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German Pages 342 [343] Year 2011
UTB 3460
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Melani e Köhl moos
Altes Testament
A. Francke Verlag Tübingen und Basel
Melanie Köhlmoos ist Professorin für Altes Testament an der Goethe-Universität Frankfurt/Main.
Umschlagabbildung: Genesis 2; 3 in der Vulgata-Ausgabe
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen ISBN 978-3-7720-8390 -7 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http://www.francke.de E-Mail: [email protected] Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: Informationsdesign D. Fratzke, Kirchentellinsfurt Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-8252-3460-7 (UTB-Bestellnummer)
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V
Vorwort
Die Bedingungen für ein Studium der Theologie haben sich in den letzten Jahren erheblich verändert. Das Studium ist kürzer und praxisorientierter geworden. Trotzdem muss immer noch viel Stoff bewältigt werden. Auf der anderen Seite haben sich die Ergebnisse der Forschung am Alten Testament gegenüber dem Ende des vorigen Jahrhunderts stark gewandelt. Diese beiden Sachverhalte machen neue Lehrbücher für das Studium des Alten Testaments notwendig. Seit etwa zehn Jahren werden solche in verstärktem Maße veröffentlicht und tragen den Bedürfnissen von Studierenden wie der gewandelten Forschungslage Rechnung. Das vorliegende Buch reiht sich in das immer breiter werdende Angebot ein. Zu meiner eigenen Studienzeit brauchte eine Studentin der Theologie mindestens vier Lehrbücher für das Alte Testament: eine Einleitung, eine Geschichte Israels, eine Theologie des Alten Testaments und eine Bibelkunde. Es war immer mein Wunsch, die unterschiedlichen Fragestellungen in einem Werk zu vereinigen; und tatsächlich geht der Trend immer mehr zu Kompaktlehrbüchern. Doch „alles, was man wissen muss“ lässt sich für das Alte Testament kaum in ein einziges Buch drängen − wenn man nicht ein Monumentalwerk verfassen will. So muss dieses Buch − wie alle anderen Kompaktlehrbücher auch − Schwerpunkte setzen. Das Konzept dieses Buches geht auf meine Lehrveranstaltungen an der Universität Bielefeld und an der Goethe-Universität Frankfurt/Main zurück. Es ist also bereits in der Praxis erprobt. Ich wünsche mir, dass auch Studierende außerhalb meiner Vorlesungen und Seminare von diesem Konzept profitieren. Erforderlich zum Verständnis des Alten Testaments sind nach diesen Erfahrungen vor allem historische und methodische Kenntnisse über das Alte Testament, seine Entstehung und seine Auslegung. Im Hinblick auf die spätere Praxis liegt der Schwerpunkt dabei auf der erzählenden Literatur und der Prophetie. Dieses Buch hat seine Ergänzung durch weiteres Material, das online unter utb.mehr-wissen.de zugänglich ist.
VI
Vorwort
Gleich zu Anfang möchte ich vielen Menschen danken: Frau Gabi Kern, deren Konzeption des „Grundkurses Altes Testament“ (Universität Bielefeld) vor allem das erste und das fünfte Kapitel dieses Buches inspiriert hat; den Studierenden meiner Veranstaltungen, deren Mithilfe und Kritik die Textfassung des Buches möglich gemacht haben; Frau Susanne Fischer vom Verlag Narr Francke Attempto, die die Idee hatte und mich als Autorin angesprochen hat; Herrn Dr. Johannes Diehl und Frau Anna Beyer für die aktive Mithilfe bei der Abfassung; schließlich meinem Mann, Pastor Frank Muchlinsky, der mit Interesse und Geduld an der Fertigstellung beteiligt war. Frankfurt/Main im Juli 2011
Melanie Köhlmoos
VII
Inhalt
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
1 Das Alte Testament als Heilige Schrift (Kanongeschichte) . . . . . . . . . . . . 1.1 Was ist eine heilige Schrift?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Ist das „Alte Testament“ die „jüdische Bibel“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Wie viele Bibeln hat die Kirche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Bibelübersetzungen: Welche Bibel für wen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 2 6 8 18
2 Der Umgang mit dem Alten Testament (Auslegung) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vor der Auslegung: Einen Text finden und ihn zitieren. . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Lesen und Verstehen I: Hilfsmittel zur Textarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Lesen und Verstehen II: Textbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Lesen und Erklären I: Exegese alttestamentlicher Texte . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Lesen und Erklären II: Methoden historischer Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Lesen und Begreifen: Weitere exegetische Methoden und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Lesen und Anwenden: Applikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27 38 31 33 36 38 48 50
3 Historischer Vorspann: Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit . . . 53 3.1 Israel im Alten Orient. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.2 Die Vorgeschichte Israels (13.–11. Jh. v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.3 Zwei Königreiche, ein Gott: Die Königszeit (ca. 1000–587 v. Chr.) . . . . . 79 3.4 Nach der Katastrophe: Die „Exilszeit“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3.5 Israel und die Perser: Die nachexilische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3.6 Die hellenistische Zeit (333–63. v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4 Literarhistorische Vertiefung: Die Entstehung des Alten Testaments . . . 4.1 Frühe Formen der alttestamentlichen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Texte aus der Königszeit (ca. 900–587 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Texte aus der Exilszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die Literatur der Perserzeit (539–333 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Die Literatur der Hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.). . . . . . . . . . . . . . .
146 150 157 186 212 233
5 Thematischer Querschnitt: Was das Alte Testament glaubt . . . . . . . . . . . . 260 5.1 Schöpfung: Von der Entstehung der Welt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ϝ
utb-mehr-wissen.de
VIII
Inhalt
utb-mehr-wissen.de
5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
Abraham, Isaak, Jakob: Familiengeschichten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gesetz im Alten Testament: Was sollen wir tun? . . . . . . . . . . . . . . . . „So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lobe JHWH, meine Seele“: Die Psalmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Gottesfurcht ist der Anfang der Erkenntnis“: Die Weisheit . . . . . . . . . .
Ϝ 263 280 305 321
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
1
Das Alte Testament als Heilige Schrift (Kanongeschichte)
1
Inhalt 1.1
Was ist eine heilige Schrift? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.2
Ist das „Alte Testament“ die „jüdische Bibel“? . . . . . . . 6
1.3
Wie viele Bibeln hat die Kirche?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.3.1 Der hebräische Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.3.2 Der griechische Kanon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.3.3 Der griechische Kanon als Altes Testament . . . . . . . . 13 1.3.4 Das Alte Testament in den christlichen Kirchen . . . . 14 1.4
Bibelübersetzungen: Welche Bibel für wen?. . . . . . . . 18
1.4.1 Bibelübersetzungen und Kanon: Ein geschichtlicher Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.4.2 Deutsche Bibelübersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.4.3 Tipps zur Bibellektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Problemanzeige Die Bibel ist ein „Buch aus Büchern“ (Christoph Dohmen). Deren Zusammenfassung zur Bibel ist der Schlusspunkt einer langen Entwicklungsgeschichte. Das Alte Testament ist ein Teil der Bibel und zwar − wie der Name andeutet − der erste Teil. Das Alte Testament ist aber nicht ein Buch, sondern eine Sammlung von 39 oder mehr einzelnen Büchern, die in einem langen Zeitraum entstanden sind. Analog besteht das Neue Testament aus 27 einzelnen Büchern. Eine Einführung in das Alte Testament muss sachgemäß an diesem Ende seiner Entstehung ansetzen, damit deutlich wird, womit wir es eigentlich zu tun haben, warum die Bibel anders
!
2
Das Alte Testament als Heilige Schrift
ist als andere Bücher, obwohl man sie mit denselben Methoden wie andere Bücher untersucht. Im Christentum gilt die ganze Bibel (Altes und Neues Testament) als Heilige Schrift, d. h. als einzige Quelle des Glaubens, als Gottes Wort. Das unterscheidet sie von allen anderen Büchern und Texten religiösen Inhalts, auch von Bekenntnisschriften oder päpstlichen Verlautbarungen, von den Schriften Martin Luthers oder der Kirchenväter, von Predigten oder Gebeten. Sie alle sind „nur“ Auslegung der Bibel. Deswegen lautet die erste Frage: Was ist eigentlich „die Bibel“? Und was ist „das Alte Testament“? Mit dieser Grundfrage verbinden sich weitere Fragen: Ϝ Heilige Schriften gibt es in vielen Religionen. Die erste Frage lautet daher: Was ist eine Heilige Schrift? Warum und inwiefern gehört die Bibel überhaupt zu dieser Art Literatur? (Kap. 1.1) Ϝ Was im Christentum als „Altes Testament“ bezeichnet wird und Teil einer zweiteiligen Heiligen Schrift ist, gilt im Judentum als einzige Heilige Schrift − wenn auch mit etwas anderen Merkmalen. Dass sich zwei Religionen auf dieselbe Schrift beziehen, ist einzigartig unter den Religionen. Die Frage lautet daher: Ist das Alte Testament eigentlich die jüdische Bibel? (Kap. 1.2) Ϝ In den drei Hauptrichtungen des christlichen Glaubens − katholisch, evangelisch, orthodox − unterscheidet sich das Alte Testament nach Umfang und Auf bau. Die Frage lautet daher: Gibt es mehrere Bibeln? Und welche ist die „richtige“ Bibel? (Kap. 1.3) Ϝ Gibt es „richtige“ und „falsche“ Bibelübersetzungen? Welche Bibelübersetzung ist geeignet für Studium und Beruf ? (Kap. 1.4) Diese Fragen sind zu klären, bevor Sie sich mit der Geschichte der Bibel befassen. Deswegen beginnen wir mit einem Überblick zur sog. „Kanongeschichte“, zur Frage der Bibelübersetzung und zur Auslegung der Bibel.
1.1
Was ist eine heilige Schrift? H. W. Beyer, Art. Kano¯n, in: G. Kittel (Hg.), ThWNT, Bd. 3, Stuttgart 1938, 600–606. C. Colpe, Art. „heilig“ (sprachlich), in: H. Cancik/B. Gladigow/K.-H. Kohl (Hg.), HRWG, Bd. 3, Stuttgart 1993, 74–80.
3
Was ist eine heilige Schrift?
M. Frenschkowski, Heilige Schriften der Weltreligionen und religiösen Bewegungen, Wiesbaden 2007. http://www.religion-cults.com/scriptures.html. U. Tworuschka (Hg.), Heilige Schriften. Eine Einführung, Frankfurt a. M./Leipzig 2008 (Verlag der Weltreligionen 7).
In fast allen Religionen gibt es heilige Schriften: im Judentum, Christentum, Islam, im Buddhismus und im Hinduismus, bei den Sikhs und in den meisten Neuen Religionen. Heilige Schriften können Götterlehren und Mythen enthalten, Worte und Handlungen des Religionsstifters und herausragender Personen der jeweiligen Religion, ethische Regeln, kultische Texte, Gebete u. v. m. In jeder Religion dienen heilige Schriften dazu, Menschen mit dem Glauben vertraut zu machen, geschichtliche und gottesdienstliche Texte zu dokumentieren. Spricht man von heiligen Schriften, muss man auf die Perspektive achten. Teilt man die Glaubensvoraussetzungen der jeweiligen Religion nicht, weil man ihr nicht angehört oder weil man sie einfach beschreiben will, nimmt man die Außenperspektive ein. Das tun die Religionswissenschaften. „Heilig“ bezeichnet in diesem Zusammenhang die Wahrnehmung, dass die Schriften nicht nur durch ihren Inhalt besonders herausgehoben sind (dann könnten es auch einfach religiöse Schriften sein), sondern dass sie wegen dieses Inhalts in ihrer Religion eine äußerst wichtige Rolle spielen. Wenn man dagegen als Angehöriger der betreffenden Religion spricht, nimmt man die Binnenperspektive ein. Das tut die Theologie. Man spricht dann nicht von „heilig“ als Beschreibungs-, sondern als Erfahrungskategorie: die Schrift stellt in irgendeiner Weise die Begegnung mit Gott her. Auch hierbei geht es nicht nur allein um den Inhalt, sondern um etwas, das darüber hinausgeht: „Die Macht des heiligen Wortes ist in dieses Buch gebannt“ (Gerardus van der Leeuw). Für die heiligen Schriften des Judentums, des Christentums und des Islams gilt: Sie sind für ihre Anhänger das Wort Gottes und der einzige Ort, an dem man etwas über das Wesen und den Willen Gottes erfahren kann. Jede theologische und jede Glaubensaussage muss sich auf die heiligen Schriften berufen können. Außerhalb der heiligen Schrift gibt es keine Offenbarung Gottes. Solche allein auf Schriften gegründeten Religionen bezeichnet man als „Buchreligionen“: In ihrem Zentrum steht ein heiliges Buch oder eine Sammlung von Schriften, deren verbindliche Geltung nach der Entstehung der einzelnen Schriften festgelegt wurde.
Heilige Schriften
Außenperspektive
Binnenperspektive
Buchreligionen
4
Das Alte Testament als Heilige Schrift
Der Name der heiligen Schriften im Judentum, Christentum und IslamDen Unterschied von Außen- und Binnenperspektive kann man in schriftlichen Texten deutlich machen. Aus der (beschreibenden) Außenperspektive schreibt man „heilige Schrift“ mit kleinem „h“. Damit deuten Sie an, dass Sie „heilig“ möglichst wertneutral verstehen. Aus der vom eigenen Glauben bestimmten Binnenperspektive schreibt man „Heilige Schrift“ mit großem „H“. Damit verwenden Sie „heilig“ als Titel. Es ist sinnvoll, wenn Sie sich die Namen der einzelnen heiligen Schriften aneignen: Christentum: Bibel Judentum: Tanak/Miqra Islam: Koran Kanon
Eine solche normative (= verbindliche) Schriftensammlung nennt man auch Kanon. (Beim Koran spricht man nicht von einem Kanon, weil es sich nicht um eine Schriftensammlung handelt, sondern um ein ganzes Buch, das in einem einzigen Akt offenbart wurde.)
Der Begriff „Kanon“Das Wort „Kanon“ stammt ursprünglich aus dem semitischen Sprachraum, im Hebräischen bezeichnet qa¯næh das Schilfgrasrohr. Aus Schilfrohr machte man verschiedene Geräte, demzufolge ist qa¯næh auch der Begriff für die Schreibfeder, den Rohrstock und das Messrohr (Lineal). Mit dieser letzteren Bedeutung ist das Wort ins Griechische übernommen worden und lautet dort „Kanon“. In der griechischen Philosophie ist Kanon dann der Begriff für etwas vollendet Schönes (z. B. eine Statue) oder Gutes (z. B. das Gesetz). Gleichzeitig bezeichnet man mit „Kanon“ aber auch den Maßstab, an dem man das Schöne und Gute erkennen kann. Der vergleichbare lateinische Begriff lautet „norma“. In diesem Sinn wird das Wort „Kanon“ von der frühen Kirche verwendet (es erscheint nicht in der Bibel selbst!) und für das Glaubensbekenntnis, für Konzilsbeschlüsse und die Sammlung der heiligen Schriften gebraucht. In der heutigen Wissenschaft spricht man dann vom Kanon, wenn man eine Gruppe vorbildlicher und/oder allgemeingültiger Dinge zusammenfassen will: Bildungskanon (alles, was man wissen muss), Literaturkanon (die Bücher, die die Literatur typisch repräsentieren). die Bibel als Kanon
Die christliche Bibel ist deswegen ein Kanon heiliger Schriften, weil sie in einer bestimmten Form auf den altkirchlichen Synoden (= Versammlungen der Bischöfe) von Laodicea (362) und Rom (381) gewissermaßen „heilig gesprochen“ worden ist. Mit diesem Beschluss hat die frühe Kirche die Heilige Schrift als Wort Gottes von jenen Schriften getrennt, die
Ist das „Alte Testament“ die „jüdische Bibel“?
5
Ϝ das Wort Gottes nur auslegen (Kirchenväter) oder Ϝ zu bestimmten kanonischen Schriften im Widerspruch stehen (Apokryphen und ketzerische Schriften). Die kirchliche Kanonentscheidung bezieht sich aber nicht nur auf die Anzahl und Auswahl der biblischen Schriften, sondern auch auf ihre Reihenfolge und Anordnung: Sie sind gleichermaßen verbindlich und machen das Eigenprofil des christlichen Kanons aus. Das heißt, keine der biblischen Schriften erhebt von sich aus den Anspruch, heilige Schrift zu sein, sondern diese Qualität ist ihr zugewachsen. Aus der (religionswissenschaftlichen) Außenperspektive betrachtet, hat diese Kanonisierung der Bibel historische und geistesgeschichtliche Gründe, ist also in gewissem Sinne zufällig und willkürlich. In (theologischer) Binnenperspektive muss gelten, dass die Kirche als Versammlung der Gläubigen dem Wort Gottes seine verbindliche Gestalt verliehen hat. Sie hat anerkannt und festgehalten, dass sich Gott so offenbart, wie es die Schrift bezeugt: als Schöpfer und Gott Israels (Altes Testament) und als Erlöser und Vater Jesu Christi (Neues Testament). Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Formulieren Sie in Ihren eigenen Worten den Unterschied zwischen „heiliger Schrift“ und „Heiliger Schrift“.
2. Finden Sie eine Definition für den Begriff „Kanon“! 3. Erarbeiten Sie sich mithilfe folgender Literatur die Funktion und Bedeutung der Bibel für die christlichen Kirchen: Katholisch: Dogmatische Konstitution „Dei Verbum. Über die göttliche Offenbarung“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Ergänzungsband II, Freiburg 21967, 497−583. Evangelisch: Konkordienformel/Formula Concordiae, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 121998, 730−850. Für Fortgeschrittene: Lesen Sie: T. Seidensticker, Koran, in: U. Tworuschka (Hg.), Heilige Schriften, 165−192, bes. 187−190, und beschreiben Sie die Autorität des Korans im Islam.
6
Das Alte Testament als Heilige Schrift
1.2
Ist das „Alte Testament“ die „jüdische Bibel“? C. Dohmen/G. Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart 1996 (Kohlhammer Studienbücher Theologie 1,2). H. Liss, Tanach. Lehrbuch der jüdischen Bibel. Heidelberg 22008 (Schriften der Hochschule für jüdische Studien 8), 13–16.
zwei Religionen – ein Buch
der Name der Schrift
Judentum und Christentum sind zwei verschiedene Religionen. Trotzdem − und das ist einzigartig − teilen sie sich anscheinend ihre heilige Schrift. Das christliche Alte Testament ist zum großen Teil deckungsgleich mit der heiligen Schrift des Judentums: die Bücher 1. Mose bis Maleachi. Ist das Alte Testament also die jüdische Bibel? Aus drei Gründen muss gelten: Das Alte Testament ist nicht die jüdische Bibel. Der erste Grund ist der Name. „Bibel“ ist zwar umgangssprachlich die Bezeichnung für eine „heilige Schrift“, aber sachgemäß ist „Bibel“ der Eigenname der Heiligen Schrift der christlichen Kirchen.. Das Wort leitet sich von der Hafenstadt Byblos im Libanon ab. Dort wurde in der Antike Papyrus zu Büchern (gr. biblía) verarbeitet, und so bedeutet „Bibel“ ursprünglich lediglich „die Bücher“. Für die heilige Schrift des Judentums hingegen gibt es keine einheitliche Bezeichnung.
Der Name der heiligen Schrift des JudentumsIn der für das Judentum maßgeblichen rabbinischen Tradition finden sich folgende Bezeichnungen für die heilige Schrift: ha-katub (= „das, was geschrieben ist“), kitbe ha-qodesˇ (= „die Schriften des Heiligtums“) oder ha-miqra (= „das, was gelesen wird“). In der Verkürzung „Miqra“ ist die letztere Bezeichnung im Judentum weit verbreitet. Sie beruht auf der gleichen sprachlichen Wurzel wie das Wort Koran, weil Hebräisch und Arabisch verwandt sind: Koran (arab. alqur’a¯n) bedeutet „der Vortrag“. Am häufigsten – auch in der Exegese – wird jedoch der Name Tanak (auch Tenak, Tanach, Tenach) verwendet. Dieser Name ist ein Kunstwort und verbindet die Anfangsbuchstaben der drei Hauptteile der Schrift: – Tora (Weisung, die fünf Bücher Mose), – Nebiim (Propheten, die prophetischen Bücher) und – Ketubim (Schriften, die übrigen Bücher). Verwechseln Sie bitte nicht Tanak mit Tora! Zwar ist die Tora der wichtigste Teil des Tanak, aber eben nur ein Teil. Innerhalb des Judentums selbst und vor allem in den USA wird gelegentlich auch der Begriff „Hebräische Bibel“ (Hebrew Bible) verwendet. Aus Gründen der religiösen Sensibilität sollten Sie das aber nicht tun.
7
Ist das „Alte Testament“ die „jüdische Bibel“?
Der zweite Grund liegt in der Theologie der Bibel. Die Bibel ist „die ganze Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments“. Dabei ist das Neue Testament niemals als eigenständiges Buch konzipiert worden, sondern versteht sich als Auslegung der Schriften des Alten Testaments. Das Alte Testament ist also Teil der christlichen Bibel, aber außerhalb dieser Einheit gibt es keine Bibel.
der zweiteilige Kanon
Tanak und TalmudIn ähnlicher Weise wie in den christlichen Kirchen das Alte Testament gewissermaßen durch die „Brille“ des Neuen Testaments gelesen und ausgelegt wird, hat das Judentum neben dem Tanak den Talmud als maßgebliche Darstellung der Auslegung. Hier liegt die Vorstellung zugrunde, dass auch die Auslegung durch Gott gewirkt ist. Im Unterschied zum christlichen Neuen Testament ist der Talmud nicht selbst heilige Schrift, aber von herausragender Bedeutung für das Verstehen des Tanak.
Unter diesem Gesichtpunkt teilen sich Judentum und Christentum nicht ihre heilige Schrift, sondern hinsichtlich der Glaubensgrundlage gibt es eher eine Schnittmenge: Abb. 1.2.1
Judentum
Talmud
AT/ Tanak
Neues Testament
Christentum
Der dritte Grund: Der jüdische Tanak unterscheidet sich in Sprache, Aufbau und Umfang vom christlichen Alten Testament. Grundsätzlich gilt: Ϝ Der Tanak ist hebräisch, das Alte Testament kann in jeder Sprache vorliegen. Ϝ Der Tanak hat die Propheten in der Mitte, das Alte Testament am Schluss. Ϝ Der Tanak enthält 39 einzelne Schriften, das Alte Testament 39 oder mehr. Diese Unterschiede sind das Ergebnis historischer und theologischer Entwicklungen und müssen daher im nächsten Abschnitt genauer erläutert werden.
Schnittmenge zwischen den heiligen Schriften des Christentums und des Judentums
Sprachen und Aufbau
8
Das Alte Testament als Heilige Schrift
Vorerst ist festzuhalten: Das Alte Testament ist nicht die jüdische Bibel, sondern es ist vielmehr so, dass in Judentum und Christentum: „dieselben Bücher zweifach verstanden werden und dass daraus wiederum eine zweifache Verkündigung entsteht.“ (C. Dohmen/G. Stemberger, Hermeneutik, 21)
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Welche Bezeichnungen verwendet das Judentum für seine heilige Schrift? 2. Unterscheiden Sie: Tora − Tanak − Talmud! 3. Formulieren Sie mit Ihren eigenen Worten, warum der Begriff „Jüdische Bibel“ sinnvollerweise nicht für das Alte Testament verwendet werden sollte!
1.3
Wie viele Bibeln hat die Kirche? Während der Kanon des Neuen Testaments bei Katholiken, Protestanten und orthodoxen Christen nur geringfügig voneinander abweicht, unterscheidet sich der Kanon des Alten Testaments insgesamt vom jüdischen Kanon und differiert dann noch einmal innerhalb der christlichen Kirchen.
1.3.1
Der hebräische Kanon E. Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 72008 (Kohlhammer Studienbücher Theologie 1,1), 21–26.
Die Schriften des Alten Testaments sind ursprünglich auf Hebräisch verfasst, Teile des Esra- und des Danielbuches auch auf Aramäisch. Der hebräische Kanon hat folgenden Auf bau: Hebräischer Name
Deutscher Name
Name des Schriftenteils
Beresˇit Sˇemot
Genesis/1. Mose Exodus/2. Mose
TORA (Weisung) Die Namen der Bücher richten sich nach dem Anfangswort.
Wajjiqra
Leviticus/3. Mose
Bammidbar
Numeri/4. Mose
Debarim
Deuteronomium/5. Mose
Jehosˇua Sˇopetim
Josua Richter
NEBIIM (Propheten)
9
Wie viele Bibeln hat die Kirche?
Hebräischer Name Sˇemuel 1–2
Deutscher Name
Melakim 1–2
1. und 2. Könige
Jesˇaja
Jesaja
Jirmeja
Jeremia
Jehezqel
Ezechiel/Hesekiel
Name des Schriftenteils
1. und 2. Samuel
Hosˇea Joel Amos Obadja Jona Micha Nahum Habaquq
Habakuk
Zepanja
Zephanja
Haggai Zakarja
Sacharja
Maleachi
Qohælæt
KETUBIM (Schriften) Die Reihenfolge der EinzelHiob bücher kann variieren. Die Sprüche Salomos hier gebotene Abfolge ist die der (deutschen) wissenschaftlichen StandardausgaHoheslied be Biblia Hebraica StuttgarKohelet/Prediger Salomo tensia.
Echah
Klagelieder
Tehillim Ijjob Misˇle Rut Sˇir ha-sˇirim
Psalmen
Ester Daniel Ezra
Esra
Nehemja
Nehemia
Dibre ha-Jammim 1–2 1. und 2. Chronik
Die Anordnung und Einteilung des hebräischen Kanons sind nicht zufällig. Vielmehr spiegeln sie die Entstehungsverhältnisse des Kanons ebenso wie das jüdische Schriftverständnis.
der Sinn des hebräischen Kanons
10
Das Alte Testament als Heilige Schrift
Konstitutiv für den hebräischen (jüdischen) Kanon, den Tanak, sind seine hebräische Sprachgestalt und seine dreiteilige Struktur aus Tora − Nebiim − Ketubim. Die drei Teile sind in ihrer Summe heilige Schrift, haben innerhalb dieser aber eine abgestufte Bedeutung. Die Tora ist „die unvergleichliche, unüberbietbare und ewig gültige Offenbarung und Lebensweisung“ (Erich Zenger). Sie ist mit Mose verbunden, der Gott geschaut und von ihm die Tora empfangen hat. Die Propheten (Nebiim) sind die Ausleger der Tora in Israels Geschichte. In diesem Sinne gelten auch Josua, die Richter, Samuel und Gestalten der Königebücher als Propheten. Die Schriften (Ketubim) enthalten weitere Auslegungen der Tora. 1.3.2
Der griechische Kanon K. Brodersen, Aristeas. Der König und die Bibel, Stuttgart 2008.
die Septuaginta
weitere Schriften
Anordnung
Vom 3. Jh. v. Chr. an wurden die hebräischen Schriften ins Griechische übersetzt. Diese Übersetzung des im Entstehen begriffenen jüdischen Kanons war ein Projekt des frühen Judentums: Die Schriften sollten auch von denjenigen gelesen werden, die kein Hebräisch konnten. Der Vorgang dieser Übersetzung ist uns nur als Legende überliefert, wonach 72 Männer im Auftrag des ägyptischen Königs die hebräische Tora ins Griechische übersetzt hätten. Nach den 72 hat die griechische Übersetzung den Namen „Septuaginta“ (griech. für „siebzig“). Gleichzeitig mit der Übersetzung der alten Schriften entstanden sowohl auf Hebräisch als auch auf Griechisch religiöse Schriften, die so populär wurden, dass sie für die Aufnahme in den entstehenden Kanon in Frage kamen. Während die hebräischen Zusatzschriften niemals kanonisiert worden sind, wurden einige der griechisch abgefassten Bücher in den Kanon des griechisch sprechenden Judentums aufgenommen. Der griechische Kanon ist also umfangreicher als der hebräische. Außerdem verwendete das griechische Judentum offenbar ein anderes Anordnungsprinzip der kanonischen Schriften als das Judentum in Palästina, das den hebräischen Kanon entwickelt hatte. Hinter die Tora fügen sich im griechischen Kanon zunächst jene Bücher, die von der Geschichte Gottes mit seinem Volk berichten. Josua, Samuel und Könige gelten nun nicht mehr als prophetische Schriften. Die Prophetenschriften rücken als Ankündigungen des (nahen) Weltendes an den Schluss der Sammlung. Die „Schriften“ werden teils als Geschichtsbücher (Ruth,
Wie viele Bibeln hat die Kirche?
Chronik, Esra, Nehemia, Ester), teils als Propheten (Daniel, Klagelieder) aufgefasst. Nur ein kleiner Teil der Schriften bleibt als „poetische Bücher“ in der Mitte des griechischen Kanons stehen. Der griechische Kanon hat folgenden Auf bau: Griechischer Name
Deutscher Name
Name des Schriftenteils
Genesis
Genesis/1. Mose
Exodos
Exodus/2. Mose
Pentateuch („Das Fünfteilige“) Die Namen der Bücher richten sich nach dem Hauptinhalt.
Levitikon
Leviticus/3. Mose
Arithmoi
Numeri/4. Mose
Deuteronomion
Deuteronomium/5. Mose
Iesous
Josua
Kritai
Richter
Routh
Ruth
Basileion 1–4
1.–2. Samuel/ 1.–2. Könige (Gezählt als 1.–4. Könige)
Paraleipomenon 1–2
1.–2. Chronik
Esdras 1
Esra
Esdras 2
Nehemia
Esdras 3
(eine Sammlung von Esra-Legenden ohne Entsprechung im hebräischen Text)
Esther
Ester
Joudith
Judith
Tobit
Tobit
Makkabaion 1–4
1.–4. Makkabäer
Psalmoi
Psalmen
Odai
Oden Salomos
Paroimiai
Sprüche Salomos
Ekklesiastes
Kohelet/Prediger Salomo
Asma
Hoheslied
Iob
Hiob
Sophia Salomonos
Weisheit Salomos
Historia (Geschichtsbücher)
Psalmen und Weisheit
11
12
Das Alte Testament als Heilige Schrift
Griechischer Name
Deutscher Name
Sophia Sirach
Sirach
Psalmoi Salomontos
Psalmen Salomos
Osee
Hosea
Amos
Amos
Michaias
Micha
Ioel
Joel
Abdiou
Obadja
Ionas
Jona
Naoum
Nahum
Ambakoum
Habakuk
Sophonias
Zephanja
Aggaios
Haggai
Zacharias
Sacharja
Malachias
Maleachi
Esaias
Jesaja
Ieremias
Jeremia
Barouch
Baruch
Threnoi
Klagelieder
Epistole Ieremiou
Brief Jeremias
Iezekiel
Ezechiel/Hesekiel
Sousanna
Susanna
Daniel
Daniel
Bel Kai Drakon
Bel und der Drache
Name des Schriftenteils
Prophetai (Prophetische Bücher)
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Prägen Sie sich den Grundauf bau des hebräischen Kanons ein! 2. Begründen Sie, warum Josua, Richter, Samuel und Könige im hebräischen Kanon als prophetische Bücher gelten!
3. Prägen Sie sich den Grundauf bau des griechischen Kanons ein! Welche Schriften sind: − im griechischen Kanon hinzugefügt? − im griechischen Kanon umgestellt?
13
Wie viele Bibeln hat die Kirche?
1.3.3
Der griechische Kanon als Altes Testament Das Urchristentum hat sich in seinem Glauben, seinem Handeln und seiner Theologie zunächst auf „die Schrift“ bezogen und meint damit jene Schriften, die das spätere Alte Testament bilden. Für das Neue Testament ist also das „Alte“ Testament die einzige heilige Schrift! Indes war von Beginn an der griechische Kanon der normative Text des Christentums, nicht der hebräische. Neben die normative „Schrift“ trat im frühen Christentum schon in alter Zeit der Bezug auf die Überlieferung von Jesus Christus sowie auf die Briefe des Paulus und anderer Autoren, die die verbindliche Auslegung des Lebens und Sterbens Jesu Christi bildeten. Beides zusammen wurde als die Erfüllung dessen verstanden, was in „der Schrift“ begonnen und angekündigt worden war. Verschiedene Lehrentscheidungen und Abgrenzungsvorgänge in der Alten Kirche − sowohl gegenüber dem Judentum als auch innerkirchlich − führten zur Festlegung der Bibel als christlichem Kanon. Erst jetzt, d. h. zwischen 180 und 200 n. Chr. entstand das „Alte Testament“ als erster Teil der christlichen Bibel, dem das „Neue Testament“ zur Seite tritt. Dabei blieb der griechische Kanon weiterhin die verbindliche Textform des Alten Testaments. Bei der Fixierung des Alten und Neuen Testaments als christlicher Bibel wurde vor allem die Anordnung des (alttestamentlichen) Kanons festgelegt und auf das Neue Testament hin gestaltet: der Auf bau der beiden Teile ist analog: Altes Testament Geschichte: Gottes Heilstaten in der Vergangenheit
Neues Testament
Tora (Josua-Makkabäer) Evangelien Apostelgeschichte
Lehre: Lob Gottes, Ethik in der Psalmen-Psalmen Gegenwart Salomos
Briefe
Prophetie: Gottes Erlösung in Prophetenbücher der Zukunft (Jesaja-Maleachi)
Offenbarung des Johannes
Die christliche Bibel hat also eine zweiteilige Grundstruktur; die beiden Teile Altes und Neues Testament sind in sich dann noch einmal je dreiteilig. Sie schildern Gottes Handeln in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Fachbegriff für diese theologische Denkfigur lautet Heilsgeschichte.
die Schrift der frühen Christen
Heilsgeschichte
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Das Alte Testament als Heilige Schrift
Ist der Begriff „Altes Testament“ angemessen?Trotz dieser gleichberechtigten Zuordnung des Alten und Neuen Testaments in der frühen Kirche hat das Christentum vielfach versucht, die alttestamentliche (Vor-)Geschichte seines Glaubens abzustoßen und für wertlos zu erklären. Dieser christlich-kirchliche Antijudaismus hat sich häufig mit dem gesellschaftlichen Phänomen des Antisemitismus verbunden und zu konkreten Versuchen geführt, das Judentum und seine Anhänger zu vernichten. Theologen und Theologinnen, die für diesen Zusammenhang sensibel sind, schlagen daher vor, statt „Altes“ und „Neues“ Testament besser „Erstes“ und „Zweites“ Testament zu sagen. Tatsächlich betont diese Sprachregelung den unaufgebbaren Zusammenhang zwischen den beiden Bibelteilen. Außerdem wird das Missverständnis vermieden, das Alte Testament sei durch das Neue überholt, also gewissermaßen veraltet. Gleichwohl kann man diesen Vorschlag auch kritisch sehen. Die Begriffe „Altes“ und „Neues“ Testament sind innerhalb und außerhalb der Kirchen gut bekannt; neue Bezeichnungen müssen umständlich begründet werden. Außerdem haben die Bezeichnungen „Alter Bund“ und „Neuer Bund“ selbst eine biblische Verankerung – „Erster“ und „Zweiter“ haben das nicht. Drittens schließlich besagt die Zuordnung „alt“/„neu“ bei aller Problematik, dass die Offenbarung abgeschlossen ist: Nach dem Neuen Testament kann kein „Neuestes“ mehr kommen. Bei der Rede vom „Ersten“ Testament ist zwar der zeitliche Vorrang des Alten Testaments begrifflich betont, es kann aber der Eindruck entstehen, nach dem „Zweiten“ könnte noch ein „Drittes“ oder „Viertes“ Testament kommen. Eine weitere Offenbarung hat die Kirche aber ausgeschlossen. Es gibt also gute Gründe, bei der Sprachregelung Altes und Neues Testament zu bleiben.
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Schildern Sie den strukturellen Grundauf bau der christlichen Bibel! 2. Erläutern Sie den Unterschied im Auf bau des hebräischen Kanons und des christlichen Alten Testaments!
3. Formulieren Sie mit Ihren eigenen Worten, was man unter „Heilsgeschichte“ versteht!
4. Erläutern Sie, warum der Begriff „Altes Testament“ manchen Exegeten und Exegetinnen problematisch erscheint!
1.3.4 drei Gestalten des Alten Testaments
Das Alte Testament in den christlichen Kirchen Die christlichen Kirchen haben sich immer wieder mit dem Problem auseinandergesetzt, inwiefern jene Schriften, die im grie-
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Wie viele Bibeln hat die Kirche?
chischen Kanon, aber nicht im hebräischen Kanon enthalten sind, als heilige Schriften gelten. Es wurde dabei keine für alle christlichen Kirchen geltende Lösung gefunden. So haben die christlichen Kirchen heute unterschiedliche Gestalten des Alten Testaments. Der alttestamentliche Kanon in den christlichen KirchenIn den orthodoxen Kirchen gilt bis heute der griechische Kanon als Altes Testament, obwohl es hierzu keine formelle Entscheidung gibt. Die einzelnen orthodoxen Gemeinschaften unterscheiden sich geringfügig in der Anerkennung einzelner Bücher. Die römisch-katholische Kirche hat endgültig durch die Beschlüsse des Konzils von Trient (1545–1563) die lateinische Übersetzung der hebräischen und griechischen Schriften (nach der „Vulgata“ genannten Übersetzung, die auf den Kirchenvater Hieronymus zurückgeht) als heilige Schrift anerkannt. Dabei hat das Alte Testament im Bücherbestand einen reduzierten griechischen Kanon: als nicht kanonisch wurden ausgeschlossen das 3. und 4. Makkabäerbuch, Oden und Psalmen Salomos, der Brief Jeremias und das Buch Bel und der Drache. Die protestantischen Kirchen erkennen nur die Bücher des hebräischen Kanons als Schriften des Alten Testaments an. Martin Luther ist allerdings bei seiner Entscheidung für diese Gestalt des Alten Testaments, in der ihm die anderen Reformatoren gefolgt sind, nicht völlig konsequent verfahren. Der alttestamentliche Kanon der reformatorischen Kirchen folgt im Umfang zwar dem hebräischen Kanon. Das heißt, es fehlen die Bücher Tobit, Judith, das 1. und das 2. Makkabäerbuch, die Weisheit Salomos, Sirach und Baruch. Im Aufbau folgen sie aber dem griechischen Kanon. Luther hat also den heilsgeschichtlich orientierten Aufbau der gesamten Bibel beibehalten, den Umfang aber auf die Schriften des hebräischen Kanons begrenzt.
Zugespitzt muss man daher sagen, dass die christlichen Kirchen unterschiedliche Formen des Alten Testaments verwenden. Da es allerdings nur um eine kleine Anzahl Schriften geht, denen für die christliche Theologie keine zentrale Bedeutung zukommt, fällt dieser Unterschied in der Theologie und in der Ökumene nicht ins Gewicht. Trotzdem haben diese Unterschiede Konsequenzen in den handelsüblichen Bibelausgaben. Aus diesem Grund sollten Sie sich der verschiedenen Formen und ihrer historischen Gründe bewusst sein, damit Sie sich in der Bibel zurechtfinden. Bereits Martin Luther hat bei seiner Bibelübersetzung die sieben zusätzlichen Bücher des katholischen Kanons in einen Anhang hinter das Alte Testament gestellt und mit folgender Überschrift versehen:
Apokryphen
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Das Alte Testament als Heilige Schrift
„Apocrypha. Das sind die Bücher, so der heiligen Schrift nicht gleich gehalten und doch nützlich und gut zu lesen sind.“
In handelsüblichen Bibelübersetzungen, die auf dem protestantischen Kanon des Alten Testaments fußen, wird ebenso verfahren: Sie finden dort einen Teil „Apokryphen“ bzw. „Spätschriften des Alten Testaments“. Da jedoch der Kanon sich in den Kirchen unterscheidet, gibt es auch Unterschiede im Verständnis des Begriffs „Apokryphen“. Apokryphen, Pseudepigraphen, deuterokanonische BücherDas Wort „apokryph“ kommt vom griechischen Verb „apokry´ptein“ („verbergen“). Der Begriff leitet sich von einem alten Brauch her: Religiöse Gegenstände (Bilder, Altäre, Bücher), die man nicht mehr benutzte, wurden sorgfältig versteckt, damit sie nicht unsachgemäß behandelt werden konnten. Apokryphe Bücher enthalten daher keine geheimen Offenbarungen für Auserwählte und sind auch keine verbotenen Bücher, sondern sind schlicht nicht (mehr) in Gebrauch. Da der alttestamentliche Kanon unterschiedlich abgegrenzt wird, werden auch die Apokryphen unterschiedlich erfasst: Die evangelische Theologie nennt jene Bücher „apokryph“, die nicht im hebräischen Kanon enthalten sind. In der katholischen Theologie werden sie als „deuterokanonische Bücher“ bezeichnet. Das Wort leitet sich vom griechischen Begriff „deuterón kanõn“ her, der „zweiter Kanon“ bedeutet. Gemeint sind die Bücher des griechischen (= zweiten) Kanons im Unterschied zum hebräischen (= ersten) Kanon. Als „Pseudepigraphen“ (= griech. „falscher Verfasser“) bezeichnet man die Bücher, die sich als Schriften bereits bekannter biblischer Autoren ausgeben, obwohl sie von jemand anderem verfasst worden sind. Es handelt sich um jene, teils griechischen, teils hebräischen Bücher, die bis in die christliche Zeit hinein sehr populär waren, aber in keiner Kanonsform Aufnahme fanden. Die katholische Theologie bezeichnet diese Bücher häufiger jedoch als Apokryphen. Evangelisch
Schrift
Katholisch
APOKRYPHEN
Tobit
DEUTEROKANONISCHE BÜCHER
Judith 1.–2. Makkabäer (3.–4. Makkabäer) (Oden) (Psalmen Salomos) Weisheit Salomos Sirach
Wie viele Bibeln hat die Kirche?
Evangelisch
Schrift
Katholisch
Baruch (Brief Jeremias) (Susanna) (Bel und der Drache) Maßstab: nicht im hebräischen Text enthalten PSEUDEPIGRAPHISCHE BÜCHER
Ps 151
APOKRYPHEN
Gebet Manasses 3.–4. Esra 5.–6. Esra Martyrium Jesajas Jubiläen Joseph und Aseneth Leben Adams und Evas Testamente der zwölf Patriarchen Testament Abrahams Testament Isaaks Baruchapokalypse Himmelfahrt des Mose Apokalypse Elias Henoch Sibyllinen
Maßstab: nicht im Kanon „falsche Verfasserschaft“
Maßstab: nicht im Kanon
Leider hat sich bislang kein einheitlicher Begriff für diesen Teil biblischer und nachbiblischer Literatur finden lassen, weil die Wahrnehmung, was kanonisch und was apokryph ist, letztlich vom konfessionellen Standpunkt abhängt.
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18
Das Alte Testament als Heilige Schrift
1.4 1.4.1
Bibelübersetzungen: Welche Bibel für wen? Bibelübersetzungen und Kanon: Ein geschichtlicher Überblick S. P. Brock u. a., Art. Bibelübersetzungen, in: G. Krause/G. Müller (Hg.), TRE, Bd. 6, Berlin 1980, 160–311.
„Heilige Übersetzung“
Im vorigen Abschnitt haben Sie gesehen, dass die Geschichte des Kanons und die Geschichte der (Bibel-)Übersetzung miteinander zusammenhängen: Gerade beim Alten Testament haben die Übersetzungen ins Griechische, ins Lateinische und ins Deutsche auch immer von neuem die Frage nach dem Umfang und Aufbau des Kanons aufgeworfen. Dabei gilt für das Judentum: Der Tanak ist eine hebräische Schrift. Übersetzungen sind für den privaten Gebrauch erlaubt und üblich, aber im Gottesdienst wird ausschließlich der hebräische Text gelesen. Denselben Weg geht der Islam mit dem Koran. Die Qualität der Schrift als Kanon hängt also an der Sprache. Dabei hat das Judentum die hebräische Sprache als Kanonkriterium u. a. auch deswegen eingeführt, um sich vom Christentum abzugrenzen, das den griechischen Kanon zugrundelegt, und umgekehrt: Das Christentum hat in Abgrenzung gegenüber dem Judentum den griechischen Kanon verwendet. Im Unterschied zum Judentum und zum Islam gibt es demzufolge in den christlichen Kirchen die heilige Schrift als „heilige Übersetzung“. Je nach den sprachlichen Voraussetzungen des Zeit- und Kulturraums wurde die christliche Bibel immer wieder neu übersetzt.
BibelübersetzungenDiese Übersetzungstätigkeit setzte schon sehr früh in christlicher Zeit ein: Bereits im 1. Jh. n. Chr. finden sich Bibelübersetzungen aus dem Griechischen ins Koptische (die Sprache der ägyptischen Christen) und ins Äthiopische. Im Bereich der orthodoxen Kirchen herrscht seit der Antike eine große Übersetzungsvielfalt. Bei weitgehender Orientierung am griechischen Kanon im Umfang und Aufbau gibt es neben der griechischen Bibel auch Bibeln in Syrisch, Aramäisch, Armenisch, Alt-Slawisch usw. In Westeuropa setzte sich im 5. Jh. die lateinische Bibelübersetzung („Vulgata“) durch. Andere Übersetzungen spielten bis zur Reformationszeit keine große Rolle.
Die Bibelübersetzungen wurden immer auch deswegen vorgenommen, um den Bezug christlichen Glaubens und Denkens auf die Bibel überhaupt erst möglich zu machen. Ohne die Bibel
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Bibelübersetzungen: Welche Bibel für wen?
(sprachlich) zu verstehen, kann es kein christliches Reden über Gott geben. Dieser Impuls trieb die Reformatoren Martin Luther (1483−1546) und Ulrich Zwingli (1484−1531) an, jeder für sich eine Übersetzung der Bibel ins Deutsche anzufertigen. Ihr Ausgangspunkt lautete, dass die Kirche im Grunde den Sprachwandel vom Lateinischen zu den Volkssprachen verpasst hätte. Dadurch wurde nach ihrer Ansicht den Christinnen und Christen der Zugang zum Wort Gottes unmöglich. Das Resultat dieser theologischen Kritik waren die Zürcher Bibel (1531) und die erste Fassung der Lutherbibel (1534). Sämtliche protestantischen Kirchen haben sich dieser Entscheidung angeschlossen und lesen seit der Reformationszeit die Bibel in ihrer jeweiligen Muttersprache. In Reaktion auf die Reformation hielt die katholische Kirche fest, dass eine Einheit im Glauben nur durch einheitlichen Bezug auf denselben biblischen Text zu gewinnen sei. Das Konzil von Trient (1545−1563) beschloss daher, dass der Text der lateinischen Bibel als verbindlicher Bibeltext zu gelten habe. Im Zweiten Vatikanischen Konzil (1965) wurde die Übersetzung der Bibel in weitere Sprachen auch von der katholischen Kirche theologisch für rechtmäßig erklärt.
Luther und Zwingli
Konzil von Trient
1.4.2
Deutsche Bibelübersetzungen Einen guten, informativen und aktuellen Überblick über die Deutschen Bibelübersetzungen erhalten Sie bei: H. Haug/R. Schäfer, Deutsche Bibelübersetzungen, Stuttgart 2008.
Für Gottesdienst und kirchlichen Unterricht hat jede christliche Konfession in Deutschland und im deutschsprachigen Raum ihre eigene Bibelübersetzung. Bibelübersetzungen in den deutschsprachigen KirchenIm Bereich der lutherischen Landeskirchen Deutschlands und in Österreich wird die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers verwendet. Sie ist seit 1546 mehrfach sprachlich überarbeitet (= revidiert) worden. Die derzeit gültige Ausgabe ist der revidierte Text von 1984. In den reformierten Kirchen Deutschlands und in der Schweiz ist die auf Ulrich Zwingli zurückgehende Zürcher Bibel in Gebrauch. Auch sie wird regelmäßig revidiert, die letzte Ausgabe datiert von 2007. Die unierten Kirchen verwenden je nach regionalen oder gemeindlichen Beschlüssen die Luther- oder die Zürcher Bibel, dasselbe gilt für die Freikirchen. Die verbindliche Bibelübersetzung für alle katholischen Gemeinden des deutschsprachigen Raums ist die Einheitsübersetzung von 1980. Sie befindet sich derzeit im Revisionsprozess.
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Das Alte Testament als Heilige Schrift
verbindliche Bibelausgaben
Da die konfessionelle Prägung des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen durch Staatskirchenverträge gesetzlich festgelegt ist, richtet sich die Verwendung der evangelischen Bibelübersetzung in den einzelnen Bundesländern in der Regel nach der Praxis der dortigen Landeskirche. Sie wird in den einzelnen Lehrplänen meist mehr oder weniger verbindlich vorgeschrieben. Die Verwendung von Bibelübersetzungen in Schulbüchern richtet sich in der Regel nach der konfessionellen Zuordnung und wird im Begleitmaterial angegeben. Als Lehrkräfte in der Schule sind Sie an die vorgeschriebene Bibelübersetzung gebunden, auch wenn Sie selbst möglicherweise einer anderen Landeskirche angehören. Es bietet sich daher an, dass Sie sich möglichst früh mit der Bibelübersetzung vertraut machen, mit der Sie später arbeiten werden. So ist es zum Teil von Ihrer Konfessionszugehörigkeit abhängig, welche Bibelübersetzung Sie hauptsächlich verwenden werden oder sollten. Diese Vorgaben des Gesetzgebers und der Kirchen haben durchaus ihre Verbindlichkeit, das bedeutet aber nicht, dass die jeweils anderen Bibeln „verboten“ sind. Außerhalb des Gottesdienstes und der kirchlichen Lehre ist die Verwendung einer Bibelübersetzung in Ihre eigene theologische Kompetenz gestellt. Im Studium und in Ihrer privaten Bibellektüre sind Sie − sofern Sie keine Vorgaben von Ihren Dozierenden bekommen − frei, sich Ihre bevorzugte Bibelübersetzung auszuwählen. Die folgenden Hinweise sollen Ihnen diese Wahl erleichtern:
Sie haben die Wahl
Merkmale der erhältlichen BibelübersetzungenFast alle derzeit auf dem Markt erhältlichen (Voll-)Bibeln sind aus den beiden Bibelsprachen übersetzt: Das Alte Testament fußt auf dem hebräischen Text, das Neue Testament auf dem griechischen. Sie können also davon ausgehen, dass Sie dem Urtext so nahekommen, wie es einer Übersetzung möglich ist. Alle Bibelübersetzungen und -ausgaben sind sprachwissenschaftlich fundiert. In keiner werden Sie absichtliche Fehlübersetzungen finden. Die meisten Varianten in Übersetzungen einzelner Wörter verdanken sich Entscheidungen der Übersetzerinnen und Übersetzer für einen bestimmten deutschen Sprachstil. Nur verhältnismäßig selten haben solche Unterschiede mit textlichen Problemen des Urtextes zu tun. Sie können also sicher sein, dass Sie eine vollständige, korrekt übersetzte und vertrauenswürdige Bibelübersetzung vor sich haben. weitere Bibelübersetzungen
Außer den drei kirchenamtlich verbindlichen Bibeln Luther-, Zürcher und Einheitsübersetzung ist eine ganze Reihe weiterer
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Bibelübersetzungen: Welche Bibel für wen?
Bibelübersetzungen erhältlich. Einige von diesen sind durch Bibelgesellschaften oder kirchliche Organisationen getragen, andere verdanken sich der Arbeit von Schriftstellern oder Theologen. Eine Sondergruppe stellen die wissenschaftlichen Übersetzungen dar, die Sie in Kommentaren zur Bibel finden. Die am meisten verbreiteten und kirchlich mit unterstützten Bibelübersetzungen sind: die „Elberfelder Bibel“ (ELB, letzte Revision 2006), die „Gute Nachricht Bibel“ (GN, letzte Revision 2000), Hoffnung für alle (HfA, letzte Revision des Neuen Testaments 2002) und die „Bibel in gerechter Sprache“ (BigS, 2006). Bibelübersetzungen, die auf die Initiative von Schriftstellern oder Theologen zurückgehen, sind: die „Menge-Bibel“ (übersetzt von Hermann Menge, letzte Revision 1940), die „Wuppertaler Studienbibel“ (übersetzt von Fritz Rienecker u. a., Neuauf lage Göttingen 2008), „Die Schrift“ (Das Alte Testament übersetzt von Martin Buber und Franz Rosenzweig, überarbeitet 1962) und das „Neue Testament in der Übersetzung von Ulrich Wilckens“ (1970). Eine Reihe von Bibelausgaben verbindet die Bibelübersetzung mit Kurzkommentaren und Erklärungen; meist liegt diesen eine kirchliche Übersetzung zugrunde. Nur die Wuppertaler Studienbibel ist eine Eigenleistung der Herausgeber. Kommentierte und erklärte Studienbibeln sind:
Bibeln mit Erklärungen
Ϝ Mit dem Text der Lutherbibel: Lutherbibel erklärt, Stuttgarter Erklärungsbibel Ϝ Mit dem Text der Zürcher Bibel: Erklärt − Der Kommentar zur Zürcher Bibel Ϝ Mit dem Text der Einheitsübersetzung: Jerusalemer Bibel, Die Bibel − Einheitsübersetzung mit Kommentar Ϝ Mit dem Text der Elberfelder Bibel: Elberfelder Studienbibel, Scofield-Bibel Die einzelnen Übersetzungen unterscheiden sich vor allem durch ihre sprachliche Orientierung, ihren Stil und ihr Sprachniveau sowie (bei der Lutherübersetzung) ihre Treue zum Stil der Erstübersetzung. Dabei sind für die Einschätzung einer Bibelübersetzung folgende Aspekte relevant: Ϝ Ihre sprachliche Orientierung: Eine Übersetzung kann sich so dicht wie möglich an die Eigenarten der Ausgangssprache anlehnen („ausgangssprachliche Übersetzung“, „wörtliche Übersetzung“) oder der Zielsprache so nahe wie möglich kommen
Unterscheidungsmerkmale
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Das Alte Testament als Heilige Schrift
(„zielsprachliche Übersetzung“, „freie Übersetzung“). Beim Übersetzen hat man meist eine gewisse Grundtendenz, in der Regel sind aber die beiden Typen bei Bibelübersetzungen gemischt. Ϝ Konkordanzprinzip: Bei Bibelübersetzungen ist es häufig relevant, ob dasselbe Wort des Ausgangstextes auch bei jedem Vorkommen in der Bibel immer gleich übersetzt wird (Konkordanz). Vor allem bei theologischen Zentralbegriffen (Sünde, Bund, Gesetz …) ist dies wichtig, aber nicht immer vollständig durchzuhalten. Die Konkordanz ist besonders gefordert, aber problematisch bei Begriffen, die sowohl im hebräischen Alten Testament wie im griechischen Neuen Testament eine große Rolle spielen (Herr, Sünde, Gesetz). Ϝ Stil und Sprachniveau: Die einzelnen biblischen Schriften unterscheiden sich nach Stil und Sprache teilweise ganz erheblich, sind aber überwiegend keine umgangssprachlichen, sondern literarische Texte. Beim Übersetzen kann jedoch eine zu enge Anpassung an Stil und Sprachniveau des Ausgangstextes die Verständlichkeit mindern. Der Stil und das Sprachniveau einer deutschen Bibelübersetzung haben daher zwei Aspekte: Ist die Übersetzung ihrer Vorlage angemessen? Ist sie allgemein verständlich für ein modernes Publikum? Auch hier gehen die gebräuchlichen Bibelübersetzungen meist einen gemischten Weg. Die folgende Tabelle, die zunächst die „offiziellen“ und dann die „inoffiziellen“ Übersetzungen in der Reihenfolge ihres Alters aufzählt, soll Ihnen eine Übersicht geben: Bibel ausgangssprachenorientiert („wörtlich“)
zielsprachenorientiert („frei“)
konkor- Sprachdant niveau
Verständlichkeit
LU
tendenziell weniger tendenziell mehr
mäßig
gehobene ++ Sprache
ZüB
tendenziell mehr
tendenziell weniger
stark
gehobene +++ Sprache
EÜ
tendenziell mehr
tendenziell weniger
mäßig
gehobene ++ Sprache
ELB
überwiegend
kaum
sehr stark
gehobene ++ Sprache
GN
kaum
sehr stark
wenig
Alltagssprache
++++
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Bibelübersetzungen: Welche Bibel für wen?
Bibel ausgangssprachenorientiert („wörtlich“)
zielsprachenorientiert („frei“)
konkor- Sprachdant niveau
Verständlichkeit
HfA
kaum
sehr stark
wenig
Alltagssprache
+++
BigS
tendenziell mehr
tendenziell weniger
mäßig
gemischt
++
Bei der Wahl Ihrer „Lieblingsbibel“ sollten Sie sich von Ihren persönlichen Vorlieben leiten lassen. Seien Sie dabei ehrlich zu sich selbst: Wenn Ihnen die Bibel bislang wenig vertraut ist, dann greifen Sie zu einer Übersetzung, die hauptsächlich auf Verständlichkeit setzt. Das gilt vor allem für das Alte Testament, das den meisten recht wenig bekannt ist. Für „Einsteiger“ empfiehlt sich daher die „Gute Nachricht“ oder „Hoffnung für alle“. Sie sollten sich aber trotzdem ebenso an die stärker ausgangssprachenorientierten Übersetzungen gewöhnen, denn die beiden zielsprachlich orientierten Übersetzungen sind an einigen Stellen sehr weit von den Eigenarten der Bibelsprachen entfernt und erleichtern die Lektüre daher manchmal zu sehr. Gehen Sie also in eine gut sortierte Buchhandlung und probieren Sie aus, was Ihnen am ehesten liegt. 1.4.3
Tipps zur Bibellektüre Wenn Sie Theologie studieren, wird die Bibel zu Ihrem Handwerkszeug. In der einen oder anderen Weise hat alles in der Theologie mit der Bibel zu tun. Je besser Sie sich darin zurecht finden, umso freier werden Sie sich in der Theologie bewegen. Ihre Lauf bahn als Theologin oder Theologe sollte daher die Bibellektüre in den Mittelpunkt rücken. Damit Sie das Bibellesen nicht als lästige „Aufgabe“ empfinden, berücksichtigen Sie Folgendes:
Hinweise zum Umgang mit der Bibel1. Niemand, der sich mit Theologie beschäftigt, hat die Bibel nur einmal gelesen und meist auch in mehr als nur einer Übersetzung. Manches erschließt sich erst bei mehrfacher Lektüre. 2. Kaufen Sie sich eine Bibel, die Sie lesen wollen und lesen werden. Dazu achten Sie nicht nur darauf, welche Übersetzung Sie sich zulegen. Nehmen Sie auch eine, die Ihnen gefällt. Bibeln gibt es in jeder Größe, mit unterschiedlichen Einbänden, Layout und Design, mit und ohne Bilder, mit und ohne Erklärungen. Lassen Sie sich auch von solchen Erwägungen leiten.
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Das Alte Testament als Heilige Schrift
3. Sie sollten sich eine Bibel kaufen, die groß genug ist, um sie bequem zu lesen, aber klein genug, um sie mühelos zu transportieren. Zu kleine Bibeln („Senfkorn-Bibeln“) haben ein winziges Schriftbild, zu große Bibeln sind schwer und unhandlich, so dass Sie sie bald im Regal stehen lassen werden. 4. Betrachten Sie Ihre Bibel als Ihr Handwerksgerät, nicht als heiligen Gegenstand. Nutzen Sie jede Möglichkeit, um sich selbst die Übersicht in diesem Buch zu erleichtern: Markieren Sie die einzelnen Bücher mit Lesezeichen oder Reitern, unterstreichen Sie, was Ihnen wichtig ist, machen Sie Notizen an den Rand, kleben Sie Post-it-Zettel hinein oder was Ihnen sonst noch so einfällt. Nur eines sollten Sie berücksichtigen: Die meisten Bibeln sind auf Dünndruckpapier gesetzt, seien Sie deswegen vorsichtig mit Textmarkern oder Filzstiften und benutzen Sie lieber Buntstifte. 5. Machen Sie sich beim Lesen frei von der Vorstellung, dass Sie jetzt ein besonders religiöses Erlebnis haben werden (oder sollen): Lesen Sie Ihre Bibel wie jedes andere Buch. Wenn Sie etwas komisch finden: Lachen Sie (und malen Sie sich einen Smiley an den Rand). Wenn Sie etwas ärgerlich finden – lassen Sie Ihrem Ärger freien Raum, aber lesen Sie weiter. Lesen Sie solche Teile wenigstens „quer“, so dass Sie hinterher ungefähr wissen, wo Sie so etwas finden. 6. Sie müssen die Bibel nicht in der gedruckten Reihenfolge lesen. Sie können beim Neuen Testament anfangen und dann das Alte lesen, mit bekannten Büchern beginnen und dann die unbekannteren nehmen (oder umgekehrt), oder wie es Ihnen beliebt. Es wäre wünschenswert, dass Sie während Ihres Studiums die ganze Bibel (mindestens) einmal durchgelesen haben. 7. Aus der religiösen Praxis kann Ihnen dieser Hinweis vielleicht helfen: Wenn Sie am 1. Januar mit Ihrer Lektüre anfangen und bis zum 29. September jeden Tag vier Kapitel lesen, ab 1. Oktober jeden Tag drei, dann sind Sie bis Silvester einmal durch. Vier Kapitel Bibel dauern maximal eine Stunde – man kann diese Übung also durchaus in den normalen Tagesrhythmus integrieren. Hörbibeln und elektronische Bibeln
Zur Unterstützung Ihrer Lektüre (oder auch als Ersatz) können Sie zur Hörbibel greifen. Die Luther-, Zürcher und Einheitsübersetzung liegen als Hörbibeln auf CD oder im mp3-Format vor. Bevor Sie sich eine Bibel kaufen, können Sie die gängigen Übersetzungen auch online lesen (www.die-bibel.de). Hier können Sie auch einzelne Kapitel auf Ihren Computer kopieren, wenn Sie Arbeitsblätter oder einen Übersetzungsvergleich gestalten wollen. Auch Computerbibeln sind im Handel erhältlich. Sie sind gute Hilfsmittel, ersetzen aber nicht den Umgang mit dem Buch. Bevor Sie also in diesem Buch weiter lesen, schlagen Sie es zu und kaufen sich eine Bibel!
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Der Umgang mit dem Alten Testament (Auslegung)
Inhalt 2.1
Vor der Auslegung: Einen Text finden und ihn zitieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2.2
Lesen und Verstehen I: Hilfsmittel zur Textarbeit. . . 31
2.3
Lesen und Verstehen II: Textbeschreibung . . . . . . . . . 33
2.4
Lesen und Erklären I: Exegese alttestamentlicher Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
2.5
Lesen und Erklären II: Methoden historischer Kritik 38
2.5.1 Textkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.5.2 Literarkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.5.3 Formgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.5.4 Überlieferungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.5.5 Traditionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.5.6 Redaktionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.5.7 Historischer Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.5.8 Ertrag der Textanalyse und der Exegese: Gesamtinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.6
Lesen und Begreifen: Weitere exegetische Methoden und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
2.6.1 Ergänzungen der historischen Exegese . . . . . . . . . . . . 48 2.6.2 Gegenentwürfe zur historisch-kritischen Methode. . 49 2.7
Lesen und Anwenden: Applikation . . . . . . . . . . . . . . . 50
2.7.1 Applikation und individuelle theologische Kompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.7.2 Applikation und berufliche theologische Kompetenz 52
2
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Der Umgang mit dem Alten Testament
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Problemanzeige In Studium und Beruf werden Sie mit der Bibel umgehen, d. h. Sie werden lernen, wie man Aussagen über Gott und den Glauben aus der Bibel ableitet und mit ihr begründet. Dazu reicht es nicht aus, die Bibel nach Inhalt und Auf bau zu kennen. Fachgerechte Bibelauslegung zielt vielmehr darauf, die Bibel als Sammlung von Einzeltexten zu verstehen und zu interpretieren. Der Fachbegriff für diesen Vorgang lautet Exegese.
Exegese und InterpretationDer Begriff kommt vom griech. Wort exégesis („Auslegung, Erläuterung“). Dabei handelt es sich um eine Art der Textinterpretation, die nach bestimmten Prinzipien und Methoden vorgeht. Zwischen der Exegese biblischer Texte und der Interpretation von anderen Texten aus Literatur oder Geschichte gibt es viele Überschneidungen; tatsächlich hat sich die Interpretation solcher Texte aus der Bibelauslegung entwickelt. Trotzdem ist es üblich, von Exegese nur dann zu sprechen, wenn religiöse oder juristische Texte ausgelegt werden. Der Grund dafür, Exegese von Interpretation zu unterscheiden, liegt weniger in den Methoden als im Ziel: In Theologie und Rechtswissenschaft sollen mit Hilfe der Texte normative (= verbindliche) Aussagen gemacht werden.
Mit Hilfe der Exegese sollen also die mehr als zweitausend Jahre alten Texte der Bibel so interpretiert werden, dass sie auch hier und heute noch Aussagen über den Glauben begründen können. Sollten die Texte aufgrund ihres Alters und/oder ihrer Aussage ihre Aktualität verloren haben (auf manche biblische Texte trifft das zu), kann und muss die Exegese auch dies begründen. Missverständnisse in der BibelauslegungIn diesem Spannungsfeld sind zwei Missverständnisse unbedingt zu vermeiden. – Der (christliche) Fundamentalismus behauptet, die ganze Bibel sei vom Heiligen Geist verfasst und daher widerspruchslos, irrtumsfrei und ewig gültig (vgl. dazu W. Joest, Art. Fundamentalismus: TRE 11 (1983), 732–739, hier 735). Fundamentalistische Exegese will die wortwörtliche Wahrheit der Bibel beweisen. Das ist deswegen ein Missverständnis, weil nirgendwo in der Bibel steht, dass alle ihre Texte unveränderliches Wort Gottes seien. Dies ist vielmehr eine kirchliche Lehre, die in voller Form erstmals im 17. Jh. ausformuliert wurde. – Umgekehrt behauptet der Positivismus, dass nur wahr sei, was objektiv bewiesen werden kann. Da sich aber zeigen ließe, dass biblische Texte sachliche Fehler enthalten, und sich darüber hinaus die Existenz Gottes nicht objektiv beweisen lässt, kann die Bibel aus dieser Perspektive keinen Wahrheitsanspruch erheben. Positivistische Auslegung – die häufig im Dienst polemischer Religionskritik steht – versucht also, Widersprüche und Fehler der biblischen Texte herauszufiltern, um ihre Unwahrheit zu beweisen. Das ist insofern ein Missverständnis, als dieser Wahrheitsbegriff nicht in der Bibel zu finden ist.
Der Umgang mit dem Alten Testament
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Biblische Exegese will überhaupt nichts beweisen, sondern mit Hilfe einer überprüfbaren Methodik biblische Texte so interpretieren, dass ein biblisch begründeter Glaube plausibel gemacht werden kann. Die sach- und fachgerechte Auslegung eines biblischen Textes besteht aus drei einzelnen Arbeitsgängen, die aufeinander aufbauen: Ϝ einer Analyse des Textes als Werk der Sprache (Analyse: Kap. 2.3) Ϝ einer Untersuchung der Entstehungsbedingungen des Textes (Exegese: Kap. 2.4; 2.5; 2.6) Ϝ einer Aneignung des Textes für den eigenen Glauben, Kirche oder Schule (Applikation: Kap. 2.7) Exegese ohne Hebräisch?Viele Studiengänge für Theologie bzw. Religion sind so angelegt, dass die Studierenden kein Hebräisch (die Sprache des Alten Testaments) lernen müssen. Wenn Sie zu diesen Studierenden gehören, lernen Sie den Umgang mit dem Alten Testament allein anhand einer deutschen Übersetzung. Das bringt einige Schwierigkeiten mit sich, derer Sie sich bewusst sein sollten. Auch die beste Übersetzung kann einen fremdsprachigen Text nicht exakt wiedergeben. Das wissen Sie selbst, wenn Sie eine Fremdsprache lesen, sprechen oder schreiben müssen. Beim biblischen Hebräisch verschärft sich das Problem dadurch, dass das Bibelhebräisch eine ausgestorbene Sprache ist, deren Gesetze sich nicht vollständig rekonstruieren lassen. Hinsichtlich Ihrer Kompetenz werden Sie dadurch nicht zu Theologinnen oder Theologen minderen Ranges. Im Bereich der christlichen Theologie gilt, dass theologisch gültige Aussagen auch aus einer Übersetzung abgeleitet werden können (→ Kap. 1.4). Trotzdem müssen Sie bei Ihren Textauslegungen immer mit einer gewissen Unschärfe rechnen. Die wissenschaftliche Bibelauslegung, auf die Sie im Studium und im Beruf zurückgreifen, basiert auf dem hebräischen Text und richtet sich häufig an ein Publikum, das Hebräisch kann. So werden Sie manche Methoden der Exegese und manche ihrer Schlussfolgerungen nicht vollständig durchführen oder nachvollziehen können; tatsächlich wird Ihnen ein Teil der wissenschaftlichen Literatur verschlossen bleiben. Exegese muss darum für Sie keine reine „Geheimwissenschaft“ sein. Wenn Sie sich gründlich mit den biblischen Texten selbst und mit den Methoden der Exegese auseinandersetzen, können Sie sehr wohl die Auslegungskompetenz erreichen, die Sie brauchen.
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Der Umgang mit dem Alten Testament
2.1
Vor der Auslegung: Einen Text finden und ihn zitieren Zunächst einmal müssen Sie Ihren Text in Ihrer Bibel finden und ihm einen korrekten Namen geben.
Die Überschriften der alttestamentlichen BücherDie einzelnen Bücher des Alten Testaments tragen ursprünglich keinen Titel. Die Buchnamen sind erst im Verlauf der Sammlung und Überlieferung hinzugesetzt worden. Sie geben manchmal den (angenommenen) Verfasser an (z. B. Josua, 1./2. Samuel), manchmal das Thema (z. B. Richter, 1./2. Könige), manchmal die Hauptfigur (z. B. Ruth, Hiob) und manchmal die Textsorte (z. B. Psalmen, 1./2. Chronik). Mit wenigen Varianten sind die Namen der Bücher in allen Bibeln gleich; beim Schreiben gibt man ihnen jeweils eine festgelegte Abkürzung: Buchname deutsch
anderer Buchname
Abkürzung
1. Buch Mose
bzw. Genesis
1. Mos
2. Buch Mose
Exodus
2. Mos
Ex
3. Buch Mose
Leviticus
3. Mos
Lev
4. Buch Mose
Numeri
4. Mos
Num
5. Buch Mose
Deuteronomium
5. Mos
Dtn
Josua
bzw. Gen
Jos
Richter
Liber Judicum
Ri
Ruth
Rut
Ru
1. Buch Samuel
Jud
1. Sam
2. Buch Samuel
2. Sam
1. Buch der Könige
Liber Regum I
1. Kön
I Reg
2. Buch der Könige
Liber Regum II
2. Kön
II Reg
1. Buch der Chronik
1. Chr
2. Buch der Chronik
2. Chr
Esra
Esr
Nehemia
Neh
Ester
Est
Judith
Jdt
Tobit
Tob
1. Buch der Makkabäer
1. Makk
2. Buch der Makkabäer
2. Makk
Vor der Auslegung: Einen Text finden und ihn zitieren
Buchname deutsch
anderer Buchname
Abkürzung
Hiob
Ijob
Hi
(Buch der) Psalmen
Psalter
Ps
Sprüche/Sprichwörter Salomos
Proverbia
Spr
Prov
Prediger Salomo
Kohelet
Pred
Koh
Das Hohelied Salomos
Canticum Canticorum
Hld
Cant
Weisheit Salomos
Sapientia Salomonis Weish
Sap
Jesus Sirach
Ecclesiasticus
Ecc
Sir
Jesaja
Jes
Jeremia
Jer
Buch der Klagelieder (Jeremias)
Threni/Lamentationes
Baruch Hesekiel
Klgl
Ij(ob)
Thr/ Lam
Bar Ezechiel
Hes
Daniel
Dan
Hosea
Ho
Joel
Jo/Jl
Amos
Am
Obadja
Ob
Jona
Jo/Jon
Micha
Mi
Nahum
Nah
Habakuk
Hab
Zephanja
Zeph
Haggai
Hag
Sacharja
Sach
Maleachi
Mal
Ez
Wenn Sie über biblische Bücher sprechen, ist es am sinnvollsten, vom „Buch X“ zu sprechen (das Buch Exodus, das Erste Buch Samuel usw.). Bei „Genesis“ hat es sich eingebürgert, einfach „die Genesis“ (Singular) zu sagen; beim Buch der Psalmen spricht man häufig von „den Psalmen“ (Plural).
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30
Kapitelzählung
Zitation
Der Umgang mit dem Alten Testament
Wenn Sie über die Bücher schreiben, verwenden Sie einfach die Abkürzung und zwar ohne Punkt (Gen, Ex, Lev usw.). Obwohl dies nur die extreme Verkürzung der Formulierung „Das Buch X“ ist, schreiben Sie bitte trotzdem „In Jos steht …“ (nicht „Im“). Ursprünglich und weit bis ins Mittelalter hinein wurden biblische Bücher einfach fortlaufend auf- und abgeschrieben, ohne Zwischenüberschriften, Absätze oder Kapitel. Da dieses Verfahren das Auffinden, Zitieren und Überprüfen der Bibelstellen aber sehr schwierig macht, wurde im Mittelalter zunächst die Kapitelzählung, dann die Verszählung eingeführt. Beide sind (bis auf winzige Ausnahmen) in allen Bibelausgaben gleich. Weil es bis heute unzählig viele Bibelübersetzungen und -ausgaben gibt, zitiert man eine Bibelstelle niemals mit der Seitenzahl, sondern nach folgendem Verfahren:
Zitation von BibelstellenBuch Kapitel Vers Mündlich: Buch (ausformuliert), Kapitel X, Vers X (Beispiel: 1. Buch Mose/Genesis, Kapitel 1, Vers 1) Schriftlich: Buch (abgekürzt), X,X (Beispiel: Gen 1,1) Wenn Sie einen Abschnitt angeben, der mehrere Verse umfasst, lautet die Angabe: Gen 1,1–17 Zitieren Sie einzelne Verse aus demselben Kapitel, trennen Sie diese durch einen Punkt: Gen 1,1.3.5.7 Mehrere Stellen hintereinander werden durch ein Semikolon abgesetzt: Gen 1,1.3; 3,17–21; Ex 15,3. Mit diesem Verfahren kann jeder unabhängig von seiner Bibelausgabe eine Textstelle auffinden. In der wissenschaftlichen Exegese gibt es außerdem noch einige weitere Kürzel: Längere Verse, die zwei Sätze oder mehr umfassen, werden in die Halbverse „a“ und „b“ aufgeteilt. Diese Einteilung steht nicht in ihren Bibeln! Ein Beispiel (nach der Einheitsübersetzung): Gen 2,4 (a) Das ist die Entstehungsgeschichte von Himmel und Erde, als sie erschaffen wurden. (b) Zur Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel machte, Es hat sich außerdem eingebürgert, „Vers“ mit „V.“, „Verse“ mit „VV.“ (oder „Vv.“) abzukürzen. Schließlich werden Sie gelegentlich eine Angabe mit einem Sternchen (Asteriskus) finden: Gen 22*. Das bedeutet, dass der hypothetisch rekonstruierte
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Lesen und Verstehen I: Hilfsmittel zur Textarbeit
Urbestand einer Texteinheit gemeint ist, den der Verfasser nicht nach Versen oder Sätzen aufschlüsselt. Für Sie ist dabei nur von Belang, dass nicht der ganze Text gemeint ist.
Einen Bibelabschnitt, der einen sachlichen und/oder formalen Zusammenhang bildet und den man zur Auslegung wählt, nennt man Perikope (griech. für „Ausschnitt“). Der Begriff kennzeichnet ursprünglich einen gottesdienstlichen Lese- oder Predigttext, er hat sich aber in der Bibelauslegung allgemein durchgesetzt. Hilfreich für die Orientierung in Ihrer Bibel sind auch Zwischenüberschriften, die Sie in vielen (aber nicht in allen!) Bibelausgaben finden. Diese sind Hilfestellungen, die von den Herausgebern der jeweiligen Bibel formuliert worden sind. Aus diesem Grund sind sie in den einzelnen Bibelausgaben unterschiedlich und werden auch nicht mit zitiert!
Perikope
Zwischenüberschriften
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Entschlüsseln Sie diese Angaben und finden Sie die jeweilige Bibelstelle: Gen 3,24; Num 6,24−26; Ps 23,1.
2. Setzen Sie diese Angaben in die korrekte Kurzform: 1. Buch Samuel, Kapitel 16, Vers 7; Sprüche Salomos (Buch der Sprichwörter), Kapitel 31,Vers 7; Exodus, Kapitel 20, Verse 1 bis 17; Jesaja, Kapitel 11, Verse 1 und 3.
3. Finden Sie die Perikope Gen 22,1−19. Wie lautet deren Überschrift in Ihrer Bibel? Schlagen Sie denselben Text in anderen Bibelübersetzungen nach! Wie lautet die Überschrift dort?
Lesen und Verstehen I: Hilfsmittel zur Textarbeit Das Alte Testament stammt aus dem Vorderen Orient und aus der Zeit der frühen Antike; die Texte sind also bis zu 3000 Jahre alt. Demzufolge beziehen sie sich auf Sachverhalte, die heutzutage nicht mehr sofort verständlich sind. Um diese zu erschließen und die Texte angemessen zu verstehen, gibt es eine ganze Reihe von Hilfsmitteln. Einen kompakten Überblick über die Geschichte des Alten Testaments, seine Literatur und Theologie bieten Einleitungen bzw. Einführungen.
2.2
einführende Werke
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Der Umgang mit dem Alten Testament
J. C. Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, Göttingen 42010 (UTB 2745). M. Rösel/M. Albani, Theologie kompakt: Altes Testament, Stuttgart 2002 (ctb 92). H.-C. Schmitt, Arbeitsbuch zum Alten Testament. Grundzüge der Geschichte Israels und der alttestamentlichen Schriften, Göttingen 22007 (UTB 2146). E. Zenger u. a. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 72008 (Kohlhammer Studienbücher Theologie 1,1). Konkordanzen
Bibellexika und Bibelatlanten
Eine Konkordanz ist ein Stichwortverzeichnis, das wichtige Worte, die in der Bibel vorkommen, mit allen ihren Belegen auflistet. Wenn Sie also wissen wollen, wo überall Abraham erwähnt wird, können Sie das in der Konkordanz nachschlagen. Konkordanzen gibt es abgestimmt auf alle herkömmlichen Bibelübersetzungen. Sie sollten sich eine Konkordanz passend zu Ihrer bevorzugten Bibel zulegen. Für Ihre Arbeit mit der Bibel ist es zweckmäßig, wenn Sie Zugriff auf ein Bibellexikon haben, das Ihnen kurze Erklärungen zu Worten, Orten und Personen bietet. In Ihrer Seminarbibliothek gibt es vermutlich einige Bibellexika, die meisten davon mehrbändig. Sie sollten aber auch zu Hause ein kompaktes Nachschlagewerk zur Hand haben. Sie können sich einerseits Ihre bevorzugte Bibel als Erklärungsbibel anschaffen; diese sind allerdings recht unhandlich. Alternativ oder als Ergänzung bietet sich daher ein kompaktes Bibellexikon an. O. Betz/B. Ego/W. Grimm (Hg.), Calwer Bibellexikon, 2 Bde., Stuttgart 2006. K. Koch u. a. (Hg.), Reclams Bibellexikon, Stuttgart 2004. F. Kogler/R. Egger-Wenzel/M. Ernst (Hg.), Herders Neues Bibellexikon, Freiburg 2008. W. Zwickel, Calwer Bibelatlas, Stuttgart 2000.
InternetquellenEin wichtiger Hinweis zu Internetquellen: Wenn Sie überwiegend am Bildschirm arbeiten, dann werden Sie vermutlich versuchen, Ihre Informationen online zu bekommen. Uneingeschränkt empfehlenswert ist bislang nur diese Adresse: WiBiLex: Das wissenschaftliche Bibelportal der Deutschen Bibelgesellschaft: www. wibilex.de.
Verwenden Sie möglichst keine anderen Internetquellen! Die Themen Religion und Bibel werden im Internet leider größtenteils von ungenauen und unseriösen Autoren behandelt, die nur sehr selten echte Spezialisten auf ihrem Gebiet sind. Auch einschlägige Artikel bei wikipedia sind häufig nicht gründlich recherchiert oder formuliert. Für wissenschaftlich sachgemäße Arbeit an der Bibel ist das Internet daher bislang kein verlässliches Instrument.
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Lesen und Verstehen II: Textbeschreibung
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Gen 22,1−19 und schlagen Sie in einem der vorgeschlagenen Bibellexika Dinge nach, die Ihnen erklärungsbedürftig erscheinen.
Lesen und Verstehen II: Textbeschreibung
2.3
S. Bar-Ephrat/T. Naumann/K. Menzel, Wie die Bibel erzählt. Alttestamentliche Texte als literarische Kunstwerke verstehen, Gütersloh 2006. K. Seybold, Poetik der erzählenden Literatur im Alten Testament, Stuttgart 2007. H. Utzschneider/S. A. Nitsche, Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, Gütersloh 2001.
Der nächste Schritt zum Verstehen alttestamentlicher Texte besteht im Erfassen dessen, was geschildert wird (Inhalt, Thema, Gehalt) und wie das geschieht (Form, Gestalt). Die entsprechenden Verfahren kennen Sie vermutlich aus dem Schulunterricht; tatsächlich unterscheidet sich die Interpretation biblischer Texte an dieser Stelle nicht wesentlich von anderen Interpretationsmethoden. Trotzdem sind einige Eigenarten biblischer Texte zu berücksichtigen. Die nachfolgende Darstellung konzentriert sich auf erzählende Texte. Zur Erinnerung: Biblische Texte haben eigentlich keine Überschriften! Die Überschrift, die Sie in Ihren Bibelausgaben finden, ist von den Herausgebern eingefügt. Sie sollten diese daher nicht als unhinterfragbare Vorgabe des Themas verstehen, sondern versuchen, das Thema des Textes aus diesem selbst abzuleiten. Dazu ist eine genaue Beobachtung der Textgestaltung vonnöten. Das biblische Hebräisch hat für Ereignisse in der Vergangenheit, die sich nacheinander abspielen, eine eigene grammatische Form, den sog. „Narrativ“. In ihm werden die Handlungen durch „und dann … und dann“ aneinandergereiht. Was im Deutschen kein guter Erzählstil wäre, ist im Bibelhebräischen gerade das Gegenteil. Die deutschen Bibelübersetzungen gehen mit diesem Narrativ unterschiedlich um; manche vermeiden ihn, andere ahmen ihn nach.
Analyse biblischer Texte
keine Überschriften
Erzähltempus
Ein BeispielGen 22,9 lautet in der Übersetzung der Zürcher Bibel: „9 Und sie kamen an die Stätte, die Gott ihm genannt hatte, und Abraham baute dort den Altar und schichtete das Holz auf.“
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Der Umgang mit dem Alten Testament
Hier wird der Narrativ beibehalten, im Deutschen könnte das „und“ fehlen“. Die Einheitsübersetzung vermeidet die ständige „und“-Verknüpfung: „9 Als sie an den Ort kamen, den ihm Gott genannt hatte, baute Abraham den Altar, schichtete das Holz auf …“
Wortwiederholungen
Wenn Sie also in Ihrem Bibeltext auf ständige „und“-Sätze treffen, sollten Sie dies als typisch alttestamentlichen Erzählstil erkennen. Typisch für biblische Erzählungen ist auch, dass die meisten Handlungsverben wie „gehen“, „sprechen“, „sehen“, „hören“, „nehmen“, „geben“ u. a. nicht durch Synonyme variiert, sondern in derselben Form wiederholt werden. Die Übersetzungen haben diese Eigenart überwiegend erhalten. Dadurch wirken biblische Erzählungen häufig etwas monoton.
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Gen 22,1−19 und achten Sie auf folgende Verben: sprechen, gehen, sehen, nehmen. Wo würden Sie andere Verben verwenden, um den Text (nach deutschen Maßstäben) abwechslungsreicher zu gestalten? Leitwortstil
In den meisten alttestamentlichen Texten docken an manche wiederholte Verben noch Substantive, Namen oder Adjektive an, die vom gleichen Wortfeld gebildet werden. Aus solchen Wiederholungen ergibt sich ein charakteristischer Leitwortstil: Aus einem (oder mehreren) wiederholten Worten lässt sich ein (Teil-) Thema des Textes ableiten. Nicht in jeder Bibelübersetzung lässt sich das nachvollziehen, die meisten versuchen aber, diese Eigenart sichtbar zu machen
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Gen 22,1−19 hat ein solches Leitwort, nämlich „sehen“. Auch der Ortsname „Morija“ (V. 2) hängt mit „sehen“ zusammen. Finden Sie die Vorkommen von Formen des Wortes „sehen“ (auch bei Nomina und Adjektiven) heraus und versuchen Sie zu begründen, warum „sehen“ ein Leitwort der Perikope ist.
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Lesen und Verstehen II: Textbeschreibung
Im Alten Testament findet sich meistens die Perspektive des „neutralen Erzählers“. Es kommen nur wenige Beschreibungen, Kommentare oder Erklärungen vor. Vor allem erfahren wir nur selten etwas über Charaktereigenschaften oder Gefühle der Figuren. Solche Aspekte der Handlung werden im Alten Testament (überwiegend) in Fom der direkten Rede geschildert. Der Sinn dieser Erzählweise besteht darin, die Leserinnen und Leser möglichst intensiv in die Erzählung einzubeziehen.
Erzählperspektive
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Markieren Sie in Gen 22,1−19 alle Vorkommen direkter Rede. 2. An welchen Stellen wird durch den Erzähler von den Plänen oder Gefühlen der Figur erzählt, an welchen nicht?
3. Welche Gefühle oder Gedanken werden in den wörtlichen Reden ausgedrückt? Nach diesen Hinweisen sind Sie in der Lage, selbständig einen erzählenden Text aus dem Alten Testament zu beschreiben. Erzählungen finden Sie in den Büchern Genesis bis Makkabäer, Hiob und Jona. Zum Verständnis der Prophetischen Bücher, Psalmen und anderer Dichtungen sind zusätzliche Kenntnisse über alttestamentliche Literaturgattungen nötig. (→ Kap. 4.1; 5) Bei der Textbeschreibung (literarische Analyse) bestimmen Sie die handelnden Personen (Haupt- und Nebenfiguren), den zeitlichen und räumlichen Aspekt der Handlung (Szenenfolge), den Spannungsbogen und den Handlungsverlauf. Sie können auf diesem Weg nachvollziehen, wie und was der Text schildert, also den Text als Text „verstehen“. Eine Interpretation ist das nur insofern, als Sie aus der Textbeschreibung ableiten, worum es in dem Text geht. Für eine vollständige Interpretation bedarf es zusätzlicher exegetischer Schritte.
Beschreiben erzählender Texte
Aufgaben/Arbeitsanweisungen Analysieren Sie Gen 22,1−19:
1. Gliedern Sie den Text in Einzelszenen und geben Sie kurz den Inhalt jeder Szene wieder.
2. Bestimmen Sie die Figuren und ihre Beziehung zueinander. 3. Beschreiben Sie die Erzählperspektive und die sprachliche Gestaltung der Perikope.
36
Der Umgang mit dem Alten Testament
4. Zeichnen Sie den Spannungsbogen nach und zeigen Sie, wo die Erzählung besonders dramatisch wird.
5. Was ist das Thema der Perikope?
2.4
Lesen und Erklären I: Exegese alttestamentlicher Texte U. Becker, Exegese des Alten Testaments. Ein Methoden- und Arbeitsbuch, Tübingen 22008 (UTB 2664). H. J. Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 41988. S. Kreuzer/D. Vieweger u. a., Proseminar I. Altes Testament. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 22005.
Historisch-kritische ExegeseZu einer sachgemäßen Textauslegung gehört die Frage nach den Entstehungsbedingungen eines Textes, also nach Abfassungsort, -zeit und -zweck, dem Verfasser u. Ä. Um diese Fragen zu beantworten, hat die Bibelwissenschaft ihre eigene Methode entwickelt, die sog. historisch-kritische Exegese (auch: historisch-kritische Methode, historische Kritik). Der Begriff weist bereits auf das Ziel dieser Methode hin: Sie will den geschichtlichen Hintergrund der biblischen Texte erfassen (darum „historisch“), und sie will den Text und seine Aussage(n) von späterer Auslegung unterscheiden (griech. krínein, „unterscheiden“, davon „Kritik, kritisch“). Es geht also nicht um Kritik im Sinne einer Bewertung der Texte! Einzelne Methoden der historischen Kritik sind bereits in der Antike und im Mittelalter angewandt worden. Als Ganze wurde sie aber erst im 17./18. Jh. entwickelt, zur Zeit der Aufklärung. Gegen die kirchliche Lehre von der Verbalinspiration (= die Bibel ist vom heiligen Geist verfasst) wollten die Entwickler und Anhänger der historischen Kritik vernunftgemäß begründen, welchen historischen Sinn die biblischen Texte einmal hatten.
Fortschreibungen
Historisch-kritische Exegese hat das Ziel, den Text in seiner Ursprungssituation zu erfassen und seinen Werdegang nachzuzeichnen. Biblische Texte wurden häufig nicht von einem einzigen Autor an einem Stück verfasst, sondern sind erst durch einen langen Prozess der Überlieferung und Bearbeitung gewachsen. Man nennt dieses Phänomen „Fortschreibung“: Ein gegebener Text wird in neuer Situation von späteren Generationen (neu) interpretiert, indem sie ihre Interpretationen in den Text eintragen und ihn so schrittweise mit weiteren Aussagen anreichern. Dieser Vorgang der Überlieferung durch Fortschreibung ist weniger an dem inte-
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Lesen und Erklären I: Exegese alttestamentlicher Texte
ressiert, was ein Verfasser einmal gesagt hat, als daran, was der Text selbst sagt und wie er sich aktualisieren lässt. Im Raum biblischer Texte lässt sich Textentstehung etwa nach folgendem Modell begreifen: Abb. 2.4.1 Modell der Entstehung biblischer Texte
Historisch-kritische Exegese schreitet diesen Entstehungsprozess in einer Kreisbewegung ab: Mit Hilfe sprachlicher, stilistischer und historischer Einzelmethoden fragt sie von der Endfassung des Textes zurück bis zur ersten Fassung (Analyse), um von dort aus die Geschichte der Textentstehung zu rekonstruieren (Synthese):
der Prozess der Exegese
Abb. 2.4.2 analytische und synthetische Schritte der historisch-kritischen Exegese
Dabei lässt sich seit einiger Zeit in der Exegese ein Perspektivenwechsel beobachten: In der klassischen Phase der historischen Kritik (ca. 1880−1980) lag der Schwerpunkt der Methode auf der Analyse. Die Exegese konzentrierte sich auf den ersten, „ur-
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Der Umgang mit dem Alten Testament
sprünglichen“ Text und vernachlässigte Fortschreibungen und Bearbeitungen. Seit ca. 1980 nimmt die Exegese verstärkt diese Fortschreibungsprozesse in den Blick und widmet sich mehr der (synthetischen) Rekonstruktion der Textentstehung. Von den alttestamentlichen Texten sind nur wenige alte Handschriften erhalten. Die ältesten stammen aus dem 2. Jh. v. Chr., wahrscheinlich sind die Texte aber viel älter. Für die Geschichte der Texte vor diesen Handschriften fehlt uns der materielle Nachweis. Mithin arbeitet die historische Kritik auf weite Strecken mit Hypothesen und Theorien. Trotzdem handelt es sich nicht um unbegründete Spekulationen. Die historische Kritik setzt bei inhaltlichen, formalen und sprachlichen Beobachtungen an den Texten an, die sich durch das Fortschreibungsmodell plausibel erklären lassen.
