflichkeiten des Körpers her als auch davon, dass man Glück hat: Wer nämlich nicht frei von Krankheiten ist und nicht stark, wird nicht ohne Leiden sein und könnte kein beschwerdefreies langes Leben durchstehen, es sei denn er hätte Glück.« 6 Lukrez (um 97–55 v. Chr) lässt das Altern zunächst den Körper und dann den Geist ergreifen: »Sobald schon der Leib von der Zeiten starken Gewalten ist zerrüttet und müde sind in sich die Glieder gesunken, lahmt der Geist, nicht trifft mehr die Zunge, der Sinn hält nicht stand mehr (»claudicat ingenium delirat lingua, labat mens«), alles lässt uns im Stich und mangelt zum selbigen Zeitpunkt.« 7 Die Natur insgesamt ist ebenfalls dem Prozess des Alterns unterworfen: »Weil sie jedoch einmal zum Schluss kommen muss des Gebärens, hörte sie auf, wie ein Weib, das erschöpft vom Alter des Lebens. Wandelt doch die Zeit das Wesen der Welt hier im ganzen, nacheinander muss Zustand nach Zustand aufnehmen alles, keines bleibt ähnlich der Dinge sich selber: alles ist fließend, alles tauscht die Natur und zwingt es, sich zu verwandeln« (»omnis commutat natura et vertere cogit.«) 8 Cicero, der einen klassischen Text über das Alter (Cato maior de senectute, 44 v. Chr.) mit einer Kritik an den üblichen Vorurteilen verfasst, fordert zu einer aktiven Reaktion auf das Alter auf: Man muss »gegen das Altern ankämpfen wie gegen eine 5 6 7 8
Homer (1980), S. 62. Aristoteles (2002), S. 35. Lukrez (1973), S. 203. Lukrez (1973), S. 413.
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Krankheit (pugnandum tamquam contra morbum sic contra senectutem), nur der Gesundheit leben, Sport nur in bescheidenen Grenzen betreiben, und nur so viel essen und trinken, dass die Kräfte ersetzt, nicht aber unterdrückt werden.« 9 Im Blick auf die Welt der Politik, sei unbedingt darauf zu achten, »dass schon die mächtigsten Staaten von jungen Menschen erschüttert, von alten Männern hingegen aufrechterhalten und wieder in Ordnung gebracht worden sind.« 10 Alter bringt Freiheiten, aber auch neue Verpflichtungen mit sich; in Sparta und Athen beginnt das Alter mit 60 Jahren und bedeutet Befreiung vom Militärdienst und Aufnahme in den Ältestenrat (Gerusia) oder Senat. Im Oidipus auf Kolonos (401 v. Chr.) von Sophokles (um 496–406 v. Chr.) werden vom Chor Einschränkungen der Jugend wie auch des Alters benannt; herrsche in der Jugend »beschwingte Sorglosigkeit«, so im Alter Kraftlosigkeit und Einsamkeit, bei denen die »gesamten Übel der Übel hausen.« 11 Auf überzeitliche Weise stellt Euripides (um 480–406 v. Chr.) Jugend und Alter einander gegenüber: »Bei den Jüngeren liegt die Kraft in den Taten, bei den Älteren im Rat.« 12 In Komödien und Gedichten werden alte Männer wie ebenso alte Frauen wegen ihrer Hässlichkeit und Lächerlichkeit verspottet. Martial (38/41–102/ 04 n. Chr.) macht sich über die gealterte Vetustilla lustig, die sich mit ihren drei Haaren und vier Zähnen (»tres capili quattuorque sint dentes.«) 13 immer noch für heiratslustig halte. Zugleich spricht Anakreon (um 580–494 v. Chr.), der sich mit 85 Jahren an einer Weinbeere zu Tode verschluckt haben soll, ausdrücklich dem alten Menschen das Recht zu, »sein bisschen Zeit noch zu genießen.« 14 Die Darstellungen des alten Menschen auf Vasen und Plastiken der Antike fallen ihrerseits ambivalent und keineswegs einseitig negativ oder positiv aus. Dem Alkohol können auch Frauen verfallen. Die Skulptur der »Trunkenen Alten«, überliefert als römische Kopie eines hellenistischen Originals aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., zeigt eine gealterte Hetäre im Weinrausch. Körperlicher Verfall schließt – vor allem in der römischen Porträtkunst – Züge der Würde aber nicht aus. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) erinnert an Grenzen der grieCicero (1963), S. 47. Cicero (1963), S. 29. 11 Sophokles (1966), S. 719. 12 Euripides (1981), S. 225. 13 Martial (1966). 14 Anakreon (1978), S. 38. 9
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chischen Plastik in der Wiedergabe von Extremsituationen: »Das Herausgegangensein aus sich, das sich Hineinreißen in die Mitte einer bestimmten konfliktvollen Handlung, die Anstrengung des Augenblicks, die nicht so aushalten kann und will, sind der ruhigen Idealität der Skulptur entgegen.« 15 Mit den unterschiedlichen Lebensphasen hingen, wie Johann Joachim Winckelmann (1717 –1768) ausgeführt habe, spezifische Besonderheiten zusammen: »Bei vorgerückterem Alter hingegen treten die Unterscheidungen markierter hervor und müssen zu bestimmterer Charakteristik ausgearbeitet sein.« 16
III. Mittelalter: Transzendenz Das christliche Mittelalter stellt das Verständnis des Alters und der Alterskrankheiten unter die Perspektive der Transzendenz. Individualgeschichte und Heilsgeschichte werden in einen inneren Zusammenhang gebracht; Biographie wird auf Eschatologie bezogen wie ebenfalls auf den Wechsel der Jahreszeiten und die Epochen der Geschichte. Neben der vorherrschenden Einteilung des Lebens in drei Phasen kann auch eine Siebengliederung vertreten werden. Gottesstaat (»Civitas Die«) und irdische Welt (»Civitas terrena«, 413/26) strukturieren nach dem Kirchenvater Augustinus (354–430), der im Blick auf die sechs Schöpfungstage von sechs Phasen ausgeht, den Weltverlauf und die Lebensentwicklung des einzelnen Menschen. Die Einteilung des Lebens von Isidor von Sevilla (um 560–636) in sieben Phasen wird ebenfalls von der Jenseitsorientierung gelenkt. Der humoralpathologische Parallelismus von Mensch und Natur der Antike wird von der religiösen Sicht des Mittelalters aber nicht verdrängt. Die Äbtissin und Ärztin Hildegard von Bingen (um 1098–1179) bezieht die individuelle Vita nicht nur auf das Verhältnis zu Gott und die Heilsgeschichte, sondern zugleich auf den jahreszeitlichen Wandel der Natur. Wie in der Antike wird auch im Mittelalter keine spezifische Abhandlung zur Geriatrie – wie ebenfalls nicht zur Pädiatrie – verfasst, zugleich enthalten die medizinischen Texte jener Zeit mehrfach Hinweise zur Physiologie und Pathologie des Alters. Die mittelalterlichen Gesundheitsregimina oder Anweisungen zu einer sinnvollen Lebens15 16
Hegel (1964), S. 404. A. a. O., S. 423 f.