Hypothesen zur Textentstehung
2.5
Lesen und Erklären II: Methoden historischer Kritik Wie bereits erwähnt, analysiert historisch-kritische Exegese die hebräischen Texte. Wenn Sie kein Hebräisch verstehen, können Sie die Einzelmethoden nur bedingt selbständig anwenden. Soweit die Inhalte betroffen sind, wird Ihnen zumindest das Nachvollziehen der Analysen möglich sein; sprachliche oder stilistische Beobachtungen werden Sie eher aus zweiter Hand wahrnehmen müssen. Aus diesem Grund werden die einzelnen Methoden im folgenden nur überblicksweise dargestellt. Die Einzelschritte der historischen Kritik sind die folgenden:
2.5.1 Auffinden des ältesten Wortlauts
Textkritik Keine der Schriften des Alten Testaments ist im Original erhalten. Vielmehr wurden diese Texte über Jahrhunderte hinweg durch immer neue Abschriften in der Originalsprache sowie durch Übersetzungen in andere Sprachen weiter überliefert und verbreitet. Zahllose Handschriften und Handschriftenfragmente in Bibliotheken und Museen sind Zeugen dieses Prozesses. Handschriftliche Überlieferung vollzieht sich aber niemals fehlerfrei. Durch unbeabsichtigtes Verschreiben, gelegentlich auch durch absichtliches Ändern kann der Wortlaut des Textes verändert werden. Textkritik versucht, durch Handschriftenvergleiche den vermutlich ältesten Wortlaut des Textes (früher auch als „Urtext“ bezeichnet) zu rekonstruieren. Dieser Wortlaut ist dann die Basis der nachfolgenden Analysen.
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Lesen und Erklären II: Methoden historischer Kritik
2.5.2
Literarkritik Im Anschluss an die Textkritik und literarische Analyse fragt die Literarkritik nach der Einheitlichkeit des vorliegenden Textes. Sie will klären, ob die Perikope in einem Zug entstanden ist, ob sie überarbeitet wurde oder in mehreren Stufen (auch: „Schichten“) angewachsen ist.
Bestimmung der Einheitlichkeit des Textes
Das Verfahren der LiterarkritikDie Literarkritik ist bis heute ein Schwerpunkt historisch-kritischer Exegese. Aus diesem Grund soll das Verfahren hier etwas ausführlicher dargestellt werden. Als Anzeichen literarischer Uneinheitlichkeit und damit als Hinweise auf ein mögliches Textwachstum gelten: – logische Spannungen, Unstimmigkeiten und Widersprüche im Text – unnötige inhaltliche Dopplungen und Wiederholungen (von der Wortwiederholung als Stilmittel unterschieden!) – sprachlich-stilistische Differenzen – offensichtliche Unterschiede in Argumentationsweise und/oder Vorstellungswelt Das Verfahren der Literarkritik besteht nun darin, solche im Text identifizierten Inkohärenzen auszusondern und – wie bei einem Puzzle – auszuprobieren, welche Textelemente zu einer literarisch einheitlichen Grunderzählung gehören können und zusammen einen nachweislich glatteren Textzusammenhang bilden. Als Gegenprobe muss dann in jedem Fall erklärt werden können, wie der jetzige Text entstanden sein kann. Klassische Erklärungsmodelle für ein solches Textwachstum sind: – Einfügung einer kurzen erklärenden Randbemerkung eines späteren Lesers (Glosse) – Zusammenstellung ursprünglich einzeln umlaufender Erzählfragmente zu einem zusammenhängenden Text – Ergänzung eines Textes durch einen oder mehrere spätere Autoren – Zusammenfügung verschiedener Werke unterschiedlicher Autoren. Beispiel: In Gen 22,1–19 liegt ein doppeltes Auftreten eines Engels vor (Vv. 11–12; Vv. 15–18). Die zweite Engelszene unterscheidet sich von der ersten: Die erste ist fest mit dem Spannungsbogen des Textes verbunden und bringt die vollständige Lösung des erzählten Problems. Abraham sollte von Gott geprüft werden und hat die Prüfung bestanden. Die zweite Engelsszene folgt, nachdem die Erzählung eigentlich schon abgeschlossen ist und stellt die Prüfung Abrahams in einen weiteren Kontext der Zukunft Abrahams. Stilistisch unterscheidet sich die zweite Engelsszene deutlich von der ersten. Die (allgemein akzeptierte) Schlussfolgerung ist, dass es sich bei Gen 22,15–18 um eine spätere Ergänzung der Geschichte von der Prüfung Abrahams handelt.
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Der Umgang mit dem Alten Testament
Grundregeln der literarkritischen Methode
Problematischerweise sind die Kriterien zum Nachweis eines Textwachstums keine „harten Daten“ im naturwissenschaftlichen Sinne, so dass in vielen Fällen das Wachstum alttestamentlicher Texte recht unterschiedlich bewertet wird. Hier gelten zwei Faustregeln: Ϝ Ein Textwachstum sollte immer erst dann angenommen werden, wenn alle anderen Erklärungsmuster scheitern. Ϝ Literarkritik darf niemals bei der Aussonderung von Textstufen stehen bleiben, sondern muss das Zustandekommen des vorliegenden Textes befriedigend erklären.
2.5.3
Formgeschichte Literatur ist „geformte Sprache“. Sie hängt nicht nur von der Kreativität eines Verfassers ab, sondern greift auch auf Redewendungen oder Formulierungs- und Erzählgesetze zurück, die in ihrer Gesellschaft verankert sind: Ein heutiges Gerichtsurteil z. B. beginnt mit „Im Namen des Volkes“, wird nicht in Reimen formuliert und hat seinen Platz in der Rechtsprechung. Formgeschichte versucht, anhand formaler Merkmale, geprägter Wendungen und inhaltlicher Merkmale herauszufinden, ob der (literarkritisch ermittelte) Grundbestand des Textes eine bestimmte Herkunftssituation („Sitz im Leben“) erkennen lässt. So kann man ggf. auch auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen schließen, von denen der Text stammt. Methodisch geht Formgeschichte dabei so vor, dass sie den zu untersuchenden Text mit anderen Texten aus dem Alten Testament und/oder aus den Nachbarkulturen vergleicht.
Suche nach einer Herkunftssituation
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie: K. Koenen, Art. Erzählende Gattungen (AT) 2, in: www.wibilex.de und überlegen Sie, ob sich die Perikope Gen 22,1−14 (15−19) einer der dort genannten Gattungen zuordnen lässt. Falls Sie zu keinem Ergebnis kommen, könnte das an der Komplexität des Textes liegen.
2.5.4 Geschichte des Stoffs
Überlieferungsgeschichte Die Überlieferungsgeschichte hat die Analyse der mündlichen Überlieferungen von ihrer Entstehung bis zu ihrer (Erst-)Verschriftung zum Ziel. Liegt hinter dem Text (z. B. bei Sagen, Märchen, Liedern,
41
Lesen und Erklären II: Methoden historischer Kritik
Gesetzen) eine Geschichte mündlicher Formulierung und Weitergabe? Dazu untersucht die Überlieferungsgeschichte, ob die Perikope in ähnlicher Fassung noch an anderer Stelle im Alten Testament auftaucht, ohne dass sich eine Abhängigkeit vermuten lässt, oder ob man anhand der formgeschichtlichen Analyse eine mündliche Überlieferung annehmen muss. Es liegt auf der Hand, dass die Rückfrage „hinter“ den Text allenfalls zu hypothetischen Ergebnissen führen kann. Trotzdem hat die Annahme mündlicher Überlieferungsvorgänge vor und neben der Literaturproduktion ihr gutes Recht: In der Gesellschaft des alttestamentlichen Israel waren das Lesen und Schreiben wenig verbreitet. So sind Erinnerungen, Regeln und Normen sehr wahrscheinlich mündlich weitergegeben worden. Die Rekonstruktion dieser Vorgänge bleibt jedoch äußerst schwierig. Die Leistungsfähigkeit der überlieferungsgeschichtlichen Fragestellung wird aus diesem Grund in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen und vergleichen Sie die beiden Darstellungen bei: U. Becker, Exegese, 65−76 und S. Kreuzer, Proseminar, 79−86.
Mit der Überlieferungsgeschichte ist der analytische Arbeitsgang abgeschlossen: Die Untersuchung des Textes hat jüngere von älteren Textstufen getrennt und (im Idealfall) verlässlich die älteste Textstufe rekonstruieren können. Nach diesem Arbeitsschritt kommt es nun darauf an, die ermittelten Textteile wieder plausibel zusammenzufügen. Dies geschieht in folgenden Arbeitsgängen: Traditionsgeschichte
Abschluss des analytischen Arbeitsganges
2.5.5
A. Berlejung/C. Frevel (Hg.), Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006.
Bei der Traditionsgeschichte geht es ausschließlich um Inhalte, die den Text prägen. Es gilt, dass jeder Text eine geistige, kulturelle und religiöse Welt widerspiegelt, die seine Verfasser und Hörer miteinander teilen. Auf diese Welt wird im Text mehr oder weniger deutlich angespielt. Das Protokoll einer Bundestagsdebatte
prägende Inhalte
42
Der Umgang mit dem Alten Testament
z. B. verweist sowohl in den Begriffen als auch in bestimmten Redewendungen auf die Vorstellung der parlamentarischen Demokratie. Traditionsgeschichte befragt die Worte und Inhalte des Textes darauf hin, welche Weltbilder und religiösen Überzeugungen, Bildungsinhalte, Sprachkonventionen und Denkstrukturen in ihnen zum Ausdruck kommen und ob sich in den Textstufen eine geistesgeschichtliche Entwicklung erkennen lässt. Beispiel und HinweiseIn Gen 22,1–19 ist das Brandopfer eine Tradition im hier geschilderten Sinne: Der Text ist von dem Wissen darum geprägt, was ein Brandopfer ist und wie man es durchführt. Die Perikope verwendet das Inventar des Brandopfers, um die Geschichte zu erzählen (wobei dazu gehört, dass man eigentlich keine Menschen opfert). Um den Text zu verstehen, muss man also eine ungefähre Vorstellung vom Brandopfer haben. Für inhaltsbezogenes Arbeiten ist es als Erstes hilfreich, einen Überblick über die Verteilung bestimmter Begriffe im gesamten Alten Testament zu gewinnen. Diesen erhalten Sie mit Hilfe einer Konkordanz (→ Kap. 2.2). Kurze Überblicke über Sinn und Bedeutung bestimmter geistesgeschichtlich bedeutsamer Gegebenheiten finden Sie überdies in Bibellexika (→ Kap. 2.2). Besonders sensibel und für die Weiterarbeit über die aktuelle Perikope hinaus wichtig sind Begriffe, die auf religiös-theologische Konzepte verweisen.
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Suchen Sie in Gen 22,1−19 alle Begriffe heraus, die mit dem Brandopfer zu tun haben.
2. Verschaffen Sie sich mit Hilfe einer Konkordanz einen Überblick über die Texte und Textbereiche im Alten Testament, in denen vom Brandopfer die Rede ist.
3. Lesen Sie den Artikel „Brandopfer“ in einem Nachschlagewerk Ihrer Wahl und informieren Sie sich über Sinn, Bedeutung und Geschichte des Brandopfers im Alten Testament.
4. Können Sie Gründe oder Hinweise finden, warum Gen 22,1−19 erzählt wird?
2.5.6 Wachstum des Textes
Redaktionsgeschichte Wie im Pressewesen bezeichnet auch in der Exegese der Begriff „Redaktion“ die Zusammenstellung verschiedener Einzeltexte zu einem Gesamttext, mit einem Unterschied allerdings: Die verantwortli-
Lesen und Erklären II: Methoden historischer Kritik
43
che Person heißt bei der Zeitung „Redakteur“ und in der Exegese „Redaktor“. Redaktionsgeschichte fragt also danach, wie der Text aus seinen einzelnen Stufen zusammengefügt worden ist und wie die Perikope in ihren größeren Kontext integriert wurde. Dabei versucht man, die einzelnen Verfasser bzw. Redaktoren nach ihrem literarischen und/oder theologischen Profil näher zu bestimmen. Für den einzelnen Text wird daher gefragt: Ϝ In welchen Schichten ist der Text gewachsen? Ϝ Was lässt sich über die Arbeitsweise der einzelnen Redaktoren sagen? Haben sie bereits vorgefundene Texte zusammengefügt oder eigene Beiträge geleistet, indem sie sich erläuternd oder kommentierend äußerten? Ϝ Welche Aussageabsicht leitete die Redaktoren? Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Wenden Sie die genannten Arbeitsschritte auf Gen 22,1−19 an! Nach der Untersuchung der einzelnen Perikope weitete man die redaktionsgeschichtliche Perspektive auf ihren größeren Kontext aus. Dabei wird Folgendes untersucht: Ϝ In welchem größeren literarischen Kontext steht die Grundschicht des Textes? Wie verläuft der Erzählbogen, welche Rolle spielt darin die untersuchte Perikope? Ϝ Gibt es typische literarische und/oder inhaltliche Kennzeichen dieses Aufrisses? Ϝ Lassen sich die Stimmen der Redaktoren der Perikope auch im Kontext wiederfinden oder ist die Perikope isoliert bearbeitet worden? Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie die folgenden Texte hintereinander als zusammenhängende Erzählung: Gen 12,1.5.9.10−20; 13,1.5−6.8−13; 16,1−15; 18,1−16; 19,1−19; 21,1−3.8−21; 22,1−14.19a; 25,8b−11!
2. Skizzieren Sie den Ablauf und die Eigenarten dieser Abrahamserzählung. 3. Welche Rolle spielt Gen 22,1−14.19a in diesem Erzählzusammenhang?
44
Der Umgang mit dem Alten Testament
4. Lesen Sie jetzt diesen Zusammenhang: Die kursiv gesetzten Texte haben als redaktionelle Texte zu gelten, sind also spätere Interpretationen des älteren Textes: Gen 12,1−3.5.7−9.10−20; 13,1.5−6.8−13.14−18; 15,1−6; 16,1−15; 18,1−16; 19,1−19; 21,1−3.8−21; 22,1−19; 25,8b−11!
5. Skizzieren Sie die Merkmale der redaktionellen Texte. 6. Wie hat sich die Abrahamsgeschichte durch die Redaktion verändert? Welche Rolle spielt Gen 22,1−19 jetzt?
2.5.7
Historischer Ort E. A. Knauf, Die Umwelt des Alten Testaments, Stuttgart 1994 (NSK.AT 29). W. Zwickel, Die Welt des Alten und Neuen Testaments. Ein Sach- und Arbeitsbuch, Stuttgart 1997.
Herkunftswelt des Textes
Traditionsgeschichte fragte nach der geistigen Welt, aus der der Text und seine Stufen stammen. Man fragt aber auch nach der „realen“ Welt, aus der der Text kommt, d. h. nach seiner Zeit und seiner Gesellschaft. Das ist die Suche nach dem Historischen Ort. Dieser Methodenschritt erfolgt traditionell nach der Redaktionsgeschichte, man kann die beiden Arbeitsschritte aber auch austauschen. Bei der Suche nach dem historischen Ort fragt man: Ϝ nach Hinweisen auf Datierungen (Jahreszahlen oder Epochen) Ϝ nach Hinweisen auf historische Ereignisse (Kriege, Könige) Ϝ nach Hinweise auf andere Sachverhalte, die sich historisch verankern lassen (Orte, Bauwerke, technische Errungenschaften, gesellschaftliche Strukturen). Spielt der Text auf solche Gegebenheiten an, kann man davon ausgehen, dass er nach diesen verfasst worden ist.
Historisch undeutliche TexteBei vielen Texten lässt sich eine solche Befragung mit nur geringem Ergebnis durchführen, weil sie kaum oder keine historisch verwertbaren Angaben enthalten. In diesem Fall muss man die Frage nach der Entstehungszeit offenlassen oder nach subtileren Hinweisen suchen. Die Abrahamsgeschichte Gen 12–25 z. B. bezieht sich fast nie auf politischgeschichtliche Ereignisse. In der älteren Forschung hat man daraus den Schluss gezogen, dass die Texte sehr alt sein müssen, weil sie den Ablauf der Geschichte Israels anscheinend noch nicht kennen. Es ist aber durchaus möglich, dass ein Text bestimmte Sachverhalte zwar kennt, aber – aus unterschiedlichen Gründen – nicht erwähnt. In solchen Fällen wird die historische Verortung eines Textes schwierig und lässt sich eher aus traditionsgeschichtlichen oder sozialgeschichtlichen Anspielungen erheben.
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Lesen und Erklären II: Methoden historischer Kritik
Wenn sich herausstellt, dass ein Text für eine exakte historische Bestimmung unergiebig ist, versucht man wenigstens, die Welt nachzuzeichnen, die er beschreibt. Solche Elemente der Lebenswelt nennt man „Realia“. Dazu wird gefragt:
„Realia“
Ϝ An welchen Orten/in welchen Landschaften spielt der Text? Können wir die Geschichte dieser Gegenden beschreiben? Ϝ Welche Lebensweise nehmen die Figuren ein? Deutet dies auf eine bestimmte Epoche in der Geschichte Israels? Mit solchen Untersuchungen lässt sich zwar keine Datierung des Textes gewinnen, es wird aber trotzdem deutlich, dass die Texte des Alten Testaments nicht nur abgehobene Geschichten über Gott und Glauben erzählen, sondern aus einer tatsächlichen − wenn auch vergangenen − Welt stammen. 2.5.8
Ertrag der Textanalyse und der Exegese: Gesamtinterpretation An diesem Punkt hat die exegetische Arbeit an einem Bibeltext zweimal den Text im Ganzen abgeschritten: einmal in Form einer literarischen Untersuchung und einmal in Form einer historisch-kritischen Exegese. Das Ergebnis ist dementsprechend: Ϝ das Verstehen des Textes als Text: Auf bau, Inhalt, Struktur, Kontext etc. Ϝ das Verstehen des Textes als Ergebnis eines Prozesses: Schichtung, Wachstum, historische und theologische Dimensionen usw. Idealerweise fasst man das Ergebnis in Form einer summierenden Interpretation zusammen: Wovon spricht der Text? Wie geschieht dies? Wie und wann ist der Text entstanden? Warum ist er verfasst worden?
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Fassen Sie Ihre Ergebnisse zur literarischen Analyse und zur historisch-kritischen Exegese von Gen 22,1−19 zu einer Gesamtinterpretation zusammen. Zeigen Sie Ihre einzelnen Erträge auf und versuchen Sie eine Bündelung. Ihre eigene auslegende Vorarbeit hat wahrscheinlich schon einige Fragen geklärt, die sich Ihnen bei der Lektüre der Perikope gestellt haben. Möglicherweise ist aber noch eine Reihe von Fra-
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Der Umgang mit dem Alten Testament
gen offen. An diesem Punkt beginnt die vertiefte Auseinandersetzung mit der (Sekundär-)Literatur, die sich mit den verschiedensten Aspekten der Textauslegung befasst. Diese gehört zur wissenschaftlich-theologischen Arbeit an der Bibel dazu, sollte aber immer erst dann erfolgen, wenn Sie sich − Ihren Möglichkeiten entsprechend − ein eigenes Bild vom Text gemacht haben. Hinweise zur Auswahl von und zum Umgang mit exegetischer FachliteraturGrundsätzlich lässt sich exegetische Fachliteratur in vier Gruppen einteilen: Hilfsmittel, Einführungen, Kommentare und Spezialliteratur. 1. Hilfsmittel: Unter Hilfsmitteln versteht man Nachschlagewerke und Konkordanzen, wie sie bereits oben erwähnt wurden. Es ist sinnvoll, dass Sie selbst ein Bibellexikon, einen Bibelatlas und eine Konkordanz besitzen. 2. Einführungen: Einführende Werke wurden unter 2.2 aufgelistet. Sie benötigen sie für einen Gesamtüberblick über das Alte Testament – Interpretationen einzelner Perikopen geben Ihnen die Einführungen in der Regel nicht. 3. Kommentare: Ein Kommentar erläutert ein ganzes biblisches Buch nach literarischer Gestaltung, Inhalt, Entstehung und theologischer Bedeutung und erklärt es Kapitel für Kapitel, manchmal sogar Vers für Vers. In der Regel erfolgt die Kommentierung biblischer Bücher innerhalb einer KommentarReihe. Bei dieser legen die Herausgeberinnen und Herausgeber allgemeine Regeln für inhaltliche Schwerpunkte fest und beauftragen dann Spezialisten und Spezialistinnen mit der Einzelkommentierung. Die für Sie sinnvollsten Kommentarreihen sind die folgenden: – Das Alte Testament Deutsch (ATD): Die Reihe enthält Kommentare zu allen alttestamentlichen Büchern. Seit kurzem wird die Reihe überarbeitet, so dass einige Kommentare jetzt doppelt vorliegen. Verwenden Sie nach Möglichkeit immer den aktuellen Band! ATD kommentiert kompakt und allgemein verständlich und legt den Schwerpunkt vor allem auf die Darstellung der ursprünglichen Aussage der Texte. – Biblischer Kommentar Altes Testament (BK): Die Reihe ist bis heute nicht vollständig. Die vorliegenden Bände bieten jedoch eine gründliche und detaillierte Untersuchung der jeweiligen Perikopen. BK bietet viele Informationen zu textlichen Einzelheiten und legt großen Wert auf den theologischen Ertrag einer Bibelstelle. – Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament (HThKAT): Diese Reihe ist die aktuellste unter den Kommentarreihen und ebenfalls noch nicht vollständig. Ähnlich detailliert wie BK, ist HThKAT daneben vor allem an literarischen Strukturen und Zusammenhängen interessiert und verdeutlicht die theologische Bedeutung der Bibeltexte für Christentum und Judentum. – Die Neue Echter Bibel (NEB): NEB ist vollständig und kommentiert den Text der Einheitsübersetzung mit kurzen Einleitungen und einem sehr knappen Fußnotenkommentar. Die Erläuterung ist allgemein verständlich, aber manchmal etwas zu kurz.
Lesen und Erklären II: Methoden historischer Kritik
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– Neuer Stuttgarter Kommentar Altes Testament (NSK.AT): Die Reihe wurde 1997 begründet und ist noch nicht vollständig. Die Kommentierung ist auf ähnlichem Niveau wie ATD. Wenn Sie sich intensiv mit einem Bibeltext beschäftigen, werden Sie den entsprechenden Kommentar brauchen. Sie müssen sich jedoch keine Kommentarbände anschaffen; es reicht, wenn Sie sich aus Ihrer Bibliothek einen ausleihen. Bei der Arbeit mit Kommentaren sollten Sie zwei Dinge berücksichtigen: – Erstens: Ein Kommentar erläutert nicht nur einzelne Textstellen, sondern bietet auch eine Theorie zum Verständnis des gesamten alttestamentlichen Buches. Diese finden Sie in der Regel nicht bei der Erklärung, sondern im einleitenden Teil. Wenn Sie einen Kommentar verwenden, müssen Sie also immer mehr lesen, als Sie wissen wollen. – Zweitens: Einen Kommentar zu verfassen, ist eine aufwendige Arbeit und dauert daher meist sehr lange – zehn Jahre und mehr sind keine Seltenheit. Aus diesem Grund sind manche Kommentare schon kurz nach ihrer Entstehung von der Forschung „überholt“. Das betrifft aber meist vor allem Entstehungstheorien und hat nur wenig Einfluss auf die literarische und theologische Einzelauslegung einer Stelle. Das heißt, Sie können häufig die Wort- oder Sacherklärung eines (älteren) Kommentars weiter verwenden, sich aber bei Entstehungstheorien auf neuere Werke berufen. 4. Spezialliteratur: Exegese ist eine hochspezialisierte Wissenschaft mit vielen Untergebieten und Seitenzweigen. Die Auslegung eines biblischen Textes kann unter vielen sehr unterschiedlichen Fragestellungen erfolgen. Mithin gibt es zu jedem alttestamentlichen Text und Thema eine große Menge weiterführender Literatur. Diese lässt sich noch einmal in zwei Gruppen einteilen: – Monographien handeln einen Text, eine Textgruppe oder ein Thema in Gestalt eines Buches ab. – Aufsätze untersuchen Text oder Thema in Form einer kurzen Darstellung (meist 20–30 Seiten). Aufsätze erscheinen in Fachzeitschriften oder Sammelbänden. Hinweise auf nützliche Literatur finden Sie: – in Kommentaren jeweils am Anfang der jeweiligen Perikopenauslegung – in Literaturdatenbanken (z. B. Bibelwissenschaftliche Literaturdokumentation Innsbruck BILDI: www.uibk.ac.at/bildi) bzw. Bibliothekskatalogen.
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Beschaffen Sie sich aus Ihrer Seminar- bzw. Universitätsbibliothek: G. von Rad, Das Erste Buch Mose. Genesis, Göttingen 121987 (ATD 2/4). K. Schmid, Die Rückgabe der Verheißungsgabe. Der „heilsgeschichtliche“ Sinn von Gen 22 im Horizont innerbiblischer Exegese, in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (FS O. Kaiser), Berlin/New York 2004 (BZAW 345/1), 271−300.
48
Der Umgang mit dem Alten Testament
2. Lesen und vergleichen Sie die beiden Exegesen zu Gen 22,1−19. Wo sind Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede und worin könnten die Unterschiede begründet sein?
3. Welche Ergebnisse aus beiden Auslegungen sind für Ihre eigene Auslegung der Perikope besonders hilfreich?
2.6 nicht nur historische Exegese
2.6.1
Lesen und Begreifen: Weitere exegetische Methoden und Fragestellungen Bibelauslegung hat drei Ziele: Sie will den Text als Text verstehen, sie will den ursprünglichen Textsinn in seiner Entstehungssituation freilegen und sie will die besonderen Impulse für die Leser der Gegenwart deutlich machen. Nur durch eine vernünftige Abstimmung dieser drei Ziele kann eine Bibelauslegung gelingen, die mehr ist als eine subjektiv-persönliche Einschätzung des Textes. Literarische Analyse und historische Kritik haben sich in mehr als 100 Jahren als Hauptmethoden der Bibelauslegung international durchgesetzt. Trotzdem gibt es daneben noch eine Reihe weiterer Methoden und Fragestellungen. Teils verstehen sie sich als (notwendige) Ergänzung zur historisch-kritischen Exegese, teils stellen sie diese Methode in Frage. Die wichtigsten dieser zusätzlichen Methoden sollen hier im Überblick dargestellt werden. Ergänzungen der historischen Exegese S. Kreuzer, Soziologische und sozialgeschichtliche Auslegung, in: Ders., Proseminar, 144–168. D. Vieweger, Biblische Archäologie, in: S. Kreuzer, Proseminar, 121–143.
biblische Archäologie
sozialgeschichtliche Auslegung
Auf der Basis historisch-kritischer Exegese haben sich weitere Methoden entwickelt, die vor allem versuchen, der Vor- und Nachgeschichte der alttestamentlichen Texte noch schärfere Konturen zu verleihen. Archäologie ist eine eigenständige Wissenschaft. Sie versucht, durch Ausgrabungen und die Untersuchung von Texten und Gegenständen die Geschichte und Kultur vergangener Epochen zu rekonstruieren. Biblische Archäologie unternimmt dies für den Raum und die Zeit, in der die biblischen Texte entstanden sind. Sie will damit vor allem die Welt und Umwelt des Alten Testaments näher erforschen. Soziologie und Sozialgeschichte sind ebenfalls eigenständige Wissenschaften. Sie beschreiben Strukturen und Prozesse
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Lesen und Begreifen
gegenwärtiger und vergangener Gesellschaften, oft unter Zuhilfenahme konkreter Daten wie Statistiken und Umfragen. Sozialgeschichtliche Bibelauslegung versucht, die Gesellschaft zu rekonstruieren, auf der die alttestamentlichen Texte fußen. Sie legt sozialwissenschaftliche Theoriemodelle zugrunde und/ oder vergleicht die Gesellschaft der biblischen Zeit mit heutigen Gesellschaften. Untersucht werden soziale Rollen, Kommunikationsstrukturen und Beziehungen. Auslegungs- und wirkungsgeschichtliche Untersuchungen verfolgen die Spur eines biblischen Textes, nachdem er seine Endfassung erhalten hat. Dabei zielt die Auslegungsgeschichte im Wesentlichen darauf, wie man in der Geschichte der (christlichen) Religion mit der jeweiligen Perikope umgegangen ist. Die Wirkungsgeschichte fragt nach den Umsetzungen des Textes in Literatur, Kunst, Musik. Beide Richtungen untersuchen, wie biblische Texte verwendet, ggf. auch missverstanden wurden.
Auslegungs- und Wirkungsgeschichte
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Gen 22,1−19 ist auch nachbiblisch ein besonders bedeutender Text geworden. Er bietet sich daher für auslegungs- und wirkungsgeschichtliche Untersuchungen an. Lesen Sie dazu: J. Ebach, Theodizee: Fragen gegen Antworten. Anmerkungen zur biblischen Erzählung von der „Bindung Isaaks“ (1 Mose 22), in: Ders., Gott im Wort. Drei Studien zur biblischen Exegese und Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1997, 1−25.
Gegenentwürfe zur historisch-kritischen Methode
2.6.2
M. Oeming/A. R. Pregla, New Literary Criticism, in: ThR 66 (2001), 1–23. L. Schottroff/M.-Th. Wacker, Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 32007. G. Steins, Die „Bindung Isaaks“ im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre, Freiburg 1999 (HBS 10). S. Galley u. a., Die hebräische Bibel. Eine Einführung, Berlin 2004.
Eine ganze Reihe alttestamentlicher Forscherinnen und Forscher empfindet die historisch-kritische Exegese als ergänzungsbedürftig, teilweise sogar als unbefriedigend, weil sie sich zu stark auf die Entstehung der Texte konzentriere und weitere Sinnpotentiale zu wenig berücksichtige. In mehr oder weniger starker Abgrenzung zur historischen Kritik haben sich daher u. a. die folgenden Methoden positioniert: Im Unterschied zu dem in Kap. 2.3 skizzierten Verfahren, das eine Vorstufe zur historischen Kritik bildet, fragt eine literaturwis-
literaturwissenschaftliche Auslegung
50
Der Umgang mit dem Alten Testament
feministische Exegese
kanonische Exegese
jüdische Exegese
2.7 anwendungsorientierte Exegese
senschaftliche Exegese ausschließlich danach, wie der Text gestaltet und strukturiert ist. Entstehungsgeschichtliche Fragen werden bewusst ausgeklammert. Rein literaturwissenschaftliche Bibelauslegung betont, dass die Bibel als Literatur ihre eigenen Sinndimensionen hat, die nicht unbedingt historisch erklärt werden müssen. Feministische Exegese stellt die Frauen der biblischen Texte und der biblischen Welt in den Vordergrund ihres Interesses. Indem sie Frauengestalten und Frauenleben beschreibt und Frauenunterdrückung (in der Bibel und durch ihre Auslegung) kritisiert, will feministische Exegese einen Beitrag zur Identität von Frauen in heutiger Zeit leisten. Kanonische (auch: kanonisch-intertextuelle) Exegese kritisiert an der historisch-kritischen Exegese, dass sie mit hypothetisch erschlossenen Textstufen arbeitet. Demgegenüber müsse die konkret vorhandene ganze Bibel den Bezugsrahmen der Auslegung bilden. Kanonische Exegese untersucht mit Hilfe einer eigenständigen Methodik, wie biblische Texte untereinander verknüpft sind und sich so gegenseitig interpretieren. Da die Schriften des Alten Testaments als Tanak auch die Heilige Schrift des Judentums bilden, (→ Kap. 1.2) legen auch Juden und Jüdinnen sie aus. Das Judentum hat unabhängig vom Christentum eigene Auslegungsregeln und Interpretationsmethoden entwickelt. Von ihrer Herkunft her ist jüdische Exegese natürlich kein kritischer Gegenentwurf zur historischen Kritik, sondern eine eigenständige Methode. Sie wird aber auch von christlichen Exegeten und Exegetinnen angewandt, teils um einen alternativen Auslegungsweg zu gehen, teils um eine bessere Verständigung von Juden und Christen über ihre religiösen Texte zu erzielen.
Lesen und Anwenden: Applikation Bibelauslegung ist eine anwendungsorientierte Wissenschaft. Sie wird nicht aus reiner Freude am Text durchgeführt, sondern dient dazu, die Bibel als Quelle und Grund von Glaubensaussagen zu verstehen. Aus ihren Texten werden Erfahrungen mit dem Gott erkennbar, auf den sich der (jüdische und) christliche Glaube beziehen. Jeder einzelne Bibeltext bildet ein Mosaiksteinchen im Gesamtbild des Glaubens. Mit der Auslegung biblischer Texte versuchen Sie daher, sich und anderen deutlich zu machen, welchen Beitrag eine Perikope für Ihren Glauben und den Glauben anderer leistet. Diesen
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Lesen und Anwenden: Applikation
Übergang vom damaligen Text in die heutige Situation nennt man Applikation (lat. „Anwendung“). Applikation erfolgt in zwei Richtungen: auf Sie selbst und Ihr eigenes Verständnis von Religion und Glaube und durch Sie selbst auf eine Öffentlichkeit in Kirche, Gemeinde und Schule. Applikation und individuelle theologische Kompetenz
2.7.1
Ihr persönlicher Glaube und/oder Ihr Verständnis der Religion ist die Basis Ihrer späteren Lauf bahn in Schule oder Gemeinde. Dass Sie die Sprache und die Texte der christlichen Religion kennen und verstehen, ist die Grundlage Ihrer theologischen Kompetenz. Die Voraussetzung dafür ist, dass Ihnen die biblischen Texte etwas sagen und bedeuten. Manche biblischen Texte sind so geartet, dass sie ganz unmittelbar sprechen. Welche das sind, lässt sich nicht im Vornherein festlegen; diese Erfahrung ist individuell. Auf dem Weg der Auslegung können Sie Ϝ begründen, warum Ihnen ein Text etwas sagt (beschreibende Sprache) Ϝ einen Zugang zu Texten bekommen, die Ihnen beim ersten Lesen nichts sagen oder Rätsel aufgeben (Verstehenshilfe) Ϝ Kriterien dafür finden, warum ein Text für Sie (im Moment) weniger bedeutungsvoll erscheint (historisches Verstehen). Die Beschäftigung mit der Bibel und ihrer Auslegung verlangt von Ihnen nicht, dass Sie am Anfang oder am Ende alles glauben, was da geschrieben steht. Sie hilft Ihnen, es besser zu verstehen und damit Ihr eigenes theologisches Profil zu schärfen. Ein solches klares Profil ist die Voraussetzung Ihrer späteren theologischen Lauf bahn. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Skizzieren Sie einmal schriftlich, was Sie unter dem christlichen Glauben verstehen. Wenn Sie sich eher als gläubiger Mensch verstehen, können Sie ruhig ein persönliches Glaubensbekenntnis verfassen. Es reicht aber auch, wenn Sie einige Thesen nach dem Muster „Christlicher Glaube bedeutet für mich …“ formulieren.
2. Versuchen Sie herauszufinden, auf welche biblischen Texte Ihr Verständnis zurückgeht.
52
Der Umgang mit dem Alten Testament
3. Schauen Sie sich jetzt noch einmal Ihre Interpretation von Gen 22,1−19 an. Welchen Beitrag leisten der Text und seine Auslegung zu Ihrem Glaubensverständnis?
2.7.2
Applikation und berufliche theologische Kompetenz M. Fricke, „Schwierige“ Bibeltexte im Religionsunterricht. Theoretische und empirische Elemente einer alttestamentlichen Bibeldidaktik für die Primarstufe, Göttingen 2005. G. Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik. Nachdenken über Gottes Geschichte, Göttingen 2 2008.
Ihr Studium wird Sie in den weiteren theologischen Disziplinen mit Methoden und Wegen vertraut machen, den christlichen Glauben zu kommunizieren und zu vermitteln. Die Theologie und die ExegeseDie Einzeldisziplinen der Systematischen Theologie (Dogmatik, Ethik, Religionsphilosophie, Fundamentaltheologie, Kontroverstheologie) zielen darauf, in möglichst allgemeiner Form die Inhalte des christlichen Glaubens zu beschreiben und untereinander zu einer Lehre zu verbinden: Aus vielen alttestamentlichen Texten darüber, wie Gott die Welt gemacht hat, wird die Lehre von der Schöpfung. Systematische Theologie ist Kommunikation und Applikation der biblischen Texte nach innen, d. h. zu denjenigen, die den christlichen Glauben kennen. Die Einzeldisziplinen der Praktischen Theologie (Religionspädagogik, Religionsdidaktik, Predigtlehre, Seelsorgelehre) geben Wege zur Vermittlung christlicher Inhalte in Schule und Gemeinde vor. Dabei suchen sie nach Kommunikationsformen, Vermittlungswegen und Menschenbildern, die dazu beitragen, dass biblische Texte auch weiterhin zu anderen Menschen sprechen und ihnen etwas bedeuten können. Auch diese Wege beruhen auf Bibelauslegung, die mit Ihrer eigenen Kompetenz zusammenhängt.
Es wird Ihre Aufgabe sein, Ihr eigenes Verstehen der biblischen Texte mit anderen Auslegungen, mit der Theologie in ihrer Gesamtheit und mit den Anfragen Ihrer späteren Schülerinnen, Schüler und Gemeindemitglieder ins Gespräch zu bringen.
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Historischer Vorspann: Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit Inhalt 3.1
Israel im Alten Orient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
3.2
Die Vorgeschichte Israels (13.–11. Jh. v. Chr.) . . . . . . . 63
3.2.1 „Israel“ im spätbronzezeitlichen Kanaan . . . . . . . . . . 64 3.2.2 Der Auszug aus Ägypten (Exodus) . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.2.3 Die Entstehung Israels („Landnahme“) . . . . . . . . . . . . 72 3.3
Zwei Königreiche, ein Gott: Die Königszeit (ca. 1000–587 v. Chr.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
3.3.1 Die Entstehung des Königtums (10. Jh. v. Chr.) . . . . . . 81 3.3.2 Saul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.3.3 David . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.3.4 Salomo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.3.5 Juda und Israel bis zu den Omriden (9. Jh. v. Chr.) . . . 92 3.3.6 Israel und Juda bis zum Untergang Samarias (841–720 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.3.7 Juda von der assyrischen Zeit bis zur babylonischen Eroberung (720–587/6 v. Chr). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.4
Nach der Katastrophe: Die „Exilszeit“ . . . . . . . . . . . . 112
3.4.1 Die Entwicklungen im Mutterland . . . . . . . . . . . . . . 113 3.4.2 Die Entwicklungen in Babylonien . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.5
Israel und die Perser: Die nachexilische Zeit . . . . . . 117
3.5.1 Geschichte des persischen Achämenidenreichs . . . . 117 3.5.2 Erste Phase: Von Kyros II. bis zum Bau des Zweiten Tempels (539–515 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
3
54
Historischer Vorspann
3.5.3 Zweite Phase: Die Provinz Yehûd bis zu Nehemia (520–ca. 440 v. Chr.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.5.4 Dritte Phase: Juda/Yehûd in spätpersischer Zeit (4. Jh. v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3.6
Die hellenistische Zeit (333–63. v. Chr.) . . . . . . . . . . . 131
3.6.1 Erste Phase: Syrien unter ptolemäischer Herrschaft (301–198 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3.6.2 Zweite Phase: Die Seleukiden in Palästina (199–ca. 150 v. Chr.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 3.6.3 Dritte Phase. Der Aufstand der Makkabäer (167–142 v. Chr.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.6.4 Vierte Phase: Die Herrschaft der Hasmonäer (140–63 v. Chr) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
! eine vierfache Geschichte Israels
Problemanzeige „Das Alte Testament ist ein Geschichtsbuch“ formulierte der deutsche Alttestamentler Gerhard von Rad (1901−1971) im Jahr 1952. Tatsächlich gilt dies in einem vierfachen Sinne: 1. Das Alte Testament ist ein Dokument einer vergangenen Zeit, also eine historische Quelle (historischer Aspekt). 2. Das Alte Testament beschreibt eine Vergangenheit, ist also Geschichtsschreibung (historiographischer Aspekt). 3. Das Alte Testament schildert Vergangenheit in Form von Geschichten, ist also Literatur (narrativer Aspekt). 4. Das Alte Testament bildet die Vergangenheit als Geschichte Gottes mit der Welt ab, versteht Geschichte also als Heilsgeschichte (theologischer Aspekt). Jede Beschäftigung mit dem Alten (und dem Neuen) Testament muss diese vier Aspekte in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. Die methodische Grundlage dafür ist die historisch-kritische Exegese, die Sie im vorigen Kapitel kennen gelernt haben. Alttestamentliche Geschichtswissenschaft stellt dabei die beiden ersten Aspekte in den Vordergrund: Sie ermittelt, welche Ereignisse das Alte Testament beschreibt und mit welchen Mitteln das Alte Testament seine Geschichte darstellt − dazu gehören auch Untersuchungen, wann und von wem die alttestamentlichen
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Historischer Vorspann
Texte vermutlich verfasst worden sind. Darüber hinaus stellt alttestamentliche Geschichtswissenschaft die Geschichte, die im Alten Testament geschildert wird, in den großen Zusammenhang der Geschichte des Altertums. Sie zieht dazu Quellen aus den Nachbarkulturen, Ergebnisse archäologischer Untersuchungen und andere wissenschaftliche Methoden heran. Das Ziel ist ein doppeltes:
ein doppeltes Ziel
Ϝ Das Alte Testament soll auf dem Hintergrund seiner eigenen Geschichte verstanden werden. Ϝ Die Geschichte Israels im Altertum soll (mit Hilfe des Alten Testaments) verstanden werden. Probleme einer „Geschichte Israels“Allerdings steht die Erforschung der alttestamentlich bezeugten Geschichte vor einer Reihe von erheblichen Problemen: 1. Zwar bietet das Alte Testament selbst eine lückenlose Darstellung der Geschichte Israels von der Schöpfung bis ins 2. Jh. v. Chr., aber weitere textliche Quellen stehen nur in sehr eingeschränktem Umfang zur Verfügung: Es fehlen in Israel zum großen Teil andere Textquellen wie Inschriften, Münzen, Briefe, private, politische und Wirtschaftsdokumente. So sind wir bei der Erforschung der Geschichte Israels weitgehend auf das Alte Testament angewiesen. Die Überprüfung alttestamentlicher Aussagen und eine Rekonstruktion des Lebens der Menschen Israels in alttestamentlicher Zeit müssen überwiegend durch nichtschriftliche Zeugnisse erfolgen. 2. Viele der alttestamentlichen Texte sind erheblich später verfasst worden als die Ereignisse, von denen sie berichten. Das betrifft vor allem die Texte über die frühe Geschichte Israels, die theologisch von hoher Bedeutung, als historisch auswertbare Quelle aber nur von geringem Wert sind. Da man immer noch wenig darüber weiß, wie sich (mündliche) Überlieferung im Altertum vollzogen hat, muss offen bleiben, wie verlässlich die Texte historische Erinnerungen bewahren. 3. Viele der alttestamentlichen Texte (nicht alle!) sind mit einem klaren politisch-theologischen Ziel verfasst („Tendenz“), außerdem sind sie literarisch gestaltet. Das ist keine Eigenart alttestamentlicher Geschichtsschreibung. Vielmehr verfolgt jeder Geschichtsschreiber ein Ziel und gestaltet seine Texte so, dass sie lesbar, spannend und interessant sind. Das heißt aber eben auch, dass das Alte Testament nur eine einseitige und parteiliche Sicht der Ereignisse gibt. Diese Sicht ist nicht automatisch wahr und richtig, weil sie in der Bibel steht. Sie ist aber auch nicht deswegen zwangsläufig unwahr oder historisch falsch, weil sie einer bestimmten Tendenz folgt. 4. Die schriftlichen Quellen aus Israels Nachbarkulturen berichten meist nur über einzelne Ereignisse oder kürzere historische Phasen. Sie haben auf viele Ereignisse ihre eigene Perspektive, die mit dem alttestamentlichen Bericht nicht immer sicher zur Deckung zu bringen ist.
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Historischer Vorspann
Plausibilität und Kontextbezug
Die Aufgabe alttestamentlicher Geschichtswissenschaft ist es nicht, die Wahrheit eines historischen Ereignisses zu beweisen, das in der Bibel beschrieben ist. Vielmehr geht es darum, festzustellen, ob die biblische Darstellung plausibel ist und sich in einen größeren historischen Kontext einfügen lässt. In der Geschichte Israels wiederholt sich also dasselbe Problem von Fundamentalismus und Positivismus wie in der Methodik überhaupt (→ Kap. 2). M. Witte, Art. Geschichte/Geschichtsschreibung (AT), in: www.wibilex.de.
zwei gegensätzliche Forschungsansätze
Leider ist auch innerhalb der alttestamentlichen Geschichtswissenschaft umstritten, wie man die alttestamentlichen Texte als historische Quellen sachgemäß in den Zusammenhang anderer Quellen einordnet. Die gegenwärtige Forschung teilt sich in zwei Extrempositionen: „Minimalismus“
„Maximalismus“
Biblische Texte werden nur dann in die Geschichtsrekonstruktion einbezogen, wenn sie mit außerbiblischen Befunden zur Deckung gebracht werden können.
Die Bibel gilt so lange als historisch verlässliche Quelle, wie sie nicht durch außerbiblische Befunde widerlegt werden kann oder an sich nicht plausibel ist.
Es muss jedoch gelten: „Beide Quellen [d. h. biblische wie außerbiblische Quellen] sind gleichermaßen kritisch und methodisch reflektiert in eine Geschichte Israels einzubringen. Die … Geschichte Israels steht nicht allein, sondern bedarf des ergänzenden Rahmens der Sozial- und Kulturwissenschaften, der Philosophie und der historischen Disziplinen (Alte Geschichte, Historische Anthropologie, Orientalistik, Ägyptologie u. a. m.).“ (C. Frevel, Grundriss der Geschichte Israels, in: E. Zenger u. a. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 72008 (Kohlhammer Studienbücher Theologie), 587–731, hier 589 f.).
Unter dieser Leitperspektive soll in diesem Kapitel die Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit in ihren Grundzügen dargestellt werden. Der Überblick dient dazu, Sie mit den grundlegenden Daten, Personen, Ereignissen und Entwicklungen vertraut zu machen, die Sie zum Verständnis des Alten Testaments benötigen. A. Berlejung, Geschichte und Religionsgeschichte des antiken Israel, in: J.-C. Gertz u. a. (Hg.), Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, Göttingen 42010 (UTB 2745), 55–186.
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Israel im Alten Orient
H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Staatenbildungszeit, Göttingen 32000 (GAT 4/1); Bd. 2: Von der Königszeit bis zu Alexander dem Großen. Mit einem Ausblick auf die Geschichte des Judentums bis Bar Kochba, Göttingen 32001 (GAT 4/2). C. Frevel, Grundriss der Geschichte Israels, in: E. Zenger u. a. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 72008 (Kohlhammer Studienbücher Theologie), 587–731. M. Metzger, Grundriss der Geschichte Israels, Neukirchen-Vluyn 122007. H. Weippert, Palästina in vorhellenistischer Zeit. Mit einem Beitrag von Leo Mildenberger, München 1988 (Handbuch der Archäologie: Vorderasien II Band II).
3.1
Israel im Alten Orient „Israel“ ist ein mehrdeutiger Begriff. Er bezeichnet:
Was ist „Israel“?
Ϝ das Land, in dem sich die Geschichte abgespielt hat, die hier nachgezeichnet wird Ϝ die Menschen(-gruppe), die diese Geschichte erlebt und gestaltet hat. Als Bezeichnung eines Raumes ist der Begriff besonders problematisch, weil innerhalb der biblisch bezeugten Geschichte die Grenzen häufig wechseln und häufig nicht einmal eindeutig definiert werden können. In etwa ist in der alttestamentlichen Wissenschaft mit „Israel“ das Gebiet von den Jordanquellen bis in die Wüste Negev und vom Mittelmeer bis an den Jordan gemeint. In diesem Raum lebten von etwa 1200 v. Chr. an Menschen, die sich selbst „Israel“ nannten. Das ganze Gebiet ist aber niemals in seiner Gesamtheit von den „Israeliten“ politisch beherrscht worden, sondern immer nur Teilbereiche davon. „Israel“ und „Palästina“ als politische BegriffeSowohl „Israel“ als auch „Palästina“ sind Begriffe, die in den Bibelwissenschaften für den geographisch-kulturell-politischen Raum verwendet werden, in dem die Bibel ihre Texte spielen lässt. Im Horizont des modernen Nahostkonflikts sind sie aber beide politisch sensibel und daher problematisch. Der 1948 gegründete moderne Staat Israel führt in seinem Namen die alttestamentliche Tradition weiter, verbindet aber mit dem Namen einen (auch militärisch durchgesetzten) Anspruch auf ein bestimmtes Territorium. Ungeachtet der möglichen Gültigkeit der biblischen Begründung setzt sich dieser Anspruch indes über die politischen Rechte von Staaten (Jordanien, Libanon, Syrien, Ägypten) und Völkern (Palästinenser) hinweg, die in der Zwischenzeit in diesem Raum entstanden sind. Aus diesem Grund versuchen manche Bibelwissenschaftler, den Namen „Israel“ zu vermeiden, um keine Missverständnisse entstehen zu lassen. Noch schwieriger zu handhaben ist der Begriff „Palästina“. Der Name ist die griechisch-lateinische Wiedergabe des hebräischen Pelisˇtı¯m und bezeichnet ur-
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Historischer Vorspann
sprünglich nur das Siedlungsgebiet der Philister, das an der Mittelmeerküste (etwa von Gaza bis Joppe) lag. In griechischer und römischer Zeit wurde der Begriff auch auf das südliche Binnenland ausgedehnt und blieb bis 1948 erhalten. Die heutigen Palästinenser verwenden den Begriff als Selbstbezeichnung. Sie haben indes mit den antiken Philistern nichts zu tun. Es handelt sich vielmehr (heute) um arabisch sprechende Bewohner des Staates Israel, der Autonomiegebiete Gaza und Westjordanland und um Flüchtlinge dieses Gebietes in die umliegenden Länder. Da im Augenblick (2011) die staatliche Zukunft der Palästinenser weiterhin ungeklärt ist, kann der Name „Palästina“ als Name für ein Territorium missverständlich sein, insofern er von außen häufig als Option für eine bestimmte politische Gestaltung des Nahen Ostens gedeutet wird. Die historischen Wissenschaften verwenden die Namen „Israel“ und „Palästina“ mangels besserer Begrifflichkeit und verbinden damit keinerlei Anwendbarkeit auf heutige Grenz- oder Staatsdefinitionen. R. Steiniger, Der Nahostkonflikt, Frankfurt/Main 52003.
geographische und klimatische Bedingungen
Die Bezeichnung „Israel“ für eine bestimmte Gruppe von Menschen ist schon sehr alt und erscheint − lange vor der Entstehung alttestamentlicher Texte − erstmals in einem ägyptischen Text um 1200 v. Chr. (→ Kap. 3.2.1). Dort bezeichnet er aber (noch) kein Volk, sondern allenfalls einen Volksstamm. Irgendwann ging diese Gruppenbezeichnung dann auch auf politisch verfasste Gruppen der gesamten Region über. In diesem Buch soll der Begriff „Israel“ überwiegend für die Menschen(-gruppe) verwendet werden, die sich irgendwann selbst „Israel“ zu nennen begann. Das Land wird jeweils mit den Begriffen bezeichnet, die in der entsprechenden Epoche verwendet wurden. Die Geschichte Israels wurde von zwei Faktoren entscheidend geprägt. Zum einen waren es von innen her die geographischen und klimatischen Bedingungen sowie seine Ressourcen, die seine Geschichte (mit-)bedingten:
Geographie IsraelsDie Maximalausdehnung des Landes „Israel“ wird im Alten Testament (Ri 20,1; 1 Sam 3,20; 2 Sam 3,10; 17,11; 24,2.15; 1 Kön 5,5; 1 Chr 21,2; 2 Chr 30,5) mit der Formel „von Dan bis Beerseba“ umschrieben. Es umfasst ca. 190 km in Nord-SüdRichtung und max. 100 km in Ost-West-Richtung. Natürliche Grenzen sind das Mittelmeer im Westen und der Fluss Jordan im Osten (obwohl es zeitweise auch Gebietsausdehnungen östlich des Jordans gab). Die Mittelmeerküste verläuft in einer glatten Linie vom Karmelgebirge bis zum Nildelta. Es gibt dort kaum natürliche Häfen. Durch den sich anschließenden schmalen Küstenstreifen verlief in biblischer Zeit die wichtigste Landver-
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Israel im Alten Orient
bindung zwischen Afrika und Asien. An den Küstenstreifen schließt sich in östlicher Richtung das Hügelland an (Schefela). Diese Region bot in alttestamentlicher Zeit günstige Bedingungen für die Landwirtschaft. Israels Kerngebiet ist das zentralpalästinische Gebirge (auch: westjordanisches Bergland), das das Land in Nord-Süd-Richtung durchzieht. Es teilt sich in drei Bereiche: das galiläische Bergland westlich des Sees Genezareth, das Gebirge Ephraim von Megiddo bis Jerusalem und das Gebirge Juda zwischen Jerusalem und Hebron. Südlich von Hebron wird das Gebirge flacher und heißt dann „Wüste Juda“. Das galiläische Bergland und das Gebirge Ephraim sind durch die wirtschaftlich und politisch bedeutenden Jesreel- und Küstenebene voneinander getrennt. Das zentralpalästinische Gebirge hat eine durchschnittliche Höhe von 800 m, aber ein sehr uneinheitliches Höhenrelief. Auf dem Gebirgskamm entspringen viele kleine Flüsschen, die nach Osten und Westen ablaufen und deren Täler das Gebirge immer wieder durchteilen – z. T. mit sehr starken Auf- und Abstiegen. Nach Osten fällt das Gebirge steil zum Jordan ab, der nördlich des Sees Genezareth entspringt und ins Tote Meer mündet. Dort liegt mit –392 m die tiefste Stelle der Erdoberfläche. Das Jordantal ist schmal und nur in seinem nördlichen Teil landwirtschaftlich nutzbar. Der Jordan ist nicht schiffbar. Südlich von Beerseba geht die Wüste Juda in den Negev (hebr. „Süden“, auch „Wüste“) über. Dieser ist keine Sandwüste wie die Sahara, sondern ein regenarmes Steppengebiet mit steinigem Boden.
Das Gebiet Israels ist demnach klein und landschaftlich sehr uneinheitlich. Auf engstem Raum treffen große Höhenunterschiede, Ebene und Gebirge, fruchtbares Land und Wüste aufeinander. Sowohl die politisch-gesellschaftliche Gestaltung als auch eine (land-)wirtschaftliche Nutzung des Landes sind daher schwierig. Sie werden durch weitere Faktoren noch mehr erschwert: Ein besonders schwieriges Problem ist die Wasserversorgung. Nur der Jordan führt ganzjährig Wasser, ist aber aufgrund seiner tiefen Lage schwer erreichbar. Auf dem Gebirge entspringen zwar Quellen und Flüsschen, doch die meisten von ihnen versiegen regelmäßig für längere oder kürzere Zeit. So hängt die Wasserversorgung größtenteils vom Niederschlag ab. Regen fällt in Israel jedoch nur von Oktober bis März. Im Süden ist zudem die Niederschlagsmenge sehr gering. Effektive Techniken zur Wasserspeicherung sind in Israel in alttestamentlicher Zeit nur sehr langsam entwickelt worden. An natürlichen Rohstoffen kommen in dem Gebiet fast ausschließlich Holz und Stein vor. Es gibt keine Metallvorkommen, so dass Metall und Metallgegenstände durchgängig importiert werden müssen. Auch über hochwertige Rohstoffe (Edelmetalle, Edelsteine, Elfenbein, Weihrauch, Gewürze, Edelhölzer, Seide etc.) verfügt Israel nicht.
Probleme der Gestaltung und Bewirtschaftung
Ressourcen Israels
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Abb. 3.1.1 Karte von Israel/ Palästina
ein Land von (Klein-)Bauern
So war das Gebiet Israels in alt- und neutestamentlicher Zeit ein reines Agrarland, das überwiegend für den Eigenbedarf wirtschaftete (sog. Subsistenzwirtschaft). Dabei war Landwirtschaft in großem Stil nur in der Schefela, der Küsten- und der Jesreelebene möglich. Der Rest des Landes wurde von Kleinbauern bewirtschaftet. Y. Aharoni, Das Land der Bibel. Eine historische Geographie, Neukirchen-Vluyn 1984. F. S. Bodenheimer, Animal and Man in Bible Lands, Leiden 1960. O. Borowski, Agriculture in Iron Age Israel, Winona Lake/Ind. 1987.
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G. Dalman, Arbeit und Sitte in Palästina, 8 Bde., Berlin/New York 1962 ff. Y. Karmon, Israel. Eine wissenschaftliche Länderkunde, Darmstadt 1983 (WL 22). O. Keel/M. Küchler, Orte und Landschaften der Bibel. Ein Handbuch und Studien-Reisenführer zum Heiligen Land, 5 Bde., Göttingen 1984 ff. M. Zohary, Pflanzen der Bibel, Stuttgart 1995. W. Zwickel, Die Welt des Alten Testaments. Ein Sach- und Arbeitsbuch, Stuttgart 1997.
Als zweites kommt zu diesen Bedingungen, die von innen her das Land und demzufolge seine Geschichte gestalten, ein äußerer Faktor hinzu. Das Land Israel gehört in den größeren Raum des Alten Orients, eines geographischen, Wirtschafts- und Kulturraums, der vom Persischen Golf bis Ägypten reicht. Innerhalb dieses Großraums bildet Israel mit Syrien und dem Libanon die sog. „syropalästinische Landbrücke“, die einzige Landverbindung zwischen Afrika und Asien, später zwischen Europa und Asien. Israels Lage zwischen den Zentren der altorientalischen Welt ist daher zu seinen Ressourcen zu rechnen: Die Geschichte Israels in biblischer Zeit ist nicht von der Geschichte der Großreiche des Altertums zu trennen.
das Land in seiner Umwelt
Die Großreiche des Alten OrientsBedeutend für die im Alten Testament verarbeitete Geschichte sind dabei folgende Großreiche (in der Reihenfolge ihrer Beziehungen zu Israel): – Ägypten: Die Geschichte des Alten Ägypten beginnt ca. 3000 v. Chr. und endet erst in christlicher Zeit. Das Land hat vor allem von ca. 1800 bis 1100 v. Chr. und dann noch einmal zwischen ca. 620 und 600 v. Chr. großen Einfluss auf das Gebiet Israels und seine Bewohner gehabt. – Assyrien: Die Assyrer waren ein Volk Mesopotamiens mit ihrem Kerngebiet im heutigen Zentralirak. Zwischen 850 und 605 v. Chr. beherrschte das (neu-) assyrische Großreich den gesamten Raum des Alten Orients und somit auch das Gebiet Israels. – Babylonien: Auch die Babylonier stammen aus Mesopotamien; ihr Stammland lag am Persischen Golf. Das (neu-)babylonische Großreich besiegte die Assyrer und beherrschte den Orient von 605 bis 539 v. Chr. – Persien: Die Perser eroberten, aus dem heutigen Iran kommend, das babylonische Reich und dehnten ihre Herrschaft bis an die kleinasiatische Küste und über ganz Ägypten aus. Die persische Herrschaft dauerte von 539 v. Chr. bis 331 v. Chr. – Griechenland: Alexander der Große besiegte die Perser. Nach seinem Tod wurden Griechenland und der Orient unter verschiedenen griechischen Herrschern (den sog. Diadochen) aufgeteilt; die griechische Herrschaft im Orient währte von 333 bis 63 v. Chr. – Rom: Die Römer besiegten im Jahr 63 v. Chr. die griechischen Diadochen und beherrschten das Gebiet bis ins 5. Jh. n. Chr.
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Historischer Vorspann
Abb. 3.1.2 Die Großreiche des Alten Orients
eine Geschichte der Fremdherrschaft
Somit ist die Geschichte Israels in alt- und neutestamentlicher Zeit weitgehend eine Geschichte der Fremdherrschaft. Zumindest konnten die Israeliten nur selten und immer nur für kurze Zeit gestaltend in die Weltgeschichte eingreifen. Nicht immer und vor allem nicht grundsätzlich waren diese Erfahrungen von Fremdherrschaft auch gleichzeitig Erfahrungen von Gewaltherrschaft. Insbesondere aber − und das ist das Entscheidende − wurden diese Herrschaften nicht unbedingt als „fremd“ empfunden. Zwar wurden auf Seiten Israels wie der Nachbarreiche die jeweils andere Sprache, Kultur und Religion wahrgenommen, häufig gab es auch ein Gefühl der eigenen Überlegenheit. Damit verband sich jedoch auf keiner Seite eine Vorstellung von nationaler, ethnischer oder anderer Identität, die das andere Volk von vornherein als „fremd“ wahrnahm. Häufig überwog sogar das Bewusstsein der Ähnlichkeiten, solange die Fremdherrschaft nicht tatsächlich in Gewalt umschlug. Gleichzeitig entwickelte das Volk Israel unter den Bedingungen des dauerhaften Kontakts mit den Nachbarkulturen ein Bild von sich selbst als von allen anderen unterschieden. Dieses SelbstBild prägt das Alte Testament. Es ist aber nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis der Geschichte Israels. Diese Entwicklung soll in den folgenden Abschnitten nachgezeichnet werden.
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Die Vorgeschichte Israels (13.–11. Jh. v. Chr.)
K. R. Veenhof, Geschichte des Alten Orients bis zur Zeit Alexanders des Großen, Göttingen 2001 (GAT 11).
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Formulieren Sie mit Ihren eigenen Worten, inwiefern das Alte Testament ein Geschichtsbuch ist.
2. Formulieren Sie mit eigenen Worten die Aufgabe und die Problematik einer Geschichte Israels.
3. Prägen Sie sich die Geographie Israels anhand der Karte ein. 4. Merken Sie sich die Lage und die historische Abfolge der altorientalischen Großreiche.
5. Inwiefern kann man sagen, dass Israels geographische Lage seine wichtigste Ressource ist?
Die Vorgeschichte Israels (13.–11. Jh. v. Chr.) In keinem Bereich der Geschichte Israels ist es so schwierig, ein klares Bild von den Vorgängen und Ereignissen zu gewinnen, wie in ihrer Frühzeit. Auf der einen Seite gibt das Alte Testament in sieben Büchern (Genesis bis Richter) einen lückenlosen und als Erzählung auch weitgehend stimmigen Bericht. Auf der anderen Seite gibt es keine außerbiblischen Quellen schriftlicher oder nicht schriftlicher Art, die den biblischen Bericht von außen überprüf bar machen, zumindest nicht im Sinne eines annähernd vollständigen Befundes. Das Problem wird durch einen weiteren Sachverhalt noch verschärft. Nach der alttestamentlich dargestellten Geschichte von Abraham bis zu den Richtern vollzieht sich in dieser Zeit der eigentliche Gründungsakt des Volkes Israel, und der Anspruch auf sein Siedlungsgebiet „von Dan bis Beerseba“ wird erhoben. Seit Abrahams Berufung (Gen 12,1−3) sind Israel und sein Gott eine Einheit; diese Einheit bekommt ihr Ziel im Gelobten Land. Insofern kann man im Grunde nicht von einer „Vorgeschichte Israels“ sprechen. In alttestamentlicher Perspektive ist dies das erste − und wichtigste − Kapitel der (Heils-)Geschichte. Demgegenüber konnte die entstehungsgeschichtliche Analyse der alttestamentlichen Texte den Nachweis führen, dass die Großerzählung von Genesis bis Richter aus (mindestens) drei verschiedenen Überlieferungseinheiten besteht, die voneinan-
3.2 der wichtigste Abschnitt der Geschichte Israels?
konkurrierende Traditionen von Israels Ursprüngen
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Historischer Vorspann
nicht Nacheinander, sondern Nebeneinander
der unabhängig sind: den Überlieferungen über die „Erzväter“ und ihre Familien (Gen 12−50), der Geschichte von Mose und dem Auszug aus Ägypten (Ex 1−15) und der Überlieferung vom Einzug ins Land (Dtn, Jos, Ri). Zugrunde gelegt sind hierbei vor allem die Methoden der Literarkritik und der Redaktionsgeschichte (→ Kap. 2.5). Unter der Oberf läche der erzählerischen Stimmigkeit der Texte lassen sich durchaus Spannungen und Widersprüche im Detail beobachten. So ist in Gen 12−50 durchgängig von kleinräumigen Familiengeschichten die Rede, wohingegen Ex 1−15 die politische Geschichte eines Volkes beschreibt. Der Anschluss von Ex an Gen ist also nur lose. Auch das Gottesbild ist unterschiedlich. In Gen 12−50 nimmt Gott von Fall zu Fall persönlich Kontakt zu den Vätergestalten auf; in Ex 1−15 bestimmt er die Weltgeschichte und kämpft für sein Volk. Diese beiden Hauptüberlieferungsstränge sind nachträglich miteinander verbunden worden, wobei Widersprüche zum Teil bestehen blieben (→ Kap. 2.2; 4.3.2; 4.3.3). Man muss daher die Texte über die früheste Geschichte Israels nach ihren einzelnen Überlieferungsstücken getrennt betrachten und daraus − mit großer Unsicherheit − historische Strukturen einer „Vorgeschichte Israels“ ableiten. So ist es sachlich geboten, den Erzählablauf von Gen 12−Jos 24 nicht als ein historisches Nacheinander verschiedener Epochen zu betrachten, sondern als ein Nebeneinander unterschiedlicher sozialer Gruppen, aus denen später das Volk Israel wurde. K. Schmid, Erzväter und Exodus. Untersuchungen zur doppelten Begründung der Ursprünge Israels innerhalb der Geschichtsbücher des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1999 (WMANT 81).
3.2.1 Spätbronzezeit: 1500–1150 v. Chr.
„Israel“ im spätbronzezeitlichen Kanaan Die Frühzeit der Geschichte Israels fällt in die Epoche der Spätbronzezeit (ca. 1500−1150 v. Chr.). Die dominierenden orientalischen Großreiche dieser Zeit waren das ägyptische Neue Reich (ca. 1550−1070 v. Chr.) und das syrisch-kleinasiatische Hethiterreich (ca. 1350−1200 v. Chr.). Der Raum dazwischen wurde von Ägyptern und Hethitern u. a. als „Kanaan“ bezeichnet.
Der Name „Kanaan“Der Name „Kanaan“ für das Gebiet, das später von Israel beansprucht wurde, begegnet auch im Alten Testament, bezeichnet dort aber eher eine Kultur. Der
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Die Vorgeschichte Israels (13.–11. Jh. v. Chr.)
Begriff „Kanaan“ stammt aus dem Akkadischen (Babylonisch-Assyrischen, dort: kinah∞ h∞ u). Seine Bedeutung ist unklar, könnte aber etwas mit Purpur zu tun haben. In der Perspektive des Alten Testaments endet die Geschichte Kanaans mit dem Einzug Israels in das ihm verheißene Land (um 1000 v. Chr.). Obwohl das strukturell nicht ganz falsch ist, begegnet „Kanaan/Kanaanäer“ als Selbstbezeichnung der syrisch-libanesischen Küstenvölker (Phönizier) noch weit bis in die christliche Zeit. Entgegen der Perspektive Israels sind die Kanaanäer also niemals wirklich aus dem Gebiet verschwunden. Aber auch in ägyptischen Quellen wird der Name „Kanaan“ ab dem Ende der Spätbronzezeit immer seltener verwendet.
Das spätbronzezeitliche Kanaan war keine politische Einheit, d. h. es gab kein „Volk“ der „Kanaanäer“. Vielmehr handelt es sich um einen gemeinsamen Wirtschafts- und Kulturraum. Er zerfiel in viele städtische Zentren mit ihrem mehr oder weniger großen Umfeld. Die Geschichte dieser Städte reicht teilweise bis in die Frühbronzezeit (ca. 3200−2000 v. Chr.) zurück. Die Städte konzentrierten sich vor allem auf die Küste, sie reihten sich von Ugarit in Syrien bis Gaza an der ägyptischen Grenze dicht aneinander. Ihr Einzugsbereich war nicht groß, weil der fruchtbare Küstenstreifen klein und nur dünn besiedelt war. Im Gebiet des späteren Israel hat nur die Jesreelebene ein größeres Hinterland der Küste und einen Zugang ins Landesinnere. Die (spät-)bronzezeitlichen Städte Kanaans zeigten eine hoch entwickelte Kultur mit allen Merkmalen urbanen Lebens: eine nach Funktionen gegliederte Gesellschaft mit Handwerkern, Militärs, Priestern, Baustrukturen mit öffentlichen und privaten Gebäuden sowie Tempel und Palast, eingebettet in einen überlegten Stadtplan, Infrastruktur (d. h. Vorratswirtschaft, Wasserversorgung, Straßenbau, Entsorgungswirtschaft usw.) und eine soziale Differenzierung nach Arm und Reich. Dabei bildete jede Stadt eine eigene politische Einheit, die religiös durch die Stadtgottheit symbolisiert wurde. Man spricht daher für das bronzezeitliche Kanaan von einer Stadtstaatenkultur. Im späteren Gebiet Israels lag ihr Zentrum in der Jesreelebene mit dem Hauptort Megiddo, ein weiterer wichtiger Ort war Hazor in Galiläa. Im Binnenland gab es als Stadtstaaten nur Sichem und Jerusalem, beide waren allerdings sehr klein und nur von geringer Bedeutung. Die kanaanäischen Stadtstaaten verdanken ihre Entstehung und Entwicklung den Großmächten Ägypten und Mesopotamien: Diesen hoch entwickelten Reichen mangelte es notorisch an Rohstoffen für Bauprojekte − Holz und Stein. Über diese verfüg-
„Kanaan“ als Kulturraum
Stadtstaatenkultur
im Geflecht mit den Großmächten
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„Israel“ entsteht in Kanaan
Historischer Vorspann
te jedoch der kanaanäische Raum. Außerdem trafen dort die zentralen Handelswege − die Seewege des Mittelmeers und die Karawanenrouten Vorderasiens − aufeinander. Die kanaanäischen Stadtstaaten waren daher Rohstofflieferanten und Transitstationen in dieser sehr frühen Form eines „globalisierten“ Wirtschaftssystems, waren aber vollständig von der Nachfrage aus den Machtzentren abhängig. Die kanaanäische Stadtstaatenkultur bildet die Matrix für die früheste Geschichte Israels. Dabei sieht sich das Israel der alttestamentlichen Texte ethnisch, kulturell und religiös in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu Kanaan. In historischer Perspektive stimmt das nur bedingt: Israel und Kanaan waren sprachlich und religiös eng verwandt, die Vorläufer des späteren Volkes Israel gehörten zur Peripherie des bronzezeitlichen Kultur- und Wirtschaftsraums. An der Peripherie der Stadtstaatenkultur, aber in ihr System eingebunden, lebten im Hinterland der Städte wirtschaftende (Klein-)Bauern, die die Städte mit Nahrungsmitteln usw. versorgten, nomadische Viehzüchtergruppen und weitere nicht dauerhaft sesshafte Gruppierungen. Alle diese Gruppen gehören zu den Vorläufern des späteren Volkes Israel.
Nomaden im Alten Testament und im Alten OrientZu den bis heute bekanntesten Abschnitten der Frühgeschichte Israels gehören die Geschichten über Abraham, Isaak und Jakob und ihre Familien („Erzväter“: Gen 12–50). Nach der heilsgeschichtlichen Logik des Alten Testaments waren allein diese die Urahnen des Volkes Israel und lebten in nicht sesshafter („nomadischer“) Lebensweise. Gott jedoch verhieß ihnen eine dauerhafte Heimat. Tatsächlich gehören nomadische Gruppen zu den Vorläufern Israels, doch die nomadische Lebensweise endete nicht abrupt mit der Volkwerdung Israels, sondern bestand auch danach weiter. Im ganzen Vorderen Orient ist das Nomadentum seit vorgeschichtlicher Zeit belegt, es hält sich bis heute. Ab ca. 1900 v. Chr. werden Nomaden auch in schriftlichen Quellen erwähnt. Typisch für diese frühen vorderorientalischen Nomaden ist, dass sie eher kleinräumig operieren. Die Kleinvieh (Schafe und Ziegen) haltenden Gruppen (meist Familienverbände), die im jahreszeitlichen Wechsel oder anderen Rhythmen von Weideplatz zu Weideplatz ziehen, bleiben in Reichweite von Brunnen, Quellen oder Flüssen und stehen demzufolge auch immer in engem Kontakt mit Städten und Dörfern. Diese Nomaden – auch die des Alten Testaments – sind also zu unterscheiden von den Beduinen, wie sie heute von der Sahara bis nach Zentralasien leben und wie Filme und Romane die Vorfahren Israels oft darstellen. Beduinen halten Kamele, können daher weite Entfernungen überbrücken und sind weniger von Wasser und Weiden abhängig als Kleinviehnomaden. Das Kamel wurde aber erst um ca. 1000 v. Chr. domestiziert und für lange Zeit zunächst nur als Transporttier für Karawanen eingesetzt.
Die Vorgeschichte Israels (13.–11. Jh. v. Chr.)
Das frühgeschichtliche vorderorientalische Nomadentum war überaus vielfältig. Es gab Steppennomaden, die fast ohne Kontakt zur sesshaften Bevölkerung lebten; so wird vor allem Abraham geschildert. Außerdem finden wir sog. Kulturlandnomaden, die im Umfeld von Städten und Dörfern lebten, sowie Gruppen, die nur zum Teil mit ihren Herden umherzogen, während ein anderer Teil sesshaft lebte (sog. mobile Viehwirtschaft). Die beiden letzteren Gruppen bilden eher das Vorbild für den biblischen Jakob. Im Gebiet Israels hängt die nomadische Lebensform vor allem vom Siedlungsraum der entsprechenden Gruppe ab: Das zentrale Bergland und die Ebenen begünstigen das Kulturlandnomadentum und die mobile Viehwirtschaft, wohingegen in der Wüste Juda und im Negev eher Steppennomaden vorkommen. Bei den Nomaden gestaltet sich das Leben im Familienverband. Der Familienvater – häufig mit mehreren Ehefrauen – steht an der Spitze der Gruppe, die aus seinen Frauen, Kindern, Enkeln, Geschwistern und Schwiegerkindern besteht. Er hat die Aufgaben des Anführers, Richters und auch Priesters inne. Vorsteher einzelner Familienverbände sind einander gleich gestellt, über Heiraten, Wasser- und Weiderechte muss von Fall zu Fall verhandelt werden. Ebenso vollzieht sich auch der Kontakt mit Städten und Dörfern. Durch Heiraten entstehen mit der Zeit größere Verbände wie Sippen oder ganze Stämme. Die Geschichten um die Familien Abrahams, Isaaks und Jakobs schildern sagenhafte Figuren, nicht historische Personen. Die Texte selbst setzen häufig Verhältnisse aus der Zeit nach 1000 v. Chr. voraus: Die Aramäer der Jakobsgeschichte und die Philister bei Abraham und Isaak erscheinen erst um diese Zeit auf der historischen Bühne. Gleichwohl können die Überlieferungskerne älter sein. Vermutlich gab es keine ungebrochene historische Entwicklung, die von der Familie zum Volk Israel und vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit verlief. Vielmehr kam es daneben zur Aufsplitterung größerer Verbände, zur Nomadisierung sesshafter Gruppen u. v. m. Eine Sonderform des frühgeschichtlichen Nomadentums im Vorderen Orient bilden die sog. Habiru bzw. Hapiru. Der Name, der in verschiedenen ägyptischen und mesopotamischen Quellen auftaucht, bezeichnet nomadisierende Gruppen, die (neben der Viehzucht, von der sie lebten) militärisch und/oder räuberisch auftraten. Vielfach wurden sie als paramilitärische Verbände von rivalisierenden Stadtstaaten in Dienst genommen, scheinen aber auch gewissermaßen auf eigene Rechnung gearbeitet zu haben. Eindeutige alttestamentliche Zeugnisse über die Habiru/Hapiru als Vorläufer Israels gibt es nicht. Im Alten Testament werden sie nicht genannt. Der früher oft vermutete sprachliche Zusammenhang zwischen dem akkadischen Begriff Habiru und dem hebräischen ‘Ibri (= Hebräer) ist inzwischen fragwürdig geworden. Trotzdem könnten auch Habiru zu den Vorläufergruppen Israels gehört haben. Dass das Alte Testament die Überlieferungen über eine Frühzeit in nomadischen Familiengruppen an den Anfang seiner Geschichte setzt, ist der Sache nach korrekt. Das Volk Israel ging u. a. aus solchen Gruppen hervor und nahm im Laufe seiner Geschichte auch immer wieder kurzzeitig solche Lebensformen an. Die Geschichten lassen sich jedoch nicht mit historischen Daten verbinden.
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H. Klengel, Zwischen Zelt und Palast. Die Begegnung der Nomaden und Sesshaften im alten Vorderasien, Wien 1972. E. A. Knauf, Die Umwelt des Alten Testaments, Stuttgart (NSK.AT 29), 58–63. K. R. Veenhof, Geschichte, 170–176. Ägypten in Kanaan
Vom 15. bis zum 13. Jh. v. Chr. beanspruchte Ägypten die Herrschaft über Kanaan. Diese Vorherrschaft wurde jedoch nicht mit übermäßiger Gewalt durchgesetzt. Die Ägypter hatten nur wenige echte Stützpunkte im Land (in Bet-Schean, Japho und Gaza). Statt einer Besatzung überließen sie den Stadtstaaten deren Autonomie, legten aber vertraglich fest, dass die einzelnen Städte den Ägyptern Abgaben, Loyalität und militärische Unterstützung schuldeten. Im Gegenzug genossen die Städte neben ihrer Eigenständigkeit Anteile am Handelsprofit und im Konfliktfall militärische Unterstützung aus Ägypten. Die Ägypter überwachten die Einhaltung dieser Verträge durch in Kanaan stationierte Beamte und durch mehr oder weniger regelmäßige Feldzüge nach Kanaan. Diese Feldzüge dienten manchmal tatsächlich der Niederschlagung kleinerer Konflikte, meist waren sie jedoch eine reine „Drohkulisse“. In diesen Zusammenhang gehört die früheste Erwähnung „Israels“.
Israel und die Merenptah-SteleDer ägyptische Pharao Merenptah (auch Merneptah: 1213–1204 v. Chr.) berichtet in einer Siegesinschrift u. a.: „Israel ist verwüstet und hat kein Saatgut“. Dabei ist der Eigenname Israel so geschrieben, dass er auf eine Menschengruppe hinweist, nicht auf eine politische Einheit wie ein Volk oder einen (Stadt-)Staat, wahrscheinlich auch auf keine Landschaft. Bei seinem Feldzug nach Kanaan hat der Pharao (wahrscheinlich im Jahr 1208 v. Chr.) also eine Gruppe „Israel“ besiegt. Die genaue Interpretation der gesamten Inschrift ist umstritten. Unklar ist u. a., wo die Gruppe „Israel“ genau zu lokalisieren ist. Wahrscheinlich ist der Sitz der Gruppe im zentralpalästinischen Bergland zu suchen. Die Inschrift belegt immerhin so viel, dass es um 1200 v. Chr. bereits eine größere Gruppe gab, die sich „Israel“ nannte und die vermutlich – darauf verweist das „Saatgut“ – im kulturlandnomadischen oder kleinbäuerlichen Verband lebte. Sie kann schon lange im Land ansässig gewesen sein, ebenso gut aber auch eine neue Formation dargestellt haben. Der Pharao berichtet auch nicht, was mit den unterlegenen „Israeliten“ geschehen ist. Insofern ist die älteste (außerbiblische) Erwähnung Israels relativ wenig aussagekräftig; sie lässt sich in keiner Weise eindeutig mit Selbstzeugnissen Israels verbinden. M. Görg, „Israel“ in Hieroglyphen, in: BN 106 (2001), 21–27.
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Die Vorgeschichte Israels (13.–11. Jh. v. Chr.)
Die ägyptische Oberhoheit über Kanaan konnte also zu Konflikten führen, war aber weder besonders nachdrücklich noch besonders gewaltsam und hinterließ in Kanaan eine Menge kultureller Einf lüsse, die in der Geschichte Israels noch lange nachwirkten. Gleichwohl enthält die alttestamentliche Überlieferung über Israels Frühzeit die Erinnerung an einen tödlichen Konflikt mit den Ägyptern. Der Auszug aus Ägypten (Exodus)
3.2.2
M. Görg, Ausweisung oder Befreiung? Neue Perspektiven zum sogenannten Exodus: Kairos 20 (1987), 272–280. S. Herrmann, Israels Aufenthalt in Ägypten, Stuttgart 1970 (SBS 40). E. Zenger/P. Weimar, Exodus. Geschichte und Geschichten der Befreiung Israels, Stuttgart 1975 (SBS 75).
Die Erzählung vom Auszug der Israeliten aus Ägypten unter Führung des Mose findet sich in Ex 1−15. Ihr Höhepunkt ist die Rettung der Israeliten vor einer ägyptischen Streitwagentruppe am „Schilfmeer“ (Ex 14). Dieser Exodus ist aus der Sicht des Alten Testaments das Hauptereignis der Geschichte Israels: Bezugnahmen darauf finden sich an über 700 Stellen im Alten Testament. Die Geschichte ist aus einer streng theologischen Perspektive erzählt. Schon das macht eine historische Rückfrage extrem schwierig. Hinzu kommt, dass Ex 1−15 zwar geschichtliche Ereignisse schildert − die Flucht einer Gruppe von Zwangsarbeitern und ihre wunderbare Rettung −, aber keinen Hinweis darauf gibt, wann sich das Ereignis abgespielt haben soll. Die beteiligten ägyptischen Pharaonen werden nicht mit Namen genannt, die beiden Städte Pitom und Ramses, die die Israeliten gebaut haben sollen (Ex 1,11), bieten keine exakten Anhaltspunkte. Die älteste Textfassung der Geschichte vom Exodus aus Ägypten lässt sich nur schwer rekonstruieren und ist vermutlich erst im 8. Jh. v. Chr. verfasst worden (→ Kap. 4.2.4). Zwar gibt es keine ägyptischen Quellen, die den Exodus zweifelsfrei belegen, aber ägyptische Texte dokumentieren seit dem 14. Jh. v. Chr. immer wieder Wanderungsbewegungen an der östlichen Grenze Ägyptens, z. B. dieser Bericht aus dem 12. Jh. v. Chr.: „Eine andere Mitteilung für meinen Herrn: Wir sind damit fertig geworden, die Schasu-Stämme von Edom durch die Festung … in Tkw passieren zu lassen bis zu den Teichen in Tkw, um sie und ihr Vieh durch den
das wichtigste Ereignis der Geschichte?
der biblische Text
historische Rahmenbedingungen
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Historischer Vorspann
Willen des Pharao, der guten Sonne eines jeden Landes, am Leben zu erhalten.“ (Papyrus Anastasi VI, 51–54. Übersetzung nach: S. Herrmann, Aufenthalt, 43) Einwanderer in Ägypten
Dienstpflicht, aber keine Sklaverei
Kriegsgefangene
„Schasu“ ist der ägyptische Begriff für Nomaden aller Art. Die hier erwähnten kommen aus der Region zwischen Rotem und Totem Meer. Damit sind sie nach ägyptischem Verständnis Untertanen des Pharao, der ja die Herrschaft über ihr Herkunftsgebiet beansprucht. Ihre Ein- und Ausreise wurde daher sorgfältig kontrolliert. Die Schasu dieses Textes sind offenbar auf der Suche nach Weiden und Wasser ins Land Ägypten gekommen. Weitere Gründe für das kurz- oder längerfristige Einwandern nach Ägypten waren Arbeitssuche oder Flucht vor Hunger oder Konflikten. Über den Rechtsstatus solcher Einwanderer ist nichts bekannt. Hielten sie sich für längere Zeit in Ägypten auf, werden sie auf die eine oder andere Weise in Recht und Wirtschaft des Landes eingegliedert worden sein. Das bedeutet, dass sie für öffentliche Projekte Ägyptens arbeiten mussten. Diese Dienstverpf lichtung galt in Ägypten für Einheimische und Fremde. Es handelte sich dabei nicht um Sklaverei im herkömmlichen Sinne, vielmehr ähnelt das Konzept der mittelalterlichen Fronarbeit: Für Schutz und Versorgung, die der Herrscher gewährte, schuldeten ihm seine Untertanen Arbeit. Dieser Verpflichtung konnte man sich nicht entziehen, die Arbeiter hatten aber gewisse Rechte. Mit Sicherheit zur Zwangsarbeit herangezogen wurden Kriegsgefangene. Sie wurden in der Regel bei den oben erwähnten Feldzügen der Ägypter gefangen genommen und nach Ägypten gebracht. Auch Angehörige der Gruppe „Israel“, die 1208 von Merenptah besiegt wurde, könnten auf diesem Weg nach Ägypten gekommen sein; sie sind aber nicht zwangsläufig mit denen identisch, die die Exodus-Erfahrung erlebten. Fluchtbewegungen von Zwangsarbeitern kamen vor: „Noch eine Angelegenheit: Ich wurde vom Palast aus … auf den Weg geschickt … um diese zwei [flüchtigen] Arbeiter zu verfolgen. Als ich die Mauer von Tkw erreichte, teilte man mir mit: ‚Es wird berichtet aus dem Süden, dass sie durchgekommen sind.‘ (…) Wenn mein Brief euch erreicht, teilt mir alles mit: Wer hat sie gefunden? Welche Truppe fand sie? Welche Leute sind hinter ihnen her?“ (Papyrus Anastasi V. Zitiert nach W. W. Hallo/K. L. Younger (Hg.), The Context of Scripture, Bd 1, Leiden 2003)
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Die Vorgeschichte Israels (13.–11. Jh. v. Chr.)
Die Ostgrenze Ägyptens, der Zugang nach Kanaan, war also ein Gebiet, in dem ständig Einwanderung, Auswanderung und Flucht stattfand. Die Verfolgung einer nichtägyptischen Gruppe durch die Ägypter ist also plausibel, wenn auch aus den Quellen kaum nähere Umstände bekannt sind.
eine unruhige Grenze
Mose und der ExodusDer Held der Bücher Exodus bis Deuteronomium ist Mose. Als Befreier aus Ägypten, Empfänger und Vermittler des göttlichen Gesetzes ist er die prominenteste Figur des Alten Testaments. Seine Historizität ist jedoch umstritten und tatsächlich wenig wahrscheinlich. Im alttestamentlichen Bild des Mose sind viele Aspekte vereinigt: Er erscheint als Anführer, Krieger, Richter, Gesetzgeber, Prophet und Priester, um nur einige zu nennen. So ist es schwierig, ein klares Bild dieses Mannes zu gewinnen. Unklar ist sogar, ob die Figur des Mose von Anfang an mit der Tradition vom Exodus aus Ägypten verbunden war. Die Geschichte von Moses Geburt und Rettung (Ex 2,1–10) ist nicht historisch. Sie ist die Variation einer assyrischen Königslegende (sog. Sargon-Legende), die sich erst im 7. Jh. v. Chr. verbreitete (→ Kap. 4.2.4). Ex 2 will u. a. den merkwürdigen Sachverhalt erklären, dass Mose, der Befreier aus Ägypten, einen ägyptischen Namen trägt. Moses Name wird zwar in Ex 2,10 mit einem hebräischen Wortspiel erklärt, doch dieses geht nach den Regeln der hebräischen Sprache nicht ganz auf. „Mose“ ist vielmehr eine Hebraisierung ägyptischer Namensformen mit dem Element „msj“ (= gebären) und bedeutet in etwa „Kind“. Normalerweise wurden in Ägypten Namen dieser Art mit einem Verweis auf einen Gott verbunden: Ramses = Ra hat geboren. Es ist denkbar, dass der Exodus tatsächlich unter der Führung eines Mannes namens Mose stattfand, der möglicherweise Ägypter war. Dafür gibt es einige ägyptische Analogien, die historischen Konturen des alttestamentlichen Mose sind aber nicht mehr zu ermitteln. Gegen Ende des ägyptischen Neuen Reiches, von ca. 1200–1150 v. Chr., kam es in Ägypten verstärkt zu Rebellionen gegen das regierende Königshaus und zu Fluchten und Vertreibungen Unzufriedener aus Ägypten. An diesen Ereignissen waren auch Menschen aus Asien beteiligt, in einem Fall war sogar ein gebürtiger Syrer der Anführer. G. Fischer, Das Mosebild der Hebräischen Bibel, in: E. Otto (Hg.), Mose. Ägypten und das Alte Testament, Stuttgart 2000 (SBS 189), 84–120. M. Görg, Mose – Name und Namensträger. Versuch einer historischen Annäherung, in: E. Otto (Hg.), Mose, 17–42. R. Smend, Mose als geschichtliche Gestalt, in: Ders., Bibel, Theologie, Universität, Göttingen 1997, 5–20. Ders., Die Methoden der Moseforschung, in: Ders., Zur ältesten Geschichte Israels. Gesammelte Studien II, München 1987 (BEvTh 100), 45–115. I. Willi-Plein, Ort und literarische Funktion der Geburtsgeschichte des Mose, in: VT 41 (1991), 110–118.
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Historischer Vorspann
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Informieren Sie sich umfassend über die Geschichte der Bronzezeit anhand K. R. Veenhof, Geschichte, 87−198 oder: E. A. Knauf, Umwelt, 87−106.
2. Informieren Sie sich über das altorientalische Nomadentum. Lesen Sie Gen 18. Welche Art von Nomadentum wird dort geschildert?
3. Lesen Sie diesen ägyptischen Text: „29. Jahr, 6. Monat, 19. Tag: An diesem Tag Vorbeimarsch der Belegschaft an den fünf Kontrollmauern der Nekropole (= Friedhofsanlage) mit Sprechchören: ‚Wir haben Hunger! Achtzehn Tage sind schon in diesem Monat vergangen (und unsere Rationen sind noch nicht da)!‘ Und sie setzten sich auf den Boden an der Rückseite des Totentempels von Thutmosis III. … Sie sagten zu den Aufsehern: ‚Vor Hunger und Durst kamen wir hierher. Es gibt keine Kleidung, keine Salben, keinen Fisch, kein Gemüse. Wendet euch diesbezüglich an den Pharao, unseren guten Herrn, und an den Wesir, unseren Vorgesetzten, dass man uns unsere Versorgung liefert!‘ Und die Rationen des 5. Monats wurden ihnen an diesem Tag ausgegeben.“ (Zitiert nach: E. Zenger/P. Weimar, Exodus, 108)
Was erfahren Sie in diesem Text über die Lage ägyptischer Zwangsarbeiter? Lesen Sie im Vergleich dazu Ex 5,6−11.14.18: Wie wird die Lage dort geschildert? Versuchen Sie, die Unterschiede zu erklären. 4. Lesen Sie den oben genannten Aufsatz von Georg Fischer und zeichnen Sie die wichtigsten Aspekte der Gestalt des Mose nach. Inwiefern ist Mose − Fischer zufolge − eine glaubwürdige Gestalt?
3.2.3
Die Entstehung Israels („Landnahme“) A. Berlejung, Geschichte, 93–96. I. Finkelstein/N. A. Silberman, Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel, München 2004. V. Fritz, Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jh. v. Chr., Stuttgart 1996 (BE 2). C. Frevel, Abriss, 606–606, 611–613. H. Weippert/M. Weippert, Die Vorgeschichte Israels in neuem Licht, in: ThR 56 (1991), 341–390.
um 1000 v. Chr.: Ende der bronzezeitlichen Kultur
Ab etwa 1200 v. Chr. kam es zu einem großen Umbruch im gesamten Alten Orient, der auch Kanaan erheblich veränderte. Er lässt sich kaum durch schriftliche Zeugnisse, wohl aber anhand archäologischer Zeugnisse beobachten: Die großen Städte Kanaans wurden innerhalb eines Zeitraums von ca. 200 Jahren zerstört, manchmal sogar mehrfach hintereinander. Der Wiederaufbau vollzog sich häufig erst nach längerer Pause und meist auf geringerem technischen und kulturellen Niveau.
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Die Vorgeschichte Israels (13.–11. Jh. v. Chr.)
Gleichzeitig mit diesem Niedergang der Städte nahm die dauerhafte Besiedlung in Gebieten deutlich zu, die vorher nicht oder nur dünn besiedelt gewesen waren: in Galiläa und im zentralen Bergland. Dort entstand eine Vielzahl kleiner und kleinster dörflicher Siedlungen, die in manchem (Alltagskeramik, Bestattungskultur) die Eigenarten der Stadtkultur fortsetzten, in anderen Dingen (Hausbau, Vorratshaltung) aber eigene Merkmale zeigten. Das ehemalige Kanaan wandelte sich von der Stadtstaatenkultur zur Dorf kultur (Deurbanisation). Auch auf der großen politischen Bühne fanden Umwälzungen statt: Die zweite Weltmacht des spätbronzezeitlichen Orients, das Hethiterreich, ging unter, ebenso die mykenische Kultur Griechenlands. Das bis dahin unter einem Pharao vereinigte ägyptische Neue Reich löste sich in ein Nebeneinander mehrerer Herrschaftsbereiche auf, und die Ägypter zogen sich weitgehend aus Kanaan zurück. In den ehemals ägyptisch-kanaanäischen Raum der Südküste Kanaans drangen − vermutlich aus der Ägäis − die Philister ein und übernahmen die dortigen Städte. Epochengeschichtlich gehört dieser Umbruch in die Eisen-IZeit (12./11. Jh.); Eisen als hauptsächlich verwendetes Metall setzte sich aber nur langsam durch. Der Raum Kanaan bekam nun einen anderen Namen. Am Ende des Umbruchsprozesses stand ein Raum Israel. Daneben behauptete sich das Siedlungs- und Herrschaftsgebiet der Philister an der Küste, woher der (lateinische) Name „Palästina“ für diesen Raum stammt. Das Alte Testament gibt diesen Umbruch in Form einer Eroberungserzählung wieder. Sie schildert den gewaltsamen Weg des Volkes Israel vom Ostjordanland in das Land Israel (Dtn-Ri).
Wandel zur Dorfkultur
Schwächung der Großreiche
Beginn der Eisenzeit
aus Kanaan wird Israel
die Schilderung des Alten Testaments
Modelle der sog. „Landnahme“An kaum einem Punkt der Geschichte Israels scheinen der archäologische Befund und die textliche Darstellung so gut zusammenzupassen wie bei dieser sog. „Landnahme“. Biblische Archäologen des 20. Jahrhunderts, vor allem William Foxwell Albright und Yigal Yadin, haben daher die Zerstörungsschichten der bronzezeitlichen Städte mit dem biblischen Bericht verbunden. (Eine schöne Darstellung dieser Forschung geben I. Finkelstein/N. Silberman, Posaunen, 92–95). Diese Sicht auf die Landnahme bezeichnet man als „Invasions-“ bzw. „Eroberungsmodell“. Bei genauer Analyse stellt sich jedoch heraus, dass die Landnahme auf diesem Weg nicht befriedigend erklärt werden kann. Die Texte vor allem des Josuabuches spiegeln unterschiedlichste Traditionen wider, die erst spät zu einem Gesamtbild zusammengefügt worden sind, um nachträglich einen viel jüngeren
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Historischer Vorspann
Gebietsanspruch zu begründen. Auch der archäologische Befund ist im Einzelnen differenzierter, als es zunächst den Anschein hat. Die Zerstörungen der bronzezeitlichen Städte zogen sich über einen langen Zeitraum hin und sind von Stadt zu Stadt, von Region zu Region sehr unterschiedlich: teils vollständig, teils nur teilweise, manchmal mehrfach in kurzer Zeit hintereinander, manchmal einfach durch Verlassen der Stadt, von außen kommende Zerstörung steht neben inneren Ursachen (Brände, Erdbeben). Das alles deutet auf den Prozess eines lang andauernden Wandels, nicht auf den Siegeszug einer einzelnen Armee. Hinzu kommt, dass die Stadtbewohner keineswegs alle verschwanden, wie es der alttestamentliche Text suggeriert, sondern – vermischt mit anderen Bevölkerungselementen – unter veränderten Umständen im Land wohnen blieben. Je stärker diese beiden Faktoren – die Archäologie und der Text – in der Forschung wahrgenommen wurden, desto mehr wurde nach einem anderen Modell für die Entstehung Israels gesucht (vgl. dazu ausführlich C. Frevel, Grundriss, 606–610). Nach dem sog. „Infiltrationsmodell“ von Albrecht Alt ist mit dem (regional unterschiedlich verlaufenden) Sesshaftwerden der Nomaden zu rechnen, dem erst später längere Auseinandersetzungen mit den Städten folgten. Dieses Modell berücksichtigt zu wenig, dass die neuen Dorfsiedlungen auch Elemente der kanaanäischen Kultur bewahren. Das sog. „Revolutionsmodell“ von G.E. Mendenhall und N.K. Gottwald nimmt einen gewaltsamen Umsturz städtischer Unterschichten in Verbindung mit den aus Ägypten geflohenen „Israeliten“ an. Dieses Modell erklärt einiges, überschätzt aber das sozialrevolutionäre Potential städtischer Unterschichten der Bronzezeit. ein langsamer Umbruchprozess
Rivalität der Stadtstaaten
Sehr wahrscheinlich muss man mit einem komplexen Prozess rechnen, in dem sowohl innere Bedingungen zum Zusammenbruch der kanaanäischen Kultur führten, als auch äußere Faktoren diesen Prozess beschleunigten. Bei den inneren Bedingungen ist u. a. damit zu rechnen, dass die kanaanäischen Stadtstaaten immer in Rivalität zueinander standen, die sich häufig in Kleinkriegen entlud. Gekämpft wurde um die beste Position „am Markt“ und um mehr landwirtschaftlich nutzbares Hinterland. Berichte über solche Kleinkriege liegen schon aus dem 14. Jh. v. Chr. vor. Bei ihren Konkurrenzkämpfen bedienten sich die kanaanäischen Stadtfürsten häufig räuberischer Binnenlandbewohner (Habiru), die sie als Söldner einsetzten. Man muss außerdem mit einer ständigen Fluktuation der kanaanäischen Gesamtgesellschaft rechnen: Schulden, Armut oder Vertreibung konnten Stadtbewohner aufs Land treiben, was der Stadt Arbeitskräfte entzog. Umgekehrt konnten eine Dürre, ein Waldbrand, eine Seuche das ländliche Hinterland der Städte vernichten, seine Bewohner vertreiben und der Stadt Ressourcen entziehen.
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Zu den äußeren Faktoren gehören Erdbeben, die zwar gelegentlich weitab von Kanaan stattfanden, aber doch die Balance der Handelszentren untereinander störten, die Zuwanderung neuer Bevölkerungsgruppen in den östlichen Mittelmeerraum und nach Kleinasien (Phrygier, Philister u. a.), politische Instabilitäten in den Großreichen usw. Der Untergang des hethitischen Großreiches um 1180 v. Chr. dürfte den Anstoß gebildet haben, dass die schon lange latente Krise zum Ausbruch kam: Der Wegfall eines Garanten der Wirtschafts- und Sozialordnung zog alle anderen in Mitleidenschaft. In „Kanaan“ blieben nur zwei Gebiete vom Umbruch relativ unberührt: An der südpalästinischen Küste um die Städte Gaza, Asdod, Askalon und Ekron etablierten die Philister mit ägyptischer Unterstützung eine Nachfolgerin der kanaanäischen Stadtstaatenkultur. Nördlich des Karmel, in den Städten Tyrus, Sidon und Byblos behauptete sich die alte Kultur der Phönizier bis in die griechisch-römische Zeit ungebrochen. Als Konsequenz wurden die Karten im ländlichen Palästina/Israel gewissermaßen „neu gemischt“. Nomaden wurden sesshaft, weil ihnen die alte Infrastruktur fehlte, umgekehrt gingen sesshafte Kleinbauern und Viehzüchter zum Nomadendasein über, Städter und stadtnahe Bauern gingen aufs Land. Durch den Wegfall der städtischen Kultur konnten die Dorfbewohner ihre Ressourcen jetzt selbst nutzen, mussten aber alles Lebensnotwendige − einschließlich Werkzeug etc. − selbst erwirtschaften. Handels- und Bündnispartner waren jetzt frei wählbar, andererseits waren Dörfer und Siedlungen jetzt auch jeder kriegerischen Aktion schutzlos ausgeliefert. Diese Phase der Neuorientierung brauchte Zeit. Der Prozess der Entstehung Israels als Volk ist etwa mit 200 Jahren zu veranschlagen (ca. 1200−1000 v. Chr.). Die Entwicklung ist durch drei Merkmale gekennzeichnet: Zum einen vollzog sich eine räumliche Schwerpunktverlagerung. In der Bronzezeit hatte Kanaans wirtschaftliches und kulturelles Zentrum im Jesreel- und Karmelgebiet gelegen. Tatsächlich überlebte die kanaanäische Kultur hier noch am ehesten, wenn auch mit einigen Abstrichen. Die Gegend zwischen Megiddo und Hazor wurde zum Hinterland des südlichen Phönizien, an das entstehende Israel fand sie erst später Anschluss. Zum Kernland der neu entstehenden Gesellschaft wurde der mittlere Teil des zentralpalästinischen Gebirges zwischen Sichem und Jerusalem, biblisch gesprochen das Gebirge Ephraim und die Region Benjamin. Wahrscheinlich lag bereits das Siedlungsgebiet des Israel
Anstöße von außen
eine neue Situation in Palästina
ca. 1200–1000 v. Chr.
neue Zentren
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Historischer Vorspann
der Merenptah-Inschrift (→ Kap. 3.2.1) in diesem Bereich. Das entstehende Israel war eine Kultur des binnenländischen Berglandes; die Ebenen, Küste und die Steppe südlich von Hebron gingen zunächst eigene Wege. E. Gass, Das Gebirge Manasse zwischen Bronze- und Eisenzeit, in: ThQ 186 (2006), 96–117. H. M. Niemann, Kern-Israel im samarischen Bergland und seine zeitweilige Peripherie: Megiddo, die Jesreel-Ebene und Galiläa im 11. bis 8. Jh. Archäologische Grundlegung, biblische Spiegelung und historische Konsequenzen, in: UF 35 (2003), 421–486. U. Zwingenberger, Dorfkultur der frühen Eisenzeit in Mittelpalästina, Freiburg (Schweiz)/ Göttingen 2001 (OBO 180). veränderte Gesellschaftsformen
Zum zweiten fand eine Verschiebung der Sozialstruktur statt. Die Angehörigen der früheisenzeitlichen Binnenlandkultur waren vor allem in Familienverbänden organisiert. Die Sozialstruktur des bäuerlichen Hinterlandes und der Nomadengruppen der Bronzezeit wurde jetzt zur dominanten Organisationsform des Landes. Von ca. 1200−1000 v. Chr. entwickelte diese Struktur gemeinsam mit dem Siedlungsprozess ihre eigene Dynamik: „Mit dem Siedlungswachstum in der Eisenzeit IB … wachsen dort die Niederlassungen zu Dörfern, die Dörfer zu regionalen Zentren (…) Es kam zu Sippen, Stämmen und Stammesverbünden. (…) Mehrere Familien bilden gemeinsam eine Sippe. Regionale politische Zusammenschlüsse von Sippen … bilden einen Stamm. Der Stamm ist die politische Organisationsform nichtstädtischer Gesellschaftsformen, gleich ob es sich um Sesshafte, mobile Bauern oder Viehzüchter handelt. (…) Die sozialen Beziehungen eines Stammes werden in Form von Familienstrukturen geregelt. In diesem Zusammenhang bekommen Genealogien große Bedeutung, die nicht unbedingt wirkliche (biologische) Abstammungslinien festschreiben, sondern Hierarchien der Sippen oder auch Stämme untereinander zum Ausdruck bringen.“ (A. Berlejung, Geschichte, 94 f.)
Stämme, aber noch kein Volk
Das entstehende Israel war also eine Stämmegesellschaft, die sich aus einzelnen Gruppen (Sippen) zusammensetzte, die jeweils in sich funktionsfähig waren (sog. segmentäre Gesellschaft). Ihre Zugehörigkeit untereinander und zum Stamm war über verwandtschaftliche Beziehungen geregelt (sog. agnatische Gesellschaft). Eine nächstgrößere Einheit („Volk“) gab es vor dem 10. Jh. nicht, allenfalls kürzer- oder längerfristige Zusammenschlüsse von Stämmen (vgl. Ri 5). Sowohl die soziale Gliederung als auch die Organisationsformen, vor allem das Recht, waren noch wenig differenziert und mussten von Fall zu Fall neu verhandelt werden. Diese Grundstruktur der israelitischen Gesellschaft blieb bis in die griechische Zeit erhalten und lebte neben und unterhalb
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Die Vorgeschichte Israels (13.–11. Jh. v. Chr.)
Abb. 3.2.1 Die Gesellschaftsstruktur
der politischen Strukturen fort, die sich später herausbildeten. Sie wurde jedoch unter Einfluss der politisch-sozialen Geschichte vom 10. Jh. an immer weiter ausdifferenziert. Drittens fand im Bereich der Religion ebenfalls eine Verschiebung statt, die die neue Siedlungs- und Sozialstruktur widerspiegelte. Mit Sicherheit wurden viele Götter und Göttinnen verehrt. Sehr wahrscheinlich hatte jede Familie „ihren“ Hauptgott (häufig vergöttlichte Ahnen). Wie die Götterhierarchie eines Stammes aussah, wissen wir nicht genau. Differenziert wurde indes wahrscheinlich zwischen Gottheiten, die für die Belange des Familien- und Alltagslebens (Landwirtschaft, Geburt, Tod) angerufen wurden, und solchen, die übergreifend für eine Sippe oder einen Stamm agierten (Recht und Krieg; vgl. Gen 31,43−54). Ein Gegensatz zwischen den einzelnen Gottheiten wurde nicht empfunden.
religiöse Neuorientierung
A. Berlejung, Geschichte, 117–119. O. Keel/C. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen, Fribourg 62010. Z. Zevit, The Religions of Ancient Israel. A Synthesis of Parallactic Approaches, London/New York 2001. W. Zwickel, Der Tempelkult in Israel und Kanaan. Studien zur Kultgeschichte Palästinas von der Mittelbronzezeit bis zum Untergang Judas, Tübingen 1994 (FAT 10).
Sehr wahrscheinlich begann in dieser Zeit auch der Gott JHWH, der zu den „übergeordneten“ Gottheiten gehört, eine bedeutendere Rolle zu spielen.
der Gott JHWH
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Historischer Vorspann
Der Gott JHWHDer Gott, der im Alten Testament als Gott Israels handelt, trägt den Namen „JHWH“. Hebräisch wird nur mit Konsonanten geschrieben, so dass wir die Vokale dieser Kombination nur hypothetisch erschließen können. Ab etwa dem 3. Jh. v. Chr. wurde es unter Anhängern dieses Gottes üblich, den Namen nicht mehr auszusprechen und statt dessen „Adonaj“ (= mein Herr) zu sagen. Im hebräischen Text des Alten Testaments wird diese Tradition so umgesetzt, dass die Konsonantenbuchstaben J-H-W-H mit den (später eingeführten) Vokalzeichen des Wortes „Adonaj“ bzw. „Elohim“ (Gott) verbunden werden; so ergibt sich die (falsche!) Lesung „Jehova“. Die deutschen Bibelübersetzungen geben den Namen Gottes mit „der Herr“ (Einheitsübersetzung) bzw. „der HERR“ (Luther, Zürcher) wieder. Im Alten Testament (und in außerbiblischen Quellen) begegnen außerdem die Kurzformen des Gottesnamens „Jahu“, „Jeho“ und „Jah“. Die Aussprache des Namens ist nicht ganz sicher. Üblich geworden ist „Jahwe“, was der ursprünglichen Aussprache vermutlich ziemlich nahekommt. Es spricht nichts dagegen, dass Sie selbst diese Aussprache verwenden. Im Kontakt mit Juden oder Jüdinnen sollten Sie sie allerdings vermeiden. Bis heute sprechen Juden und Jüdinnen den Namen Gottes nicht aus, um ihn vor Profanierung zu schützen. Die Höflichkeit im interreligiösen Kontakt gebietet es, diesen Brauch zu respektieren; hier bieten sich „(der) Herr“ oder „Adonaj“ an. „JHWH“ ist eine zum Namen gewordene Verbform. Dabei ist die Ableitung von einem Verb „HWH“ („wehen, stürmen“) am wahrscheinlichsten. Die in Ex 3,15 gegebene Erklärung vom Verb „HJH“ („sein, werden“) ist dagegen eine theologische Konstruktion späterer Zeiten. Der Name Gottes bedeutet demnach ursprünglich „Er weht“, wobei mit dem Wind ein Gewittersturm gemeint ist, der sowohl die Erntezeit ankündigt als auch Vernichtung bringen kann. Gewitter, Sturm und Wolken galten im Alten Orient allgemein als Erscheinungsformen des Göttlichen. Der Typus einer männlichen Gottheit, die mit Wind, Sturm und Wetter verknüpft ist, war in Syrien, Kanaan und Palästina sehr verbreitet. In Kanaan lautete sein Name meist Ba’al (Herr), in Syrien Adad oder Hadad. Man spricht in der Religionsgeschichte meist von einer „dynamischen“ Gottheit, vom „Wettergott“ oder „Ba’als-Typus“. In ägyptischen Textquellen des 14. und 13. Jh. v. Chr. begegnet eine Gruppe von Schasu-Nomaden, die als „Schasu-YHW(H)“ bezeichnet werden. Woher sie genau kommen, ist unklar, die Gegend zwischen Rotem und Totem Meer ist aber wahrscheinlich. Das Alte Testament belegt in einigen Texten (Ri 5,4 f.; Ps 68,8; Dtn 33,2) eine Herkunft JHWHs aus dem Süden oder Südosten Palästinas. In diesem Gebiet war auch – wenn die Textüberlieferung verlässlich ist – jene Gruppe unterwegs, zu deren identitätsbildender Erinnerung der Exodus aus Ägypten gehörte. Möglicherweise hat sie JHWH gewissermaßen „mitgebracht“. Als kämpferischer Sturmgott konnte er zumindest für Gruppen und Gruppenverbände populär werden, die unter militärischem Druck standen. Auch „Israel“ hat eine solche Konnotation, der Name bedeutet „Gott kämpft“. E. A. Knauf, Jahwe, in: VT 34 (1984), 467–471. M. Leuenberger, Jhwhs Herkunft aus dem Süden. Archäologische Befunde – biblische Überlieferungen – historische Korrelationen, in: ZAW 122 (2010), 1–19.
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Zwei Königreiche, ein Gott
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Erläutern Sie den Umbruch von der Bronze- zur Eisenzeit im Vorderen Orient mit Ihren eigenen Worten. Lesen Sie Jos 11,16−23; Ri 1,17−21.27−36 und vergleichen Sie die beiden Texte miteinander. Welche Perspektiven auf die „Landnahme“ werden jeweils erkennbar? 2. Lesen Sie: I. Finkelstein/N. Silberman, Posaunen, 92−95. Begründen Sie von der Darstellung von Finkelstein/Silberman aus folgende Wahrnehmung: „Quellen … mit archäologischem Fundgut abzugleichen und sie so auf ihren ‚Wahrheitsgehalt‘ hin überprüfen zu wollen, verbietet sich von selbst. Versuche, Gruppen und Völker, die in antiken Texten auftauchen, mit bestimmten Tonscherben, Bauwerken oder sonstigen Artefakten – archäologischen ‚Kulturen‘ – zu identifizieren, sind zum Scheitern verurteilt. Spezifische Ereignisse wie Schlachten, Hungersnöte oder politische Umwälzungen mit archäologischem Material in Deckung bringen zu wollen, ist ebenfalls abenteuerlich – schon gar, wenn die Schriftquellen selbst mehr Fragen aufwerfen als sie beantworten. Materiale Überbleibsel dokumentieren selten Ereignisse, sondern Strukturen von langer Dauer, die sich nur in langsamen Rhythmen wandeln.“ (M. Sommer, Die Phönizier. Geschichte und Kultur, München 2008, 19, 52)
3. Lesen Sie A. Berlejung, Geschichte, 90−92 und erläutern Sie das dort abgebildete (S. 92) Vierraumhaus.
Zwei Königreiche, ein Gott: Die Königszeit (ca. 1000–587 v. Chr.) W. Dietrich, Die frühe Königszeit in Israel. Das 10. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 1997 (BE 3), 18–33. A. Jepsen, Die Quellen des Königsbuches, Halle (Saale) 1953. J. Werlitz, Art. Königsbücher, in: www.wibilex.de.
Von ca. 1000−587 v. Chr. − epochengeschichtlich in der Eisenzeit II − gab es autonome Königreiche in Israel-Palästina. Dieser Geschichtsabschnitt ist die einzige Phase der Geschichte Israels, in der das Volk Israel politisch, militärisch und wirtschaftlich weitgehend selbständig agieren konnte. In das Machtgefüge des Alten Orients blieb Israel jedoch weiterhin verflochten. Die relative Selbständigkeit verdankte sich den Nachwirkungen des Umbruchs am Ende der Bronzezeit. Bis zur Neuformierung der Großreiche verging einige Zeit: Erst im späten 9. Jh. geriet Israel in den Sog der Ausdehnung des neu-assyrischen Großreichs.
3.3
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Probleme der Datierung
Historischer Vorspann
Die schriftlichen Quellen über die Geschichte Israels werden mit der Königszeit zunehmend aussagekräftig. Allerdings bleibt in der Frühphase des Königtums noch eine erhebliche Grauzone. Problematisch ist die exakte zeitliche Einordnung der geschilderten Ereignisse. Alle Reiche des Alten Orients hatten ihre eigene Zeitrechnung, die zum Teil nur mit Näherungswerten an die derzeit verwendete christliche Zeitrechnung angeglichen werden kann. Im Alten Testament konkurrieren aufs Ganze gesehen mehrere verschiedene Zeitrechnungssysteme miteinander, viele Ereignisse werden auch schlicht nicht datiert. So ist die zeitliche Einordnung bis gegen Ende der Königszeit mit erheblichen Unsicherheiten belastet. In diesem Buch folgen wir dem chronologischen System von Joachim Begrich und Alfred Jepsen, das innerhalb der alttestamentlichen Forschung eine gewisse Konsenslösung darstellt.
Der Quellenwert der Bücher über die KönigszeitDie Geschichte der Königszeit wird hauptsächlich in den Büchern Samuel und Könige behandelt, ab dem 8. Jh. auch in den Büchern der Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel. Die Bücher der Chronik haben keinen Quellenwert, was die in ihnen berichteten Ereignisse angeht, sie bilden eine Nacherzählung der Samuelund Königebücher, die erst aus griechischer Zeit stammt. In der Perspektive der Samuel- und Königebücher beginnt mit der Königszeit ein neuer Abschnitt der Geschichte Israels, der sich von der vorangegangenen Epoche charakteristisch unterscheidet. Nach der Zeit der Erwählung Israels (Gen-Jos) folgt nun die Zeit der Bewährung. Diese Bewährungszeit hat einen charakteristischen Rhythmus: Zeiten der Treue Israels zu JHWH (und damit verbunden: Erfolg) wechseln regelmäßig mit Zeiten der Untreue (und demzufolge: Misserfolg). Zum Ende der Königszeit hin verläuft dieser Wechsel immer schneller, und die Untreue nimmt derart Oberhand, dass die Königreiche untergehen. Im Ganzen hat das Volk Israel seine Bewährungsprobe also nicht bestanden. Dabei bemisst sich die geforderte Treue zu JHWH nicht nur an Religion und Kult, sondern auch an politischen Kategorien wie der Rolle des Königs und der Einheit des Volkes. Um diese inhaltliche Grundtendenz des Gesamtwerks durchhalten zu können, haben die Samuel- und Königebücher zugrunde liegendes Quellenmaterial gelegentlich verändert. Vor allem sind manche Herrscherfiguren durch Verschiebung von Quellenaussagen, Überlieferungen und Erinnerungen an andere Zeiten dem Gesamtcharakter angepasst worden. Die historische Rekonstruktion hat das angemessen zu berücksichtigen.
81
Zwei Königreiche, ein Gott
3.3.1
Die Entstehung des Königtums (10. Jh. v. Chr.) Im 10. Jh. v. Chr. war in Israel die Ausbildung der Stämmegesellschaft so weit vorangeschritten, dass sich vor allem in Zentralpalästina Stämme dauerhaft zusammenschlossen und ihre politische und militärische Führung an bestimmte Personen und deren Familien übertrugen. Sowohl im Alten Testament selbst als auch in der Forschung wird diese Führungsrolle als „Königtum“ bezeichnet, was aber nicht vollständig korrekt ist.
„Königtum“ und „Herrschaft“In der Regel verbindet man mit dem Begriff des Königtums die Vorstellung einer bestimmten Staatsform, der Monarchie. Im monarchischen Staat gewährleistet der König die politische Organisation des Staates. Zu einem Staat gehören der Definition nach eine Bevölkerung, ein Territorium und eine politische Instanz, die Recht und öffentliche Ordnung organisiert und durchsetzt. Im 10. Jh. waren diese Voraussetzungen in Israel noch gar nicht gegeben. Deswegen ist es sachgemäßer, das frühe Königtum in Israel als Herrschaftsform zu verstehen. Der Soziologe Max Weber (1864–1920) hat definiert: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ Königtum ist dann eine Herrschaftsform, bei der dauerhaft und institutionalisiert einer (und/oder seine Familie) Macht über seine Untergebenen ausübt. Diese Macht ist durch bestimmte Vorstellungen und Vorgänge legitimiert und begrenzt. Kurz gesagt: Der König übte im 10. Jh. eine Herrschaftsfunktion aus, war aber kein Repräsentant eines Staates. H. Haferkamp, Soziologie der Herrschaft. Analyse von Struktur, Entwicklung und Zustand von Herrschaftszusammenhängen, Opladen 1983. R. Herzog, Staaten der Frühzeit. Ursprünge und Herrschaftsformen, München 21997. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1985. W. Dietrich, Königszeit, 24–29. I. Finkelstein/N. A. Silberman, David und Salomo. Archäologen entschlüsseln einen Mythos, München 2008. W. Oswald, Staatstheorie im Alten Israel: Der politische Diskurs im Pentateuch und in den Geschichtsbüchern des Alten Testaments, Stuttgart 2009.
In den alttestamentlichen Texten über die Frühphase des Königtums lässt sich beobachten, wie die Herrschaftsorganisation der Stämme sich zu zunächst unterschiedlichen dauerhaften Strukturen verfestigte: Saul (1 Sam 9−15.28−31), David (1 Sam 21−24; 2 Sam 3−5) und Salomo (1 Kön 1−11) repräsentieren unterschiedliche Typen königlicher Herrschaft. Der Typus der salomonischen Herrschaft hat sich nach und nach als einzige Form des Königtums durchgesetzt. Die historische Rekonstruktion erweist
drei Könige, drei Herrschaftsformen
82
Historischer Vorspann
kritischer Maßstab der Geschichtsschreibung
Saul und David gleichzeitig
3.3.2
sich jedoch als schwierig. Zur oben beschriebenen Tendenz der Großerzählung der Samuel- und Königebücher kommt hinzu, dass in diesen Büchern unterschiedliche Perspektiven auf die Königsherrschaft und unterschiedliche Konzepte der besten Herrschaftsform verarbeitet sind. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass das Nacheinander der beiden Figuren Saul und David dem oben beschriebenen Rhythmus entspricht: schlechter König = Untreue zu JHWH = Scheitern (Saul) vs. guter König = Treue zu JHWH = Erfolg (David). Daneben werden hier jedoch auch bestimmte grundsätzliche Erfahrungen mit königlicher Herrschaft verarbeitet. Sämtliche negativen Erfahrungen mit königlicher Herrschaft werden um das 8. Jh. herum auf Saul (zurück-)übertragen, wohingegen David grundsätzlich die Erfahrung des gelingenden Königtums repräsentiert (→ Kap. 4.2.1). Wahrscheinlich vollzogen sich Sauls und Davids Herrschaft in etwa gleichzeitig und unabhängig voneinander. D. h., es entwickelten sich mehrere von einer Person angeführte Großverbände. Außerdem ist damit zu rechnen, dass abseits der Herrschaftsgebiete Sauls und Davids weiterhin kleinräumige Herrschaftsgebiete ent- und bestanden, deren Überlieferungen im Richterbuch auf bewahrt sind. Die dort genannten Gebiete gingen wohl erst im 9. Jh. in Israel und Juda ein (vgl. dazu V. Fritz, Entstehung, 39 f.,50). Bei der Rekonstruktion der Vorgänge sind wir überwiegend auf die alttestamentlichen Texte angewiesen, die sich vorsichtig mit anderen historischen Vorgängen vergleichen lassen (dazu W. Dietrich, Königszeit, 104−112). Das archäologische Material ist schwierig zu interpretieren; dabei sind Siedungsstrukturen aussagekräftiger als spektakuläre Einzelbauten. Saul C. S. Ehrlich, Art. Philister, in: www.wibilex.de. S. Kreuzer, „War Saul auch unter den Philistern?“ Die Anfänge des Königtums in Israel, in: ZAW 113 (2001) 56–73. H. M. Niemann, Nachbarn und Gegner, Konkurrenten und Verwandte Judas. Die Philister zwischen Geographie und Ökonomie, Geschichte und Theologie, in: U. Hübner/E. A. Knauf (Hg.), Kein Land für sich allein. Studien zum Kulturkontakt in Kanaan, Israel/Palästina und Ebirnâ´ri für Manfred Weippert zum 65. Geburtstag, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 2002 (OBO 186), 70–91.
Das Alte Testament lässt die Geschichte des Königtums mit Saul beginnen. Die Geschichte seiner Herrschaft ist kurz: Saul aus
83
Zwei Königreiche, ein Gott
dem Stamm Benjamin wurde von Vertretern seines und anderer Stämme zum Anführer („König“) gewählt, um sie gegen die Philister zu verteidigen. Die Abwehr gelang zunächst, doch Saul fiel im Kampf gegen die Philister. Sauls Sohn Isch-Boschet/IschBaal versuchte, das Erbe seines Vaters fortzuführen, wurde aber verraten und getötet (1 Sam 9−15; 28−31; 2 Sam 2−4). Die Länge der Herrschaft Sauls ist nicht bekannt. Die Ortsangaben der Saulsgeschichte zeigen, dass Saul vor allem im Stammesgebiet von Benjamin operierte. Dieses Gebiet war im 10. Jh. ein dicht besiedelter und gut entwickelter Raum, der über viel fruchtbares Land verfügte. Die einzelnen Dörfer stan-
Benjamin als Zentrum Israels
Abb. 3.3.1 Die Stämme
84
Historischer Vorspann
den im Austausch untereinander und beteiligten sich (in geringem Umfang) am internationalen Handel, der auch in der frühen Eisenzeit auf geringem Niveau weiterging. Wahrscheinlich war auch die politische und soziale Entwicklung dieser Region verhältnismäßig weit fortgeschritten. Benjamin geriet offensichtlich in Konflikt mit den Philistern. Die PhilisterDie Philister waren eine ethnische Gruppe, die im 12. oder 11. Jh. v. Chr. aus dem ägäischen Raum nach Kanaan kam. Sie siedelten im südlichen Küstengebiet um die Städte Asdod, Gaza, Askalon, Ekron und Gat sowie in Timna und Tell el-Qasile bei Jaffa. Hier vermischten sie sich mit der einheimischen kanaanäischen Bevölkerung und setzten die handelsgestützte bronzezeitliche Stadtstaatenkultur fort. Nach anfänglichen Konflikten wurden sie von Ägypten unterstützt, das auf diese Weise trotz des Rückzugs aus Kanaan Stützpunkte im Land behalten konnte. Zum Hinterland der Philister, aus dem sie vor allem Nahrungsmittel bezogen, gehörten in erster Linie die Schefela und die Landschaft Juda. Die benjaminitische Region war für die Philister aufgrund ihrer Ressourcen sowie ihrer verkehrsgünstigen Lage von Interesse: Durch Benjamin verliefen wichtige Handelsrouten. Daher versuchten die Philister auf militärischem Weg Zugriff auf dieses Gebiet zu bekommen. Saul als Heerführer
Saul wurde aufgrund seiner militärischen Qualitäten gewählt, um Benjamin gegen die Philister zu verteidigen. Wahrscheinlich agierte er auch im mittleren Ostjordanland (Gilead) gegen dortige Völker (vgl. dazu W. Dietrich, Königszeit, 193 f.). Saul war also ein Militärführer. Vom Versuch, seine Herrschaft auch politisch zu organisieren (durch Einrichtung einer Verwaltung o. Ä.) berichten die biblischen Texte nichts. Im Gegenteil: Offenbar hatte Saul es ständig mit Kreisen und Personen zu tun, die seiner Führung Widerstand entgegensetzten (1 Sam 10,26 f.; 11,12 f.) „Saul wurde demnach und blieb König aufgrund der freiwilligen Zustimmung hauptsächlich der Stammesleute im mittelpalästinischen Bergland. Das machte die Stärke wie die Schwäche seiner Herrschaft aus. Sollte seine Gefolgschaft sich ihm versagen …, dann hätte er kaum die Mittel, um sich durchzusetzen oder sich an der Macht zu halten.“ (W. Dietrich, Königszeit, 158 f.)
Beginn des Königreiches Israel
Nach Sauls Tod in der Schlacht ging seiner Familie auch die innere Unterstützung verloren. Sauls Sohn Isch-Boschet beherrschte nur noch das ostjordanische Gebiet und wurde schließlich von seinem eigenen Verwandten an David verraten. Die Herrschaft Sauls ist insofern bedeutsam, als in ihr erstmals die Dorf- und Stammesgesellschaft des zentralpalästinischen Berg-
85
Zwei Königreiche, ein Gott
landes als politische und kulturelle Größe in Erscheinung tritt, die ein relativ großes Gebiet beansprucht. Tatsächlich kann man hier erstmalig von „Israel“ als identifizierbarer historischer Größe sprechen. David
3.3.3
W. Dietrich, Königszeit, 60–85, 248–253. I. Finkelstein/N. A. Silberman, David, 31–56, 83–110, 159–186. A. A. Fischer, Art. David, in: www.wibilex.de.
Anders gestalteten sich die Verhältnisse bei David. Auch er entwickelte sich zum Anführer einer Stammesgruppe, repräsentiert aber einen anderen Herrschaftstyp als Saul. Die Textüberlieferung über David ist wesentlich umfangreicher als die über Saul: Sie umfasst 1 Sam 16−1 Kön 2 Die Rekonstruktion des historischen Kerns gestaltet sich deswegen besonders schwierig, weil sich in 1 Sam 16−1 Kön 2 eine Vielzahl von Texten findet, die äußerst unterschiedliche Wahrnehmungen Davids ausdrücken. Der eigentliche Begründer des Königtums in Israel hat viele Überlieferungen an sich gezogen, die ihn teils glanzvoll, teils überaus fragwürdig erscheinen lassen. Dementsprechend umstritten sind die literargeschichtliche und die darauf aufbauende historische Rekonstruktion der Texte. Die folgende Darstellung zeichnet einen gewissen historisch orientierten Forschungskonsens nach, wobei die Texte nur als Orientierung benannt werden. David stammte aus dem judäischen Hochland zwischen Bethlehem (das als Heimatort seiner Sippe gilt) und Hebron. Diese Region war vom restlichen Kanaan/Israel isoliert, ein geographisch unregelmäßiges Gelände mit wenig Nutzf läche und geringem Niederschlag. Demzufolge war das judäische Kernland („Juda“) sehr viel dünner besiedelt als Benjamin und Gilead. Die Wirtschaft konzentrierte sich auf (mobile) Viehhaltung − auch David wird als Hirte beschrieben. Die vereinzelt liegenden Dörfer und Höfe waren in jeder Hinsicht auf sich selbst gestellt und benötigten Schutz gegen Philister, Ägypter und Räuberbanden. Die Führungsschicht bestand aus Besitzern größerer Viehherden, die auf Höfen oder in Dörfern residierten, untereinander aber wenig Kontakt hatten. Hinsichtlich der politischen und sozialen Organisation war Juda daher weit weniger fortgeschritten als das Bergland westlich und östlich des Jordan. Der historische und literarische Anfang der David-Überlieferung ist in einzelnen Texten im Abschnitt 1 Sam 21−24;
David und seine Überlieferung
David und Juda
David als Söldner
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David und die Philister
David als Stammesführer
Saul und David = Israel und Juda
Historischer Vorspann
2 Sam 1−4 zu suchen. Sie schildert David als Anführer einer privaten Militärtruppe, der sich in verschiedenen Gegenden Judas um den Schutz der Bevölkerung verdient macht. Sein Rückzugsgebiet ist die Gegend südwestlich des Toten Meeres. Sein unruhiges Leben verdankte David vermutlich nicht der Verfolgung durch Saul. Vielmehr war David anfänglich eine Art Söldner. In der Frühen Eisenzeit ist darunter kein anrüchiges Gewerbe zu verstehen: Da es weder Polizei noch Armee gab, warben Dorfbewohner und Gutsbesitzer private Sicherheitskräfte an. David stand somit in der Tradition der bronzezeitlichen Habiru. Wenn die Überlieferung von 1 Sam 16 zumindest dem Kern nach verlässlich ist, war David der jüngste von mehreren Brüdern. Da das israelitische und judäische Erbrecht nur den Erstgeborenen berücksichtigte, bot das Söldner-Dasein für ihn die Möglichkeit, sich eine Existenz aufzubauen. Für seine Dienste bekam David eine Entlohnung, wahrscheinlich in Form von Vieh und Land, und gewann loyale Unterstützer. Außerdem vermehrte David seine Beziehungen und wohl auch seinen Besitz durch die Einheirat in (einf luss-) reiche Familien (vgl. 1 Sam 25). Manchen Ortschaften stand David anscheinend gegen die Philister bei (1 Sam 23). Er ließ sich aber offenbar auch von den Philistern in Dienst nehmen. Juda war philistäisches Hinterland, das sich je und je mit den Philistern arrangierte; hier kam es jedoch zunächst nicht zu einer Konfrontation wie im nördlichen Bergland. Mit der Zeit entwickelte David sich zu einem eigenständigen Stammesführer. Der Stamm bzw. das „Haus Juda“ entstand durch seine Aktivitäten. David verlegte seinen Wohnsitz nach Hebron und wurde von den Ältesten Judas als Anführer („König“: 2 Sam 2,4) anerkannt. Möglicherweise besaß David zusätzlich die (bislang nicht sicher identifizierte) Stadt Ziklag im Negev, die ihm von den Philistern übergeben worden war (1Sam 27). Als Anführer Judas war David auch gleichzeitig eine Art Vasall der Philister. Unter der Voraussetzung, dass Saul und David in etwa zeitgleich ihre Aktivitäten entfalteten, entwickelten sich ab der Mitte des 11. Jhs. zwei Herrschaftsgebiete: Das Herrschaftsgebiet Sauls („Israel“) entstand, weil ein bereits existierender Stammesverband sich eine Militärführung gab, um als Einheit gegen philistäische Expansionsversuche vorzugehen. Saul stand dabei einer bereits im Entstehen befindlichen sozialen und politischen Gesamtorganisation als militärischer Anführer vor. Demgegenüber schuf sich David sein Herrschaftsgebiet (Juda) gewissermaßen selbst. Dies
87
Zwei Königreiche, ein Gott
geschah teils mit den Philistern, teils gegen sie. Möglicherweise unterstützten die Philister David sogar gezielt, um ein Gegengewicht zur Herrschaft Sauls zu schaffen (Vgl. S. Kreuzer, Saul 72 f.). In jedem Fall bildeten sich in der Polarität zwischen „David“ und „Saul“ Strukturen heraus, die noch lange nachwirken sollten. Israels Vorsprung vor JudaSauls Herrschaftsgebiet und dessen nördliche Erweiterungen („Israel“) blieben technisch und kulturell bis ins 8. Jh. v. Chr. weiter fortgeschritten und sozial differenzierter als das davidische Juda. Israel war überdies wirtschaftlich potenter als Juda und lag näher zu den strategisch und geopolitisch wichtigen Regionen Jesreel, Karmel und Ostjordanland. Damit wurde Israel (als Territorium und als Königreich) zum bedeutenderen Teil des Landes. Der Preis dafür waren eine ständige Gefährdung durch das Interesse anderer Reiche und Mächte sowie die Tendenz zu politischer Instabilität. Judas isolierte Lage und relative Rückständigkeit machten es zwar verhältnismäßig unbedeutend, doch sozial einheitlicher als Israel. Davids Rolle bei der Entwicklung Judas als Herrschaftsgebiet und als Volk führte langfristig zu politischer Stabilität: Juda war und blieb unangefochten Territorium der Davidsfamilie.
Beim Tode Sauls waren sein Gebiet und das Gebiet Davids noch relativ unverbunden; das einzige Bindeglied zwischen ihnen war das Interesse der Philister. Offenbar gelang es David, sich nach Sauls Tod dessen Herrschaftsgebiet anzueignen (2 Sam 2−4). Indem David außerdem Jerusalem eroberte, das zwischen den Territorien lag, aber bislang zu keinem der beiden gehört hatte, schuf David auch eine Verbindung der beiden Gebiete. 2 Sam 2−5 zeigen, dass nach Sauls Tod sein Herrschaftsgebiet sowohl innerlich unter Konflikten litt als auch (aus unbekannten Gründen) von den Judäern gezielt destabilisiert wurde. Mit wie viel Eigeninitiative Davids dabei zu rechnen ist, ist unklar. Ergebnis war in jedem Fall, dass das ehemalige saulidische Gebiet an David fiel und zwar durch einen Vertrag der „Ältesten Israels“ mit David (2 Sam 5,3; vgl. dazu W. Dietrich, Königszeit, 162). Wie schon bei Saul ging auch hier die Initiative zur Übertragung der Herrschaft von den Stämmen aus. Erst nach dieser Vereinigung der beiden Herrschaften soll David seinen Aufstieg zum Herrscher in Israel und Juda durch die Eroberung Jerusalems abgeschlossen haben. Der entsprechende Text 2 Sam 5,6−9 gibt dafür weder Gründe an, noch lässt sich daraus ein klares Bild der Ereignisse gewinnen. Sicher ist nur, dass
David erhält Israel
Jerusalem als Davids Stadt
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David: drei Herrschaftstypen in einer Person
Historischer Vorspann
dieser Akt auf Davids persönliche Initiative zurückging: David nahm Jerusalem mit seiner Privatarmee ein, und die Stadt wurde zu seinem persönlichen Besitz. Es ist möglich, dass David Jerusalem erwarb, bevor er das saulidische Territorium gewann. Zumindest räumlich ist es plausibel, dass David schrittweise nach Norden vorrückte. Die Einnahme Jerusalems bringt einen neuen Aspekt in die Herrschaft Davids. Jerusalem ist eine Stadt mit bronzezeitlicher Vergangenheit, die im 14. Jh. v. Chr. sogar relativ bedeutend gewesen war. Da Jerusalems frühgeschichtliche Strukturen unter der heutigen Stadt liegen − großenteils unter den religiös hochsensiblen Gebäuden des Felsendoms, der Al-Aksa-Moschee, der Grabeskirche und der „Klagemauer“ −, sind archäologische Grabungen nur in sehr eingeschränkten Maße möglich, und die Forschung ist weitgehend auf Hypothesen angewiesen. So ist unklar, welche Ausmaße das bronzezeitliche Jerusalem hatte und wie sich der Umbruch von der Bronze- zur Eisenzeit auf die Stadt ausgewirkt hatte. In jedem Fall aber war Jerusalem eine der wenigen städtischen Siedlungen im israelitischen Binnenland, in den Territorien Davids und Sauls vermutlich die einzige. Zumindest Reste der bronzezeitlichen Kultur Kanaans waren hier wahrscheinlich noch intakt. Mit der Einnahme Jerusalems wurde David ein Stadtfürst nach kanaanäischem Vorbild und damit den philistäischen Stadtfürsten vergleichbar, wenn sich auch Davids Herrschaft auf wesentlich niedrigerem Niveau abspielte als bei den Philistern oder gar bei den Phöniziern. Dass die letzten Kriege Davids mit den Philistern direkt im Anschluss an die Eroberung Jerusalems berichtet werden (2 Sam 5,17−25; 8,1), deutet darauf hin, dass der Kontakt Juda-Israels mit den Philistern von nun an diplomatisch geregelt wurde. Im „Aufstieg Davids“ verkörpern sich drei unterschiedliche Herrschaftskonzepte: 1. Davids eigene Herkunft als Milizenführer begründete eine auf Loyalität und Gefolgschaft aufgebaute Herrschaft, bei der seine Untertanen im Sinne von Klienten oder Schutzbefohlenen zu verstehen sind. 2. Von Saul her übernahm David eine auf Zustimmung und „Wahl“ beruhende Führungsrolle, die hauptsächlich auf militärische Aufgaben zugespitzt war. Diese Herrschaft stand unter der Kontrolle der Stämme.
89
Zwei Königreiche, ein Gott
3. Mit der Einnahme Jerusalems wuchs David die Rolle des aristokratischen Stadtkönigs zu, der für seine Bevölkerung Schutz, Recht und Gerechtigkeit, Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten hatte. Diese Vereinigung verschiedener Herrschaftstypen in David bezeichnet man auch als Personalunion des Königtums über Juda (1.), Israel (2.) und Jerusalem (3.) bzw. als „dimorphe“ (= zweigestaltige) Herrschaft über Stämme (Israel und Juda: 1. und 2.) und Stadt (Jerusalem: 3.). Es handelt sich um ein Übergangsphänomen zwischen Stämmegesellschaft und Monarchie im eigentlichen Sinne. Die Darstellung der Herrschaft Davids als König über Israel, Juda und Jerusalem nimmt in 2 Sam 6−1 Kön 2 einen breiten Raum ein, ist aber für die Rekonstruktion der historischen Ereignisse wenig ergiebig.
Personalunion
David als König Israels und Judas
Der Umfang des Reiches DavidsWahrscheinlich beherrschte David das mittel- und südpalästinische Bergland zwischen Silo und Hebron, vielleicht auch das ostjordanische Gilead. Ein Territorium von dieser Größe war bislang noch nicht unter einem (einheimischen) Herrschaftsanspruch vereinigt gewesen. Das in 2Sam 8; 12; 24 geschilderte Großreich Davids, das vom Euphrat bis zum Toten Meer und vom Mittelmeer bis weit in den ostjordanischen Raum gereicht haben soll, ist wenig wahrscheinlich: „Weder die archäologischen noch die soziologischen Voraussetzungen für ein derart ausgreifendes und von Jerusalem als Territorialstaat aus regiertes Imperium sind erkennbar. Vorstellbar ist lediglich, dass der davidische Einfluss über das begrenzte Herrschaftsgebiet hinaus bis in die Jesreelebene, nach Galiliäa und das nördliche Ostjordanland reicht“ (C. Frevel, Grundriss, 628. Anders W. Dietrich, Königszeit, 163–165.)
Es ist außerdem möglich, dass David mit dem Aufbau einer Verwaltungsorganisation begann (2 Sam 8,16–18), deren ziviler Teil eventuell auf kanaanäische Traditionen in Jerusalem zurückging. Der größere Teil der Geschichte von Davids Herrschaft ist der Frage seiner Nachfolge gewidmet (2 Sam 9–20; 1 Kön 1–2: sog. „Thronfolgegeschichte“). Historisch ist ihr höchstens zu entnehmen, dass nach Davids Tod und eventuell auch noch später die Frage zu klären war, welches Herrschaftsprinzip künftig das dominante sein sollte.
Salomo I. Finkelstein/N. A. Silberman, David, 65–74, 136–158. O. Keel/M. Küchler/C. Uehlinger, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, Bd. 1, Göttingen 2007, 234–337.
3.3.4
90
Historischer Vorspann
H. M. Niemann, Herrschaft, Königtum und Staat. Skizzen zur soziokulturellen Entwicklung im monarchischen Israel, Tübingen 1993 (FAT 6), 17–40. W. Zwickel, Der salomonische Tempel von seiner Gründung bis zur Zerstörung durch die Babylonier, Mainz 1999 (Kulturgeschichte der Antiken Welt 83). Salomo: Der erste große König?
Der alttestamentlichen Darstellung zufolge erbte Salomo den Thron und die Herrschaft seines Vaters David. Salomo wird in 1 Kön 1−11 ganz nach dem Vorbild altorientalischer Könige als glanzvoller Herrscher geschildert: „König Salomo in aller seiner Pracht“ (Mt 6,29) ist sprichwörtlich geworden. Es hat sich indes inzwischen zeigen lassen, dass Salomos Bau- und Verwaltungsmaßnahmen sowie seine diplomatischen und Handelsbeziehungen eher als Rückprojektionen aus späteren Zeiten verstanden werden müssen: Zustände und Ereignisse des 8. Jhs. wurden wahrscheinlich ins 10. Jh. v.Chr. zurückverlegt, um bestimmte politische Entscheidungen zu begründen und zu legitimieren (Überblick bei C. Frevel, Grundriss, 629−635). Sehr wahrscheinlich gelang es Salomo, den Herrschaftsanspruch Davids über Juda und Jerusalem zu halten und zu festigen. Dabei setzte er vermutlich den Auf bau einer Verwaltung fort. Nicht nur Verwaltungsaufgaben, Organisation und Finanzen wurden ausdifferenziert, sondern es wurden auch einf lussreiche Familien aus Stadt und Land in die Herrschaft integriert. Damit begann sich der Unterschied zwischen Land- und Stadtkönigtum zu verwischen, und es entstand in Juda und Jerusalem ansatzweise ein zentralistisch orientiertes Territorialreich.
Der salomonische TempelEine nicht geringe Rolle dürfte der Jerusalemer Tempel gespielt haben. Entgegen dem Bericht in 1 Kön 6–9 hat Salomo ihn nicht neu gebaut, sondern einen bereits vorhandenen kanaanäischen Tempel übernommen und umgestaltet. Dafür sprechen die Angaben über Architektur und Dekoration, die vielfach kanaanäische Traditionen spiegeln. Neu ist vermutlich die Integration des Gottes JHWH in diese Tempelanlage. David hatte JHWH als seinen persönlichen Gott verehrt und dies an seine Familie weitergegeben (vgl. A. Berlejung, Geschichte, 126). Aufgrund der theologischen Übermalung der Königsgeschichtsschreibung lässt sich wenig über Religion und Kult des 10. Jhs. sagen (vgl. dazu A. Berlejung, Geschichte, 124–126). Der Jerusalemer Tempel war jedoch mit Sicherheit die größte Kultstätte des Landes. Seine enge Verbindung mit dem König als Stifter (und Priester) dürfte identitätsstiftende und herrschaftsstabilisierende Funktion gehabt haben. Salomo und die Außenmächte
Salomos Kontakte mit Phönizien (1 Kön 5; 9) und Ägypten (1 Kön 9) zeigen, dass nach dem Umbruch des 12./11. Jhs. v. Chr. langsam wieder eine Erholung der Region einsetzte. Die Phönizier
Zwei Königreiche, ein Gott
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nahmen schrittweise ihre alte Rolle für den orientalischen Fernhandel wieder ein, wovon Salomo teilweise profitierte. Ägypten versuchte zwischen ca. 979 und 924 v. Chr., die alten Verhältnisse in Kanaan wiederherzustellen und scheint die Politik der gelegentlichen Feldzüge wiederaufgenommen zu haben. In diesen Zusammenhang gehört wohl die Notiz über einen ägyptischen Feldzug nach Juda, nach dem Salomo dieses Gebiet verwalten durfte und durch die Heirat mit einer vornehmen Ägypterin zum ägyptischen Vasall wurde (1 Kön 9,16−18). Der Palästina-Feldzug des Pharao SchoschenqNicht leicht zu durchschauen sind die Vorgänge um den Palästina-Feldzug Pharao Schoschenqs I. (946–924 v. Chr.), der mit unterschiedlichen Aussagen in ägyptischen Quellen und in 1 Kön 14,25–27 überliefert ist. Die Darstellungen sind schwer zur Deckung zu bringen: Der alttestamentliche Text berichtet von einem Feldzug des Pharao nach Juda, Schoschenq selbst dagegen schildert Aktivitäten im mittelpalästinischen Bergland, im ostjordanischen Raum und in der Jesreel-Ebene. Ungewöhnlich ist die Präsenz der Ägypter im Binnenland, so dass man einen Zusammenhang mit dem entstehenden Königtum vermuten darf. Sehr wahrscheinlich war es die ägyptische Strategie, das judäisch-israelitische Territorium in mehrere kleinere Gebiete zu zerschlagen, die sich leichter kontrollieren ließen. Möglicherweise gingen sie dabei in doppelter Weise vor: Zum einen durch eine Begünstigung JudaJerusalems, das sie als Vasall (zurück-)gewannen; gleichzeitig könnte Schoschenq Mittelpalästina und den ostjordanischen Raum von Juda abgetrennt und dort einen Vasallenkönig nach eigenen Vorstellungen namens Jerobeam eingesetzt haben.
Nach Salomos Tod wurde jedenfalls die davidische Union über Juda/Jerusalem/Israel nicht fortgesetzt. Vielmehr entwickelten sich vom Ende des 10. Jhs. v. Chr. an zwei Königreiche nebeneinander: Israel im Norden und Juda/Jerusalem im Süden. 1 Kön 11−14 schildert diese Entwicklung als schuldhafte Trennung der beiden Brudervölker. Der historische Vorgang war vermutlich komplexer, lässt sich jedoch nur noch in Umrissen nachzeichnen.
Ende der Union Juda/Israel
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Begründen Sie die Entstehung des Königtums in Israel anhand folgender These: „Die Situation, die im 11. Jh. entstanden war, half der Bevölkerung, geographische Grenzen zwischen den verschiedenen Unter-Regionen des Berglandes zu überwinden und einen verstärkten Warenaustausch zwischen den Regionen einzurichten. Ein Wirtschaftssystem dieser Art benötigt einen gewissen Organisationsgrad, der zum Sprungbrett für öffentliche Administration wurde.“ (I. Finkelstein, Emergence, 59. Übersetzung: M. Köhlmoos)
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Historischer Vorspann
2. Ob Saul, David und Salomo als historische Personen betrachtet werden können, ist in der Forschung außerordentlich umstritten. Verschaffen Sie sich einen Überblick über die Diskussion anhand: C. Frevel, Grundriss, 624 f.
3. Lesen Sie aufmerksam 1 Sam 16−2 Sam 5. Finden Sie Hinweise darauf, dass David sich fragwürdig verhält? Wie lässt sich das erklären?
3.3.5
Juda und Israel bis zu den Omriden (9. Jh. v. Chr.) S. R. Bin-Nun, Formulas from Royal Records of Israel and Judah, in: VT 18 (1968), 414–432. G. Galil, The Chronology of the Kings of Israel and Judah, Leiden/New York/Köln 1996 (SHCANE 9). T. Ishida, The Royal Dynasties in Ancient Israel. A Study on the Formation and Development of Royal-Dynastic Ideology, Berlin 1977 (BZAW 142). A. Jepsen, Die Quellen des Königsbuches, Halle (Saale) 1953.
Nach Salomos Tod bildeten sich zwei voneinander getrennte Königreiche: Im Süden blieb das Reich Juda erhalten, nördlich Jerusalems entwickelte sich das Reich Israel. Die Geschichte dieser zwei Königreiche ist gekennzeichnet durch ein differenziertes Verhältnis von Annäherung und Abgrenzung. Geschichtsschreibung in IsraelDie textliche Quelle für diesen Geschichtsabschnitt bildet 1 Kön 14–2 Kön 8. Dazu treten in zunehmendem Maße außerbiblische Textquellen aus den Nachbarreichen sowie archäologisches Material. Die alttestamentliche Darstellung ist in der ältesten Textfassung eine knappe Auflistung der einzelnen Könige und ihrer Regierung. Sie werden abwechselnd dargestellt – immer ein israelitischer und dann ein judäischer König –, aber in ein zeitlich gleichzeitiges Verhältnis (sog. Synchronismus) gebracht. Die Grundlage dieser Grunderzählung bilden Regierungsaufzeichnungen der beiden Königshöfe (sog. Annalen). Sie wurden im 8. Jh. v. Chr. in Jerusalem zusammengestellt und vereinheitlicht. Bei diesem kurzen Geschichtswerk aus judäischer Perspektive wird vor allem das Reich Israel strenger Kritik unterzogen: Es gilt als abtrünnig, seine Könige durchweg als böse und auf religiösen Abwegen. Bei der Lektüre der Königebücher entsteht der (gewollte!) Eindruck, Juda und Israel hätten sich – obwohl dem Ursprung nach ein Volk – kulturell, religiös und politisch voneinander entfremdet. Dieser Eindruck täuscht über den Sachverhalt hinweg, dass die Gemeinsamkeiten größer waren als die Unterschiede. Sprache, Religion, politische und soziale Organisation waren in Israel und Juda mehr oder weniger gleichartig, und die Grenze zwischen den beiden Reichen war alles andere als ein eiserner Vorhang. Gewisse Unterschiedlichkeiten, die im Ganzen kaum ins Gewicht fallen, sind eher regionalen Differenzierungen geschuldet sowie einem allgemeinen „Vorsprung“ Israels gegenüber Juda.
93
Zwei Königreiche, ein Gott
Juda blieb unter der Herrschaft der Nachkommen Davids, die in Jerusalem residierten. Die Herrscher des späten 10. und frühen 9. Jhs. v. Chr. regierten in folgender Reihenfolge: Rehabeam
926–910 v. Chr.
Enkel Davids
1 Kön 12,1–24; 14,21–31
Abia
910–908 v. Chr.
Urenkel Davids
1 Kön 15,1–8
Asa
908–868 v. Chr.
Nachkomme Davids 1 Kön 15,9–16. in 4. Generation 23–14
Josaphat
868–847 v. Chr.
Nachkomme Davids 1 Kön 22,41–51 in 5. Generation
Eine Eigenart des davidischen Königtums in Juda ist die regelmäßige Erwähnung der Mutter des regierenden Königs in den Annalenberichten. Da altorientalische Herrscher immer mehrere Frauen hatten, wird in diesen Notizen ein genealogisches Interesse erkennbar. Ranghöchste Frau in Juda war also jeweils die Königin-Mutter. König wurde nicht zwangsläufig der älteste Prinz, sondern derjenige mit der einf lussreichsten (mütterlichen) Familie. Außerdem zeigt sich − allerdings erst von Josaphat an −, dass fast alle judäischen Könige Namen tragen, die mit dem Gottesnamen JHWH gebildet sind, entweder mit Jo- (= Jeho) am Anfang oder mit -ja (= Jahu) am Ende. Dies zeigt an, dass die religiöse Verbindung des Königshauses mit dem Gott JHWH sich derart festigte, dass man von JHWH als dem Gott des Königreiches sprechen kann. Politische Stabilität kennzeichnete Juda im frühen 9. Jh. Darüber hinaus lässt sich die Entwicklung so zusammenfassen: „Juda war insgesamt ein kleiner, wirtschaftlich nicht sehr leistungsfähiger Staat, der in der Entwicklung jeweils um ca. 100 Jahre hinter Israel zurückbleibt. Die Städte des Südens sind kleiner, ärmer und nicht dem urbanen Standard des nördlichen Nachbarn Israel entsprechend. Deutlich länger ist Juda ein um die Stadt Jerusalem als Zentrum gruppierter Kleinstaat, umgeben von Dörfern, in denen Bergbauern und Kleinviehzüchter begrenzten Handel mit Agrarprodukten treiben. (…) Im frühen 9. Jh. v. Chr. lässt sich Juda am ehesten in Analogie zur spätbronzezeitlichen Stadtstaatentradition verstehen. Die ab der Eisen IIA-Zeit zunehmend besiedelte Schefela entwickelt sich als Handels- und Wirtschaftszone im Zwischengebiet zwischen Philistern und Judäern, die von der regionalen Entwicklung her gesehen dem Bergland überlegen ist.“ (C. Frevel, Grundriss, 644 f.)
Juda: Könige aus dem Hause Davids
politische Stabilität, aber kultureller Rückstand
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Historischer Vorspann
H. M. Niemann, Herrschaft, 96–132. A. Ofer, The Monarchic Period in the Judean Highland, in: A. Mazar (Hg.), Studies in the Archaeology of the Iron Age in Israel and Jordan, Sheffield 2001 (JSOT.S 331), 14–37. Israel: wechselnde Herrscherhäuser
im Gefüge der Nachbarreiche
Omri: erster Dynastiegründer
Die Herrscherliste des nördlichen Königreichs Israel lautet für denselben Zeitraum folgendermaßen: Jerobeam I.
927–907 v. Chr.
Rivale Rehabeams von Juda 1 Kön 11,26–14,20
Nadab
907–906 v. Chr.
Sohn Jerobeams
1 Kön 15,25–31
Baesa
906–883 v. Chr.
Mörder Nadabs
1 Kön 15,33–16,7
Ela
883–882 v. Chr.
Sohn Baesas
1 Kön 16,8–14
Simri
882 v. Chr.
Mörder Elas
1 Kön 16,15–20
Omri
882–871 v. Chr.
Mörder Simris
1 Kön 16,21–28
In Israel kam es demnach vorerst nicht zu einer stabilen Herrschaft. Sofern 1 Kön 15−16 verlässlich sind, wechselten sich für die ersten etwa fünfzig Jahre Herrscher mit militärischem Hintergrund ab, deren Herrschaftsanspruch sich Siegen über die Philister und die als neue Macht hinzutretenden Aramäer verdankte. Im ostjordanischen Raum etablierten sich außerdem die Königreiche Ammon und Moab, mit denen Israel in ständiger Auseinandersetzung stand. Die Lage − und wohl auch die Organisation − Israels in dieser Phase ähnelte noch sehr den Verhältnissen unter Saul. Wirtschaftlich potenter als Juda, war Israel im Hinblick auf die politischen Stabilität trotzdem hinter Juda zurück. In dieser kurzen Epoche verschob sich das Machtzentrum Israels immer weiter nach Norden: von Sichem unter Jerobeam I. nach Tirza unter seinen Nachfolgern. Es bleibt jedoch unklar, welchen Umfang das Königreich Israel in dieser Zeit hatte. Möglicherweise rivalisierten mehrere kleine Königreiche um die Macht im mittelpalästinischen Bergland. Schließlich setzte sich ein Militär namens Omri durch. Er begründete die erste stabile Dynastie in Israel und baute das Königreich zu einem beachtlichen Machtfaktor im vorderen Orient aus. Die Omridendynastie umfasst folgende Herrscher: Omri
882–871 v. Chr.
1 Kön 16,21–28
Ahab
871–852 v. Chr.
Sohn Omris
1 Kön 16,29–22,29
Ahasja
852–851 v. Chr.
Enkel Omris
1 Kön 22,51–2 Kön 1,18
Joram
851–845 v. Chr.
Enkel Omris (Bruder Ahasjas)
2 Kön 8,16–9,24
95
Zwei Königreiche, ein Gott
Omri verlegte den Herrschaftssitz der Könige Israels nach Samaria, wo ein bis dahin fast unbesiedelter Hügel zu einer imposanten Stadt ausgebaut wurde. Dieser Ort liegt strategisch günstig und außerdem am Kreuzungspunkt wichtiger Handels- und Verkehrswege. In omridischer Zeit fanden umfangreiche Baumaßnahmen in Megiddo, Hazor und Jesreel sowie weiteren Orten des zentralen Berglandes statt. Palastanlagen, Stadtmauern, Tore, Magazin- und Stallanlagen zeigen, dass die Omriden nicht nur einen Anspruch auf Herrschaft erhoben, sondern ihn durch gezielte Militärpolitik und zentralisierte Versorgungsmaßnahmen auch durchsetzten. Die umfangreichen Baumaßnahmen ließen sich nur durchführen, wenn der Herrscher Zugriff auf die Bevölkerung hatte, um sie zur Arbeit einzusetzen. Mit dem Besitz Jesreels, Megiddos und Hazors befanden sich die Omriden im südlichen Hinterland der Phönizier. Das Verhältnis zwischen der Handelsnation der Phönizier und dem Agrar- und Transitland Israel war für beide Seiten ausgesprochen profitabel. Omri festigte dieses Verhältnis, indem er seinen Sohn Ahab mit der phönizischen Königstochter Isebel verheiratete. Im Norden und Osten versuchten die Omriden, Zugriff auf die fruchtbaren Landstriche in Galiläa, an den Jordanquellen und im ostjordanischen Gebiet zu bekommen. Im ostjordanischen Moab gelang Ahab dies für einige Zeit, wie die älteste außerbiblische Erwähnung eines israelitischen Königs belegt.
Samaria als Hauptstadt Israels
Politik der Omriden
Verhältnis zu den Nachbarmächten
Die Mesˇa-Inschrift1868 wurde im ostjordanischen Dibon eine Steinsäule mit einer moabitischen Inschrift entdeckt. Darauf berichtet ein König Mesˇa von Moab von Kriegen und Siegen. Die entscheidende Passage lautet: „Ich bin Mesˇa … König von Moab. (…) Omri war König von Israel, und er bedrängte Moab lange Zeit … Und es folgte ihm sein Sohn. Und er sprach: ‚Ich will Moab bedrängen.‘ In meinen Tagen sprach er so, aber ich triumphierte über ihn und sein Haus.“ (Übersetzung nach: T. Wagner, Art. Mesˇa, in: www.wibilex.de)
Die lange Inschrift ist in ihren historischen und religionsgeschichtlichen Details hochinteressant. Obwohl sie sich nicht ganz mit den alttestamentlichen Angaben zum Kontakt zwischen Moab und Israel zur Deckung bringen lässt, zeigt sie doch, dass Omri und seine Nachfolger weit in den (Süd-)Osten ausgreifen konnten und militärisch ausgesprochen potent waren.
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Historischer Vorspann
Omris Sohn und Nachfolger Ahab war sogar in der Lage, es mit dem Großreich der Assyrer aufzunehmen, wozu er sich mit den umliegenden Nachbarn verbündete. Diese Koalition hielt nicht lange, gleichwohl beginnt mit den Omriden der Abschnitt der Geschichte Israels, in der das Königreich Israel eine bedeutende Rolle im Vorderen Orient spielte. Israel profitierte dabei von seiner Lage und vom Kontakt mit den Nachbarn: „Das Nordreich Israel umfasste das Bergland von Samaria mit den nördlichen Tälern; (…) Für die Omriden war eine … politische Integration [der Bevölkerung] ganz besonders dringend, weil zur gleichen Zeit im benachbarten Damaskus, in Phönikien und in Moab konkurrierende Staaten entstanden – jeder mit machtvollen kulturellen Ansprüchen an die Bevölkerungsgruppen an den Grenzen zu Israel. Demnach war das frühe 9. Jh. die Zeit, in der nationale und sogar so etwas wie territoriale Grenzen definiert werden mussten. Daher ist der Bau von eindrucksvollen Befestigungsanlagen durch die Omriden … sowohl eine verwaltungstechnische Notwendigkeit als auch als königliche Propaganda zu werten. (…) Andere positive Entwicklungen außerhalb der Region begünstigten ebenfalls die Geschichte des Reiches der Omriden. Sein Aufstieg zur Macht fiel mit der Wiederbelebung des Handels im östlichen Mittelmeer zusammen.“ (I. Finkelstein/N. A. Silberman, Posaunen, 211–213)
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Informieren Sie sich über den Inhalt und die Bedeutung der Meša-Inschrift: T. Wagner, Art. Meša, in: www.wibilex.de.
2. Die Bauwerke der Omriden in Megiddo, Hazor und Gezer wurden archäologisch ursprünglich auf König Salomo zurückgeführt. Informieren Sie sich über die Forschung: I. Finkelstein/N. A. Silberman, David, 244−246; Dies., Posaunen, 198−209.
3. Erklären Sie die alttestamentliche Kritik an den Omriden anhand I. Finkelstein/N. A. Silberman, Posaunen, 214 f.
3.3.6
Israel und Juda bis zum Untergang Samarias (841−720 v. Chr.) J. Bär, Der assyrische Tribut und seine Darstellung, Kevelaer/Neukirchen-Vluyn 1996 (AOAT 243). E. Cancik-Kirschbaum, Die Assyrer. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, München 2003. R. Lamprichs, Die Westexpansion des neuassyrischen Reiches. Eine Strukturanalyse, Kevelaer/ Neukirchen-Vluyn 1995 (AOAT 239).
Zwei Königreiche, ein Gott
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S. Maul, Der assyrische König – Hüter der Weltordnung, in: J. Assmann u. a. (Hg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, 65–77. K. Veenhof, Geschichte, 225–277.
Die eben beschriebene Entwicklung setzte sich bis ins 8. Jh. fort. Dabei griff Israel zeitweilig sogar bis auf Juda aus. Eine neue Dynamik kam jedoch vor allem durch das Auftreten der Assyrer in die Geschichte. Das neuassyrische GroßreichDie Assyrer waren ein Volk Mesopotamiens mit Kerngebiet am mittleren Tigris (heute Irak). Die Geschichte der Assyrer reicht bis in die Frühbronzezeit zurück. Auch die mesopotamischen Reiche waren vom Niedergang der bronzezeitlichen Kultur betroffen: Eine Konsolidierung der Assyrer setzte mit dem Übergang zum 10. Jh. v. Chr. ein (Neuassyrisches Reich). Ursprünglich eine Handelsnation, setzten die Assyrer bereits im 12. Jh. auf eine militärische Expansionspolitik, die in neuassyrischer Zeit enorm verstärkt wurde. Diese Expansion hatte in erster Linie wirtschaftliche Gründe: Das rohstoffarme Assyrien war für die meisten Ressourcen vom Import abhängig und eignete sich schrittweise Güter, Handelswege und Territorien an (vgl. K. Veenhof, Geschichte, 231.) Diese Politik war eingebunden in ein religiöses Begründungssystem. Nach allgemeiner Überzeugung des gesamten Alten Orients war es die Aufgabe des Königs, seinem Volk Wohlstand, Frieden, Recht und Gerechtigkeit zu schaffen. Diese Aufgabe kam in Assyrien vom höchsten Gott Assur, und der König hatte ihm dafür Rechenschaft abzulegen. In Assyrien gehörte auch die Vergrößerung des Herrschaftsgebiets zu den Aufgaben, die dem König von seinem Gott auferlegt waren. Es handelte sich dabei jedoch nicht um gewalttätige „Missionierungen“ der Welt. Vielmehr wollten sich der Gott Assur und der König als sein Beauftragter im altorientalischen Konzert der Mächte als die Stärksten erweisen. Trotz eines ungeheuren Gewaltpotentials der assyrischen Großreichspolitik war das Ziel der Assyrer die Integration aller anderen Reiche in ein GroßAssur. Von den Königen des neuassyrischen Reiches sind die folgenden für die alttestamentliche Geschichte relevant: Salmanassar III.
858–824 v. Chr.
Tiglat-Pileser III.
745–727 v. Chr.
Sargon II.
722–705 v. Chr.
Sanherib
705–681 v. Chr.
Asarhaddon
681–669 v. Chr.
Assurbanipal
669–631 v. Chr.
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Historischer Vorspann
853 v. Chr.: erste Schlacht gegen die Assyrer
Zu einer ersten Konfrontation Israels mit den Assyrern kam es 853 v. Chr. Salmanassar III. unternahm einen groß angelegten Feldzug nach Westen und annektierte das Gebiet nördlich des Euphrat. Südlich davon, bei Qarqar, traf er jedoch auf eine Bündnisarmee, und es kam zur Schlacht. Salmanassar berichtet: „Qarqara … zerstörte, verwüstete und verbrannte ich mit Feuer. 1200 Streitwagen, 1200 Reitpferde und 20.000 Mann des Hadadeser [vom] Eseltreiberland, 700 Streitwagen, 700 Reitpferde und 10.000 Mann des Irchuleni von Hamat, 2000 Streitwagen und 10.000 Mann des Ahab von Israel, 500 Mann aus Byblos, 1000 Mann aus Ägypten, 10 Streitwagen und 10000 Mann aus Irqata, 200 Mann des Matinuba’il von Schianu, 1000 Kamele des Arabers Ginbidu’ und […]000 Mann des Baësa von Haus-Rehob, des Ammoniters – diese 12 Könige nahm er zur Hilfe“ (Monolith-Inschrift Salmanassars III. Übersetzung nach: R. Borger, in: O. Kaiser (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Bd. I, Gütersloh 1982, 360–362. Vgl. auch: T. Wagner, Art. Schlacht von Qarqar: www.wibilex.de)
Israel und Juda im 9. Jh. v. Chr.
Die Zahlen mögen übertrieben sein, doch dass Ahab an dritter Stelle des Gegenbündnisses und mit der größten Streitwagentruppe genannt wird, zeigt die militärische Schlagkraft Israels unter den Omriden. Zu diesem Zeitpunkt kämpften Israel, Phönizien und die aramäischen Königreiche zusammen gegen den gemeinsamen Feind. Salmanassar III. berichtet von einem Sieg, verzeichnet aber keine Unterwerfung und keine Tribute. Deswegen und weil die Assyrer sich danach für eine geraume Zeit aus dem Gebiet südlich des Euphrat zurückzogen, muss man davon ausgehen, dass Ahab und seine Verbündeten den Sieg errangen. Einen alttestamentlichen Bericht über diese Schlacht gibt es leider nicht. Schwer zu überblicken, aber bedeutsam für die alttestamentliche Geschichte im späten 9. Jh. v. Chr. ist das Verhältnis zwischen Israel und Juda. Sicher ist, dass Ahab von Israel seine Tochter oder Schwester Athalja mit dem König von Juda verheiratete (2 Kön 8,18.26). Das in der judäischen Schefela gelegene Gezer weist omridische Baustrukturen auf. In Kuntillet Ağrud im Negev befindet sich eine Karawanenstation, die ein israelitischphönizischer Handelsstützpunkt war. So ist es wahrscheinlich, dass sich Israels Herrschaft im späten 9. Jh. auch auf Juda erstreckte. G. Athas, The Tel Dan Inscription. A Reappraisal and a New Interpretation, Sheffield 2003 (JSOT.S 360). I. Kottsieper, Die Inschrift von Tel Dan und die politischen Beziehungen zwischen Aram-Damaskus und Israel in der 1. Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr., in: M. Dietrich/I. Kottsieper (Hg.), „Und Mose schrieb dies Lied auf“. Studien zum Alten Testament und zum Alten Orient (FS O. Loretz), Münster 1998 (AOAT 250), 475–500.
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Zwei Königreiche, ein Gott
N. Na’aman, The Story of Jehu’s Rebellion, in: IEJ 56 (2007), 160–166. W. Thiel, Erwägungen zur aramäisch-israelitischen Geschichte im 9. Jh., in: Ders. (Hg.), Gelebte Geschichte, Neukirchen-Vluyn 2000, 189–203.
Um 840 verschob sich das Machtgefüge in Syrien und Israel. Ein Thronwechsel in Damaskus brachte eine militärisch ausgesprochen starke Dynastie an die Macht, der die letzten Omriden nicht gewachsen waren. Archäologischen Befunden zufolge wurde der Norden Israels erobert und fiel von Jesreel bis Dan an die Aramäer von Damaskus. Bis ca. 818 war Israel faktisch ein Teil des Reiches von Aram-Damaskus. Auch die Dynastie Omri wurde beseitigt.
Untergang der Omriden
Jehu und das Ende der Omriden: Die Inschrift von Tel DanNach 2 Kön 9–10 war es ein hoher israelitischer Militär namens Jehu, der im Auftrag JHWHs Joram von Israel und dessen Schwager Ahasja von Juda tötete und selbst König in Israel wurde. In Juda erhob sich Ahasjas Witwe Athalja zur Alleinherrschaft, wurde aber nach einigen Jahren gewaltsam abgesetzt und getötet (2 Kön 11). Da 2 Kön 9–11 ausschließlich theologisch argumentiert, lassen sich biblisch keine Gründe für Jehus Putsch ermitteln. 1993/94 wurden im nordisraelitischen Dan Bruchstücke einer aramäischen Inschrift gefunden (sog. Tel-Dan-Inschrift). Auf ihr berichtet ein aramäischer König von einem Angriff Israels auf aramäisches Gebiet. Außerdem berichtet der Sprecher, einen Menschen getötet zu haben. Die drei größten Fragmente der Inschrift werden von einer Mehrzahl der Forscher so zusammengesetzt, dass sie folgenden Text ergeben: „Dann tötete ich Joram, den Sohn Ahabs, den König von Israel. Und ich tötete Ahasjahu, den Sohn Jorams, den König vom Haus Davids“ (Übersetzung nach I. Kottsieper, Inschrift, 475 ff.)
Akzeptiert man diese Lesart, dann ist die gleichzeitige Herrschaft Jorams von Israel und Ahasjas von Juda außerbiblisch bestätigt. Entgegen 2 Kön 9 nimmt aber der König von Damaskus die Tat für sich in Anspruch, und Jehu wird gar nicht erwähnt. Am leichtesten löst sich das Problem durch die Annahme, der damaszenische König habe Jehu unterstützt und die Tat für sich selbst in Anspruch genommen (vgl. C. Frevel, Grundriss, 650 f.). Doch die Lesart bleibt aufgrund des fragmentarischen Textes hoch umstritten. Wichtig ist die Tel-Dan-Inschrift in jedem Fall durch die Nennung des „Hauses Davids“, mit der offenbar das Reich Juda bezeichnet wird. Der historische David ist damit zwar nicht außerbiblisch belegt, wohl aber die Tatsache, dass sich noch gut hundert Jahre später die Herrscher Judas auf David zurückführten. Das Problem der Herrschaftsverhältnisse in Israel um 845 v. Chr. wird dadurch erschwert, dass der assyrische König Salmanassar III. Jehu ausdrücklich als Tributär und Vasall Assyriens erwähnt. Möglicherweise versuchte Jehu, sich mit Hilfe der Assyrer von der aramäischen Dominanz zu emanzipieren. Anscheinend war dieser Versuch jedoch erfolglos.
100
Historischer Vorspann
die Dynastie der Nimsiden
Der aramäische Vorstoß reichte bis nach Philistäa und Jerusalem (2 Kön 12,18) und störte die Machtposition Israels in der Region. Die unmittelbaren Folgen für Israel waren eine ca. 40-jährige Schwächephase einschließlich einer wirtschaftlichen Rezession und die Herrschaft einer neuen Dynastie, die nach Jehus Vater „Nimsiden“ genannt wird. Ihre Herrscher waren die folgenden:
Jerobeam II.: Israels Blütezeit
Tiglat-Pileser III.: Expansion Assyriens
Jehu
845–818 v. Chr.
Mörder Jorams v. Israel
2 Kön 9,1–10,36
Joahas
818–802 v. Chr.
Sohn Jehus
2 Kön 13,1–9
Joas
802–787 v. Chr.
Enkel Jehus
2 Kön 13,10–25
Jerobeam II.
787–747 v. Chr.
Urenkel Jehus
2 Kön 14,23–29
Sacharja
747 v. Chr.
Ur-Urenkel Jehus
2 Kön 15,8–11
Auch die Nimsidenkönige trugen jetzt den Namen JHWHs in ihrem Namen, d. h. die Verehrung JHWHs als Gott des regierenden Königshauses und damit des Königreiches setzte sich mit den Nimsiden auch in Israel durch. Die Nimsidenkönige konnten sich nicht aus eigener Kraft von der aramäischen Herrschaft befreien. Dies ermöglichte erst der zunehmende Druck der Assyrer auf die Aramäer, den Joas und Jerobeam II. nutzten, um Israel zu der Stärke zurückzuführen, die es unter den ersten Omriden gehabt hatte. Offenbar schloss dies erneut eine Dominanz Israels über Juda ein (2 Kön 14). Unter Jerobeam II. setzte ein wirtschaftlicher Aufschwung in Israel ein, der mit Rückgewinnung eroberter Gebiete, Neubau zerstörter Städte, Reorganisation der Verwaltung und (Neu-)Bau von Kultstätten einherging. Die archäologischen Funde weisen auf einigen Wohlstand, in der Hauptstadt Samaria sogar auf regelrechten Luxus hin. Obwohl das Alte Testament darüber nichts verlauten lässt, ist doch vorauszusetzen, dass im Hintergrund dieser Entwicklung die Assyrer standen. Ob sie sich den Schutz Israels vor den Aramäern regelrecht bezahlen ließen, ist nicht sicher zu sagen, der Anschluss Israels an das assyrische Wirtschaftssystem hatte jedoch zweifellos Vorteile für beide Seiten. Mit der Herrschaft Tiglat-Pilesers III. (745−727 v. Chr.) trat das assyrische Reich in eine besonders expansive Phase. Tiglat-Pileser reorganisierte Heer und Verwaltung Assyriens und eroberte abhängige oder widerständige Länder schneller als seine Vorgänger. Außerdem führte er ein Deportationssystem ein, bei dem die Bewohner eroberter Länder in andere eroberte Gebiete umgesiedelt wurden. So sollte Widerstand gebrochen und eine Mischbe-
101
Zwei Königreiche, ein Gott
völkerung geschaffen werden, die sich einheitlich als „assyrisch“ verstand. In Israel geriet unter diesen gewandelten Verhältnissen das Königtum in die Krise. Der letzte König der Nimsiden-Dynastie, Sacharja, wurde nach nur sechsmonatiger Herrschaft ermordet. Danach lösten sich die Herrscher in rascher Folge ab. Offenbar konnte sich immer derjenige durchsetzen, der den größten Erfolg im Verhältnis zu Assyrien versprach. Schallum
747 v. Chr.
Mörder Sacharjas
Menachem
747–738 v. Chr.
Mörder Schallums 2 Kön 15,14–22
Pekachja
737–736 v. Chr.
Sohn Menachems 2 Kön 15,23–26
Pekach
735–732 v. Chr.
Mörder Pekachjas
2 Kön 15,27–31
Hosea ben Ela
731–723 v. Chr.
Mörder Pekachs
2 Kön 17,1–6
Krise in Israel
2 Kön 15,10–13
Menachem unterwarf sich Tiglat-Pileser III. und zahlte Tribut. Er wurde von Pekachja abgelöst, der ebenfalls nur kurz regierte. Sein Mörder Pekach verbündete sich mit Rezin, dem König von Damaskus, und eventuell weiteren Fürsten, um die Assyrer aus der Region zu vertreiben (um 734 v. Chr.). Pekach und Rezin versuchten, auch König Ahas von Juda zum Beitritt zu bewegen. Als dieser sich weigerte, sollen Pekach und Rezin versucht haben, Juda zu erobern und Ahas abzusetzen (Jes 7,1.5−6). Die exakten Vorgänge dieses sog. „syrisch-ephraimitischen Krieges“ sind unklar; Ahas wandte sich an Assur um Unterstützung. Tiglat-Pileser unternahm 733 v. Chr. eine Strafexepedition nach Damaskus und Israel. Dabei zerschlug er zunächst das Reich Israel und trennte den wirtschaftlich und strategisch wichtigen Norden und Nordosten als assyrische Provinzen von Israel ab. 732 v. Chr. eroberte Tiglat-Pileser Damaskus und machte das Aramäerreich zur assyrischen Provinz. Israel blieb zunächst als Rumpfstaat „Ephraim“ von Samaria bis Bet-El erhalten, und Hosea wurde als pro-assyrischer Vasallenkönig eingesetzt. Bereits in diesem Zusammenhang wurden Israeliten deportiert (2 Kön 15,29). Der Thronwechsel von Tiglat-Pileser zu Salmanassar V. (727−722 v. Chr.) erschien Hosea von Israel als günstige Gelegenheit zum Abfall von Assyrien. Er stellte die Tributzahlungen ein und nahm möglicherweise Kontakt mit Ägypten auf. Salmanassar reagierte sofort, ließ Hosea gefangen nehmen (2 Kön 17,4) und besetzte Ephraim. Er begann außerdem eine Belagerung
Krieg gegen Juda
assyrische Strafaktion
720 v. Chr.: Eroberung Samarias
102
Historischer Vorspann
Samarias (722 v. Chr.). Sein Nachfolger Sargon II. eroberte Samaria im Jahr 720 v. Chr. Das noch übrige Ephraim-Israel wurde zur assyrisch verwalteten Provinz Samaria. Sargon II. berichtet über diese Vorgänge folgendermaßen: „Die Samarier, die gegen meinen königlichen Vorgänger Groll hegten, und, um keine Untertänigkeit zu bezeugen und keinen Tribut zu liefern, Krieg führten – in der Kraft der großen Götter, meiner Herren, kämpfte ich mit ihnen. 27.280 Einwohner nebst Streitwagen und den Göttern, auf die sie vertrauten, rechnete ich als Beute. 200 Streitwagen für mein königliches Heer hob ich unter ihnen aus und machte es größer als zuvor. Leute aus Ländern, die ich mit meiner Hand erobert hatte, ließ ich darin einziehen. Einen General stellte ich als Statthalter über sie ein und zählte sie zu den Einwohnern Assyriens.“ (Kalah-Prisma Sargons II. Übersetzung nach R. Borger, in: O. Kaiser (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Bd. I, Gütersloh 1982, 382) Opfer der Eroberung
Die genannte Zahl von 27.280 Personen entspricht etwa 10 % der Gesamtbevölkerung. Man wird in etwa mit der gleichen Anzahl an Kriegstoten rechnen müssen. Überdies f lüchtete eine große Anzahl Israeliten nach Juda. Israel erlebte also einen erheblichen Bevölkerungsschwund, wurde aber nicht völlig entvölkert. Die Assyrer ließen Städte wiederaufbauen − Samaria wurde neu gestaltet und Verwaltungszentrum − und nutzten die Provinz als Truppenstandort und zur Ressourcengewinnung. Das Königreich Israel war damit untergegangen. B. Becking, The Fall of Samaria, Leiden 1992. M. Haran, The Rise and Decline of the Empire of Jeroboam ben Joash, in: VT 17 (1967), 266– 297. E. Stern, Archaeology of the Land of the Bible, Bd. 2: The Assyrian, Babylonian, and Persian Period 732–332 BCE, New York u. a. 2001. S. Timm, Ein assyrisch bezeugter Tempel in Samaria?, in: U. Hübner/E.A. Knauf (Hg.), Kein Land für sich allein. Studien zum Kulturkontakt in Kanaan, Israel/Palästina und Ebirnari für Manfred Weippert zum 65. Geburtstag, Freiburg/Göttingen 2002 (OBO 186), 126–133. C. Uehlinger, „… und wo sind die Götter von Samarien?“ Die Wegführung syrisch-palästinischer Kultstatuen auf einem Relief Sargons II. in Khorsabad/Dur-Sarrukin, in: M. Dietrich/I. Kottsieper (Hg.), „Und Mose schrieb dies Lied auf …“ (FS O. Loretz), Münster 1998 (AOAT 250), 739–776.
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Informieren Sie sich über die assyrische Kriegs- und Eroberungsstrategie anhand K. Veenhof, Geschichte, 230−233.
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Zwei Königreiche, ein Gott
Juda von der assyrischen Zeit bis zur babylonischen Eroberung (720−587/6 v. Chr.)
3.3.7
H. Donner, Geschichte, 316–328. I. Finkelstein, The Rise of Jerusalem and Judah: The Missing Link, in: Levant 33 (2001), 105–115. L. L. Grabbe (Hg.), „Like a Bird in a Cage“. The Invasion of Sennacherib in 701 B. C. E., London/ New York 2003 (JSOT.S 363). R. Kletter, Pots and Polities: Material Remains of Late Iron Age Judah in Relation to its Political Borders, in: BASOR 314 (1999), 19–43. N. Na’aman, Population Changes in Palestine following Assyrian Deportation, in: Tel Aviv 20 (1993), 104–124. H. M. Niemann, Herrschaft, 96–132. A. Schoors, Die Königreiche Israel und Juda im 8. und 7. Jh. v. Chr. Die assyrische Krise, Stuttgart 1998 (BE 5). D. Ussishkin, The Water Systems of Jerusalem during Hezekiah’s Reign, in: M. Weippert (Hg.), Meilenstein. (FS H. Donner) Wiesbaden 1995 (ÄAT 30), 189–305. D. Ussishkin, The Conquest of Lachis by Sennacherib, Tel Aviv 1982.
Wie oben dargestellt, stand Juda im 9. und frühen 8. Jh. v. Chr. in jeder Hinsicht im Schatten Israels. Durch die Alleinherrschaft der Omridenprinzessin Athalja war die davidische Herrscherfolge für kurze Zeit unterbrochen. In dieser Zeit hat die judäische Herrscherliste folgende Reihenfolge: Jehoram
852–845 v. Chr.
Ahasja
845 v. Chr.
Athalja (weiblich!) Joas
845–840 v. Chr. 840–801 v. Chr.
Amazja Asarja/Ussia Jotam
801–773 v. Chr. 773–736 v. Chr. 765–741 v. Chr.