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weise im Alter setzen ihrerseits die Tradition der antiken Medizin fort und werden zugleich von den religiösen Vorstellungen der Zeit geprägt. Von Roger Bacon (um 1220–um 1292) stammen im 13. Jahrhundert entsprechende Vorschläge für den alten Menschen (Regimen senum), von Arnaldus von Villanova (um 1235–1311) ebenfalls im 13. Jahrhundert Anregungen zur Erhaltung der Jugend und Verzögerung des Alters (De conservanda juventute et retardanda senectute). Der arabische Philosoph und Mediziner Avicenna (980–1037) widmet Passagen seines Canon medicinae (1025) dem Alter in der Logik der antiken Diätetik. Bibel und vor allem Altes Testament bieten zahlreiche Beispiele. Langes Leben gilt als Lohn eines gottgefälligen Lebens, auch der Pietät, die man als Kind alten Menschen erwiesen hat. Ehrfurcht vor dem Alter, das keineswegs immer von Weisheit bestimmt ist, wird für eine soziale Tugend gehalten. Im Sinne der antiken Humoralpathologie soll die Therapie im Alter der Austrocknung und Kälte entgegenwirken. Wärme wird deshalb wiederholt für die Leiden und Gebrechen des Altes empfohlen – wärmende Tiere wie wärmende Menschen. Besonders junge Mädchen sollen, ohne dass es zu einem Geschlechtsverkehr kommen muss, Krankheiten und Gebrechen der Greise lindern können. König David wird im hohen Alter zu dieser Unterstützung geraten: »Als aber der König David alt war und hochbetagt, konnte er nicht warm werden, wenn man ihn auch mit Kleidern bedeckte. Da sprachen seine Großen zu ihm: Man suche unserm Herrn, dem König, eine Jungfrau, die vor dem König stehe und ihn umsorge und in seinen Armen schlafe und unsern Herrn, den König, wärme.« 17 Das Thema: alter Mann und junges Mädchen – weniger häufig alte Frau und Jüngling – oder ungleiches Liebespaar durchzieht die Literatur und Künste bis in die Gegenwart, findet sich in Komödien und Satiren, in Erzählungen und Romanen, auf Bildern und in Musikstücken. Die vierzehn körperlichen und geistigen Werke der Barmherzigkeit wie die sieben antiken und christlichen Tugenden sollen für den alten Menschen wie seine Umwelt eine Hilfe im Umgang mit Alter und Sterben sein können. Lebenskunst (»ars vivendi«) schließt stets auch Sterbekunst (»ars moriendi«) ein. Euthanasie, ein Ausdruck bereits der Antike, als aktive Lebensbeendigung ist dem gläubigen Menschen verwehrt, wohl aber, wenn auch nicht unter dieser Bezeichnung, 17
Erstes Buch der Könige 1, 1–2, in: Die Bibel, Stuttgart (1969), S. 387.
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die in jener Epoche nicht vorkommt, als Vorbereitung auf das Sterben, auf einen schönen, guten und wahren Tod; der plötzliche und unvorbereitete Tod gilt als schlechter Tod (»mors repentina et improvisa mala mors«). Nicht nur theologische und medizinische Texte, sondern auch Werke der Literatur und Künste – Fresken, Mosaiken und Skulpturen – geben die Auffassungen des Mittelalters über Altern und Alter, Krankheit, Sterben und Tod wieder. Die Totentänze des späten Mittelalters und der beginnenden Neuzeit, die bis in das 20. Jahrhundert von zahlreichen Künstlern fortgeführt werden, lassen den Tod immer wieder mit dem alten Menschen wie auch mit dem Arzt tanzen. In der mittelalterlichen Legendensammlung Legenda aurea des Jacobus de Voragine (1226–1298) aus dem 13. Jahrhundert werden Altern und Alter im überlieferten Viererschema der Elemente, Qualitäten und Säfte beschrieben; den Heiligen soll die letzte Lebensphase keine großen Probleme bereitet haben, der Tod von ihnen im Blick auf die Auferstehung im Jenseits sogar bejaht worden sein. Bei Wolfram von Eschenbach (um 1170–1220) hindert das mittelalterliche Ideal der weltlichen Höflichkeit den jungen und unwissenden Parzival (um 1200) daran, mitfühlend am Leiden des Anfortas Anteil zu nehmen, der trotz seiner unheilbaren Verwundung angesichts des Grals nicht sterben kann. Der Rat eines alten Mannes und eigene Leiderfahrungen lassen Parcival dann den Sinn wahrer Höflichkeit begreifen und in einer erneuten Begegnung die erlösende Mitleidsfrage stellen: – »Oheim, was wirret Dir?« 18 Allgemein treten im Parcival alte Männer als weise Ratgeber auf, die bei aller Hinfälligkeit des Körpers in dieser Hinsicht von der Umwelt hochgeschätzt werden.
IV. Neuzeit – Säkularisierung Die Neuzeit wird vom Prinzip der Säkularisierung als Verweltlichung des Paradieses beherrscht. Die Hoffnung auf ewige Jugend, Schönheit und Gesundheit im Diesseits und nicht erst im Jenseits bestimmen Medizin, Literatur und Künste wie reales Leben der Menschen im Umgang mit Altern und Alter. Anschaulich gibt dieses Weltbild der Jungbrunnen (1546) von Lucas Cranach (1472–1553) wieder – eine kon18
v. Eschenbach (1986), S. 403.
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geniale Vorwegnahme der weltweit verbreiteten, zwar ganzheitlichen, aber anthropologisch flachen und illusionären Definition der Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahre 1946 als »ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen.« Gliederungen des Lebens in verschiedene Phasen und Bewertungen des Alters fallen seit der Renaissance bis in die Gegenwart weiterhin abweichend aus. Empirische Beobachtungen (Seinsurteil) werden immer wieder unreflektiert normativ ausgelegt (Werturteil) sowie Daten von kleineren Gruppen oder aus spezifischen Regionen und bestimmten Zeiten unangemessen verallgemeinert. Dominierendes Gewicht gewinnt zunehmend als Vorbild die – ihrerseits idealisierte – Jugend mit ihrer Schönheit, Gesundheit und Vitalität. Literatur und Künste – wie auch Philosophie und Theologie – erinnern zugleich stets von neuem an konträre, differenziertere und komplexere Auffassungen. Altern und Alter unterscheidet sich für beide Geschlechter, aber auch für verschiedene Berufe und soziale Schichten. In seiner Schrift Über das Leben (lat. 1489) gibt der Humanist Marsilio Ficino (1433– 1499) Ratschläge für einen glückenden Umgang des Gelehrten mit dem Alter in der Perspektive der antiken Diätetik: nicht zuviel Speise und Trank, Zurückhaltung auch in der Sexualität, keine Arbeit während der Nacht, keinen Schlaf am Tage, vor allem Erfrischungen der inneren wie äußeren Sinne: Ausflüge mit dem Wagen oder zu Pferde, Schifffahrten, edle Düfte, wohlklingende Musik, rote und grüne Farben, glitzerndes Wasser, Umgang mit sympathischen Menschen, anregende Gespräche. 19 Nach Juan Huarte (um 1530–1592) zeichnet den alternden oder alten Wissenschaftler größerer Verstand und geringeres Gedächtnis aus, die Jugend umgekehrt geringerer Verstand und größeres Gedächtnis (Examen de ingenios para las ciencias, 1575). Francis Bacon (1561–1626) erörtert in seiner History of life and death (1623) die Möglichkeiten der Lebensverlängerung wie die Besonderheiten, die sich im physischen und psychischen Bereich für die verschiedenen Lebensphasen ergeben; der junge Mensch sei »religious, fervently, zealous, being unexperienced in the miseries of the world«, der alte Mensch dagegen »cold in piety and charity, through much ex19
Ficino (1989).