Ahas Hiskia
741–725 v. Chr. 725–697 v. Chr. (oder: 728–700 v. Chr.) 696–642 v. Chr. Sohn Hiskias 641–640 v. Chr. Sohn Manasses, ermordet 639–609 v. Chr. Sohn Amons (Nachkomme Davids in 16. Generation)
Manasse Amon Josia
Nachkomme Davids (6. Generation) Sohn Jehorams, ermordet von Jehu v. Israel Tochter oder Schwester Ahabs von Israel Sohn Ahasjas, ermordet Sohn Joas’, ermordet Sohn Amazjas Sohn Asarjas; Mitregent seines Vaters Sohn Jotams Sohn Ahas’
2 Kön 8,16–24 2 Kön 8,25–9,29 2 Kön 11,1–20 2 Kön 12,1–22 2 Kön 14,1–20 2 Kön 15,1–7 2 Kön 15,32–38 2 Kön 16,1–20 2 Kön 18,1–20,21 2 Kön 21,1–18 2 Kön 21,19–26 2 Kön 22,1–23,30
Herrscher aus dem Hause Davids
104
Historischer Vorspann
Aufschwung in Juda
Mit Beginn des 8. Jhs. v. Chr. wurde auch Juda vom allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung erfasst und fand Anschluss an die politische und kulturelle Entwicklung der Region. Die Siedlungsdichte nahm zu, und eine Reihe von Städten in der Schefela und im Negev wurde ausgebaut − es ist allerdings umstritten, ob sie wirklich zu Juda gehörten. Unter Ahas geriet Juda erstmalig auch in den Sog der assyrischen Expansion. Im Zusammenhang mit dem Feldzug TiglatPilesers III. 734 v. Chr. − wahrscheinlich noch vor dem syrischephraimitischen Krieg − unterwarf sich Ahas und zahlte Tribut. Die entsprechende assyrische Königsinschrift bietet die erste außerbiblische Erwähnung des Reiches Juda. Dieser Anschluss Judas an die assyrische Großmacht schuf die Grundlage dafür, dass Ahas die Assyrer in der Bedrohung des syrisch-ephraimitischen Krieges um Hilfe bitten konnte. Spätestens von jetzt an war Juda ein Vasallenstaat der Assyrer. Nach 2 Kön 16,10−18 verlieh Ahas seiner Unterwerfung dadurch Ausdruck, dass er im Jerusalemer Tempel Kulteinrichtungen nach assyrischem Vorbild aufstellen ließ. Jes 7,1−9 lässt erkennen, dass Ahas’ pro-assyrische Politik von einf lussreichen Kreisen in Jerusalem als Verrat an JHWH kritisiert wurde. Die Eroberung Israels im Jahr 720 v. Chr. hatte enorme Konsequenzen für Juda. Eine große Zahl von Flüchtlingen − die genaue Zahl ist nicht bekannt − kam nach Juda, vor allem nach Jerusalem. Die Stadt vergrößerte sich um das Achtfache, die Einwohnerzahl stieg von ca. 1000 auf ca. 15.000 an. Auch auf dem Land wuchs die Bevölkerung, was zu verstärkter Bautätigkeit führte. Es war eine schwierige Aufgabe, die Neu-Judäer sozial, wirtschaftlich, religiös und kulturell zu integrieren. Eine Folge dieser Integrationsarbeit war, dass die Bevölkerung Judas sich jetzt selbst „Israel“ zu nennen begann. Die Zusammenarbeit mit den Assyrern, das Bevölkerungswachstum und der Zustrom technisch und intellektuell gut ausgebildeter Leute bedeuteten für Juda einen Sprung nach vorn. Es lässt sich archäologisch nachweisen, dass Juda von nun an zu einem vollständig entwickelten Königreich mit zentralisierter Verwaltung, Bau- und Verteidigungspolitik wurde. Die Herrschaftszeit des assyrischen Königs Sargon II. (722−705 v. Chr.) − des Eroberers von Samaria − verlief unruhig. Auch im syrisch-palästinischen Raum f lammten zwischen 717 und 712 v. Chr. immer wieder Aufstände auf, an denen sich Juda unter König Hiskia gelegentlich beteiligte. Sargons Sohn und Nachfolger San-
Juda unterwirft sich den Assyrern
Folgen des Untergangs Israels für Juda
anti-assyrische Aufstände
Zwei Königreiche, ein Gott
herib (705−681 v. Chr.) verfolgte daraufhin eine groß angelegte, dauerhafte Unterwerfungspolitik. 706 v. Chr. verbündeten sich nahezu sämtliche syrisch-palästinischen Vasallenreiche zu einem breit aufgestellten antiassyrischen Bündnis, in dem Hiskia von Juda anscheinend eine bedeutende Rolle spielte. Für dieses Bündnis konnte sogar Unterstützung aus Ägypten (Jes 18) und − möglicherweise − aus Babylonien (2 Kön 20,12−19) gewonnen werden, der Sinn dieses Aufstandes war aber in Jerusalem heftig umstritten (Jes 28−31). Von 705 v. Chr. an brach Sanherib auf, um den Aufstand niederzuwerfen. Er zog zunächst die Küste entlang nach Süden und unterwarf die phönizischen Städte. Danach eroberte er die philistäischen Städte und rückte dann von der Schefela aus ins judäische Bergland vor. Lachis, die zweitwichtigste Stadt Judas, wurde belagert und erobert. Die Eroberung von Lachis hat Sanherib auf einem eindrucksvollen Relief darstellen lassen. Bei der Ausgrabung der Stadt wurden Waffen, Rüstungen und Reste der Belagerungsrampe gefunden − und 1500 Leichen. Auch Jerusalem wurde belagert, konnte aber nicht erobert werden. Dies geschah im Jahr 701 v. Chr.
105
Hiskia versucht den Abfall von Assyrien
Die Belagerung Jerusalems2 Kön 19,35–36 berichtet von einem Wunder: 35 Und in dieser Nacht fuhr aus der Engel des HERRN und schlug im Lager von Assyrien hundertfünfundachtzigtausend Mann. Und als man sich früh am Morgen aufmachte, siehe, da lag alles voller Leichen. 36 So brach Sanherib, der König von Assyrien, auf und zog ab, kehrte um und blieb zu Ninive.
Der Bericht Sanheribs ist in dieser Hinsicht etwas unbestimmt: „Und Hiskia vom Lande Juda, der sich meinem Joch nicht gebeugt hatte, 46 seiner festen Städte, mit Mauern versehene, und die kleinen Städte in ihrer Umgebung, ohne Zahl, durch Niedertreten mit Bohlenbahnen und durch Ansturm mit Belagerungsmaschinen, durch den Kampf der Fußtruppen, durch Einbruchsstellen, Breschen und Mauerbrecher, belagerte und eroberte ich sie. 200.150 [vermutbar: 21.500] Leute, jung und alt, männlich und weiblich, Rosse, Maultiere, Esel, Kamele, Rinder und Kleinvieh ohne Zahl führte ich von ihnen heraus und rechnete sie als Beute. Ihn selbst, wie einen Käfigvogel, inmitten der Stadt Jerusalem, der Stadt seines Königtums, schloss ich ein. Befestigungen gegen ihn warf ich auf, und den aus
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Historischer Vorspann
dem Tore seiner Stadt Herauskommenden vergalt ich ihre Übertretung.“ (Taylor-Prisma Sanheribs. Übersetzung nach: R. Borger, in: O. Kaiser (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Bd. I, Gütersloh 1982, 384)
Demzufolge ist umstritten, warum Jerusalem nicht erobert wurde. Im Ergebnis des judäischen Feldzuges formuliert Sanherib jedoch unmissverständlich: „Ihn, den Hiskia, die Furcht vor dem Glanz meiner Herrschaft überwältigte ihn (…) Außer 30 Talenten Gold, 800 Talenten Silber, Edelsteinen, Schminke, Daggassu-Steinen, großen Lapislazuli-Steinen, Betten aus Elfenbein, Thronsesseln aus Elfenbein, Elefantenhaut, Elefantenzähnen, Ahornholz, Buchsbaumholz, allerlei wertvollen Schätzen, seine Töchter und Palastfrauen, Sänger und Sängerinnen ließ er nach Ninive, der Stadt meiner Herrschaft, mir nachbringen, und zur Abgabe des Tributs und zur Erklärung der Botmäßigkeit schickte er seinen Gesandten.“ (Taylor-Prisma. Übersetzung nach: R. Borger, Texte aus der Umwelt des Alten Testaments I, 385)
Es ist daher möglich und sogar wahrscheinlich, dass Hiskia Jerusalem durch einen gewaltigen Tribut in letzter Minute freikaufte und somit vor der Eroberung verschonte.
Folgen des assyrischen Feldzugs
Sanherib machte Juda nicht zur assyrischen Provinz. Vielmehr verkleinerte er es auf Jerusalem mit seinem Umland und übergab die Schefela in philistäische Verwaltung. Das judäische Kernland erlebte einen massiven Bevölkerungsrückgang und einen wirtschaftlichen Einbruch. Gleichwohl gab die Rettung Jerusalems den Anlass zur Verstärkung einer (Religions-)Politik, die die Eigenständigkeit JHWHS und Judas gegenüber den Assyrern stärker betonte. Sie kam jedoch erst etwas später zu vollem Ausdruck. Hiskias Nachfolger, sein Sohn Manasse und sein Enkel Amon, verfolgten offenbar eine Politik der weitreichenden Loyalität gegenüber Assur. Die Assyrer belohnten dies mit der Rückgabe eroberter Gebiete, wahrscheinlich auch mit Wirtschaftshilfe. Juda erlebte unter Manasse seine größte Ausdehnung und seinen größten wirtschaftlichen Erfolg, aber auch eine massive Bedeutungszunahme der assyrischen Leitkultur (vgl. dazu C. Frevel, Grundriss, 620−622). Manasses Regierungszeit fällt mit der letzten Blütezeit des assyrischen Reiches zusammen, das danach einen raschen Niedergang erlebte.
107
Zwei Königreiche, ein Gott
Der Untergang Assyriens und der Aufstieg des neu-babylonischen ReichesVon ca. 630 v. Chr. an begann das assyrische Reich erste Krisensymptome zu zeigen; bereits 612 v. Chr. war sein Untergang durch die Eroberung der Hauptstadt Ninive besiegelt. Die Gründe für den Untergang des assyrischen Reiches sind vielfältig. Von innen her stieß das Reich mit der Herrschaft Assurbanipals an seine Grenzen: Assurbanipal eroberte Teile Ägyptens (667–664 v. Chr.), Kleinasien und den Kaukasus (658–653 v. Chr.). Mit dieser Maximalausdehnung waren die Kräfte Assyriens erschöpft; ein solches Riesenreich ließ sich mit den vorhandenen Mitteln kaum noch effektiv kontrollieren und verwalten. Entscheidend für den raschen Niedergang waren aber äußere Feinde. Die Ägypter fügten sich nur kurzfristig unter die assyrische Herrschaft. Die Pharaonen Psammetich I. (664–610 v. Chr.) und Necho II. (610–595 v. Chr.) verfolgten politische Ziele, die über Ägypten hinausreichten. Im äußersten Osten des assyrischen Reiches expandierten Meder und Perser und begannen mit dem Aufbau eigener Großreiche. Die größte Gefahr aber erwuchs den Assyrern von den Babyloniern im Südosten ihres Reiches. Die Babylonier waren nicht nur die nächsten Nachbarn der Assyrer, sondern auch kulturell, sprachlich und religiös eng mit ihnen verwandt. Aufgrund ihrer sehr alten Geschichte (s. dazu K. Veenhof, Geschichte, 57–80.112–122) genossen die Babylonier im assyrischen Reich eine Sonderrolle. Gleichwohl rebellierten die Babylonier von 652 v. Chr. an gegen die Assyrer und machten sich innere Rivalitäten der assyrischen Führungsschicht zunutze. Nach Assurbanipals Tod machte sich Babylonien 626 v. Chr. selbständig und eroberte – mit Unterstützung durch die Meder im Osten – das assyrische Reich. 616 v. Chr. war Babylonien vollständig unabhängig, 614 v. Chr. eroberte es die Stadt Assur, 612 v. Chr. Ninive. Das assyrische Herrscherhaus zog sich hinter den Euphrat nach Harran zurück. Die Stadt wurde 605 v. Chr. von den Babyloniern erobert, und das (neu-) babylonische Reich trat die Nachfolge des assyrischen Reiches an. Aus judäischer Perspektive unterschied sich die babylonische Politik nicht wesentlich von der assyrischen. Unterschiede bestanden vor allem in der milderen Deportationspraxis der Babylonier. Außerdem trat der babylonische Hauptgott Marduk an die Stelle des Gottes Assur. Wesentlich wichtiger für die Geschichte Judas im 7./6. Jh. v. Chr. waren die wechselvollen politischen Allianzen Judas und der anderen Reiche im Zuge des Machtwechsels. H. Donner, Geschichte, 359–369.
Das späte 7. und das frühe 6. Jh. v. Chr. waren eine bewegte, aber auch bedeutende Phase der Geschichte Judas. Es spielten sich in dieser kurzen Zeit Ereignisse ab, die für die spätere Geschichte entscheidend werden sollten. Manasses Sohn und Nachfolger Amon wurde nach nur zweijähriger Regierungszeit aus unbekannten Gründen ermordet. Die Verschwörer wurden ihrerseits vom sog. „Volk des Landes“ getötet, das den achtjährigen Prinzen Josia zum König machte.
Josia von Juda
108
Historischer Vorspann
Dieses „Volk des Landes“ zeichnete sich durch Treue zum Davidshaus und eine Gegnerschaft gegenüber ausländischen Mächten aus. Es handelte sich um reiche und einflussreiche Provinzfamilien, die mit dem Hof verwandt waren. Die alttestamentlichen Berichte über die Herrschaft Josias sind entweder stark idealisiert (2 Kön 22−23; 2 Chr 34−36) oder wenig aussagekräftig (Jer 22,13−19). Gleichwohl waren diese dreißig Jahre für die Geschichte Judas von großer Bedeutung: Josia verfolgte eine religiös motivierte Emanzipationspolitik. Die Politik Josias von JudaNach allgemeinem Forschungskonsens ließ Josia Elemente aus dem Jerusalemer Tempel entfernen, die mit assyrischer religiöser Symbolik zusammenhingen: Altäre und wahrscheinlich bildhafte Darstellungen oder Symbole assyrischer Gottheiten sowie Einrichtungen zur Beobachtung der Gestirne. Möglicherweise entließ Josia auch entsprechende Priester (2 Kön 23,4.5.11.12). Außerdem sorgte er dafür, dass Opferhandlungen – die wichtigste Handlung des Kultes – nur noch am Jerusalemer Tempel stattfinden konnten (sog. „Kultzentralisation“). Möglicherweise führte Josia die Kategorie des „Bundes“ Israels mit JHWH in die Religion ein. Sie besagt, dass das Volk Israel nur JHWH gegenüber loyal sein darf. Das Vorbild dieser theologischen Denkfigur ist der politische Unterwerfungsvertrag, den die Assyrer in die Politik einführten. Er besagt auch, dass von nun an Assur der Herrscher des unterworfenen Landes ist und unbedingte Treue verlangt (→ Kap. 4.3.4). Ob schon Josia auf diese Erfahrung mit dem Bundesgedanken reagierte, oder ob dies erst später stattfand, ist umstritten. Die Erfahrung der wunderbaren Rettung Jerusalems im Jahr 701 war wahrscheinlich ein zusätzliches Argument. Im Ergebnis sollte auf jeden Fall die Alleinherrschaft JHWHs in Jerusalem betont werden. Die Konsequenz der Politik Josias war mit Sicherheit eine Distanzierung von den bereits geschwächten Assyrern. Außerdem wurde Jerusalem zum alleinigen politischen und religiösen Zentrum Judas; die Rolle der Jerusalemer Priester wurde enorm aufgewertet. In der Fernwirkung gehört Josias „Reform“ zur Vorgeschichte des Monotheismus. Es wird außerdem diskutiert, ob Josia seine Kultpolitik durch innenpolitische Maßnahmen (Rechtsreform, soziale Maßnahmen) und eine gezielte militärische Expansionspolitik (vgl. dazu I. Finkelstein/N. A. Silberman, Posaunen, 304– 310) begleitete. Eine Antwort hängt davon ab, wie man die Literatur über die Josiazeit einschätzt, und zusätzlich von der Interpretation des archäologischen Befundes. Ein genaues Bild lässt sich nicht gewinnen. H. Spieckermann, Juda unter Assur in der Sargonidenzeit, Göttingen 1982 (FRLANT 129). C. Uehlinger, Gab es eine joschijanische Kultreform? Plädoyer für ein begründetes Minimum, in: W. Gross (Hg.), Jeremia und die „deuteronomistische Bewegung“, Weinheim 1995 (BBB 98), 57–90.
109
Zwei Königreiche, ein Gott
Josia wurde 609 v. Chr. von Pharao Necho II. getötet. Die genauen Umstände dieses Ereignisses sind unklar. Sein Tod markierte das Ende der assyrischen Zeit Judas. Während der Präsenz Assurs im judäischen Raum hatte Juda so weit vom assyrischen System profitieren können, dass eine beachtliche wirtschaftliche, technische und kulturelle Entwicklung stattfand. Diese wurde u. a. von Hiskia und Josia zu einer Politik genutzt, die eine Art nationaler Identität Juda-Israels als Volk JHWHs umsetzte. Die Tatsache, dass die Assyrer Jerusalem im Jahr 701 v. Chr. nicht hatten erobern können, gab dieser Politik einen Auftrieb, den die zwischenzeitliche pro-assyrische Politik Manasses nicht völlig beiseiteschieben konnte. Juda wurde − anders als Israel − nie assyrische Provinz, sondern blieb ein mehr oder weniger loyaler Vasallenstaat. Immer noch abhängig von der politischen Dynamik der Großmächte, konnte es im syrisch-palästinischen Raum eine gewisse Rolle spielen. Nach Josias Tod zeigte sich jedoch, dass Judas Ressourcen nicht ausreichten, um nach dem Niedergang Assurs autonom zu werden. Die letzten Könige Judas müssen unter Berücksichtigung der verwandtschaftlichen Verhältnisse dargestellt werden (die Zahlen in Klammern hinter den Namen geben die Abfolge an):
nach Josias Tod
Abb. 3.3.2 Josias Söhne
B. Becking, From David to Gedaliah. The Books of Kings as Story and History, Freiburg/Göttingen 2007 (OBO 228). C. Hardmeier, Prophetie im Streit vor dem Untergang Judas: Erzählkommunikative Studien zur Entstehungssituation der Jesaja- und Jeremiaerzählungen II Kön 18–20 und Jer 37– 40, Berlin/New York 1990 (BZAW 187). J. Pakkala, Zedekiah’s Fate and the Dynastic Succession, in: JBL 125 (2006), 443–452.
110
Historischer Vorspann
Ägypten in Juda
Zur Zeit von Josias Tod waren Ägypter und Judäer eigentlich Verbündete und Vasallen der Assyrer gegen die Babylonier. Gleichwohl versuchten die Ägypter, in Juda und Samaria eine eigene Herrschaft zu etablieren. Dazu griffen sie in die judäische Politik ein, unterstützten aber durchaus auch die Assyrer. Tatsächlich wurde Juda in diesem Ringen der Großmächte aufgerieben. Nach Josias Tod 609 v. Chr. griff erneut das „Volk des Landes“ in die Thronfolge ein und machte Josias jüngeren Sohn Joahas zum König. Man versprach sich von ihm eine Fortsetzung der anti-assyrischen (und eventuell anti-ägyptischen) Politik. Joahas wurde jedoch von dem ägyptischen Pharao Necho II. abgesetzt und gefangen genommen. Statt Joahas machte Necho dessen älteren Bruder Jojakim (Geburtsname: Eljakim) zum König von Juda und erlegte ihm eine hohe Geldsumme auf. Diese trieb Jojakim beim judäischen Volk ein, was ihn äußerst unbeliebt machte (2 Kön 23,30−35). Im Jahr 605 v. Chr. besiegten die Babylonier die letzte assyrisch-ägyptische Koalition bei Karkemiš. Jojakim wurde zunächst widerstandslos Vasall der Babylonier. Als diese jedoch 601 v. Chr. eine weitere Schlacht gegen die Ägypter verloren, lief Jojakim wieder zu den Ägyptern über. Der babylonische König Nebukadnezar II. musste zunächst sein Heer reorganisieren, bis er 598 v. Chr. zum Gegenschlag ausholte. Juda wurde 597 v. Chr. erobert und Jerusalem belagert. Während der Belagerung starb Jojakim, und sein Sohn Jojachin folgte ihm auf den Thron. Er kapitulierte und verhinderte damit eine Zerstörung Jerusalems. Jojachin wurde nach Babylonien deportiert und lebte dort als Kriegsgefangener am Hofe des babylonischen Königs, allerdings zu recht komfortablen Bedingungen. Mit Jojachin wurde ein großer Teil der Bevölkerung nach Babylonien verschleppt: Angehörige des Königshofes, der Jerusalemer Führungsschicht, spezialisierte Handwerker, Priester u. a. Auch der Prophet Ezechiel war unter den Deportierten der ersten Eroberung Jerusalems. Die Zahlenangaben für die Deportierten schwanken zwischen 8000 (2 Kön 24,16) und ca. 3000 Personen (Jer 52,28). Überdies nahm Nebukadnezar einen Teil der Tempelgeräte und einen hohen Tribut mit. Er verzichtete allerdings darauf, Juda zur Provinz zu machen, und setzte stattdessen Josias letzten Sohn, Jojachins Onkel Zedekia (Geburtsname: Mattanja), zum König eines erneut verkleinerten Juda ein. Zedekia verhielt sich wie sein Bruder Jojakim und war zunächst den Babyloniern gegenüber loyal, bis er zu den
Jojakim: zwischen Babylon und Ägypten
597 v. Chr.: erste Deportation
Zedekia: das Ende des Reiches Juda
Zwei Königreiche, ein Gott
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Ägyptern überlief. Für diesen Aufstand wurden auf Seiten der Befürworter wie der Gegner massiv religiöse Gründe ins Feld geführt. Nur so wird die außergewöhnlich harte Reaktion der Babylonier erklärlich, die nach 18-monatiger Belagerung Jerusalem einnahmen und Stadt und Tempel fast völlig zerstörten. Erneut wurden Personen deportiert. Die Küstenebene wurde infolge der Kriegshandlungen ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen. Mit der zweiten Eroberung Jerusalems 587/6 v. Chr. endete die eigenstaatliche Existenz Judas, und es begann eine lange Phase wechselnder Fremdherrschaften, die erst im 2. Jh. v. Chr. beendet werden sollte. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Verschaffen Sie sich einen Überblick über die Entwicklung Jerusalems im 8. Jh. v. Chr.: M. Broshi, The Expansion of Jerusalem in the Reigns of Hezekiah and Manasseh, in: IEJ 24 (1974), 21−26.
2. Lesen Sie Jes 36−37: Welche Diskussionen um den Sinn des Aufstandes Hiskias gegen die Assyrer spiegeln sich in diesem Text?
3. Lesen Sie Ps 48 (ohne V. 9). Inwiefern könnte dieses Gebet ein Ref lex auf die Erfahrung von 701 sein?: C. Körting, Zion in den Psalmen, Tübingen 2006 (FAT 48), 165−176.
4. Die Politik des Königs Josia wird in der Forschung sehr unterschiedlich beurteilt. Lesen Sie dazu: C. Uehlinger, Gab es eine joschijanische Kultreform? Plädoyer für ein begründetes Minimum, in: W. Gross (Hg.), Jeremia und die „deuteronomistische Bewegung“, Weinheim 1995 (BBB 98), 57−90.
5. Aus der Zeit der zweiten Belagerung Jerusalems sind Briefe aus den Festungen der Schefela erhalten (sog. Lachis-Ostraka). Lesen Sie diesen Ausschnitt: „Möge JHWH meinen Herrn [= den König] hören lassen gerade jetzt erfreuliche Nachrichten! Und nun: entsprechend allem, was mein Herr anbefahl, hat dein Knecht getan … Was jedoch mein Herr mir anbefahl wegen [der Stadt] Beth-Harrapid – dort gibt es keinen Menschen mehr … Und mein Herr soll wissen, dass wir auf die Signalzeichen von Lachis achten … jedoch sehen wir nicht mehr die Zeichen von Aseka. (…) Und siehe, die Worte der Obersten sind nicht gut, vielmehr schlaff zu machen deine Hände und sinken zu lassen die Hände der Männer.“ (Lachis-Ostraka Nr. 4 und Nr. 6 nach: H. Donner, Geschichte, 378)
Was erfahren Sie aus diesem Brief nach Jerusalem über die Situation des Krieges?
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Historischer Vorspann
3.4
Nach der Katastrophe: Die „Exilszeit“ R. Albertz, Die Exilszeit. 6. Jh. v. Chr., Stuttgart 2001 (BE 7). L. L. Grabbe (Hg.), Leading Captivity Captive. The Exile as History and Ideology, Sheffield 1998. J. Kiefer, Exil und Diaspora. Begrifflichkeit und Deutungen im antiken Judentum und in der hebräischen Bibel, Leipzig 2005 (ABG 19). E. Stern, The Babylonian Gap: The Archaeological Reality, in: JSOT 28 (2004), 273–277. H. J. Stipp, Gedalja und die Kolonie von Mizpa, in: ZAR 6 (2000), 155–171. T. Wagner, Art. Exil/Exilszeit, in: www.wibilex.de.
587–539 v. Chr.
Die babylonische Herrschaft über Juda dauerte bis 539 v. Chr. Ihr Anfang muss streng genommen schon mit der Unterwerfung Jojakims 605 v. Chr. angesetzt werden. Der eigentliche Beginn wird jedoch meist bei den beiden Eroberungen Jerusalems 597 v. Chr. und 587 v. Chr. gesehen, weil mit den Deportationen und schließlich mit der Zerstörung Jerusalems ein merklicher Einschnitt vorliegt. Der nachfolgende Geschichtsabschnitt (587−539 v. Chr.) wird traditionell als „Exilszeit“ bezeichnet.
Exil, Go¯la¯, DiasporaDer Begriff Exil ist nicht ganz sachgemäß. In historischer Hinsicht bildet das „Exil“ – also die zeitlich begrenzte Abwesenheit der Israeliten aus dem Mutterland – nur einen Teilabschnitt der babylonischen Epoche, die ja bereits 605 v. Chr. begann. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Babylonier insgesamt drei große (597, 587, 582 v. Chr.) und mehrere kleine Deportationen durchführten. Drittens schließlich wurde Judas politischer Status nach 587 noch eine Weile in der Schwebe gehalten. Der Begriff „Exilszeit“ setzt also eine problematische Zäsur. Auch der Begriff „Exil“ an sich ist nicht wirklich angemessen. Nach herkömmlicher Definition begibt man sich mehr oder weniger freiwillig in ein Exil und hat am Zielort nicht zu befürchten, denselben Zwangsmaßnahmen ausgesetzt zu sein wie in der Heimat. Im Falle des alttestamentlichen „Exils“ handelt es sich aber um Zwangsumsiedlungen durch eine Macht, die sowohl die Heimat als auch den Zielort beherrscht. Drittens schließlich macht sich der Begriff „Exil(-szeit)“ für den Abschnitt von 587–539 die Perspektive der alttestamentlichen Texte zu eigen, nach der das ganze Volk geschlossen in die Verbannung wanderte und das Land leer hinterließ, bis es zur Rückkehr kam. Diese Perspektive ist historisch nicht korrekt. Vielmehr blieb ein erheblicher Teil der Bevölkerung im Land, was spätere wichtige Entscheidungen und Ereignisse maßgeblich beeinflusste. Um die Andersartigkeit des alttestamentlichen „Exils“ gegenüber anderen Exilen zu kennzeichnen, wird zunehmend der hebräische Begriff „Go¯la¯“ (= Auswanderung, Verbannung) verwendet. „Diaspora“ (griech.: Verteilung, Zerstreuung) ist dagegen nicht mit dem Exil/ der Go¯la¯ zu verwechseln. Mit Diaspora bezeichnet man die Zerstreuung von Menschen jüdischer Herkunft und/oder jüdischen Glaubens außerhalb des Mutterlandes nach der alttestamentlichen Exilszeit.
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Nach der Katastrophe: Die „Exilszeit“
3.4.1
Die Entwicklungen im Mutterland Die Maßnahmen Nebukadnezars II. sind vor allem als Strafaktion gegen Jerusalem zu begreifen. Die Stadt und ihr unmittelbares Umland wurden weitgehend zerstört. Weitere Zerstörungen im Süden des Landes lassen sich nicht eindeutig zuordnen. Außer den Babyloniern kommen hier als Verursacher auch Ägypter und ostjordanische Edomiter in Betracht, die Judas Niederlage ausnutzten. Nebukadnezar ließ Juda zunächst eine letzte Chance auf eine begrenzte Eigenverantwortung; zumindest versuchten die Babylonier, Juda von innen heraus zu stabilisieren. Ein vornehmer Judäer namens Gedalja wurde als Statthalter − möglicherweise sogar als Vasallenkönig − eingesetzt. Gedalja stammte nicht aus der Davidsfamilie, seine Familie genoss aber in Juda und Jerusalem einiges Ansehen, wobei sie anscheinend immer eine pro-babylonische Option vertreten hatte. Da Jerusalem zerstört war, verlegte Gedalja seinen Herrschaftssitz weiter nördlich nach Mizpa in Benjamin (Jer 40,6.8). Die Region Benjamin war von den Babyloniern nicht zerstört worden, erlebte wegen ihrer wichtigen verkehrsgeographischen Lage sogar einen Bedeutungszuwachs und war wirtschaftlich und kulturell in gutem Zustand. Sehr wahrscheinlich wurde das ehemalige israelitische Heiligtum von Bet-El als Ersatz für den Jerusalemer Tempel genutzt. Gedalja versuchte nach Kräften, Juda zu stabilisieren. Er gestattete Flüchtlingen, verlassene Güter in Besitz zu nehmen (Jer 40,10). Solche Maßnahmen wurden auch von den Babyloniern durchgeführt. Der größere Teil des Landes wurde aber von den Babyloniern in Besitz genommen und die Landbevölkerung zur Zwangsarbeit verpf lichtet. Auch Gewaltakte waren offenbar verbreitet (Klgl 5,1−12). Gedalja wurde − vermutlich 582 v. Chr − von einem Angehörigen der Davidsfamilie getötet. Darauf hin führten die Babylonier noch einmal eine Deportation durch.
zerstörtes Land
Gedalja als Verwalter
Die babylonischen DeportationenDie genaue Zahl der insgesamt nach Babylon Deportierten ist unbekannt. Babylonische Quellen fehlen. 2 Kön 24,14 nennt 10.000 für die erste Deportation 597 v. Chr. (hierher stammt die Redewendung „die oberen Zehntausend“), 2 Kön 24,16 hingegen nur etwas mehr als 8000. Die konkretesten Angaben macht der Prophet Jeremia: Nach Jer 52,28–30 wurden 597 v. Chr. 3023 Personen aus Juda deportiert, 587 v. Chr. dann 832 aus Jerusalem und 582 v. Chr. noch einmal 745 Personen. Diese insgesamt 4600 Deportierten kommen der historischen Wirklichkeit wohl ziemlich nahe, obwohl einige Forscher von einer erheblich
114
Historischer Vorspann
größeren Anzahl ausgehen. Wie schon bei den Assyrern wird man zum Bevölkerungsverlust durch Deportation noch einmal (mindestens) dieselbe Anzahl von Menschen annehmen müssen, die flohen oder starben. Im Zusammenhang mit Gedaljas Ermordung flüchtete eine größere Gruppe von Judäern – unter ihnen der Prophet Jeremia – nach Ägypten (Jer 41–44). Dort ließen sie sich in ägyptischen Diensten nieder und begründeten die ersten bekannten DiasporaGruppen. Auf jeden Fall blieben die babylonischen Deportationen zahlenmäßig hinter den assyrischen zurück. Anders als die Assyrer waren die Babylonier an der Entwicklung ihres eigenen Landes interessiert, nicht am Aufbau eines internationalen Wirtschaftssystems. Darum führten die Babylonier auch nur Deportationen nach Babylonien durch und installierten keine rotierende Umsiedlungspolitik. Deportiert wurden außer Königshof und Hochadel vor allem Priester, Soldaten und spezialisierte Handwerker. wieder eine Stämmegesellschaft
Verlust des Tempels
Nach 582 v. Chr. stellten die Babylonier die Selbstverwaltung Judas ein. Ihre genaue Politik in Juda-Israel ist nicht bekannt. Wahrscheinlich wurde Juda als Teilprovinz der größeren Verwaltungseinheit Samaria, d. h. dem ehemaligen Königreich Israel unterstellt. In Juda selbst sorgten babylonische Beamte für die Durchführung von Steuer- und Arbeitsleistungen. Die inneren Angelegenheiten und die Organisation wurden von nun an ohne (eigene) königliche Führung durch Ältestengremien in den Ortschaften oder in Sippenverbänden wahrgenommen. Dabei kam es − durch die Provinzordnung angestoßen − zur Zusammenarbeit und zum Zusammenwachsen von Judäern und (ehemaligen) Israeliten, die sich seit dem Jahr 720 bereits ähnlich organisiert hatten. Die soziale und politische Lage in Israel und Juda glich somit der Situation unmittelbar vor der Entstehung des Königtums, dürfte allerdings nach dreihundert Jahren der Staatlichkeit erheblich differenzierter gewesen sein als im 11. Jh. Neben Bevölkerungsschwund, wirtschaftlicher Not, Fremdherrschaft und kriegerischen Angriffen im Süden des Landes standen die Israeliten im Mutterland vor einem gleichermaßen religiösen wie politischen Problem, nämlich dem Verlust des Tempels in Jerusalem. In Bet-El fand zwar ein kultischer Betrieb statt, doch wurde dieser wohl von vielen nicht als vollwertiger Ersatz für den Jerusalemer Tempel empfunden. Die im Land Verbliebenen standen somit vor der Aufgabe, das Verhältnis von Gott und Volk neu zu begründen und die vorliegende Organisation (theologisch) zu legitimieren. Die Alternative wäre ein Identitätsverlust und ein Aufgehen Israels in der altorientalischen Gesamtkultur gewesen.
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Nach der Katastrophe: Die „Exilszeit“
In der materiellen Kultur des frühen 6. Jhs. v. Chr. zeigt sich, dass der größere Teil der Bevölkerung Judas und Samarias sich in die internationale Kultur des östlichen Mittelmeerraums eingliederte (vgl. A. Berlejung, Geschichte, 142−144). Der Widerstand dagegen wurde vermutlich nur von einer verhältnismäßig kleinen Gruppe getragen. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Klgl 1−5! Welche Informationen über die Folgen der babylonischen Eroberung können Sie den Texten entnehmen? (Literatur: I. Meyer, Die Klagelieder, in: E. Zenger (Hg.), Einleitung, 478−483).
2. Lesen Sie Jer 40−43 und geben Sie die Ereignisse, die dort geschildert werden, mit eigenen Worten wieder. (Literatur: H. J. Stipp, Gedalja und die Kolonie von Mizpa, in: ZAR 6 (2000), 155−171).
3. Welche Möglichkeiten der Gestaltung des religiösen Lebens gab es im Alten Orient nach Eroberungen und Tempelzerstörungen? Fassen Sie die Darstellung des folgenden Aufsatzes zusammen: A. Berlejung, Notlösungen − Altorientalische Nachrichten über den Tempelkult in Nachkriegszeiten, in: U. Hübner/E. A. Knauf (Hg.), Kein Land für sich allein. Studien zum Kulturkontakt in Kanaan, Israel/Palästina und Ebirnâri für Manfred Weippert zum 65. Geburtstag, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 2002 (OBO 186), 196−230.
Die Entwicklungen in Babylonien Von der „babylonischen Gefangenschaft“ − so der traditionelle Begriff − macht man sich häufig falsche Vorstellungen: „Man sieht die Deportierten in elenden Verhältnissen, unter der Fuchtel peitschenschwingender Aufseher harte Sklavenarbeit verrichten, als ein Heer erbarmungswürdiger Gefangener. Nach des Tages Last und Mühe saßen sie, womöglich mit klirrenden Ketten, an den Wasserflüssen Babylons und weinten, wenn sie an Zion gedachten (Ps 137). Von alledem kann keine Rede sein. (…) Den größeren Teil der Exulantenschaft siedelten die Babylonier in verschiedenen Kolonien an, die möglicherweise zum Domänenbesitz der Könige gehörten (Krongutländereien). Sie lebten dort als zwangsumgesiedelte Untertanenbevölkerung, keineswegs im Zustande der Sklaverei. Sie hatten relative Bewegungsfreiheit, konnten Häuser bauen, Pflanzungen anlegen, Handel treiben und ein den Umständen entsprechendes normales Leben führen. Sie verwalteten sich selbst unter Leitung der ‚Ältesten der Exulantenschaft‘ (Jer 29,1; Ez 8,1; 14,1; 20,1). … Sie blieben nach Familien organisiert (Esr 2 = Neh 7)
3.4.2 eine erträgliche Lage
116
Historischer Vorspann
… Manche von ihnen brachten es zu beachtlichem Wohlstand (Esr 1,6; 2,68 f.). Selbst Sklavenhandel war ihnen gestattet (Esr 2,65).“ (H. Donner, Geschichte, 383 f.)
Religion im Exil
Die Babylonier siedelten die Judäer in geschlossenen Gruppen an, die nach Familien und/oder Berufsgruppen geordnet und organisiert waren. Die im Alten Testament genannten Orte sind nicht lokalisierbar, lagen aber wahrscheinlich südöstlich der Stadt Babylon. Das Leben der Deportierten belegen vor allem Verträge und Geschäftstexte (Vgl. dazu T. Wagner, Exil). Eine Sonderrolle unter den Deportierten spielte der König Jojachin. Er lebte mit seiner zahlreichen Familie am Hof des babylonischen Königs und wurde dort versorgt. Unter unklaren Umständen wurde sein Status kurzfristig zum „Gefangenen“ herabgestuft, 562 wurde Jojachin jedoch wieder begnadigt. Er scheint nach 560 gestorben zu sein. Jojachins Schicksal ließ die Hoffnung auf ein Weiterbestehen der davidischen Herrschaft lebendig bleiben. Über die Praxis der Religionsausübung unter den Deportierten ist nichts bekannt. Wie im Mutterland wandte sich sicherlich ein großer Teil der babylonischen Religion zu. Mit Sicherheit war die Ausübung der judäischen Religion nicht verboten: Individuelle religiöse Verfolgung widerspricht der Struktur der altorientalischen Religion. Trotzdem versuchten die Deportierten offenbar nicht, einen Tempel zu bauen, sondern blieben − nicht zuletzt durch ihre königlichen und priesterlichen Wurzeln − auf Jerusalem ausgerichtet. Diese Möglichkeit war wahrscheinlich dadurch gegeben, dass im Mutterland ein − wenn auch sehr reduzierter − Tempelkult in Jerusalem und/oder in Bet-El stattfand. Die räumliche Entfernung der Deportierten zum Tempel wurde durch bestimmte Riten und Praktiken überbrückt: Sabbat und Beschneidung (so K. Grünwaldt, Exil) sowie Gebete (so E. Zenger, Psalter). Der Tempel verdeutlicht nach altorientalischem Verständnis die Gegenwart Gottes und wurde in der Regel vom König gebaut, erhalten und getragen. Die Deportierten versuchten offenbar, neue Begründungsmuster für die Gegenwart Gottes in der Gōlā zu finden. I. Willi-Plein, Warum musste der Zweite Tempel gebaut werden?, in: B. Ego/A. Lange/P. Pilhofer (Hg.), Gemeinde ohne Tempel. Community without Temple. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum, Tübingen 1999 (WUNT 118), 57–76. E. Zenger, Der Psalter als Heiligtum, in: B. Ego/A. Lange/P. Pilhofer (Hg.), Gemeinde, 115–131.
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Israel und die Perser: Die nachexilische Zeit
Zwischen den Deportierten und dem Mutterland bestanden vielfältige Kontakte (vgl. etwa Jer 29; Ez 8−11): So blieben die Zurückgebliebenen nicht ohne König und die Deportierten nicht ohne Tempel. Zwischen diesen beiden Gruppen mit ihren unterschiedlichen Repräsentanten entstand eine rege Diskussion um die Deutung der Vergangenheit und um Entwürfe einer möglichen Zukunft: „Vermutlich hatte man sich am Ende des 6. Jhs. v. Chr. kulturell, wirtschaftlich und vielleicht teilweise auch religiös mit der multikulturellen Gesellschaft in Mesopotamien arrangiert und sein gutes Auskommen gefunden. Und dennoch: Emigrantenkolonien, die eine bestimmte kritische Masse an Personen überschreiten, tendieren dahin, die eigenen Traditionen stärker zu pflegen, als im Ursprungsland üblich. Sie sind sich ihrer Herkunft, Sprache, Kultur, Religion bewusster als viele, die nie ihren Fuß über heimische Grenzen gesetzt haben. Und selbst wenn sie keinen ernsthaften Gedanken mehr an die Heimkehr verschwenden, werden sie nur ungern ihre landsmannschaftliche Identität aufgeben wollen. Derartige … mentale Prägungen lassen sich in vielfacher Form bei Emigranten aller Zeiten nachweisen.“ (E. S. Gerstenberger, Israel in der Perserzeit. 5. und 4. Jh. v. Chr., Stuttgart 2005 (BE 8), 103)
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Ps 137. Wie erleben die Sprecher die Situation der Deportation? Literatur: H. Spieckermann, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen, Göttingen 1989 (FRLANT 148), 115−121.
2. Lesen Sie Jer 29,1−7. Wie verhält sich der Ratschlag Jeremias zu Ps 137?
Israel und die Perser: Die nachexilische Zeit
3.5
Die Perser eroberten 539 v. Chr. das babylonische Reich und beherrschten − mit beträchtlichen Gebietserweiterungen − den Vorderen Orient bis 333 v. Chr. Die persische Herrschaft war in vielfacher Hinsicht etwas Neues für den Alten Orient und hat enorme Bedeutung für das Alte Testament. Aus diesem Grund muss hier eine etwas längere Orientierung über die Geschichte des persischen Reiches erfolgen. Geschichte des persischen Achämenidenreichs P. Briant, From Cyrus to Alexander. A History of the Persian Empire, Winona Lake 2002. H. Donner, Geschichte, 391–404.
3.5.1
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Historischer Vorspann
P. Frei/K. Koch (Hg.), Reichsidee und Reichsorganisation im Perserreich, Freiburg/Göttingen 2 1996 (OBO 337). H. Koch, Es kündet Dareios der König. Vom Leben im persischen Großreich, Mainz 1992. K. Veenhof, Geschichte, 287–305. J. Wiesehöfer, Das frühe Persien, München 1999.
Die für das Alte Testament oft verwendete Bezeichnung „Perserzeit“ deckt nur einen kleinen Teil der altpersischen Geschichte ab, nämlich die Herrschaft der Dynastie der Achämeniden (550−330 v. Chr.), die bereits eine längere Vorgeschichte hatte. Nach der Zeit der griechischen Herrscher folgten im Gebiet des Perserreiches noch weitere Dynastien (Arsakiden, Sasaniden: 250 v. Chr−651 n. Chr.). Mit Kyros II. beginnt die eigentliche Geschichte des Achämenidenreiches. Seine Herrscher waren die folgenden:
die ersten fremden Herrscher
Kyros II.
559–530 v. Chr.
Kambyses II.
530–522 v. Chr.
Darius I. Hystaspes
522–486 v. Chr.
Xerxes I.
486–465 v. Chr.
Artaxerxes I. Longimanus
465–425 v. Chr.
Darius II.
424–404 v. Chr.
Artaxerxes II. Mnemon
404–359 v. Chr.
Artaxerxes III. Ochos
359–338 v. Chr.
Arses
338–336 v. Chr.
Darius III. Kodomannos
336–331 v. Chr.
Kyros II. eroberte den Vorderen Orient in einem beispiellosen Siegeszug: 547 v. Chr. unterwarf er Kleinasien bis zur Mittelmeerküste, 539 v. Chr. Babylon. Sein Sohn und Nachfolger Kambyses eroberte 525 v. Chr. Ägypten, das die Perser (im Unterschied zu Assyrern und Babyloniern) ganz beherrschten. Das persische Großreich umfasste somit das Gebiet vom Mittelmeer bis Pakistan und von Zentralasien bis nach Äthiopien: ein Weltreich von gigantischen Ausmaßen. Die Perser waren die erste Großmacht des Alten Orients, die nicht der semitisch-hamitischen Sprach- und Kulturfamilie angehörte. Vielmehr sind die Perser zu den indoeuropäischen Völkern zu zählen, die sich nach Sprache, Kultur, Religion und Politik deutlich von den anderen (alt-)orientalischen Völkern unterschieden. Gleichwohl gelang den achämenidischen Herr-
119
Israel und die Perser: Die nachexilische Zeit
schern im Großen und Ganzen eine beachtliche Integration ihrer Herrschaftsgebiete. Das zeigt sich bereits bei der Eroberung Babylons durch Kyros II. Der letzte König des babylonischen Reiches, Nabonid (556−539 v. Chr.), hatte den (Staats-)Kult des babylonischen Hauptgottes Marduk vernachlässigt und war sogar so weit gegangen, das Hauptfest dieses Gottes nicht mehr zu feiern. Der Perser Kyros konspirierte mit der einflussreichen Marduk-Priesterschaft, was zu seinem kampflosen Sieg über Babylon führte. Die Herrschaft über das Babylonische Reich trat Kyros als Beauftragter Marduks an, also als legitimer Herrscher, obwohl die Achämeniden wahrscheinlich einer anderen Religion anhingen (wohl einer frühen Form des Zoroastrismus, vgl. dazu J. Wiesehöfer, Persien, 67−69). Von Kyros an verfolgten die achämenidischen Herrscher die Politik, religiöse und kulturelle Eigenarten der von ihnen beherrschten Völker so weit wie möglich zu unterstützen. Dieses Charakteristikum persischer Herrschaft wird of missverständlich als „Toleranz“ bezeichnet. Sachgemäßer muss man von „Übersetzung“ sprechen: Die persischen Herrscher bekundeten ihren Anspruch auf (Welt-)Herrschaft in der Sprache und Symbolik des jeweiligen Volkes und traten an jeder Stelle als Förderer der Religion und somit als legitime Herrscher auf. Offensichtlich hatten die Perser früh erkannt, dass eine weitreichende Integrationspolitik der Herrschaft über ein so großes und vielfältiges Gebiet nur förderlich sein konnte. Dies zeigt sich an einer weiteren Maßnahme: Die Perser verzichteten darauf, die persische Sprache als Amtssprache einzuführen. In den einzelnen Territorien nahmen sie auf die jeweiligen Landessprachen Rücksicht und verwendeten für diplomatische und Verwaltungstexte das Aramäische, das als Zweitsprache − wie heutzutage Englisch − von Ägypten über Kleinasien bis zum Kaukasus gesprochen wurde. Gleichzeitig aber organisierten die Perser ihr Großreich als straff zentralistische Einheit. An der Spitze des Reiches stand der (Groß-)König allein, sämtliche Untertanen waren − mit wachsender Differenzierung − lediglich Ausführungsorgane seiner Herrschaft. Die Wirtschaft hatte das alleinige Ziel, die Königsherrschaft zu finanzieren. Die Steuerlast in den beherrschten Gebieten war dadurch enorm und führte Juda an die Grenzen der Belastbarkeit. Die wirtschaftliche und politische Vereinheitlichung ihres Reiches realisierten die Perser von Darius I. an durch folgende Maßnahmen:
Integration der verschiedenen Bevölkerungsgruppen
Aramäisch als Weltsprache
ein straff organisiertes Großreich
120
Historischer Vorspann
Ϝ Provinzgliederung: Die größten Verwaltungseinheiten des Perserreiches waren die 23 Satrapien. Juda gehörte zur Satrapie „Abar Nahara“ (= jenseits des Flusses (Euphrat), deswegen auch Transeuphrat). Der jeweilige Satrap war Abbild des Großkönigs und vertrat ihn vor Ort. Unterhalb der Satrapie war das Land in weitere Verwaltungseinheiten gegliedert: Provinzen, Teilprovinzen, Städte und lokale (Selbst-)Verwaltungen. Auch auf diesen Unterebenen wurde die großkönigliche Macht immer weiter nach unten „durchgereicht“ Ϝ Straßenbau: Ein beeindruckendes Straßennetz verband die Regionen des Perserreiches miteinander und erlaubte einen schnellen und reibungslosen Verkehr für militärische und zivile Zwecke sowie − anscheinend von den Persern eingeführt − ein reguläres Postwesen (vgl. dazu P. Briant, Cyrus, 357−385). Ϝ Währung: Unter Darius I. wurde die Münze „Dareikos“ (8,42 g Gold) eingeführt. Sie diente als allgemeiner Standard für Maße, Gewichte und Werte. Damit konnte die Wirtschaft effektiver gestaltet werden. Zwar mussten Steuern und Tribute in Metall aufgebracht werden, die Geldwirtschaft war aber noch nicht auf allen Ebenen der Wirtschaft verbreitet. Daten der persischen Geschichte
die Perser und das Alte Testament
Unter diesen Voraussetzungen verlief die persische Zeit in Juda verhältnismäßig ruhig. Die Schwerpunkte persischer Außenpolitik lagen im Westen (Griechenland) und Südwesten (Ägypten). Kambyses eroberte Ägypten (525 v. Chr.). Sein Nachfolger Darius I. hatte sich gegen innere Schwierigkeiten durchzusetzen und reorganisierte danach das Reich im eben geschilderten Sinne, also als eine zentralistische Einheit. Unter Darius begannen die Auseinandersetzungen mit den Griechen („Perserkriege“: 500−448 v. Chr.), die mit der Niederlage der Perser endeten. Sie dominierten die Regierungen Darius’ I., Xerxes’ I. und Artaxerxes’ I. und hatten am Ende innere Konflikte in Persien zur Folge. Unter Artaxerxes II. verloren die Perser kurzfristig Ägypten und hatten sich erneut − diesmal erfolgreich − mit den Griechen auseinanderzusetzen. Artaxerxes III. gelang noch einmal eine Restauration des Perserreiches; Darius III. verlor es 331 v. Chr. an Alexander den Großen. Außer am Anfang der Perserzeit waren Juda und Samaria von der persischen Herrschaft nur mittelbar betroffen. Trotzdem war die persische Herrschaft von allergrößter Bedeutung für die Geschichte des Alten Testaments: Die Perser schufen die Bedingungen für die Entstehung des Judentums, wie es noch heute
121
Israel und die Perser: Die nachexilische Zeit
besteht. Tatsächlich sind die Perser die einzige Fremdmacht, die im Alten Testament überwiegend positiv wahrgenommen wird. Erste Phase: Von Kyros II. bis zum Bau des Zweiten Tempels (539−515 v. Chr.)
3.5.2
P. R. Bedford, Temple Restoration in Early Achaemenid Judah, Leiden 2001 (JSJ.S 65). C. E. Carter, The Emergence Of Yehud in the Persian Period. A Social and Demographic Study, Sheffield 1999 (JSOT.S 294). D. V. Edelman, The Origins of the ‚Second Temple‘. Persian Imperial Policy and the Rebuilding of Yehud, London 2005. C. Frevel, Grundriss, 673–690. K. Galling, Studien zur Geschichte Israels im persischen Zeitalter, Tübingen 1964. E. S. Gerstenberger, Israel in der Perserzeit. 5. und 4. Jh. v. Chr., Stuttgart 2005 (BE 8). S. Japhet, The Temple in the Restoration Period: Reality and Ideology, in: USQR 34 (1991), 195– 251. O. Lipschits/M. Oeming (Hg.), Judah and the Judeans in the Persian Period, Winona Lake 2006. R. Lux, Der Zweite Tempel von Jerusalem – ein persisches oder prophetisches Projekt?, in: U. Becker/J. van Oorschot (Hg.), Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch?! Geschichtsschreibung und Geschichtsüberlieferung im antiken Israel, Leipzig 2005 (ABG 17), 145–172.
Die entscheidenden Impulse für das Verhältnis Israels zu den Persern wurden bereits ganz am Anfang der Perserzeit gesetzt. Den Siegeszug des Kyros beobachteten anscheinend die Deportierten in Babylonien sehr genau und sahen die Chancen, die für sie darin lagen:
Kyros als Befreier Israels
Jes 45,1 So spricht der HERR zu seinem Gesalbten, zu Kyrus, den ich bei seiner rechten Hand ergriff, dass ich Völker vor ihm unterwerfe und Königen das Schwert abgürte, damit vor ihm Türen geöffnet werden und Tore nicht verschlossen bleiben: 2 Ich will vor dir hergehen und das Bergland eben machen, ich will die ehernen Türen zerschlagen und die eisernen Riegel zerbrechen …
Ähnlich wie die babylonischen Marduk-Priester verstanden die judäischen Deportierten den Sieg des Kyros als Werk ihres Gottes und begrüßten den persischen König als Weltherrscher von JHWHs Gnaden. Offenbar gab die Religionspolitik den Anlass zu dieser Haltung: Kyros ermöglichte sehr schnell den Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels. Der Erlass des KyrosDreimal wird im Alten Testament ein Erlass Kyros’ II. zitiert, wonach er bereits 539 v. Chr. die Rückkehr der Deportierten und den Wiederaufbau des Tempels befahl: 2 Chr 36,23; Esr 1,1–4; 6,3–5 (aramäisch). Die Texte widersprechen ein-
122
Historischer Vorspann
ander und sind größtenteils nicht authentisch. Wahrscheinlich liegt nur Esr 6 eine persische Quelle zugrunde, die sich allerdings nicht durch Vergleich mit persischen Dokumenten verifizieren lässt (vgl. K. Galling, Studien; I. Willi-Plein, Warum, 60 f.). Demnach hätte Kyros tatsächlich den Wiederaufbau des Tempels und die Rückführung der von den Babyloniern geraubten Tempelgeräte angeordnet. Die Maßnahme fügt sich zu weiteren Anordnungen des Kyros am Beginn seiner Regierungszeit (vgl. C. Frevel, Grundriss, 679 f.). Die Genehmigung zum Tempelbau entspricht der Sache nach persischer Politik, auch wenn das authentische persische Dokument nicht vorliegt. Die Perser erwarben sich mit dieser Erlaubnis auf jeden Fall die bleibende Loyalität eines großen Teils Israels. Mit der Schirmherrschaft über den Zweiten Tempel traten die persischen Könige in der Perspektive der Judäer die Nachfolge der Könige aus dem Hause Davids an.
520–515 v. Chr.: der Bau des Zweiten Tempels
Trotzdem dauerte es eine geraume Zeit, bis der Tempel gebaut werden konnte: Die Grundsteinlegung erfolgte erst 520 v. Chr. Die Gründe für diese Verzögerung waren vor allem technischer und organisatorischer Natur. Auch wenn sich der persische Hof an der Finanzierung beteiligte, mussten doch erhebliche Geldmittel aufgebracht werden, dazu Baumaterial. Das Bauwerk musste geplant werden. Außerdem waren durchaus Widerstände zu überwinden, vor allem im Mutterland. Hag 1 zeigt, dass die wirtschaftliche Situation in Juda so schwierig war, dass der Tempelbau von vielen als zu teuer und daher unnötig empfunden wurde. Mit dem Wiederauf bau des Jerusalemer Tempels geriet das politisch-organisatorische Gefüge in Juda und Samaria aus dem Gleichgewicht. Während der babylonischen Zeit hatten sich in der Provinz in Sichem und Bet-El neue religiöse Zentren etabliert; der neue Jerusalemer Tempel stellte diese Ordnung in Frage (vgl. dazu W. Oswald, Staatstheorie, 204−207). Trotzdem setzten sich die Befürworter des Projekts durch, und der Tempel wurde 520−515 v. Chr. gebaut. Der Zweite Tempel bestand in seiner perserzeitlichen Gestalt bis zum Neubau unter Herodes dem Großen (40−4 v. Chr.). Gegenüber der vorexilischen Zeit waren Baustruktur und Ausstattung leicht verändert. Der Tempelkult wurde zum wichtigsten integrativen Faktor des von nun an entstehenden Judentums − auch über Juda hinaus. Die Gegenwart JHWHs im Tempel wurde durch einen aufwendigen täglichen Opferkult (Tamid) zelebriert, der auch Gebete und Gesang enthielt. Im Unterschied zur vorexilischen Zeit hatte die Bevölkerung (verbesserten) Zutritt zum Tempel, das private Opferwesen wurde ausgebaut. An den großen
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Israel und die Perser: Die nachexilische Zeit
Jahresfesten − Passafest, Wochenfest, Laubhüttenfest, Neujahrstag, Versöhnungstag − kam ganz Juda am Tempel zusammen. Zumindest in Juda setzte sich der Anspruch der Politik Josias (→ Kap. 3.3.7) durch, den JHWH-Kult auf Jerusalem zu beschränken. Das Heiligtum in Bet-El scheint schnell an Bedeutung verloren zu haben. Es gibt allerdings Indizien, dass weiterhin andere Gottheiten verehrt wurden und private Kulthandlungen stattfanden (vgl. A. Berlejung, Geschichte, 168−170). In Samaria behauptete sich das überregionale Heiligtum bei Sichem. Gleichwohl entwickelte sich der zweite Tempel vom 6. Jh. v. Chr. an zum wirtschaftlichen und politischen Zentrum Judas. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Kyros II. berichtet von sich selbst: „Von Ninive, Assur und Susa, Akkad, Eschnunna, Zamban, Meturnu und Der bis zum Gebiet von Gutium, die Städte jenseits des Tigris, deren Wohnsitz von alters her zerfallen war – die dort wohnenden Götter brachte ich an ihren Ort zurück und ließ sie dort ewige Wohnung beziehen.“ (Kyros-Zylinder Kyros II. Übersetzung nach R. Borger, in: O. Kaiser, Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Bd. I, Gütersloh 1982, 407–410).
Inwiefern lässt sich aus diesem Text die Erlaubnis zum Bau des Jerusalemer Tempels ableiten?
2. Lesen Sie die drei Fassungen des Kyros-Edikts 2 Chr 36,23; Esr 1,1−4; 6,3−5 und notieren Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
3. Lesen Sie Hag 1,3−15. Mit welchen Argumenten bewegt der Prophet Haggai seine Hörer zum Tempelbau?
4. Lesen Sie: I. Willi-Plein, Warum musste der Zweite Tempel gebaut werden?, in: B. Ego u. a. (Hg.), Gemeinde ohne Tempel. Community without Temple. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum, Tübingen 1999 (WUNT 118), 57−76 und fassen Sie die Gründe für den Tempelbau zusammen.
Zweite Phase: Die Provinz Yehûd bis zu Nehemia (520−ca. 440 v. Chr.) R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. Bd. 2: Vom Exil bis zu den Makkabäern, Göttingen 1992, 536–554, 576–589. A. Alt, Die Rolle Samarias bei der Entstehung des Judentums, in: Ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel II, München 1953, 316–337.
3.5.3
124
Historischer Vorspann
C. Frevel, Grundriss, 684–686. C. Karrer, Ringen um die Verfassung Judas. Eine Studie zu den theologisch-politischen Vorstellungen im Esra-Nehemia-Buch, Berlin/New York 2001 (BZAW 308). R. G. Kratz, Statthalter, Hohepriester und Schreiber im perserzeitlichen Juda, in: Ders., Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels, Tübingen 2004 (FAT 42), 93–121. S. Mittmann, Tobia, Sanballat und die persische Provinz Juda, in: JNWSL 26 (2000), 1–50. J. Schaper, Priester und Leviten im achämenidischen Juda. Studien zu Kult- und Sozialgeschichte Israels in persischer Zeit, Tübingen 2000 (FAT 31). J. Schaper, Numismatik, Epigraphik, alttestamentliche Exegese und die Frage nach der Verfassung im achämenidischen Juda, in: ZDPV 118 (2002), 150–168.
Die Rückkehr der Deportierten und Flüchtlinge aus Babylonien und von anderen Orten vollzog sich langsam und war wohl auch keine große Bewegung. Esr 2 nennt 42.360 Rückkehrer aus Babylonien; die Siedlungsstrukturen um Jerusalem herum machen 3000−4000 Personen wahrscheinlicher. Erst um 450 v. Chr. lässt sich eine signifikante Zunahme der Siedlungsdichte beobachten und wohl auch eine wirtschaftliche Konsolidierung annehmen. Dies fällt mit der Tätigkeit Nehemias zusammen. Der Provinzstatus Judas in persischer ZeitSpätestens unter Darius II. wurde Juda – unter dem aramäischen Namen Yehûd – zu einer eigenständigen persischen Teilprovinz der Satrapie Abar-Nahara (Transeuphrat). Mit Samaria bestand somit keine Verwaltungseinheit mehr. An der Spitze der Provinz stand der persische Statthalter (Peh≥ a). Er war einerseits dem Satrapen verantwortlich, der seinen Sitz in Tripolis hatte, und stand andererseits der judäischen Selbstverwaltung vor. Zu organisieren hatte der Statthalter die Wirtschaft, d. h. die ordnungsgemäße Ablieferung der Steuern sowie – falls notwendig – militärische Unterstützung, außerdem Straßenbau und Postwesen, Rechtspflege in überregionalen Angelegenheiten, kultische Fragen und die allgemeine Loyalität gegenüber den Persern. Der Peh≥ a wurde von den Persern ernannt und konnte Judäer oder Perser sein. Eine lückenlose Abfolge der Statthalter lässt sich leider nicht ermitteln. eine neue Organisationsform
Anhand der Angaben in den Büchern Esra und Nehemia lässt sich die Verfassung des perserzeitlichen Juda/Yehûd folgendermaßen darstellen (vgl. dazu E. S. Gerstenberger, Perserzeit, 88−93; W. Oswald, Staatstheorie, 244−247): Dieses außerordentlich komplexe Organisationsmodell setzt zum einen die Vorgaben persischer Provinzverwaltung (→ Kap. 3.5.1) für Juda/Yehûd um. Es ist zum anderen das Ergebnis einer lang andauernden Verfassungsdebatte, die wohl schon kurz vor dem Exil eingesetzt hatte und auch Teile des untergegangenen Königreiches Israel integrierte. Es greift auf alte Traditionen der Stämmegesellschaft zurück, die während der Königszeit auf dem
125
Israel und die Perser: Die nachexilische Zeit
Abb. 3.5.1 Die Verfassung der Perserzeit
Land leitend gewesen und dort ausdifferenziert worden waren (→ Kap. 3.2.3). Es bezieht aber auch die Ansprüche alter (aus der Gōlā zurückgekehrter) Führungseliten ein und trägt der hohen Bedeutung des Tempels Rechnung. Diese gesellschaftliche Verfassung hatte nur scheinbar keinen König. Diese Rolle wurde vom persischen Großkönig ausgefüllt, der aus innerjudäischer Perspektive die Nachfolge der Könige aus dem Davidshaus angetreten hatte. Es handelt sich also keinesfalls um eine demokratische Organisationsform. Gleichwohl war das nachexilische judäische Gemeinwesen eine eigenartige Konstruktion, die bei einer großen Abhängigkeit von der persischen Großmacht stark autonome Züge zeigt. Eine befriedigende Bezeichnung für diese Gesellschaftsform gibt es bis heute nicht. Über Zugehörigkeit und Mitbestimmung im perserzeitlichen Juda/Yehûd entschieden in erster Linie Abstammung und Besitz. Das Priestertum und das Hohepriesteramt waren erblich. Tonangebend in diesem System waren überwiegend Rückkehrer aus der Gōlā, also die Nachfahren vorexilischer Führungsschichten. Ethnische Abstammung und Besitz waren indes nicht die einzigen Kategorien für die Zugehörigkeit zu Juda (bzw. „Israel“ in der Selbstbezeichnung) und für die Möglichkeit, dort eine Rolle zu spielen. Große Bedeutung hatte daneben die Zustimmung zu den Traditionen, Normen und Werten des JHWH-Glaubens. D. h., dass dieses Gemeinwesen sich nicht nur ethnisch, politisch und territorial, sondern auch religiös definierte (vgl. Albertz, Religi-
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Historischer Vorspann
onsgeschichte, 477). Dieser Aspekt wurde sogar stärker betont als die anderen Identitätsmerkmale. Um 440 v. Chr. fand die politische und organisatorische Entwicklung Judas/Yehûds einen gewissen Abschluss. NehemiaDas Alte Testament bringt diese Phase der nachexilischen Geschichte mit der Person Nehemias zusammen, von dem das gleichnamige Buch teils in 1. Person, teils in 3. Person berichtet. Als persischer Beauftragter und/oder Statthalter soll Nehemia die Stadtmauer Jerusalems wieder aufgebaut, Umsiedlungsmaßnahmen durchgeführt und verschiedene soziale und wirtschaftliche Probleme gelöst haben. Außerdem begannen im Zusammenhang mit der Tätigkeit Nehemias die Probleme Judas mit den Nachbarprovinzen Samaria, Ammon und Idumäa. Das Buch Nehemia ist wahrscheinlich kein authentischer Text, sondern ein typisiertes Szenario, das die wachsende Autonomie Juda/Yehûds spiegelt (E. S. Gerstenberger, Perserzeit, 78–82). Entscheidend ist dabei nicht nur die Darstellung der Fähigkeiten Judas, seine Anliegen selbst zu regeln, sondern die starke pro-persische Tendenz. Nehemia engagiert sich zwar für innerjudäische Anliegen, agiert aber in persischem Auftrag. Erneut zeigt sich – wie schon am Beginn der persischen Zeit – dass der persische König und seine judäischen Beauftragten gemeinsam den Willen JHWHs ausführen.
Sowohl inner- wie außerbiblische Quellen belegen für das frühe 5. Jh. v. Chr. eine Konsolidierung Yehûds und seine zunehmende Bedeutung im persischen Großreich (vgl. D. V. Edelman, Origins, 332−351). Gleichzeitig blieb Juda/Yehûd eine Provinz mit nur begrenztem Spielraum, denn der Druck der persischen Steuer- und Tributlasten verhinderte nachhaltig einen großräumigen Wohlstand. 3.5.4
Dritte Phase: Juda/Yehûd in spätpersischer Zeit (4. Jh. v. Chr.) J. Frey, Temple and Rival Temple – The Cases of Elephantine, Mt. Gerizim, and Leontopolis, in: B. Ego u. a. (Hg.), Gemeinde ohne Tempel, Tübingen 1991 (WUNT 118), 171–203. S. Grätz, Das Edikt des Artaxerxes, Berlin 2004 (BZAW 337). K. Koch, Weltordnung und Reichsidee im Alten Iran und ihre Auswirkungen auf die Provinz Yehud, in: P. Frei/K. Koch (Hg.), Reichsidee, 133–137. I. Kottsieper, Die Religionspolitik der Achämeniden und die Juden von Elephantine, in: R. G. Kratz (Hg.), Religion, 150–178. B. Porten, Archives from Elephantine. The Life of an Ancient Jewish Military Colony, Berkeley/ Los Angeles 1962. U. Rüterswörden, Die persische Reichsautorisation der Thora: fact or fiction, in: ZAR 1 (1995) 47–61. D. L. Smith-Christopher, The Mixed Marriage Crisis in Ezra 9–10 and Neh 13. A Study of the Sociology of the Post-Exilic Judaean Community, in: T. Cohn Eskenazi/K. H. Richards (Hg.),
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Israel und die Perser: Die nachexilische Zeit
Second Temple Studies, Bd. 2: Temple Community in the Persian Period, Sheffield 1994 (JSOT 9 175), 243–265. J. Wiesehöfer, „Reichsgesetz“ oder „Einzelfallgerechtigkeit“? Bemerkungen zu P. Freis These von der achämenidischen „Reichsautorisation“, in: ZAR (1995), 36–46.
Die persische Zeit ist für die Geschichte des Alten Testaments von größter Bedeutung, historisch aber relativ ereignisarm und von den Quellen her nur schlecht erschließbar. Aus diesem Grund spricht man für das 4. Jh. v. Chr. auch vom „dunklen Jahrhundert“. Gleichwohl kam im 4. Jh. die Entwicklung und Differenzierung Judas/Yehûds und seiner Bewohner zu einem gewissen Abschluss: Nach dem Neubau des Tempels und dem Ausbau der politisch-sozialen Struktur wurden schließlich Rechtsprechung und politische Verfassung endgültig geregelt.
das wichtige „dunkle Jahrhundert“
EsraZu erschließen sind die Vorgänge vor allem aus dem Buch Esra, das ähnlich wie Nehemia teils in 1. und teils in 3. Person verfasst ist. Es schildert die Tätigkeit des Priesters und Schriftgelehrten Esra, der im Auftrag des persischen Großkönigs verschiedene Aufgaben wahrnimmt, vor allem aber das „Gesetz des Himmelsgottes“ bekannt machen sowie die Rechtsprechung in Juda/Yehûd überprüfen und auf dieses Gesetz abstimmen soll (Esr 7). Die Figur des Esra ist wahrscheinlich fiktiv bzw. eine Idealgestalt (vgl. dazu E. S. Gerstenberger, Perserzeit, 82 f.). Anders als das Alte Testament es darstellt, müssen die Ereignisse um Nehemia von denen um Esra getrennt werden (vgl. dazu C. Frevel, Grundriss, 636 f.).
Als entscheidendes Ereignis der Tätigkeit Esras wird die Bekanntmachung und Durchsetzung des „Gesetzes des Himmelsgottes“ in Juda/Yehûd (Esr 7−10) dargestellt. Dieses Gesetz ist kein persisches Gesetz, sondern Esra soll von Artaxerxes II. (405−359 v. Chr.) mit der Durchsetzung des judäischen Gesetzes beauftragt worden sein: Esr 7,25–26: (25) Du aber, Esra, setze nach der Weisheit deines Gottes, die in deiner Hand ist, Richter und Rechtspfleger ein, die allem Volk Recht sprechen, das jenseits des Euphrat wohnt, nämlich allen, die das Gesetz deines Gottes kennen; und wer es nicht kennt, den sollt ihr es lehren. (26) Aber jeder, der nicht sorgfältig das Gesetz deines Gottes und das Gesetz des Königs hält, der soll sein Urteil empfangen …
In diesem Text wird judäisches Gesetz mit persischem Gesetz gleichgestellt. Seit langem ist bekannt, dass mit dem „Gesetz deines Gottes“ von Esr 7,26 eine frühe Form des Pentateuch, also der Bücher Gen-Dtn gemeint ist: Im 4. Jh. v. Chr. hat demnach
die Durchsetzung der Tora
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„Reichsautorisation“ der Tora?
soziales Ungleichgewicht in Juda
Historischer Vorspann
die Tora den Status eines normativen Gesetzes- und Verfassungstextes in und für Juda/Yehûd erhalten (vgl. dazu E. Zenger, Einleitung, 127−129). Unklar ist jedoch, ob die Perser diesen Prozess aktiv förderten. Aufgrund eines ähnlichen Vorgangs in Ägypten unter Darius I. (519 v. Chr.) sowie weiterer persischer Maßnahmen der Religionspolitik geht man häufig von einer sog. „Reichsautorisation“ der Tora durch die Perser aus, d. h. von einer Autorisierung lokaler Rechtsnormen durch die Instanzen der Zentralgewalt. Anhand persischer Dokumente lässt sich dieser Vorgang nicht belegen. Außerdem sind die einschlägigen Texte aus Ägypten und dem Alten Testament jünger als die persische Zeit. Insofern gab es den Rechtsakt der „Reichsautorisation“ wohl nicht. Auch wenn die persische Zentralgewalt den staatsgesetzlichen Rang der Tora nicht aktiv anordnete, so passt die Durchsetzung der Tora doch zur persischen Politik der Förderung regionaler Traditionen. Mit der Tora bekam das judäische Gemeinwesen eine Art Verfassung, zumindest aber allgemeine Richtlinien für Recht und Ordnung. Wie schon bei der Ausgestaltung des Zweiten Tempels und seines Kults und bei der sozialen und politischen Organisation Judas/Yehûds setzten sich auch bei Formulierung und Komposition der Tora (Nachkommen der) Exilsrückkehrer durch, vor allem Priester und hochrangige Mitglieder Judas. Die Interessen anderer Gruppen sowie der armen Landbevölkerung wurden zwar nicht übergangen, aber doch deutlich in die zweite Reihe gestellt. Dadurch kam es in der späteren Perserzeit zu erheblichen Spannungen und Problemen der judäischen Gesellschaft. Schon im 5. Jh. scheint die wirtschaftliche Lage in Juda/Yehûd zeitweise prekär gewesen zu sein: Neh 5 berichtet von einer dramatischen Zunahme der Schuldsklaverei. Da das überwiegend landwirtschaftlich geprägte Juda/Yehûd keine Überschüsse produzieren konnte, führten das persische Steuersystem und die Finanzierung des Tempelbetriebes das Land an die Grenzen seiner wirtschaftlichen Kapazitäten. Im 4. Jh. kamen noch militärische Auseinandersetzungen hinzu, die der persische Großkönig mit Ägypten und Phönizien auszufechten hatte und die Juda zumindest mittelbar betrafen. Im Großen und Ganzen wurde versucht, soziale Probleme auf der Basis der Sozialgesetzgebung der Tora (vor allem in Ex und Lev) zu lösen: „Die ins einzelne gehenden … Vorschriften für die Abarbeitung der Schuld und Erstattungen von Eigentum und die Rückgabe der persönlichen Freiheit aus Lev 25 sind ein außerordentlich wichtiges Beispiel für
129
Israel und die Perser: Die nachexilische Zeit
den regulierenden Eingriff der Großgesellschaft. Allerdings müssen wir an diesem Exempel auch konstatieren, dass die sich bildende judäische Gemeinschaft nicht mehr auf der staatlichen Ebene funktionierte, sondern auf der einer zwischen Familie, Clan, Dorfgemeinde einerseits und den imperialen Strukturen andererseits angesiedelten Konfessionsgemeinschaft, die sich als ein ‚Volk von Brüdern‘ (und Schwestern?) verstand“ (E. S. Gerstenberger, Perserzeit, 96)
Die Zugehörigkeit zur judäischen Gemeinschaft war also eine Frage von vitalem Interesse. Umstritten war, ob sich diese Zugehörigkeit an der Herkunft oder an der Zustimmung zu den Normen der Tora entscheidet. Der Streit um das „wahre Israel“ wurde nach innen und außen geführt.
Wer gehört zu Israel?
Die sog. „Mischehenfrage“Eine wichtige innerjudäische Diskussion war die sog. „Mischehenfrage“ (Esr 9–10; Neh 13): Zur Debatte stand, ob Ehen, die judäische Männer mit nicht-judäischen Frauen geschlossen hatten, als gültig betrachtet werden und die daraus hervorgehenden Kinder als Mitglieder der Gemeinschaft gelten konnten. Hier standen sich zwei Positionen gegenüber: Eine forderte die radikale Auflösung solcher Ehen (Esr 9–10; Neh 13), die andere plädierte für die Integration der nicht-judäischen Frauen (Ruth). Ob es wirklich zu Zwangsscheidungen kam, ist nicht sicher, es ist aber deutlich, „dass die Endogamieforderung als zentrales Instrument der Identitätsbildung … prominent und zugleich heftig umstritten ist.“ (C. Frevel, Grundriss, 688)
Politisch sensibler war das Verhältnis Judas/Yehûds zur Provinz Samaria, also der Nachfolgerin des alten Königreichs Israel, die seit 720 v. Chr. von der jeweiligen Großmacht besetzt war. In persischer Zeit war der samarische Statthalter ein Einheimischer: Die Nachkommen Sanballats I. etablierten von 440−335 v. Chr. eine stabile Dynastie. Wie schon in der Königszeit war Samaria wirtschaftlich potenter und politisch-strategisch bedeutender als Juda. Demzufolge sahen die Eliten Samarias die Aufwertung Jerusalems durch den Tempel und die zunehmende politischsoziale Eigenständigkeit Judas mit Misstrauen und versuchten auch, durch politische Interventionen Juda zu behindern (Esr 4; Neh 2). Andererseits waren unterhalb der staatlichen Ebene die Beziehungen zwischen Judäern und Samariern sehr eng: Sprache, Tradition, Kultur und Glaube verbanden die Bewohner der beiden Provinzen und forderten auch die Zusammenarbeit der Statthalter.
Juda und Samaria = Juda und Israel
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Historischer Vorspann
Der jüdische Tempel in ElephantineIn diesem Zusammenhang interessant sind die Vorgänge um die Kolonie auf der Insel Elephantine im südlichen Ägypten. Dort hatten sich zu unbestimmter Zeit Flüchtlinge oder Auswanderer aus Palästina niedergelassen und eine Kolonie gebildet. Die Männer leisteten Militärdienst für die Ägypter. Über das Leben dieser Kolonie sind wir aus aramäischen Wirtschafts- und Verwaltungsdokumenten gut informiert. Die Kolonie auf Elephantine verfügte über einen JHWH-Tempel, an dem auch Brandopfer dargebracht wurden, u. a. Widder. Dies führte zu Konflikten mit dem benachbarten Tempel des ägyptischen Gottes Chnum, dessen Symboltier der Widder war. Ein Mann namens Hanania, vermutlich aus Jerusalem, vermittelte in dieser Angelegenheit und erwirkte beim persischen König und beim Satrapen von Ägypten die förmliche Anerkennung der Kolonie als „jüdische Garnison“ (419 v. Chr.). Trotzdem wurde der JHWH-Tempel von den Ägyptern zerstört. Die Erlaubnis zum Wiederaufbau, der wohl erst im frühen 4. Jh. v. Chr. erfolgte, holten die Juden von Elephantine an drei Stellen ein: beim Hohepriester in Jerusalem, beim Statthalter von Juda/Yehûd und beim Statthalter von Samaria. Die beiden Statthalter stimmten zu, die Zustimmung des Hohepriesters (die nicht erhalten ist) ist wohl vorauszusetzen. Die persischen Behörden bestätigen die Genehmigung (vgl. zum Vorgang E. S. Gerstenberger, Perserzeit, 110 f. mit Übersetzung der Texte). die Samaritaner trennen sich von den Juden
Im Übergang vom 5. zum 4. Jh. v. Chr. konnten Juda/Yehûd und Samaria also noch gedeihlich zusammenarbeiten, obwohl es immer wieder kleinere Rivalitäten gab. Die Kooperation Jerusalems und Samarias in der Angelegenheit Elephantine hing aber auch mit der politischen Großwetterlage zusammen. Ägypten unternahm seit 393 v. Chr. mit griechischer Unterstützung den Versuch, die Unabhängigkeit von Persien zu erlangen, was letztlich auch gelang. Auch die Phönizier zeigten Tendenzen in diese Richtung. Die gemeinsame Unterstützung der Elephantiner Juden gegen die Ägypter zeigte Samaria und Jerusalem als loyale Untertanen der Perser und vermochte, Repressalien zu verhindern. Ein dauerhafter Streitpunkt zwischen Samaria und Juda/Yehûd war die Existenz eines JHWH-Tempels bei Sichem in Samaria, der für den Anspruch des Jerusalemer Tempels eine ernstzunehmende Konkurrenz darstellte. Es gab Versuche, diese Rivalität auszugleichen, indem sich die Familien des samaritanischen Statthalters und des Jerusalemer Hohepriesters durch Heirat verbanden (Neh 13,54; vgl. dazu R. Albertz, Religionsgeschichte, 585 f.). Von konservativen Kreisen in Jerusalem wurden diese Eheschließungen als Mischehen verurteilt und nicht anerkannt. Da der Ho-
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Die hellenistische Zeit (333– 63. v. Chr.)
hepriester das Oberhaupt der judäischen Selbstverwaltung war, fürchtete man in Jerusalem den Verlust der mühsam erkämpften Eigenständigkeit. Das Problem des Verhältnisses zwischen Samaria und Juda/Yehûd wurde von antipersischer Politik ausgenutzt. 350 v. Chr. schloss sich Phönizien dem antipersischen Aufstand der Ägypter an, den die Griechen unter Alexander dem Großen nutzten, um die Perser endgültig zu besiegen. Alexander unterstützte offenbar Samaria, den nächsten Nachbarn Phöniziens, in der Tempelfrage. Die Satrapie Transeuphrat begann zu zerfallen; 333 v. Chr. wurde Darius III. von Alexander dem Großen besiegt. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Erläutern Sie aus der Lektüre des vorigen Kapitels folgende These: „In seinem Selbstverständnis …, von dem die literarische Überlieferung zeugt, lebt das Judentum in allen seinen grundlegenden Einrichtungen von den Gnadenakten der persischen Könige, die auf Geheiß des jüdischen Gottes die Nachfolge der davidischen Könige angetreten haben und wie die Assyrer und Babylonier im Schlechten, so jetzt im Guten den Willen Gottes erfüllen. (…) Die Existenz Israels [hat] nicht die Überwindung der Weltmacht, sondern ihren intakten Bestand zur notwendigen Voraussetzung. Je stabiler sie ist, desto ungestörter kann das Judentum seine Eigenheit pflegen. Judentum und Weltmacht werden einander zum Segen.“ (R. G. Kratz, Die Entstehung des Judentums. Zur Kontroverse zwischen E. Meyer und J. Wellhausen, in: Ders., Judentum, 6–22, hier 14).
2. Lesen Sie Esr 9−10; Neh 13, 1−3; 23−31. Wie wird in diesen drei Texten die Mischehenfrage dargestellt und gelöst? Literatur: C. Karrer, Ringen, 147−160.
Die hellenistische Zeit (333–63. v. Chr.) D. A. Davies/L. Finkelstein (Hg.), The Cambridge History of Judaism Bd. 2: The Hellenistic Age, Cambridge 1989. Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz, Wiesbaden 131998. E. Haag, Das hellenistische Zeitalter. Israel und die Bibel im 4. bis 1. Jh. v. Chr., Stuttgart 2003 (BE 9). M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr., Tübingen 31988 (WUNT 10). J. Maier, Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des zweiten Tempels, Würzburg 1990 (NEB.E 3).
3.6
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Historischer Vorspann
ein großer Umbruch
Die hellenistische Zeit (333−63 v. Chr.) bedeutete in mehrfacher Hinsicht einen großen Umbruch für Juda und das entstehende Judentum. Unter den griechischen Herrschern fand zunächst ein Sprachwandel statt: Neben das allgemein und als Amtssprache verwendete Aramäische trat die griechische Sprache, die sich mehr und mehr durchsetzte und langsam das Aramäische sowie das Hebräische verdrängte. Mit dem Sprachwandel verband sich ein Kulturwandel: Griechisches Denken, Kunst, Literatur und Bildung wurden zur Leitkultur im Vorderen Orient. Im Unterschied zum persischen Zeitalter war die griechische und römische Zeit in Palästina ausgesprochen ereignisreich: Palästina und auch Juda wurden für Jahrhunderte zum Kriegsschauplatz, und die politischen Umstände wandelten sich in rascher Folge.
Quellen für die hellenistische Zeit in PalästinaAuch hinsichtlich der Quellen hat man es von der griechischen Zeit an mit einer neuen Epoche zu tun. Die Ereignisse nach der persischen Herrschaft sind nicht mehr Thema der hebräischen Geschichtsschreibung. Die Bücher Esra und Nehemia sind die letzten hebräisch verfassten Geschichtsbücher des Alten Testaments. Reflexe auf die Ereignisse während der griechischen und römischen Zeit finden sich nur noch in späten Nachträgen zu bereits vorliegenden Geschichtsbüchern, in Prophetentexten und Psalmen sowie im Buch Kohelet (Prediger Salomo). In den griechischen Kanon sind noch die beiden Makkabäerbücher eingegangen, die die Ereignisse des späten 2. Jhs. v. Chr. behandeln. Die Hauptquelle für die Geschichte Israels und Judas in griechischer und römischer Zeit ist der jüdische Schriftsteller Flavius Josephus (37– ca. 115 n. Chr.), der am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts eine jüdische Geschichte (Antiquitates Judaicae, Jüdische Altertümer, abgekürzt JosAnt) verfasste. Sie enthält eine Nacherzählung der alttestamentlich bezeugten Geschichte und geht nahtlos weiter in die Zeit bis zum römischen Kaiserreich. Auch weitere griechische und römische Schriftsteller sowie fragmentarisch erhaltene Werke jüdischer Historiker liefern die Textquellen für diese Epoche. Aufgrund des Abbrechens der hebräisch verfassten Geschichtsschreibung in der griechischen Zeit lassen manche Lehrbücher die Geschichte Israels mit dem Jahr 333 enden. Das ist jedoch nicht sachgemäß: Auch in der griechischrömischen Zeit ging die Produktion von Texten weiter, die in den hebräischen und griechischen Kanon eingegangen sind.
Die griechische und römische Zeit sind unabdingbare Epochen für das Verständnis des Alten Testaments. Sowohl das Alte als auch das Neue Testament sind nur auf diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund angemessen zu verstehen. Trotzdem kann hier nur ein Überblick präsentiert werden.
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Die hellenistische Zeit (333– 63. v. Chr.)
Erste Phase: Syrien unter ptolemäischer Herrschaft (301−198 v. Chr.)
3.6.1
F. Dexinger/R. Pummer (Hg.), Die Samaritaner, Darmstadt 1992 (WdF 604). H. J. Gehrke, Geschichte des Hellenismus, München 1990. M. Hadas, Hellenistische Kultur. Werden und Wirkung, Frankfurt/Berlin/Wien 1981. M. Hengel, Judentum, 9–42.108–198. H.-P. Kuhnen, Palästina in griechisch-römischer Zeit, München 1990 (Handbuch der Archäologie. Vorderasien II, Bd. 2). F. W. Walbank, Die hellenistische Welt, München 1983.
Alexander der Große besiegte den persischen Großkönig Darius III. im Jahr 333 v. Chr. und trat dadurch das Erbe des persischen Großreichs an. In den Jahren 332−331 v. Chr. eroberte Alexander die phönizisch-philistäische Küste und Ägypten, das syrische und palästinische Binnenland wurden von Alexanders Feldherrn Parmenio erobert. In diesen Kriegen leistete nur die Stadt Samaria längere Zeit erfolgreich Widerstand, wurde schlussendlich aber doch erobert (332) und in eine griechische Garnisonsstadt umgewandelt. Die jüdische Elite Samarias zog nach Sichem um. Alexander starb 323 v. Chr. Nach seinem Tod kam es zu längeren Nachfolgekämpfen, die in einer Teilung des Alexanderreiches endeten. Die Diadochen (gr. „Nachfolger“) teilten das Reich unter sich auf. Dabei erhielt Ptolemaios I. Soter (306−283 v. Chr.) Ägypten mit Syrien und Palästina, sein Rivale Seleukos I. Nikator (312−281 v. Chr.) Mesopotamien und Kleinasien. Die Grenze zwischen Ptolemäer- und Seleukidenreich verlief in etwa bei Damaskus. Seleukos und seine Nachfolger waren jedoch immer bestrebt, den syrisch-phönizischen Raum ihrem Herrschaftsgebiet anzugliedern.
die politische Neuordnung unter Alexander und seinen Nachfolgern
Die ptolemäische Herrschaft in PalästinaSyrien und Palästina wurden demzufolge zum Streitobjekt und zum Kriegsschauplatz. Dabei behielten die Ptolemäer für die ersten achtzig Jahre die Oberhand. Erst im 4. Syrischen Krieg (221–217 v. Chr.) griff der Seleukide Antiochos III. (222–187 v. Chr.) erstmalig erfolgreich Phönizien und Palästina an und eroberte das Gebiet. Auch Jerusalem wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die Rückeroberungsversuche zogen sich noch eine ganze Zeit hin, Phönizien und Palästina wechselten mehrfach den Oberherrn, bis schließlich als Ergebnis des 5. Syrischen Krieges (202–198 v. Chr.) ganz Syrien, Phönizien und Palästina einschließlich Juda unter seleukidische Herrschaft fielen. Die ersten Jahre der ptolemäischen Herrschaft verliefen für Juda und Jerusalem weitestgehend friedlich und hatten positive Auswirkungen. Die ptolemäischen Herrscher etablierten in ihrem Herrschaftsgebiet ein neuartiges Wirtschafts-
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Historischer Vorspann
und Verwaltungssystem, das sich teils aus alten ägyptischen, teils aus griechischen Traditionen speiste und auch persische Elemente mit aufnahm. Vor allem Ptolemaios II. (283–246 v. Chr.) gestaltete sein Reich als straff zentralistische Einheit, in der der Großteil des Landes in königlicher Hand war und zur Bewirtschaftung an Pächter übergeben wurde. Die Gewinne gingen an den Königshof, dazu kamen noch Steuern, Tribute, Zölle und die Erträge aus königlichem Monopolhandel. In Juda und Palästina ließ sich diese Bodenpolitik aufgrund des uneinheitlichen Geländes nicht vollständig durchsetzen, hier trat vielfach ein verstärktes Steuer- und Abgabenwesen an die Stelle des königlichen Landbesitzes. Dabei legte Ptolemaios großes Gewicht auf technische Methoden zur Ertragssteigerung (Wasserversorgung, Landgewinnung, Bodenverbesserung, Terrassenbau), so dass jetzt auch die Landwirtschaft in Juda in der Lage war, kalkulierbare und höhere Erträge zu bringen. Insofern wirkte sich die ptolemäische Herrschaft durchaus positiv auf Juda und Palästina aus. Die Seleukiden übernahmen dieses Prinzip. Wirklich neu für den syrisch-palästinischen Raum war das von den Ptolemäern eingeführte griechische Prinzip der Verpachtung von Steuern, Zöllen und Abgaben: Wer die Aufgabe des Steuereintreibers wahrnehmen wollte, pachtete dieses Recht vom Herrscher (oder seinem Beauftragten) und reichte dafür ein Gebot ein. Den Zuschlag erhielt derjenige mit dem niedrigsten Gebot; er hatte für einen bestimmten Zeitraum eine festgelegte Summe aufzubringen. Eine Gewinnbeteiligung war dem Steuerpächter möglich. In ptolemäischer Zeit wurde dieses System streng überwacht (Steuerhinterziehern drohten Sklaverei oder Todesstrafe), es war aber für Missbrauch anfällig, und mit der Zeit – es überlebte bis in die römische Zeit – nahm die Korruption deutlich zu. Bei der Wirtschafts- und Verwaltungspolitik bedienten sich die Ptolemäer und Seleukiden einflussreicher einheimischer Familien. Grundsätzlich herrschte in den Diadochenreichen ein Zwei-Klassen-System: Griechen wurden nach griechischem Recht behandelt, Nicht-Griechen wurden als Eroberte betrachtet. Dabei genossen diejenigen gewisse Eigenrechte, die von den Diadochen als „Volk“ (griech. ethnos) mit eigener Geschichte und Kultur anerkannt wurden. Sowohl in Palästina als auch außerhalb hatten Juden den Status eines solchen „Ethnos“. Anerkannt wurde in gleicher Weise die politische und durch Herkunft bestimmte Bindung an das jüdische Volk wie der jetzt erst voll entwickelte exklusive Glaube an den einen Gott und das Festhalten an den Normen der Tora. Diese Merkmale galten als Kennzeichen des Judentums und berechtigten auch außerhalb Judas zu einer maßvollen Teilautonomie jüdischer Gemeinden. Da aber das Griechentum innerhalb der Diadochenreiche rechtlich, wirtschaftlich und politisch bessergestellt war, bemühten sich viele Städte und Gebiete, sich so weit der griechischen Leitkultur anzupassen, dass ihnen die griechischen Rechte verliehen werden konnten. In Jerusalem sollte das später zu erheblichen Konflikten führen. Hellenismus
Die ptolemäische Zeit verlief also zunächst in Juda und Jerusalem ruhig und führte zu verbesserter wirtschaftlicher Lage. So wuchs auf jüdischer Seite auch die Bereitschaft, sich der grie-
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chischen Kultur zu öffnen. Gleichzeitig verwirklichten die ptolemäischen und seleukidischen Könige ihre Herrschaft im Orient durch die Übernahme von und die Anpassung an orientalische Traditionen; sie implementierten nicht einfach griechische Kultur im Orient. Diese charakteristische Mischung griechischer und orientalischer Kultur und Tradition bezeichnet man als „Hellenismus“. HellenismusDer Begriff „Hellenismus“ wurde von dem deutschen Historiker Johann Gustav Droysen (1808–1884) geprägt und bezeichnete zunächst die Epoche, die durch „die Verschmelzung griechischer und orientalischer Kultur durch die Politik Alexanders des Großen“ (C. Frevel, Grundriss, 695) geprägt war und bis zur römischen Kaiserzeit reichte. Man muss aber in Rechnung stellen, dass der griechische Kultureinfluss im Orient viel weiter zurückreicht: Die ältesten archäologischen Funde weisen bereits ins 7. Jh. v. Chr. Seit dem 6. Jh. v. Chr. blühte der Handel zwischen Griechenland und dem Orient, der schon seit der Bronzezeit kulturelle Kontakte jeder Art ermöglicht hatte. Dabei wurde nicht nur griechische Kultur in den Orient importiert, sondern auch umgekehrt fanden orientalische Traditionen den Weg in den griechischen Raum. Vom 3. Jh. v. Chr. an nahm dieser Prozess eine hohe Dynamik an und führte (auf beiden Seiten) zu tiefgreifenden Veränderungen kollektiver Identitäten. Dabei lässt sich beobachten, dass das orientalische Traditionselement vom 2. Jh. an bei den hellenistischen Herrschern und Eliten wieder stark zunahm.
Der mit Alexander und seinen Nachfolgern gegründete politischkulturelle Großraum, der vom Balkan bis nach Indien reichte, förderte die Mobilität der Bevölkerungsgruppen, vor allem durch den ständigen Bedarf an Soldaten. Auch Juden traten verstärkt in griechische Militärdienste und siedelten sich überall im griechisch beherrschten Raum an. Dazu kamen jüdische Auswanderer aus unterschiedlichsten Gründen sowie Kriegsgefangene und durch den zunehmenden Sklavenhandel auch Sklaven. Von der hellenistischen Zeit an fand sich eine weltweite jüdische Diaspora, die vorher im Wesentlichen auf Ägypten und den babylonischen Raum beschränkt gewesen war. Freie Menschen konnten überall jüdische Gemeinden etablieren, wobei Jerusalem und sein Tempel jedoch das Zentrum des Judentums blieben. Der jüdische Hohepriester galt als Vorsteher des weltweiten jüdischen Ethnos. Die einf lussreichste und bedeutendste jüdische Gemeinde bildete sich im ägyptischen Alexandria, von hier aus nahm auch die griechische Übersetzung der Tora ihren Ausgang.
mobile Gesellschaft – jüdische Diaspora
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Historischer Vorspann
Juda unter griechischer Herrschaft
In Juda selbst veränderten die Ptolemäer die politische Struktur. Das persische Yehûd wurde in ptolemäischer Zeit in zwei Einheiten gegliedert: Das ländliche Juda wurde zur Verwaltungseinheit Juodaia/Judäa, die von einem griechischen militärischen (Hyparch) und einem zivilen Verwaltungschef (Ökonom) verwaltet wurde. Auch das wesentlich größere Samaria wurde zu einer solchen Teilprovinz (Hyparchie). Jerusalem (griech. Hierosolyma) erhielt einen Sonderstatus. Es wurde nach ägyptischem und kleinasiatischem Vorbild zu einem „Tempelstaat“ mit eigenen Rechten und Pflichten. Gleichzeitig galt Jerusalem aber auch als das Kernland und die Hauptstadt des jüdischen Ethnos. Durch die Neustrukturierung als Tempelstaat rückte in Jerusalem der Hohepriester in die Rolle des „Staatsoberhaupts“, über ihm stand nur noch der griechische Finanzverwalter. Das Amt des (persisch beauftragten) Statthalters entfiel also, und der Hohepriester erlebte im Vergleich zur persischen Zeit einen erheblichen Machtzuwachs. Er konnte im günstigsten Falle die Rolle eines Kleinkönigs einnehmen. Die Rolle und das Amt des Hohepriesters wurden denn auch in hellenistischer Zeit zum Brennpunkt politischen Handelns in Judäa und Jerusalem.
der Hohepriester als Regierungschef
Abb. 3.6.1 Hohepriester
Die hellenistische Zeit (333– 63. v. Chr.)
Der Tradition nach hatte der Hohepriester aus der Familie Zadok zu stammen, d. h. er musste in direkter Linie vom ersten Priester unter David abstammen. Während der ptolemäischen Zeit wurde diese Regel eingehalten, und die Liste der Hohepriester ist in Abb. 3.6.1 zu finden (die arabischen Zahlen in Klammern geben die Abfolge an). Unter den Ptolemäern unterstand Jerusalem wie alle „Tempelstaaten“ direkt dem hellenistischen Herrscher. Obwohl der wirtschaftliche Aufschwung der frühen hellenistischen Zeit Jerusalem aufgrund seiner Randlage nicht voll erreichte, waren Jerusalem und Judäa doch von großer strategischer Bedeutung für die hellenistischen Herrscher: Die Grenze der Einf lussgebiete der Ptolemäer und der Seleukiden lag nur wenig nördlich von Judäa. Durch Einf lussnahme auf die Hohepriester und den Tempel versuchten sowohl Ptolemäer als auch Seleukiden, Judäa/ Jerusalem auf ihre Seite zu ziehen. Dabei wurde in späterer ptolemäischer Zeit in Judäa/Jerusalem ein weiteres Verwaltungsgremium eingeführt, dessen Wurzeln in persische Zeit zurückgehen. Aus den − in persischer Zeit noch unspezifischen − „Ältesten Judas“ wurde in ptolemäischer Zeit die Gerousia (wörtlich: „Ältestenrat“): die Vertretung der vornehmen Priesterschaft, des Laienadels, der Großgrundbesitzer und der Sippenältesten − sämtlich Gruppen, die vom ptolemäischen Wirtschaftssystem im hohen Maße profitierten. Die Gerousia sollte die Macht des Hohepriesters steuern und (im hellenistischen Sinne) kontrollieren. Eine wichtige Rolle in dieser Gerousia spielte durch ihren Reichtum und ihr Geschick in der Steuerpolitik die nichtpriesterliche Familie der Tobiaden. Sie waren durch mehrfache Heiraten mit der hohepriesterlichen Familie verbunden. Onias II. versuchte als erster, von den Ptolemäern zu den Seleukiden überzulaufen. Er stellte die Tributzahlung an Ptolemaios III. (246−221 v. Chr.) ein. Der darauf hin angedrohten Enteignung des Tempellandes und der Umwandlung Jerusalems in eine Militärkolonie konnte Onias II. nur knapp entgehen. Sein Neffe Joseph aus der Tobiadenfamilie übernahm das Amt der Generalsteuerpacht und konnte einen Ausgleich mit den Ptolemäern erzielen. Die Seleukiden waren zu diesem Zeitpunkt noch zu schwach, um Palästina und Judäa zu erobern. Nach Onias II. und Joseph schwenkten Tobiaden und Hohepriester auf eine pro-seleukidische Linie ein, was zwar den Erfolg des Seleukiden Antiochos III. begünstigte, Jerusalem aber auch zum Kriegsschauplatz machte. Antiochos III. bedankte sich
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Jerusalem als Machtfaktor der Politik
wechselnde Allianzen der judäischen Anführer
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199/198 v. Chr. für die Unterstützung der Jerusalemer bei der Eroberung Syriens und Palästinas durch umfangreiche Wohltaten, darunter eine dreijährige Steuerfreiheit für die Stadt, weitgehende Toleranz gegenüber der Anwendung der Tora-Vorschriften und eine Stärkung der jüdischen Selbstverwaltung. Das samaritanische SchismaDie Politik der Begünstigung einzelner Parteigänger durch Seleukiden und Ptolemäer führte in der ehemaligen Provinz Samaria zur endgültigen Abspaltung (gr. schisma) der Religionsgemeinschaft der Samaritaner. Sie erkennen nur die Tora als Heilige Schrift an und betrachten den Tempel auf dem Berg Garizim bei Sichem als das legitime Zentralheiligtum des Judentums. Die Vorgeschichte dieser Trennung reicht weit zurück, die offizielle Gründung des Sichemer Heiligtums als Konkurrenz zu Jerusalem fällt jedoch wahrscheinlich in die frühe hellenistische Zeit. Dem Historiker Flavius Josephus zufolge war es bereits Alexander der Große, der dieses Unternehmen förderte, wahrscheinlich ist es in die frühe ptolemäische Zeit zu datieren. Auch das Heiligtum von Sichem verfügte über eine Priesterschaft aus der Familie Zadok.
3.6.2
Zweite Phase: Die Seleukiden in Palästina (199−ca. 150 v. Chr.) K. Bringmann, Hellenistische Reform und Religionsverfolgung in Judäa, Göttingen 1983. J. J. Collins, Jewish Cult and Hellenistic Culture, Leiden 2005 (JSJ.S 100). O. Keel/U. Staub (Hg.), Hellenismus und Judentum, Freiburg/Göttingen 2000 (OBO 178).
Einfluss griechischer Kultur
Die Seleukiden ließen den Tempelstaaten zunächst größere Autonomie als die Ptolemäer und schienen daher die geeigneteren Oberherren. Aus dieser politischen Tendenz erklärt sich der Wechsel der Jerusalemer Autoritäten von einer pro-ptolemäischen zu einer pro-seleukidischen Option um 200 v. Chr. Einige Mitglieder der hohepriesterlichen und der Tobiadenfamilie betrieben sogar die Politik einer nachhaltigen Hellenisierung Jerusalems, d. h. die Zulassung griechischer Bildungseinrichtungen, Sportstätten und Theater, die Infragestellung der Beschneidung sowie der Reinheits- und Speisevorschriften und einiges mehr. Die Umwandlung Jerusalems in eine griechische Polis hätte eine bessere Rechtsstellung und einen größeren politischen Handlungsspielraum der Jerusalemer Eliten ermöglicht, bedeutete aber nichts weniger als die Preisgabe der Normen der Tora und damit die Gefährdung jüdischer Identität. Diese politische Option verschärfte die Brisanz der nachfolgenden Machtkämpfe um das Hohepriesteramt, man muss aber davon ausgehen, dass es in den politischen Wirren des frühen 2. Jhs. v. Chr.
Die hellenistische Zeit (333– 63. v. Chr.)
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„nicht in erster Linie um theologische Positionen oder um den Gegensatz von Judentum und Hellenismus [geht], sondern vornehmlich um politische und finanzielle Interessen, in die neben den lokalen Eliten vor allem das Hohepriesteramt zunehmend verwickelt wurde.“ (C. Frevel, Grundriss, 699)
Die Seleukiden machten sich in Jerusalem schnell unbeliebt: Nach einer schweren Niederlage gegen ein römisches Heer nahm Antiochos III. die Steuerprivilegien zurück, die er Jerusalem gewährt hatte, und legte Jerusalem und Judäa eine gewaltige Summe auf, um seine Kriegsschulden zu bezahlen. Daraufhin schwenkten Teile der Jerusalemer Eliten wieder auf eine proptolemäische Linie um, wurden aber von den Parteigängern der Seleukiden letztlich entmachtet. Onias III. wurde nach einer finanziellen Intrige abgesetzt, und sein extrem hellenistisch gesonnener Bruder Jason (hebr. Jeschua) übernahm das Hohepriesteramt. Der seleukidische Herrscher Antiochos IV. (175−164 v. Chr.) unterstützte diesen Wechsel der Führung, um in Jerusalem zuverlässige Parteigänger zu haben. Von 175 an unternahmen Jason und seine Anhänger den Versuch, Jerusalem in eine griechische Polis umzuwandeln, die „Antiochia in Jerusalem“ heißen sollte: „Ihr Ziel war ein dreifaches: 1. Der bisher durch die religiösen Vorurteile der konservativen Gruppen behinderten Ausbreitung hellenistischer Zivilisation und Sitte sollte offene Bahn geschaffen und die Schranken, die sie an einem uneingeschränkten wirtschaftlich-kulturellen Austausch mit der nichtjüdischen Umwelt hinderten, abgebaut werden (1 Makk 1,11). 2. Dazu mussten die ‚reaktionären‘ konservativen Kreise politisch entmachtet werden, damit sie nicht mehr … ihren Einfluß zur Durchsetzung einschränkender, gesetzlich-ritueller Bestimmungen gebrauchen konnten. 3. Die Voraussetzung dafür war die Aufhebung des von Antiochos III. erlassenen ‚Freibriefs‘, da dieser die innere Ordnung des jüdischen ‚Ethnos‘ allein durch die althergebrachten ‚väterlichen Gesetze‘ begründete und den Verteidigern der traditionellen Theokratie die rechtliche Grundlage gab. Diese Ziele waren am leichtesten durch die Umwandlung Jerusalems – und damit des ganzen jüdischen Ethnos in Judäa – in eine griechische Polis zu erreichen (…) Zwar lief der Tempeldienst mit seinen Opfern in gewohnter Weise weiter, auch wurde die Tora Moses keineswegs offiziell außer Kraft gesetzt, sondern blieb als Volkssitte weiterhin in Geltung, jedoch waren der jüdischen ‚Theokratie‘ die rechtlichen Grundla-
der Versuch der Hellenisierung Jerusalems
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Historischer Vorspann
gen entzogen. Die politische Ordnung und Willensbildung wurden nicht mehr durch die Tora und ihre autoritative Auslegung durch die Priester und ‚soferim‘ (= Schriftgelehrte) bestimmt, sondern sie sollten sich in Zukunft auf die verfassungsmäßigen Organe der Polis gründen.“ (M. Hengel, Judentum, 505 f.) Tora gegen griechische Kultur
der Verkauf des Hohepriesteramtes
Antiochos IV.: Zwangshellenisierung
Die strengen Reinheitsvorschriften der Tora hatten bisher eine vollständige Assimilation an die griechische Kultur verhindert; sie sollten jetzt weitgehend aufgegeben werden. Auch die Beschneidung der Jungen verhinderte eine Teilnahme an Aktivitäten im Gymnasium und an sportlichen Wettkämpfen, d. h. an griechischer Bildung, weil sie von den Griechen als Verstümmelung angesehen wurde. Dass die nichtpriesterlichen Eliten, allen voran die Tobiaden, diese Neuerungen befürworteten, ist nicht verwunderlich, insofern sie von einer Hellenisierung viel zu erwarten hatten. Die Priester gaben mit dieser Lockerung jüdischer Normen jedoch im Grunde die Legitimität ihres Amtes preis, denn für sie galten Reinheitsvorschriften in besonderer Weise. Antiochos IV. unterstützte die Entwicklung nach Kräften. Im Jahr 172/171 v. Chr. griff er mit Unterstützung aus Jerusalem direkt in die Abfolge der Priesterschaft ein, indem er das Hohepriesteramt einem Mann namens Menelaos verlieh. Dieser hatte Antiochos dafür eine hohe Summe geboten. Da im griechischen Raum Priesterämter erstens käuflich waren, Antiochos zweitens Geld brauchte und es drittens zu seinen Befugnissen gehörte, (Priester-)Ämter nach seinen Vorstellungen zu besetzen, war dieser Vorgang von griechischer Seite kein Problem, er stellte jedoch einen völligen Bruch mit allen jüdischen Normen dar. Hinzu kam, dass Menelaos nicht aus der Familie Zadok stammte, also schon von seiner Herkunft nicht für das Hohepriesteramt geeignet gewesen wäre. Menelaos bezahlte seine Kaufsumme und weitere Geldforderungen Antiochos’ IV. durch Plünderung des Tempelschatzes. Daraufhin wurde sein Bruder und Stellvertreter während einer Abwesenheit Menelaos’ von der Volksmenge getötet (2 Makk 4,40). Zwischen 172 v. Chr. und 168 v. Chr. kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Jason versuchte, die Macht zurückzugewinnen und setzte militärische Mittel ein. Schließlich griff Antiochos IV. selbst ein und stationierte eine nichtjüdische Truppe auf der Jerusalemer Festung Akra. In den folgenden Jahren versuchte Antiochos, eine Zwangshellenisierung Jerusalems durch-
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Die hellenistische Zeit (333– 63. v. Chr.)
zusetzen, deren Umfang umstritten ist. Mit Sicherheit wurde die Durchführung einiger jüdischer Gebräuche (Einhaltung des Sabbat, Enthaltung von Schweinef leisch vgl. 1 Makk 1,41−49; 2 Makk 6) verboten und der Jerusalemer Tempel dem griechischen Gott Zeus Olympios geweiht. Auch der Brandopferaltar des Tempels wurde in für Juden nicht akzeptabler Weise umgestaltet. Der Höhepunkt war − wenn die Nachricht verlässlich ist (sie findet sich erst in einer späten Quelle aus römischer Zeit) − die Anordnung des Antiochos, Schweine im Tempel zu opfern. Dieser radikale Bruch mit jüdischen Normen gab das Signal zum Aufstand der Makkabäer. Die Maßnahmen Antiochos’ IV. müssen in einem größeren politischen Zusammenhang gesehen werden: „In Jerusalem geht es Antiochos IV. nicht um eine Abschaffung des JHWH-Kultes, sondern um die Konsolidierung und Befriedung der durch Verwerfungen zerstrittenen und damit als seleukidischer Partner unsicher gewordenen Stadt. Als wirtschaftlich und kulturell blühende hellenistische Stadt war Jerusalem weit wichtiger für Antiochos denn als traditionsgebundene und isolierte Tempelstadt. Die massiven Reformen sind also weit mehr politisches Mittel als religiöse Überzeugung oder seleukidische Ideologie.“ (C. Frevel, Grundriss, 703)
Auf jeden Fall stellte die Politik Antiochos’ IV. den ersten massiven Eingriff in den Tempel und seinen Kult seit der babylonischen Eroberung (587) dar und wurde zu einem dementsprechenden Trauma. Dritte Phase. Der Aufstand der Makkabäer (167−142 v. Chr.)
3.6.3
E. J. Bickermann, Der Gott der Makkabäer, Berlin 1937. J. Maier/K. Schubert, Die Qumran-Essener. Texte der Schriftrollen und Lebensbild der Gemeinde, München/Basel 31992 (UTB 224). H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch, Freiburg/ Basel/Wien 81999. G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Stuttgart 1991 (SBS 144). V. Tcherikover, Hellenistic Civilization and the Jews, Philadelphia/Jerusalem 21961.
Die Hellenisierung Jerusalems/Judäas war vor allem von reichen und einf lussreichen Kreisen getragen, die ihre Machtbasis und ihre wirtschaftliche Potenz vergrößern wollten. Widerstand dagegen kam aus Kreisen der Landbevölkerung sowie weniger reicher Gruppen der Führungseliten, weil die Kriegs- und Finanzpolitik der Seleukiden und ihrer Verbündeten das Land in den wirtschaftlichen Ruin trieben. Zusätzlich hatte sich das Judentum
die Träger des anti-hellenistischen Widerstands
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der Makkabäeraufstand
die Makkabäer stellen den Hohepriester
Historischer Vorspann
mit seinen Kennzeichen Tempel, Tora und Monotheismus seit seiner Etablierung in der Perserzeit weithin anerkannte Geltung verschafft. Die Politik der Hellenisten in Jerusalem wurde also durchaus als Verrat empfunden. Nach den Ereignissen des Jahres 168/167 v. Chr. kam es zum bewaffneten Aufstand in Judäa gegen die Seleukiden und ihre Verbündeten. Die Führung übernahm eine traditionalistisch gesonnene priesterliche Familie aus Modein. Zunächst (167−165 v. Chr.) führte Mattatias den Aufstand, danach folgten ihm seine Söhne Judas, Jonathan und Simeon. Nach dem Beinamen des Judas, „Makkabäus“ (hebr./aram. für „Hammer“), nennt man die Familie „Makkabäer“. Bis 164 v. Chr. gelang den Makkabäern unter Führung des Judas die Verdrängung der Hellenisten. 164 v. Chr. zog Judas in Jerusalem ein und handelte mit Menelaos eine Rückkehr zu Traditionsnormen im Bereich des Tempels aus. Der Tempel wurde feierlich wieder eingeweiht. Daraufhin baute Judas Makkabäus in Jerusalem eine Festung und unternahm Eroberungsfeldzüge nach Galiläa, ins Ostjordanland und in die Küstenebene. An diesem Punkt ging der Aufstand gegen die hellenistische Politik in einen Befreiungs- und Eroberungskrieg über. Da die Seleukiden nach dem Tod Antiochos’ IV. im Jahr 164 v. Chr. politisch geschwächt waren, gelang es den Makkabäern, ihre Position bis 162 v. Chr. zu halten. 162−160 v. Chr. erhielten die Seleukiden kurzfristig die Oberhand und konnten Jerusalem zurückerobern. Menelaos wurde ermordet und mit Alkimus ein Hohepriester eingesetzt, der sowohl die Billigung der Konservativen als auch des seleukidischen Herrschers Demetrios I. (162−150 v. Chr.) hatte. Alkimus hatte das Hohepriesteramt von 162−159 v. Chr. inne. Die Makkabäer führten ihren Kampf aus dem Untergrund weiter; Judas Makkabäus fiel 161 v. Chr., und sein Bruder Jonathan übernahm die Führung. Aufgrund weiterer Konf likte im seleukidischen Herrscherhaus entschloss sich Demetrios jedoch, die Makkabäer zu unterstützen, um in Judäa Ruhe zu schaffen. Demetrios’ Rivale um den seleukidischen Thron, Alexander Balas, bot Jonathan Makkabäus das Hohepriesteramt an, um ihn auf seine Seite zu ziehen. Jonathan nahm an (153 v. Chr.) und etablierte die neue Linie der makkabäischen Hohepriester, die ab 104 auch die Rolle des Königs einnahmen.
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Die Gründung der Gemeinschaft in QumranDie Makkabäer stammen zwar aus einer priesterlichen Familie, sind aber keine Angehörigen der Familie Zadok. Die Annahme des Hohepriesteramtes durch Jonathan war daher ein Bruch mit den jüdischen Konventionen und brachte Jonathan und seinen Nachkommen Widerstand ein. Möglicherweise gehört in diesen Zusammenhang die Gründung der Gemeinschaft von Qumran. Die Siedlung in Chirbet Qumran am Toten Meer wurde jedenfalls um die Mitte des 2. Jhs. v. Chr. gegründet. Es spricht viel dafür, dass sich die dortige Gemeinschaft aus Widerstand gegen die Besetzung des Hohepriesteramtes mit einem Nicht-Zadokiden bildete. Leider wissen wir nicht, wer nach Alkimus (159 v. Chr.) das Hohepriesteramt innehatte. Die Quellen schweigen hier, und die Qumranschriften nennen für den Anführer der Qumrangemeinde und den Priester in Jerusalem nur Decknamen. Die Gemeinschaft von Qumran wählte ihre Siedlung als eine Art „Exil“ des wahren Israel bis zur Reinigung Jerusalems von allen Unreinheiten und bestand bis ins 1. nachchristliche Jahrhundert. Sie bildete zumindest zeitweise die größte religiöse Gruppe im palästinischen Judentum. Dabei wohnten nicht alle Anhänger in Qumran, wo vermutlich nur die Führungsschicht residierte. Sie stand mit den Jerusalemer Autoritäten mindestens in brieflichem Austausch. Sachlich teilweise auf einer Linie mit der Qumrangemeinschaft, aber nicht in allem mit ihr übereinstimmend, bildete sich aus konservativen Gruppen die Gemeinschaft der „Pharisäer“, die als Laienpartei die Einhaltung der Toragebote wahren wollte, aber sich nicht aus der Welt zurückzuziehen bereit war. Die Pharisäer sollten in römischer Zeit zu einer bedeutenden Gruppe in der jüdischen Führung werden.
Im Amt des Hohepriesters rieb sich Jonathan Makkabäus in politischen Intrigen auf und wurde 142 v. Chr. im Auftrag Antiochos’ VI. hingerichtet. Damit war der Makkabäeraufstand im Prinzip beendet, obwohl die Nachkommen dieser Familie weiter die Herrschaft in Palästina innehatten. Vierte Phase: Die Herrschaft der Hasmonäer (140−63 v. Chr.)
3.6.4
U. Hübner, Tradition und Innovation. Die Münzprägungen der Hasmonäer des 2. und 1. Jahrhunderts v. Chr. als Massenmedien, in: C. Frevel (Hg.), Medien im antiken Palästina, Tübingen 2005 (FAT 2/10), 171–187. H. Köster, Einführung in das Neue Testament im Rahmen der Religionsgeschichte und Kulturgeschichte der hellenistischen und römischen Zeit, Berlin/New York 1980, 212–293.
Die Familie der Makkabäer hatte von Jonathan an das Hohepriesteramt, später auch das Königtum inne. Spätestens seit der Königsherrschaft der Makkabäer bezeichnet man die Familie nach ihrem Gründervater Hasmon als Hasmonäer:
von den Makkabäern zu den Hasmonäern
144
Historischer Vorspann
Abb. 3.6.2 Die Hasmonäer
von Hohepriestern zu Königen
Simeon übernahm nach Jonathan das Hohepriesteramt und wurde von den Seleukiden bestätigt. Er eroberte die Festung Akra und machte Judäa damit faktisch zu einem autonomen Staat, vermutlich nahm er aber noch nicht den Königstitel an. Simeon dehnte sein Reich bis nach Jaffa an der Küste aus und legte den Grundstein für das hasmonäische Judäa als wirtschaftlich und politisch gewichtigem Reich in der späten hellenistischen Zeit. Seit den Omriden in Israel hatte kein Angehöriger Judäa-Israels mehr eine solche Position im Alten Orient innegehabt. Simeons Sohn und Nachfolger Johannes Hyrkan I. setzte die Politik seines Vaters fort und eroberte das Ostjordanland und Galiläa. Dabei zerstörte er den Konkurrenztempel auf dem Garizim bei Sichem (129 v. Chr.). 112 v. Chr. annektierte Hyrkan Idumäa/ Edom im südlichen Ostjordanland und gliederte es gewaltsam Judäa an. In Jerusalem und Jericho unternahm Hyrkan ein umfangreiches Bauprogramm. Seiner Politik setzten die Pharisäer
145
Die hellenistische Zeit (333– 63. v. Chr.)
insoweit Widerstand entgegen, dass sie sich für eine Trennung von Hohepriesteramt und Königtum einsetzten. Die nachexilische Verfassung Judäas seit der Perserzeit sah jedoch eine Rückkehr zum Königtum eigentlich nicht vor, so dass es vorerst bei einer Personalunion von Hohepriesteramt und weltlicher Macht blieb. Das hasmonäische Königtum erreichte seinen ersten Höhepunkt in der Herrschaft Alexander Jannais (103−76 v. Chr.), der sich nachweislich König nannte. Er verwirklichte als erster ein jüdisches Großreich von den Jordanquellen bis in den Negev einschließlich des Ostjordanlands und zweier Mittelmeerhäfen (Cäsarea und Gaza). Indes werden ihm brutale Herrschaftsmaßnahmen einschließlich der Zwangsjudaisierung nicht-jüdischer Bevölkerungsgruppen nachgesagt. Auf jeden Fall formierten sich aufgrund seiner Herrschaftspraxis die Pharisäer endgültig als Oppositionspartei; ein erster Aufstandsversuch der Pharisäer wurde aber von Alexander Jannai brutal niedergeschlagen. Nach Alexander Jannais Herrschaft verzettelten sich die Hasmonäer in innerfamiliären Rivalitäten und wechselnden außenpolitischen Bündnissen mit den letzten seleukidischen Herrschern sowie den immer stärker werdenden Römern. 67 v. Chr. gingen diese Machtkämpfe in offenen Krieg über, der auch Jerusalem in Mitleidenschaft zog. 64 v. Chr. besiegte der römische Feldherr Pompeius die Seleukiden und machte Syrien zu einer römischen Provinz. Innerhalb der rivalisierenden Hasmonäer entschied sich Pompeius für den inzwischen abgesetzten Hyrkan II. und setzte ihn 63 v. Chr. wieder als Hohepriester ein. Damit war die Autonomie des Hasmonäerreiches beendet. Mit dem Beginn der römischen Herrschaft in Palästina (ab 63 v. Chr.) müsste eine „Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit“ im Prinzip enden, denn keine der kanonischen Schriften (mit Ausnahme der Weisheit Salomos) bezieht sich noch auf Ereignisse nach 63 v. Chr. Üblicherweise ist das Jahr 63 v. Chr. denn auch der Einsatzpunkt für die Geschichte des Neuen Testaments bzw. des Antiken Judentums. Da die neutestamentliche Ergänzung dieses Lehrbuchs − S. Alkier, Neues Testament, Tübingen/Basel 2010 (UTB basics) − jedoch einen weit ausgreifenden historischen Teil hat, soll dieser Ausblick hier nicht erfolgen. Tatsächlich bringt die römische Zeit keine neuen Impulse mehr, die noch zum angemessenen Verständnis des Alten Testaments (in seiner hebräischen und seiner griechischen Fassung) beitragen können.
die Römer greifen in Judäa ein
146
4 Literarhistorische Vertiefung:
Die Entstehung des Alten Testaments
Inhalt 4.1
Frühe Formen der alttestamentlichen Literatur . . . 150
4.1.1 Die Entwicklung der Schriftkultur im Alten Israel . 150 4.1.2 Der Weisheitsspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4.1.3 Der Rechtssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4.1.4 Grundformen der Psalmdichtung . . . . . . . . . . . . . . . 155 4.1.5 Erzählende Gattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 4.2
Die Texte aus der Königszeit (ca. 900−587 v. Chr.). . . 157
4.2.1 Die kulturelle Matrix der Königszeit . . . . . . . . . . . . . 157 4.2.2 Die Erzählungen von den „Erzvätern“ (Gen 12−36*) . 161 4.2.3 Texte über das Königtum in Israel und Juda . . . . . . 166 4.2.4 Mose und der Exodus (Ex 1−15*) . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4.2.5 Ertrag: Die Königszeit als formative Phase der alttestamentlichen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4.3
Die Texte aus der Exilszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
4.3.1 Die kulturelle Matrix der Exilszeit. . . . . . . . . . . . . . . 185 4.3.2 Die Erweiterung der „Väter“-Geschichte (Gen 12−50) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 4.3.3 Die Sinai-Erzählung (Ex 19−24*) . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 4.3.4 Das Deuteronomium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 4.3.5 Die Priesterschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 4.3.6 Ertrag: Die Exilszeit als Wendepunkt der alttestamentlichen Literaturgeschichte . . . . . . . . . . 210 4.4
Die Literatur der Perserzeit (539−333 v. Chr.) . . . . . . 212
147
Literarhistorische Vertiefung
4.4.1 Die kulturelle Matrix der Perserzeit . . . . . . . . . . . . . 212 4.4.2 Esra-Nehemia und die Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 4.4.3 Joseph und Ruth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4.4.4 Ertrag: Die Perserzeit als Entstehungszeit des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4.5
Die Literatur der Hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
4.5.1 Die kulturelle Matrix der hellenistischen Zeit . . . . . 234 4.5.2 Die nichtpriesterliche Urgeschichte (Gen 1–11*) . . . 239 4.5.3 Eine Tora für den Hellenismus: Die Septuaginta . . . 241 4.5.4 Ester, Daniel, Judit, Tobit, Makkabäer . . . . . . . . . . . . 244 4.5.5 Schriften neben der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 4.5.6 Ertrag: Die hellenistische Zeit als Abschlussphase der alttestamentlichen Literaturgeschichte . . . . . . . 257 R. G. Kratz, Art. Redaktionsgeschichte I. Altes Testament, in: TRE 28, Berlin/New York 1997, 367–378. S. M. Maul, Das Gilgamesch-Epos. Neu übersetzt und kommentiert, München 2005. W. Oswald, Moderne Literarkritik und antike Rezeption biblischer Texte, in: H. Utzschneider/ E. Blum (Hg.), Lesarten der Bibel. Untersuchungen zu einer Theorie der Exegese des Alten Testaments, Stuttgart 2006, 199–214. W. Röllig (Hg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 1 Altorientalische Literaturen, Wiesbaden 1978. K. Schmid, Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung, Darmstadt 2008. W. Sallaberger, Das Gilgamesch-Epos. Mythos, Werk und Tradition, München 2008. J. van Seters, The Edited Bible. The Curious History of the „Editor“ in Biblical Criticism, Winona Lake 2006.
Problemanzeige Das Alte Testament ist über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten entstanden. Kein einziges Buch wurde in einem Zug von einem einzigen Verfasser niedergeschrieben, sondern alle Bücher wurden mehrfach erweitert, überarbeitet und in größere literarische Zusammenhänge eingepasst. So haben alle alttestamentlichen Bücher mehrere Verfasser. Die Verfasser sind in den meisten Fällen unbekannt bzw. nicht sicher identifizierbar. Nur in wenigen Fällen − z. B. bei Esra und Nehemia sowie in einigen prophetischen Büchern − geht vermutlich ein Teil des Buches
!
148
Traditionsliteratur: Schriften ohne Autor
Literarhistorische Vertiefung
auf die namengebende Person zurück, doch selbst diese Bücher sind später weiter überarbeitet worden. Diese Produktion von Texten, die nicht unter dem Namen eines Autors umlaufen, sondern anonym Inhalte und Aussagen überliefern, nennt man „Traditionsliteratur“ (im Gegensatz zur „Autorenliteratur“). Sie ist typisch für den Alten Orient in antiker und vorantiker Zeit.
Das Gilgamesch-EposDer Text, der als exemplarisches Beispiel für die Literaturproduktion im Alten Orient gelten kann, ist das sumerisch-akkadische Gilgamesch-Epos. Diese (sehr lesenswerte) Erzählung über die Abenteuer des Urzeithelden Gilgamesch lief seit dem 18. Jh. v. Chr. in mehreren textliche Versionen mit unterschiedlichen (Teil-)Inhalten um und wurde bis zum 11. Jh. v. Chr. immer wieder ergänzt und umgeschrieben: Ältere Episoden wurden modernisiert und auf neue Verhältnisse angepasst, neuere Episoden wurden hinzugefügt und/oder aus anderen Texten übernommen und in die Gilgamesch-Geschichte integriert. Erst die Fassung aus dem 11. Jh. v. Chr. wurde einigermaßen verbindlich. In der keilschriftlichen Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal (668–627 v. Chr.) wurden Fragmente dieser verschiedenen Textfassungen gefunden, die es erlauben, die Entstehungsgeschichte zu rekonstruieren. Die Einsichten aus der altorientalischen Literaturgeschichte können auf die Entstehung der alttestamentlichen Literatur übertragen werden. modellhafte Erschließung der alttestamentlichen Literaturgeschichte
In Mesopotamien, Ägypten und im frühen Griechenland lässt sich die Entstehungsgeschichte von Texten anhand der Textfunde belegen, die die Archäologie zutage gefördert hat. Für die alttestamentlichen Texte liegen uns jedoch keine solchen vor; die ältesten Handschriften alttestamentlicher Bücher datieren aus dem 2. Jh. v. Chr. (Bibliothek von Qumran). Sie bezeugen zum größten Teil bereits die Bücher in ihrer Letztgestalt. So muss die Entstehung der alttestamentlichen Bücher im Einzelnen und des Alten Testaments im Ganzen hypothetisch rekonstruiert werden und kann − bislang − nicht durch materiale Daten belegt werden. Methodisch geht man dabei mit den Mitteln der Literarkritik, der Form- und Überlieferungsgeschichte und der Redaktionsgeschichte vor, neuerdings ergänzt man diese klassischen Methoden historisch-kritischer Exegese (→ Kap. 2.5) durch Fragestellungen aus der modernen Literaturwissenschaft und der Kommunikationstheorie.
Literarhistorische Vertiefung
149
Hypothesenbildung über alttestamentliche LiteraturwerdungDass uns die handschriftliche Bezeugung alttestamentlicher Texte vor dem 2. Jh. v. Chr. weitestgehend fehlt, hängt teilweise mit der Entwicklung der Schriftkultur in Israel und Juda zusammen, teilweise aber auch mit den klimatischen und historischen Bedingungen in Palästina. In Mesopotamien wurden als Schreibmaterial Tontafeln benutzt, die bei Feuer und anderer Zerstörung erhalten blieben und auch Regen, Überschwemmungen und Stürme relativ gut überstehen. Ein weiteres Kommunikationsmittel waren Steininschriften, die ebenfalls die Zeiten gut überdauern. Im Gegensatz dazu wurde in Palästina auf Papyrus und Leder geschrieben, die beide leicht verrotten oder bei Zerstörungen verbrannt werden. So müssen wir bei der Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte alttestamentlicher Texte vermuten, dass es schriftliche Vorstufen gab, die sich aber nicht mehr auffinden lassen. Dabei ist die Möglichkeit der Rekonstruktion dieser Vorstufen von Text zu Text und von Buch zu Buch unterschiedlich. Bei manchen Texten lässt sich ein ursprünglicher Bestand relativ leicht von seinen späteren Fortschreibungen abheben. In anderen Texten gehen Textproduktion und -interpretation derart fließend ineinander über, dass sich Älteres und Jüngeres kaum sicher unterscheiden lassen (s. dazu Kratz, Redaktionsgeschichte, 370 ff.; Oswald, Literarkritik, 200 ff.). Im Großen und Ganzen wird man aber sagen müssen, dass das Alte Testament eher das Ergebnis der Arbeit von Redaktoren als von Autoren ist.
Solange wir die Entstehungsgeschichte alttestamentlicher Texte nur auf dem Wege der Hypothese rekonstruieren können, bleibt die alttestamentliche Forschung eine f lexible Disziplin. Die Einsichten über die Geschichte des Alten Testaments sind in hohem Maße von Tendenzen der Geschichts- und Literaturwissenschaft sowie der Soziologie beeinf lusst. Auch die jeweilige theologische Theoriebildung innerhalb der christlichen Kirchen spielt bei dieser Forschung eine große Rolle. Aus diesem Grund wandeln sich die Theorien über die Entstehung des Alten (und des Neuen) Testaments beständig. Dieser Wandel macht viele Ergebnisse unübersichtlich und unsicher, ist jedoch auch nicht so vielfältig, dass man keinen Konsens finden könnte. Es muss aber zugestanden werden, dass die meisten Aussagen über die Entstehung des Alten Testaments eine gewisse Vorläufigkeit haben. In diesem Kapitel soll daher ein Überblick über die Entstehung der wichtigsten Literaturbereiche des Alten Testaments gegeben werden, der der historischen Entwicklung folgt und die Impulse der Geschichts- und Literaturforschung am Alten Testament aufnimmt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den erzählenden Werken des Alten Testaments. Den Prophetenschriften, den Psalmen
150
Literarhistorische Vertiefung
und der Weisheitsliteratur ist in Kap. 5 dieses Buches ein jeweils eigener Abschnitt gewidmet.
4.1
Frühe Formen der alttestamentlichen Literatur
4.1.1
Die Entwicklung der Schriftkultur im Alten Israel D. M. Carr, Mündlich-schriftliche Bildung und die Ursprünge antiker Literaturen, in: H. Utzschneider/E. Blum (Hg.), Lesarten der Bibel. Untersuchungen zu einer Theorie der Exegese des Alten Testaments, Stuttgart 2006, 183–198. D. W. Jamieson-Drake, Scribes and Schools in Monarchic Judah: A Socio-Archaeological Approach, Sheffield 1991 (JSOT.S 109). H. M. Niemann, Kein Ende des Büchermachens in Israel und Juda (Koh 12,12) – wann begann es?, in: BiKi 53 (1998), 127–134. K. Schmid, Literaturgeschichte, 43–47.
Schriftlichkeit entsteht im Staat
Nach gegenwärtigem Forschungsstand sind die ältesten alttestamentlichen Texte nicht vor der Königszeit entstanden, d. h. frühestens im 9. Jh. v. Chr. Der Grund dafür liegt in der historisch-sozialen Entwicklung in Israel und Juda. Stämmegesellschaften wie die des 12.−10. Jhs. v. Chr. sind in der Regel schriftlose Kulturen. Schriftlichkeit entsteht unter den Voraussetzungen eines „Staates“ und einer differenzierten Gesellschaft.
Schriftlichkeit im frühen IsraelFür die späte Bronzezeit ist mit einer Schreibkultur im Raum der Stadtstaaten Kanaans zu rechnen: Aus dem ägyptischen Amarna-Archiv des 14. Jhs. v. Chr. liegen in akkadischer Sprache verfasste Briefe an den ägyptischen Pharao aus Jerusalem und anderen Orten vor. In Megiddo und im syrischen Ugarit fanden sich bronzezeitliche Abschriften des Gilgamesch-Epos. Außer in Ugarit scheint es aber keine eigenständige kanaanäische Literaturproduktion gegeben zu haben. Vielmehr wurde zu Ausbildungs- und anderen Zwecken die Literatur der Großmächte rezipiert. Beim Niedergang der bronzezeitlichen Stadtstaatenkultur um 1100 v. Chr. (→ Kap. 3.2) ging vermutlich auch deren Schriftkultur unter, sie könnte aber in gewissen Restbeständen in den Städten überlebt haben. Für die nachmaligen Reiche Israel und Juda ist damit zu rechnen, dass vor dem 10. Jh. v. Chr. überhaupt keine nennenswerte Literalität (Lese- und Schreibfähigkeit) vorlag, die erst vom 9. Jh. v. Chr. an signifikant zunahm. Beleg dafür ist die Zahl der in Israel gefundenen Inschriften auf Steinen oder Siegeln. Vor dem Hintergrund der Überlegungen zum Schreibmaterial ist dieser Befund zwar nur eingeschränkt aussagekräftig, das Vorbild der anderen altorientalischen Kulturen (Ägypten, Mesopotamien) zeigt jedoch, dass Schriftlichkeit sich erst im Zusammenhang mit Königshöfen und großen Tempeln entwickelte. Für diese wurden Texte produziert, die zunächst streng zweckgebunden waren: Königschroniken, diplomatische Briefwechsel, Listen über Handelsgüter und Versorgungsbezüge. Für diese Texte der offiziellen Verwaltung entwickelte sich
151
Frühe Formen der alttestamentlichen Literatur
ein Stand professioneller Schreiber. Diese Schreiber wurden geschult, um selbstverantwortlich Aufgaben in Politik und Kult wahrzunehmen. Mit zunehmender Ausdifferenzierung der königlichen Politik in Israel und (etwas später auch in Juda) verbreiterte sich dieser Stand Lese- und Schreibkundiger. Trotzdem blieb Schriftlichkeit und – damit verbunden – die Produktion von Texten und Literatur bis weit in die römische Zeit hinein ein Privileg einer verhältnismäßig kleinen Bevölkerungsgruppe. Wann Lese- und Schreibfähigkeit in der vorchristlichen Zeit eine breitere Basis bekamen, lässt sich nicht sicher sagen.
Die Ausbildung zum Schreiber vollzog sich im ganzen Alten Orient überwiegend durch das Auswendiglernen. Nach ersten Unterweisungen in der Schrift bzw. dem Alphabet − Übungsstücke liegen aus Ägypten und Mesopotamien vor − schrieben die Schüler Texte nieder, die ihnen vorgelesen oder vorgetragen wurden. Später schrieben sie auswendig Gelerntes wieder und wieder auf. Da mit dem Erlernen des Schreibens auch die Vorbereitung auf eine Karriere am Hof oder Tempel einherging, waren die Schultexte meist solche, die Normen und Werte der Führungseliten vermittelten: ethische Sprüche und Fabeln, Gesetze und − im weitesten Sinne − „historische“ Texte über das Leben und die Taten der Könige und Helden. Auch religiöse Texte gehörten zum Basiswissen eines altorientalischen Schreiberschülers; häufig lassen sich religiöse und nicht-religiöse Inhalte nicht voneinander trennen. Die Produktion von literarischen und religiösen Texten diente im ganzen Alten Orient vor allem der Aufrechterhaltung der Ausbildung dieser Führungsschicht, ihrer Herrschaftslegitimation und Anweisungen zur Durchführung ihrer Aufgaben. Neue, meist nichtliterarische, Texte wurden vor allem dazu verfasst, flüchtige und variable Daten zu sichern, die sich nur schwer behalten lassen (Quittungen, Listen, Korrespondenz). Neue literarische Texte wurden verfasst, wenn sich die sozialen und/oder religiösen Bedingungen so änderten, dass sie neue Begründungen und Deutungen brauchten. Aufgrund der Internationalität der altorientalischen Kulturen waren die meisten Eliten mehrsprachig; in Israel und Juda darf man neben der Beherrschung des Hebräischen (in seinen lokalen Dialekten) noch Kenntnisse des Akkadischen (Assyrischen und Babylonischen), Ägyptischen, Aramäischen, Phönizischen usw. voraussetzen. Die meisten dieser Sprachen sind ohnehin eng verwandt. U. a. durch diese Mehrsprachigkeit zeigte sich bis zum Auftreten der Perser der Alte Orient als ein kulturell recht einheitlicher (Groß-)Raum, der in vielem − Politik, Religion, Ethik −
Schreiben: Grundlage einer Karriere in Politik und Kult
Mehrsprachigkeit
152
altorientalische Bildungskultur
Literarhistorische Vertiefung
trotz aller lokalen Unterschiede doch von einer grundsätzlichen „interkulturellen Übersetzbarkeit“ (J. Assmann) wichtiger Sachverhalte geprägt war. Das Ziel und Ergebnis altorientalischer (Aus-)Bildung lässt sich folgendermaßen beschreiben: „So wurde zugleich mit der Schreibkompetenz auch ein Fundus auswendig gelernten Wissens vermittelt. Dieses Wissen aber, dieser Punkt ist entscheidend, war kein spezialisiertes Fachwissen, es befähigte nicht [nur] zur korrekten Lösung von Verwaltungs- oder Kultaufgaben, sondern es bezog sich auf die normativen und formativen Grundeinstellungen der … Kultur; es war kulturelles Grundwissen, das aus dem Schreiberlehrling einen gebildeten, wohlerzogenen und rechtdenkenden Ägypter machte. Wer diese Texte auswendig kannte – der ägyptische Ausdruck dafür lautet sehr viel konkreter und passender: „sie sich ins Herz gegeben hatte“ –, der hatte mit ihrem Wortlaut zugleich [die wichtigen] kulturellen Grundeinstellungen, Deutungsmuster, Wertvorzugsordnungen und Weltansichten in sich aufgenommen.“ (J. Assmann, Ägypten, 141 f.)
keine „Volksliteratur“
Was Jan Assmann für das ägyptische Mittlere Reich beschreibt, gilt auch für Israel und Juda seit dem 9. Jh., wobei jedoch die entsprechende Literatur erst langsam geschaffen werden musste. Dabei griff man wahrscheinlich am Anfang auf ausländische in Übersetzung bekannte Grundtexte zurück, aber auch auf mündlich tradiertes Überlieferungsgut. Wir müssen davon ausgehen, dass mit der Königszeit auch die Produktion literarischer Werke deutlich zunahm: Literarische Betätigung − das Finden neuer weisheitlicher Einsichten, das Dichten neuer Gebete und Lieder, die Gestaltung spannender Erzählungen − gehört zur Bildung dazu und transportiert den jeweils aktuellen Stand nicht nur der Kunst, sondern auch der Politik und Ethik der jeweiligen Zeit. Welche Rolle das „einfache Volk“ bei der Entwicklung der Literatur in Israel und Juda spielte, ist schwer einzuschätzen. Ältere literaturgeschichtliche Forschung zum Alten Testament hatte hier häufig romantische Vorstellungen von „Volksliteratur“. Andererseits darf man das Zustandekommen (literarischer) Texte auch nicht ausschließlich den politischen und religiösen Eliten zuschreiben: Vor allem das Erzählen von Geschichten ist ein in allen Kulturen und Schichten anzutreffendes Interesse; die Gesetze des Erzählens als Kulturtechnik sind in vielen Kulturen ähnlich. Trotzdem ist gerade bei den Erzählungen, die sich nicht problemlos einer Entstehung am Königshof zuordnen lassen, Vorsicht geboten: Sie liegen uns nur in schriftlicher Form vor
153
Frühe Formen der alttestamentlichen Literatur
und sind daher durch den Filter gebildeter Literaturproduktion gegangen. Wie weit sich bei diesen Texten eine mündliche Vorstufe ermitteln lässt, ist umstritten. Unter diesen Voraussetzungen ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich im Alten Testament überhaupt Texte größeren Umfangs finden lassen, die älter sind als das 9. Jh. v. Chr. Anders verhält es sich indes mit Formen einerseits und Stoffen andererseits. Manche Stoffe bzw. Inhalte (vor allem in Gen 12−36; Ex; Ri; 1−2 Sam) gehen in ihren Grundzügen vor das 9. Jh. v. Chr. zurück. Sie lassen sich aber immer nur in Umrissen bestimmen. Zu den literarischen Formen, die vermutlich zum ältesten Überlieferungsgut gehören und die lange Zeit weitertradiert wurden, gehören der Weisheitsspruch, der Rechtssatz und die Grundformen der Psalmdichtung sowie − möglicherweise − Grundformen der alttestamentlichen Erzählung. Der Weisheitsspruch
4.1.2
C. R. Fontaine, Traditional Sayings in the Old Testament. A Contextual Study, Sheffield 1982 (BiLiSe 5). F. Golka, Die Flecken des Leoparden, Stuttgart 1994 (AzTh 78). H.-J. Hermisson, Studien zur israelitischen Spruchweisheit, Neukirchen-Vluyn 1968 (WMANT 28). M. Köhlmoos, Art. Weisheit/Weisheitsliteratur, in: TRE 35 (2003), 486–497.
Sowohl unter Eliten als auch im Volk vollzog sich Erziehung und Bildung auf dem Weg der mündlichen Unterweisung durch Eltern und Lehrer. Die grundlegende Form dieser Erziehung findet sich im Weisheitsspruch (hebr. ma¯saˇ ¯l). Dieser formuliert eine allgemeine Einsicht in möglichst leicht zu behaltender Form. Derjenige, der ihn lernt, soll daraus eine Anleitung zum eigenen Nachdenken und/ oder zum Handeln ableiten. Die meisten dieser Weisheitssprüche finden sich im Buch der Sprüche (Sprichwörter) Salomos (Proverbien). Ihre Zusammenstellung und auch die meisten Einzelsprüche stammen aus der Königszeit und noch später − sie spiegeln die (Alltags-)Ethik vornehmer und Führungsfamilien. Trotzdem finden sich Sätze, die so allgemein formuliert sind, dass sie auch sehr alt sein könnten. Als Volkssprichwörter unbekannten Alters gelten z. B. Ri 8,21: „Denn wie der Mann ist, so ist auch seine Kraft“, Ez 16,44: „Wie die Mutter, so die Tochter“. Typischer für den Weisheitsspruch ist allerdings eine etwas komplexere Formulierung, die zwei Sachverhalte in charakteristischer Form einander zuordnet:
Alltagsethik in poetischer Form
Parallelismus membrorum
154
Literarhistorische Vertiefung
A) Prov 23,24 B) Prov 10,1
Der Vater eines Gerechten freut sich, und wer einen Weisen gezeugt hat, ist fröhlich über ihn. Ein weiser Sohn ist seines Vaters Freude; aber ein törichter Sohn ist seiner Mutter Grämen.
Diese Textform nennt man Parallelismus membrorum (= Parallelismus der Versglieder) oder auf Deutsch auch „Gedankenreim“: Aussage X wird mit Aussage Y in einen Zusammenhang gestellt, der entweder eine Entsprechung oder einen Gegensatz formuliert. X ist also ähnlich wie Y: so in Beispiel A (Wer sein Kind gut erzogen hat, hat Grund zur Freude). Oder X ist das genaue Gegenteil von Y: so in Beispiel B. Diese Textform ist charakteristisch für altorientalische Dichtung im Allgemeinen; zum Weisheitsspruch wird sie durch den Inhalt, der offen oder verdeckt eine Handlungsanweisung transportiert. Die Handlungsanweisung der beiden Beispielsprüche lautet: Erziehe deine Kinder so, dass du Freude an ihnen hast bzw. Handle immer so, dass deine Eltern Freude an dir haben können. Wie viel an Einzeltexten im Sprüchebuch tatsächlich auf echte (alte) „Volksweisheit“ zurückgeht, ist umstritten; das Prinzip Weisheitsspruch gehört aber zu den ältesten Textformen im Alten Testament. 4.1.3
Der Rechtssatz A. Alt, Die Ursprünge des israelitischen Rechts, in: Ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, Bd. 1, München 1968, 278–332. H. J. Boecker, Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient, Neukirchen-Vluyn 2 1984, 166–180. J. C. Gertz, Grundinformation Altes Testament, Göttingen 2006, 221–223.
apodiktisches Recht
Vermutlich gehören auch Teile der Rechtsüberlieferung zum ältesten Überlieferungsbestand der Alten Testaments. Das betrifft − ähnlich wie beim Weisheitsspruch − weniger die Inhalte als die Formulierung. Erwogen wird dies seit Albrecht Alt für jene Rechtssätze, die eine einfache Entsprechung von Tatbestand und Rechtsfolge konstatieren, ohne auf nähere Umstände, eine zugrunde liegende Norm oder eine entscheidungsfindende Instanz einzugehen (sog. „apodiktisches Recht“). Zu solchen apodiktischen Rechtssätzen gehören (möglicherweise) folgende Texte: Gen 9,6a: Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden.
155
Frühe Formen der alttestamentlichen Literatur
Ex 21,12–17: 12 Wer einen Menschen schlägt, daß er stirbt, der soll des Todes sterben. 15 Wer Vater oder Mutter schlägt, der soll des Todes sterben. 17 Wer Vater oder Mutter flucht, der soll des Todes sterben. (sog. Todesrecht) Dtn 27,16.24: 16 Verflucht sei, wer seinen Vater oder seine Mutter verunehrt! 24 Verflucht sei, wer seinen Nächsten heimlich erschlägt! (sog. Fluchsätze)
Alle diese Sätze formulieren eine Entsprechung von Tat und Tatfolge, die unmittelbar vollzogen werden muss. Schon ihre äußerst knappe Formulierung deutet darauf hin, dass sie zum Auswendiglernen bestimmt sind und kein juristisches Expertenwissen verlangen. Die Todessätze (Beispiel B) gehören ursprünglich in das innerfamiliäre Recht. Innerhalb seines eigenen Hauses und seiner Familie hatte der Familienvater die einzige und uneingeschränkte Rechtsgewalt. Er legte fest, was innerhalb seines Hauses Recht und Unrecht war und nahm, wenn nötig, Strafen vor − bis hin zur Todesstrafe, wenn es sein musste. Diese Rechtssätze markieren unüberschreitbare Grenzen; sie standen wahrscheinlich von Anfang an immer unter göttlicher Autorität. Wer diese Grenze überschritt, stellte sich selbst außerhalb dessen, was gesellschaftlich und religiös akzeptabel war und hatte (nach antiker Logik) damit sein Leben verwirkt. Die Ausformulierung dieser letzten Grenzen könnte in die Anfänge der Stämmegesellschaft (11. Jh. v. Chr.) datieren, als einzelne Familien und Sippen zu größeren Verbänden zusammenwuchsen und sich auf gemeinsame Normen und Regeln verständigen mussten. Grundformen der Psalmdichtung E. S. Gerstenberger, Psalms. Part 1 with an Introduction to Cultic Poetry, Michigan 1988 (FOTL XIV). H. Gunkel/J. Begrich, Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, Göttingen 41984. W. Zwickel, Der Tempelkult in Israel und Kanaan. Studien zur Kultgeschichte Palästinas von der Mittelbronzezeit bis zum Untergang Judas, Tübingen 1994 (FAT 10).
Die im Buch der Psalmen überlieferten Gebetstexte gehören zu den alttestamentlichen Texten mit der längsten Entstehungsgeschichte. Es kann mit guten Gründen angenommen werden, dass ihre Grundformen, vor allem im Bereich des Gotteslobs, schon auf vorkönigliche Gebetspraxis zurückgehen. Einige Anlässe dieser Gebete sind vermutlich in kultischen Festen und Feiern der Stämmegesellschaft zu suchen.
4.1.4
156
Literarhistorische Vertiefung
Als Grundform des alttestamentlichen Hymnus (= Loblied) gilt allgemein Ex 15,21: Lasst uns dem HERRN singen, denn er hat eine herrliche Tat getan, Ross und Mann hat er ins Meer gestürzt.
Dieser Text bezieht sich schon auf ein konkretes historisches Ereignis (vgl. dazu R. G. Kratz, Komposition, 301 f.), das sich aber nicht sicher historisch verankern lässt. Entscheidend ist, dass das Gotteslob in Form eines Imperativs mit einer kurzen Begründung zusammengebunden wird. Solche einfachen Formen des Gebets finden sich auch im Buch der Psalmen noch häufig. Dass wir es hier mit alten Formen der Frömmigkeit zu tun haben, lässt sich mit guten Gründen vermuten. Neben Ex 15,21 wird auch häufig der Grundbestand von Ri 5 als Text aus vorköniglicher Zeit in Anspruch genommen.
Gotteslob
4.1.5
Erzählende Gattungen S. Bar-Efrat, Die Erzählung in der Bibel, in: H. Utzschneider/E. Blum (Hg.), Lesarten der Bibel, 97–116. K. Koenen, Art. Erzählende Gattungen (AT) 2, in: www.wibilex.de.
Ätiologien
Es ist anzunehmen, dass die Stämmegesellschaft des 11. Jhs. v. Chr. ihre Traditionen, Normen und Werte auch in Form von Erzählungen formulierte und tradierte. Vor allem Verwandtschaftsverhältnisse und Gebietsansprüche sowie bestimmte Sitten und Gebräuche sind in der Regel Gegenstand alter Erzählungen, die die Ursprünge eines gegenwärtigen Sachverhalts zum Thema haben (sog. „Ätiologien“ von griech. aitía = Ursprung). Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, welche der im Alten Testament überlieferten Texte dieser Art (vornehmlich in den Büchern Gen und Ri) auf Verhältnisse vor der Königszeit zurückgehen, obwohl viele von ihnen alte Motive aufbewahren. In der Regel ist die Erwähnung von Ortschaften, die nach dem 9. Jh. aufgegeben wurden, ein guter Hinweis auf alte Überlieferungskerne. Eventuell hat auch die Geschichte vom Auszug aus Ägypten (→ Kap. 3.2.2) einen so alten Überlieferungskern. Gerade in der alttestamentlichen Erzählung gilt: „Viele Texte enthalten und verarbeiten Traditionen und Erinnerungen, die älter als sie selbst sind, aber nicht in schriftlich fixierter Gestalt vorlagen. Ihre Verschriftung war dann aber mehr und anderes als die bloße Kodifizierung dieser Traditionen und Erinnerungen. Vielmehr war der Verschriftungsvorgang bereits ein erster Auslegungsvorgang.“ (K. Schmid, Literaturgeschichte, 57)
157
Die Texte aus der Königszeit (ca. 900 –587 v. Chr.)
Die Texte aus der Königszeit (ca. 900–587 v. Chr.)
4.2
In der Königszeit nahm die Produktion von literarischen Texten sprunghaft zu. Das hing mit der wachsenden Ausdifferenzierung Israels und Judas zu voll ausgebildeten Königreichen zusammen, deren Führungseliten lese- und schreibkundig waren. Außerdem wuchs mit der Herausbildung eines politisch-sozialen Gebildes wie eines Königreiches das Bedürfnis nach Dokumentation seiner Geschichte und nach Legitimation seiner Herrschaft über Einheimische und Fremde. Die kulturelle Matrix der Königszeit
4.2.1
B. Janowski/B. Ego (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte, Tübingen 2001 (FAT 32), darin besonders: B. Janowski, Das biblische Weltbild. Eine methodologische Skizze, 3–26. M. Bauks, „Chaos“ als Metapher für die Gefährdung der Weltordnung, 431–464. A. Berlejung, Tod und Leben nach den Vorstellungen der Israeliten. Ein ausgewählter Aspekt zu einer Metapher im Spannungsfeld von Leben und Tod, 465–502.
Israel und Juda entstanden im kulturellen Großraum des international vernetzten Zusammenhangs des Alten Orients. Bis zum Ende der Königszeit unterschieden sie sich politisch, kulturell, religiös und sozial nur geringfügig von den Nachbarreichen. Die Unterschiede waren durch lokale Eigenarten und die relative Kleinheit und Bedeutungslosigkeit Israels und Judas (im Vergleich zu Ägypten und Mesopotamien) bedingt. Insofern sind viele der frühen alttestamentlichen Texte eher typisch altorientalisch als typisch biblisch. Die Texte dieser Epoche sind von einer − durchaus religiös geprägten − Gesamtperspektive gekennzeichnet: „Blickt man auf die konkreten Inhalte der … Schriftproduktion dieser Epoche, so wird man einen gemeinsamen Nenner in den jeweiligen Ordnungsvorstellungen finden können, die sie vertreten und die keineswegs nur für das antike Israel und Juda, sondern gemeinorientalisch kennzeichnend sind. Die Kult- und Weisheitstexte dieser Epoche … lassen in dem vorausgesetzten Symbolsystem eine elementare Leitdifferenz erkennen, die Kosmos und Chaos oder genauer: lebensfördernde und lebensmindernde Kräfte voneinander absetzt und in beständigem Widerstreit sieht. Die kultischen und rituellen Vollzüge, aber auch Politik und Ökonomie stehen im Dienst, dem Chaos zu wehren und den Kosmos zu stützen und zu erweitern.“ (K. Schmid, Literaturgeschichte, 61 f.)
Israel und Juda als Teil des Alten Orients
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Literarhistorische Vertiefung
Das altorientalische WeltbildDas Konzept lässt sich in folgender Skizze der politisch-sozialen Dimensionen des altorientalischen Weltbildes darstellen. Es beruht auf einer Vorstellung von Gestalt und Entstehung der Welt, die an anderer Stelle ausgeführt ist (→ Kap. 5.4). Abb. 4.2.1 Das Weltbild des Alten Orients
Nach altorientalischem Denken ist die Welt vom ständigen Konflikt zwischen Ordnung („Kosmos“) und Unordnung („Chaos“) geprägt. Das Chaos wird durch Kräfte und Mächte repräsentiert, die man summarisch als „lebensfeindliche Kräfte“ bezeichnen kann: Alles Ungeordnete, Unerwartete, Unberechenbare, Unbeherrschbare und Normabweichende ist Kennzeichen des Chaos. Der Kosmos ist dagegen die Summe – besser: das Zusammenspiel – aller „lebensfördernden Kräfte“ und Mächte: Ordnung, Wahrheit, Herrschaft, Regel, Norm. Für den altorientalischen Menschen drückt sich die Ordnung des Kosmos vor allem in Wiederkehrendem aus: Zeit, Jahresablauf, Gesundheit, Geburt und Tod in erwartbarem Rahmen. Unterbrechungen des Regelmäßigen stellen den Einbruch des Chaos dar: Sonnen- und Mondfinsternisse, Erdbeben, Dürre, Wetterkatastrophen, Krankheit usw. Ordnung besteht dann, wenn das Chaos den ihm gebührenden Platz behält und nicht auf die geordnete Welt ausgreift. Der höchste Garant einer geordneten Welt ist Gott bzw. sind die Götter. In allen altorientalischen Religionen – auch im vorexilischen Israel und Juda – handelt es sich dabei um mehrere Gottheiten („Polytheismus“). Polytheistische Religionen tendieren zu einer Ausdifferenzierung des Göttlichen: Jede Gottheit hat einen bestimmten Zuständigkeitsbereich und eine bestimmte Persönlichkeit, Ordnung vollzieht sich dann, wenn das soziale und familiäre Verhältnis der Götter stimmt. Auch das Chaos hat seine Gottheiten. Sie sind nicht „böse“, sondern ihr Zuständigkeitsbereich sind die Chaoskräfte, deren Existenz die anderen Götter erst dazu in Stand setzt, Ordnung überhaupt durchzuführen. D. h. in gewissen Grenzen braucht das
Die Texte aus der Königszeit (ca. 900 –587 v. Chr.)
Chaos seinen Raum, damit die Welt nicht stillsteht. Im Bereich der Götter kommt es erst dann zu Problemen, wenn eine Gottheit gewissermaßen „aus der Reihe tanzt“. Die göttliche Weltordnung ist auf der Erde erfahrbar und muss vom Menschen umgesetzt werden. Dabei wirken Familie und Einzelner einerseits, König und Volk andererseits zusammen. Wenn jeder Mensch an seinem Platz in der Gesellschaft Wahrheit, Treue, Solidarität und Verlässlichkeit, Recht und Ordnung verwirklicht, dann ist sozial und politisch die Welt in Ordnung. Andererseits ist sowohl individuelles als auch kollektives Fehlverhalten Einfallstor für das Chaos und gefährdet Welt und Gesellschaft. Für das Gedeihen eines politischen Gebildes – wie also Israel und Juda – entscheidend ist die Rolle des Königs. Er gilt nach altorientalischem Verständnis als derjenige, der den Willen der Götter, besonders aber des Herrschers der Götter auf Erden umsetzt. Die Abbildung in der Mitte der Graphik zeigt König Hammurabi von Babylon (links), der vom Sonnengott (rechts) in seine Herrschaft eingesetzt wird (Abbildung aus dem 18. Jh. v. Chr.). Wie der höchste Gott innerhalb der Götterwelt Recht und Ordnung, Frieden und soziale Ordnung umsetzt, tut es auch der König auf der Erde. Dazu steht er ständig mit den Göttern, besonders aber mit dem höchsten Gott in Kontakt, durch Rituale, Kulthandlungen und Gebete im Hauptstadttempel. Die Abbildung im rechten oberen Viertel der Graphik zeigt eine Rekonstruktionszeichnung des Allerheiligsten im Jerusalemer Tempel: JHWH thront wie ein König auf einem Thronsitz. Versagt der König in seiner Rolle, zieht er den Zorn Gottes auf sich, und die Sicherheit des Landes ist in Gefahr. Am schwersten wiegt politisches Versagen, das zu Krieg führt und dafür sorgt, dass der höchste Gott eines anderen Volkes die Herrschaft übernimmt. Die Abbildung im rechten unteren Viertel der Graphik zeigt die Deportation von Kriegsgefangenen durch die Assyrer. Diese sog. „offizielle Religion“ hat ihre Ergänzung in der sog. „persönlichen Frömmigkeit“ des Einzelnen und der Familie. Jeder Familienvater, Sippenchef, Ortsälteste usw. spielt im Prinzip für seine Leute dieselbe Rolle wie der König für das Volk. Der göttliche „Ansprechpartner“ für diese religiöse Funktion scheint in Israel und Juda ebenfalls JHWH gewesen zu sein, es gab aber daneben auch Gottheiten, die lediglich für einzelne Familien oder Regionen eine Rolle spielten. Die Abbildung im linken oberen Viertel zeigt eine Plakette einer weiblichen Gottheit („Aschera“), die im Rahmen der familiären oder individuellen Religionsausübung angerufen wurde. Dieses – für uns fremde – Weltbild ist an dieser Stelle nur vereinfacht dargestellt. Es war in den einzelnen altorientalischen Kulturen leicht unterschiedlich, in jedem Fall aber wesentlich differenzierter. Diese Vorstellung von der Welt und ihren Ordnungen ist über Jahrhunderte erfahren und in theologische, politische und ethische Reflexion umgesetzt worden, die wir in biblischen (und außerbiblischen) Texten wiederfinden. Versuchen Sie, bei aller Fremdheit zu verstehen, dass es sich hier nicht um primitive Vorstellungen einer fernen Vergangenheit handelt, sondern um eine äußerst durchdachte Verdichtung menschlicher Erfahrungen.
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Literarhistorische Vertiefung
Von etwa 900 v. Chr. an − d. h. mit der vollständigen Ausbildung eines Königtums in Israel und Juda − wuchsen die beiden Reiche in dieses kulturelle Deutungssystem hinein und produzierten Texte (und Bilder), die vom Horizont dieses Denkens bestimmt sind. Die Königszeit lässt sich in drei literaturgeschichtliche Phasen einteilen: Ϝ Die vorassyrische Phase (9.−8. Jh. v. Chr.): In diesem relativ kurzen Zeitraum sind die Anfänge der schriftlichen alttestamentlichen Literatur zu verorten. Dabei ist mit einer schnelleren Entwicklung in Israel als in Juda zu rechnen (→ Kap. 3.3). Die Menge an produzierten Texten war aber wahrscheinlich in beiden Reichen eher gering. Juda orientiert sich in diesem Zeitraum vermutlich tendenziell an ägyptischen, Israel an syrisch-phönizischen kulturellen Leitmustern. Ϝ Die assyrische Phase (8.−7. Jh. v. Chr.): Die Textproduktion nahm deutlich zu, und gegen Ende des 8. Jhs. v. Chr. fand auch Juda Anschluss an die kulturelle Gesamtentwicklung. Vom 8. Jh. an dominierte der assyrische Kultureinf luss deutlich beide Reiche. Die Eroberung Samarias durch die Assyrer 720 v. Chr. führte zu einem Abbruch der offiziellen Literatur Israels. Juda führte in Teilen das Erbe Israels in literarischer Hinsicht weiter und artikulierte sich bis gegen Ende des 7. Jhs. v. Chr. im Rahmen der assyrischen Dominanz. Seit 720 v. Chr. kam es aber in Auseinandersetzung mit der assyrischen Großmacht zur Entwicklung eigenständiger Konturen der israelitisch-judäischen Literatur und Religion. Ϝ Die spätvorexilische Phase (7. Jh.−587 v. Chr.): In der kurzen Zeit zwischen dem Niedergang des assyrischen Großreichs und der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier (587 v. Chr.) kam es zu einer ersten „Standortbestimmung“ Judas als weitgehend eigenständiger Kultur, die von der Abgrenzung gegenüber Assyrien-Babylonien einerseits und Ägypten andererseits geprägt war. Die Nachwehen der Politik Josias von Juda (639−609 v. Chr. → Kap. 3.3.7) führten zu den ersten Schritten eines monotheistischen Glaubens Israels und seiner literarischen Begründung. Verglichen mit der exilisch-nachexilischen Zeit ist die Menge der alttestamentlichen Texte, die in vorexilischer Zeit entstanden sind, relativ gering. Gleichwohl entwickelte sich in dieser Zeit ein großer Teil der inhaltlichen Konturen, die das Alte Testament bis in seine Spätzeit prägen. Insofern kann man − spätestens seit
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Die Texte aus der Königszeit (ca. 900 –587 v. Chr.)
der Assyrerzeit − von der „formativen Phase“ der alttestamentlichen Literaturgeschichte sprechen. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Geben Sie Abb. 4.2.1 mit Ihren eigenen Worten wieder. 2. Lesen Sie: Jan Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München 1999, 55−59. Assmann schildert darin die Rolle des Staates bei der Aufrechterhaltung der Ordnung nach der ägyptischen Theorie. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Gott Seth (als Verkörperung des Chaos)?
3. Zum Problem des Umgangs mit dem altorientalischen Weltbild schreibt Bernd Janowski: „Abschließend mag sich die Frage aufdrängen, welchen Gewinn denn die Beschäftigung mit dem antiken Weltbild für die Gegenwart bringt. Zunächst einmal, so scheint uns, den Gewinn, den jede historische und kulturwissenschaftliche Analyse der Vergangenheit bedeutet: nämlich zu verstehen, woher wir kommen und wohin wir gehen. Historische Forschung leistet daher kulturelle Erinnerungsarbeit. (…) Jenseits von sklavischer Übernahme oder überheblicher Verdrängung der Vergangenheit optiert historische Forschung für die Notwendigkeit, den langen Weg von der Antike bis heute verstehend nachzuvollziehen und dabei verschüttete oder verdrängte Möglichkeiten des Welt- und Selbstverständnisses wieder zur Geltung zu bringen.“ (B. Janowski, Weltbild, 21 f.)
Welchen Beitrag zu Ihrem eigenen „Welt- und Selbstverständnis“ leistet die Kenntnis des altorientalischen Weltbildes? Gibt es Aspekte darin, von denen Sie glauben, dass sie sich wiederzuentdecken lohnen?
Die Erzählungen von den „Erzvätern“ (Gen 12–36*)
4.2.2
E. Blum, Die Komposition der Vätergeschichte, Neukirchen-Vluyn 1984 (WMANT 57). E. Blum, Noch einmal: Jakobs Traum in Bethel – Genesis 28,10–22, in: S. L. McKenzie/T. Römer (Hg), Rethinking the Foundations. Historiography in the Ancient World and in the Bible (FS J. van Seters), Berlin/New York 2000 (BZAW 294), 33–54. I. Fischer, Die Erzeltern Israels: Feministisch-theologische Studien zu Genesis 12–36, Berlin/ New York 1994 (BZAW 222). R. G. Kratz, Komposition, 263–281. W. Oswald, Staatstheorie, 145–156.
Die Geschichte von Abraham, seinem Sohn Isaak und dessen Sohn Jakob bildet in Gen 12−36 gewissermaßen den Anfang der Geschichte Israels im Alten Testament. Einen Anhang dazu bildet die litera-
eine Geschichte aus mehreren Teilen
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Literarhistorische Vertiefung
risch und theologisch anders akzentuierte Geschichte von Jakobs Sohn Joseph (Gen 37−50). Sowohl die Zusammenstellung der drei Personen Abraham, Isaak und Jakob zu einer Familie aus drei Generationen als auch die Komposition mehrerer einzelner Geschichten zu einem großen Zusammenhang ist das Ergebnis eines längeren Prozesses; ihre erste grundlegende Gestalt hat die „Vätergeschichte“ nicht vor 720 v. Chr. erhalten. Ihr geht ein längerer Überlieferungsund Sammlungsprozess voraus, dessen Anfänge vermutlich in der vorassyrischen Zeit liegen. Die Endgestalt der Vätergeschichte ist für Judentum, Christentum und Islam zu einem der alttestamentlichen Zentraltexte geworden, weil sich in ihr unabhängig von jeder Voraussetzung auf menschlicher Seite die Treue Gottes zu seinem Erwählten zeigt. Der Aufbau von Gen 12–50In der jetzigen Form gliedert sich die „Vätergeschichte“ in drei (vier) Abschnitte: Gen 12–25
Abraham
Gen 26–27.35,27–29
Isaak
Gen 25.27–35
Jakob
(Gen 37–50
Joseph)
Die Erzählung hat vier Hauptabschnitte, die den vier Generationen entsprechen. Die Abrahamserzählung schildert den mühevollen Weg Abrahams bis zur Geburt und zum Überleben seines Sohnes Isaak. Dieser ist derjenige, der erstmals im verheißenen Land Wohnung nimmt. Jakob kommt die Rolle des Volksgründers zu, und Jakobs Sohn Joseph sorgt für die Erhaltung dieses im Entstehen begriffenen Volkes. Jeder Abschnitt schließt mit Tod und Begräbnis des Vaters durch seine Söhne. Obwohl es sich in der alttestamentlichen Forschung lange Zeit eingebürgert hatte, von „Erzvätererzählungen“ zu sprechen, ist doch seit einiger Zeit deutlich, dass es sich um „Erzelternerzählungen“ handelt. Gott legt mehr als einmal das Schicksal Israels in die Hand von Frauen: Abrahams Frauen Sara und Hagar, Isaaks Frau und Jakobs Mutter Rebekka, Jakobs Frauen Lea und Rahel. Der Plot von Gen 13–36 (37–50) ist in sich stimmig und kohärent. Gleichwohl sind Brüche innerhalb dieses Aufrisses kaum zu übersehen. Liest man genauer, bemerkt man, dass im Grunde jeder einzelne Abschnitt in sich geschlossen ist und der nächsten Generation kaum wirklich bedarf. Stilistisch und erzählerisch sind die vier Teile durchaus unterschiedlich: Die Abrahamserzählung ist episodisch gestaltet, die Jakobserzählung dagegen breiter angelegt. Die Geschichte
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Isaaks ist ein Fragment, die Josephsgeschichte schließlich trägt die Züge eines Kurzromans oder einer Novelle. Schwerer als diese Wahrnehmung wiegt jedoch die Beobachtung, dass der literarische Zusammenhang zwischen den einzelnen Abschnitten nur lose ist. Die folgende Generation scheint die Geschichte der vorigen häufig nicht zu kennen. Aus diesen Beobachtungen lässt sich schließen, dass es sich bei den Geschichten Abrahams, Isaaks und Jakobs ursprünglich um selbständige Einheiten handelte, die nachträglich miteinander verknüpft worden sind. Dabei lässt sich mit guten Gründen annehmen, dass die Geschichten um Jakob als literarische Einheiten die ältesten Texte innerhalb dieser Komposition bilden.
Die Erzväter-/Erzelterngeschichten sind Ursprungsgeschichten: Sie erzählen von den Anfängen bestimmter Gruppen an bestimmten Orten bzw. in bestimmten Gebieten in Israel und Juda. Daraus ergibt sich ihre Grundfunktion: Die Elterngeschichten wollen bestimmte Besitz- und Verwandtschaftsverhältnisse begründen und legitimieren. Es wird in ihnen das Leben Israels geschildert, wie es sich abseits der Zentren Jerusalem und Samaria zu allen Zeiten und an allen Orten vollzog. Die Träger der Genesiserzählungen sind in Kreisen zu suchen, in denen vornehmlich erzählt wurde. Daraus, dass die Texte sich über übergeordnete Organisationsstrukturen wie Königtum und Tempel beharrlich ausschweigen, ist zu schließen, dass die Träger dieser ersten Überlieferungen Grund besitzende Israeliten und Judäer waren, die nicht vom Königtum abhängig waren und deren Geschichte möglicherweise vor die Königszeit zurück reicht. Es lässt sich noch erkennen, dass die ältesten Überlieferungen der Genesis-Erzählungen ursprünglich ortsgebunden sind: Abraham gehört in das Gebiet um Hebron (Gen 18), Isaak in die Gegend von Beerseba, beide also auf judäisches Territorium (Gen 26). Jakob hat dagegen seinen Haftpunkt in Mittelpalästina mit den Zentren BetEl (Gen 28) und Pnuel (Gen 32). Zu den ältesten Texten dürften Einzelepisoden gehören, in denen nur der jeweilige Vater als Legitimationsfigur territorialer Verhältnisse herangezogen wurde; Beispiele wären Verträge um Brunnenrechte in Gen 13; 26, wobei deren Verschriftlichung nicht datierbar ist. Die Erzählungen von Jakob haben früher zu verbindlichen Grunderzählungen geführt als die Erzählungen von Abraham und Isaak. Jakob wurde noch in vorassyrischer Zeit zum Gründungsvater des Volkes Israel, d. h. aller derjenigen, die das Gebiet des Königreiches bewohnten.
Ursprungsgeschichten
ortsgebundene Einzelüberlieferungen
die Jakobsgeschichte als ältester Bestand
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Literarhistorische Vertiefung
Die wichtigsten ältesten Texte aus den Vätererzählungen sind die beiden Gründungsgeschichten der Heiligtümer in Bet-El (Gen 28,10−22*) und Pnuel (Gen 32,23−33*). Diese werden auf eine Begegnung Jakobs mit Gott/JHWH zurückgeführt, wobei Jakob in Gen 32 den neuen Namen Israel erhält. In diesen Erzählungen wird begründet, warum die Nachkommen Israels JHWH an diesen beiden Orten verehren. Der Aufbau der JakobsgeschichteDie Geschichte Jakobs in Gen 28–32 besteht aus zwei größeren erzählerischen Einheiten: der Geschichte von der Rivalität zwischen Jakob und seinem Bruder Esau (Gen 25; 27; 32–33) und der Geschichte von Jakob und seinem Schwiegervater Laban (Gen 29–31). Im Jakob-Esau-Kreis geht es um das Verhältnis zwischen Jakob, dem Urahn Israels, und Esau, dem Urahn der ostjordanischen Edomiter; begründet wird, warum der (jüngere) Jakob die Vorherrschaft über den (älteren) Esau erlangte. Hier haben wir es mit einer politischen Erzählung zu tun, die in die Zeiten der größten Ausdehnung des Königreiches Israel gehört (Mitte des 8. Jhs.). Der Zentraltext findet sich in den Segenssprüchen über Jakob und Esau (Gen 27,29.39). Im Jakob-Laban-Kreis geht es ebenfalls um politische und Gebietsverhältnisse (Gen 31*), vor allem aber darum, wer zu den Nachkommen Jakob-Israels gehört. Der zentrale Text ist daher die Geschichte von der Geburt der Söhne Jakobs (Gen 29–30). Dabei ist eindeutig, dass die Geburtsgeschichten Simeons, Levis und Judas erst spät in diese Erzählung gekommen sind; es handelte sich um Bewohner des judäischen Südens. Ursprünglich behandelte die Erzählung wohl nur die Geburt jener Söhne, deren Nachkommen das Territorium Israels bewohnten: Ruben, Dan, Naphtali, Gad, Asser, Issachar, Zebulon, Joseph und Benjamin. Dabei gehörte die Rivalität der beiden Mütter Lea und Rahel wohl ursprünglich zur Geschichte dazu: Joseph und Benjamin sind die Söhne der Frau, die der Stammvater mehr liebt. Sie bilden das Kerngebiet Israels und sind daher die wichtigeren Söhne. Wahrscheinlich ist die Liste der Nachkommen Jakobs immer wieder erweitert worden, sobald sich der territoriale Besitz des Königreiches Israel änderte. Die Herkunft Leas und Rahels von einem aramäischen Vater ist wohl erst auserzählt worden, nachdem Israel und Aram sich nicht mehr feindlich gegenüberstanden, wahrscheinlich erst in assyrischer Zeit. Wahrscheinlich sind die beiden Erzähl-Blöcke vor 720 v. Chr. getrennt voneinander überliefert worden. Gründerfigur eines Volkes
Die Jakobserzählung übernahm für das Königreich Israel, zumindest aber für dessen Eliten, noch in königlicher Zeit die Funktion eines identitätsstiftenden Gründungsmythos. Die territorial, politisch und dynastisch wechselvolle Geschichte des Königreiches Israel (→ Kap. 3.3.5; 3.3.6) ließ sich nicht (nur) mit der Geschichte seines Königshauses begründen, wie es in Juda der Fall war. Vielmehr sind es die von Jakob gestifteten Abstammungs- und territoria-
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Die Texte aus der Königszeit (ca. 900 –587 v. Chr.)
len Verhältnisse, die den jeweiligen Bestand Israels legitimieren. Auch JHWH wird durch Jakob zum Gott Israels. Die Eroberung Israels durch die Assyrer im Jahr 720 v. Chr. bedeutete für die Erzählungen der Genesis einen entscheidenden Einschnitt. Die Flucht eines großen Teils der ehemals israelitischen Bevölkerung nach Juda (→ Kap. 3.3.7) schuf dort eine neue demographische Situation: Die Ex-Israeliten mussten in Juda integriert werden; gleichzeitig war zu begründen, warum Juda nun (als überlebendes Reich) die Führungsrolle innehatte. Die Umarbeitung der Jakobsgeschichte ist eine Form, mit der die Situation nach 720 v. Chr. bewältigt wurde. Zwischen 720 und 587 v. Chr. wurde die Jakobsgeschichte so auskomponiert, dass sie im Wesentlichen den jetzigen Aufriss von Gen 25−35 erhielt, d. h. die Jakob-und-Esau- und die Jakobund-Laban-Erzählung wurden zu einer zusammenhängenden Geschichte Jakobs zusammengefügt. In der Mitte steht vor allem weiterhin die Geburt seiner Söhne. Erst jetzt wurden die judäischen Stämme Simeon, Levi und Juda in Gen 29−30 eingefügt. Die Umgestaltung der Erzählung Gen 29−30 zeugt von den intensiven Diskussionen um die Zugehörigkeit zu Israel-Juda, die nach 720 geführt worden sein müssen. Der Vorrang des Königreiches Juda vor den Stämmen, die zum ehemaligen Königreich Israel gehörten, wird dadurch begründet, dass Simeon, Levi und Juda die gegenüber Joseph und Benjamin älteren Söhne seien. Ihnen kommt also eine Führungsrolle zu. Sie gipfelt in dem Sachverhalt, dass das „Haus Juda“ seit David den König Judas stellte; das judäische Königshaus wurde also in die Nachkommenschaft Israels eingeordnet. Juda zur Seite steht Levi, der Stamm, aus dem traditionell die Priesterschaft kommt. Die älteren Söhne Israels sind also die Urväter des Priester- und des Königtums. Gleichwohl bleiben sie die Söhne der Frau, die von Jakob weniger geliebt wird, d. h. die enge Zugehörigkeit Josephs und Benjamins zu Israel wird also beibehalten. Sie bleiben leibliche Brüder und die Söhne der geliebten Rahel. In diesen Zusammenhang gehört der Sachverhalt, dass die Bevölkerung Judas nach 720 v. Chr. begann, sich selbst „Israel“ zu nennen. Unabhängig von der Herrschaft der davidischen Königsfamilie in Jerusalem gab es damit eine gemeinsame Identität des Volkes, die in der gemeinsamen Herkunft von einem Stammvater und dessen besonderer Beziehung zum Gott JHWH gründete. Diese gemeinsame Identität schloss auch diejenigen Ex-Israeliten ein, die auf dem
nach 720: Jakob als Stammvater Israels und Judas
Juda, Simeon und Levi als Söhne Jakobs
das „Volk Israel“ erhält seine Identität
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Literarhistorische Vertiefung
Voranstellung Abrahams und Isaaks
Gebiet Israels geblieben waren und nicht durch Deportation oder Flucht eine neue Heimat suchen mussten. Diese ebenso grenzwie krisenüberschreitende Tendenz der Jakobsgeschichte macht die besondere Eigenart und auch die bleibende Popularität dieses Textes aus, sie hat auf die Abrahamsgeschichte Einf luss genommen. Schon nach 720 war die Jakobsgeschichte geeignet, die Identität eines Volkes ohne staatliche Organisation wie König und Tempel zu gewährleisten. Es ist unklar, ob die Erzählungen von Abraham und Isaak als erster und zweiter Generation vor Jakob bereits der eben geschilderten Kompositionsstufe zuzuordnen sind. Da die Abrahamsund die Isaaküberlieferungen im judäischen Süden beheimatet sind, ist als Tendenz der Generationsfolge Abraham − Isaak − Jakob auf jeden Fall zu erkennen, dass der Süden sich gegenüber dem Norden noch stärker behauptete: Die wahren Urväter Israels, nämlich Jakobs Vater und Großvater, stammen aus dem Süden. Es spricht viel dafür, dass die Vorschaltung Isaaks vor Jakob als dessen Vater in die Zeit zwischen 720 und 587 v. Chr. gehört. Abraham scheint keine oder kaum eine große vorexilische Überlieferungsbasis gehabt zu haben, außer vielleicht einigen Ortsüberlieferungen aus der Gegend von Hebron.
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Gen 29,1−31,24 und merken Sie sich die Namen der Söhne Jakobs. 2. (Für Fortgeschrittene) Die Namen der einzelnen Söhne bekommen in den Aussprüchen ihrer Mütter eine Erklärung. Lesen Sie dazu einen Genesis-Kommentar.
3. Lesen Sie Gen 13,5−12; 26,12−33; 31,43−52. Notieren Sie formale und inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Texten. Texte wie diese dienten offensichtlich der Legitimation von Gebietsansprüchen. Wie geschieht diese Legitimation in den Texten?
4.2.3
Texte über das Königtum in Israel und Juda W. Dietrich, Königszeit, 248–253; 259–273. W. Dietrich/T. Naumann, Die Samuelbücher, Darmstadt, 1995 (EdF 287). M. Dijkstra, „As for the Other Events…“ Annals and Chronicles in Israel and the Ancient Near East, in: R. P. Gordon/J. C. de Moor (Hg.), The Old Testament in its World. Papers Read at the Winter Meeting January 2003, Leiden 2005 (OTS 52), 14–44. D. V. Edelman, King Saul in the Historiography of Judah, Sheffield 1991 (JSOT.S 121).
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Die Texte aus der Königszeit (ca. 900 –587 v. Chr.)
E. Eynikel, The Reform of King Josiah and the Composition of the Deuteronomistic History, Leiden 1996 (OT.S 33). A. A. Fischer, Von Hebron nach Jerusalem. Eine redaktionsgeschichtliche Studie zur Erzählung von König David in II Sam 1–5, Berlin/New York 2004 (BZAW 335). T. Ishida, The Royal Dynasties in Ancient Israel. A Study on the Formation and Development of Royal-Dynastic Ideology, Berlin 1977 (BZAW 142). R. G. Kratz, Komposition, 176–190. M. Köhlmoos, Die übrige Geschichte. Das „Rahmenwerk“ als Grunderzählung der Königebücher, in: S. Lubs u. a. (Hg.), Behutsames Lesen. Alttestamentliche Exegese im interdisziplinären Methodendiskurs (FS C. Hardmeier), Leipzig 2007 (ABG 28), 216–231. W. Oswald, Staatstheorie, 13–53. 54–64. A. de Pury/T. Römer (Hg.), Die sogenannte Thronfolgegeschichte Davids: Neue Einsichten und Anfragen, Freiburg (Schweiz)/Göttingen (OBO 176). P. Särkiö, Die Weisheit und Macht Salomos in der israelitischen Historiographie. Eine traditions- und redaktionskritische Untersuchung über 1Kön 3–5 und 9–11, Helsinki/Göttingen 1994 (SFEG 60). K. Schmid, Literaturgeschichte, 67–69.80–85. S. Seiler, Art. Aufstiegserzählung, in: www.wibilex.de. S. Seiler, Art. Thronfolgegeschichte, in: www.wibilex.de. H. Spieckermann, Juda unter Assur in der Sargonidenzeit, Göttingen 1982 (FRLANT 129).
Die eben behandelten Texte über die Erzväter und -mütter entfalteten erst in der exilischen und nachexilischen Zeit ihr ganzes identitätsstiftendes Potential für Israel, ihre theologische Bedeutsamkeit sogar erst noch später. Demgegenüber waren für die Königszeit innerhalb der Erzählüberlieferung die Texte wichtiger, die sich mit der Institution des Königtums, seiner Geschichte und mit einzelnen Gestalten auseinandersetzen. Sie stellten − in Verbindung mit einigen frühen Psalmen − die Hauptliteratur der Zeit vom 9. bis zum 6. Jh. v. Chr. dar. Der Grund dafür ist die eminente Bedeutung des Königs für sein Reich und sein Volk. Auch bei den Texten über die Könige muss zwischen der Traditionsbildung in Israel und in Juda unterschieden werden: Zwei getrennte Königreiche verfügten selbstverständlich auch über separate Geschichtsschreibung. Daneben muss zwischen zwei Grundgattungen unterschieden werden: Ϝ Die wichtigste Form der Überlieferung ist die sog. „Annalistik“ (von lat. „annus“ = Jahr). Sie vollzieht sich als lückenlose, fortlaufende Dokumentation der Könige und ihrer Regierungen und enthält meist nur knappe Daten über Regierungsdauer, Alter und genaue Herkunft des Königs, Todesart, Kriege oder Bauprojekte. Diese Annalen sind erzählerisch wenig ergiebig. Ϝ Daneben finden sich aber auch umfangreichere Königserzählungen (über Saul, David, Salomo, Jerobeam I., Ahab, Hiskia,
wichtigste Texte der Königszeit
unterschiedliche Traditionsbildung in Israel und Juda
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Literarhistorische Vertiefung
Josia). Diese dienten meist der Begründung politischer Maßnahmen und Ansprüche. In jedem Fall müssen für beide Bereiche königlicher Literatur die unmittelbaren Angehörigen des Königshofes als Verfasser und Tradenten der Texte angenommen werden. Aufgrund der Bildung und Ausbildung ihrer Verfasser (→ Kap. 4.1) sind diese Texte vergleichbaren Gattungen aus den Nachbarkulturen sehr ähnlich. Königserzählungen im Alten TestamentErzählungen über das Königtum und die Könige finden sich im Alten Testament in den Büchern 1.–2. Samuel, 1.–2. Könige, 1.–2 Chronik sowie in einigen Prophetentexten (Jes 36–38; Jer 50–52). 1 Sam 9–2 Kön 25 bilden einen fortlaufenden Zusammenhang, der von der Entstehung des Königtums unter Saul bis zur Begnadigung Jojachins durch den babylonischen König reicht. Innerhalb dieser Großkomposition bilden folgende Erzählungsblöcke größere Abschnitte: 1 Sam 9–15
Die Geschichte Sauls
1 Sam 16–2 Sam 5
Die Geschichte von David und Saul (auch „Aufstiegsgeschichte Davids“)
2 Sam 5–1 Kön 2
Die Geschichte Davids
1 Kön 3–11
Die Geschichte Salomos
1 Kön 11–14
Die Geschichte von der „Reichsteilung“
1 Kön 16–22
Die Geschichte Ahabs von Israel
2 Kön 9–10.11
Die Geschichte vom Umsturz Jehus
2 Kön 18–20
Die Geschichte Hiskias von Juda
Es handelt sich hierbei ursprünglich um einzelne Kleinkompositionen, die erst nach und nach zum Zusammenhang Sam/Kön zusammengefügt worden sind. Die Erzählungen in den Prophetenbüchern stehen literarisch in engem Zusammenhang mit den Darstellungen in 1/2 Kön. der Königsrahmen
Die offizielle, annalistische Geschichtsschreibung der Königszeit dokumentiert sowohl in Israel als auch in Juda lediglich die Abfolge der einzelnen Könige mit ihrer jeweiligen Regierungsdauer und Residenz sowie gelegentlich herausragende Taten oder Ereignisse (sog. „Königsrahmen“). Die entsprechenden Texte bilden jetzt das Grundgerüst der Königsbücher und lesen sich wie folgt:
Die Texte aus der Königszeit (ca. 900 –587 v. Chr.)