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perience and incredulity«; der junge Mensch sei »haughty in desires, adorer of superious, time-pleaser«, der alte Mensch »careful for necessaries, a sensurer, time-rememberer.« 20 Zu Beginn der Neuzeit erscheint die erste gerontologische Monographie zur Phänomenologie, Ätiologie und Therapie der Altersleiden unter dem Titel Gerentocomia (1489) von Gabriele Zerbi (1445–1505); in Stil und Inhalt entspricht diese Schrift dem Selbstverständnis der Renaissance als Wiedergeburt der antiken Medizin. Nahezu zeitgleich gelangt ebenfalls die erste pädiatrische Monographie von Paolo Bagellardi (um 1424–1492) (Libellus de aegritudinibus infantium, 1472) zum Druck. In den kommenden Jahrhunderten werden zahlreiche allgemeinere Untersuchungen wie Detailstudien über das Alter und die Alterskrankheiten publiziert – unter zunehmendem Verzicht auf religiöse, philosophische und künstlerisch-literarische Dimensionen. Humoralpathologie und Diätetik der Antike werden in den neuzeitlichen Beiträgen durch empirische Beobachtungen, exakte Messungen der Verdauung, des Pulses, der Atmung und spezifische Vorschläge der Prävention und Therapie differenziert und konkretisiert. Bedeutende Studien zum Alter aus dem 16. Jahrhundert stammen von Luigi Cornaro (1457–1566) (Discorsi della vita sobria, 1558), Heinrich Stromer (um 1476–1542) (Decreta aliquot de senectute, 1536), David de Pomi (1525 –ca.1593) (Enarratio brevis de senum affectibus praecavendis atque curandis, 1588). Das ganzheitliche Diätetikkonzept der Antike (»sex res non-naturales«) kann zunächst noch beibehalten werden, verliert sich aber während des 19. Jahrhunderts, wird mehr und mehr auf Diät im Sinne von Essen und Trinken reduziert und dem Medikament und chirurgischen Eingriff untergeordnet. In der Gegenwart kann der Wert der Diätetik bei chronischen Krankheiten und im Sterben wieder mehr anerkannt und in der Praxis berücksichtigt werden. Literatur und Künste bleiben vom säkularen Geist der Neuzeit nicht unbeeinflusst; Diesseits, Natur und Individuum treten auch in diesen Medien in den Vordergrund, zugleich werden weiterhin ideelle und ganzheitliche Vorstellungen und Deutungen den reduktionistischen Tendenzen der empirischen Wissenschaften entgegen gehalten. Das Bild Die sieben Lebensalter des Weibes (1544) von Hans Baldung gen. Grien (1484/85–1545) gibt die Entwicklung des Lebens am 20
Bacon (2003), S. 280 f.
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Beispiel der Frau wieder. Tizian (um 1490–1576) stellt in der Allegorie der Zeit (um 1565) die drei Altersstufen des Mannes in die Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und zugleich in eine Verbindung zu den Tieren Hund, Löwe, Wolf. Rembrandt (1606–1669), der mehrfach alte Menschen gezeichnet und gemalt hat, so auch Adam und Eva (1638) als gealtertes Paar nach dem Sündenfall, lässt in einem Zyklus seiner Selbstporträts über Personalität, Identität und Kontinuität in der Entwicklung aus der Jugend bis in das Alter nachdenken. Von empirischer Realistik und lebensgeschichtlicher Ausdruckskraft ist Albrecht Dürers (1471–1528) Bild seiner Mutter im Alter von 63 Jahren aus dem Jahre 1514. Piero della Francesca (um 1420–1492) malt im Tod des Adam (1450–ein 1460) das Sterben des alten Adam im Kreise seiner ebenfalls alten Angehörigen in der heilsgeschichtlichen Perspektive und zugleich als ein bewegendes Dokument zeitloser Sprachlosigkeit der Menschen gegenüber Sterben und Tod. In Giovanni Boccaccios (1313–1375) Novellensammlung Das Dekameron (1349/53) werden die Schwächen alter Menschen in Wort und Tat wiederholt wiedergegeben und verspottet. Verständnis- und mitleidslos verhalten sich in Geoffroy Chaucers (um 1343–1400) Canterbury Tales (1385/1400) jüngere Menschen gegenüber den Alten. Jugend und Alter, Gesundheit und Krankheit, Geburt und Tod spielen in William Shakespeares (um 1564–1616) Dramen eine zentrale Rolle. Die Welt ist eine Bühne, Männer und Frauen sind Spieler, haben ihre Auftritte und Abgänge, übernehmen unterschiedliche Rollen in den sieben Akten des Lebens, das mit seinem Ende in einem Bogen wieder an den Anfang zurückkehrt. So erlebt der alte Mensch in Wie es euch gefällt (1599/1600) eine »zweite Kindheit, gänzliches Vergessen: ohn Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles.« 21 Konkurrenz belastet in König Lear (1605) das Verhältnis der Generationen: »Die Jungen steigen, wenn die Alten fallen« (»The younger rises, when the old doth fall«). 22 Ein bemerkenswerter Zusammenhang zwischen Alter und Persönlichkeit fällt Goneril bei ihrem Vater Lear auf: »Schon in seiner besten und kräftigsten Zeit war er zu hastig: wir müssen also von seinen Jahren nicht nur die Unvollkommenheiten längst eingewurzelter Gewohnheiten erwarten, sondern außerdem noch den störrischen Eigensinn, den gebrechliches und reizbares Alter mit sich bringt« (»the 21 22
Shakespeare (1969), S. 197. A. a. O.: König Lear, S. 744.