1 Kön 22,41 Und Joschafat, der Sohn Asas, wurde König über Juda … 42 und war fünfunddreißig Jahre alt, als er König wurde; und er regierte fünfundzwanzig Jahre zu Jerusalem. Seine Mutter hieß Asuba, eine Tochter Schilhis. 45 Und er hatte Frieden mit dem König von Israel. 51 Und Joschafat legte sich zu seinen Vätern und wurde begraben bei seinen Vätern in der Stadt Davids, seines Vaters. Und sein Sohn Joram wurde König an seiner Statt.
In 1./2. Könige sind die Regierungsdaten der Könige Israels und Judas miteinander verknüpft (Synchronismus = Gleichzeitigkeit): 1 Kön 22, 41 Und Joschafat, der Sohn Asas, wurde König über Juda im vierten Jahr Ahabs, des Königs von Israel, …
Diese Zuordnung wurde jedoch erst nach 720 v. Chr. vorgenommen. Bis dahin wurden die Königslisten in den beiden Reichen unabhängig voneinander geführt und dienten vor allem der aktuellen Geschichtsschreibung sowie der Zeitrechung. Sämtliche Kulturen des Alten Orients hatten in ihrer Zeitrechung keinen festen Anfangspunkt, sondern fingen bei jedem König neu an zu zählen. Will man daher einen längeren Zeitraum dokumentieren, müssen die einzelnen Regierungsdaten hintereinandergestellt werden. Auch nach dem Untergang Israels lässt sich dies in der Darstellung der Könige Judas (ab 2 Kön 18) noch beobachten. Die Königebücher beziehen sich bei diesen Grunddaten regelmäßig auf ein älteres Buch: 1 Kön 22,39 Was mehr von Ahab zu sagen ist und alles, was er getan hat, und das Elfenbeinhaus, das er baute, und alle Städte, die er ausgebaut hat, siehe, das steht geschrieben in der Chronik der Könige von Israel.
Diese sog. „Chronik“ ist nicht mit den alttestamentlichen Chronikbüchern gleichzusetzen, sondern meint vielmehr die offizielle Dokumentation der Regierungszeiten, aus denen die Königsbücher einen Auszug bilden und die heute nicht mehr erhalten sind. Da eine solche Geschichtsdokumentation ein voll ausgebildetes Königreich mit einer Verwaltung und einer gezielten Politik voraussetzt, muss angenommen werden, dass die Chronik Israels erst mit den Omriden einsetzte, die judäische Chronik möglicherweise sogar erst später (→ Kap. 3.3.5). Die Daten und Ereignisse für die Zeit vor Omri von Israel (1 Kön 11−15) sowie vor Josaphat von Juda (1 Kön 22) sind daher möglicherweise einer nur rudimentären Geschichtstradition oder mündlicher Überlieferung entnommen.
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Literarhistorische Vertiefung
Vom späten 9. Jh. v. Chr. an dürfen wir aber mit einer fortlaufenden − und im Wesentlichen verlässlichen − Dokumentation der Geschichte der Königreiche rechnen. Frühe KönigserzählungenUnsicher und in der Forschung umstritten ist, inwieweit in vorassyrischer Zeit mit Erzählungen von einzelnen Königen zu rechnen ist. Prinzipiell muss man davon ausgehen, dass die Geschichte eines Königs und/oder seiner Familie dann niedergelegt wurde, wenn er seinen Anspruch auf Herrschaft verteidigen musste. Dass diesen Geschichten eine mündliche Tradition vorausging, ist anzunehmen. Für die Könige Israels und Judas vor der assyrischen Zeit kommen folgende Überlieferungsbereiche in Betracht: Die Saul-Überlieferung: Die Geschichte des ersten Königs in Israel hat in 1 Sam 9,1–10,16; 13–14 ihre erste Grundfassung erhalten, die noch aus vorassyrischer Zeit stammt. Saul wird als der ideale Kandidat für die Herrschaft beschrieben: ein außergewöhnlicher Mensch, von JHWH erwählt und vom Volk bestätigt. Da Saul aber bereits nach dem Muster eines (altorientalischen) Königs gezeichnet wird, handelt es sich nicht um zeitgenössische Überlieferungen, sondern diese setzten bereits Erfahrungen mit königlicher Herrschaft voraus. Saul wird gesalbt, trägt den Titel „König“ und strebt eine erbliche Herrschaft an. Das (frühe) 9. Jh. v. Chr. als Abfassungszeitraum ist daher denkbar. Unklar sind allerdings die Träger der Saulsgeschichte und damit ihre Funktion. Sauls Herrschaftsgebiet Benjamin war zum einen zwischen Israel und Juda umstritten, zum anderen wurde es wohl frühestens unter den Omriden an das Gebiet des Königreiches Israel angeschlossen. Daher könnte die Erinnerung an Sauls Herrschaft und damit die Legitimation eines eigenen Königtums in Benjamin sowohl gegen Juda als auch gegen die Omriden gerichtet sein. Ab 1 Sam 16 ist die Geschichte Sauls unentwirrbar mit der Geschichte Davids verbunden und gegen Saul und seine Familie ausgerichtet. Die Erzählung von der Revolution Jehus: 2 Kön 9–10 berichtet vom gewaltsamen Ende der Omriden durch den Aufstand Jehus. Dieser Militärputsch fand mit religiöser Begründung statt, so dass sich auch Jehu und seine Nachkommen – die Nimsiden – als von JHWH erwählt legitimierten. Indes ist die Geschichte heute von erheblich späteren Traditionen überlagert. Trotzdem ist der Grundbestand wohl in Kreisen des nimsidischen Hofes im späten 9./frühen 8. Jh. verfasst worden. Auffallenderweise hat die Dynastie Omri offenbar keine Legitimationserzählung ihrer Herrschaft hinterlassen, sehr wahrscheinlich hat jedoch die Salomogeschichte Elemente aus der Omriden-Tradition an sich gezogen. David und Salomo
Für die Geschichte des Alten Testaments am wichtigsten sind die Überlieferungen über David und Salomo geworden, die ihre ersten Fassungen noch in vorassyrischer Zeit erhalten haben. Vor allem die Geschichte Davids hat − unter vielen Umdeutungen und Neuakzentuierungen − ihre Nachwirkungen bis ins Neue Testament und darüber hinaus gehabt. Die Geschichten Davids und Salomos sind getrennt voneinander entstanden und in vorassyrischer Zeit auch nicht miteinander verbunden worden.
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Geschichten um DavidDie Geschichte Davids findet sich in 1 Sam 16–1 Kön 2. Sie umfasst die Zeit von der Salbung Davids noch zu Sauls Lebzeiten bis zu Davids Tod. Die Parallelüberlieferung steht – unter Aufnahme weiteren (späteren) Überlieferungsmaterials – in 1 Chr 11–29. Außerdem liegen in 1 Chr 2–4 Stammbäume (Genealogien) der Familie Davids vor (die Abstammungslinie wird in Mt 1,12–17 von Jojachin bis zu Jesus verlängert). David ist somit die alttestamentliche Figur, über die am meisten Textmaterial vorliegt. Die Geschichte Davids lässt sich in zwei Abschnitte teilen: – die sog. „Aufstiegsgeschichte“: 1 Sam 16–2 Sam 5 – die sog. „Thronfolgegeschichte“: 2 Sam 6–1 Kön 2 Die Existenz einer Thronfolgegeschichte wird heute noch vielfach vorausgesetzt; eine eigenständige Aufstiegsgeschichte steht jedoch inzwischen in Zweifel. Man muss aber weiterhin von einer differenzierten David-Überlieferung ausgehen, die drei Bereiche umfasst: – Geschichten vom „Freibeuter David“ (1 Sam 21–23; 25; 27; 30; 2 Sam 2,1–4): Diese Erzählungen schildern David als Anführer einer Privatarmee, deren Erfolge schließlich zum Königtum Davids in Hebron führen. In diesem Kranz von Erzählungen geht es allein darum, wie David seinen Herrschaftsanspruch über Juda erworben hat. – Geschichten von David und Saul (1 Sam 16,14–23; 17,1–21,10; 24; 26; 2 Sam 1–4): In diesen Erzählungen wird der Aufstieg Davids in Israel mit dem politischen und religiösen Versagen Sauls begründet. Im Vordergrund steht hier der Anspruch Davids auf das Herrschaftsgebiet Sauls. – Geschichten von Davids Königtum (2 Sam 8–1 Kön 2): Diese Erzählungen befassen sich mit der Frage, welcher von Davids Söhnen ihn beerben sollte. Begründet wird damit, warum Salomo Davids Erbe wurde. Relative Sicherheit besteht nur darin, dass die „Freibeutergeschichten“ im (mündlichen) Überlieferungsbestand sehr alt sind, noch ins 10. Jh. hinaufreichen und vermutlich auch nicht viel später (frühes 9. Jh. v. Chr.) zu einer schriftlichen Fassung gefunden haben. Hinsichtlich der David-und-Saul- sowie der Nachfolgegeschichten ist das Bild weniger deutlich. Die beiden Komplexe verfolgen unterschiedliche Legitimierungsinteressen: 1 Sam 16 ff. begründen den Anspruch der Davididen auf Benjamin und die Nachfolge Sauls durch David; in 2 Sam 8 ff. geht es um interne Rivalitäten innerhalb der Daviddynastie. Der frühestmögliche Zeitpunkt für die schriftliche Niederlegung der David-und-Saul-Erzählungen sind Rivalitäten um das Gebiet Benjamin im mittleren 9. Jh. v. Chr. (vgl. 1 Kön 15, 17–22). Die Nachfolgeerzählungen könnten ihre Ausformulierung unter dem Eindruck der Verschwägerung der Davidsfamilie mit den Omriden bekommen haben. Hier und in den Nachwehen des Jehu-Putsches, der die davidische Linie kurzfristig unterbrach (→ Kap. 3.3.6), standen mit Sicherheit verschiedene Thronansprüche gegeneinander. Die Nachfolgeerzählungen betonen dann, dass nur ein Nachkomme Davids und einer Jerusalemer Mutter als König von Juda in Frage kommt.
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Literarhistorische Vertiefung
eine eigenständige Salomo-Überlieferung
Unabhängig von den Überlieferungen über seinen Vater David und die Umstände seiner Thronbesteigung haben die Überlieferungen über Salomo ihre erste schriftliche Fassung erhalten; sie ist wahrscheinlich älter als die Verschriftlichung der Traditionen vom Königtum Davids. Da Salomo der erste König in Juda war, dessen Herrschaft zumindest ideologisch dem Vorbild altorientalischer Könige entsprach, wurde sie auch unmittelbar dokumentiert. Das gilt zumindest für den Kernbestand der „Beamtenliste“ Salomos (1 Kön 4) sowie des Tempel- und Palastbauberichts (1 Kön 5,15−8,66*). Diese Texte dürften einer offiziellen Chronik des Jerusalemer Tempels und Königshofes entnommen und noch im frühen 9. Jh. v. Chr. niedergelegt worden sein. Für die unmittelbar folgende Geschichte Israels während der Königzeit und ihrer Literatur zeigte sich Salomo zunächst als die wichtigste Figur. Er galt vorerst als der Begründer des judäischen Königtums und wurde dementsprechend verherrlicht. Der Aufschwung Judas unter Hiskia und/oder Manasse (7. Jh. v. Chr.) führte zu einer Ausgestaltung der Geschichte Salomos. Da der Zuwachs Judas an Macht, Wohlstand und Gebiet durch assyrische Unterstützung zustande gekommen war (→ Kap. 3.3.7), bestand eine Notwendigkeit der Begründung: Der Zustand sollte als judäische Eigenleistung bzw. als Segen JHWHs (nicht Assurs!) verteidigt werden. Dazu wurde die Geschichte Salomos erweitert und Salomo ein großes Reich und große Pracht zugeschrieben (1 Kön 5−9.10): Die Angaben über Salomos Großreich stammen aus assyrischer Zeit und haben Traditionen über das Gebiet Israels unter den Omriden aufgenommen. Auf diesem Weg wurde Salomo nicht nur zum eigentlichen Begründer der Machtstellung Judas, sondern auch zu dem König, der über ein einheitliches Reich in Israel und Juda geherrscht hatte. Sehr wahrscheinlich haben die Legenden über Salomos Weisheit (1 Kön 3,16−28; 5,9−15) hier ebenfalls ihren Ursprung; sie entsprechen altorientalischer Königsideologie und wurden unter den Assyrern besonders stark propagiert. Als größter Einschnitt innerhalb der alttestamentlichen (Königs-)Geschichtsschreibung und wichtige Station auf dem Weg zu einer charakteristisch biblischen Literatur erwies sich erneut das Jahr 720 v. Chr. − wahrscheinlich in Verbindung mit der Rettung Jerusalems vor den Assyrern im Jahr 701 v. Chr. (→ Kap. 3.3.7). Die offizielle Geschichtsschreibung des Königreiches Israel brach mit dem Jahr 720 natürlich ab. Aber schriftliche Exemplare des israelitischen Annalenwerks gelangten nach Juda. Entweder wurde es durch Flüchtlinge nach Juda gebracht oder es war durch
Königsgeschichtsschreibung nach 720 v. Chr.
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Die Texte aus der Königszeit (ca. 900 –587 v. Chr.)
diplomatische Kontakte bzw. die Herrschaft Israels über Juda in der späten Nimsidenzeit (→ Kap. 3.3.6) ohnehin eine Fassung in Jerusalem vorhanden. Israelitische Flüchtlinge in Juda und eventuelle Gebietsverschiebungen durch die assyrische Politik machten es für die judäischen Hofgeschichtsschreiber notwendig, den Untergang des Nachbarreiches und das Überleben Judas zu begründen. Diese Begründung hatte eine mehrfache Funktion: Zum einen sollte (nach innen) das schlechte israelitische Beispiel den Judäern als Mahnung und Warnung vor Augen geführt werden. Zweitens sollte (ebenfalls nach innen) das judäische Selbstbewusstsein gestärkt werden. Drittens sollte ein Begründungsmodell für die Geschichte gefunden werden, das geeignet war, geflohene Israeliten (und eventuell auch in Israel verbliebene Bewohner) in das judäische Volk zu integrieren. Hier trifft sich das assyrerzeitliche Annalenwerk − das die Vorstufe der Königsbücher bildete − mit den Intentionen der assyrerzeitlichen Jakobsgeschichte: Nachgewiesen werden sollte eine gemeinsame Identität des „Volkes Israel“, die in seinem gemeinsamen Ursprung liegt. Anders als die Jakobsgeschichte, die nur den Ursprung erzählt und darin die Identität begründet, legt das assyrerzeitliche Königsbuch den Schwerpunkt auf dem Verlauf der politischen Geschichte seit Salomo: Vom gemeinsamen Ursprung her haben sich die beiden Reiche voneinander getrennt, wobei die israelitische Geschichte in den Untergang geführt hat, das judäische (= davidische) Königtum aber auf dem rechten Weg war (und ist). Ein weiterer Grund für die Abfassung des assyrerzeitlichen Königsbuches ist ein theologischer. Sowohl in Israel als auch in Jerusalem und Juda war JHWH der Gott des Reiches, des Königs und des Volkes. Nach der religiösen Logik des Alten Orients war JHWH in Samaria dem Gott Assur unterlegen. Die militärische Niederlage des Reiches ist auch die Niederlage seines Gottes (2 Kön 18,34 f.). Die Grunderzählung der Königsbücher kann allerdings nicht behaupten, JHWH selbst sei in Samaria unterlegen, denn (derselbe) JHWH herrschte ja noch in Juda. Deswegen muss sie auf das Versagen der Könige Israels an JHWH als Erklärungsmuster ausweichen, das zur Erklärung des Untergangs plausibel ist und für alle Judäer und Neu-Judäer ein theologisches Hoffnungspotential enthält. Das positive Urteil über die Könige Judas stiftet somit Heilskontinuität, an die sich Juda und die nach 720 in Juda integrierten Israeliten halten können. In der Grundschrift der Königsbücher liegt der Anfang der systematischen Geschichtsschreibung im Alten Testament. Sie greift
Mahnung für Juda
Rechtfertigung JHWHs – Kritik am Königtum
Identität eines Königreiches
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Fortsetzung der Königsbücher nach hinten
Fortschreibung nach vorn
Literarhistorische Vertiefung
auf vorliegende Überlieferungsmaterialien zurück, die noch zu keiner zusammenhängenden Geschichtsdarstellung ausgebaut waren. Sie ist gleichzeitig auch das älteste umfangreiche Literaturwerk des Alten Testaments. Die Grundschrift der Königsbücher legt − neben der assyrischen Fassung der Jakobsgeschichte − den Grundstein für eine gemeinsame Identität Israels und Judas als „Volk Israel“. Die historische und politische Eigenständigkeit des ehemaligen Nordreichs wird dabei gewissermaßen geschichtstheologisch beseitigt. Samaria überlebt nur als abtrünniger Teil des einen Israel und um den Preis der Fiktion der Bruderschaft. Bis zur Eroberung Judas und Jerusalems durch die Babylonier (597/587 v. Chr.) wurde das assyrerzeitliche Königsbuch in zwei Richtungen fortgeschrieben; seine Tendenz wurde dabei jedoch nicht grundlegend geändert. Die Darstellung der Regierung Hiskias (2 Kön 18−20) blieb der Höhepunkt, dem sich die Darstellung der Regierungen Manasses, Amons und Josias (2 Kön 21−23*) anschloss. Ob der Bericht über die Schlussphase des Königreiches Juda (2 Kön 23−24*) noch vorexilisch oder schon exilisch ist, lässt sich nicht sicher beantworten. Ebenso unklar ist, ob die Bewertungen der Könige nach Hiskia (Manasse und Amon: schlecht; Josia: gut) bereits in diesen Textentwurf gehören. Wirkungsgeschichtlich zum wichtigsten Text ist der Bericht über die Regierung Josias (639−609 v. Chr.; 2 Kön 22−23) geworden, und zwar aufgrund der religionspolitischen Maßnahmen dieses Königs. Erst spätere Fortschreibungen haben diese Kapitel zum Höhepunkt der Königsbücher und Josia zum besten aller Könige gemacht. Zum vorexilischen Grundbestand gehören nach allgemeiner Ansicht lediglich 2 Kön 22,1−2a.(3−7); 23,4*.11*.12*.29−30. Sie sind im Kontext des Königsbuches wahrscheinlich als bestätigendes Nachspiel zur Regierung Hiskias konzipiert. Trotzdem wurde das assyrerzeitliche Königsbuch entscheidend erweitert und zwar durch den Vorbau der (Saul- und) Davidgeschichte, der erst zwischen Hiskia und Josia stattfand. D. h. der Grundbestand der Samuel- und Königsbücher als lückenlose Geschichte des Königtums in Israel und Juda ist ein Ergebnis der spätvorexilischen Zeit. Gegenüber dem älteren Königsbuch verschiebt sich der Schwerpunkt: Es geht jetzt um das judäische Königtum in der Nachfolge Davids. Dabei werden zwei Aspekte eingetragen: erstens die einzige Rechtmäßigkeit des davidischen Königtums in Israel und Juda und zweitens der Bestand der Davidsdynastie.
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Propheten und KönigeAußer durch die enge Verknüpfung der Sauls- mit der Davidsgeschichte wird dieser Schwerpunkt durch eine Reihe von Texten verwirklicht, in denen Propheten sich als „Königsmacher“ betätigen: Samuel und Natan bei Saul und David (1 Sam 9; 16; 2 Sam 7), weitere Propheten im Verlauf der Königsgeschichte. Sie alle tragen zum Erfolg der Davididen und zum Misserfolg weiterer Dynastien bei (1 Kön 14,7–14; 16,1–4.7; 21,20–29*; 2 Kön 10,30, vgl. dazu Oswald, Staatstheorie, 54–72). Der zentrale Text dieser Fortschreibung ist die sog. Natanweissagung, in der der Dynastie Davids ewige Dauer verkündigt wird (2 Sam 7,11–16). Dieser außerordentlich umstrittene Text erklärt sich am leichtesten aus der Situation der spätvorexilischen Zeit, als nach Josias Tod die Ägypter und Babylonier in die Thronfolge eingriffen (→ Kap. 3.3.7) und sich in der Prophetie kritische Stimmen gegen die Könige aus dem Haus Davids erhoben (→ Kap. 5.4.1). Auch die assyrischen Könige Asarhaddon (681–669 v. Chr.) und Assurbanipal (669–629 v. Chr.) ließen sich ihre Regierungsmaßnahmen durch Prophetenorakel bestätigen. Das spätvorexilische Samuel- und Königsbuch versucht auf dem Weg des Geschichtsbeweises die letzten Könige Judas zu bestätigen und zu legitimieren.
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie 1 Kön 14,21 f.29.31; 15,1 f.7−11.23−28.31.33 f.; 16,5 f.8−10.14−16.20. 23.25.27−30; 22,39−43.46.51−53; 2 Kön 1,17 f.; 3,1 f. 8,16−18.23−27; 10,34−36; 12,1−3.20−22; 13,1 f.8−11; 14,15 f.; 14,1−3.18−21.23 f.28 f.; 15,1−3.6−11.13−15.17 f. 21−28.30−34.36.38; 16,1 f.19 f.; 17,1−5*.; 18,1.2aα.b.10aβ als fortlaufenden Text. Welche einzelnen wiederkehrenden Elemente der Erzählung lassen sich abgrenzen? Literatur: M. Köhlmoos, Die übrige Geschichte, 216−231.
2. Lesen Sie 1 Sam 21−23; 25; 27; 30 und 1 Sam 16,14−23; 17,1−21,10; 24; 26; 2 Sam 1−4. Vergleichen Sie die Darstellungen Davids in den beiden Textbereichen. Literatur: W. Dietrich, Königszeit, 242−248.
3. Lesen Sie 2 Sam 13−20; 1 Kön 1−2 (ohne 2,3−4.26−27). Begründen Sie aus der Lektüre des Bibeltextes folgende These: „Eine solche komplexe Gesellschaft [wie die der Königszeit] braucht eine Integrationsfigur und diese bietet die Erzählung in Gestalt des Königs. Und sie braucht einen Integrationsfaktor und dieser lautet ‚Loyalität‘. Nur unbedingte Loyalität zum König kann das komplexe Gemeinwesen zusammenhalten. (…) Die Hofgeschichte zeigt … sehr genau, welche Folgen illoyales Verhalten notwendigerweise nach sich zieht.“ (W. Oswald, Staatstheorie, 42 f.)
Welchen Zusammenhang erkennen Sie mit dem politisch-sozialen Weltbild, das in Kap. 4.2.1 dargestellt wurde?
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Literarhistorische Vertiefung
4.2.4
Mose und der Exodus (Ex 1−15*) M. Gerhards, Die Aussetzungsgeschichte des Mose. Literar- und redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu einem Schlüsseltext des nichtpriesterschriftlichen Tetrateuch, Neukirchen-Vluyn 2006 (WMANT 109). J.C . Gertz, Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch, Göttingen 2000 (FRLANT 189). M. Köhlmoos, Bet-El – Erinnerungen an eine Stadt. Perspektiven der alttestamentlichen BetEl-Überlieferung, Tübingen 2006 (FAT 49), 133–139.155–163.171 f. K. Koenen, Bethel. Geschichte, Kult und Theologie, Freiburg/Göttingen 2003 (OBO 192). R. G. Kratz, Komposition, 289–295. K. Schmid, Literaturgeschichte, 86–91. W. Oswald, Staatstheorie, 73–85. H. Utzschneider, Gottes langer Atem. Die Exoduserzählung (Ex 1–14) in ästhetischer und historischer Sicht, Stuttgart 1996 (SBS 166). E. Otto, Mose und das Gesetz. Die Mose-Figur als Gegenentwurf Politischer Theologie zur neuassyrischen Königsideologie im 7. Jh. v. Chr., in: Ders. (Hg.), Mose. Ägypten und das Alte Testament, Stuttgart 2000 (SBS 189), 43–83. B. U. Schipper, Israel und Ägypten in der Königszeit. Die kulturellen Kontakte von Salomo bis zum Fall Jerusalems, Freiburg/Göttingen 1999 (OBO 170), 228–242.
Die Erzählung vom Auszug aus Ägypten (Exodus) Ex 1−15 ist die wichtigste alttestamentliche Tradition der Heilsgeschichte. Nicht umsonst werden die Zehn Gebote − als Zusammenfassung des Willens JHWHs − folgendermaßen eingeleitet: Ex 20,2 Ich bin JHWH, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.
eine alte Erinnerung
Das Bekenntnis zu JHWH, dem Gott, der Israel befreit, und die damit verbundene Geschichte nehmen im Alten Testament und im Judentum die Rolle ein, die im Christentum die Erinnerung an Leben, Sterben und Auferstehung Jesu Christi haben. Die (mündliche) Tradition vom Auszug aus Ägypten und der Rettung Israels am Schilfmeer ist schon sehr alt und geht vermutlich auf Erinnerungen an die späte Bronzezeit zurück (→ Kap. 3.2.2). Eine genaue Abgrenzung des ursprünglichen Textbestandes will aber nicht gelingen. Bis weit in die Königszeit hinein war diese Überlieferung die Ursprungstradition einer Gruppe des Volkes und wurde vermutlich vor allem im Nordreich gepflegt. Immerhin hat es den Anschein, als sei der Gott JHWH von Anfang an mit der Exodus-Tradition verbunden gewesen und mit dieser in den religiösen Traditionsschatz Israels gelangt.
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Die Texte aus der Königszeit (ca. 900 –587 v. Chr.)
Der Exodus und das Heiligtum von Bet-ElÜber die frühe Geschichte der Exodustradition ist wenig bekannt. Es besteht Grund zu der Vermutung, dass sie im Königreich Israel zur politisch-theologischen Gründungslegende wurde, die Volk, Gott und König zusammenbindet und für Israel die Funktion einnimmt, die in Juda durch die Loyalität zur Davidfamilie gewährleistet ist. Diese Hypothese lässt sich vor allem aus 1 Kön 12,26–29 ableiten: Jerobeam I. hätte demnach in den Heiligtümern Bet-El und in Dan goldene Stierfiguren aufgestellt, die als Bild JHWHs dienen sollten. Mit der Aufstellung ist der Satz verbunden: „Siehe, da ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat.“
Historisch betrachtet war es vermutlich Jerobeam II. (787–747 v. Chr.), der Bet-El zum königlichen Heiligtum ausgebaut und dort die Stierfigur aufgestellt hat. Das Gottesbild ist wahrscheinlich von den Assyrern deportiert worden (Hos 10,5–6). Trotzdem scheint Jerobeam eine bereits alte und populäre religiöse Tradition als integrative Theologie für ganz Israel aufgegriffen zu haben. Bet-El ist spätestens vom 8. Jh. v. Chr. an zum wichtigsten Heiligtum in Zentralpalästina geworden. Das Stierbild ist im Zusammenhang mit der assyrischen Eroberung zwar verschwunden, doch das Heiligtum hielt sich bis in die persische Zeit. Bet-El diente als Ersatz, als der Jerusalemer Tempel zerstört war. Davor und danach standen Bet-El und Jerusalem in Konkurrenz zueinander. Bet-El hatte immer zwei Gründungslegenden: Hier wurde JHWH als Gott des Exodus erinnert und gefeiert. Daneben wurde die Gründung des Heiligtums von Bet-El auch auf Jakob zurückgeführt (→ Kap. 4.2.2). In dieser doppelten Theologie Bet-Els spiegelt sich die soziale und religiöse Differenzierung Israels.
Der Überlieferungskern der Exodustradition begründet also eine Eigenständigkeit und Identität Israels (oder seiner Teilgruppen) durch die Befreiung von einer fremden Macht durch JHWHs Handeln. Von der assyrischen Zeit an begann sie, massiv in den Vordergrund der Traditionsbildung zu geraten. Unter dem Eindruck der assyrischen Macht und der Niederlage und/oder dem Nachgeben der Könige Israels und Judas wurde die Exodus-Tradition in ihrer schriftlichen Fassung als Oppositionsliteratur niedergelegt. Sie ist sowohl (nach innen) königskritisch als auch (nach außen) anti-assyrisch und anti-ägyptisch ausgerichtet. Statt des Anspruchs der Assyrer, Ägypter oder Könige aus dem eigenen Volk formuliert sie klar und unmissverständlich den alleinigen Anspruch JHWHs auf sein Volk und auf Herrschaft.
der Exodus als Widerstandstradition
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Literarhistorische Vertiefung
Der Umfang der ältesten Exodus-GeschichteLeider sind Umfang und Entstehungsbedingungen der Grundfassung der MoseExodus-Erzählung alles andere als klar. Relative Einigkeit besteht darin, dass die assyrerzeitliche Mose-Exodus-Erzählung mit der Geschichte von der Geburt und Rettung Moses sowie seiner Flucht nach Midian beginnt: Ex 2,1–15. Die Geschichte Ex 2,1–10 ist eine israelitisch-judäische Version der mesopotamischen SargonLegende. Diese erzählt die Geschichte des legendären mesopotamischen Königs Sargon I. von Akkad (2356–2300 v. Chr.). Im späten 8. Jh. v. Chr. wurde sie zum zentralen Text assyrischer Propaganda, weil der illegitime assyrische König Sargon II. (721–705 v. Chr.) damit seinen Herrschaftsanspruch begründete: Als uneheliches Kind aus niedrigen Verhältnissen stammend, wurde er ausgesetzt, aber von einer Göttin gerettet und zur Herrschaft bestimmt. Die Mose-Erzählung macht von dieser Erzählung Gebrauch und wendet sie mit charakteristischen Veränderungen auf Mose an. Ein zusätzliches Element bildet Ex 2,11–15, das Eintreten Moses für seine geknechteten Landsleute. So dient Ex 2,1–15 insgesamt zur Legitimation der Figur Moses: „Mose kommt nicht aus königlichem Geschlecht, nicht einmal aus einer Heerführerfamilie, wird aber zum Gegner des ägyptischen Königs … Mose wird systematisch als nicht-königlicher König, als legitime Gegenfigur zum Pharao aufgebaut.“ (W. Oswald, Staatstheorie, 77)
Außerdem ist die eigentliche Auszugs-Geschichte mit der nachfolgenden Rettung Israels durch JHWH Bestandteil dieser Erstfassung: Ex 12,35–38; 13,20–22; 14,5.6.10b.13–14.19b–20.21*.24.25.27*.30; 15,20–21. Hier wird die alte ExodusTradition mit der Geschichte Moses verbunden, der bis dahin vermutlich noch keine „Geschichte“ hatte (Kratz, Komposition, 288–291). Umstritten ist, ob die Erstfassung der Mose-Exodus-Erzählung eine Begegnung Moses mit JHWH (Ex 3,1–8; 21–22; 4,18.20a: so Kratz, Komposition, 293 f.; Gertz, Tradition, 254–320) und/oder eine Konfrontation zwischen Mose, JHWH und dem Pharao (Ex 5,1–6,1; 7,14–12,33*, so Oswald, Staatstheorie, 86 f.) enthielt. Beide Positionen sind gut begründet. Ex 3* verstärkt die Beziehung zwischen Mose, Israel und JHWH, Ex 5–6; 7–12 betont die Bedeutung JHWHs im Kampf der (Götter-)Mächte. Dementsprechend kontrovers ist, ob die Erstfassung der Mose-Exodus-Erzählung nach 720 (Kratz, Komposition, 294 f.) oder erst im 7. Jh. v. Chr. (so Oswald, Staatstheorie, 81–85; Schmid, Literaturgeschichte, 86–91) anzusetzen ist. Identität im Widerstand
Unabhängig von diesen Detailfragen gilt: [Die Mose-Exodus-Geschichte] „gibt Israel eine Identität, die sich nicht aus dem – gottgegebenen – Königtum in Israel noch aus irgendeiner Gemeinsamkeit mit Juda erklärt, sondern allein auf der Rettungstat Jhwhs gründet … Dem Volk Israel wird eine Existenz jenseits der natürlichen Lebensbedingungen in Israel und Juda bescheinigt … Das Exoduscredo … setzt den Untergang der Monarchie, d. h. das Datum 720 v. Chr. voraus
Die Texte aus der Königszeit (ca. 900 –587 v. Chr.)
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und formuliert eine geschichtstheologische Alternative. Israel ist nicht untergegangen, sondern Israel ist das Volk Jhwhs, und Jhwh, der ehemalige Reichsgott, ist der Gott des Volkes Israel. Gründungsdatum der Beziehung ist nicht die mittlerweile untergegangene Monarchie, sondern die Befreiung aus Ägypten … Auf ihre Weise sucht die Exoduserzählung wie die … Vätergeschichte der Genesis einen Ausweg aus dem Desaster von 720 v. Chr., die [aber anders als die Vätergeschichte] die Eigenheit und Eigenständigkeit, ja Fremdheit ‚Israels‘ im Kontext der syrisch-palästinischen Staatenwelt betont.“ (R. G. Kratz, Komposition, 294 f.)
Diese Fassung der Mose-Exodus-Erzählung ist daher im ehemaligen Reich Israel nach 720 v. Chr. entstanden und geht zurück auf Verfasser, die nicht deportiert wurden oder geflohen waren. Sie definieren ihre Identität neu und zwar als Volk, das ohne Staat auskommt und allein von der Beziehung zu JHWH lebt. Diese Erzählung hat ein stark anti-assyrisches Potential und formuliert daher auch religiös begründeten Widerstand gegen die Besatzungsmacht. Unter den Bedingungen der assyrischen Herrschaft über Samaria und Juda nach 701 fand − auch ohne reguläre Fluchtbewegungen − ein Austausch unter den Bewohnern der beiden Gebiete statt. Dabei muss die eben abgegrenzte Erstfassung der Mose-Exodus-Geschichte ihren Weg nach Juda und zu einer gewissen Popularität und Schlüssigkeit innerhalb anti-assyrischer Kreise gefunden haben. Die anti-assyrischen Maßnahmen Josias von Juda (2 Kön 23*, → Kap. 3.3.7) erklären sich auch aus der Popularität der Exodus-Tradition. Alles in allem spricht die anti-königliche Tendenz der Mose-Exodus-Erzählung aber für eine Rezeption in Kreisen, die nicht direkt mit König, Hof und Tempel verbunden waren: judäische Grundbesitzer und deren Verbündete, die unter der assyrischen Herrschaft eher litten als von ihr zu profitieren. Die Trägerkreise der Exodus-Überlieferungen überschneiden sich daher mit denen der „Väter“-Überlieferung, gehen aber einen anderen Weg der theologischen Reflexion. Im 7. Jh. v. Chr. fand dann eine wichtige Fortschreibung der Mose-Exodus-Erzählung statt. Die Auseinandersetzung mit Ägypten in Ex 1,11−14*; 5−6*; 7−12* zeichnet ein geradezu ätzendes Bild vom ägyptischen Unterdrückungsstaat. Wie schon häufig dargestellt, passt die Situation, die der Text schildert, zum ägyptischen Zugriff auf Juda und Israel nach 630 v. Chr., der eine kaum verdeckte Fremdherrschaft darstellte. Die in Ex 1,11 erwähnte Stadt Pitom hat zwar eine bronzezeitliche Vorgeschichte, ist aber ab dem 7. Jh. v. Chr. ausgebaut worden. Der ägyptische Pharao
Ägypten als Feind Judas und JHWHs
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JHWH kämpft gegen die Großmacht
Literarhistorische Vertiefung
Necho II. (610−595 v. Chr.) unternahm außerdem ein Kanalbauprojekt, bei dem er massiv Zwangsarbeiter einsetzte; er legte Juda nach dem Tod Josias auch hohe Tributzahlungen auf (2 Kön 22,33−35). Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass das Ägyptenbild der Mose-Exodus-Erzählung die Erfahrungen Judas mit Ägypten im 7. Jh. v. Chr. widerspiegelt. Unter dem Eindruck der ägyptischen Präsenz in Juda wurde die Mose-Exodus-Geschichte um Ex 1,1−14*; 5−6*; 7−12* fortgeschrieben und zu einer Konfrontation zwischen JHWH und Ägypten aktualisiert. Die anti-assyrische Tendenz bleibt dabei insofern erhalten, als Ägypten nominell ein Verbündeter der Assyrer war. Kritik am einen ist daher Kritik am anderen. Entscheidend aber für die weitere Geschichte des Alten Testaments ist, dass in dieser Erzählung JHWH erstmals einen Kampf gegen die politische Großmacht (und ihre Götter) übernimmt und für Israel kämpft. Nach der höhnischen Frage des Pharao: Der Pharao antwortete: „Wer ist JHWH, dass ich ihm gehorchen müsse und Israel ziehen lasse? Ich weiß nichts von JHWH, will auch Israel nicht ziehen lassen“ (Ex 5,2)
beginnt die sog. Plagenerzählung (in dieser Fassung nur Blut, Frösche, Fliegen, Pest, Hagel, Heuschrecken und die Tötung der Erstgeburt), die nicht Strafen sind, sondern Zeichen der Macht JHWHs: „Die Unnachgiebigkeit des Pharao hat einen gottgewollten Nebeneffekt, denn je größer der Widerstand, desto größer erscheint die Macht dessen, der ihn bricht, die Macht des Gottes Israels.“ (W. Oswald, Staatstheorie, 78). ein neues Bild JHWHs
Diese Überzeugung, dass Gott um seiner Leute Willen Himmel und Erde in Bewegung setzt, gehört zum altorientalischen Weltbild (→ Kap. 4.2.1), doch zum ersten Mal in der alttestamentlichen Literatur geschieht dies ohne Vermittlung durch König oder Priester, sondern allein durch JHWHs Willen und mit einem „bürgerlichen“ Menschen (Mose) als Sprachrohr. Das geht mit einer Verschiebung im Bild JHWHs zusammen: Nach Ex 3−4 ist JHWH nicht in Jerusalem, Samaria oder Bet-El beheimatet, also an keinem Heiligtum, das mit König und staatlicher Macht verknüpft wäre, auch nicht im Gebiet der Besatzungsmacht in Ägypten oder Assyrien. Vielmehr hat er seinen Sitz und Wohnort irgendwo im Niemandsland der Wüste zwischen Ägypten und Palästina auf einem anonymen Berg. Diese geographische Zuordnung mag sich einer alten Erinnerung verdanken, doch ihr
Die Texte aus der Königszeit (ca. 900 –587 v. Chr.)
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theologisches Potential wird erst im 7. Jh. v. Chr. entdeckt. Paradoxerweise ermutigte diese Tradition sowohl zum Widerstand gegen Ägypten, Assur (und wohl auch gegen die Babylonier) als auch zum Durchhalten auf Hoffnung hin: „Der Exodus Israels ist der Präzedenzfall für die – aus Sicht der Entronnenen – legitime und auch legale Abschüttlung der Vasallität und hat daher auch eine staatstheoretische Dimension. Auch das Fehlen eines Königs auf Seiten der Israeliten wird in diesem Horizont verständlich, denn jeder König stünde unter der bindenden Verpflichtung eines zuvor auferlegten Vasallenvertrags. Mose als nicht-königliche Außenseitergestalt steht jedoch in keinem persönlichen Vasallitätsverhältnis zum Pharao und ist zudem einem anderen Herrn verpflichtet. (…) Die Exodus-Erzählung … hat … den Charakter einer Grundsatzerklärung, die das prinzipielle Recht eines Volkes auf Ablegung des Vasallenstatus verficht. Dieses Recht kann aber nicht sofort und mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden, vielmehr lehrt die Exodus-Erzählung, dass sich die erhoffte Freilassung mitunter lange hinziehen kann und viele Widerstände zu überwinden sind. Auf das Ausharren und das Erkennen des richtigen Zeitpunkts kommt es an, sowie auf die Einsicht, dass Jhwh, der Gott Israels, einen langen Atem hat und nicht aufgibt, bevor der Wechsel der Dienstherrenschaft Realität geworden ist.“ (W. Oswald, Staatstheorie, 82 f.)
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie die Sargon-Legende und vergleichen Sie sie mit Ex 2,1−10. Welche Motive sind ähnlich, welche sind unterschiedlich? Literatur: K. Hecker, Sargons Geburtslegende, in: O. Kaiser u. a. (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments (TUAT). Ergänzungslieferung, Gütersloh 2001, 56 f.
2. Lesen Sie Ex 2,1−15; 4,19−20 und skizzieren Sie den Erzählverlauf. Lesen Sie nun Ex 3,1−8.21−22. Was verändert sich an der Geschichte, wenn man Ex 3* mit einbezieht?
3. In der alttestamentlichen Forschung ist umstritten, ob man die Exodus-Erzählung als historische Quelle für die Verhältnisse der späten Bronzezeit heranziehen soll oder nicht. Im vorliegenden Buch ist der Weg gegangen worden, die bronzezeitliche Vorgeschichte plausibel zu machen, obwohl der Text erst aus dem 8./7. Jh. stammt. Lesen Sie als entgegengesetzte Argumentation diese These: „Die Erzählung vermeidet die historisierende Konkretion und will nicht von der längst vergangenen Erfahrung einer kleinen Flüchtlingsgruppe berichten. Solch eine Erfahrung mag einmal dem Exodusstoff
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Literarhistorische Vertiefung
zugrunde gelegen haben, die Weitergabe von Erfahrungen ist jedoch nicht die Intention der Erzählung (…) Man verfehlt die Exodus-Erzählung, wenn man historisch rekonstruieren möchte, um welchen Pharao es sich wohl gehandelt haben mag. Der Erzählung geht es überhaupt nicht um einen individuellen Pharao, sondern um das ‚Prinzip Pharao’ und um Ägypten als Symbol der Unterdrückung. Die Anonymität des Pharao ist also kein Mangel, der durch historische Hypothesenbildung zu beheben wäre, sondern bringt das Anliegen der Erzählung zum Ausdruck.“ (W. Oswald, Staatstheorie, 81)
Welche Gründe macht Oswald für einen Verzicht auf eine historische Rückfrage geltend? Wie stehen Sie zu dieser Argumentation?
4.2.5 Überblick
Ertrag: Die Königszeit als formative Phase der alttestamentlichen Literatur Gemessen am Gesamtumfang des Alten Testaments ist die Literaturproduktion der Königszeit nur klein. Auf der anderen Seite sollte man den literarischen Ertrag der Königszeit nicht zu gering veranschlagen. Bis zum Untergang Jerusalems lagen folgende Textkomplexe in ihren Grundzügen fertig vor: Ϝ Aus der Genesis: Die Jakobsgeschichte Gen 28−35* eventuell mit einem kurzen Vorbau der Geschichte Isaaks und Abrahams. Ϝ Aus dem Buch Exodus: Die Mose-Exodus-Erzählung Ex 1−14*, dazu die hier bislang nicht berücksichtigte Sammlung des sog. „Bundesbuchs“ (Ex 20−22, → Kap. 5.3). Diese Gesetzestexte waren jedoch noch nicht mit der Exodusgeschichte verbunden. Ϝ Aus den Büchern Samuel und Könige: Der Gesamtzusammenhang der Saul- (1 Sam 9−14), David- (1 Sam 16−1 Kön 2*), Salomo- (1 Kön 3−11*) und Königserzählungen (1 Kön 12−2 Kön 23*). Diese wuchsen bis zum Ende des Königreiches Juda aus den aufgezählten Einzelblöcken zu dem Großzusammenhang SamKön zusammen. Ϝ Aus den prophetischen Büchern: Der Grundbestand der Bücher Amos, Hosea und Jesaja. Diese wurden im späten 7. Jh. v. Chr. von Spruchsammlungen aus assyrischer Zeit zu literarisch durchgestalteten Büchern fortentwickelt (→ Kap. 5.4). Zu diesen in den vorigen Abschnitten ausführlich dargestellten Literaturwerken kommen noch Weisheitssprüche bzw. Spruchsammlungen und Psalmen bzw. Psalmensammlungen sowie eventuell Texte aus dem Richterbuch und der Grundbestand des Propheten
Die Texte aus der Königszeit (ca. 900 –587 v. Chr.)
Micha. Insofern ist das literarisch-theologische Ergebnis der Zeit vom 9. Jh. bis zum 7. Jh. v. Chr. beachtlich, vor allem wenn man berücksichtigt, dass die literarische Produktion Israels und Judas mit der frühen Königszeit geradezu bei Null anfing (zumindest in schriftlicher Form). Dabei erwies sich die assyrische Zeit (ab Mitte des 8. Jhs. v. Chr.) als besonders produktive Phase. Der Anschluss an die internationale Welt unter assyrischer Dominanz gab auch Israel und Juda sowohl die Mittel als auch die Anlässe, sich als Kultur zu artikulieren. Der Gesamtrahmen war dabei das altorientalische Weltsystem, in dem die beiden Königreiche aber durchaus eine eigenständige Stimme formulierten. Dabei ist allerdings immer zu berücksichtigen, dass diese Literatur nur die Ausdrucksform und das Ausdrucksmittel einer sehr kleinen Bevölkerungsschicht war: Angehörige von Hof und Tempel, Grundbesitzer und andere einf lussreiche Gruppen. Auch wenn sich die Basis jener, die lesen und schreiben konnten, bis zum Ende des 7. Jhs. v. Chr. signifikant verbreiterte, müssen wir uns doch dessen bewusst sein, dass die breite Masse der Bevölkerung weder an der Produktion noch an der Rezeption der entstehenden Literatur Anteil hatte. Das bedeutet indes nicht, dass die frühalttestamentlichen Texte eine abgehobene Oberschichtsliteratur sind, die sich nicht um die Belange der einfachen Bevölkerung kümmert. Im Gegenteil: Im altorientalischen Denken funktionierte eine Gesellschaft nur dann, wenn gerade die Schwächsten − die sprichwörtlichen Witwen und Waisen − vor dem Zugriff Reicher und Mächtiger geschützt waren und menschenwürdig leben konnten. Massive Ungerechtigkeit gegenüber den Armen und Schwachen galt als Einfallstor für das Chaos und also in höchstem Maße gefährlich. Gleichwohl hat das einfache Volk in der alttestamentlichen Literatur keine eigene Stimme, lediglich Vertreter, die mit dem Interesse an einem funktionierenden Königreich auch die Interessen seiner Menschen mitvertreten. Als entscheidendes Datum für die literarische Entstehung des Alten Testaments erweist sich das Jahr 720 v. Chr., also die Eroberung Samarias durch die Assyrer und das damit verbundene Ende des Königreiches Israel. Dieses Datum hat eine gewisse Künstlichkeit, insofern die „assyrische Krise“ schon früher einsetzte und auch die Reaktionen auf die Eroberung Samarias sich länger hinzogen. Trotzdem war es in dieser Zeit, in der sich die assyrische Großmacht von einer (durchaus bewunderten und nachgeahmten) Leitkultur in eine Besatzungsmacht verwandelte, deren
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9.–7. Jh. v. Chr.: typisch altorientalische Literatur
ab 720 v. Chr.: Entstehen einer typisch biblischen Literatur
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vielfältige Ansätze
Literarhistorische Vertiefung
Präsenz geradezu tödlich sein konnte. Es kann nicht oft genug betont werden, dass die Problematik der assyrischen Präsenz in Israel und Juda nicht darin lag, dass es sich um eine „fremde“ Macht und deren Götter handelte. Als Problem wurden zunächst die unmittelbaren Kriegsfolgen empfunden, dazu die drückende Tributlast, vor allem aber die Tatsache, dass der Gott Assur, dessen Existenz und Macht nicht in Zweifel standen, sich als stärker erwiesen hatte als JHWH. Erst in der Auseinandersetzung mit dieser Situation begann „Israel“, d. h. die Überlebenden der assyrischen Eroberung, eine religiöse und ethnische Identität zu entwickeln, die sich gegenüber den Besatzern und ihren Göttern abgrenzte. Diese Leistung ist außerordentlich für den Alten Orient, insofern bei einem Ereignis dieser Art die kulturellen Äußerungen eines Volkes bzw. eines Königreiches üblicherweise entweder abbrachen oder mehr oder weniger vollständig in der Kultur der Besatzer aufgingen. Israel und Juda entwickelten nach 720 v. Chr. ein Widerstandspotential, das sie trotz weiterer Eroberungen und Besatzungen lebensfähig machte. Ein Grund dafür mag in der eigenartigen historisch-politischen Konstellation liegen, dass zwei kulturell, sprachlich und religiös engstens verwandte Gruppen sich politisch in zwei unterschiedliche Königreiche ausdifferenzierten, die nacheinander unter assyrischen Druck kamen. So erwies sich der Untergang Israels als Chance für Juda, die Geschichte zu ref lektieren und aus ihr zu lernen. Die überlebenden Israeliten trugen teils als Flüchtlinge in Juda, teils im Heimatland mit ihren eigenen Traditionsbildungen dazu bei. Für die Theologie ganz besonders entscheidend war der Sachverhalt, dass JHWH sowohl der Gott Israels als auch der Gott Judas war. Seine Niederlage in Samaria musste daher nicht das Ende dieses Gottes bedeuten. Vielmehr wurden theologische Denkfiguren entwickelt, die deutlich machten, dass Katastrophen und Krisen auf ein schuldhaftes Versagen gegenüber Gott zurückzuführen sind, nicht aber eine Schwächung Gottes zur Folge hatten. Besonders im Jesajabuch und in der Erstfassung des Königsbuches wird ausgeführt, dass JHWH sich der fremden Völker und ihrer Götter bedient und sie als Werkzeuge benutzt, wenn Israel ihm das Vertrauen entzieht. Insgesamt ist die Verarbeitung der assyrischen Zeit im Alten Testament überraschend vielfältig: Israel und Juda entwickelten ihre Identität in einem mehrstimmigen Konzert. Die assyrische und spätvorexilische Zeit legten dabei sozusagen die Grundoptionen fest, die sich untereinander beeinf lussen, aber noch keinen
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Die Texte aus der Exilszeit
Konsens formulieren. Im Überblick lassen sie sich etwa folgendermaßen darstellen: Abb. 4.2.2
Anklage von König und Volk: Mangelndes Vertrauen zu JHWH führt in den Untergang (Kön; Am; Hos; Jes)
Ursprungslegenden (Implizite Kritik am Königtum): Beziehung JHWH/Israel ist unverlierbar und unabhängig von der politischen Situation (Gen)
Assyrische Präsenz in Israel und Juda
Grundoptionen der israelitisch/judäischen Identität (vgl. auch K. Schmid, Literaturgeschichte, 76 f.)
Hoffnung auf/Behauptung von idealem Königtum in Juda: JHWH bleibt seinem Volk und seinem König treu (Pss; Spr; David-Ülg.)
Anti-Assyrische Konzeption: Israels Loyalität kann allein nur JHWH gelten; Besatzungsmacht ist JHWHs Feind (Ex)
Diese vier Grundoptionen sind in den nachfolgenden historischen und Literaturepochen weiter ausdifferenziert worden und bilden die Grundlage des Alten Testaments.
Die Texte aus der Exilszeit
4.3
J. Jeremias, Der Zorn Gottes im Alten Testament. Das biblische Israel zwischen Erwählung und Verwerfung, Neukirchen-Vluyn 2009 (BThSt 104), 30–120. L. Perlitt, Anklage und Freispruch Gottes. Theologische Motive in der Zeit des Exils, in: Ders., Deuteronomium-Studien, Tübingen 1994 (FAT 8), 20–31. J. Rüsen, Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln/Weimar/Wien 2001.
Die kulturelle Matrix der Exilszeit Die Zeit von der Eroberung Jerusalems bis zur Thronbesteigung des Kyros (587−539 v. Chr.; zur Problematik der Epochenbezeichnung → Kap. 3.4) bedeutete für Samaria und Juda bzw. für das Volk Israel einen tiefen Einschnitt. Dabei war weniger der Übergang von den Assyrern zu den Babyloniern das Problem, denn das kul-
4.3.1 entscheidende Übergangsepoche
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das Weltbild wird brüchig
Literarhistorische Vertiefung
turelle Paradigma änderte sich nur geringfügig. Weitaus schwieriger zu handhaben war der Verlust sämtlicher staatstragender Institutionen auch in Juda. Die bis dahin niemals dagewesene Erfahrung der Eroberung und Plünderung Jerusalems und der Deportation seiner Bewohnerschaft bildete das grundlegende Trauma Judas. Noch immer galt das altorientalische Weltbild als kulturelles Paradigma, an dem sich sämtliche Denk- und Glaubensfiguren ausrichteten. Die Situation hatte sich aber signifikant verändert: „Die Staaten des Alten Orients waren in starkem Maße auf den an ihrer Spitze stehenden König ausgerichtet. Der König war nicht nur Monarch in dem Sinne, dass alle Staatsgewalt letztlich von ihm ausging, er war auch oberster Kultherr und Verbindungsperson zu Gott bzw. zu den Göttern. So war der König selbstverständlich oberster Richter und als solcher erließ er die Gesetze. Die Fähigkeit dazu aber war ihm von Gott … übertragen worden. Auch die Fruchtbarkeit des Landes, wie überhaupt den Segen in allen Erscheinungsformen bewirkte der König als Mittler zwischen Gott und Menschen (Ps 72). Ohne König konnte ein Volk eigentlich nicht existieren (Klgl 4,20). War es dennoch dazu gezwungen, wie die Judäer nach dem Fall Jerusalems im Jahre 587, musste es ganz neue Wege gehen, seine nationale Verfasstheit zu begründen.“ (W. Oswald, Staatstheorie, 73)
vier Lösungsmöglichkeiten
Obwohl bereits in assyrischer Zeit Ansätze entwickelt worden waren, eine solche Situation religiös und politisch zu bewältigen, stellte die babylonische Zeit Israel noch einmal vor neue Herausforderungen. Die Bewältigung der religiösen und politischen Krise war grundsätzlich auf vier verschiedene Weisen möglich: Ϝ Assimilation: Es war der nächstliegende Weg sowohl für das Mutterland als auch für die Deportierten, die Niederlage (JHWHs) einzugestehen und sich der babylonisch akzentuierten Kultur anzupassen. Wir müssen davon ausgehen, dass dieser Weg von der Mehrzahl der Bevölkerung sowohl im Mutterland als auch in der babylonischen Gōlā eingeschlagen wurde. Er hat in den alttestamentlichen Texten nur wenig Spuren hinterlassen, ist aber durch außerbiblische Quellen, vor allem durch Bildwerke, belegbar. Dabei muss berücksichtigt werden, dass dies nicht einfach ein „Aufgeben“ bedeutete: Die Akzeptanz einer Niederlage und die Einsicht, dass Marduk stärker war als JHWH, war das Ergebnis eines Ref lexionsprozesses. Ϝ Klage: Die erste (textliche) Ausdrucksform als Reaktion auf eine Krise stellt die Frage nach dem „Warum“ dar. In unserem
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Die Texte aus der Exilszeit
Fall richtet sie sich an JHWH selbst und schildert in bewegenden Worten die verzweifelte Lage. Sie erwartet dabei die Antwort von Gott selbst. Dies geschieht in Formen des Gebets. Die klagende Notschilderung erwartet von Gott, dass er den unhaltbaren Zustand irgendwie rückgängig macht. Sie kann aber auch in wilde Anklagen Gottes münden, die ihn selbst für die Lage verantwortlich machen. Im Alten Testament hat sich dieser Umgang mit der Katastrophe im Buch der Klagelieder niedergeschlagen, in Ps 60; 74; 79; 80 („Klagelieder des Volkes“) und in Texten im Buch des Propheten Jeremia (Jer 4−10*). Die textlichen Formen dieser Klagen haben Vorbilder, die bis weit in die Bronzezeit zurückgehen. Ϝ Hoffnung: Die Erfahrung, dass schon das assyrische Reich untergegangen war, gab Grund zu der Hoffnung, dass auch die babylonische Besatzung bzw. die Gōlā nicht endgültig sein würden. Allem Anschein nach verband sich der Hoffnungsaspekt in den exilischen Texten des Alten Testaments vor allem mit der Rückkehr der Davidsdynastie (2 Sam 7,17−29; Jes 11,1−5) bzw. mit der Rückkehr der Deportierten (Ez 36,11−14). Ϝ Reflexion der Schuld: Den weitaus größten Teil der Ref lexion der Exilskatastrophe bildet das Eingeständnis der Schuld: Israel gibt zu, auf die eine oder andere Weise gegenüber JHWH versagt zu haben. Die Katastrophe erscheint somit als verdiente Strafe JHWHs an Israel (in theologischer Diktion: „Gericht“). Mit diesen Erklärungsmustern wurde vor allem die religiöse „Lücke“ im Weltbild gefüllt: Gottes Gerechtigkeit bleibt erhalten, denn er hat Sünden und Fehler heimgesucht. Auch dieses Erklärungsmuster hat altorientalische Vorbilder, „gleichwohl ist die Schärfe der Vorstellung des göttlichen Gerichts gegen das eigene Volk im antiken Israel ohne wirkliche Parallele im Alten Orient.“ (K. Schmid, Literaturgeschichte, 111). Vor allem die Geschichtsbücher des Alten Testaments widmen sich dieser reflektierenden Bewältigung der Katastrophe, entwickeln aber gleichzeitig charakteristische Perspektiven für Gegenwart und Zukunft. Auf der anderen Seite hatte die eigentümliche Deportationspraxis der Babylonier dafür gesorgt, dass die Führungsschichten eben nicht beseitigt, sondern in Babylonien waren. Sie hatten zwar überlebt, und ihre familiären Grundstrukturen blieben erhalten, aber sie waren funktionslos geworden − sie bewohnten gewissermaßen die Leerstelle, ohne sie ausfüllen zu können.
deportiert, aber nicht vernichtet
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Weiterentwicklung älterer Ansätze
Literarhistorische Vertiefung
Priesterschaft und ehemalige Angehörige des Königshofes entwickelten in dieser Situation neue Selbstbilder. In den meisten (Klein-)Königtümern des Alten Orients führte eine solche Situation zum Erlöschen der eigenständigen Kultur und Religion. In Juda/Israel geschah das nicht. Der Befund hängt mit der vorangehenden Epoche zusammen und lässt sich folgendermaßen formulieren: „Von entscheidender Bedeutung für den Umstand, dass mit der Katastrophe Judas und Jerusalems nicht auch die Religion Judas unterging – was für vergleichbare Fälle das altorientalische Standardprozedere gewesen wäre – dürften die geistesgeschichtlichen Entwicklungen im 7. Jh. v. Chr. gewesen sein. Die in dieser Zeit entstandenen Texte und Schriften hatten sich zu nicht geringem Anteil mit der Erfahrung des Scheiterns des Nordreichs auseinanderzusetzen und begannen von daher, Visionen „Israels“ zu entwickeln, die nicht von Staatlichkeit und politischer Souveränität her determiniert … waren. Die Denkfigur, Israel als Volk Gottes – und nicht als durch sein Land determiniertes Volk – zu konzipieren, stand wahrscheinlich seit mindestens einem Jahrhundert zur Verfügung.“ (K. Schmid, Literaturgeschichte, 111).
neue Akzente in der Literatur
Kritik an den Königen aus dem Haus Davids
eine neue Heimat Gottes
Tatsächlich sind daher viele der exilszeitlichen Texte Weiterentwicklungen von Grundoptionen, die bereits aus der vorigen Epoche datieren. Trotzdem mussten neue Akzente gesetzt werden. Im Bereich der historischen Aufarbeitung des Königtums konnten Juda und das davidische Königtum nun nicht mehr als die eigentlichen „Sieger“ dargestellt werden. Vielmehr musste auch das Scheitern Judas erklärt werden. Dies geschah vor allem durch Einschaltungen von Ref lexionstexten in den bereits bestehenden Zusammenhang Samuel-Könige (1 Sam 8; 2 Kön 17; 2 Kön 22,12−20). 2 Kön 25 endet jedoch mit einem Ausblick auf das Schicksal des deportierten Königs Jojachin (→ Kap. 3.4.2), so dass der geschichtliche Rückblick auf die Königszeit mit der Hoffnung endet, die Daviddynastie könne weiter bestehen oder von vorne anfangen. Im Bereich der Psalmdichtung musste ein neues theologisches Begründungsmodell gefunden werden. Bislang war die Überzeugung, dass JHWH in seinem Tempel auf dem Zion (= Jerusalem) wohnt und von dort aus mit Unterstützung des Königs herrscht, die Grundlage religiösen Denkens und Dichtens gewesen (→ Kap. 5.5.2). Für die (priesterlichen) Theologen ergab sich die Notwendigkeit, JHWH gewissermaßen eine „neue Heimat“ zu geben.
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Die Texte aus der Exilszeit
Mit der Zerstörung des Tempels waren nicht nur die Jerusalemer Priester „arbeitslos“ und durch die Deportation auch heimatlos geworden. Viel drängender war das religiöse Problem, dass der Kultbetrieb nun nicht mehr stattfinden konnte. Unter den Bedingungen eines funktionierenden Staates bildete der Kult mit Opfern und Festen den Bereich, an dem die Menschen mit Gott in Verbindung treten konnten. Opfer, Rituale, Feste und Gebete waren die Hauptmittel dieser Kommunikation. Für diese war ein begründeter Ersatz zu schaffen− zumindest so lange, bis ein regulärer Kultbetrieb in Jerusalem wieder möglich sein konnte. Das bedeutete, entweder andere Heiligtümer aufzuwerten oder eine religiöse Praxis auch außerhalb des Tempelkultes zu begründen. Die im Mutterland Verbliebenen waren durch die Deportation des Königshauses zu einem Volk ohne Anführer geworden. Sie mussten daher nicht nur konkret eine Organisationsform finden, die ihre Gesellschaft unterhalb der Ansprüche der babylonischen Besatzungsmacht funktionsfähig machte und zusammenhielt, sondern sie mussten diese Organisationsform auch theologisch begründen: Es musste eine Gesellschaftsform gefunden werden, die als genauso „gottgewollt“ erklärbar war wie das Königtum. Die Literaturproduktion der exilischen Zeit bewegte sich zwischen den Polen Klage − Hoffnung − Schuld; das Assimilationskonzept ist biblisch nicht erhalten. Die literarische Bewältigung der Exilskatastrophe geschah dabei teilweise durch Fortschreibung und redaktionelle Neubearbeitung älterer Entwürfe, teils aber auch durch die Abfassung neuer Texte. Dabei muss prinzipiell zwischen Literaturwerken aus dem Mutterland und solchen aus der Gōlā unterschieden werden. Sie zeigen deutliche Differenzen, obwohl man von einem Austausch der beiden Gruppen ausgehen darf. Es ist außerdem zu berücksichtigen, dass „Mutterland“ nicht allein Juda meint. Ob es nun die Provinzgestaltung der Babylonier oder der Eindruck der Situation einer gesamtbabylonischen Herrschaft über Samaria und Juda war (→ Kap. 3.4.1): Die Bevölkerung des ehemaligen Israel und Juda wuchs zu einer gewissen Einheit zusammen, wobei in einigen Verfasserkreisen die Nachkommen ehemaliger Israeliten die Führungsrolle übernahmen. Die folgende Darstellung bezieht sich wie schon im vorigen Kapitel lediglich auf Hauptlinien.
eine Neubegründung religiöser Praxis
eine neue Organisation des Volkes
Literatur zur Katastrophenreflexion
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Literarhistorische Vertiefung
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Klgl 2. Wie wird die Situation in Juda und Jerusalem kurz nach der babylonischen Eroberung in dem Text konkret geschildert? Welches Bild JHWHs wird in dem Text entworfen? Was erwartet die betende Person von Gott? 4.3.2
Die Erweiterung der „Väter“-Geschichte (Gen 12–50) E. Blum, Die Komposition der Vätergeschichte, Neukirchen-Vluyn 1984 (WMANT 57). D. M. Carr, Reading the Fractures of Genesis. Historical and Literary Approaches, Louisville 1996. F. Crüsemann, Abraham und die Bewohner des Landes. Beobachtungen zum kanonischen Abrahambild, in: Ders., Kanon und Sozialgeschichte. Beiträge zum Alten Testament, Gütersloh 2003, 66–79. M. Köckert, Vätergott und Väterverheißungen. Eine Auseinandersetzung mit Albrecht Alt und seinen Erben, Göttingen 1988 (FRLANT 142). M. Köckert, Die Geschichte der Abrahamüberlieferung, in: A. Lemaire u. a. (Hg.), Congress Volume Leuven 2004, Leuven 2006 (VT.S 109), 103–127. K. Schmid, Literaturgeschichte, 124–126. H. Spieckermann, „Ein Vater vieler Völker“. Die Verheißungen an Abraham im Alten Testament, in: R. G. Kratz/T. Nagel (Hg.), „Abraham, unser Vater“. Die gemeinsamen Wurzeln von Judentum, Christentum und Islam, Göttingen 2003, 8–21.
Abraham als Vater Israels
Die Grundfassung der Geschichte von Israels Urahnen stammt aus der Zeit nach 720 v. Chr. und hatte ihren Schwerpunkt und ihr Ziel in Jakob/Israel. Es handelte sich dabei um eine Ursprungslegende, die die Identität des Volkes Israel vor und jenseits des Königtums festlegte. Ihr wurde in exilischer Zeit der größte Teil der Geschichten von Abraham vorangestellt, und zwar in einer Form, in der die Abrahamsgeschichte einen zusammenhängenden Sinn ergibt.
Abraham und die Verheißungen an die ErzväterDie (als Einzeltexte möglicherweise älteren) Erzählungen von der Geburt Ismaels (Gen 16*; 21*) sowie vom Ursprung der Ammoniter und Moabiter (Gen 19,30–38), von Isaak als Sohn Abrahams (Gen 18* 21*) und der Verwandtschaft zwischen Abraham, Rebekka und Jakobs Schwiegervater Laban (Gen 24; 29,1–13*) wurden so zusammengebunden, dass die Völkerschaften und (ehemaligen) Kleinkönigtümer Syrien-Palästinas nun eine große Familie bilden, die sich von Abraham herleitet. Sie gliedert sich in eine Hauptlinie – die direkten Nachkommen Abrahams – und mehrere Nebenlinien. So entsteht ein Bild von Israel, das in Gemengelage mit vielen anderen Völkern im Land lebt, aber mit allen diesen irgendwie verwandt ist. Israel selbst, d. h. die Nachkommen der Linie Abraham/Isaak/Jakob, ist durch die direkte Herkunft von Abraham und eine besondere Beziehung zu JHWH aus
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Die Texte aus der Exilszeit
dieser Großfamilie besonders hervorgehoben und dadurch ausgezeichnet. Dem korrespondiert Abrahams eigentümliche Heimatlosigkeit, mit der er das Land durchzieht. Die ursprünglich in der Gegend um Hebron beheimatete AbrahamÜberlieferung wurde derart auf das ganze Land ausgedehnt und Abraham so zu einer gesamtpalästinischen Identifikationsfigur. Den theologischen und erzählerischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Stationen der Abrahams-, Isaaks- und Jakobsgeschichte stiften die sog. „Verheißungen“ – feierliche Versprechen JHWHs, der jeder einzelnen Generation Nachkommen, Land und Beistand zusagt. Sie sind an keine Bedingung gebunden, sondern erweisen jeweils immer neu die Treue JHWHs zu seinem Wort. Auch sie hatten möglicherweise eine ältere Vorgeschichte, wurden aber jetzt zu einem System mehr oder weniger gleich lautender (Gen 12,1–3; 13,14–17; 28,13–15; 46,2– 4) Texte vereinigt, deren zentraler Text am Anfang steht und an Abraham ergeht: Gen 12,1 Und JHWH sprach zu Abram (…): 2 Ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. 3 Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.
In diesem Text werden zentrale Elemente der Funktion des Königs auf Abraham übertragen, so dass dieser – und seine Nachkommen – nun die Segensmittlerschaft übernehmen können.
Mit dem Vorbau der Abrahamsgeschichte wurde die Vätergeschichte in exilischer Zeit in ihren Grundzügen abgeschlossen; weitere Nacharbeiten daran bezogen sich auf kompositorische Zusammenhänge und den redaktionellen Eintrag einzelner Texte. Die Träger dieses Textkomplexes sind im Mutterland zu suchen und zielten auf eine friedliche Koexistenz mit den vielen Nachbarn bei gleichzeitiger Wahrung der eigenen Identität. Dass sie sich über die Existenz fremder Völker (mit Ausnahme von Gen 12,10−20) völlig ausschweigen, könnte darauf hinweisen, dass man durchaus auch zu einem Ausgleich mit der Besatzungsmacht tendierte. Die Sinai-Erzählung (Ex 19–24*) E. Blum, Studien zur Komposition des Pentateuch, Berlin/New York 1990 (BZAW 189), 45– 207. W. Oswald, Staatstheorie, 86–95.
Im Pentateuch folgt auf den Auszug aus Ägypten und die Rettung am Schilfmeer die Geschichte von Israels Aufenthalt am Sinai. Diese sog. „Sinaiperikope“ reicht von Ex 19 bis Num 10 und ist damit der umfangreichste Abschnitt im Pentateuch (58 Kapi-
Gen 12–36 abgeschlossen
4.3.3
192
Literarhistorische Vertiefung
tel). Erzählt wird hier im Grunde genommen wenig. Die meisten Texte sind Anweisungen (Gesetze), die Mose von Gott erhält und an das Volk weitergibt. Die Sinai-PerikopeUnabhängig von der Frage nach Herkunft und Entstehung der Einzeltexte hat die Sinaiperikope folgenden Aufbau: Ex 19
Gottes Erscheinen auf dem Sinai
Ex 20,1–21
Die Zehn Gebote
Ex 20,22–23,19
Das Bundesbuch (Gesetzessammlung)
Ex 24
Der Bundesschluss
Ex 25–31
Anweisungen zum Bau des Zeltheiligtums („Stiftshütte“)
Ex 32–34
Bundesbruch und Bundeserneuerung („Das Goldene Kalb“)
Ex 35–40
Bau und Einweihung des Zeltheiligtums
Lev 1–7
Anweisungen für die Darbringung von Opfern
Lev 8–10
Die Weihe Aarons und seiner Söhne; die ersten Kultfeiern
Lev 11–16
Reinheits- und Kultvorschriften
Lev 17–26
Das Heiligkeitsgesetz (Gesetzessammlung)
Num 1,1–10,10
Volkszählung, Lagerordnung, verschiedene Anweisungen
Die Sinaiperikope enthält überwiegend Texte aus der Priesterschrift (→ Kap. 4.3.5) und aus dem Umfeld deuteronomistischen Denkens (→ Kap. 4.3.4), dazu eine Menge nachgetragener Texte aus persischer Zeit. Die genaue Analyse der Texte ist äußerst kontrovers. Vor allem im Bereich von Ex 19–34 ist eine methodisch nachvollziehbare Scheidung der Texte und Teiltexte nach verschiedenen Herkunftsbereichen nur sehr schwierig durchzuführen. Der vorliegende Text mit seinen Spannungen und Widersprüchen ist offenkundig ein Kompromiss, der nur in dieser Form möglich war (E. Blum, Esra, die Mosetora und die persische Politik, in: Ders., Textgestalt und Komposition. Exegetische Beiträge zu Tora und Vordere Propheten, hg. von Wolfgang Oswald, Tübingen 2010 (FAT 69), 177–205). Es lässt sich aber mit guten Gründen annehmen, dass die Sinaiperikope vorexilische Textteile enthält. Das gilt vor allem für das sog. „Bundesbuch“ Ex 20,22– 23,19*, dessen Grundbestand zwischen Hiskia und Josia anzusetzen ist (→ Kap. 5.3). Auch Teile der Vorschriften in Lev 1–7; 11–15 sind noch dem Ersten Tempel zuzuordnen. Der größte Teil der Sinaiperikope ist jedoch erst in exilischer und nachexilischer Zeit formuliert worden. Die exilszeitliche Grundfassung der Sinaigeschichte umfasst Ex 19,2–3.10– 11a.14–19a*; 20,1–3.5.7.12–19.21–22.24–26; 21,1–23,19; 24,3. Sie ist von vornherein als Fortsetzung der Exodus-Geschichte konzipiert (W. Oswald, Staatstheorie, 88–90).
Die Texte aus der Exilszeit
Die exilszeitliche Sinai-Geschichte setzt die Geschichte von Mose und dem Exodus fort und gibt ihr einen neuen (zweiten) Höhepunkt. Zog das Volk Israel in der früheren Fassung nach der Rettung am Schilfmeer direkt ins Gelobte Land weiter (G. Kratz, Komposition, 289−295), so wird dieser Weg nun in der Wüste angehalten. Am Gottesberg − der Name Sinai entstammt späterer Tradition − kommt es zu einer direkten Erscheinung JHWHs vor dem Volk und zur Mitteilung des Gotteswillens in der Form der Zehn Gebote und des Bundesbuchs. Die Gebote und Gesetze werden von Mose dem Volk vorgetragen, und dieses verpflichtet sich, sie einzuhalten (Ex 24,3). Diese zweite Begegnung Israels mit JHWH nach der Rettung am Schilfmeer ist wesentlich indirekter als die erste. Das Volk wird nur von ferne und nach sorgfältiger Vorbereitung Zeuge der Erscheinung JHWHs auf dem Berg. Dabei bekommt es JHWH gar nicht wirklich zu sehen und zu hören. JHWH verbirgt sich gewissermaßen in Erdbeben und Gewitter. Eine solche Theophanie (griech. „Erscheinen Gottes“) entspricht altorientalischen und antiken Konventionen. Der Anblick Gottes gilt als etwas, das ein (Normal-)Sterblicher nicht ertragen kann. Bei Theophanien ist immer ein gewisser Abstand zwischen Gott und Mensch eingehalten. Deswegen kommen in der Regel nur besonders ausgezeichnete (oder ausgebildete) Personen zu diesem Privileg. In der Sinaigeschichte ist es Mose. In Ex 19−24* wird die Theophanie durch die Mitteilung der Gebote ergänzt und fortgesetzt. Theophanie und Gebotsmitteilung durchdringen sich gegenseitig, sie bilden einen doppelten Höhepunkt der Erzählung. Die Fortsetzung der Erscheinung Gottes durch die Worte der Gebote verändert das Erscheinen Gottes. Es findet nun nicht mehr nur in einer Ausnahmesituation statt wie bei der Rettung am Meer, sondern bildet den Einstieg zu einer Gestaltung des Alltags. Gleichzeitig bekommen die Gebote durch die Theophanie ihre größtmögliche Legitimierung. Diese charakteristische Verbindung zwischen Theophanie und Gesetz trägt dem Verlust des Königtums Rechnung. Unter den Bedingungen der Staatlichkeit gab Gott dem König die Fähigkeit und die Pf licht, Gesetze zu erlassen und ihre Durchführung einzuhalten. Die Sinaigeschichte überträgt dieses königliche Privileg auf Mose, den nicht-königlichen König, und auf das Volk als eine Art Kontrollorgan. So bekommen die Gesetze eine neue Autorität, die in der Lage ist, königliche Gesetzgebung zu ersetzen. Diese neue Begründung machte es möglich, das Gesetzbuch
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Fortsetzung der ExodusGeschichte
Theophanie: Die Erscheinung JHWHs
Ersatz für das Königtum: Gesetz aus Gottes Willen
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„Verfassung“ einer Provinz
Kultgemeinschaft ohne Tempel
Literarhistorische Vertiefung
der späten Königszeit, das Bundesbuch, in aktualisierter Fassung weiterzuverwenden. Es erhält allerdings in den Zehn Geboten (Ex 20* noch ohne Bilderverbot und ohne Begründung des Sabbatgebotes) eine vorangestellte Zusammenfassung, die mehr ist als nur Gesetz: göttliche Handlungsanweisung für alle Lebenslagen (→ Kap. 5.3). In der exilszeitlichen Sinaierzählung zieht Mose eine neue Rolle an sich: Er wird vom militärischen Anführer des Volkes zu dessen Gesetzgeber (und Richter: Ex 18). So wird die Leerstelle des Königs durch die legendäre Figur des Mose ausgefüllt, der seinem Volk Gesetz, Recht und Ordnung gibt. Dieses Bild eines nicht-königlichen Königs sowie Inhalt und Struktur der Gesetzesvorschriften machen es wahrscheinlich, dass die Sinaigeschichte im Umfeld des Statthalters Gedalja entstand, der Juda bis 582 v. Chr. verwaltete (→ Kap. 3.4.1). Trotz ihres grandiosen Auftakts in der Exodusgeschichte hat die Sinaigeschichte als deren Fortsetzung einen stark pragmatischen Zug. Die Exodus-Erinnerung wird jetzt weniger mit ihrem Widerstandspotential rezipiert als mit ihrem Ermutigungs- und Hoffnungsaspekt. Die Sinaigeschichte widmet sich auch der Frage, wie ein Kult möglich sein kann, wenn es kein königlich organisiertes Zentralheiligtum mehr gibt. Es gilt: „Die kultischen Bestimmungen des Bundesbuches sind von großer Einfachheit. Das Altargesetz (Ex 20,24–26) führt einen äußerst sparsamen Kult ein, der kein Gotteshaus und keine Priester kennt, sondern nur Erd- und Feuerstein-Altäre. Angesprochen ist zudem jeder Israelit, was voraussetzt, dass jeder Israelit auch Opfer darbringen kann. (…) Die Einfachheit ist … programmatische Absetzung vom königlichen Großkult. Notwendig wird ein solches Programm, wenn der traditionelle Kult seine Funktion nicht mehr erfüllt. (…) Da Juda nun seines Zentrums beraubt ist, erlaubt das Altargesetz die Einrichtung von kleinen, dezentralen Kulten je nach Bedarf.“ (W. Oswald, Staatstheorie, 91).
In der politischen und rechtlichen Organisation setzt daher die Sinaigeschichte weiterhin auf einen einzigen, göttlich legitimierten Anführer des Volkes, der zwar nicht der Herkunft, aber der Funktion nach die Rolle des Königs ausfüllt. In der kultischen Betätigung findet eine gewisse „Demokratisierung“ statt. Die Möglichkeit, in Opfern und Feiern den Kontakt mit Gott herzustellen, wird nun jedem zugestanden, der sich dazu in der Lage sieht. Das betrifft Priester, die nach 597 v. Chr. im Land geblieben waren, aber auch Familienväter und Ortsvorsteher. Diese hatten immer schon in beschränktem Umfang priesterliche Funktionen
Die Texte aus der Exilszeit
ausgeübt, diese Kompetenz rückte jetzt in den Vordergrund. Die relative Gefahr dieser religiös-kultischen Dezentralisierung und Ent-Professionalisierung lag darin, dass auf diesem Weg religiöse Sitten und Gebräuche nicht-israelitischer Herkunft übernommen werden konnten und dass dafür kein Kontrollorgan zur Verfügung stand. Die religiös-kultische Atmosphäre der Sinaigeschichte zeigt Berührungspunkte mit der exilischen Vätergeschichte. Dort wird berichtet, wie Abraham und Jakob überall im Land Altäre bauen, um dort JHWHs und seiner Verheißungen zu gedenken (Ex 13; 28; 32). So spiegeln beide Textgruppen dieselbe Situation. Inwieweit die Träger der Väter- und der Sinaigeschichte miteinander in Kontakt standen, können wir nicht wissen. Die Vätergeschichte widersetzt sich auf jeden Fall der Vorstellung eines quasiköniglichen Anführers und bevorzugt die Autorität einzelner Sippen- und Familienführer über ihre eigenen Leute. Bei allen religiös-kultischen Affinitäten gibt es also politisch-sozial einen Gegensatz zwischen Gen 12−36 und Ex 19−24. Die theologische und gesellschaftsgestaltende Kraft der (Exodus-)Sinaigeschichte liegt darin, dass sie als einer der ersten Texte im Alten Orient politische Organisation, Recht, Kult und ethisches Handeln aus allen nationalen und staatlichen Bindungen löst und allein dem Willen Gottes unterstellt, ohne dass ein königlicher oder priesterlicher Mittler zwischen Gott und Volk tritt. Diese konsequente Theonomie (Bestimmung durch ein göttliches Gesetz) aller gesellschaftlichen Bereiche ist ein weitgehender Bruch mit altorientalischen Konventionen. Von hier an beginnt sich die typisch biblische Literatur herauszubilden, die sich zu ihren Nachbarkulturen in einen gewissen Gegensatz stellt.
195
Sinaigeschichte und Vätergeschichte
Aufbruch zur biblischen Literatur
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Beschreiben Sie die Begleitumstände der Theophanie in Ex 19. 2. Lesen Sie die Gesetzesvorschriften des Bundesbuches und merken Sie sich, welche Sachverhalte dort juristisch geregelt werden.
3. Erklären Sie, warum es so wichtig ist, dass Israel in Mose zwar einen Anführer und Gesetzgeber hat; dieser aber kein König ist.
196
Literarhistorische Vertiefung
4.3.4
Das Deuteronomium G. Braulik, Das Buch Deuteronomium, in: E. Zenger (Hg.), Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 72008, 146–155. F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 32005. R. G. Kratz, Komposition, 118–138. E. Otto, Treueid und Gesetz. Die Ursprünge des Deuteronomiums in Horizont neuassyrischen Vertragsrechts, in: ZAR 2 (1996), 1–52. E. Otto, Das Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsreform in Israel und Assyrien, Berlin/New York 1999 (BZAW 284). E. Reuter, Kultzentralisation – Entstehung und Theologie von Deuteronomium 12, Weinheim 1993 (BBB 87). U. Rüterswörden, Art. Deuteronomium, in: www.wibilex.de. U. Rüterswörden, Von der politischen Gemeinschaft zur Gemeinde. Studien zu Dt 16,18–18,22, Bonn 1987 (BBB 65). K. Schmid, Literaturgeschichte, 104–108. J. C. Gertz, Die Gerichtsorganisation Israels im deuteronomischen Gesetz, Göttingen 1994 (FRLANT 165).
Unter den Bedingungen der babylonischen Herrschaft war die Frage der Organisation Israels ein dringend zu lösendes Problem. Historisch muss man annehmen, dass sich die Israeliten wie in vorköniglicher Zeit als eine Art differenzierter Stämmegesellschaft formierten. Anders als in der frühen Eisenzeit aber wurde vom 6. Jh. an diese Organisationsform reflektiert und theologisch begründet, außerdem wurden ihre Gesetze und Normen festgelegt. Die Grundlage dafür bildet das Buch Deuteronomium (5. Buch Mose). Das DeuteronomiumDas Deuteronomium ist literarisch gesehen eine lange Rede, in der Israel teils in „Du“-, teils in „Ihr“-Anrede seine Gesetze vorgelegt bekommt, zum Halten dieser Gesetze und zur Liebe zu JHWH ermahnt wird. Im jetzigen Zusammenhang ist Mose der Sprecher dieser Rede. Er hält sie an seinem Todestag, kurz vor dem Eintritt Israels aus der Wüste nach Kanaan. Das jetzige Dtn schließt also den Erzählzusammenhang Gen-Num ab und bildet die Überleitung zu Jos-Kön. Dieser Zusammenhang ist nicht ursprünglich. Wahrscheinlich war das Dtn ursprünglich als Rede JHWHs an Israel konzipiert und hatte keine erzählende Einbettung. Die Endfassung des Dtn hat jetzt folgenden Aufbau: Dtn 1–4
Rückblick auf die Ereignisse seit dem Aufbruch Israels vom Sinai
Dtn 5–11
Legitimierung des Gesetzes, Mahnung zur Einhaltung
Dtn 12–26
Das deuteronomische Gesetz
Dtn 27–28
Segen und Fluch
Dtn 29–33 Abschluss
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Die Texte aus der Exilszeit
Der ursprüngliche Kern dieses Buches ist in der Gesetzessammlung Dtn 12–26 zu suchen. Dazu kommt der paränetische (= mahnende) Rahmen in Dtn (5) 6,4– 5; 27–28; d. h. die Erstfassung des Dtn eröffnet mit dem programmatischen Satz: Dtn 6, 4 Höre, Israel! JHWH, unser Gott, Jahwe ist einzig. 5 Darum sollst du JHWH, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.
Diese geforderte Liebe zu JHWH wird dann in einer Reihe von Gesetzen und Vorschriften (Dtn 12–26*) erläutert und mit der Ankündigung von Segen (bei Einhaltung) oder Fluch (bei Nichteinhaltung) abgeschlossen. Die Textform des Deuteronomiums ist eine Nachahmung altorientalischer Staatsverträge (alttestamentlich „Bund“), bei denen der Vasallenstatus eines Volkes festgelegt wurde. In diesen Verträgen wurde niedergelegt, dass von nun an der Gott des Siegers als Überlegener und der Gott des Verlierers als Unterlegener Vertragspartner waren. Der Siegergott legte die neuen Verhaltensnormen fest und verpflichtete den unterlegenen Gott zur unbedingten Loyalität. Der Vertrag wurde stellvertretend für die beteiligten Götter von den jeweiligen Königen geschlossen. Diese unbedingte Loyalität wird in den orientalischen Verträgen und im Dtn mit dem Begriff „Liebe“ bezeichnet. Verträge dieser Art hatten den Rang von Verfassungen und legten die staatliche, gesellschaftliche und religiöse Organisation fest. Die Abhängigkeit des Dtn von den orientalischen Vertragstexten ist unbestritten. Da diese Verträge jedoch besonders unter den Assyrern gepflegt wurden, wird von vielen Forschern ein Ursprung des Dtn noch vor der exilischen Zeit angenommen (Schmid, Braulik, Kaiser). Der Inhalt des methodisch erreichbaren frühesten Dtn spricht aber eher für die exilische Zeit (Kratz, Komposition, 135– 138). Da auch die Babylonier ihre Vasallitätsverhältnisse auf dem gleichen Weg regelten, lässt sich eine exilszeitliche Datierung halten; möglicherweise kann man von einer spätvorexilischen Vorgeschichte ausgehen.
Im Deuteronomium schließt Israel mit JHWH einen Vertrag, der Israel zu unbedingter Loyalität gegenüber JHWH und keinem anderen verpf lichtet. Jede einzelne Handlung und die gesamte Organisation Israels ist Ausdruck dieser Loyalität, die als „Liebe“ bezeichnet wird. Dtn 6,4−5 ist daher zum Grundbekenntnis Israels geworden und hat im heutigen Judentum dieselbe Funktion wie das Glaubensbekenntnis im Christentum. Indem JHWH und sonst keiner der vertragsschließende Herr ist, der exklusiv mit Israel seine Partnerschaft eingeht, trägt das Deuteronomium von Anfang an eine gegen jede Fremdmacht gerichtete, d. h. anti-assyrische und antibabylonische Tendenz. Die Nachahmung der orientalischen Vertragstexte durch das Deuteronomium ist also keine Anpassung an den Besatzungsstatus, sondern das genaue Gegenteil davon. Das Hauptinteresse des Deuteronomiums liegt darin, eine Einheit Israels herzustellen. Dieses Ziel ist einmal natürlich nach
Liebe als Gebot
Einheit im Glauben
198
Literarhistorische Vertiefung
innen gerichtet und soll eine gemeinsame Gesellschaft hervorbringen. Die Einheitsforderung richtet sich aber auch nach außen und soll „anderen“, d. h. wohl vor allem Anhängern oder Befürwortern babylonischer Tendenzen in Juda/Israel, den Einfluss verwehren. Die Einheitsforderung und die ZentralisationsgeboteDie Einheitsforderung erhält zunächst einmal religiösen Ausdruck. Die Formulierung des „Höre Israel“ (Dtn 6,4–5, häufig auch nach seinem hebräischen Wortlaut „Sˇema Jisrael“ benannt) hält fest, dass alles, was „Israel“ ist, nur einen Gott verehrt, nämlich JHWH. Außerdem präzisiert Dtn 6,4b, dass dieser JHWH nur „ein“ JHWH ist. Das bedeutet nicht, dass es bis dahin „viele“ JHWHs gegeben hätte, sondern dass sich an den unterschiedlichen Heiligtümern die Gottesvorstellung und demzufolge die kultische Betätigung unterschied: War in Jerusalem bis zur Tempelzerstörung JHWH als der thronende Königsgott vorgestellt, so konkurrierten in Bet-El die Verehrung JHWHs als des Gottes des Exodus und des Gottes, der sich Jakob offenbart hatte, miteinander. Auch Sichem hatte seine eigene Heiligtumstradition. Die Forderung von Dtn 6,4b will Israel auf eine gemeinsame Gottesvorstellung festlegen und damit Zersplitterung und Aufnahme „fremder“ Traditionen unmöglich machen. Dabei bleibt die konkrete Füllung dieser Vorstellung offen. Sie erhält aber sichtbaren Ausdruck im sich anschließenden Komplex der Vorschriften von Dtn 12,2–16,17 (sog. „Zentralisationsgesetze“). In ihnen wird gefordert, alle kultische Betätigung – Opfer (Dtn 12*), Zehntabgabe (Dtn 14*), Erstgeburtsabgabe (Dtn 15*) und Feste (Dtn 16*) – nur an einem einzigen Ort durchzuführen, nämlich „an der Stätte, die der HERR erwählt in einem deiner Stämme“ (Dtn 12,7 u. ö.). Welche Stätte damit konkret gemeint ist, wird nicht gesagt. In Frage kämen die großen überregionalen Heiligtümer in Sichem, Bet-El und Jerusalem – wobei unklar ist, ob der Tempel von Jerusalem noch in einem Zustand war, der kultische Betätigung ermöglichte. An die Zentralisationsgesetze schließt sich ein kleiner Block an, den man als „Verfassungsentwurf“ oder „Ämtergesetzgebung“ bezeichnet (Dtn 16,18–18,22). Er regelt die Kompetenzen von Richtern und Rechtspflegern (Dtn 16*), dem König (Dtn 17*) und Propheten (Dtn 18*). Sie alle werden darauf festgelegt, allein die Vorschriften des Deuteronomiums zu erfüllen und schwierige Fragen gemeinsam am zentralen Kultort zu entscheiden. Die Regeln für den König sehen vor, dass er vom Volk erwählt wird und keine Entscheidungen trifft, die nicht durch das Deuteronomium abgesichert sind, vor allem aber, dass er seine Staatsführung nicht auf Kosten seiner „Brüder“ durchführt. Diese Regelungen könnten sich – falls sie überhaupt zum Grundbestand gehören – auf Ansprüche im Land verbliebener Davididen oder den von den Babyloniern eingesetzten Gedalja (→ Kap. 3.4.1) beziehen oder auf eine Zukunft hin entworfen sein, in der Israel wieder einen König haben würde. Bei der Vorschrift über den Propheten werden vor allem alle induktiven prophetischen/mantischen Techniken verboten: Zeichenschau, Totenbefragung, „Hellsehen“ u. Ä. Als legitimer Prophet ist nur zugelassen, wer sich auf glaubwürdige (Wort-)Offenbarungen JHWHs
199
Die Texte aus der Exilszeit
berufen kann (→ Kap. 5.4). Somit werden im Ämtergesetz sämtliche Führungsfunktionen, die vorher vom König ausgingen, auf das Volk übertragen. Damit ist noch keine echte „Demokratie“ gegeben – zu der es in Israel nie gekommen ist –, sondern königliche Aufgaben wurden „demokratisiert“ oder umgekehrt: Das Volk stieg (ähnlich wie Abraham in Gen 12,1–3) in eine königliche Rolle auf. Dtn 19–25* enthalten Straf- und Zivilgesetzgebung verschiedenen Inhalts. Der Block stellt eine Aktualisierung des älteren „Bundesbuches“ (Ex 20–22) dar und passt es an die Normen des Deuteronomiums und seiner Einheitsforderung an. Dabei fällt besonders ein starkes soziales Interesse auf. In der Durchführung einzelner Vorschriften ist immer darauf zu achten, dass die besonders Schwachen geschützt und ihre Interessen wahrgenommen werden: Dtn 24,17 Du sollst das Recht von Fremden, die Waisen sind, nicht beugen; du sollst das Kleid einer Witwe nicht als Pfand nehmen. 19 Wenn du dein Feld aberntest und eine Garbe auf dem Feld vergisst, sollst du nicht umkehren, um sie zu holen. Sie soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören, damit JHWH, dein Gott, dich bei jeder Arbeit deiner Hände segnet. 20 Wenn du einen Ölbaum abgeklopft hast, sollst du nicht auch noch die Zweige absuchen. Was noch hängt, soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören. 21 Wenn du in deinem Weinberg die Trauben geerntet hast, sollst du keine Nachlese halten. Sie soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören.
Entscheidend für die Gestaltung des Sozialwesens in der Zeit des Zweiten Tempels auf der deuteronomischen Grundlage war aber, dass die kleinräumigen und oft funktionsuntüchtigen Familienstrukturen der vorexilischen und exilischen Zeit in eine größere Einheit überführt wurden. Israel wird im Deuteronomium zur Gemeinde von Brüdern (und Schwestern), die von Gottes Liebe getragen wird. So gestaltet sich eine neu profilierte „Großfamilie“, die die Schwachen schützt. Auch hier wird ein ursprünglich königliches Privileg auf alle übertragen.
Die Theologie und Aussage des Deuteronomiums lässt sich somit auf die griffige Kurzformel „einer für alle − alle für einen“ bringen. In religiöser, verfassungsmäßiger, juristischer und sozialer Hinsicht besteht eine unauflösliche Einheit zwischen dem einen JHWH und seinem einen Volk. Die Herkunft dieser Einheit und das Verhältnis des einen JHWH zu den anderen Göttern blieben in dieser Fassung des Deuteronomiums noch offene Fragen, sie wurden erst in späteren Redaktionen nachgetragen. Innerhalb des altorientalischen Denkens stellte das Deuteronomium ein absolutes Novum dar:
einer für alle – alle für einen
eine neue Mitte
200
Literarhistorische Vertiefung
„Ersetzt wird die natürliche durch eine künstliche Mitte, an die Stelle des Staatskults tritt der kultische Anspruch der Gottheit selbst, der eine Zentralisation verlangt, aber die sozialen und rechtlichen Bedürfnisse der Ortschaften nicht ignoriert.“ (R. G. Kratz, Komposition, 137)
Vorbereitung des Monotheismus
Deuteronomium und Vätergeschichte
Mit dieser Konzeption wurden die Komponenten des altorientalischen Weltbildes in der Tat neu zusammengesetzt. Nicht nur im Hinblick auf die Verfassung und Rechtsprechung, sondern auch im Blick auf die Religion Israels und die Deutung der Geschichte ist das Deuteronomium im Alten Testament wegweisend geworden. Hinsichtlich der Religion war mit der Forderung der Alleinverehrung JHWHs und der Kultzentralisation ein wichtiger Schritt zum Monotheismus unternommen. Die Existenz und die Wirksamkeit anderer Götter wurden zwar (noch) nicht geleugnet, im Gegenteil: Israel wird darauf verpflichtet, sich von den anderen Göttern unbedingt fernzuhalten, um JHWHs Anspruch nicht zu verletzen. Dass aber dieser und nur dieser Eine Anspruch auf Israel hat und die Macht, Israel im Land zu lassen oder daraus zu vertreiben, zeichnet schon die Hauptkonturen des späteren Ein-Gott-Glaubens vor. Das Deuteronomium ist − wie die weiter oben skizzierte Vätergeschichte − ein Produkt des Mutterlandes in exilischer Zeit. Nur hier waren durch das Fehlen von König, Tempel und Priestern die Voraussetzungen für eine solche Verfassung gegeben. Mit der Vätergeschichte ergibt sich insofern eine Schnittmenge, als alle diejenigen, die sich historisch auf Abraham und Israel zurückführen, jene Brüder und Schwestern sind, denen im Deuteronomium die Regeln ihres Handelns und Zusammenlebens gegeben werden. Sie können sich demzufolge als diejenigen verstehen, die das Land erben und bewohnen, das JHWH den Vätern versprochen hat. An einer anderen Stelle zeigt sich jedoch eine wichtige Diskrepanz zwischen Vätergeschichte und Deuteronomium: In den Vätertexten ist die Begegnung mit JHWH an jedem Ort möglich, und die Väter Abraham, Isaak und Jakob werden sogar als Gründer von Heiligtümern gezeichnet (Gen 13; 16; 21; 28; 32). Dies will das Deuteronomium gerade ausschließen.
Das „deuteronomistische Geschichtswerk“In anderen Büchern des Alten Testaments – vor allem in solchen, die eine vorexilische Vorgeschichte haben – finden sich Passagen, die stark dem Geist und den Formulierungen des Deuteronomiums entsprechen. Solche Passagen und
Die Texte aus der Exilszeit
Formulierungen, die mit dem Deuteronomium verwandt sind, werden als „deuteronomistisch“ (dtr) bezeichnet. Sie fordern die Alleinverehrung JHWHs, die Kultzentralisation (so in Jos–2 Kön) und die Einhaltung bestimmter ethischer Standards (Am, Mi). Der Alttestamentler Martin Noth (1902–1968) beobachtete in Jos–2 Kön einen literarischen Zusammenhang der Sprache, des Stils und der Thematik, der erheblich vom Deuteronomium beeinflusst sei. Aus dieser Beobachtung entwickelte er die Hypothese des „Deuteronomistischen Geschichtswerks“ aus Dtn + Jos–2 Kön. Seiner Ansicht nach sei dieses Werk in exilischer Zeit verfasst worden, um eine Antwort auf die Frage nach der Katastrophe zu geben: Israel hat in jeder Epoche an den Normen des Deuteronomiums (das Noth noch für spätvorexilisch hielt), versagt. Diese Konzeption des Deuteronomistischen Geschichtswerks wurde nahezu allgemein akzeptiert. Doch über viele Einzelfragen halten die Diskussionen an. Erstens sind die „dtr.“ Normen noch einmal in sich differenziert, so dass man auch mit einer nachexilischen Geschichte dtr. Denkens rechnen muss. Zweitens finden sich auch außerhalb von Jos–2 Kön dtr. Formulierungen (in Ex, Prophetenbüchern, Psalmen). So wird die Existenz eines geschlossenen und in sich abgrenzbaren „Deuteronomistischen Geschichtswerks“ inzwischen in Frage gestellt und mehr damit gerechnet, dass das vom Deuteronomium beeinflusste Denken sich auch in anderen Büchern ausdrückt. Dabei sind die Konturen und Entstehungsbedingungen „dtr.“ Texte in Ex–2 Kön in der Forschung sehr umstritten; dagegen besteht Einigkeit darüber, dass die Prophetenbücher Am, Hos, Mi, Zeph sowie Jeremia einer einheitlichen dtr. Redaktion unterzogen wurden.
Das Deuteronomium gehört zu den bedeutendsten Büchern des Alten Testaments: Auf die eine oder andere Weise nehmen die meisten anderen Bücher darauf Bezug oder sind direkt in deuteronomistischem Geist bearbeitet worden. C. Frevel, Deuteronomistisches Geschichtswerk oder Geschichtswerke? Die These Martin Noths zwischen Tetrateuch, Hexateuch und Enneateuch, in: U. Rüterswörden (Hg.), Martin Noth – aus der Sicht der heutigen Forschung, Neukirchen-Vluyn 2004 (BThSt 58), 60– 95. C. Frevel, Wovon reden die Deuteronomisten? Anmerkungen zu religionsgeschichtlichem Gehalt, Fiktionalität und literarischen Funktionen deuteronomistischer Kultnotizen, in: M. Witte u. a. (Hg.), Die deuteronomistischen Geschichtswerke. Redaktions- und religionsgeschichtliche Perspektiven zur „Deuteronomismus“-Diskussion in Tora und Vorderen Propheten, Berlin/New York 2006 (BZAW 365), 249–277. R. G. Kratz, Komposition, 219–225. N. Lohfink, Gab es eine deuteronomistische Bewegung?, in: Ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur III, Stuttgart 1995 (SBAB 20), 65–142. M. Noth, Überlieferungsgeschichtliche Studien. Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im Alten Testament, Tübingen 31967. S. Paganini, Art. Deuteronomistisches Geschichtswerk, in: www.wibilex.de. T. Römer, Entstehungsphasen des „deuteronomistischen Geschichtswerkes“, in: M. Witte (Hg.), Geschichtswerke, 45–69.
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202
Literarhistorische Vertiefung
A. Schart, Die Entstehung des Zwölfprophetenbuchs. Neubearbeitungen von Amos im Rahmen schriftenübergreifender Redaktionsprozesse, Berlin/New York 1998 (BZAW 260), 156–233. E. Zenger, Einleitung, 177 f.188–202.
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lernen Sie Dtn 6,4−5 auswendig. 2. Lesen Sie Dtn 12,13−28. Auf welche Handlungen wird die Zentralisationsforderung hier angewandt? Welche Sonderregelungen sind vorgesehen? Welche Personen sind in die Vorschriften mit einbezogen?
3. Lesen Sie 2 Kön 22−23. Was an der Erzählung spricht dafür, dass das Buch, von dem dort die Rede ist, das Deuteronomium ist?
4. Lesen Sie Am 8,4−7. Inwiefern könnte man hier von einem Einf luss „dtr.“ Denkens sprechen?
Literatur im Mutterland
ein Volk ohne Königtum
4.3.5
Die Vätergeschichte und das Deuteronomium waren die wichtigsten literarisch-theologischen Reaktionen auf die babylonische Eroberung im Mutterland. Dazu kommen das Buch der Klagelieder, eine frühe Fassung des Buches Jeremia und „deuteronomistisch“ beeinf lusste Fortschreibungen und Redaktionen der Bücher Jos, Ri, Sam−2 Kön sowie prophetischer Bücher. Auch das Buch Jesaja ist zumindest punktuell fortgeschrieben worden; eine exilische Abfassungszeit im Mutterland wird außerdem für die Josephsgeschichte (Gen 37−50*) erwogen (vgl. dazu K. Schmid, Literaturgeschichte, 114−127). Alle diese Texte sind überwiegend das Werk von „Laientheologen“, soll heißen von Menschen, die zwar über Bildung verfügten, aber keine priesterlichen Spezialkenntnisse hatten. Auch zum (ehemaligen) Königtum und seinen Eliten stehen sie eher in einer gewissen Distanz. Das Ergebnis ist im Ganzen eine Übertragung des Königtums und seiner Aufgaben auf ein nicht-königliches Israel, das sich neu im Land konstituierte. Die wechselseitigen Einf lüsse der einzelnen Texte aufeinander wie auch die jeweiligen Abgrenzungen voneinander zeigen eine lebhafte Diskussion um die Optionen auf Deutung der Geschichte und Gestaltung von Gegenwart und Zukunft im Mutterland. Die Priesterschrift E. Blum, Studien zur Komposition des Pentateuch, 219–332. E. Blum, Die Komposition der Vätergeschichte, 471–475.
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Die Texte aus der Exilszeit
K. Elliger, Sinn und Ursprung der priesterschriftlichen Geschichtserzählung, in: Ders., Kleine Schriften zum Alten Testament, München 1966 (TB 32), 174–188. C. Frevel, Kein Ende in Sicht? Zur Priestergrundschrift im Buch Levitikus, in: H.-J. Fabry/H.-W. Jüngling (Hg.), Levitikus als Buch, Berlin/Bodenheim b. Mainz 1999 (BBB 119), 85–123. C. Frevel, Mit Blick auf das Land die Schöpfung erinnern. Zum Ende der Priestergrundschrift, Freiburg (Breisgau) u. a. 2000 (HBS 23). J. C. Gertz, Grundinformation, 230–239. K. Grünwaldt, Exil und Identität. Beschneidung, Passa und Sabbat in der Priesterschrift, Frankfurt/Main 1992 (BBB 85). C. Körting, Art. Sabbat (AT), in: www.wibilex.de. R. G. Kratz, Komposition, 226–248. T. Pola, Die ursprüngliche Priesterschrift. Beobachtungen zur Literarkritik und Traditionsgeschichte von Pg, Neukirchen-Vluyn 1995 (WMANT 70). H. Pfeiffer, Art. Gottesnamen/Gottesbezeichnungen (AT), in: www.wibilex.de. A. de Pury, Gottesname, Gottesbezeichnung und Gottesbegriff. Elohim als Indiz zur Entstehungsgeschichte des Pentateuch, in: J. C. Gertz u. a. (Hg.), Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion, Berlin/New York 2002 (BZAW 315), 25–47. K. Schmid, Literaturgeschichte, 146–150. P. Weimar, Art. Priesterschrift, in: www.wibilex.de. K. W. Weyde, Art. Passa, in: www.wibilex.de. I. Willi-Plein, Opfer und Kult im alttestamentlichen Israel. Textbefragungen und Zwischenergebnisse, Stuttgart 1993 (SBS 153). E. Zenger, Einleitung, 159–175. U. Zimmermann, Art. Beschneidung (AT), in: www.wibilex.de.
Auch die babylonische Gōlā hatte ihre Literaturproduktion. Aufgrund der sozialen Zusammensetzung ihrer Verfasserschaft (→ Kap. 3.4.2) ist diese Literatur inhaltlich und formal anders orientiert als die Literatur des Mutterlandes, aber auch sie befasst sich mit Organisationsfragen und geschichtlichen Themen sowie mit der Frage nach dem Gesetz. Kennzeichnend für die Gōlā-Literatur im Ganzen ist eine starke Orientierung an priesterlichem Wissen und an der Frage nach einer „Heimat“ − für die Deportierten und für JHWH. Unter den Deportierten und dem Mutterland fand ein Austausch statt, und zwar offensichtlich auch ein Austausch von Texten, so dass beide Gruppen wechselseitig über den Stand der (theologischen und praktischen) Literaturbildung informiert waren und darauf reagieren konnten. Die sog. „Priesterschrift“ ist durch ihre Rezeption in nachalttestamentlicher Zeit zum prominentesten der Literaturwerke aus der babylonischen Gōlā geworden. Sie stellt ein ganz eigenständiges Geschichtswerk dar, das ein Gesamtbild der Frühgeschichte Israels entwirft.
Literatur in der Go¯la¯
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Literarhistorische Vertiefung
Die PriesterschriftAls „Priesterschrift“ (in der Exegese meist nur „P“) bezeichnet man eine bestimmte Schicht von Texten innerhalb der Bücher Gen-Num, die sich anhand ihrer Sprache und ihres Inhaltes leicht von anderen Texten abgrenzen lässt. Sie ist außerdem erkennbar von der Auseinandersetzung mit der babylonischen Kultur und der Exilssituation geprägt, so dass ihr Ursprung in der babylonischen Go¯la¯ nach wie vor unumstritten ist (anders aber Schmid). Der Umfang der Priesterschrift ist ebenfalls (weitestgehend) unumstritten, so dass sie bei allen sonstigen Kontroversen in der alttestamentlichen Wissenschaft einen gewissen theoretischen Fixpunkt darstellt. Seit den Studien von Karl Elliger (Sinn und Ursprung, 174–188) wird die Priesterschrift in Gen-Lev folgendermaßen abgegrenzt: Genesis: 1,1–2,4a; 5,1–28.30–32; 6,9–22; 7,6.11.13–16a.17a.18–21.24; 8,1.2a.3b– 5.13a.14–19; 9,1–17.28–29; 10,1–4a.5*–7.20.22–23.31–32; 11,10–27.31–32; 12,4b.5; 13,6.11–12*; 16,1.3.15–16; 17,1–27; 19,29; 21,1b–5; 23,1–20; 25,7–11a.12–17.19–20.26b; 26,34–35; 27,46–28,9; 31,18*; 33,18a; 36,6a.9–13.15.22b–29; 36,1–14; 37,1–2; 41,46a; 46,6–7; 47,27b.28; 48,3–6; 49,1a.28b–33; 50,12–13. Exodus: 1,1–5.7.13–14; 2,23–25; 6,2–12; 7,1–13.19.20–22*; 8,1–3.11–15*; 9,8–12; 12,1.3– 14.28.40–41; 14,1–4.8a.10*.15–18.21*.22–23.26–29*; 15,27; 16,1–3.6–7.9–13a.14*. 16–20*.22–26.31a.35b; 17,1*; 19,1.2a; 24,15b–18a; 25,1–27,9; 28,1–41; 29,1–37.42b–46; 31,18; 35,1a.4b–10.20–29; 40,17.33b.34. Leviticus: Das Buch Lev enthält überwiegend priesterschriftliches Textmaterial, das sich aber womöglich auf unterschiedliche Stufen priesterschriftlicher Theologie zurückführen lässt. Numeri: Das Buch Numeri enthält vor allem am Anfang Texte, die höchstwahrscheinlich priesterschriftlicher Herkunft sind. Indes ist die Entstehungsgeschichte des Buches Numeri außerordentlich unklar, ebenso wie die Frage, wo die Priesterschrift ihr ursprüngliches Ende hatte. Damit ist deutlich, dass die Priesterschrift eine Geschichte Israels erzählt, die mit der Schöpfung der Welt anfängt, ihren Höhepunkt in der Offenbarung JHWHs am Sinai hat und (eventuell) mit der Stiftung des ersten Gottesdienstes Israels (Lev 9) ihr Ende findet (so Zenger). Es gibt aber auch eine Reihe von Forschern, die (mit guten Gründen) das Ende der Priesterschrift schon im Buch Exodus finden (so Pola; Otto; Kratz). Jenseits von Ex – und auch in manchen Texten in Gen-Ex – findet sich dann aus priesterlichen Kreisen stammendes Textmaterial, das gesondert zu untersuchen ist. Die genauen Konturen können hier offen gelassen werden. Die solcherart abgegrenzte Priesterschrift enthält dann folgende Abschnitte (das Kürzel „P“ hinter einem Textbereich bezeichnet den priesterschriftlichen Anteil des Abschnitts): – Urgeschichte: Schöpfung und Sintflut (Gen 1–11P) – Vätergeschichte: Abraham, Isaak und Jakob (Gen 12–50P) – Exodusgeschichte: Mose, Aaron und der Auszug aus Ägypten (Ex 1–14P) – Sinaigeschichte: JHWH und Israel am Sinai (Ex 19P bis Ende) Deutlich ist dabei, dass die Priesterschrift grundsätzlich zwei Arten von Texten enthält, nämlich
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Die Texte aus der Exilszeit
a) erzählende Texte (Gen 1–2; 6–9P; 17; 23; Ex 1–14P) und b) listenartiges und Aufzählungsmaterial, das in Gen und Ex 1 vor allem als Listen dargeboten wird, in Ex 25–Lev überwiegend in die Form von Anweisungen gekleidet wird. In der Zusammenfügung geben diese sehr unterschiedlichen Textsorten aber einen zusammenhängenden und glatten Text. Lässt sich in der Genesis das priesterschriftliche Material ohne seinen Zusammenhang mit den nicht-priesterschriftlichen Texten lesen und verstehen, so scheint die Priesterschrift im Bereich der Mose-Exodus-Geschichte einen bereits vorhandenen Erzählzusammenhang durch Ein- und Fortschreibungen neu zu akzentuieren. Ob das Letztere auch für den Bereich ab Ex 19 gilt, hängt davon ab, ob man mit einer vor-priesterschriftlichen Sinaigeschichte rechnet oder nicht (s. dazu Schmid, Kratz, Blum). Außerdem wird diskutiert, ob im Bereich der Vätergeschichte die Priesterschrift das nicht-priesterschriftliche Textmaterial durch eigene Einschreibungen ergänzt – wie sie es im Bereich der Mose-ExodusGeschichte tut – oder ob sie eine Konkurrenzversion zur oben abgegrenzten Vätergeschichte verfasst. Auch diese äußerst komplexen Fragen sollen hier nicht beantwortet werden. Insgesamt ist festzustellen, dass das Phänomen „Priesterschrift“ zwar im Großen und Ganzen unbestritten ist, ihr Verhältnis zum nichtpriesterschriftlichen Text und zu ihren eigenen Ergänzungen aber weiterhin diskutiert werden muss.
Die Abfolge der alttestamentlichen Erzählungen von Genesis bis Leviticus/Numeri, wie wir sie heute kennen (Schöpfung, Sintf lut, Abraham/Isaak/Jakob, Israel in Ägypten, Mose, Sinai), geht also erst auf die Priesterschrift zurück. Dieser ist es gelungen, mehrere Entwürfe der Gründungsgeschichte Israels miteinander zu verbinden, obwohl sie eigentlich in Konkurrenz zueinander stehen: die Geschichte von den „Vätern“ und die Mose-Exodus-Geschichte, eventuell die Darstellung von der Offenbarung am Sinai. Die Verbindung dieser beiden Überlieferungen gelingt der Priesterschrift dadurch, dass sie sie in ein ganz eigenes Konzept der Geschichte Israels mit seinem Gott einordnet und ihnen dadurch neue Akzente gibt. Dieses neue Konzept besteht zunächst darin, dass die Priesterschrift weder in den Vätern noch in Mose und dem Exodus den absoluten Anfang der Geschichte (Israels) sieht, sondern in Übereinstimmung mit altorientalischen Konzeptionen den Anfang der Geschichte in der Schöpfung findet. Erst nach der Gründung der Welt durch die Schöpfung und nach der Sintf lut (Gen 1−11P) geht aus den Nachkommen Noahs die Familie Abrahams hervor. Sie hat ihre erste Geschichte mit Gott und kommt nach Ägypten. Auch Mose und sein Bruder Aaron sind Nachkommen der Linie
P als Grundlage des Pentateuch
Anfang in der Schöpfung
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Israels Sonderstellung in der Welt
Literarhistorische Vertiefung
Abraham − Isaak − Jakob, sie setzen deren Geschichte fort und erleben die Konfrontation mit und die Befreiung aus Ägypten. Der Höhepunkt (und eventuell der Schluss) ist die Offenbarung JHWHs am Sinai: Dort gibt er sich dem ganzen Volk Israel zu erkennen und stiftet ewige Gemeinschaft durch den Entwurf und den Bau des „Zeltes der Begegnung“ (Luther: „Stiftshütte“), eines Vor-Bilds des Tempels. Das heißt, der grundlegende Rahmen des priesterschriftlichen Geschichtsentwurfs ist ganz traditionell gedacht − sogar traditioneller als die Väter- und die Mose-ExodusGeschichte: Die Welt entsteht, weil Gott sie bei der Schöpfung aus dem Chaos heraus geschaffen und den Menschen darin ihren Platz angewiesen hat, und die Welt kann bestehen bleiben, weil Gott in seinem Heiligtum einen Ort hat, an dem Menschen mit ihm in Kontakt treten können. Diese enge Anlehnung an gemeinorientalisches Denken verdankt sich der Herkunft der Priesterschrift, deren Verfasser sich im Austausch mit der babylonischen Welt befanden und ihre priesterlich akzentuierte Version dieses Denkens ausdrückten. Israel hat innerhalb der Weltgeschichte eine besondere Beziehung zu Gott und demzufolge auch eine besondere Rolle: Abraham wird als Träger der Verheißung aus allen von Gott geschaffenen Völkern erwählt, mit ihm schließt Gott einen exklusiven Bund (→ Kap. 4.3.4). Der Exodusgeneration und dem ägyptischen Pharao erscheint Gott dann als der, der − um Israels willen − über alle Mächte und Gewalten herrscht. Und nur Israel schließlich ist in der Lage, diesem Gott angemessen zu begegnen.
Die Offenbarungstheologie der PriesterschriftDiese Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Israel und damit Israels besondere Rolle in der Welt verwirklicht die Priesterschrift durch eine Geschichte der Offenbarung, die ein ganz eigenes und neues Konzept darstellt: Im Zusammenhang der Urgeschichte wird Gott einfach als „Elohim“ (Gott) bezeichnet. Hier verwendet P die allgemeinste aller Gottesbezeichnungen und verzichtet auf eine Identifikation. In den zentralen Texten der priesterschriftlichen Vätergeschichte (Gen 17P; 35P) erscheint Gott unter der Bezeichnung „El ˇSaddaj“. Diese Gottesbezeichnung wurde in exilisch-nachexilischer Zeit in Israel und Juda populär, der hebräische Bedeutungsgehalt ist unklar. Die griechische Texttradition – und davon abhängig die deutschen Bibelübersetzungen – geben den Begriff mit „der Allmächtige“ wieder. Unabhängig von der tatsächlichen Bedeutung will P mit der Verwendung von „El Sˇaddaj“ für Gott in der Vätergeschichte eine besondere Facette Gottes ausdrücken, die nur Abraham, Isaak und Jakob erkennbar ist. Erst dem Mose aber gibt sich Gott/El Sˇaddaj als JHWH zu erkennen (Ex 6,2–3), und von da an wird auch in P ausschließlich der Gottesname JHWH verwendet.
Die Texte aus der Exilszeit
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Was in der Leserichtung eine Geschichte der fortschreitenden Offenbarung ist, ergibt in der Interpretation den umgekehrten Weg: Von Ex 6 an wird deutlich, dass JHWH und nur JHWH eben Gott ist – der Schöpfer, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und der Gott, der aus Ägypten befreit. Damit wird in theologischer Perspektive die besondere Beziehung JHWHs zu Israel aus einer bestimmten Ursprungstradition herausgelöst und universalisiert. Ob sich in dieser Theologie des Gottesnamens bereits ein vollständiger Monotheismus ausdrückt, ist allerdings umstritten. Die Tendenz ist jedoch vorhanden.
Die Priesterschrift greift also in die Diskussion um die Ursprünge und die Identität Israels ein, die sich auch in den anderen entstehenden Literaturwerken ausdrückt. Von der (exilischen) Vätergeschichte übernimmt sie die Überzeugung, dass der Anfang Israels und seiner Gottesbeziehung in Abraham zu suchen ist. Allerdings wird ihm nicht die volle Offenbarung JHWHs zuteil, sondern die Vätergeschichte ist nur eine Art „Vorspiel“. Mit der Mose-ExodusGeschichte teilt die Priesterschrift die Ansicht, dass erst hier die Geschichte JHWHs mit Israel beginnt und dass die Konfrontation mit dem Pharao die erste Gelegenheit ist, bei der JHWH seine ganze Macht zeigt. Mose aber kommt nicht aus dem Nichts, sondern wird durch eine komplizierte Stammbaumkonstruktion (Genealogie) in die Abstammungsgeschichte Israels von Abraham her eingeordnet − das entwertet zum Teil seine Geburts- und Rettungsgeschichte (→ Kap. 4.2.4). Außerdem bekommt Mose in seinem Bruder Aaron einen gleichberechtigten Helfer zur Seite (Ex 6). Aaron wird in der Priesterschrift zum Stammvater aller Priester JHWHs, d. h. die Geschichte vom Auszug aus Ägypten begründet nicht nur eine politische Verfassung, die sich von Mose herleitet, sondern die Rolle der Priester als Vermittler zwischen Gott und Israel ist mit dem Auszug aus Ägypten mitgesetzt. Die bisher von keinem Textentwurf berücksichtigten Priester schreiben sich hier als politische Gruppe in die Geschichte Israels ein. Die Priesterschrift bezieht sich auf das Deuteronomium. Dies geschieht auf doppelte Weise. Ϝ Zum einen übernimmt die Priesterschrift die Idee vom exklusiven Vertrag zwischen Gott und Mensch, die ja der literarischen und theologischen Logik des Deuteronomiums ihre Grundlage gibt (→ Kap. 4.3.4). Dieser Vertrag oder „Bund“ hat jedoch eine Vorgeschichte, die der gestuften Offenbarung entspricht: Gott hat bereits mit der ganzen Schöpfung einen Bund geschlossen (Gen 9P), dann mit Abraham (Gen 17P) und schließlich mit Israel beim Bau des Begegnungszeltes (Ex 29,44−46P). Die Vorstel-
ein priesterliches Bild der Identität Israels
Priesterschrift und Deuteronomium
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Literarhistorische Vertiefung
lung eines exklusiven Vertrages zwischen JHWH und Israel wird also teils entschärft, insofern es einen Vertrag Gottes mit der ganzen Menschheit gibt. Sie wird aber vor allem aus der Zuspitzung auf das Gesetz und die Verfassung herausgelöst, die das Deuteronomium prägt. Der Bund JHWHs mit Israel besteht in einer dauerhaften Bindung aneinander, die sich vor allem in Kult und Gottesdienst zeigt. Ϝ Zum anderen bezieht die Priesterschrift eindeutig Stellung in der Frage nach dem zentralen Heiligtum. Das Deuteronomium lässt dessen Identifikation offen (→ Kap. 4.3.4). Die Priesterschrift dagegen optiert eindeutig für Jerusalem. Für sie ist das Heiligtum das einzig mögliche, an dem sich JHWH endgültig und dauerhaft niederlässt. In Bet-El − Jerusalems exilischem Konkurrenzheiligtum − ist das nicht möglich, weil Gott hier nur als El Šaddaj kurzfristig erschienen ist (Gen 35P). Das „Zelt der Begegnung“ hingegen, das in Ex 25−40P errichtet und (eventuell) in Lev 8−9 feierlich eingeweiht wird, ist nach dem Vorbild des Jerusalemer Tempels gestaltet. Nur Jerusalem kann also (künftig) der Ort der Begegnung Israels und JHWHs sein. Damit wird auch gleichzeitig die Legitimation des Jerusalemer Tempels von den davidischen Königen her abgelehnt: JHWH selbst hat diesen Ort bereits lange vor David ausgewählt und durch Mose und Aaron in Betrieb nehmen lassen. Gottesbegegnung ohne Tempel
Damit muss die Priesterschrift aber das Problem reflektieren, dass es diesen Tempel, von dem Israel seine Identität gewinnt, nicht mehr (oder noch nicht wieder) gibt. Eine Begegnung Israels mit Gott und eine Vergegenwärtigung des Bundes müssen also (auch) auf anderem Weg möglich sein. Dieses Problem löst die Priesterschrift durch die theologische Aufwertung dreier Rituale: der Beschneidung, des Sabbats und des Passa.
Beschneidung, Sabbat, PassaDie Beschneidung von Männern – also die operative Entfernung der Vorhaut – wird von vielen Völkern und Kulturen praktiziert. Die Gründe dafür sind unklar; es könnte sich um einen Hochzeits- oder Pubertätsritus ebenso handeln wie um ein Unterscheidungsmerkmal oder (wie Tätowierungen) um eine ästhetischkosmetische Maßnahme. Die heute gern angeführten hygienisch-medizinischen Gründe sind vermutlich neuzeitliche Rationalisierungen. Beschneidung von Männern kann in jedem Alter stattfinden, sie muss nicht notwendigerweise an Kindern vorgenommen werden. Im Alten Orient praktizierten Ägypter, Ammoniter, Edomiter, Moabiter sowie Israel und Juda die Beschneidung; für die mesopotamischen Kulturen ist sie
Die Texte aus der Exilszeit
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unsicher. Nicht praktiziert wurde sie von Philistern und Griechen. In Israel und Juda gab es vor der Priesterschrift vermutlich keine Begründung für diesen Brauch. Die Priesterschrift erhebt die Beschneidung in den Rang eines exklusiven Merkmals der Nachkommen Abrahams. Nach Gen 17P ist sie ein Zeichen des Bundes, den El Sˇaddaj mit Abraham geschlossen hat. Wer dieses Zeichen trägt – und zwar vom Säuglingsalter an – gehört in diese Beziehung hinein. Auffallenderweise begründet P die Zugehörigkeit zum Abrahambund hier nicht mit der genealogischen Herkunft. Vielmehr enthält die Beschneidung als Zugehörigkeitsmerkmal ein gewisses Entscheidungsmoment: Wer sich entschließt, diesem Bund anzugehören, tut dies, indem er seinen Körper zum Zeichen dieses Bundes macht, und er entscheidet für die kommende Generation mit. Der Sabbat (von hebr. sˇa¯bat≥, „aufhören, ruhen“) war vorexilisch ein monatlicher Feiertag, der mit dem Mondzyklus zusammenhing, wahrscheinlich der Vollmondtag. Er diente der rituellen Vergewisserung von Kalender- und Wachstumsrhythmen. Erst die Priesterschrift bringt den Sabbat in einen Zusammenhang mit dem Wochenrhythmus, indem sie in Gen 2,2–3 Gott am siebten Tag „ruhen“ lässt und diesen Tag für heilig erklärt. Der Sabbatrhythmus ist also der Schöpfung eingestiftet. Zum verpflichtenden Feiertag für Israel wird der Sabbat aber erst in der Erzählung Ex 16P: In der Wüste – auf dem Weg zum Sinai – wird Israel von Gott durch Manna am Leben erhalten, das sechs Tage lang gesammelt wird. Am siebten Tag (der jetzt als „Sabbat für JHWH“ bezeichnet wird) darf nicht gesammelt werden, doch die Versorgung reicht. Israel – und nur Israel – erkennt und verwirklicht daher das mit der Schöpfung gesetzte göttliche Geheimnis der Zeit. Das Passa ist ebenfalls ein altes Ritual, dessen Ursprünge im Dunkeln liegen. Es ist mit der rituellen Schlachtung und dem Verzehr eines Schafs verbunden und findet zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr statt. Möglicherweise wurde das Passa schon vorexilisch mit der Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten verbunden: Es gilt als Feiertag des Exodus. Das Deuteronomium weist an, Passa am Zentralheiligtum zu feiern (Dtn 16), wahrscheinlich, weil die Schlachtung des Passalamms als Opfer betrachtet wurde. Demgegenüber befiehlt die Priesterschrift in Ex 12P, das Passa zu Hause zu schlachten und im Familienkreis zu verzehren. Trotzdem gilt, dass „die ganze Gemeinde Israel“ das Passa begeht. Es handelt sich bei P allerdings nicht um ein Opfer, sondern um eine rituelle Mahlzeit, die daher abseits des Heiligtums stattfinden darf. Israel kann die Erinnerungsfeier an seine identitätsstiftende Herkunft überall und ohne Tempel verwirklichen.
Die Priesterschrift konzentriert sich auf drei Riten, die für Israel kennzeichnend sind, und erhebt sie in den Rang von theologischen Unterscheidungs-, ja Bekenntnismerkmalen. In ihnen verwirklicht Israel am Körper, in der Zeit und als Gemeinschaft seine Beziehung zu JHWH. Es handelt sich um Riten, die überall ausgeführt werden können und keinen Tempel benötigen, wohl aber priesterliche Kompetenz bei ihrer Durchführung. Auf diese Weise schuf sich das
Priesterschaft in neuer Funktion
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Literarhistorische Vertiefung
P als Übergang zur nachexilischen Literatur
4.3.6
der Zorn Gottes
deportierte Priestertum der Gōlā eine neue − vom Tempel unabhängige − Funktion. Die Priesterschrift ist der nach-alttestamentlichen Bibelrezeption vor allem durch ihren Schöpfungsbericht (Gen 1,1−2,4a) präsent. Es handelt sich bei ihr indes um einen Geschichtsentwurf, der dem heimat- und funktionslos gewordenen Priestertum der babylonischen Gōlā eine neue Position und dem exilierten Israel eine Identität geben will. Die laientheologischen Entwürfe der Vätergeschichte, der Mose-Exodus-Geschichte und des Deuteronomiums werden von ihr aufgenommen, bewertet und neu interpretiert, wobei sich die Priesterschrift ebenso von allen dreien abgrenzt wie sie deren Impulse positiv aufnimmt und sogar verstärkt. Da unklar ist, wo die Grundfassung der Priesterschrift ihr Ende hat, bleibt ihre Datierung strittig: Möglich ist es auch, dass sie nicht mehr der Exilszeit, sondern schon der ersten Phase der persischen Zeit zuzurechnen ist. Eine Antwort hängt davon ab, ob man die Vision, die P vom Tempel entwirft (Ex 25−Lev 9P), als zukunftsweisendes Konzept für einen Neuen Tempel betrachtet, das noch vor 515 v. Chr. verfasst wurde, oder ob man darin die Legitimation des tatsächlichen Zweiten Tempels sieht. Dann wäre P erst nach 515 verfasst worden. Wahrscheinlich steht P am Übergang von der exilischen zur nachexilischen Literatur des Alten Testaments. Die Grundfassung von P und ihre Fortschreibungen in persischer Zeit wurden jedoch zur Grundlage des Pentateuch. Ertrag: Die Exilszeit als Wendepunkt der alttestamentlichen Literaturgeschichte Die Zerstörung Jerusalems im Jahr 587/6 v. Chr. hätte für Juda und die Judäer das Ende bedeuten können. Wie viele andere Völker, Kulturen und Religionen hätten sie in der „altorientalischen Ökumene“ aufgehen können. Wie am Anfang dieses Kapitels bereits angedeutet, war diese Option durchaus realistisch und hätte eine religiöse, kulturelle und politische Akzeptanz des babylonischen Sieges bedeutet. Gleichwohl ist ein Teil der besiegten Judäer diesen Weg nicht gegangen. Vielmehr bezeugt die alttestamentliche Literatur den Versuch, die Katastrophe „durchzuarbeiten“ und als eine zwar schmerzvolle, aber auch zukunftsträchtige Erfahrung zu verstehen. Eine wichtige theologische Deutefigur für die Exilserfah-
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Die Texte aus der Exilszeit
rung wurde der „Zorn Gottes“ (vgl. dazu J. Jeremias, Der Zorn, 30−120), den Juda und Israel in seiner ganzen Konsequenz erlebt hatten. Ein großer Teil der exilszeitlichen Literatur befasst sich mit dem Problem, diesen Zorn Gottes auszuhalten und ihm theologisch produktiv zu begegnen. Dabei lassen sich zwei Grundoptionen erkennen. Die eine Hauptrichtung der exilszeitlichen Literatur erkennt Gottes Zorn als Antwort auf Israels Schuld: Das Königtum, die Hinwendung zu fremden Mächten, die Zersplitterung in Königreiche und Staaten sind als Verrat an dem einen JHWH aufzufassen, der in seiner Liebe zu Israel nie etwas anderes gewollt hat als dessen Treue und Einigkeit. Die Abrechnung mit der Politik in der Exodus-Sinai-Geschichte und im deuteronomistischen Geschichtswerk, die Bundestheologie des Deuteronomiums und die exilszeitlichen Zusammenstellungen der Prophetentexte stehen in diesem Horizont des „Nie wieder“: Was Israel falsch gemacht hatte, sollte nun − nach der bitteren Erfahrung der Konsequenzen − richtig gemacht werden. Vor allem im Mutterland wurden auf diese Weise Ansätze und Traditionen fortgeführt, die schon geholfen hatten, die Erfahrung des Untergangs von Samaria zu verarbeiten (→ Kap. 4.2). Dem Vermischungsdruck der babylonischen Politik im Mutterland wurde ein entschiedener Widerstand entgegengesetzt. Es wird aber auch − gerade in den gesetzlichen Partien des Deuteronomiums − der Wille erkennbar, die neue Situation verantwortlich als geschwisterliche Gemeinde zu gestalten. In die folgende nachexilische Zeit wurden aus diesem Traditionsstrom eine herrschaftskritische Tendenz und ein hohes Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen weitergereicht. In der anderen Hauptrichtung der exilszeitlichen Literatur wird der Zorn Gottes zwar auch mit Schuld und Verfehlung in Verbindung gebracht. Leitend ist aber der Wille, Gottes Treue zu seinem Volk zu behaupten, eine Treue, die von Gott aufrechterhalten wird, selbst wenn sein Volk sich verfehlt. Unter dieser Perspektive ist vor allem die exilische Vätergeschichte verfasst. Aber auch die Geschichtstheologie der Priesterschrift wurzelt in dem Glauben, dass der Schöpfer seine Schöpfung nicht endgültig vernichtet, sondern sie vielmehr unter dem Eindruck von Schuld und Verfehlung neu gestaltet. Die exilszeitliche Fassung des Buches Ezechiel und die Texte in Jes 40−55 („Deuterojesaja“, → Kap. 5.4) entwerfen ebenfalls Bilder von Gottes Treue, die gleichwohl die Eigenverantwortung Israels für seine Zukunft nicht ausschließt. Auch hier wurden Impulse der späten Königszeit fortgeschrieben und
„Nie wieder!“
„Trotzdem!“
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Literarhistorische Vertiefung
auf dem Weg zum Monotheismus
4.4 4.4.1
die Wiederkehr der alten Welt
präzisiert, auch diese Theologie wurde in die nachexilische Literatur weitergereicht. Der wohl entscheidende theologische Beitrag der Exilszeit zum Alten Testament ist die Überzeugung, dass JHWH trotz der Eroberung Judas und der Zerstörung seines Tempels nicht den Göttern der Babylonier unterlegen war. Angeregt durch theologische Vorarbeiten aus der Zeit nach 720 v. Chr. − also aus der Zeit nach der Eroberung Samarias durch die Assyrer − musste die politische Niederlage nicht als religiöse Niederlage gedeutet werden. Vielmehr galt auf die eine oder andere Weise JHWH als derjenige, in dessen Hand auch die Nachbarmächte waren und dessen Willen sie ausführten. Dies ist der entscheidende Schritt auf dem Weg zum Monotheismus, den die nachexilische Zeit weiterverfolgte.
Die Literatur der Perserzeit (539–333 v. Chr.) Die kulturelle Matrix der Perserzeit Die Ablösung des babylonischen Reiches durch das Perserreich als neuer Großmacht wurde für das Volk Israel erst mit dem zweiten persischen Herrscher zur epochalen Wende. Unter Darius I. (522−486 v. Chr.) wurde der Zweite Tempel gebaut. Darius schlug außerdem in Babylon antipersische Aufstände derart gründlich nieder, dass sich das Volk Israel durch ihn als endgültig von Babylon befreit betrachten konnte. Die alttestamentlichen Texte schreiben indes die perserzeitliche Wende zum Heil überwiegend bereits Darius’ Vorgänger Kyros II. zu, weil mit ihm die heilvolle Epoche der Perserzeit beginnt. Die charakteristische Politik der Perser, die auf Förderung der Lokalautonomie in den eroberten Gebieten setzte (→ Kap. 3.5.1), ermöglichte eine „Wiedergeburt“ des Volkes Israel auf eigenem Boden. Mit dem Zweiten Tempel, der unter persischer Schirmherrschaft stand, erhielt Juda schnell wieder sein kultisches, politisches und soziales Zentrum. Da die Perser außerdem die Provinz Juda/Yehûd als eigene politische Größe installierten, wurde ihre Herrschaft vom Volk Israel weitgehend akzeptiert. Die Perserkönige erschienen als die legitimen Nachfolger der Reichsgründer David und Salomo und als „die göttlich legitimierten Repräsentanten der nun verwirklichten Weltherrschaft Gottes“ (K. Schmid, Literaturgeschichte, 145). Die Politik der persischen Herrscher ermöglichte dem Volk Israel somit zum letzten Mal die Errichtung eines Gemeinwesens im Rahmen der altorienta-
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Die Literatur der Perserzeit (539–333 v. Chr.)
lischen Kultur, bevor dies in der hellenistischen Zeit nachhaltig verändert wurde. Während der Perserherrschaft war also die Weltordnung für Israel gewissermaßen wiederhergestellt, weil der fehlende König und der Tempelkult (durch den persischen Herrscher!) wieder eingerichtet waren. Wie in vorexilischer Zeit befanden sich Kräfte und Mächte von „Himmel“ und „Erde“ im Gleichgewicht, vgl. Abb. 4.2.1. Indes bedeutete diese alttestamentliche Loyalität gegenüber den Persern keine blinde Unterwerfung. In den entsprechenden Texten der Priesterschrift (→ Kap.4.3.5), einigen Psalmen, im Esrabuch, der Chronik und Jes 40−55 führen nicht die Perser an sich die entscheidende Wende zum Guten herbei. Vielmehr bedient sich JHWH der Perser und ihres Reiches, um seine Herrschaft über die ganze Welt durchzusetzen. D. h. selbst als Minderheit (in der Diaspora) oder als Provinz unter fremder Herrschaft (in Juda/Yehûd und Samaria) konnte sich Israel als Volk empfinden, das als einziges den wahren Herrn der Welt kennt und seinem Willen entspricht. Hier liegen die Wurzeln des Selbstbildes des Judentums als „auserwähltem Volk“. Von diesem Gottesbild ging aber auch ein erhebliches Kritikpotential nach innen wie nach außen aus. Theologisch, politisch und sozial stand zur Debatte, in welcher Weise Israel seinem Auftrag zur Erfüllung des Willens JHWHs am besten entsprechen konnte. Dazu bedurfte es der grundsätzlichen Klärung zweier Fragen. Ϝ Die erste Frage war, welche Lebensordnung den Willen JHWHs am besten ausdrückt: das am Sinai offenbarte Gesetz der Exodus-Sinai-Geschichte, das Deuteronomium oder eine auf Reinheit und Heiligkeit zentrierte priesterliche Lebensordnung, die in der Gōlā entwickelt wurde. Das Ergebnis der Diskussion ist die Tora, die einen Kompromiss der drei Entwürfe darstellt. Dabei spiegelt sich in den Büchern Esra, Nehemia und Ruth der Wille des perserzeitlichen Israel, das Leben toragemäß zu gestalten. Auch in den Geschichtsbüchern Jos−2 Kön sowie im perserzeitlich überarbeiteten Corpus der prophetischen Bücher schlägt sich die Diskussion um den Willen Gottes nieder und zwar mit deutlicher Kritik an der Anpassung an die Fremdherrschaft. Ϝ Ein wichtiges Thema und Problem blieb die Existenz fremder Völker im Land. Als Transitland zwischen Afrika und Asien hatte der syro-palästinische Raum immer eine vielfältige Be-
JHWH als wahrer Weltherrscher
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Literarhistorische Vertiefung
völkerung gehabt, die Kriege und Umsiedlungsmaßnahmen seit der assyrischen Zeit hatten diese Tendenz noch verstärkt, und auch in der persischen Zeit blieb die Bevölkerung heterogen. Außer in Jerusalem und seinem unmittelbaren Umfeld waren Judäer und Israeliten eher eine Minderheit. Vor allem für die vom Dtn beeinf lussten Theologen war dies ein Indiz dafür, dass das Volk Israel die Treue zu JHWH immer noch nicht vollständig verwirklicht hatte. JHWHs Gericht über Israel hielt also noch an. Vor allem die Bücher Josua und Richter, aber auch große Teile von Sam und Kön wurden unter dieser Perspektive fortgeschrieben, dieselbe Tendenz findet sich im Buch Jeremia. Im Rahmen dieser Diskussion plädierten die sog. deuteronomistischen Theologen für eine strenge Abgrenzung „Israels“ gegenüber allem Fremden. Die Vertreibung der fremden Völker als theologisches KonstruktDie Bücher Josua und Richter, aber auch Teile des Dtn formulieren diese Abgrenzung gegenüber den Fremden als Erzählungen von Krieg und Gewalt. Die Fremden werden in JHWHs Auftrag und mit seiner Unterstützung getötet und/oder vertrieben. Diese Ideologie wird in die Form einer Geschichtserzählung gekleidet: Zu Josuas Zeiten wurden die Fremden vollständig aus Israel entfernt, und das Volk konnte das Land in Besitz nehmen. Diese Erzählungen haben nicht den geringsten Anhalt an irgendeiner historischen Wirklichkeit. Gerade in seiner Frühzeit hatte „Israel“ überhaupt nicht die Mittel zu groß angelegten Kriegsaktionen. Eine gewaltsame Landnahme landesweiten Ausmaßes lässt sich auch auf archäologischem Weg nicht nachweisen (→ Kap. 3.2.3). Die einschlägigen Texte sind eindeutig als literarische Fiktionen zu erkennen, die keine historischen Erinnerungen transportieren. In Dtn, Jos und Ri reflektiert Israel seine Minderheitensituation in Form von Gewaltphantasien, die sich kaum anders als psychologisch erklären lassen. Entscheidend dabei ist, dass diese Gewaltakte in eine graue Vorzeit verlegt werden und die Gegenwart damit erklärt wird, dass Israel selbst seine Autonomie verspielt hat. Für die Perserzeit wurde die Ideologie der gewaltsamen Vertreibung in keiner Weise umgesetzt. Vielmehr beschränkte sich die Abgrenzung gegenüber den Völkern auf strenge Vermischungsverbote. Etwas anderes wäre gegenüber den Persern vermutlich auch gar nicht möglich gewesen. „Glaube“ als Unterscheidungsmerkmal
Erst ab der Perserzeit begreift sich Israel als Gemeinschaft, die sich vor allem durch ihren Glauben von den anderen unterscheidet. Der ausschließliche Glaube an JHWH bestimmt, wer zu Israel gehört und wer als fremd zu gelten hat. Das ist ein Novum in der Religionsgeschichte. Verbunden mit der Überzeugung, dass JHWH der wahre Herr der Welt ist, entwickelte Israel in der persischen Zeit den Monotheismus als Glauben an den einzigen Gott.
Die Literatur der Perserzeit (539–333 v. Chr.)
Überraschenderweise verband sich der Monotheismus weder in der Perserzeit noch später mit nennenswerten missionarischen Aktivitäten. Vielmehr blieb die Alleinverehrung JHWHs ein nach innen wie außen gerichtetes Unterscheidungsmerkmal. In der Perserzeit nahm außerdem die interne Differenzierung Israels in außerordentlichem Maße zu. Israel als einiges Volk JHWHs ist genauso eine Fiktion wie der Mythos von der Landnahme. Die perserzeitlichen Texte zeigen vielmehr eine große Vielfalt an Israel-Bildern, die allerdings in der Geschichtserzählung der Tora/des Pentateuch in einen erzählenden Zusammenhang gebracht werden. Dabei war die Zugehörigkeit ehemaliger Israeliten und deren Nachkommen, also der Bewohner Samarias, zum „Volk Israel“ eine Frage, die schon seit 720 v. Chr. in immer neuen Anläufen diskutiert wurde. Hier wurde die Akzeptanz Jerusalems als Zentrum des Volkes Israel mehr und mehr zum Kriterium der Zugehörigkeit. Der Streit wurde auch hier literarisch ausgetragen und findet seinen Niederschlag v. a. in Jos 24 und verwandten Texten. (W. Oswald, Staatstheorie, 204−228). Die persische Politik förderte an vielen Stellen die innere Differenzierung Israels. Der Entschluss, die Provinz Juda/Yehûd als eigenständige Teilprovinz von Samaria abzutrennen, vertiefte die Spannungen zwischen den samarischen und den judäischen Mitgliedern der JHWH-Gemeinde. Das größere, wirtschaftlich und politisch bedeutendere Samaria mit seinem Heiligtum in Sichem war nicht bereit, den Führungsanspruch Judas und Jerusalems fraglos anzuerkennen. Aus dieser Kontroverse sind vor allem die judäischen Stimmen erhalten (Esr, Neh, 2 Kön 17), aus deren Perspektive Samaria mehr und mehr auf die Seite der Fremden übergeht. Längerfristig führte das zur Trennung der Religionsgemeinschaft der Samaritaner vom restlichen Judentum um das 4. Jh. v. Chr. (→ Kap. 3.5.4). Bis ins 4. Jh. hinein betrauten die Perser immer wieder Angehörige der Gōlā mit Leitungs- und Führungsaufgaben in Juda/ Yehûd und Jerusalem. Dabei scheinen sie zunächst sogar Angehörige der Davidsfamilie beauftragt zu haben, die aber nach und nach aus den Führungsämtern verdängt wurden. Doch auch Esra und Nehemia sowie die Priester und Hohepriester waren Angehörige der Gōlā. Mit den Rückkehrbewegungen am Ende des 6. Jhs. v. Chr. kam eine größere Anzahl von Menschen nach Juda, deren Geschichte für fast 100 Jahre nur indirekt mit dem Mutterland verbunden gewesen war. Die Gōlā-Israeliten hatten während der Exilszeit eigene literarisch-theologische Reflexionen zur
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die Frage nach dem „wahren Israel“
Fremde im eigenen Volk
Rückkehrer und Daheimgebliebene
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Identität in der Diaspora
die Fremden als das „wahre Israel“
Literarhistorische Vertiefung
Identität Israels entwickelt. Diese basierten einerseits sehr stark auf Strukturen der Königszeit, von denen sich die MutterlandTheologen ja zu großen Teilen während der Exilszeit emanzipiert hatten (→ Kap. 3.4.1). Andererseits geht die theologische Literatur der Gōlā in ihrem Gottesbild ganz eigene Wege. Sie behauptet, z. B. im Buch Ezechiel und in Jes 40−55, JHWH hätte 587/6 Jerusalem verlassen und sei mit ins Exil gegangen. Dort seien JHWH und sein Volk unter sich geblieben, bis Juda und Jerusalem ihre Schuld bezahlt hatten (Jes 40,1−3). Die Angehörigen der Gōlā verstanden sich also als eine Art „heiliger Rest“, der das wahre Israel rein und unvermischt repräsentierte. Die Rückkehr der Exilierten wird als ein Zweiter Exodus inszeniert, der den ersten noch übertrifft. Zumindest in den führenden Kreisen Jerusalems waren die Rückkehrer tonangebend und warfen den Daheimgebliebenen vor, sich religiös und sozial mit den Fremden und Besatzern vermischt und daher den Führungsanspruch verloren zu haben. Mit der persischen Herrschaft kehrten nicht alle Deportierten zurück. Eine große Gruppe blieb in Babylonien und begründete dort die babylonische Diasporagemeinde, die in christlicher Zeit die Führungsrolle im rabbinischen Judentum übernehmen sollte. Zu einem weiteren bestimmenden Faktor für Literatur und Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit wurde die ägyptische Diaspora. Die Ansiedlung in Ägypten hatte vor allem wirtschaftliche Gründe: Das fruchtbare Land ermöglichte dort häufig ein besseres Leben als das arme Juda/Yehûd. Die ersten Vertreter einer ägyptischen Diaspora ließen sich auf der Nilinsel Elephantine im südlichen Ägypten nieder und gründeten dort eine Kolonie ganz eigener Prägung (→ Kap. 3.5.4), die im AT jedoch keine Spuren hinterlassen hat. Seit ca. 525 v. Chr. siedelten Angehörige Israels im östlichen Nildelta. Auch im persischen Kerngebiet dürfte es Diasporagemeinden gegeben haben. Die Diaspora brachte eine eigene Literatur hervor, die die Frage nach einer Identität in der Fremde thematisiert: Diese ist möglich, wenn die Maßstäbe des JHWH-Glaubens treu eingehalten werden. Dann ist nicht nur ein Überleben in der Diaspora möglich, sondern sogar Erfolg und Ruhm. Auch in der Diaspora kann JHWHs Weltherrschaft bezeugt und durchgesetzt werden, wie die Josephsgeschichte (Gen 37−50) sowie Teile des Daniel- und Esterbuches veranschaulichen. Zeigt die Diasporaliteratur, wie Israeliten in der Fremde ihre Identität leben können, so reflektiert ein Teil der Literatur des
Die Literatur der Perserzeit (539–333 v. Chr.)
Mutterlandes umgekehrt, ob die Maßstäbe des JHWH-Glaubens von Fremden verwirklicht werden können. In den Büchern Jona, Ruth und Hiob wird diese Frage positiv beantwortet: Fremde können sehr wohl den Anspruch JHWHs erfüllen und darin zum Beispiel für Israel werden. So war der persische Vielvölkerstaat mit seiner charakteristischen Großreichspolitik die Voraussetzung für die quantitativ produktivste Epoche der alttestamentlichen Literaturgeschichte. Diese trägt formal und inhaltlich ein doppeltes Gesicht: Hinsichtlich der Literaturproduktion wurden viele ältere Entwürfe fortgeschrieben und aktualisiert: [Es ist] „zu betonen, dass kein Buch des AT, das über königszeitliche Ursprünge verfügt, in einer vorperserzeitlichen Gestalt erhalten geblieben ist.“ (Schmidt, Literaturgeschichte, 144)
Dabei sind die perserzeitlichen Fassungen der Bücher Gen− 2 Kön, Jes, Jer, Ez, sowie Hos-Mal in späteren Zeiten kaum noch wesentlich verändert worden. Sie erhielten ihr Grundprofil zwischen dem 6. und dem 4. Jh. Gleichzeitig kam noch einmal ein erheblicher Anteil neuer Schriften hinzu, die die Vorgaben der eben genannten Bücher in neuen Entwürfen reflektierten: Esra-Nehemia, Ruth, Ester, Jona, Hiob, Daniel und Haggai-Sacharja. So ist das AT als Summe bestimmter Schriften im Großen und Ganzen ein perserzeitliches Buch. Hinsichtlich der Inhalte zeigt sich der Doppelaspekt der perserzeitlichen Literatur des AT einerseits in einer Tendenz zur Vereinheitlichung. Die Perserzeit legte die theologischen Grundoptionen des AT ein für allemal fest: Monotheismus, Gesetz, Bund, Sabbat, Feste, Beschneidung. Die aktuelle Anwendung und Zuordnung dieser Optionen wurde dann andererseits in großer Vielfalt verwirklicht. R. Achenbach, The Pentateuch, the Prophets and the Thora in the Fifth and Fourth Centuries B. C. E., in: O. Lipschits u. a. (Hg.), Judah and the Judaeans in the Fourth Century B. C. E., Winona Lake 2007, 253–285. E. S. Gerstenberger, Perserzeit, 334–354. J. Goldstein, Peoples of an Almighty God. Competing Religions in the Ancient World, New York, 2002. L. L. Grabbe, Judaic Religion in the Second Temple Period. Belief and Practice from the Exile to Yavneh, London/New York 2000. M. Köckert, Wandlungen Gottes im antiken Israel, in: BThZ 22 (2005), 3–36. R. G. Kratz, Die Entstehung des Judentums, in: ZThK 95 (1998), 167–184. R. G. Kratz, Israel als Staat und als Volk, in: ZThK 97 (2000), 1–17. K. Schmid, Literaturgeschichte, 140–146.
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literarische Fortschreibung und Neureflexion
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Literarhistorische Vertiefung
4.4.2
Esra-Nehemia und die Tora B. Becking, The Idea of Torah in Ezrah 7–10, in: ZAR 7 (2001), 273–286. E. Blum, Esra, die Mosetora und die persische Politik, in: Ders., Textgestalt und Komposition: exegetische Beiträge zu Tora und Vordere Propheten, Tübingen 2010 (FAT 69), 177– 306. E. Blum, Gibt es die Endgestalt des Pentateuch?, in: Ders., Textgestalt und Komposition, 207–217. C. Karrer, Ringen um die Verfassung Judas. Eine Studie zu den theologisch-politischen Vorstellungen im Esra-Nehemia-Buch, Berlin/New York 2001 (BZAW 308). W. Oswald, Staatsheorie, 219–266. T. Reinmuth, Reform und Tora bei Nehemia, in: ZAR 7 (2001), 287–317. G. Steins, Die Bücher Esra und Nehemia, in: E: Zenger, Einleitung, 263–277. E. Zenger, Einleitung, 74–132.
Die Bücher Esra und Nehemia schildern die Neuordnung Judas/ Yehûds in persischer Zeit. Außerdem lässt sich aus ihnen erschließen, dass und wie die Tora als Grundgesetz Israels in Kraft gesetzt wurde. Esra und Nehemia sind daher nicht nur wichtige historische Quellen, sondern auch als Literaturwerke aus der und über die Perserzeit von hoher Bedeutung. Die Bücher Esra und NehemiaDie Bücher Esra und Nehemia bilden einen fortlaufenden Erzählzusammenhang und werden in der hebräischen Textüberlieferung als ein Buch betrachtet. Der inhaltliche Aufbau ist folgendermaßen: Esr 1–6
Die Heimkehr der Deportierten und der Tempelbau Darin 4,8–6,18: Aramäischer Bericht über den Bau des 2. Tempels
Esr 7–10
Esras Beauftragung zum Gesetzesbevollmächtigten (Ich-Bericht) Darin 7,11–26: Aramäische Bevollmächtigung Esras durch den persischen König
Neh 1–7
Nehemias Tätigkeit als persischer Statthalter (Ich-Bericht)
Neh 8–10 Esras Gesetzesverlesung und Verpflichtung des Volkes Neh 11–13 Nehemias Reformen in Juda/Jerusalem (Neh 13: Ich-Bericht) In Esra-Nehemia wird die Geschichte Judas von Kyros II. (559–530 v. Chr.) bis zu Artaxerxes I. (539–425 v. Chr.) geschildert. Dem Text zufolge wirkten Esra und Nehemia gleichzeitig, wobei Esra Nehemia übergeordnet wird. Die Anordnung der Ereignisse folgt theologischen Prinzipien und spiegelt nicht exakt die historische Abfolge: Die erste große Rückkehrwelle fand erst nach dem Tempelbau statt; Esra und Nehemia sind wahrscheinlich getrennt voneinander zu be-
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Die Literatur der Perserzeit (539–333 v. Chr.)
trachten (→ Kap. 3.5.3; 3.5.4). Das Buch Esra-Nehemia wurde erst in spätpersischer/ frühhellenistischer Zeit (4. Jh.) im Grundriss entworfen, geht aber auf zeitgenössische Quellen zurück. Diese sind: die aramäische Tempelchronik Esr 4,6–6,18; die „Memoiren“ Nehemias (Neh 1–7; 12*; 13*) und Teile der Esra-Überlieferung (Esr 7.8–10*). Dabei ist der Ich-Bericht ein neues Element in der alttestamentlichen Geschichtsschreibung.
Das Buch Esra-Nehemia vermittelt ein bestimmtes Bild Judas/ Yehûds in persischer Zeit und berichtet über die Heimkehr der Deportierten in ein leeres bzw. von Fremden besiedeltes Land und die Neuordnung des Volkes als religiöse Gemeinde unter der Schutzmacht der Perser. Der Tempel und die Tora sind Lebensmittelpunkte dieser Gemeinschaft, die von dem Priester Esra und dem Statthalter Nehemia gemeinschaftlich geleitet wird. Gefahren und Probleme entstehen diesem Israel durch die (im Land ansässigen) Fremden, die immer wieder versuchen, den Wiederauf bau zu verhindern (Esr 4; Neh 3; 6). Diese − im Kern vermutlich historischen − Widerstände der „Samarier“ hinderten die Heimgekehrten daran, ein − nach ihrer Sicht − dem Willen Gottes gemäßes Leben zu führen. Doch die persische Bevorzugung Esras und Nehemias, vor allem aber das in persischem Auftrag erlassene und durchgesetzte „Gesetz“ machen die samarischen Widerstände wirkungslos. Das neue Israel kann sich gegen diese Fremden und ihre religiösen Vorstellungen behaupten (Esr 4; Neh 5−6). Es sind ganz eindeutig die Rückkehrer, die sich in dieser Literatur zu Wort melden und den Anspruch vertreten, das wahre Israel zu repräsentieren. Die (Nachkommen der) im Land Verbliebenen werden vor allem aufgrund der „Mischehen“ (→ Kap. 3.5.4) als Fremde und Abtrünnige diffamiert. Der gesamte Text von Esra-Nehemia hat seine theologische Mitte und seinen eigentlichen Schwerpunkt in einem anderen Text, nämlich in der Tora. Wie in kaum einem anderen Teil der erzählenden Textüberlieferung des Alten Testaments wird in Esra-Nehemia der Wille erkennbar, die Tora als Ganze umzusetzen: Israels Glaube, Leben und Handeln soll von ihr allein bestimmt sein. Was in Gen-Dtn als Gründung Israels erzählt wird, soll sich nun in allen Details bewähren: „Die Epoche der Neugründung wird … entschlüsselt als Rekapitulation der Gründungsereignisse Israels: im Exodus aus der Gefangenschaft, im (Wieder-)Einzug in das Land, in der Feier des Pessach, in der Errichtung
Israel als Gemeinde
der Anspruch der Tora
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des Heiligtums, in der Verkündigung des Gesetzes, in der Verteilung des Landes bezieht sich der Autor auf die älteren normativen Überlieferungen. (…) Neben dem Tempel und der Stadt als dem sichtbaren Mittelpunkt des „neuen“ Israel gewinnen die … Schriften, vor allen die Tora, zunehmend an Bedeutung als Identität stiftendes und sozial integrierendes … Medium.“ (G. Steins, Esra und Nehemia, 277)
Aus der Perspektive des Esra-Nehemia ist Juda/Yehûd eine Art „Tora-Republik“ (W. Oswald, Staatstheorie, 219). Damit erhielt die bis dahin vorliegende geschichtlich-gesetzliche Literatur ein neues Gesicht und eine neue Qualität. Der Pentateuch/die Tora in der alttestamentlichen ForschungDie hier dargestellte Perspektive auf die Entstehung des Pentateuch repräsentiert einen (relativen) Forschungskonsens, der sich in etwa seit 1990 in der Exegese behauptet. Diese Entstehungsmodelle entsprechen jedoch vermutlich nicht dem, was Sie in der Schule gelernt haben. Auch Vorbereitungsmaterial für den Unterricht greift derzeit noch überwiegend auf exegetische Hypothesen aus der Zeit vor 1990 zurück. Die klassische Pentateuchforschung versucht, das literarisch und theologisch ganz eigenartige Gesicht der Tora/des Pentateuch zu erklären. In Gen-Dtn werden Erzählungen wiederholt, wobei diese Wiederholungen teils nacheinander (z. B. Gen 28,10–22; 35,9–15, sog. Dubletten), teils ineinander verzahnt erscheinen (Gen 6–9; Ex 14). Einige Texte weisen in ihrer Abfolge Spannungen auf – zum Beispiel stirbt Rahel in Gen 35,16–20, wohingegen sie in Gen 37,9–10 noch lebt. Weitere Texte vor allem im Bereich von Ex 19–24 stehen in offenem Widerspruch zueinander. (Die wichtigsten Beobachtungen sind aufgeführt bei E. Zenger, Einleitung, 76–86). Am auffälligsten ist der Wechsel von Gottesnamen und Gottesbezeichnung in Gen und Ex: Es gibt Texte, die von JHWH erzählen, neben solchen, die – bei ähnlichem Inhalt – die Bezeichnung „Gott“ (Elohim) verwenden, etwa Gen 2 (JHWH) neben Gen 1 (Elohim). Seit der Mitte des 19. Jhs. setzte sich ein auf analytischem Weg gewonnenes Modell zur Erklärung des Befundes durch: Der Pentateuch besteht aus mehreren Schriften, die mehr oder weniger den gesamten Pentateuch-Aufriss von der Schöpfung bis zum Tod des Mose enthalten („Quellen“ bzw. „Urkunden“). Sie sind zu verschiedenen Zeiten verfasst und nacheinander durch Redaktionen miteinander verbunden worden. Den Redaktionen kam es dabei auf zweierlei an: Einen sinnvollen Erzählzusammenhang zu erstellen und von den alten Quellen so viel Text wie möglich zu erhalten. Sachliche Spannungen weisen daher auf ein Wachstum der Texte. Die am weitesten verbreitete Variante dieses Erklärungsmodells ist die sog. „Neuere Urkundenhypothese“. Sie geht von vier Quellenschriften aus, die redaktionell addiert wurden. In der Reihenfolge ihres Alters sind sie folgendermaßen angeordnet:
Die Literatur der Perserzeit (539–333 v. Chr.)
– – – –
„J“ (sog. „Jahwist“, Texte mit dem Gottesnamen JHWH): Gen 2–Dtn 34* „E“ (sog. „Elohist“, Texte mit der Gottesbezeichnung Elohim): Gen 12– Num 24* „D/Dtn“ (Deuteronomium): Dtn 1–34* „P“ (Priesterschrift) (→ Kap. 4.3.5)
Der Erfolg dieses Erklärungsmodells auch über die exegetische Wissenschaft hinaus hat drei Gründe: Das Vierquellenmodell ist ein (relativ) einfaches Erklärungsmuster, es ist in seinen Grundzügen auch für Nicht-Fachleute verständlich und es zeigt Verwandtschaften mit den Evangelienhypothesen des Neuen Testaments. Die Vierquellenhypothese wird allerdings aus vielen Gründen in Frage gestellt, von denen die folgenden die wichtigsten sind: Während sich P und Dtn sprachlich und sachlich als literarische Werke eigenen Stils bestimmen lassen, trifft das auf „J“ und „E“ nicht wirklich zu. Sie versammeln in sich höchst unterschiedliches Material, das von Anfang an mehr den Charakter einer Sammlung hat, als denjenigen einer „Quellen“schrift mit klarem Profil. Dass die Forschung hier lange Zeit überhaupt von Quellenschriften ausging, hat mit den oben genannten Beobachtungen von Doppelungen zu tun: Wenn die Quelle P einen Erzählablauf mit bestimmten Stationen hat (Schöpfung – Flut – Väter – Ägypter – Exodus – Sinai), müssen die Doppelungen in der biblischen Erzählung auf eine andere Quelle mit gleichem Erzählablauf zurückgehen. Diese Hypothese lässt sich nur halten, wenn die Varianten einen einheitlichen Stil und einheitlichen inhaltlichen Charakter haben – und das ist eben nicht der Fall. Aus diesem Grund sind die Quellen „J“ und „E“ mindestens erheblich zu reduzieren und umfassen kaum den ganzen Pentateuch-Aufriss. Die beiden anderen Gründe, das Vierquellenmodell in Frage zu stellen, hängen mit historischen und literaturgeschichtlichen Erwägungen zusammen. Die Quellen „J“ und „E“ werden im klassischen Vierquellenmodell früh angesetzt (um das 10./9. Jh.). Zu dieser Zeit waren die sozialen und politischen Voraussetzungen einer so umfänglichen Literaturproduktion in Israel und Juda aber noch gar nicht gegeben (→ Kap. 3.3.4; 3.3.5). Schließlich lässt sich beobachten, dass Literaturproduktion in der Regel nicht mit großen Erzählzusammenhängen wie dem Pentateuch-Abriss beginnt. Es werden meist kleinere Konstellationen formuliert, die zur Sinnbildung ausreichen – erst fortgeschrittene Literatur nimmt auch größere Erzählwerke in Angriff. Im vorliegenden Buch wurde dies exemplarisch an Gen 12–50 gezeigt (→ Kap. 4.2.2; 4.3.2). In der derzeitigen Pentateuchforschung zeichnet sich als Konsens ab, „P“ als erste (und manchmal einzige) Pentateuch-Quelle beizubehalten. Die alten Quellen „J“ und „E“ werden meist unter dem Sammelnamen „nP“ (= nicht-priesterschriftlich) zusammengefasst und gegebenenfalls in kleinere vorpriesterschriftliche Erzählblöcke ausdifferenziert. Ein solcher Weg wurde im vorliegenden Kapitel eingeschlagen. Anders als in der Medizin oder den Naturwissenschaften werden in der Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaft jedoch ältere Hypothesen meist nicht völlig aufgegeben. Ist ihre Plausibilität durch bestimmte Beobachtungen oder andere Rahmenbedingungen in Frage gestellt, lässt die Forschung sie meist ruhen, bis sich durch veränderte Interpretationsbedingungen ein neues Erklärungspotential älterer Modelle ergibt. Auch die derzeitigen
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Pentateuchmodelle sind nicht völlig neu, sondern Weiterentwicklungen von Hypothesen vor und neben der Vierquellenhypothese. In Ihrer exegetischen Praxis müssen Sie derzeit gute Gründe haben, an einem klassischen Vierquellenmodell festzuhalten. Für Ihre weitere theologische Arbeit – Seminar- und Prüfungsarbeiten, Unterrichtsentwürfe, berufliche Praxis – ergeben sich durch den Umbruch der Pentateuchforschung eine Reihe von praktischen Schwierigkeiten. In fachwissenschaftlichen Arbeiten werden Sie exegetische Literatur „älterer“ und „neuerer“ Prägung heranziehen müssen, um sich einen Text zu erarbeiten. Zumindest hinsichtlich der angenommenen Textentstehung sind ältere und neuere Modelle dabei schlicht nicht kompatibel; hier müssen Sie sich von vornherein für eine Linie entscheiden. (Dabei ist der Wandel in der Forschungsauffassung wie bereits erwähnt in etwa um das Jahr 1990 anzusetzen.) Als schwieriger wird es sich erweisen, Ihr exegetisch gewonnenes Wissen in Handlungsfelder Praktischer Theologie umzusetzen, weil die neuere Pentateuch-Diskussion dort häufig noch gar nicht angekommen ist. An diesem Punkt ist Ihre eigene theologische Kompetenz gefordert. die Tora als Grundtext
die Tora als Kompromiss
Dass die Tora in (spät-)persischer Zeit einen vorläufigen Abschluss gefunden hat, lässt sich mit Sicherheit sagen: Großf lächige Hinweise auf nachperserzeitliche Verhältnisse finden sich in Gen-Dtn nicht. Esr-Neh zeigen an, dass die persische Herrschaft den entscheidenden Anstoß dazu gab, die verschiedenen Entwürfe zu Geschichte und Verfassung Israels und Judas/Yehûds in der Tora zu bündeln. Auch andere perserzeitliche und spätere alttestamentliche Texte (Propheten, Psalmen, Weisheitsschriften) beziehen sich auf die Tora als normatives Werk. D. h. unter den Bedingungen der persischen Herrschaft wurden die Überlieferungen über Israels Ursprünge, seine Beziehung zu JHWH, seine politische Verfassung, seine Normen und Werte sowie über Kult und Religion in einem unveränderlichen, abgeschlossenen, verbindlichen und konkurrenzlosen Werk zusammengefasst: Aus den verschiedenen Gründungslegenden (Väter, Exodus-Sinai, Dtn, P) wurde die eine Tora, die von nun an als Weisung oder Norm galt. Literarisch und theologisch hatte das weitreichende Konsequenzen. Zunächst musste der Umfang der verbindlichen Glaubens- und Lebensurkunde Israels bestimmt werden. Hier standen sich bis dahin zwei Entwürfe gegenüber: Der ältere lässt Israel seine Gründungserfahrung im Exodus und am Sinai machen und betrachtet die Gründungsphase mit der Landnahme unter Josua als abgeschlossen. Zentrale Heilsgaben in diesem Entwurf sind das Gesetz, die autonome Verfassung und das Land; JHWH
Die Literatur der Perserzeit (539–333 v. Chr.)
erscheint als der Befreier, der seinem Volk die Freiheit sichert. Es handelt sich um die vorperserzeitliche Textsammlung aus Ex, Dtn, Jos (→ Kap. 4.2.4; 4.3.3; 4.3.4), deren Helden Mose und Josua sind. Der jüngere Entwurf ist P, der mit der Schöpfung beginnt und am Sinai endet. Hier geht der Gründung Israels die Erwählung Abrahams voraus, Israels Ziel ist die Gemeinschaft mit JHWH im und am Tempel. Zentrale Heilsgaben sind hier der Bund, der Sabbat und die Nähe JHWHs, des „Heiligen“. Die Hauptfigur neben Mose ist Abraham, Aaron der Priester steht Mose zur Seite. Der Textumfang der Tora ist ein Kompromiss zwischen beiden Positionen: Die Tora beginnt mit der Schöpfung (P), geht aber über den Sinai hinaus (Dtn). Allerdings wird die Epoche Josuas aus der gründenden Heilszeit ausgegliedert. Allein unter Abraham und Mose erhielt Israel seine Identität. Demzufolge ist das Land in der Tora auch nicht mehr Heils- sondern Hoffnungsgabe. Von den Persern beherrscht oder in der Diaspora kann Israel nur darauf hoffen, sein Land einmal zu besitzen − wenn es das Gesetz erfüllt. Was Israel aber bleibt, ist die unvergleichliche Gemeinschaft mit Gott in Beschneidung, Sabbat und Tempel. Die Entscheidung für den Tora-Text im Umfang von Gen 1− Dtn 34* macht den erzählenden Schnitt an einer entscheidenden Stelle: Nur in der Zeit von Noah bis Mose wurden Gesetze erlassen. Der Tod des Mose trennt die Epoche der Gesetzgebung von der Epoche der Gesetzesanwendung. Damit werden die unterschiedlichen Theologien, Gottesbilder, Gründungslegenden und Verfassungsentwürfe in einem neuen gemeinsamen Nenner aufgefangen, dem (durch Mose vermittelten) Gesetz, der Tora: „In den älteren Erzählwerken ist der Ort der Gesetzesgabe von entscheidender Bedeutung, weil davon die Autorität des Gesetzes abhängt. Aber mit der Konstituierung des Pentateuch als Tora fällt die Differenzierung zwischen den Gesetzeskorpora und die politisch motivierte Abgrenzung zwischen ihnen weg. Das Ganze der Tora ist nunmehr maßgebliche Weisung und jedes Gebot verlangt Gehorsam, unabhängig davon, ob es am Gottesberg, am Kultzelt oder in Moab mitgeteilt wurde … Glaube, Gottesfurcht und Toragehorsam sind die theologischen Leitlinien der … Torakomposition und diese … verwandelt den Pentateuch von einer Sammlung von Verfassungsentwürfen in eine religiöse Lehrerzählung.“ (W. Oswald, Staatstheorie, 228)
Bei der Komposition des Tora-Textes wurden in einigen Bereichen, v. a. in der Abraham-Erzählung (Gen 20−22), im Bereich
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Einigung verschiedener Gruppen
Esra-Nehemia als angewandte Tora
Literarhistorische Vertiefung
der Sinai-Theophanie (Ex 19) und im Bild des Mose (Num 12; Dtn 34) kräftige inhaltliche Retuschen vorgenommen. Spätestens die Einrichtung Yehûds als Teilprovinz innerhalb des Perserreiches machte es nötig, dass die Judäer sich auf eine einheitliche Organisation und Rechtsgrundlage einigten. In der Tora wird sichtbar, dass priesterliche und nichtpriesterliche Gruppen, Rückkehrer und Daheimgebliebene zu einem Kompromiss fanden. Neben den Tempel tritt das Gesetz als Israels Mitte − das sichert Laientheologen Mitsprache und Gestaltungsmöglichkeiten. Der Tempel aber ist der Ort der ausschließlichen Präsenz JHWHs − hier bringen Priester und Rückkehrer alte Jerusalemer Traditionen wieder zur Geltung. In der Gestalt Abrahams als Paradigma für das Leben in der Fremde werden die Angehörigen der Diaspora in die Gemeinschaft integriert und gleichzeitig zur Abgrenzung von allem Fremden verpflichtet. Manche unüberbrückbaren Widersprüche innerhalb des Tora-Textes sind nur durch seinen Kompromiss-Charakter zu erklären (so E. Blum, Esra, 180−184). Es sind vor allem das Esra- und das Nehemiabuch, die das Tora-Ideal erläutern und damit zeigen, wie die Tora ihren normativen Charakter erhielt und wie dieser im Idealfall umzusetzen war. In Neh 8−10 wird geschildert, wie dem Volk auf eigenen Wunsch die Tora vorgelesen wird, was in ein großes Fest mündet. Danach macht sich das Volk eigenständig daran, anstehende Probleme auf der Tora-Grundlage zu lösen. Der Impuls der Tora lautet: „Wie Israel einst war, wollen wir wieder sein“. Die Träger der Tora-Komposition formulieren dies als ideale Szene, die kaum historisch ist, aber das Engagement der führenden Kreise Judas/ Yehûds für eine Tora-Republik deutlich macht. Ähnlich aufschlussreich sind die Ereignisse in Neh 5,1−13. Hier führt der Statthalter Nehemia Maßnahmen zur Umschuldung und Bodenreform durch, die in verschiedenen gesetzlichen Abschnitten der Tora vorgeschrieben sind. Da es sich nicht um exakte Umsetzungen der Gesetze handelt, sondern die Durchführung der Situation angepasst wird, zeigt sich: Es kommt von nun an darauf an, aus eigener Einsicht dem Geist der Tora zu entsprechen, nicht ihren Buchstaben blind zu folgen. Sowohl das Esra- als auch das Nehemiabuch nehmen für die letztliche Durchsetzung der Tora als Gesetz Israels und Judas/ Yehûds die Initiative des persischen Großkönigs in Anspruch (Neh 1; Esr 7). Ob es eine solche „Reichsautorisation“ (→ Kap. 3.5.4) gegeben hat, lässt sich derzeit nicht sicher klären. Eine verfas-
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sungsmäßige und rechtliche Einigung Judas/Yehûds lag auf jeden Fall im persischen Interesse. In Esr-Neh dient der Verweis auf großkönigliche Unterstützung zwei Zielen: Zum einen können die Maßnahmen Esras und Nehemias und ihrer Unterstützer auf diese Weise zusätzlich legitimiert werden. Zum zweiten wird hier die Tora JHWHs bezeugt und beglaubigt: Selbst der fremde Herrscher erkennt den Anspruch JHWHs auf Israel an (anders als der Pharao von Ex 1−14!). Was im Auszug aus Ägypten begann, kommt somit im perserzeitlichen Juda zum Ziel. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Esr 1,1−3,13. Inwiefern kann man sagen, dass hier der Exodus aus Ägypten neu inszeniert wird?
2. Lesen Sie Esr 2,1−35. Welche Funktion hat diese Liste von Heimkehrern? 3. Lesen Sie Esr 6,19−22. Mit welchem Fest wird hier die Einweihung des Zweiten Tempels verknüpft? Verschaffen Sie sich einen Überblick über dieses Fest im AT anhand der Lektüre von Ex 12−13; Jos 5; 2 Kön 23; 2 Chr 30.
4. Vergleichen Sie die Gesetzesverlesung in Neh 8,1−22 mit Ex 24; Jos 8; Jos 24; 2 Kön 23 und notieren Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
5. Mit welchem Fest wird die Gesetzesverlesung Neh 8,13−18 abgeschlossen? 6. Lesen Sie Neh 51−13 und vergleichen Sie Nehemias Maßnahmen mit den Vorschriften in Lev 25,25−38; Dtn 15,2. Was wird umgesetzt und was nicht?
7. Eignen Sie sich die Geschichte der Pentateuch-Forschung an: E. Zenger, Einleitung, 74−132.
8. Bei der perserzeitlichen Formulierung der Tora wird die Gestalt des Mose noch einmal erheblich aufgewertet. Zeichnen Sie die Bedeutung des Mose nach, wie sie in Ex 19,9; 33,11; Num 12,8; Dtn 34,11 ausformuliert wird.
9. Vergleichen Sie Ex 33,18−23 mit Num 12,6−8a. Was fällt Ihnen auf ? Warum bleiben diese beiden Wahrnehmungen Moses unausgeglichen nebeneinander stehen?
10. Vergleichen Sie die ältere Erzählung Gen 16,1−4 mit der jüngeren Version Gen 21,1−18. Belegen Sie folgende Wahrnehmung: „In den älteren Erzählungen sind die Hauptfiguren … Symbolgestalten: Abraham und Jakob etwa stehen für das ganze Volk: … was von ihnen erzählt wird, dient der Darstellung der jeweiligen politischen Option, und
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Literarhistorische Vertiefung
um dieses Ziel zu erreichen, werden von diesen Gestalten mitunter auch Handlungen erzählt, die die spätere Rezeption irritieren und daher korrigiert werden. Die umfassendste Überarbeitung hat dabei neben Mose die Gestalt des Abraham erfahren … Die Tora-Komposition entwirft in Gen 20– 22 das Bild eines moralisch tadellosen, … Frommen.“ (W. Oswald, Staatstheorie, 220)
4.4.3 kein Bündnis mit den Fremden
Joseph und Ruth Bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Tora-Aussagen zur Geschichte Israels und zu seinem Gesetz gibt es doch eine gewisse Übereinstimmung darin, dass Israel sich nach Möglichkeit von allem „Fremden“ fernhalten soll. Als Zusammenfassung dieser Tendenz kann Ex 34,12 gelten: 12 Hüte Dich, mit den Bewohnern des Landes, in das du kommst, ein Bündnis zu schließen damit sie dir nicht zum Fallstrick werden, wenn sie mit dir zusammen wohnen.
Joseph: Israel und Ägypten
Die Erfahrungen aus der Geschichte seit der assyrischen Zeit werden also umgesetzt in eine religiös begründete Abgrenzungspolitik. Ihr Maßstab ist der Monotheismus mit seinen Riten. Die Landesbewohner werden innerhalb der Tora meist mit der Chiffre „Kanaanäer“ bezeichnet, was pauschal alle Nicht-Israeliten auf israelitsch-judäischem Boden meint. Explizit erwähnt werden die ostjordanischen Moabiter und Ammoniter (Dtn 23,3): Sie gelten definitiv als nicht bündnisfähig. Zusätzlich zum Monotheismus dient auch die Beschneidung als Unterscheidungsmerkmal − sie schließt Philister, Phönizier, Griechen und (tendenziell) Ägypter vom Kontakt aus. Gegen diese radikale Abgrenzungspolitik erhoben sich in persischer Zeit jedoch auch kritische Stimmen. Verschiedene Literaturwerke optieren für eine Integration der Fremden. Dies ist der gemeinsame Nenner der sonst sehr unterschiedlichen Erzählungen von Joseph (Gen 37−50), Jona, Ruth und Hiob. Das älteste Werk dieser „fremdenfreundlichen“ Literatur, das als einziges Eingang in die Tora gefunden hat, ist die Josephsgeschichte (Gen 37−50). S. Beyerle, Joseph und Daniel – zwei „Väter“ am Hofe eines fremden Königs, in: A. Graupner u. a. (Hg.), Verbindungslinien (FS W.H. Schmidt), Neukirchen-Vluyn 2000, 1–18. W. Dietrich, Die Josephserzählung als Novelle und Geschichtsschreibung. Zugleich ein Beitrag zur Pentateuchfrage, Neukirchen-Vluyn 1989 (BThSt 14). R. G. Kratz, Komposition, 281–286.
Die Literatur der Perserzeit (539–333 v. Chr.)
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A. Meinhold, Die Gattung der Josephsgeschichte und des Esterbuches: Diasporanovelle, in: ZAW 87 (1975), 306–324. K. Schmid, Die Josephsgeschichte im Pentateuch, in: J. C. Gertz u. a. (Hg.), Abschied vom Jahwisten, Berlin/New York 2002 (BZAW 315), 83–118.
Die JosephsgeschichteDie Erzählung vom Schicksal Josephs, Jakobs zweitjüngstem Sohn, schließt die „Väter“-Geschichte ab und bildet die Überleitung von der „Väter“- zur Exodusgeschichte: Sie erklärt, warum Jakobs Nachkommen nach Ägypten kamen. Die Erzählung ist in sich überwiegend einheitlich, Gen 38 ist allerdings ein Einsprengsel, das mit der Josephserzählung nichts zu tun hat. Gewisse Unebenheiten in Kapitel 37 und die eigentümliche Dramaturgie der Josephserzählung bieten nicht genügend Anlass, hier mit einer mehrstufigen Entstehung zu rechnen (ausführlich K. Schmid, Josephsgeschichte, 83–118). Die Josephsgeschichte ist als eine Art Kurzroman (auch „Novelle“) gestaltet und erzählt in kunstvoller Verklammerung zwei Geschichten, die Geschichte Josephs und seiner Brüder und die Geschichte Josephs in Ägypten: Gen 37: Exposition
Josephs Träume → der Konflikt mit seinen Brüdern → Brüder verkaufen Joseph nach Ägypten
Gen 39–41: 1. Teil
Josephs Erfolg in Ägypten
Gen 42–45: 2. Teil
Josephs Versöhnung mit seinen Brüdern
Gen 46–50: Schluss
Jakob zieht nach Ägypten; Versöhnung der Familie
Literarisch und theologisch ist die Josephsgeschichte ein Fremdkörper im Pentateuch. Literarisch handelt es sich um einen planvoll und straff komponierten Erzählzusammenhang, der ohne Unterbrechung 14 Kapitel umfasst. Theologisch unterscheidet sie sich vom restlichen Pentateuch durch eine eigentümliche Indirektheit göttlichen Handelns. Gott tritt nie direkt auf und spricht auch nicht, aber alle Beteiligten, einschließlich der Ägypter, erkennen an, dass er die Ereignisse lenkt und zum Guten wendet (41,16.25.32.38; 45,8; 50,20). Anders als in den übrigen Pentateuch-Erzählungen ist die Dramaturgie meist von allgemeinen moralischen Werten geprägt, nicht von genuin israelitischen Normen. Betrachtet man die Josephserzählung für sich, stellt sich heraus, dass sie die Vätergeschichte und auch die Exodus-Erzählung kennt, aus deren Erzählinventar aber gewissermaßen eine Art „Ableger“ konzipiert, in dem zwei Themen narrativ durchgeführt werden. Erstens: Israel bleibt auch in der räumlichen Trennung und sogar in tödlichen Konflikten als Ganzes das Volk der Söhne Jakobs. Dafür stehen zwei Texte. In Gen 45 vergibt Joseph seinen Brüdern, dass sie ihn verkauft haben, und er erklärt dies in Gen 50, 20–21 sogar mit dem Plan Gottes. In Gen 48 segnet Jakob Josephs Söhne Ephraim und Manasse und nimmt sie in den Kreis seiner Söhne auf. Die Identität Israels als Söhne Jakobs ist also unzerstörbar. Das zweite Thema ist die Beheimatung in der Fremde. Die Josephserzählung zeichnet Ägypten nicht als brutalen Sklavenhalterstaat, wie es die Exodus-Ge-
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Literarhistorische Vertiefung
schichte tut, sondern als Bürokratie mit einem einsichtigen und weisen Herrscher an der Spitze. Unter diesen Bedingungen ist Beheimatung und sogar Erfolg in der Fremde möglich. Die Josephserzählung ist somit die erste Ausprägung der sog. „Diasporanovelle“; einer Gattung, zu der auch das Ester- und das Danielbuch gehören.
Erfolg außerhalb Israels
Die Josephserzählung leistet somit weit mehr als die Erklärung, wie Israel nach Ägypten kam. Wo genau in der Entstehung des Pentateuch sie zu verorten ist, lässt sich schwer beantworten. Die Josephserzählung gebraucht − wie P in der Gen − die Bezeichnung „Elohim“ für Gott. Sie lässt auch keinen expliziten Bezug auf inhaltliche Normen der Tora erkennen. Das spricht für eine eher frühe Abfassung, um das 6. Jh. P könnte die Josephserzählung dann bereits in ihren Entwurf integriert haben. Andererseits ist das Ägypten der Josephserzählung deutlich nach dem Muster der persischen Reichsorganisation gezeichnet. Die beiden Frauenfiguren in der Josephserzählung, die intrigante Frau des Ägypters Potiphar und Josephs ägyptische Ehefrau Asenet, deuten an, dass sich die Josephserzählung in der Eheschließungsfrage engagiert. Diese Beobachtungen weisen eher in das 5. Jh. v. Chr. In jedem Fall bietet die Josephserzählung ein Modell für ein gelingendes Leben außerhalb Israels und unter Gottes Führung. Die Integration der Josephserzählung in die Tora lässt ein solches Leben zu einer gottgewollten Option werden. Gleichwohl bleibt das „Modell Joseph“ von der eigentlichen Beziehung Israels zu JHWH ausgeschlossen.