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unruly waywardness that infirm and choleric years bring with them«). 23 In diesem Sinne konstatiert im 20. Jahrhundert der Psychiater und Neurologe Ferdinand Adalbert Kehrer (1883–1966): »Der alte Mensch gleicht einem entblätterten Baum, der erst im Herbst das charakteristische Gepränge seines Geästes ganz zu erkennen gibt.« 24 In seinen von ihm als Gattung geschaffenen Essais (1580–95) wird von Michel de Montaigne (1533–1592) mit Nachdruck der Blick auf die Konsequenzen des medizinischen Fortschrittes für den Umgang mit dem Alter gelenkt und das nicht seltene Auseinanderfallen der physischen und psychischen Veränderungen beklagt: »Bald ist es der Körper, der zuerst vor dem Alter die Waffen streckt, bald auch ist es die Seele; und ich habe deren genug gesehen, bei denen das Gehirn vor dem Magen und den Beinen schlaff wurden.« 25 Das Alter steht aus biologischen Gründen in besonderer Nähe zu Krankheit, Einsamkeit und Tod – Themen, die auch in der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts mehrfach aufgegriffen werden. In Johann Sebastian Bachs (1685–1750) Kantate Ich habe genug (1727) wird in einer dem modernen Menschen befremdlich erscheinenden Arie Ich freue mich auf meinen Tod voller Hoffnung und Zuversicht das Ende des Lebens bejaht: »Schlummert ein ihr matten Augen, fallet sanft und selig zu! Welt, ich bleibe nicht mehr hier, hab ich doch kein Teil an dir, das der Seele könnte taugen. Hier muss ich das Elend bauen, aber dort, dort werd ich schauen süßen Frieden, stille Ruh.«
V.
Klassik und Romantik
Eine wesentliche Phase in der Geschichte der Beschreibung und Deutung des Alters ist die Zeit der Klassik und Romantik. Mediziner, Psychologen, Philosophen und Theologen veröffentlichen Beobachtungen und Konzepte der gesamten Lebensentwicklung des Menschen sowie auch speziell der Phase des Alters im Blick auf Natur und Geschichte, Individuum und Gesellschaft, Gesundheit und Krankheit, Sterben und Tod. Naturentwicklung, Menschheitsgeschichte, Individualgeschichte 23 24 25
A. a. O. (1969), S. 733. Kehrer (1952). De Montaigne (1953), S. 315.
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und Bewusstseinsgenese werden in eine immanente Verbindung gebracht. Autobiographien sind ein Spiegel von Ich und Welt. Bereits Johann Gottfried Herder (1744–1803) parallelisiert in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) die Entwicklung des Individuums mit der Geschichte der Natur und Menschheit. »Der ganze Lebenslauf eines Menschen ist Verwandlung; alle seine Lebensalter sind Fabeln derselben und so ist das ganze Geschlecht in einer fortgehenden Metamorphose.« 26 Große Beachtung gewinnen in jener Epoche um 1800 die vom Geist der Aufklärung wie ebenfalls der Klassik bestimmten Anregungen und Vorschläge des Mediziners Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) in seiner mehrfach aufgelegten und in verschiedene Sprachen übersetzte Makrobiotik, die unter dem Titel Kunst das menschliche Leben zu verlängern im Jahre 1796 zum ersten Mal erscheint. Entscheidend für den Verlauf der Lebensphasen ist nach Hufeland die Lebenskraft (»vis vitalis«), die physisch wie psychisch beeinflusst werden kann. Positive Ergebnisse ließen sich über die Verlangsamung des Stoffumsatzes erreichen; Essen und Trinken seien aber keineswegs nur physische, sondern immer auch psychische oder geistige Vorgänge, da das »Physische im Menschen« bereits »auf seine höhere moralische Bestimmung berechnet« 27 sei. Noch in romantischer Tradition steht das erste Lehrbuch in der deutscher Sprache mit dem Titel Die Krankheiten des höheren Alters und ihre Heilung aus dem Jahre 1838 des Mediziners Carl Friedrich Cannstatt (1807–1850). In der Sicht seiner dialektisch-spekulativen Philosophie spricht Hegel dem Alter eine spezifische Subjekt-Objekt oder IndividuumWelt Beziehung zu: am Beginn des Lebens steht die Stufe der natürlichen Harmonie des Kindes mit sich und der Welt; es folgt die Stufe der Jugend, die Wahrheit und Gutes allein sich zuschreibt und überzeugt ist, die Realität grundlegend reformieren zu müssen, während der Erwachsene in der Realität Vernunft erkennt und eigene Grenzen akzeptiert; den Abschluss macht die Stufe des alten Menschen aus, der einerseits negativ in einer »Unthätigkeit abstumpfender Gewohnheit« erstarrt ist, aber andererseits positiv eine »Freiheit von den beschränkten Interessen und Verwicklungen der äußerlichen Gegenwart« erreichen kann und damit in eine neue Harmonie ähnlich der 26 27
Herder (2002), S. 228. Hufeland (1797), S. XII.
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des Kindes – nun aber mit Bewusstsein – zurückkehrt. 28 Arthur Schopenhauer (1788–1860) behandelt in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit (1851) positive und negative Aspekte des Alters, das für ihn zugleich zur Erkenntnis des Lebens unabdingbar ist: »Nur wer alt wird, erhält eine vollständige und angemessene Vorstellung vom Leben.« 29 Alter und Altern werden auch von Dichtern, Malern und Musikern jener Epoche der Klassik und Romantik in dieser ganzheitlichen Perspektive wiederholt thematisiert. Friedrich Hölderlin (1770–1843) bringt in seinem Gedicht Hälfte des Lebens (1800) das Alter mit der Natur und Geschichte in einen unmittelbaren Zusammenhang; während im ersten Vers Jugend und Sommer einander zugeordnet sind, stehen im zweiten Vers Alter und Winter in einer inneren Beziehung: »Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist, die Blumen, und wo den Sonnenschein, und Schatten der Erde? Die Mauern stehn sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen.« 30 Wenn im diesseitigen Leben nicht alle Möglichkeiten realisiert werden konnten, könne auf Erfüllung im Jenseits gehofft werden: »Die Linien des Lebens sind verschieden, wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen. Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.« 31 Der soziale Kontext bringt unterschiedliche Herausforderungen mit sich, ist mit Selbst- und Fremdtäuschungen verbunden, kann Verzweiflung und Resignation auslösen, aber ebenso gelassene Zufriedenheit bedeuten. Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) Erzählung Der Mann von funfzig Jahren aus Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821/29) schildert einen alternden Mann mit den Veränderungen des Körpers, mit Sorgen und Hoffnungen, mit Versuchen der kosmetischen Behandlung und der letztlichen Hinnahme der Gesetze der Natur. Die Unterschiede des Alterns bei den verschiedenen Völkern rechtfertigen in den Augen seiner Schwester, wie sie ihren verunsicherten und zögernden Bruder beruhigt, seine Absicht, ein junges Mädchen zu heiraten: »Du hast funfzig Jahre; das ist immer noch nicht gar zu viel für einen Deutschen, wenn vielleicht andere, lebhaftere Nationen früher 28 29 30 31
Hegel (1965), S. 94. Schopenhauer (1977), S. 532. Hölderlin (1955), 121. A. a. O.: An Zimmer, S. 275.
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altern.« 32 Der Prozess des Alterns zeigt sich auch abweichend bei den Geschlechtern: »Wie aber den Frauen der Augenblick, wo ihre bisher unbestrittene Schönheit zweifelhaft werden will, höchst peinlich ist, so wird den Männern in gewissen Jahren, obgleich noch im völligen Vigor, das leiseste Gefühl einer unzulänglichen Kraft äußerst unangenehm, ja gewissermaßen ängstlich.« 33 Nicht »Philosophie noch Poesie«, 34 sondern Biologie weist den Major schließlich auf den nicht zu überwindenden Altersunterschied zwischen sich und dem jungen Mädchen hin: »Dem Major war vor kurzem ein Vorderzahn ausgefallen, und er fürchtete, den zweiten zu verlieren. An eine künstliche scheinbare Wiederherstellung war bei seinen Gesinnungen nicht zu denken, und mit diesem Mangel um eine junge Geliebte zu werben, fing an, ihm ganz erniedrigend zu scheinen.« 35 Das physische Altern kann zwar künstlich aufgehalten oder verdeckt werden, die geistige Einstellung führt dagegen zum Verzicht auf entsprechende Auswege und Hilfsmittel. Wie grausam mit alten Menschen nicht selten umgegangen wird, muss keineswegs immer die Zustimmung der Jugend finden. Im Märchen Der alte Großvater und der Enkel aus der Sammlung (1812–15) der Brüder Jakob Grimm (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786– 1859) demonstriert ein vierjähriger Junge seinen Eltern ihre harte Behandlung des Großvaters, indem er ihnen mit dem Bau eines Napfes aus Holzstückchen vorführt, auf welche Weise er ihnen selbst später das Essen anbieten werde: Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an, fingen endlich an zu weinen, holten alsofort den alten Großvater an den Tisch, und ließen ihn von nun an immer mit essen; sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete.« 36 Johann Peter Hebel (1760– 1826) variiert diese moralische Botschaft im Stück Kindesdank und Undank (1804) seines Schatzkästleins des Rheinischen Hausfreundes (1811): »Man findet gar oft, wenn man ein wenig aufmerksam ist, dass Menschen im Alter von ihren Kindern ebenso behandelt werden, wie sie einst ihre alten und kraftlosen Eltern behandelt haben.« 37
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v. Goethe (1950), S. 169. A. a. O., S. 199. A. a. O., S. 218. Ebd. Grimm/Grimm (2004), S. 402. Hebel (1999), S. 30.
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Alter und Jugend sind aufeinander bezogen; Akzente, Verbindungen und Trennungen fallen unterschiedlich aus. Auf dem Gemälde Lebensstufen (1835) verbindet Caspar David Friedrich (1774–1840) die verschiedenen Lebensphasen miteinander und zugleich mit der Natur und Transzendenz. Der alte Mann, dessen Schiff bereits kieloben am Ufer liegt, wendet sich den nachkommenden Generationen zu, wird von ihnen nicht allein gelassen, steht aber auch für sich, hat seinen eigene Position. Die ausfahrenden und zurückkehrenden Schiffe symbolisieren die verschiedenen Altersstufen, stehen in einem Verhältnis zur diesseitigen und jenseitigen Welt. Diese Einheit von Lebensentwicklung, Jahreszeiten, von Immanenz und Transzendenz findet sich auf vielen Bildern des romantischen Malers, so auch auf dem Gemälde Winter (1803) mit einem alten Paar, das auf einem verlassenen Friedhof, vor einer zerfallenen Kirche, einem abgestorbenen Baum und angesichts der Weite des Meeres sich selbst das eigene Grab gräbt. Lebensbejahend stellt Francisco de Goya (1746–1828) einen schaukelnden alten Mann und einen alten Mann mit Krücken dar, dessen Wendung: »auch ich lerne noch« (aún aprendo«) seine anhaltende Beweglichkeit und Lebensfreude manifestiert. Die Winterreise (1827) von Franz Schubert (1797–1828) stellt das Alter in Text und Ton sowohl in den antiken Parallelismus von Mensch (Mikrokosmos) und Natur (Makrokosmos) als auch unter die transzendente Perspektive. »Der Reif hatt’ einen weißen Schein mir übers Haupt gestreut; da glaubt’ ich schon, ein Greis zu sein, und hab’ mich sehr gefreut. Doch bald ist er hinweg getaut, hab’ wieder schwarze Haare, dass mir’s vor meiner Jugend graut; wie weit noch bis zur Bahre.« Giacomo Rossini (1792–1868) greift im Barbier von Sevilla (1816) das Motiv des verliebten Alten auf, der wie sein Mündel Rosina von der Haushälterin Marzelline verspottet wird: »Der Alte sucht eine Frau, einen Mann wünscht sich die Junge. Er kann sich nicht zurückhalten, sie ist verrückt. Beide muß man festbinden.« (»tutti e due son da legar«)
VI. Realismus und Naturalismus Mit dem Ende der romantisch-idealistischen Phase treten Empirie und Spezialisierung in den Wissenschaften und der Medizin über das Alter zunehmend in den Vordergrund. In seiner übergreifenden Rede über das Alter (1860) weist Jakob Grimm auf positive und negative Aspekte 314 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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des Alters sowohl in physischer als auch in geistiger Hinsicht hin. Das Alter stelle keineswegs nur einen »niederfall der virilität, vielmehr eine eigene macht« 38 dar und biete die Möglichkeit zu besonders positiven Empfindungen: »Man könne also, ohne paradox zu sein, aufstellen, dasz im alter so oft es die gesundheit angreife und erschüttere, dazwischen ein gefühl des wohlseins reger walte, als in den vorausgegangen lebensstufen.«39 Realismus und Naturalismus prägen die Darstellungen und Deutungen der Literatur und Künste, geben aber nur eine allgemeine Richtung vor; Metaphysik und Religiosität spielen weiterhin eine Rolle, vor allem im Symbolismus. Die französische Literatur bietet mehrfach Beispiele des Alterns vor allem von Frauen noch vor oder in der Mitte des Lebens, an denen im übrigen erneut die Bedeutung der Geschichte oder Differenz der Kulturen im Verständnis und der Bewertung des Alters manifest wird. Honoré de Balzacs (1799–1850) Die Frau von dreißig Jahren (1831/44) erscheint bereits als eine ältere Frau und lädt zum Vergleich mit analogen Dekadenztexten ein: Jakob Wassermanns (1873–1934) Der Mann von vierzig Jahren (1913), Goethes Der Mann von funfzig Jahren (1821/29), Franz Hellens (1881–1972) L’homme de soixante ans (1951), Hans Carossas (1878–1956) Geheimnisse des reifen Lebens (1936). Ältere Frauen können nach Balzac mit ihrer Ausstrahlung einen größeren Eindruck machen und tiefer berühren als jüngere Frauen: »Erst mit dreißig Jahren fängt das Gesicht einer Frau an, ausdrucksvoll zu werden. Bis zu diesem Alter findet der Maler in Frauengesichtern nichts als rosa und weiße Töne, Lächeln und Formen des Ausdrucks, die ein und denselben Gedanken wiederholen, den Gedanken an Jugend und Liebe, einen einförmigen Gedanken ohne Tiefe; im Alter hingegen hat alles bei der Frau gesprochen, die Leidenschaften haben sich ihrem Gesicht tief eingeprägt; sie ist Geliebte, Gattin und Mutter gewesen; die heftigsten Ausdrücke der Freude und des Schmerzes haben ihre Züge schließlich alt geschminkt und dadurch verzerrt, dass sie sich in tausend Falten eingeprägt haben, die sämtlich eine Sprache besitzen; und alsdann wird ein Frauenkopf erhaben in seinem Erschre-
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Grimm (1865), S. 61. A. a. O., S. 50.
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ckenden, schön in seiner Schwermut oder prächtig durch seine Ruhe.« 40 Anschaulich und differenziert in Aussehen, Kleidung, Verhalten und sozialen Reaktionen wird in Dostoewskijs Roman Die Erniedrigten und Beleidigten (1861) ein alter Mensch beschrieben: »Der Alte ging langsam, setzte kraftlos einen Fuß vor den anderen, als ginge er auf Stöcken, ohne Gelenke in den Beinen, mit gebeugtem Rücken, und sein Stock berührte gleichsam nur abtastend den Weg auf die Konditorei zu … Sein hoher Wuchs, sein gebeugter Rücken, das achtzigjährige Leichengesicht, der alte Mantel, dessen Nähte aufgeplatzt waren, der verbeulte runde Hut, den er wohl schon zwanzig Jahre auf seinem kahlen Kopf tragen mochte, auf diesem seltsamen Schädel, von dessen Haaren sich nur noch im Nacken einige nicht graue, sondern gelblich-weiße Strähnen erhalten hatten; alle seine Bewegungen, die etwas so seltsam Sinnloses an sich hatten, als wären sie mechanische Bewegungen, die nur einer aufgezogenen Feder gehorchten – alles das mußte unwillkürlich jeden ihm Begegnenden auf ihn aufmerksam machen … Besonders auffallend war auch seine ungewöhnliche Magerkeit: er sah aus, als habe er überhaupt keine Fleisch mehr am Leibe, als sei über ein Knochengerüst nichts als Haut gezogen.« 41 In enger Symbiose, »wie verwachsen mit ihm«, 42 wird der Alte von einem ebenfalls alten Hund begleitet und stirbt kurze Zeit nach dessen Tod. Altern und Alter manifestieren sich in Zähnen und Haaren. Weiße Zähne stehen für Jugend, Schönheit und Gesundheit, Zerstörung und Verlust der Zähne für Krankheit und Einsamkeit. Übliche Zusammenhänge von äußerer Erscheinung und Alter können im Medium der Literatur aber auch in ihr Gegenteil verkehrt werden. Ein Wunder darf Fibel (1811) bei Jean Paul (1763–1825) im Alter von 100 Jahren noch einmal erleben: »Er mochte etwan erst hundert Jahr alt sein, als er in einer sein Leben wiedergebärenden Nacht von neuem zahnte und unter Schmerzen wilde Entwicklungs-Träume durchlebte.« Die neuen Zähne ziehen eine geistige Erneuerung nach sich: »Er stieg aus dem Bette nicht nur mit nahen neuen Zähnen, sondern mit neuen Ideen.« 43 Körperlicher Verlust wirkt abstoßend auf die Umgebung und wird zu 40 41 42 43
De Balzac (1971), S. 265. Dostojewskij (1960), S. 496 f. A. a. O., S. 498. Paul (1975), S. 537.
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kaschieren gesucht. Zu den Mitteln, jung und schön zu erscheinen, gehört für die 82 jährige Eugénie Lalande in Edgar Allens Poes (1809– 1849) Erzählung Die Brille (1844) auch das falsche Gebiss: »Mit der zusätzlichen Hilfe von Perlweiß, Rouge, falschem Haar, falschen Zähnen und falscher Tournure, wie auch der geschicktesten Modisten von Paris, brachte sie es zuwege, unter den beautés un peu passées der französischen Metropole einen beachtlichen Platz zu behaupten.« 44 Krankheiten treten in bestimmten Altersstufen besonders auf, besitzen eine altersspezifische Seite, können das Aussehen auch jüngerer Menschen altern lassen, haben soziale Auswirkungen. Die von Lepra befallene Schwester des Leprösen in Xavier de Maistres (1763–1852) Erzählung Der Aussätzige von Aosta (1811) zeigt eine »entsetzliche Blässe« und bietet das »leibhaftige Bild des Todes.« 45 Lepra hat den Ritter Michael Gorland in Wilhelm Raabes (1831–1910) Des Reiches Krone (1870) »im Gesicht uralt und hager gemacht und alles Feuer aus den Augen weggefressen.« 46 Die geisteskranke Adelaide Fouque der Familie Rougon Macquart bei Emile Zola (1840–1902) ist nicht in der Lage, ihrem sterbenden Ururenkel Charles, der ein Bluter ist, in seiner Agonie beizustehen oder überhaupt seine Not zu erkennen: »Doch sie schrie nicht, sie rief nicht. Verdorrt und knorrig saß sie reglos da, Glieder und Zunge von der Last ihrer hundert Jahre gelähmt, das Gehirn von Wahnsinn versteinert, außerstande, zu wollen oder zu handeln, während ihre uralten, starren Augen zusahen, wie sich das Schicksal ihres Geschlechts erfüllte.« 47 Das Leben vergeht, die Kunst ist zeitlos. Im Bildnis des Dorian Gray (1890) von Oscar Wilde (1809–1900) wird dieses Verhältnis ins Gegenteil verkehrt. Grauenhaft erscheint Dorian Gray der Gedanke an das Alter; der Wunsch, seine Jugend zu erhalten und stattdessen sein Porträt auf einem Gemälde altern zu lassen, geht in Erfüllung. »Ich werde alt und grässlich und widerwärtig werden. Aber dieses Bild wird immer jung bleiben … Wenn es nur umgekehrt wäre! Wenn ich immer jung bleiben könnte und dafür das Bild älter würde … Ich gäbe meine Seele dafür!« 48 Ganz der Verfeinerung der Sinne und rein ästhetischen
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Poe (1976), S. 349. De Maistre (1821), S. 58. Raabe (1970), S. 53. Zola (1970), S. 398 f. Wilde (2008), S. 34.
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Eindrücken gewidmet, alle tieferen Gemütsbewegungen und jede moralische Verantwortung scheuend, macht Dorian sein Leben zu einem Kunstwerk. Seinem Äußeren ist keine Veränderung anzumerken, stattdessen altert das Gemälde. Als Dorian Gray schließlich begreift, dass er zu einem wahrhaftigen Leben nicht mehr zurückzukehren kann, zerstört er das Porträt, das wie im Spiegel die hässlichen Züge seines gefühllosen und menschenfeindlichen Lebens wiedergibt, und beendet damit auch sein Leben.
VII. 20. Jahrhundert Eine Fülle empirischer Beiträge über das Alter wird im 20. und 21. Jahrhundert veröffentlicht. Der Begriff Geriatrie wird durch den aus Wien stammenden Amerikaner Ignaz Leo Nascher (1833–1944) eingeführt (Geriatrics, the diseases of old age and their treatment, 1909, 2 1916), wodurch eine Spannung zwischen Geriatrie und Gerontologie terminologisch fixiert wird, die auch in der Gegenwart noch eine Rolle spielt. Versuche der Rehabilitation des alten Menschen (Gerokomie) und seiner Behandlung (Gerotherapie) breiten sich aus. Aus den demographischen Veränderungen und den Fortschritten der Medizin ergeben sich ethische, soziale, politische und ökonomische Herausforderungen, die weiterhin auf überzeugende und realisierbare Antworten warten. Max Bürger (1895–1966) stellt dem biologischen Alter das kalendarische Alter gegenüber (Biomorphose, Gerontologie und Geriatrie, 1959), Charlotte Bühler (1893–1974) und Rudolf Ekstein (1912–2005) verbinden statistische Auswertung und verstehende oder teilnehmende Methodik (Anthropologische Resultate aus biographischer Forschung, 1973), geisteswissenschaftlich und kulturhistorisch bestimmt sind die Betrachtungen von Eduard Spranger (1882–1963) (Das Wesen der Lebensalter, 1941) und Romano Guardini (1885–1968) (Die Lebensalter, 1967). Wesentliche Anregungen enthalten die Studien der Psychologen und Altersforscher Hans Thomae (1915–2001) und Ursula Lehr (geb. 1930). Sechs Dimensionen sind nach diesen Forschern für das Alter (Psychologie des Alterns, 1972, 9 2000) entscheidend: biologische Veränderungen; krankhafte Veränderungen; funktionell-psychologische Veränderungen; persönlichkeitspsychologische Veränderungen; soziale 318 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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und sozialpsychologische Veränderungen sowie Veränderungen, die mit der Auseinandersetzung des alten Menschen mit dem Alter zusammenhängen. Von besonderem Gewicht sind schließlich die historischen und rezenten Studien von Arthur E. Imhof (Die gewonnenen Jahre, 1981) und Hans Peter Tews (Altersbilder, 1991) sowie die interdisziplinären Untersuchungen Alter und Altern, herausgegeben von Paul B. Baltes, Jürgen Mittelstraß und Ursula M. Staudinger von 1994, und Bilder des Alterns im Wandel. Historische, interkulturelle, theoretische und aktuelle Perspektiven unter der Herausgeberschaft von Josef Ehmer und Otfried Höffe aus dem Jahre 2009. Das Interesse der Schriftsteller und Künstler am Thema von Altern und Alter bricht auch im 20. Jahrhundert nicht ab. Entsprechende Beschreibungen und Interpretationen finden allerdings – wie neuere philosophisch-theologische Beiträge – in den empirischen Fachdisziplinen weniger Beachtung. Der Roman Ein Mann wird älter (1890) von Italo Svevo (1861– 1928) schildert den Verlust an geistiger Souveränität und körperlicher Vitalität im Zwiespalt der Gedanken, Gefühle und sozialen Beziehungen eines 35jährigen Mannes. Das Verhältnis zu einer jüngeren Frau scheitert. »Aber Liebe und Schmerz waren einmal in sein Leben getreten … Mit der Zeit aber schloß sich diese Lücke in seinem Inneren. Die Sehnsucht nach Ruhe und Sicherheit wurde wieder in ihm wach, und die Sorge um seine eigene Person verdrängte jeden anderen Wunsch. Nun lebte er wie ein alter Mann in der Erinnerung an seine Jugend.« 49 Ernest Hemingways (1899–1961) Roman Der alte Mann und das Meer (1956), der physische und psychische Veränderungen des Alters beschreibt, symbolisiert im Kampf des alten Mannes mit dem Fisch die Unbesiegbarkeit des Menschen vor der Natur auch noch im Scheitern: »Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben.« 50 In Muriel Sparks (1918–2006) Roman Memento Mori (1959) werden alte Menschen telephonisch von einer geheimnisvollen Stimme angerufen, die sie daran zu denken ermahnt, dass sie sterben müssen; das Spektrum der Reaktionen auf diese Stimme des Todes ist weitgespannt und spiegelt unterschiedliche Persönlichkeiten, geistige Einstellungen und soziale Situationen. Thomas Manns späte Erzählung Die Betrogene (1953) lenkt den 49 50
Svevo (1994), S. 305. Hemingway (1968), S. 99.
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Blick auf das Wesen von Hoffnung und Enttäuschung, auf die Biologie der Liebe, auf die Macht der Jugend und die Trauer des Alters. Rosalie von Tümmler ist 50 Jahre alt und wirkt zugleich noch jugendlich, von ihrer Figur wie von ihrem Temperament her. Zunehmend hat sie unter »dem stockenden, bei ihr unter seelischen Widerständen sich vollziehenden Erlöschen ihrer physischen Weiblichkeit« zu leiden: »Es schuf ihr ängstliche Wallungen, Unruhe des Herzens, Kopfweh, Tage der Schwermut und einer Reizbarkeit.« 51 In ihrer mit einem Klumpfuß geborenen und allem Sinnlichen distanziert gegenüber stehenden Tochter Anna hat Frau von Tümmler eine freundliche, wenn auch nicht immer verständnisvolle Partnerin für die Veränderungen, denen sie sich ausgesetzt sieht. Eine Blutung hält sie für den erneuten Beginn ihrer Weiblichkeit, in dieser Situation verliebt sie sich in einen 24jährigen Amerikaner. In Wahrheit handelt es sich aber um den Ausbruch eines Unterleibskrebses, an dessen Folgen sie auch bald stirbt. Frau von Tümmler hadert aber nicht mit ihrem Schicksal, verurteilt nicht die Täuschung der Natur: »Anna, sprich nicht von Betrug und höhnischer Grausamkeit der Natur. Schmäle nicht mit ihr, wie ich es nicht tue. Ungern geh’ ich dahin – von euch, vom Leben mit seinem Frühling. Aber wie wäre denn Frühling ohne Tod? Ist ja doch der Tod ein großes Mittel des Lebens, und wenn er für mich die Gestalt lieh von Auferstehung und Liebeslust, so war das nicht Lug, sondern Güte und Gnade.« 52 Auch in anderen Erzählungen und Romanen greift Thomas Mann das Thema des Alters auf und verbindet es – wie im Tod in Venedig (1913) – mit dem Verlust der künstlerischen Produktivität. Institutionen prägen das Leiden des Menschen wie die sozialen Reaktionen, sie können für den alten Menschen zu einem wohltätigen Rahmen der Hilfe in Not, aber ebenso zu einem Ort der Anonymisierung, Technisierung und Degradierung werden. Der Zorn der krebskranken Männer in Thomas Wolfes (1900–1938) Von Zeit und Strom (1935) auf die unbekannte Macht, die sie ihres Lebens beraubte, »entlud sich in einem unverständlichen Groll auf Ärzte, Schwestern, Praktikanten und die ganze finster–glatte Vollkommenheit des Krankenhausapparates.« Eine Steigerung zu Hass erfährt dieser Groll durch die Weise, wie im Krankenhaus mit dem Sterben umgegangen wird: »Man erlebte einen Tod ohne die uralten Qualen des Menschen, ohne 51 52
Mann (1975), S. 674. A. a. O., (1975), S. 729.
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das alte, hagere Siechen, einen Tod, der des uralten Schreckens und der strengen Würde des Sterbens bar ward, einen verschämt–lautlosen, narkotisch–dumpfen Übergang in die Vergessenheit mit dem Geschmack von Chemikalien im letzten Atemzug.« 53 Neben ihrem weit gespannten und pragmatischen Essay Das Alter (1970) beschreibt Simone de Beauvoir (1908–1986) in Ein sanfter Tod (1964) das Altern und Sterben ihrer Mutter, ihre eigenen Gefühle und Reaktionen sowie die neue Beziehung, die sich in dieser Situation noch entwickelt. Sie versucht, sich in die Lage ihrer Mutter zu versetzen, die nach einem Sturz mit einem Schenkelhalsbruch im Krankenhaus liegt: »Sie glaubte an den Himmel; doch trotz ihres Alters, ihrer Gebrechen und Beschwerden war sie ungestüm der Erde verhaftet und empfand vor dem Tod ein animalisches Grauen.« Die Mitteilung des behandelnden Arztes, dass ihre Mutter nicht so schnell wiederhergestellt sein werde, die lange Bettlägerigkeit für alte Menschen grundsätzlich nicht unbedenklich sei, wird von Simone de Beauvoir recht nüchtern zur Kenntnis genommen: »Mich beunruhigte das nicht sonderlich. Trotz ihres körperlichen Schadens war meine Mutter robust. Und letzten Endes war sie in dem Alter, wo man stirbt.« 54 Die Unsterblichen in Jorge Luis Borges (1899–1986) Erzählung Der Unsterbliche (1949) gelangen zu der Einsicht in die Eitelkeit alles Tuns und beschließen, nur im Denken zu leben, das heißt »in der reinen Spekulation.« 55 Resignation erfüllt die Lebensmüden (1892) und die Enttäuschten (1892) des Malers Ferdinand Hodler (1853–1918). Im Rosenkavalier (1911) von Richard Strauss (1864–1949) und dem Libretto von Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) meditiert die Feldmarschallin über die Flüchtigkeit der Zeit mit ihren Auswirkungen auf Leib, Seele und soziale Beziehungen: »Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie. Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen da fließt sie.«
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Wolfe (1952), S. 111. De Beauvoir, (1968), S. 16. Borges (1970), S. 17.
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VIII. Ausblick Der hippokratische Aphorismus »ars longa – vita brevis« aus der Antike hat seine Gültigkeit für die Medizin, die Kunst und das Leben nicht verloren. Medizin selbst verbindet in Diagnostik und Therapie Wissenschaft (scientia) und Kunst (ars). Alle Künste besitzen therapeutische Kräfte, können zur Behandlung und Arzt-Patienten-Beziehung beitragen, gehen in dieser Funktion aber nicht auf, wie Franz Kafka (1883– 1904) mit Recht betont: »Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.« 56 Die Vergänglichkeit des Lebens erhält in den Werken der Literatur und Künste eine überzeitliche und stimulierende Wiedergabe. Vor allem im literarisch-künstlerischen Medium werden Altern und Alter stets in ihrer Objektivität und Subjektivität, als physische, psychische, soziale und geistige Erscheinungen sowie als Seins- und Werturteil dargestellt und gedeutet. Literatur und Künste beschreiben nicht nur Tatsachen, sondern verleihen ihnen einen Sinn; das Verhältnis von realer Deskription und Deutung kann jeweils spezifisch in den verschiedenen Epochen und natürlich auch bei den einzelnen Autoren unterschiedlich sein. Immer wieder wird die Selbstverantwortung des alten Menschen hervorgehoben, an die auch von dem Theologen und Philosophen Romano Guardini erinnert wird: »Was helfen aber alle Gerontologie der Medizin und alle Fürsorge der Sozialpflege, wenn nicht zugleich der alte Mensch selbst zum Bewußtsein seines Sinnes gelangt? Dann wird er nur biologisch erhalten und ist sich wie seiner Umgebung eine Beschwerde.« 57 Literatur und Künste geben der Wissenschaft und Medizin wesentliche Anregungen (medizinische Funktion der Literatur), wie ihre Beschreibungen umgekehrt auch von medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen einen Gewinn haben können (literarische Funktion der Medizin); schließlich beeinflussen literarische und künstlerische Schilderungen allgemein die Vorstellungen und das Verhalten der Menschen (genuine Funktion der literarisierten Medizin). Literatur und Künste manifestieren Sinn und Notwendigkeit eines ganzheitlichen Verständnisses des Lebens – jenseits von Biologie, Medizin, Psychologie und Soziologie und zugleich mit ihnen in Verbindung – in 56 57
Kafka (1958), S. 28. Guardini (1967), S. 99.
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allen seinen Phasen von der Jugend bis zum Alter, in Gesundheit, Krankheit und Tod, in den Reaktionen der Umwelt, der Angehörigen wie Ärzte und Pflegekräfte. Der Philosoph Hegel schreibt in diesem Sinn der Kunst einen wesentlichen Vorzug in der Erfassung der Wahrheit in der Welt der Erscheinungen zu: »Die harte Rinde der Natur und gewöhnlichen Welt machen es dem Geiste saurer zur Idee durchzudringen, als die Werke der Kunst.«58
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Hegel, G. W. F. (1964), S. 30.
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Autorenverzeichnis
Dr. phil. Eva Birkenstock Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gerontologie, Universität Heidelberg Claudia Bozzaro, M.A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Freiburg Agata Daroszewska, Dipl.-Soz. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Versorgungsforschung, IGES Institut GmbH Berlin Dr. phil. Hans-Jo¨rg Ehni Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Tübingen Tobias Eichinger, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Freiburg Prof. Dr. Dietrich von Engelhardt Komm. Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, TU München Dr. med. Holger Gothe, Dipl.-Komm.wirt. Stellv. Vorstand des Instituts für Public Health, Medical Decision Making und HTA, UMIT – Private Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik, Hall in Tirol (A), Geschäftsführer und Bereichsleiter Versorgungsforschung, IGES Institut GmbH Berlin (während der Durchführung der Studie) 325 https://doi.org/10.5771/9783495860090 © Ver
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Prof. Dr. Peter Gross Professor em. für Soziologie, Universität St. Gallen (CH) Prof. Dr. med. Bertram Ha¨ussler Vorsitzender Geschäftsführer, IGES Institut GmbH Berlin und Honorarprofessor am Institut für Gesundheitswissenschaften, TU Berlin Prof. Dr. med. Hermann Wolfgang Heiß Ärztlicher Leiter des Zentrums für Geriatrie und Gerontologie i. R., Universitätsklinikum Freiburg Dr. des. Beate Herrmann, M.A. Klinische Ethikberaterin, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Heidelberg Prof. Dr. med. Giovanni Maio, M.A. Professor für Bioethik und Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Freiburg Prof. Dr. med. Georg Marckmann, MPH Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, LMU München Prof. Dr. jur. Wolfgang Mazal Professor für Arbeits- und Sozialrecht, Universität Wien (A) Prof. Dr. med. Dorothe´e Nashan Leitende Oberärztin Abt. Dermatologie und Venerologie, UniversitätsHautklinik Freiburg Dr. theol. Heinz Ru¨egger Fachbereichsleiter Gerontologie, Ethik und Theologie/Diakonie, Institut Neumünster (CH) Mark Schweda, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Göttingen
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Philipp Storz, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, IGES Institut GmbH Berlin (während der Durchfürhung der Studie)
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