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie die ganze Josephserzählung (ohne Kapitel 38). Welche Sachverhalte werden zweimal erzählt?
2. Gliedern Sie die Josephserzählung nach dem Motiv der Kleidung. 3. Nach Gen 41,45 heiratet Joseph die Tochter eines ägyptischen Priesters aus der Stadt On (Heliopolis). Informieren Sie sich über diesen wichtigen Kultort. Was könnte es bedeuten, dass Joseph ausgerechnet diese Ehe eingeht? Eine Weiterdichtung dieses Motivs bietet der hellenistische Roman „Joseph und Asenet“. Lesen Sie ihn (Text: C. Burchard, Joseph und Asenet, in: H. Lichtenberger u. a. (Hg.), Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Bd. 2.4, Gütersloh 1982) und vergleichen Sie ihn mit seiner biblischen Vorlage.
Die Literatur der Perserzeit (539–333 v. Chr.)
Auch die Ruthgeschichte thematisiert das Verhältnis zwischen Israel und den Fremden in Form einer romanartigen Erzählung über die Vergangenheit. Anders als die Josephserzählung geht es im Ruthbuch aber nicht um Israeliten im Ausland, sondern um Ausländer in Juda. Außerdem handelt die Geschichte nicht von Israels Gründungsgeschichte, sondern spielt in einer anderen historischen Epoche.
229
Ruth: Die Fremden in Israel
G. Braulik, Das Deuteronomium und die Bücher Ijob, Sprichwörter, Rut. Zur Frage früher Kanonizität des Deuteronomiums, in: E. Zenger (Hg.), Die Tora als Kanon für Juden-Christen, Freiburg/Basel/Wien 1999 (HBS 10), 61–138. J. Ebach, Freunde in Moab – Freunde aus Moab: Das Buch Ruth als politische Literatur, in: Ders./R. Faber (Hg.), Bibel und Literatur, München 1995, 277–304. M. Köhlmoos, Ruth, Göttingen 2009 (ATD 9/3).
Das RuthbuchDas Ruthbuch enthält nur vier Kapitel und ist damit das kürzeste Erzählwerk des Alten Testaments. In den verschiedenen Fassungen des (alttestamentlichen) Kanons steht Ruth an unterschiedlicher Stelle: Im hebräischen Tanak findet sich Ruth im Kanonteil Ketubim/Schriften (meist zwischen Prov und Hld). Dagegen wird in der LXX und im christlichen AT Ruth zwischen Ri und 1 Sam unter die Geschichtsbücher gezählt. Erzählt wird im Ruthbuch von einer Familie aus Bethlehem, die wegen einer Hungersnot ins ostjordanische Moab auswandert. Nachdem alle Männer der Familie gestorben sind und die Hungersnot vorbei ist, kehrt die judäische Witwe Naomi mit ihrer moabitischen Schwiegertochter Ruth nach Bethlehem zurück (Kap. 1). Dort gewährt ein Verwandter Naomis, Boas, zunächst den unmittelbaren Lebensunterhalt der beiden Frauen (Kap. 2) und verspricht Ruth, immer für sie zu sorgen (Kap. 3). Nach einer juristischen Verhandlung über Naomis Erbe heiraten Ruth und Boas. Ihr (erstes) Kind wird von Naomi als Kind angenommen und ist der Großvater Davids (Kap. 4). Das Ruthbuch stammt mit Sicherheit aus (spät-)persischer Zeit und ist eines der wenigen alttestamentlichen Bücher, die so gut wie nicht bearbeitet wurden. Lediglich der Anfang der Erzählung 1,1 sowie die abschließende Genealogie 4,17–21 sind spätere Fortschreibungen.
Dem Ruthbuch ist nicht an der heilsgeschichtlichen Begründung Israels als Gottesvolk und seiner Normen und Werte gelegen, wie dies in den Quellenschriften der Tora und noch in der Josephserzählung der Fall ist. Vielmehr soll die Geschichte von Ruth, Boas und Naomi ein Beispiel für ein toragemäßes Leben geben, das Fremde in und mit Israel führen können. Voraussetzung dafür ist zweierlei: Die Zustimmung der Fremden zu den Werten Israels und die Anerkennung dieser Zustimmung durch Israel. Dies wird an Ruth durchbuchstabiert: Sie schwört ihrer Schwieger-
Beispiele für toragemäßes Leben
230
Literarhistorische Vertiefung
Glaube gilt mehr als Herkunft
mutter feierlich, zu ihr, zu ihrem Volk und zu JHWH gehören zu wollen. Dieser Übergang von der moabitischen zur judäischen Identität zeigt sich darin, dass Ruth in den Genuss spezifisch judäisch-israelitischer Sozialrechte kommt: der Nachlese (Kap. 2), der Grundstückslösung und der Eheschließung mit einem Judäer (Kap. 4). Boas und die Einwohner Bethlehems erkennen Ruths Integration an. Brennpunkt des Ruthbuches ist die in spätpersischer Zeit heiß umstrittene Frage der Eheschließung zwischen judäischen Männern und ausländischen Frauen (→ Kap. 3.5.4). In Esra-Nehemia wird sie aufgrund von Ex 34; Dtn 23 untersagt, bestehende „Mischehen“ sogar aufgelöst (Esr 9−10; Neh 13). Im Ruthbuch tritt die Ausländerin Ruth (1,17−18) in den Bund Israels mit JHWH ein und kann daraufhin nicht mehr als Ausländerin gelten. Das Ruthbuch wertet den Glauben somit höher als die Herkunft. Allerdings geht das Ruthbuch über die Ehefrage hinaus. Boas und die Bewohner Bethlehems erfüllen die Tora-Vorschriften ganz selbstverständlich und im Rahmen einer demokratischen Stadtverfassung. Ru 4 ist ein absichtlicher Gegenentwurf zu Esr 9−10. In der Perspektive des Ruthbuches bedarf es keiner (neuerlichen) Einübung in die Tora durch einen persisch autorisierten Statthalter/Hohepriester. Vielmehr ist Israel selbst in der Lage, die Tora zu erfüllen und über Zugehörigkeit zu entscheiden.
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie das Ruthbuch ganz durch. 2. Lesen Sie Ex 34,16; Dtn 7,13; Dtn 23,3−6. Mit welcher Begründung werden hier gemischte Ehen verboten?
3. Vergleichen Sie die Bestimmungen zur Nachlese in Lev 19,9−10; Dtn 24,19. Inwiefern bilden beide Vorschriften den Hintergrund zu Ru 2?
4. Informieren Sie sich über die Institution der Leviratsehe anhand Dtn 25,5−10. Wie verhält sich Ru 4 zu diesen Vorschriften?
5. Informieren Sie sich anhand eines Bibel-Lexikons über Moab. Warum erzählt das Ruthbuch von einer Moabiterin?
Die Josephserzählung und das Ruthbuch sind somit ebenso den Normen und Werten des perserzeitlichen Juda verpf lichtet wie die Tora, Esra und Nehemia: dem Glauben an den einen Gott, der
Die Literatur der Perserzeit (539–333 v. Chr.)
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Erinnerung an seine Geschichte mit Israel und den Vorschriften des Gesetzes. Diese normieren Identität und bieten die Grundlage für gelingendes Leben. Anders als bei Esra und Nehemia jedoch ist bei Joseph und Ruth die Lebensgestaltung weder an das Land noch an die Herkunft gebunden: Überall können Anhänger JHWHs leben (Joseph), jede und jeder kann dazugehören (Ruth). In diesen Entwürfen drückt sich auch eine gewisse kritische Distanz zu den Persern aus, insofern es ihrer (politischen) Hilfe nicht bedarf, damit Israel toragemäß leben kann. Die späteren Bücher Daniel und Ester zeigen ähnliche Ansichten. Auch das prophetische Buch Jona und das weisheitliche Buch Hiob (→ Kap. 5.6) entstammen dieser Tradition, sind aber wahrscheinlich erst in hellenistischer Zeit verfasst worden. Im Jonabuch werden die Fremden − die verhassten Assyrer − als fähig zu Einsicht, Buße und Umkehr geschildert und werden darin den oft unwilligen Israeliten/Judäern zum Beispiel. Im Hiobbuch ist es ein Ausländer, der selbst im schwersten Leiden nicht aufgibt und am Schluss − als einziger Fremder des AT! − eine Begegnung mit JHWH, dem Gott Israels, erlebt.
Daniel, Ester, Jona und Hiob
Ertrag: Die Perserzeit als Entstehungszeit des Alten Testaments E. Blum, Volk oder Kultgemeinde, in: KuI 10 (1995), 24–42. R. G. Kratz, Die Entstehung des Judentums. Zur Kontroverse zwischen E. Meyer und J. Wellhausen, in: Ders., Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels, Tübingen 2004, 6–23. H. Liebeschütz, Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber, Tübingen 1967 (SWALBI 17).
Zugespitzt lässt sich sagen, dass das Alte Testament, wie wir es heute kennen, seine Grundgestalt in persischer Zeit erhielt. Die Tora bekam ihre Autorität als normative Offenbarungsschrift, der alle anderen Werke als Auslegung beigeordnet sind. Als solche auslegenden Werke sind nicht nur Esra-Nehemia, Ruth, Jona und Hiob zu verstehen, sondern auch Jos−2 Kön, das Corpus der Prophetenbücher Jes-Mal (→ Kap. 5.4) und die Psalmen (→ Kap. 5.5). Der Glaube an den einen Gott, der sich allein in der Tora offenbart, ist das grundlegende Kennzeichen des jüdischen Glaubens. Insofern darf die Perserzeit als Gründungsepoche des Judentums gelten. Indes ist das frühe Judentum der Perserzeit noch weit vom Judentum moderner Prägung entfernt.
4.4.4
232
Literarhistorische Vertiefung
„Frühes Judentum“, „antikes Judentum“ – Das Judentum im Spiegel der ForschungEs ist eine bis heute gültige Erkenntnis der Exegese des späteren 19. Jhs., dass das Judentum als Religion seine Wurzeln in der Perserzeit hat. Bis heute jedoch wird kontrovers diskutiert, ob es überwiegend innere Entwicklungen Israels und Judas waren, die zur Entstehung des Judentums führten, oder ob dieses hauptsächlich ein Produkt seiner Umwelt ist. Die alttestamentliche Exegese bevorzugte bis in die Mitte des 20. Jhs. die Ansicht, dass die Eigendynamik des Glaubens an JHWH zur Entstehung des Judentums führte. Allerdings wurde diese Entwicklung negativ gesehen. Das perserzeitliche Judentum galt als eine in Gesetzlichkeit, Fremdenfeindlichkeit und Ritualismus erstarrte Sekte, die alle positiven Impulse ihres früheren Glaubens, wie persönliche Frömmigkeit und „natürliche“ Gottesgemeinschaft, vergessen hatte. Exemplarisch kann hier das Votum von Julius Wellhausen stehen: „Der ganze Kultus ist hier gesetzlich geregelt. (…) Die alten Bräuche werden entgiftet und entseelt; was übrig bleibt, sind leere Formen, tote Werke, die nicht an sich, sondern nur dadurch Sinn und Wert haben, dass sie von Gott befohlen sind, und genau nach Vorschrift verrichtet werden. (…) Der Widerspruch, dass der Gott der Propheten sich jetzt in einer kleinlichen Heils- und Zuchtanstalt verpuppte und statt einer für alle Welt giltigen Norm der Gerechtigkeit ein streng jüdisches Ritualgesetz aufstellte … war für diese Zeit praktisch gerechtfertigt.“ (Julius Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, 1894 (Nachdr. Berlin/New York 2004, 175))
Demzufolge wurde das nachexilische Judentum oft als „Spätjudentum“ bezeichnet, das zu Recht von Jesus kritisiert und vom Christentum abgelöst wurde (vgl. ausführlich H. Liebeschütz, Judentum). Diese Sicht auf die Geschichte des Judentums ist nicht nur sachlich falsch, sondern durch ihren antisemitischen Unterton äußerst fragwürdig (vgl. E. Blum, Volk). Nimmt man die Beobachtung ernst, dass man erst zur Perserzeit vom Judentum sprechen kann, bietet es sich an, je nach Perspektive vom „frühen Judentum“ oder „antiken Judentum“ zu sprechen. Die Bezeichnung „frühes Judentum“ legt den Schwerpunkt auf innerjüdische Entwicklungen, die dann in weitere Phasen des Judentums führen (rabbinisches Judentum, mittelalterliches Judentum, neuzeitliches Judentum, modernes Judentum). Der Begriff „antikes Judentum“ deutet an, dass die frühe oder Entstehungsphase des Judentums in den größeren Kontext der Antike einzuordnen ist. In jedem Fall ist das nachexilische Judentum nicht als letzte, womöglich als Degenerationsphase einer vorexilischen Geschichte zu betrachten, sondern das vorexilische Israel und Juda definieren sich unter perserzeitlichen Bedingungen neu.
Judentum als Auslegungsgemeinschaft
Das Judentum der Perserzeit hatte zwar seine Grundlage im Monotheismus und in der Tora, war aber in sich sehr differenziert. Wie viele Menschen tatsächlich torakonform dem einen Gott JHWH anhingen, lässt sich nicht sicher sagen. Ein „Judentum“,
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Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
das dem Bild in Esra-Nehemia oder auch Ruth entspricht, wurde vermutlich vor allem in Jerusalem und seinem unmittelbaren Umfeld verwirklicht, also von nur einigen Tausend Personen. Die interne Differenzierung des entstehenden Judentums verdankte sich nicht nur politischen und sozialen Gegebenheiten, wie der Akzeptanz der persischen Oberhoheit und der daraus entwickelten Verfassung Judas/Yehûds, sowie der alten Konkurrenz zwischen Juda-Jerusalem und Israel-Samaria. Der Kompromisscharakter der Tora begünstigte und förderte auch immer wieder neue Diskussionen um ihre Auslegung und Anwendung: „Mit der kühnen Fokussierung maßgeblicher Überlieferungen in einem Tora-Werk und dessen offizieller ‚äußerer’ Anerkennung war in der Tat ein konsensfähiges und identitätsstiftendes Referenzdokument geschaffen und der wohl entscheidende Schritt auf dem Weg der biblischen Kanonbildung getan. Und nicht zuletzt waren dabei gleichsam polyphone … Strukturen in dieses Basisdokument des Judentums eingeschrieben, dem eben daraus ein eminentes hermeneutisches Potential erwuchs. Fundamental ist in dieser Hinsicht eine elementare Konsequenz für die Tora-Rezeption: der Zwang zur Auslegung. Wenn die autoritative Basisurkunde in rechtlichen und rituellen Fragen unterschiedliche, ja gegensätzliche Bestimmungen enthält, wird ‚Schriftgelehrsamkeit‘ zur schieren Notwendigkeit.“ (E. Blum, Esra, 204)
Die nachfolgende Geschichte des Judentums ist an ihrer Wurzel von immer neuen Tora-Auslegungen bestimmt und gekennzeichnet. Neben der Tora hatte das nachexilische Judentum noch eine zweite identitätsstiftende Einrichtung, die sie dem persischen Großkönig verdankte. Der (Zweite) Tempel in Jerusalem war das sichtbare Zentrum des Judentums und der Ort der Anwesenheit und Herrschaft JHWHs. Mit ihm und durch den dort begangenen Kult verwirklichte sich für die Anhänger JHWHs über alle Differenzen hinweg noch einmal die altorientalische Einheit von Gott, Volk und (persischem Groß-)König mit allen ihren Konsequenzen für das Leben des Einzelnen.
der Tempel
Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
4.5
Die kulturelle Matrix der hellenistischen Zeit
4.5.1
J. J. Collins, Jewish Cult and Hellenistic Culture. Essays on the Jewish Encounter with Hellenism and Roman Rule, Leiden 2005 (JSJ.S 100). H.-J. Gehrke, Geschichte des Hellenismus, München 1990.
234
Literarhistorische Vertiefung
E. Haag, Das hellenistische Zeitalter. Israel und die Bibel im 4. bis 1. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 2003 (BE 9). M. Hengel, Judentum und Hellenismus. J. Maier, Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des Zweiten Tempels, Würzburg 1990 (NEB.E3). K. Schmid, Literaturgeschichte, 177–211.
Der Zusammenbruch des Perserreiches unter der Eroberung Alexanders d. Gr. (333 v. Chr.) bedeutete für den Vorderen Orient, besonders für Palästina, einen eminenten Umbruch: Die weltumfassende politisch-kulturelle Ordnung des Alten Orients ging verloren und wurde durch eine fremde Ordnungsmacht ersetzt. Die Griechen brachten mit der hellenistischen Kultur außerdem ein neues religiöses Modell mit, das vor allem für Palästina und das frühe Judentum zur großen Herausforderung wurde. Das Judentum stand für lange Zeit vor der Alternative „Assimilation oder Anpassung“. Die wechselvolle Geschichte der hellenistischen Herrschaft in Palästina (→ Kap. 3.6) führte dabei zu immer neuen Variationen des Problems „Judentum und Hellenismus“. Die griechische Kultur bis zu Alexander dem GroßenAn der Geschichte des (alt-)orientalischen kulturellen Raums vom 9.–4. Jh. v. Chr. waren die Griechen nicht maßgeblich beteiligt, obwohl es spätestens seit dem 7. Jh. intensive kulturelle Kontakte gab. Dadurch nahm die griechische Kultur eine andere Entwicklung als der Orient. Die elementare Differenz zwischen „Kosmos“ und „Chaos“, die das altorientalische Denken prägte (→ Abb. 4.2.1), spielte für die Griechen keine Rolle. Die griechische Leitdifferenz zur Bewältigung und zum Verstehen des Lebens lautete eher „Gott“ (bzw. Götter) und „Welt“. Die religiöse Grunderfahrung war häufig die, dem unberechenbaren Willen der Götter ausgeliefert zu sein. Der (wie im Orient) auf Opfer und Gebet zentrierte Kult zielte darauf, die Götter zufrieden zu stellen; das Orakelwesen, das ebenfalls im Orient gepflegt wurde, sollte den Willen der Götter im Vorweg in Erfahrung bringen. Identitätsstiftend in diesem Paradigma war vor allem die Tradition der Epen Homers (Ilias und Odyssee). In ihnen werden – in Form einer Kriegserzählung – Mut, Tapferkeit, Ehre, Liebe zu Freunden, Ehefrau und Kindern, Treue und Verlässlichkeit gepriesen, aber auch List und das Recht des Stärkeren. Die Texte geben ein Modell zum Bestehen des Lebens durch Nachahmung des unsterblichen Helden. Alle führenden Familien Griechenlands leiteten sich genealogisch von Helden der Homerischen Epen oder ähnlichen Heroen (Herakles, Perseus) her. Außerdem entwickelten griechische Denker der klassischen Epoche (6.–4. Jh. v. Chr.) weitere Modelle zum Verstehen der Welt. Dazu gehört vor allem das Verstehen der Gesetzmäßigkeiten der Natur (griech. Naturphilosophie), der Gesellschaft (sog. Sophisten; Plato, Aristoteles) und der Geschichte (Herodot, Thukydides).
Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
Unter den klassischen Denkern und Schriftstellern Griechenlands erwies sich Plato (427–347 v. Chr.) als der einflussreichste. Seine Texte traten im griechischen Bildungskanon neben die Epen Homers und beeinflussten das Denken und Handeln der Antike bis in die christliche Zeit. Bei Plato wird die Leitdifferenz zwischen Gott und Welt rational-theologisch durchbuchstabiert. Extrem vereinfacht lautet seine Lehre, dass die Welt und mit ihr alle Materie wandelbar und vergänglich ist, Gott aber unwandelbar und unvergänglich. Der Mensch gehört mit seinem Körper und mit seinen Gefühlen zur vergänglichen Welt, verfügt aber durch seinen Geist über ein Instrument, das diesen Gegensatz verstehen kann, und mit seiner unsterblichen Seele über ein Wesensmerkmal, das unabhängig vom vergänglichen Körper weiterleben kann. Wenn der Mensch durch Erkenntnis Einsicht in das in seiner Seele vorhandene Gute, Wahre und Schöne erhält, dann kann sich die Seele nach dem Tod mit den Göttern vereinigen, zumindest aber zu Lebzeiten den Unberechenbarkeiten der Welt souverän gegenüberstehen. Zur Leitdifferenz von Gott und Welt trat also im griechischen Denken eine zweite, nämlich diejenige von „Leben“ und „Tod“. Versuchte das altorientalische Denken die Gegensätze ins Gleichgewicht zu bringen, tendierte das griechische Denken der klassischen Phase dazu, sie zu überbrücken. Neben platonischem Denken erwiesen sich die sog. „Mysterienreligionen“ als besonders populär, in denen Unsterblichkeits- und Auferstehungsrituale zelebriert wurden. Zu Beginn der hellenistischen Epoche ab dem 4. Jh. war das griechische Weltbild also stark anthropozentrisch geprägt, wobei gilt: „Wie die Götter konnte der Mensch niemals sein – auch für Plato nicht. Aber er war … weit gekommen: Zusammengesetzt aus Unendlichem und Sterblichem, strebte jetzt ein Teil von ihm danach, sich vom Sterblichen zu lösen, was durch eigene Kraft oder durch die Hilfe der Götter möglich war.“ (W. Dahlheim, Die griechisch-römische Antike. Bd. 1 Herrschaft und Freiheit: Die Geschichte der griechischen Stadtstaaten, Paderborn u. a. 31997 (UTB 1646), 269)
Ein weiterer Unterschied zwischen griechischer und altorientalischer Kultur besteht darin, dass die Griechen keine „Staatsreligion“ kannten wie der Alte Orient. Der partikularen Stadtstaatenorganisation des klassischen Griechenland entsprach eine Differenzierung in regionale und lokale Heiligtümer. Unter dem Druck der Perserkriege (5. Jh. v. Chr.) kam es zwar zu einer Einigung des politischen Handelns der Griechen und infolgedessen auch zu einem Aufschwung überregionaler Kulteinrichtungen (Olympische Spiele, Orakel von Delphi usw.) und bestimmter griechischer Gottheiten. Vor allem Zeus rückte endgültig in die Rolle des griechischen Hauptgottes auf. Trotzdem kam es in Griechenland niemals zu einer Zentralisierung von Religion und Politik. Überdies kannte das klassische Griechenland kein Priestertum als soziologisch von anderen Bürgern unterscheidbare Klasse. Das Priestertum war ein privilegiertes Amt, das die Mitglieder einer Kultgemeinschaft einem ihrer herausragenden Mitglieder anvertrauten und das keine besonderen Voraussetzungen erforderte.
235
236
Kulturwandel
Herrscherkult
Literarhistorische Vertiefung
Als Alexander d. Gr. 333 v. Chr. das Perserreich eroberte, kam es im Orient somit zu einem (gewaltsamen) Aufeinanderprall zweier unterschiedlicher Kulturen. Unter Alexander und seinen Nachfolgern fand dann in gegenseitiger Beeinf lussung eine Verschmelzung der griechischen und der orientalischen Kultur statt. Diese neu entstandene (Misch-)Kultur bezeichnet man als „Hellenismus“. Eine Gräzisierung des Orients vollzog sich über die Sprache. Die hellenistischen Herrscher setzten in allen Gebieten das Griechische als Verwaltungs-, Verkehrs- und Bildungssprache durch. Die anderen Sprachen wurden sukzessive verdrängt und hielten sich allenfalls als mehr oder weniger regionale Volkssprachen, so in Palästina und Syrien das Aramäische. In der Antike fand der Sprach- und Wissenserwerb in der höheren Bildung durch das (Auswendig-)Lernen bestimmter Texte statt, die den Rang von Klassikern hatten; damit vollzog sich nicht nur sprachliche Kompetenz, sondern es wurden auch Normen und Werte verinnerlicht (→ Kap. 4.2.1). Mit der Zeit verdrängten die griechischen Bildungsklassiker wie Homer, Plato u. a. den mesopotamischägyptischen Bildungskanon, dessen Kenntnis in reine Gelehrtenkreise abgedrängt wurde. In Palästina fand mit der Tora, den prophetischen und übrigen Schriften ein ähnlicher Prozess statt. Die schriftgelehrten Kreise des palästinischen Judentums standen damit vor der Aufgabe, Normen und Werte des JHWH-Glaubens in eine sich kulturell wandelnde Welt zu vermitteln. Auf der anderen Seite wurde die griechische Kultur aber auch orientalisiert. Die Ptolemäer in Ägypten und die Seleukiden in Syrien-Mesopotamien, die nacheinander die Herrschaft über Juda und Palästina ausübten (→ Kap. 3.6.1; 3.6.2), traten in die Rolle der altorientalischen Großkönige ein. Die damit verbundene kultisch-religiöse Funktion wurde ausgeübt. In der Regel traten die Ptolemäer und Seleukiden als Wohltäter und Förderer von Kulten auf und stifteten Tempel bzw. unterstützten sie finanziell. Der eigentliche Kultvollzug wurde den Priestern überlassen. Gleichzeitig beanspruchten die hellenistischen Herrscher im Orient wenigstens der Tendenz nach eine quasi-göttliche Funktion. Erkennbar wird dies in den Beinamen, die sie sich als Thronnamen zulegen: Soter („Retter, Erlöser“), Theos („Gott“), Euergetes („Wohltäter“), Epiphanes („Erschienener Gott“). Dieser sog. „Herrscherkult“ ist der Versuch einer griechischen Interpretation altorientalischer Königstheologie. Er berücksichtigt indes nicht, dass die altorientalische Königstheologie nie in letzter Konsequenz die Göttlichkeit des Herrschers
237
Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
behauptet hatte, sondern den König allenfalls als Verkörperung eines Gottes, meist aber als Beauftragten oder Stellvertreter Gottes betrachtete. In dieser Herrscherrolle lag denn auch das größte Konfliktpotential der hellenistischen Reiche im Orient. Das frühe Judentum positionierte sich unterschiedlich gegenüber dem Hellenismus. Dabei spielten die jeweiligen politischen und sozialen Konstellationen eine erhebliche Rolle (→ Kap. 3.6). Außerdem dauerte die hellenistische Herrschaft über Juda und Palästina rund 300 Jahre und veränderte während dieser langen Zeit ihre Konturen. An den Entwicklungen der Perserzeit hielten die Juden innerhalb und außerhalb Palästinas fest: Der Monotheismus und die Orientierung an der Tora standen nicht in Frage. Allerdings boten das griechische Denken und die hellenistische Kultur noch mehrfach Anlässe zur Neuinterpretation der Tora; in Fortschreibungen bestimmter Textteile (Gen 2−6; Num 22−24), in der Übersetzung der Tora ins Griechische (Septuaginta) und in der Neuformulierung bestimmter Teile der Tora (sog. „rewritten Bible“: Henochliteratur, Jubiläenbuch, Testamente der Patriarchen). Hinsichtlich der vor allem in der Priesterschrift (→ Kap. 4.3.5) ausgedrückten Tendenz, im Perserreich das Ziel der Geschichte zu sehen, war ein neuer hermeneutischer Schlüssel nötig. Erst jetzt wurde die Tora verstärkt als „Urgeschichtsschreibung“, als „Darstellung eines urzeitlichen, mythischen Idealzustands“ (K. Schmid, Literaturgeschichte, 179) gelesen. In denselben Zusammenhang gehört der Aufschwung weisheitlicher Literatur (→ Kap. 5.6). In Prov 1−9; Teilen des Hiobbuches, dem Prediger Salomo, bei Sirach und in einigen Psalmen werden das Wesen Gottes und die Bestimmung des Menschen philosophisch reflektiert. Gott hat die Welt in Weisheit geschaffen, und es ist die Aufgabe des Menschen, diese Weisheit zu erkennen und ihr im Handeln zu entsprechen. In diesen Büchern findet eine Auseinandersetzung mit griechischer Philosophie statt. Schon seit der späten assyrischen Zeit hatte es immer wieder Gruppen gegeben, die aus theologischen Gründen vor einer zu engen politisch-wirtschaftlich-sozialen Kooperation mit den ausländischen Mächten warnten: Solche Zusammenarbeit wurde als Verrat an JHWH und als Gefahr für die Identität und das Bestehen Israels und Judas betrachtet. Aus dieser Tradition waren nicht nur die Bücher Exodus und Deuteronomium hervorgegangen, sondern auch die Komposition des „Deuteronomistischen Geschichtswerks“ (Jos−2 Kön, → Kap. 4.3.4) und die Prophetie (→ Kap. 5.4). Auch
Judentum und Hellenismus
kritische Stimmen
238
Literarhistorische Vertiefung
in persischer, verstärkt aber in hellenistischer Zeit äußerten sich in diesen Büchern kritische Stimmen zur Zeit. Dabei drückt sich in Jos−2 Kön Zeitkritik im Modus der Geschichtsschreibung aus, d. h. die aktuelle Situation wird in frühere Zeiten zurückgespiegelt. In der Prophetie vollzieht sich die Gegenwartsdeutung als Zukunftsvorhersage. In persischer Zeit lag der inhaltliche Schwerpunkt der entsprechenden Texte vor allem darauf, das Perserreich nicht für das Ziel der Geschichte zu halten und JHWH treu zu bleiben. In hellenistischer Zeit verschob sich der Fokus. Der Zusammenbruch des Perserreiches und die nur kurzfristige (Welt-)Herrschaft Alexanders d. Gr. führte zu einer grundsätzlichen Ablehnung menschlicher Weltherrschaftsansprüche. Vielmehr wurde im regelmäßigen Aufstieg und Fall der Großreiche das andauernde Gericht JHWHs über die Welt gesehen. In der hellenistischen Zeit entwickelte sich allmählich die Erwartung eines Gottesreiches. Am deutlichsten ausgestaltet ist diese eschatologische (endzeitliche) Zukunftshoffnung im Danielbuch, sie findet sich aber auch in Jes 56−66; Sach 9−14 und anderen Prophetentexten. In den Zusammenhang der anti-hellenistischen Erwartung einer heilvollen Zukunft unter JHWHs Führung gehört die Hoffnung auf einen Heilskönig („Messias“). Dieser, ein Nachkomme Davids, sollte im Auftrag JHWHs Heil, Frieden und Gerechtigkeit verwirklichen. Die Hoffnung auf einen neuen David bildete in hellenistischer Zeit ein Gegengewicht zur Erinnerung an Mose, wie sie die Tora gestaltet. Aus dem Umkreis dieses Denkens stammen einzelne Prophetentexte (Jes 9; 11; Mi 5), die Komposition des Psalmenbuchs (→ Kap. 5.5) und wahrscheinlich auch die Chronik. Den größten historischen Einschnitt innerhalb der hellenistischen Zeit bildeten der Makkabäeraufstand (166−164 v. Chr.) und die darauf folgende Errichtung des hasmonäischen Herrscherhauses (ab 160 v. Chr.): Erstmals nach mehr als vierhundert Jahren waren Juda und Teile Israels politisch wieder selbständig. Im Makkabäeraufstand flossen radikale Tora-Frömmigkeit, prophetischer Anti-Hellenismus und messianische Zukunftshoffnung zusammen. Spätestens hier wird deutlich, dass die Diskussionen, die die (alttestamentlichen) Texte hervorbrachten, nicht nur auf politisch-gesellschaftliche Konstellationen reagieren, sondern auch Handeln gestalten konnten. Wichtige Tendenzen der Literatur der hellenistischen Zeit sollen im Folgenden vertieft werden. Die Darstellung konzentriert sich auf die erzählende Literatur.
239
Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
Die nichtpriesterliche Urgeschichte (Gen 1–11*)
4.5.2
E. Blum, Studien, 278–286. A. Schüle, Der Prolog der hebräischen Bibel. Der literar- und theologiegeschichtliche Diskurs der Urgeschichte (Gen 1–11), Zürich 2006 (AThANT 86). E. Dafni, Gen 1–11 und Platons Symposion. Überlegungen zum Austausch von hebräischem und griechischem Gedankengut in der Klassik und im Hellenismus, in: OTE 19 (2006), 584–632. A. Hagedorn, „Who would invite a stranger from Abroad?“ The Presence of Greeks in Palestine in Old Testament Times, in: R. P. Gordon/J. C. de Moor (Hg.), The Old Testament in its World, Leiden 2005 (OTS 52), 68–93. R. G. Kratz, Komposition, 252–263. M. Witte, Die biblische Urgeschichte. Redaktions- und theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Genesis 1,1–11,26, Berlin/New York 1998 (BZAW 265).
Innerhalb der sog. „Urgeschichte“ (Gen 1−11) lassen sich priesterschriftliche von nichtpriesterschriftlichen Texten unterscheiden. Diese Texte galten lange Zeit als sehr alt, auf jeden Fall älter als P, und wurden als Teil der Pentateuchquelle J betrachtet. Inzwischen setzt sich mehr und mehr die Ansicht durch, dass es sich um Texte aus spätpersischer bis (früh-)hellenistischer Zeit handelt. Sie bilden wahrscheinlich auch keinen Gesamtzusammenhang. Aufbau und Entstehung der nichtpriesterlichen UrgeschichteFolgende Texte und Textteile bilden den nichtpriesterschriftlichen Anteil der Urgeschichte: Gen 2,4b–3,24
Die Schöpfung und das Paradies
Gen 4,1–16
Kain und Abel
Gen 4,17–26
Die Nachkommen Kains
Gen 6,1–4
Göttersöhne und Menschentöchter
Gen 6,5–8; 7,1–5.7– 10.12.16b.22–23; 8,2.3a.6–12.13b.20–22
Die Sintflut
Gen 9,18–27
Noahs Söhne
Gen 11,1–9
Der Turmbau zu Babel
Als nichtpriesterschriftlich erweisen sich die Texte dadurch, dass sie Gott mit seinem Namen JHWH bezeichnen, und durch einen völlig anderen Erzählstil. Ob sie einen Zusammenhang bilden, ist umstritten. Dazu müssten sie sich als
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Literarhistorische Vertiefung
stilistische und erzählerische Einheit erweisen. Aus einer Hand stammen aber wahrscheinlich nur Gen 2–4. Insgesamt sind die Texte besser verständlich, wenn man sie als – unterschiedliche – Fortschreibungen der priesterlichen Urgeschichte versteht. In P folgt auf die Schöpfung unvermittelt die Sintflut. Ihre Einleitung stellt die „Verderbtheit allen Fleisches“ (Gen 6,9P) fest, ohne zu erzählen, wie es dazu gekommen ist. Gen 2–4 füllt diese Lücke und nennt als Grund der Sintflut die Sündhaftigkeit der Menschen. Besonders schwierig einzuschätzen sind die nichtpriesterschriftlichen Anteile der Sintflutgeschichte. Sie bilden keinen glatten Erzählzusammenhang, denn es fehlen eine Ankündigung der Flut, ein Baubefehl und ein Einzugsbericht. So setzen die Texte die P-Sintflut voraus und ergänzen sie mit weiteren Traditionen und Texten (vgl. unterschiedlich R. G. Kratz, Komposition; A. Schüle, Prolog), die vermutlich auf verschiedene Bearbeitungsstufen zurückgehen. Dabei reagiert der nichtpriesterschriftliche Prolog zur Flut Gen 6,5–8 auf die Theologie von Gen 2–4, stammt aber vermutlich nicht aus derselben Hand. Die nichtpriesterschriftliche Urgeschichte ist somit das Ergebnis eines mehrstufigen Fortschreibungs- und Ergänzungsprozesses von P, der zwischen dem 4. und 3. Jh. v. Chr. anzusetzen ist. Gott und Mensch
Die priesterschriftliche Urgeschichte adaptiert mesopotamische und ägyptische Traditionstexte und steht noch ganz im Horizont altorientalischen Denkens der Kosmos-Chaos-Differenz. Demgegenüber konzentrieren sich die nichtpriesterschriftlichen Texte darauf, das Verhältnis zwischen Gott und Mensch zu begründen. Das erinnert deutlich an vergleichbare Diskurse im griechischen Denken. Auffallend an diesen Texten ist ihre Zuspitzung auf den Menschen im Allgemeinen und die Beobachtung, dass Erkenntnis den Menschen gottähnlich macht (Gen 3,22; vgl. 11,6). Diese Gedanken finden sich sonst so nicht im Alten Testament, haben aber Analogien in den Dialogen Platons (vgl. E. Dafni, Gen 1−11). Gen 6,1−4; spielt direkt auf griechische Mythen an (vgl. M. Witte, Urgeschichte; A. Schüle, Prolog), die Geschichte vom Turmbau zu Babel (Gen 11,1−9) trägt deutlich anti-hellenistische Züge (M. Witte, Urgeschichte, 321−323). Die frühesten nichtpriesterschriftlichen Texte der Urgeschichte könnten auch schon in spätpersischer Zeit verfasst worden sein, denn kulturelle Kontakte zwischen Griechenland und Palästina setzten schon vor Alexander d. Gr. ein (A. Hagedorn, Who would invite). Auf jeden Fall wird mit diesen Erzählungen die P-Urgeschichte zeitgemäß neu interpretiert: Der Mensch ist ein fehlbares Wesen.
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Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen und vergleichen Sie Gen 6,9−12; Gen 6,5−8 (in dieser Reihenfolge!). Wie unterscheiden sich die beiden Texte? (Literatur: A. Schüle, Die Urgeschichte (Gen 1−11), Zürich 2009 (ZüBK 1,1), 122 f., 137−141).
2. Lesen Sie Gen 11,1−9. Inwiefern könnte sich hier eine Kritik an der hellenistischen Weltreichspolitik ausdrücken? (Literatur: M. Witte, Urgeschichte, 321−323).
Eine Tora für den Hellenismus: Die Septuaginta
4.5.3
K. Brodersen, Aristeas. Der König und die Bibel, Stuttgart 2008. G. S. Ogema, Aristeasbrief, in: JSHRZ VI, Gütersloh 2005, 49–65. M. Rösel, Übersetzung als Vollendung der Auslegung. Studien zur Genesis-Septuaginta, Berlin/New York 1994 (BZAW 223). M. Tilly, Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005.
Mit Beginn der hellenistischen Epoche wanderten immer mehr Juden aus Palästina aus. Die meisten Auswanderer traten in Militärdienste für die hellenistischen Herrscher und wurden mit ihren Familien in Militärkolonien im Ausland angesiedelt; hinzu kamen Händler, Sklaven und einfache Migranten. Die älteste jüdische Kolonie bestand schon vor dem 3. Jh. in Alexandria in Ägypten. Im 2. Jh. v. Chr. fanden sich jüdische Gemeinden im heutigen Libyen, auf Kreta und Zypern, in Antiochia und Damaskus sowie in Kleinasien. Es waren wohl vor allem wirtschaftliche Gründe, die Juden zur Auswanderung bewegten. Das hellenistische Diasporajudentum pflegte seine Traditionen. In diesen Zusammenhang gehört die griechische Übersetzung der Tora, die LXX. Der Aristeasbrief und die Entstehung der LXXÜber die Entstehung der LXX berichtet der griechische Aristeasbrief (auch: Pseudo-Aristeas; Aristeas an Philokrates). Nach diesem Bericht hatte der hellenistische Herrscher Ägyptens, Ptolemaios II. Philadelphos (285–246 v. Chr.) den Wunsch, in seiner berühmten Bibliothek in Alexandria auch ein Exemplar der Tora zu haben. Dazu musste sie aber vom Hebräischen ins Griechische übersetzt werden. Ptolemaios bat den Jerusalemer Hohepriester um eine hebräische Ausgabe der Tora und geeignete Übersetzer. Der Priester schickte den Text und 72 Männer (sechs aus jedem Stamm). Die Übersetzer wurden vom König empfangen, in sieben Gastmählern diskutierten König und Übersetzer über Philosophie. Danach wurde den Männern am Strand von Alexandria ein Haus zum Arbeiten und Wohnen zur Verfügung gestellt, wo sie die Übersetzung in
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Literarhistorische Vertiefung
72 Tagen anfertigten. Das fertige Werk wurde den alexandrinischen Juden vorgetragen, die die Übersetzung als korrekt anerkannten, danach dem König, der das Werk bewunderte. Juden und König beschlossen, dass diese Übersetzung niemals ersetzt oder verändert werden dürfe. Nach den 72 Männern trägt die Übersetzung den Namen „Septuaginta“ (gr. für „(Übersetzung der) Siebzig“). Der Verfasser des Aristeasbriefes gibt sich als hoher (nichtjüdischer!) Hofbeamter des Königs Ptolemaios aus und gestaltet seine Schrift als Augenzeugenbericht. Aus dem Text selbst geht aber hervor, dass „Aristeas“ ein Jude war. Außerdem ist zu erkennen, dass der Text später verfasst wurde als die Ereignisse, von denen er berichtet. Er wurde vermutlich im 2. Jh. v. Chr. geschrieben und will unter den Diasporajuden für diese spezielle Übersetzung werben, indem er sie als Auftragswerk des Königs schildert. In späterer Zeit wurde die LXX-Legende von weiteren Autoren erheblich ausgestaltet: Schon im 2. Jh. n. Chr. galt die LXX als griechische Übersetzung des gesamten AT, wohingegen der Aristeasbrief sich ausdrücklich nur auf die Tora bezieht. Auch wurde erzählt, dass jeder der 72 den gesamten Text übersetzt hätte und die Übersetzer voneinander getrennt worden seien. Trotzdem hätten alle Übersetzungen miteinander übereingestimmt und seien eine wörtliche Übersetzung des hebräischen Textes. Dies wurde als ein Zeichen dafür gewertet, dass die Übersetzung göttlich inspiriert sei. Übersetzung als Dialog
Über die Entstehung der griechischen Bibelübersetzung wissen wir also nicht viel. Dass sie indes im Alexandria des 3. Jhs. v. Chr. mit einer Tora-Übersetzung begann, kann als gesichert gelten. Wer die Übersetzer waren und wie sie arbeiteten, ist nicht bekannt. Die griechische Tora-Übersetzung diente der Identitätssicherung der jüdischen Gemeinde in Alexandria, die kein oder kaum noch Hebräisch verstand. Außerdem konnte die Gemeinde mit diesem Text ein Dokument vorweisen, das sie als ethnisch und religiös eigenständige Gruppe auswies, womit gewisse Selbstverwaltungs-, Steuer- und religiöse Privilegien verbunden waren. Für ein nichtjüdisches Publikum ist die LXX nicht konzipiert; griechische Schriftsteller nahmen erst erheblich später von den jüdischen Schriften Notiz. Gleichwohl zeigt die LXX-Tora, dass sich das ägyptische Diasporajudentum in einem Dialog mit seiner hellenistischen Umwelt befand. Der Text wurde nicht einfach „übersetzt“, sondern so übertragen dass er sich griechisch geprägtem Verständnis erschloss. So wurde z. B. die Schöpfungsgeschichte Gen 1 mit platonischen Texten vermittelt, so dass ein Ausgleich zwischen griechischem und jüdischem Schöpfungsglauben erzielt wurde (M. Rösel, Übersetzung, 25−81). Auch Zeitrechnungen und andere
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Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
Realia wurden so übersetzt, dass eine Anwendung auf die eigene Gegenwart möglich wurde. Ex 3,14 und das Gottesbild der hellenistischen ZeitDer personale Gott des AT mit allen seinen Leidenschaften und Emotionen, einem „Gesicht“, „Händen“ und einem „Herzen“ war dem griechischen Denken schwer vermittelbar. Der Fachbegriff für dieses biblische Gottesbild lautet „Anthropomorphismus“ (= Menschengestaltigkeit). Die griechische (Religions-)Philosophie seit Plato propagierte dagegen ein körper- und leidenschaftsloses göttliches Wesen. Die LXX vermeidet allzu krasse Anthropomorphismen, verzichtet sogar auf den Namen Gottes JHWH und übersetzt stattdessen mit „Gott“ oder „Herr“. Das Letztere könnte von dem Brauch des antiken Judentums beeinflusst sein, den Namen Gottes nicht auszusprechen und statt dessen „Herr“ zu sagen. Am deutlichsten wird die Tendenz der LXX zu einem abstrakten Gottesbegriff in der griechischen Wiedergabe von Ex 3,14 Ex 3,14 hebräisch
Ex 3,14 griechisch
Und Gott sprach zu Mose: „Ich werde Und Gott sprach zu Mose: „Ich bin sein, der der ich sein werde“. Und er sprach: „So sollst
Seiende.“ So sollst du sprechen zu den
du sprechen zu den Kindern Israel: „Ich werde
Kindern Israel: „Der Seiende hat mich
sein“ hat mich zu euch geschickt.“
zu euch geschickt.“
Der (nicht sicher deutbare) Gottesname „JHWH“ wird im hebräischen Text mit einer Futurform des Verbs ha¯ja¯h, „sein, werden“ umschrieben. Die grammatische Form ist vermutlich gewählt, weil ihr Klang dem Namen „JHWH“ am ähnlichsten ist. Hebräischer Semantik entsprechend drückt der hebräische Satz in etwa Wirksamkeit, Tätigkeit, aber auch Treue aus. Am präzisesten ist die Wiedergabe von Walter Eichrodt: „Ich bin bereit zu helfen und zu wirken.“ Die griechische Übersetzung ist als Partizip formuliert, das eine gewisse Zeitlosigkeit besitzt. „Der Seiende“ will ausdrücken, dass Gott und nur Gott allein „Sein“ besitzt und ist, unabhängig von und unverbunden mit anderen Wesen oder Gottheiten. Das entspricht dem griechischen Gottesbild eher.
Obwohl sie „nur“ eine Übersetzung ist, muss die LXX doch aus mehreren Gründen als das bedeutendste Werk der hellenistischjüdischen Literatur gelten. Ϝ Sie zeigt erstens, dass die Tora, und zwar die Tora als ganze, tatsächlich als normative Basisurkunde des antiken Judentums aufzufassen ist. Das hellenistische Judentum hat keine Auswahl aus der Tora getroffen und auch keinen anderen
ein bedeutendes Werk
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Literarhistorische Vertiefung
Text gewählt, sondern die (perserzeitliche) Tradition der Orientierung an der ganzen Tora übernommen. Ϝ Zweitens ist die LXX der Beleg für den Willen des Judentums, seine an der Tora ausgerichtete Identität auch über kulturelle Paradigmenwechsel hinweg zu erhalten. Diesen Weg ist keine andere Religion der Antike gegangen. Ϝ Drittens ist die LXX das erste (und einzige) Literaturwerk der Antike, das aus einer „barbarischen“ Sprache ins Griechische übersetzt wurde. Damit ist sie kulturgeschichtlich einzigartig. Ϝ Viertens schließlich kommt der LXX wirkungsgeschichtlich eine hohe Bedeutung zu. Da das Diasporajudentum quantitativ sehr viel größer war als das palästinische und die LXX bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels 70 n. Chr. auch im Mutterland verwendet wurde, wird man sagen müssen, dass die LXX während der hellenistisch-römischen Zeit der Leittext des Judentums war. Auch die christlichen Schriften des NT und der frühen Kirchenväter basieren auf der LXX. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Informieren Sie sich über Geschichte und Bedeutung der LXX durch die Lektüre von: M. Hengel, Die Septuaginta als „christliche Schriftensammlung“, ihre Vorgeschichte und das Problem ihres Kanons, in: Ders./A. M. Schwemer (Hg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum, Tübingen 1994 (WUNT 72), 182−284.
4.5.4
Ester, Daniel, Judit, Tobit, Makkabäer E. Brünenberg, Art. Ester/Esterbuch, in: www.wibilex.de. K. Butting, Das Buch Esther. Vom Widerstand gegen Antisemitismus und Sexismus, in: L. Schottroff/M. T. Wacker, Kompendium feministischer Bibelauslegung, Gütersloh 1998, 169–179. S. von Dobbeler, Art. Makkabäerbücher, in: www.wibilex.de. S. von Dobbeler, Geschichte und Geschichten. Der theologische Gehalt und die politische Problematik von 1 und 2 Makkabäer, in: BiKi 57 (2002), 62–67. H. Engel, Die Bücher der Makkabäer, in: E. Zenger, Einleitung, 312–328. K. Koch, Ist Daniel auch unter den Propheten?, in: Ders., Die Reiche der Welt und der kommende Menschensohn. Studien zum Danielbuch (Ges. Aufsätze Bd. 2), Neukirchen-Vluyn 1995, 1–15. R. G. Kratz, Die Visionen des Daniel, in: Ders., Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels, 227–244. H. Niehr, Das Buch Daniel, in: E. Zenger, Einleitung, 507–516. K. Schmid, Literaturgeschichte, 156–158.200.208 f.
Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
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B. Schmitz, Art. Judit/Juditbuch, in: www.wibilex.de. H. M. Wahl, Das Buch Esther als methodisches Problem und hermeneutische Herausforderung: eine Skizze, in: Biblnt 9 (2001), 25–40. E. Zenger, Das Buch Ester, in: E. Zenger, Einleitung, 302–311.
Das Thema „die Juden und die Fremden“ war schon zu persischer Zeit von einiger Bedeutung gewesen (→ Kap. 4.4). Unter den Bedingungen des Hellenismus gewann es noch höhere Relevanz. Zum einen benötigte das Diasporajudentum positive Rollenmodelle für seine Existenz. Zum anderen war es unter den Juden der hellenistischen Zeit kontrovers, wie weit eine Assimilation an den Hellenismus gehen durfte. Strenggläubige Juden bildeten durch die in ihrer Umwelt unüblichen Glaubensinhalte (Offenbarungsschrift, Monotheismus, Verbot von Götterbildern) und ihre Riten und Gebräuche (Sabbat, Beschneidung, Speisegebote) eine Angriffsf läche für Diskriminierung, gelegentlich für Verfolgung. Eine Reihe von Texten schildert in romanhafter Form, wie auch strenggläubige Jüdinnen und Juden in solchen Situationen ihre Identität wahren können. Die Bücher Ester, Daniel, Judit und Tobit dienen diesem Zweck. Ihre Vorbilder sind die perserzeitlichen Geschichten von Joseph (Gen 37−50) und das Ruthbuch (→ Kap. 4.4.3). Das EsterbuchDas Esterbuch liegt in drei Textfassungen vor: einer hebräischen, die auch die Grundlage des Textes der Luther- und der Zürcher Bibel ist und in zwei griechischen Fassungen, einer längeren und einer kürzeren. Beide sind umfangreicher als der hebräische Text. Die Einheitsübersetzung bietet einen Mischtext aus der hebräischen und der griechischen Langfassung. Die folgende Darstellung schildert die hebräische Fassung. Das Esterbuch enthält 10 Kapitel. Es erzählt von der Jüdin Ester, die mit ihrem Onkel Mordechai am persischen Königshof lebt. Nach einem Streit mit seiner Frau heiratet der Perserkönig Ester, und diese steigt zur Königin auf (Est 1–2). Sie hält ihre Herkunft aber geheim, anders als ihr Onkel Mordechai. Mordechais Verweigerung persischer Hofsitten bewegt den Großwesir Haman dazu, die Vernichtung aller Juden im Perserreich zu befehlen (Est 3). Mordechai bittet Ester, ihre Herkunft preiszugeben und beim König um die Rettung der Juden zu bitten (Est 4). Ester bittet den König darum, ein privates Gastmahl mit ihm und Haman abhalten zu dürfen; Haman lässt inzwischen einen Galgen bauen, um Mordechai persönlich umzubringen (Est 5). Der König findet heraus, dass Mordechai einen Anschlag gegen ihn verhindert hatte und stellt ihn unter seinen persönlichen Schutz (Est 6). Beim Gastmahl gibt Ester ihre Identität preis, bittet um die Rettung und zeigt Haman als Urheber des Vernichtungsplans an. Haman wird an dem Galgen gehängt, den er für Mordechai gebaut hatte (Est 7). Mordechai wird in Hamans Amt eingesetzt, und der Vernichtungsbefehl gegen die Juden wird aufgehoben (Est 8). Stattdessen werden
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Literarhistorische Vertiefung
die Söhne Hamans und alle „Judenfeinde“ im Perserreich getötet (Est 9). Zum Gedenken an diese Ereignisse wird das Purimfest eingesetzt (Est 10). Das Esterbuch ist mit den Gebräuchen des Perserreichs recht gut vertraut, nicht allerdings mit den Gepflogenheiten am Königshof. Die Form der Erzählung, vor allem die Zeichnung der Charaktertypen (schöne und kluge Frau; kluger und loyaler Fremder; böser und eitler Höfling) entspricht Vorgaben der hellenistischen Romanliteratur. Diese Sachverhalte und die vorausgesetzte Verfolgung der Juden machen eine Entstehung um das 3. Jh. v. Chr. wahrscheinlich. Der Verfasser und die Adressaten sind vermutlich in Syrien oder Mesopotamien zu suchen. Auffallend ist, dass die beiden Hauptfiguren Namen tragen, die von babylonischen Gottesnamen abgeleitet sind: Ester von babyl. Isˇtar, Mordechai von babyl. Marduk. In der hebräischen Textfassung wird Gott überhaupt nicht erwähnt. Die griechischen Fassungen sind durch eingeschobene Gebete (Est 3; 4) stärker theologisiert. verinnerlichter Monotheismus
Tora-Gebote als Erzählvorlage
Das Esterbuch erinnert vom Aufbau und Inhalt her stark an die Josephserzählung Gen 39−50: Israeliten bzw. Juden steigen am fremden Königshof zu wichtigen Persönlichkeiten auf und retten das fremde und ihr eigenes Volk. In beiden Büchern liegen die spezifischen Charakteristika des JHWH-Glaubens eher unter der Oberf läche. Joseph zeigt sich weise und moralisch untadelig und widersteht daher der Verführung durch die Frau Potiphars. Mordechai ist dem König gegenüber loyal, verweigert ihm aber die gottähnliche Verehrung (Est 3,1−5). Mordechai hat also die Forderungen des Monotheismus verinnerlicht. Dass dies den Konflikt auslöst, spricht für eine Entstehung in nachpersischer Zeit. Dass andererseits Ester ihre jüdische Identität so lange wie möglich geheim hält, zeigt auch, dass die Minderheitenexistenz der Diasporajuden kein leichtes Los war. Daneben hat das Esterbuch Elemente, die an das Buch Ruth erinnern, obwohl die Ester-Konstellation umgekehrt zu Ruth ist: Ruth ist die Geschichte einer Fremden in Juda, Ester die einer Jüdin in der Fremde. Beide Male ist aber eine Frau die Heldin. Außerdem haben in beiden Büchern sowohl der Personenkonflikt als auch die sachliche Dramaturgie ihren Anhaltspunkt an der Tora. Ruth ist eine Moabiterin, der böse Haman ist ein Nachfahre eines weiteren Erzfeindes Israels, der Amalekiter (vgl. Ex 17,8−16; Dtn 25, 17−19). Die Estergeschichte hat es also nicht mit einem historisch zufälligen Ereignis zu tun, sondern entfaltet die Beziehung zwischen JHWH, Israel und der Welt, die der Tora zugrunde liegt. Außerdem spielt sich die Estergeschichte zeitlich parallel zum Passafest (vgl. Ex 12) ab. Das von Ester und Mordechai gestiftete Purimfest fügt sich somit in die von der Tora vorgegebenen Feste ein.
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Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
„Das aber bedeutet: Die im Exodus begonnene Rettung aus Ägypten vollendet sich im Purimfest, wenn das jüdische Volk seine „Ruhe“ inmitten der Völkerwelt feiert. M. a. W.: Das in der Diaspora gefeierte Purimfest ist das Pesach[= Passa]fest der Diaspora. Für die Juden in der Diaspora geht es nicht um Rettung aus der Fremde, sondern um Rettung in der Fremde.“ (E. Zenger, Ester, 309)
Das Esterbuch ist also nicht nur eine Diasporanovelle, sondern gehört der schriftauslegenden Literatur an. Ester scheint das literarische Vorbild des Juditbuches zu sein, das sich nur im griechischen Kanon des AT findet. Im Juditbuch ist der Grundkonf likt ein ähnlicher wie in Ester: der Plan zur Vernichtung der Juden durch einen Ausländer, der nur durch Gewalt gelöst werden kann. Bei Judit beansprucht der ausländische (babylonische) König aber tatsächlich, Gott zu sein. Darüber hinaus ist Judit nicht so stark tora-zentriert wie Ester, sondern nimmt Impulse aus dem Richterbuch, der David-Überlieferung und dem Ruthbuch auf. Das Juditbuch schildert die Lage „des“ Judentums vor dem Hintergrund einer Bedrohung von weltgeschichtlichen Dimensionen. Es reflektiert die Vorgänge und Ereignisse des Makkabäerkrieges und seiner Folgen, gehört also dem späten 2. Jh. v. Chr. an.
Judit
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie das Buch Ester und vergegenwärtigen Sie sich den literarischen Aufbau des Buches: Achten Sie auf Wiederholungen, Vor- und Rückverweise. Vergleichen Sie den Auf bau mit der Josephsgeschichte.
2. Informieren Sie sich über die Feste des Judentums (C. Körting, Art. Fest (AT), in: www.wibilex.de).
3. Den großen Festen des Judentums sind alttestamentliche Bücher als gottesdienstliche Texte zugeordnet, die sog. Megillot. Informieren Sie sich anhand eines Bibellexikons, welches Buch zu welchem Fest gehört.
4. Informieren Sie sich über wichtige Frauen des AT (I. Fischer, Frauen in der Literatur (AT), in: www.wibilex.de).
Auch das Danielbuch entfaltet erzählerisch die Situation des Juden, der sich an einem ausländischen Königshof bewähren muss. Die Geschichte Daniels nahm aber literarisch und theologisch andere Wege als Ester und entwickelte sich zu einem der wichtigsten Literaturwerke der hellenistischen Zeit.
Daniel
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Literarhistorische Vertiefung
Aufbau und Entstehung des DanielbuchesWie Ester liegt auch Daniel in einer kürzeren hebräischen und einer längeren griechischen Fassung vor. Außerdem ist der Mittelteil des Buches, Dan 2,4b–7,23, auf Aramäisch verfasst. Die Darstellung hier folgt der hebräisch-aramäischen Fassung. Im hebräischen Tanak steht das Buch Daniel im 3. Hauptteil, den „Ketubim“; in der LXX und den anderen Übersetzungen findet es sich bei den Prophetenbüchern. Das Danielbuch erzählt von Daniel und seinen drei Freunden am Hof der babylonischen Könige Nebukadnezar und Belsazar sowie des Perserkönigs Darius. Die vier erhalten eine umfassende Bildung und Ausbildung, halten sich aber strikt an die jüdischen Speisevorschriften. Sie werden wegen ihres Festhaltens am jüdischen Glauben verfolgt, aber jedes Mal durch ein Wunder gerettet. Parallel dazu deutet Daniel die Träume der beiden babylonischen Könige, die diesen den Verlust ihrer Herrschaft ankündigen und JHWH als den einzig wahren Herrscher offenbaren (Dan 1–6). Daniel 7–12 enthält vier große Visionen Daniels über den Verlauf der Weltgeschichte. Daniel 12 schließt mit der Vision vom Jüngsten Gericht, der Rettung der Gerechten und der Auferstehung der Toten. Im griechischen Danielbuch schließen sich in Kapitel 13–14 weitere Legenden an (Susanna, Daniel und die Priester, Bel und der Drache). Der Sprachenwechsel, die Veränderung der politischen Situation und weitere Brüche innerhalb des Buches deuten auf eine längere (und sehr komplexe) Entstehungsgeschichte des Buches Daniel hin. Die ältesten Texte sind wohl in Dan 1;3;6 zu suchen, die das Ende des babylonischen Reiches verarbeiten und die Perserherrschaft als Verwirklichung der Herrschaft JHWHs feiern. Dem sind in Dan 2.7 weitere Legenden angeschlossen worden, die auf den Untergang des Perserreiches reagieren. Sie stammen aus dem 4. Jh. v. Chr. Die großen Visionen von Dan 7–12 verraten genaueste Kenntnis der Vorgänge, die den Makkabäeraufstand auslösten. Sie deuten den makkabäischen Befreiungskampf als Anbruch der endgültigen Heilszeit, die mit der Auferstehung der Toten enden wird. Da das Danielbuch den Tod Antiochos’ IV. (164 v. Chr.) und den endgültigen Ausgang der Makkabäerherrschaft nicht kennt, dürfte es kurz vor 164 v. Chr. abgeschlossen worden sein. Daniel ist damit das jüngste Buch des hebräischen Tanak. Dass eine so junge Schrift noch in die kanonische Schriftensammlung aufgenommen wurde, deutet auf die große Popularität des Danielbuches hin.
JHWH als Herr der Geschichte
Daniel beginnt als Diasporanovelle und endet − sowohl literarisch als auch entstehungsgeschichtlich − als Prophetenbuch von gewaltigen Dimensionen. Von seiner Endgestalt her ist das Danielbuch als Apokalypse zu beschreiben (→ Kap. 5.4). Typisch hellenistisch ist an Daniel die radikale Ablehnung jeglichen menschlichen Herrschaftsanspruchs zugunsten der Weltherrschaft JHWHs im Verlauf der gesamten Geschichte. Stärker als im Esterbuch zeigen sich die judenverfolgenden Fremden als Gegner JHWHs von
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Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
fast teuflischen Ausmaßen. Gegen den Weltherrschaftsanspruch Antiochos’ IV. nimmt JHWH selbst den Kampf auf − anders als im noch frühhellenistischen Esterbuch, aber auch im nachmakkabäischen Juditbuch, wo die Juden ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Charakteristisch für das Danielbuch ist die Verwendung von Träumen, Symbolen und verschlüsselter Sprache. Die für normale Menschen einschließlich der fremden Könige konfuse und unverständliche Weltgeschichte ist bei JHWH im Himmel längst vorab abgebildet und kann mit Hilfe der Offenbarung verstanden werden. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Dan 1,1−12 und informieren Sie sich über die biblischen (und jüdischen) Speisegebote (Literatur: T. Schoener, Speisegebote im Judentum: Grundlagen des Lebensmittelrechts, München/Ravensburg 2008).
2. Lesen und vergleichen Sie Dan 2 und Dan 7. Wie werden die Weltreiche symbolisiert und welche sind gemeint?
Der makkabäische Aufstand bildete nicht nur den Anlass für Fortschreibungen des älteren Danielbuches. Die beiden Makkabäerbücher widmen sich diesem Thema in Form einer Geschichtserzählung.
die Makkabäerbücher
Die MakkabäerbücherInsgesamt sind vier Makkabäerbücher überliefert. In den (griech.) Kanon eingegangen sind allerdings nur zwei: 1/2 Makkabäer. – 1 Makk ist eine Geschichtserzählung, die die Zeit von 333–175/135 v. Chr. schildert. Es handelt sich somit um die einzige biblische Gesamtdarstellung der hellenistischen Zeit; sie hat ihren Schwerpunkt auf der Schilderung des Makkabäeraufstands (1 Makk 1,10–16,22). Das Buch wurde zwischen 120 und 100 v. Chr. ursprünglich auf Hebräisch (oder Aramäisch) verfasst und schon früh ins Griechische übersetzt. Der hebräische Text ist verloren gegangen. – 2 Makk ist von vornherein auf griechisch verfasst und bietet eine parallele Darstellung der Ereignisse. Es wurde nach 1 Makk geschrieben und geht auf eine nicht mehr erhaltene Quellenschrift zurück. – 3 Makk ist ebenfalls griechisch verfasst und stammt aus der Zeit zwischen 100 v. Chr. und 100 n. Chr. Es hat mit den Makkabäern nichts zu tun, sondern schildert die Verfolgung und Rettung von Juden in Ägypten, die sich im spä-
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Literarhistorische Vertiefung
ten 3. Jh. v. Chr. abgespielt hat. Inhaltliche Parallelen zu 2 Makk haben zu der Namengebung „Makkabäerbuch“ geführt. – 4 Makk ist ein griechisches Werk aus christlicher Zeit. Es handelt sich um eine philosophische Lobrede auf die makkabäischen Märtyrer, die zur Tora-Treue ermahnen soll. Judentum im Widerstand
der Makkabäeraufstand als Heilsgeschichte
Die beiden ersten Makkabäerbücher sind die wichtigste Geschichtsquelle für das 2. Jh. v. Chr. in Palästina, und darüber hinaus zeigen sie, wie sehr sich das palästinische Judentum bereits als eigenständige religiös-politisch-ethnische Gruppe verfasst hatte, die Übergriffe auf ihre Identität mit entschiedenem Widerstand beantworten konnte. Dabei ist 1 Makk an den Vorbildern hebräischer Literatur orientiert, wohingegen 2 Makk den Konventionen griechischer Geschichtsschreibung folgt. 1 Makk beginnt bei den Versuchen gewisser Führungskreise in Jerusalem, die Stadt zu hellenisieren. Die Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt in der Tempelschändung Antiochos’ IV., die den Aufstand in Gang setzte. In der Perspektive von 1 Makk entsprechen Verfolgung und Bedrohung der Gegenwart den großen Ereignissen in der Geschichte des Gottesvolkes: Exodus, David, der Rettung Jerusalems vor den Assyrern (1 Makk 4; 7). Gott als der Retter Israels wirkt − wie im Ester- und im Juditbuch − durch den Kampf der Menschen. Voraussetzung für den Erfolg ist aber die kompromisslose Tora-Treue der Kämpfer. Judas Makkabäus und seine Nachfolger folgen Abraham, Josua, David und Daniel als ihren Vorbildern. Die Kämpfe und die nachfolgende Organisation des hasmonäischen Israel orientieren sich durchgängig an Vorschriften der Tora. Die Reinigung und Wiedereinweihung des geschändeten Tempels bildet die gedankliche Mitte des 1 Makk. Auf diese Weise bildet 1 Makk einen gezielten Gegenentwurf bzw. eine Gegenüberstellung zu Jos−2 Kön: In der vorexilischen Zeit geriet Israel durch mangelnde Tora-Treue mehr und mehr in Bedrängnis, verlor seine Einheit, seine Selbständigkeit und zum Schluss Land und Tempel. Umgekehrt dazu beginnt 1 Makk mit dem toragemäßen Widerstand gegen Bedrohung und mit der Wiedergewinnung des Tempels (4), des Landes (5−9) sowie der Einrichtung einer priesterlich-königlichen Verfassung (10−14). Dabei ist 1 Makk gemäß seiner theologischen Tendenz extrem parteiisch in seiner Darstellung. Die oft tagespolitisch motivierten und alles andere als gesetzestreuen (→ Kap. 3.6.3; 3.6.4) Entscheidungen der Führungsschichten Judas werden geglättet, problematische Züge der Makkabäer und ihrer Nachfolger verschwiegen.
Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
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Auch andere Stimmen des anti-hellenistischen Widerstandes werden nicht erwähnt oder sogar diffamiert: „Judas [Makkabäus] und seine Brüder kämpfen ausschließlich für ‚Israel‘, für eine unbehinderte Religionsausübung im Land und für das Ansehen des Volkes (1 Makk 2,67; 3,1.3.43; 14,4–15). Dementsprechend betrachtet der Verfasser die Hasmonäer auch nicht als eine Partei mit starken Eigeninteressen und Machtansprüchen, die mit denen anderer konkurrieren. Ihre Anhänger sind für ihn ‚das Volk‘, ihre Kritiker und Gegner dagegen sind (neben den Seleukiden mit ihren Truppen) sämtlich ‚Gesetzlose, Gottlose‘ (1. Makk 1,11.3,5f8; 6,21; 7,5; 9,23.58.73; 10,61; 11,21.25; 14,14).“ (H. Engel, Makkabäer, 320)
Für den/die Verfasser von 1 Makk sind der Makkabäeraufstand und seine Folgen daher der Ausdruck des Heilswillens Gottes für sein Volk − wenn es um Tempel und Tora zentriert bleibt. Die Makkabäer sind letztlich Gottes Werkzeug. 2 Makk geht in Inhalt und Tendenz weitgehend parallel mit 1 Makk, stellt aber die Bedeutung des Tempels noch mehr in den Vordergrund (2 Makk 2,22): Er ist Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk. Was geschieht, wenn der Tempel zerstört und Israel den Fremden schutzlos preisgegeben ist, schildert 2 Makk 6−7.
der Tempel als Mitte Israels
2 Makk 7, das Martyrium und die Auferstehung der Toten2 Makk 6–7 erzählen, wie Antiochos IV. nach der Verunreinigung des Tempels gesetzestreue Juden foltern lässt, weil sie am Verbot des Genusses von Schweinefleisch festhalten. Die Gefolterten bleiben jedoch standhaft und erleiden den Märtyrertod. 2 Makk 7 ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Das literarisch stark durchgestaltete Kapitel handelt von sieben Brüdern und ihrer Mutter. Leitmotivisch wiederholt sich hier die Aussage „Wir wollen eher sterben, als etwas gegen das Gesetz unserer Väter zu tun“ (2 Makk 7,2.9.11.23b.30.37). Diese Bereitschaft zum Tod aus Treue zu Gott steigert sich von Opfer zu Opfer zu dem Bewusstsein, mit dem Tod die Wahrheit und Macht des einen Gottes zu bezeugen (Vv. 30–37). Hier liegt zum ersten Mal eine Theologie des Martyriums vor, der Bereitschaft, für die Wahrheit zu sterben (von griech. martyríon: „Zeugnis, Beweis“). Sie sollte im Judentum, Christentum und Islam später eine große Rolle spielen. Ihre Wurzeln sind vielfältig, in literarischer Hinsicht hat sie u. a. auch das Vorbild griechischer Helden, die lieber sterben wollen, als ehrlos oder unterdrückt zu leben. Auch der heldenhafte Tod des Sokrates gehört zur Vorgeschichte des Martyriums. In 2 Makk 7 entspricht der Bereitschaft zum Martyrium eine Gewissheit der Auferstehung (Vv. 9.11.14.23.29.36). Sie findet sich im AT nur selten und nur in späten Texten (Jes 26,19; Dan 12,2; 2 Makk 7). Martyrium und Auferstehung gehören nicht ursprünglich zusammen, die Verfolgungssituation der hellenistischen Zeit gab Spekulationen über ein Leben nach dem Tod aber erhebli-
252
Literarhistorische Vertiefung
chen Auftrieb. Die Gewissheit der Märtyrer, auferweckt zu werden, unterstreicht die Unzerstörbarkeit ihrer Gottesbeziehung. In 2 Makk 7 und Dan 12 wird die Auferstehung nur den Frommen zuteil. Ob es eine vom Martyrium unabhängige Auferstehung aller geben würde, wurde zu einem zentralen Streitpunkt des Judentums um die Zeitenwende.
Die Treue zu Gott, die den Tod nicht fürchtet, steht in 2 Makk gleichberechtigt neben der Treue zu Gott, die zu den Waffen greift (vgl. 1 Makk; Jud; Dan). Unabhängig von der Frage nach der genauen Historizität der Ereignisse wird in Dan, Jud und Makk deutlich, dass die Konfrontation mit dem Hellenismus zumindest in einigen Kreisen als Kampf auf Leben und Tod verstanden wurde. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie 1Makk 1,10−64; 2,1−70. Wie schildert der Verfasser: a) die Anpassung der Juden an die hellenistischen Bräuche? b) die Maßnahmen Antiochos’ IV.? c) den Anstoß zum Aufstand? Welche jüdischen Sitten und Gebräuche waren demnach besonders anstößig für den Hellenismus?
2. Informieren Sie sich über das Chanukka-Fest und seine Bräuche (Literatur: Art. Chanukka, in: www.wikipedia.de).
3. Lesen Sie 2 Makk 7. Wie steigern sich die Aussagen zum Martyrium? Welche Rolle spielt die Auferstehung darin?
4. Verschaffen Sie sich einen Überblick über die Auferstehungsvorstellungen im AT (Literatur: K. Liess, Art. Auferstehung (AT), in: www.wibilex.de).
Der Makkabäeraufstand markiert einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte des Judentums und der alttestamentlichen Literatur: Die aus Tora und Propheten gewonnene Identität des Judentums erwies sich als nur begrenzt mit dem Hellenismus vereinbar. Unter dem Druck einer gewaltsamen Hellenisierung war diese Identität nur im Kampf oder im Martyrium aufrechtzuerhalten. Diese Position der Makk veränderte das politische Gesicht Judas bis in die römische Zeit. Aus der Zeit um die makkabäische Erhebung stammen noch weitere Schriften, die andere Positionen vertreten: wie bereits erwähnt Dan 9−12; Jud, aber auch die Bücher Tobit und Baruch.
253
Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
Schriften neben der Schrift
4.5.5
K. Berger, Die Bedeutung der zwischentestamentlichen Literatur für die Bibelauslegung, in: ZNT 4/8 (2001), 14–17. C. Berner, Art. Jubiläenbuch, in: www.wibilex.de. C. Böttrich, Art. Pseudepigraphen (AT), in: www.wibilex.de. B. Ego, Art. Henoch/Henochliteratur, in: www.wibilex.de. J. Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, 3 Bde. München 1995/1996. H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Ein Sachbuch, Freiburg 7 1998. A. Stendel, Art. Qumran-Handschriften, in: www.wibilex.de. M. Tilly, Art. Testamente der Zwölf Patriarchen, in: www.wibilex.de. J. C. Vanderkam, Einführung in die Qumranforschung, Göttingen 1998, bes. 211–227. K. M. Woschitz, Parabiblica. Studien zur jüdischen Literatur in der hellenistisch-römischen Epoche. Tradierung – Vermittlung – Wandlung, Wien 2005.
Gegen Ende des 3. Jhs. v. Chr. war der Entstehungsprozess der Tora abgeschlossen. Damit stand die Tora als normative Offenbarungsschrift des Judentums innerhalb und außerhalb Palästinas fest. Die Frage, wie die Tora auszulegen und zu interpretieren ist, wurde für die nächsten Jahrhunderte zum dringenden Problem. Das frühe Judentum differenzierte sich in unterschiedliche Gruppen aus, die verschiedene Optionen der Tora-Auslegung entwickelten. Dieser Prozess kam erst im 3.−4. Jh. n. Chr. zu einem gewissen Abschluss und hat daher auch das NT geprägt. In dieser Auslegungsdiskussion lassen sich drei Hauptlinien unterscheiden: Ϝ Fortschreibung: Die erste entwickelt die Aktualisierung und Kommentierung der Tora im Kontext der Propheten und Psalmenbücher sowie der schriftgelehrten Literaturwerke, die Eingang in den hebräischen und griechischen Kanon fanden. Durch Prophetie, Psalmen und „Schriften“ wird die Tora außerhalb ihrer Erzählgrenzen fortgeschrieben. Ϝ Übersetzung: Die zweite Hauptlinie besteht in der Übertragung der Tora (später auch anderer Schriften) ins Aramäische, d. h. in den Targumen (aram. „Übersetzung“). Die Targume bieten häufig paraphrasierende Übersetzungen des hebräischen Textes, in die Auslegungen und zusätzliche Überlieferungen aufgenommen wurden. Die Targum-Literatur diente der Vermittlung der (Bibel-)Texte in Kreise, die kein Hebräisch konnten, also vermutlich der Predigt und Unterweisung. Ϝ Neu schreiben: Der dritte Hauptstrom schriftauslegender Literatur besteht darin, Episoden der Tora oder auch die ganze Tora neu zu schreiben. Für diese sehr unterschiedlichen Werke hat sich der Oberbegriff „rewritten Bible“ oder „parabiblische Litera-
die Frage nach der Auslegung der Tora
254
Literarhistorische Vertiefung
tur“ eingebürgert. Es werden hier umlaufende religiöse Traditionen in die Tora integriert, bestimmte religiöse Praktiken legitimiert, die sich nicht direkt aus der Tora ableiten lassen, und weitere Auslegungsprobleme verhandelt. Einige dieser Werke erfreuten sich lange Zeit großer Beliebtheit, sie werden im NT zitiert und sind (teilweise) sogar kanonisch geworden. Ob sie sich als konkurrierender Ersatz zur Tora oder als deren Auslegung mit normativem Anspruch verstehen, muss von Fall zu Fall entscheiden werden. Die wichtigsten Werke der „rewritten Bible“Das Phänomen der „rewritten Bible“ beginnt mit der Tempelrolle, die wohl schon um 400 v. Chr. verfasst wurde. Sie ist eine als Gottesrede stilisierte Variation über das Dtn und könnte ursprünglich als sechstes Buch der Tora konzipiert worden sein. Der umfangreichste und auch populärste Bestandteil der „rewritten Bible“Tradition ist die aus fünf Büchern bestehende Henoch-Literatur (Hen), die vom 3. Jh. v. Chr. an verfasst wurde. Hierin gibt Henoch (vgl. Gen 5,21–24) seine Offenbarungen über die Urzeit, die Weltgeschichte und die Endzeit weiter, die ihm vor der Sintflut bei einer oder mehreren Reisen in den Himmel zuteilgeworden waren. Hier findet sich die Legende vom Aufstand der Engel gegen Gott und ihre Verbannung aus dem Himmel (Hen 6–16) sowie der erste Beleg einer Höllenvorstellung (Hen 21). Die Henoch-Literatur wird im NT ca. 70 Mal zitiert, eine Zusammenstellung der verschiedenen Henochbücher ist in der äthiopischen Kirche Teil des Kanons (sog. „äthiopischer Henoch“). Aus dem 2. Jh. v. Chr. stammt das Jubiläenbuch (Jub). Es ist als Offenbarung eines Engels an Mose auf dem Sinai gestaltet (vgl. Ex 24), die ihm die Geschichte von der Schöpfung an vermittelt. Die Geschichte wird auf Grundlage einer präzisen Chronologie organisiert, deren Basis ein reiner Sonnenkalender ist. Gebot und Geschichte sind bei Gott festgelegt und werden Israel offenbart. Auch das Jubiläenbuch hat eine ausformulierte Engellehre. Jub ist ebenfalls Teil der Kanons der äthiopischen Kirche. Ebenfalls aus dem 2. Jh. v. Chr. stammen die Testamente der zwölf Patriarchen (TestXII). Es handelt sich um Abschiedsreden der Söhne Jakobs vor ihrem Tod. Sie enthalten fortschreibende Erzählungen aus ihrer Biographie, ethische Regeln und Zukunftsweissagungen. Den wichtigsten Bestandteil der Sammlung bildet das Testament Levis, das als Schilderung einer Himmelsreise gestaltet ist: Die Engel offenbaren Levi das Geheimnis der Geschichte, das Auftreten des Messias, und Levi wird zum Priester eingesetzt. Die TestXII sind vor allem im frühen Christentum rezipiert und dort auch massiv überarbeitet worden. Im Unterschied zu Hen und Jub sind die TestXII ursprünglich auf Griechisch verfasst worden. zusätzliche Erzählungen
In der parabiblischen Literatur finden sich viele Erzählungen und Motive, die gemeinhin für biblisch gehalten werden, z. B. die Zerstörung des Turms von Babel (nicht in Gen 11,1−9, sondern
255
Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
erst in Jub 10,26). Auch wichtige Elemente der neutestamentlichen Theologie wie das Bild Abrahams, die Vorstellungen vom Jüngsten Tag u. a. wurzeln in der parabiblischen Literatur. Als Neuinterpretationen/Neufassungen der Tora zeigen die Werke der „rewritten Bible“ darin einen gemeinsamen Zug, dass sie die wichtigsten Merkmale bzw. Eigenarten des jüdischen Glaubens wie den Monotheismus, Sabbat, Beschneidung und Speisegebote von der Sinaioffenbarung in die Zeit davor verlegen: Henoch, Noah und Abraham werden zu den ersten Empfängern der göttlichen Offenbarung, noch vor Mose. Das Judentum konnte auf diese Weise seine Glaubensinhalte als uralt und von der Geschichte unabhängig begründen. Auf diesem Weg wurde das Buch Genesis erst jetzt zu einer echten Offenbarungsschrift in die Tora integriert. Diese Verlagerung des Gotteswillens in die „Urzeit“ sollte das Judentum gegen Einflüsse des Hellenismus immunisieren. Besonders typisch für die parabiblische Literatur ist die Rolle und Vielzahl der Engel. Sie ersetzen geradezu Gott, der selbst kaum noch auftaucht. Die vielen − hierarchisch gestuften − Engel sind Adaptionen älterer und zeitgenössischer Götter- und Dämonengestalten. In der Umwelt der Antike war der jüdische Monotheismus schwer zu begründen und zu praktizieren. Die Engelvorstellung war hier vielfach hilfreich. An dieser Stelle nahm die antik-jüdische Literatur also Impulse aus der hellenistischen Umwelt auf und integrierte sie in den eigenen Glauben. Dass die parabiblische Literatur letztlich bis auf wenige Ausnahmen nicht kanonisiert wurde, hängt mit komplexen historischen und theologiegeschichtlichen Entwicklungen zusammen, die hier nicht nachgezeichnet werden können. Sicher ist, dass die meisten dieser Schriften weder ketzerisch waren noch einen nennenswerten Widerspruch zum antiken Judentum formulierten. Sie sind auch niemals durch eine Autorität aus dem Kanon ausgeschlossen oder verboten worden. Vielmehr scheinen sie überwiegend als das betrachtet worden zu sein, was sie dem Ursprung nach sind: Auslegungen und Ergänzungen zur Tora und den Propheten − trotz des Offenbarungsanspruchs, den manche dieser Schriften erheben. Viele Schriftwerke dieses Traditionsstroms gingen verloren oder gerieten in Vergessenheit. Erst die Entdeckung der Bibliothek von Qumran (1947) hat der Forschung hier neue Impulse gegeben (s. C. Böttrich, Pseudepigraphen).
Offenbarungen der Urzeit
Engel
256
Literarhistorische Vertiefung
Die Texte vom Toten Meer und die Gemeinde von Qumran1947 wurden durch Zufall in Höhlen am Toten Meer Schriftrollen aus der Zeit um die Zeitenwende entdeckt. Sie stellten sich als Bücher einer umfangreichen Bibliothek heraus, die im Jüdischen Krieg (66–70 n. Chr.) vor den Römern in Sicherheit gebracht worden war. Die Bibliothek gehörte zur Siedlung Qumran, in der vom 2. Jh. v. Chr. bis zum 1. Jh. n. Chr. eine jüdische Sondergemeinschaft bestand. Nach gegenwärtigem Forschungsstand gründete sich diese Gruppe um 150 v. Chr. aus Widerstand gegen die Politik der makkabäischen Hohepriester (→ Kap. 3.6.3), die die traditionelle Erbfolge des Amtes missachtet hatten. In Qumran lebten Anhänger der entmachteten Priester in freiwilligem Exil. Sie waren wahrscheinlich mit den als „Essenern“ bekannten jüdischen Gruppen identisch bzw. deren Zentrum (H. Stegemann, Die Essener). Die Essener bzw. die Gemeinde von Qumran waren somit eine traditionell geprägte Gruppe des antiken Judentums mit ansatzweise sektiererischen Zügen. Die Bibliothek der Gemeinde von Qumran zeigt, dass die Gemeindeangehörigen ihre Lebensweise vor allem aus dem Studium der Schrift begründeten. Aus ihr leiteten sie ihre Kritik gegen die Jerusalemer Führung ab, entwarfen ihre Gegengemeinschaft und entwickelten ihre Hoffnung. Die Theologie der Gemeinde von Qumran war stark von der endzeitlichen (eschatologischen) Erwartung des Jüngsten Gerichts und des Messias geprägt. Die in Qumran gefundenen Schriften umfassen die jüdische Literatur der hellenistischen Zeit fast vollständig. Sie lassen sich in drei große Gruppen einteilen. Als erstes sind Abschriften biblischer Bücher zu nennen. In Qumran wurde von allen alttestamentlichen Büchern außer dem Esterbuch mindestens je eine Kopie gefunden, außerdem Exemplare von Tobit und Sirach. Die Bibelhandschriften belegen den Stand der Überlieferung und des Textes um die Zeitenwende und sind daher von großem Wert für die Forschung. An zweiter Stelle stehen Abschriften parabiblischer Literatur und aramäischer Targume. Die parabiblische Literatur ist in Qumran ebenfalls fast vollständig vertreten, das belegt die Popularität dieser Werke. Drittens schließlich verfassten die Mitglieder der Gemeinde auch eigene Schriften: Weisungen für das Gemeindeleben, schriftgelehrte Abhandlungen und Kommentare. Sie bezeugen nicht nur die Geschichte der Gemeinde, sondern bieten auch einen Einblick in die Auslegung biblischer Texte hellenistischer Zeit. Aus politischen und anderen Gründen verlief die Herausgabe und Veröffentlichung der Schriftrollen recht uneinheitlich und sehr langsam. Der interne Streit einer Qumran-Forschergruppe 1991 um das Publikationsrecht führte zu Verschwörungstheorien und Vermutungen über Qumran, die allesamt unbegründet sind. Seit 2009 sind die Texte vollständig veröffentlicht (in der Reihe „Discoveries in the Judaean Desert“ (DJD), Oxford University Press); ihre Sprache und Inhalte werden weiter erforscht. Qumranschriften werden nach folgendem System zitiert: Angabe der Nummer der Fundhöhle – Q (für „Qumran“) – Abkürzung der Schrift, Kapitel, Vers, z. B. 4 QEx 1,2 = Qumran-Höhle 4, Exemplar des Buches Exodus, Kapitel 1, Vers 2.
257
Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
Ertrag: Die hellenistische Zeit als Abschlussphase der alttestamentlichen Literaturgeschichte Der Hellenismus als kulturelle und politische Macht veränderte das Gesicht des Vorderen Orients und mit ihm Palästina und das frühe Judentum. Die biblische Literatur der hellenistischen Zeit spiegelt diesen Veränderungsprozess. Dabei gilt für die (biblische) Literatur der hellenistischen Zeit derselbe Befund wie für die anderen Epochen: Sie repräsentiert in ihrer kritischen bis ablehnenden Haltung gegenüber dem Hellenismus die Position(en) einer kleinen Gruppe in Palästina. Die Mehrheit der Bevölkerung nahm − bis in Kreise der politischen und kulturellen Eliten hinein − Normen, Werte und Elemente der hellenistischen Kultur an und auf. Die überlieferte alttestamentliche Literatur hat dies vielfach verschwiegen oder die Verhältnisse umgekehrt: So steht in der Literatur der hellenistischen Zeit ein im rechten Glauben geeintes Volk wenigen Abtrünnigen gegenüber. Die Übersetzungen der Tora ins Griechische (LXX) und Aramäische (Targume) zeigen indes, dass das Judentum der hellenistischen Zeit große Anstrengungen unternahm, jüdischen Glauben und dessen Textgrundlagen auch in weite Kreise der Bevölkerung zu vermitteln. Dass dies gelang, ist an der Existenz jüdischer Gemeinden außerhalb des Mutterlandes zu erkennen. Die äußeren Kennzeichen des Judentums sind die bildlose Verehrung eines einzigen Gottes (Monotheismus), die Beschneidung, die Einhaltung des Sabbat und die Beachtung bestimmter Speisegebote, vor allem der Verzicht auf Schweinef leisch. Eine strikte Einhaltung dieser Gebräuche verhinderte eine vollständige Integration des Judentums in seine nichtjüdische Umwelt. Diese Hauptkennzeichen des Judentums sind in der Tora niedergelegt und begründet. In der hellenistischen Epoche vollendete sich also die Tendenz der persischen Zeit, Identität aus der Tora zu gewinnen. In den hellenistischen Literaturwerken Ester, Judit, Daniel und Makkabäer entzündet sich der dramatische Konflikt denn auch in der Regel an diesen Gebräuchen. War die Tora auch unangefochten das Zentrum frühjüdischen Glaubens und Denkens, so war ihre Anwendung und Auslegung doch eine bleibende Aufgabe. Tatsächlich steht der größte Teil der Literatur der hellenistischen Epoche im Dienste der ToraAuslegung. Dabei variiert der inhaltliche und formale Bezug auf die Tora erheblich.
4.5.6
Minderheiten und Mehrheiten
schriftauslegende Literatur
258
Literarhistorische Vertiefung
Gesetz und Geschichte
Die Regeln, Gesetze und Normen des Judentums werden in der Tora mit einer Geschichtserzählung verbunden, die von der Schöpfung bis zum Tod des Mose reicht. Eine Hauptaufgabe der Literatur in hellenistischer Zeit bestand im Nachweis, dass diese Ereignisse aus Israels frühester Zeit nicht durch neue historische Entwicklungen überholt und damit außer Kraft gesetzt worden waren. Den Anstoß gab die griechische Geschichtsschreibung, die das Ziel der Geschichte in der griechischen Weltherrschaft sah. Die biblische Literatur reagierte darauf mit zwei Antworten. In der prophetischen Literatur wird ref lektiert, dass Israels (historische und theologische) Aufgabe darin besteht, die Normen der Tora unter den Bedingungen jedes politischen Systems zu befolgen. Dies wird in den „vorderen Propheten“ Jos−2 Kön historisch dargelegt und in Jes−Mal („hintere Propheten“) als Voraussage über den Lauf der Weltgeschichte inszeniert (→ Kap. 5.4). Es ergibt sich für die Tradenten und Redaktoren der prophetischen Literatur, dass alle Völker nur Werkzeuge Gottes sind, mit denen er seine Herrschaft über die Welt durchsetzt. Der Zweck dieser Literatur besteht darin, Israel seine Verpf lichtung gegenüber JHWH einzuschärfen. Mit diesem Ziel tritt der Kanon der prophetischen Literatur als dauernde Aktualisierung neben die Tora. Aber auch die romanhaften Identitätserzählungen in Ester und Daniel sind von diesem Geist geprägt. Die Hoffnung auf ein endzeitliches Gottesreich − mit oder ohne Messiasgestalt, mit oder ohne Auferstehung der Toten − erfasste spätestens um das 1. Jh. v. Chr. weite Teile des Judentums und prägt auch das Auftreten Jesu. Der zweite Weg, die dauerhafte Geltung der Tora zu behaupten, war der, möglichst viele ihrer Inhalte aus der Offenbarung am Sinai herauszulösen und ihnen damit eine überzeitliche Geltung zu verschaffen. Den Weg dazu hatte schon in exilisch-frühnachexilischer Zeit die Priesterschrift gewiesen, indem sie Sabbat, Beschneidung und Passa zu Stiftungen Gottes bereits in der Urzeit erklärte (→ Kap. 4.3.5). Die hellenistisch beeinf lusste Urgeschichte (Gen 1−11) betont die Angewiesenheit des Menschen auf göttliche Satzungen. Anders als in der griechischen Philosophie hat der Mensch gerade nicht die vom Schöpfer verliehene Gabe, Gottes Wesen zu entsprechen − die Urzeit bereitet Gottes Offenbarung an Israel also vor und erklärt die Nachkommen Abrahams damit als jene Menschen, die noch am ehesten eine besondere Nähe zu Gott beanspruchen können. Somit verlagert sich der Schwerpunkt der Tora vom Exodus und Sinai endgültig zu Schöpfung und Vorgeschichte als gründender Urzeit. Mose voll-
Ur-Offenbarung
Die Literatur der hellenistischen Zeit (4.–1. Jh. v. Chr.)
endet nur noch den damals angefangenen Weg. Der parabiblischen Literatur ging dies noch nicht weit genug, weswegen sie die wesentlichen Inhalte der Tora-Offenbarung schon in Ur- und Väterzeit vorverlegt. Obwohl die entsprechenden Bücher letztlich nicht kanonisiert wurden, sind diese Interpretationen im nachbiblischen Judentum, im Christentum und auch im Islam wirksam und bestimmend geworden. Zu einem festgefügten Kanon kam es in hellenistischer Zeit noch nicht. Die Bücher des späteren Tanak-Bestandteils „Schriften“ (Ketubim) galten mit Ausnahme der Psalmen noch für lange Zeit nicht als vollwertig kanonische Literatur. Dasselbe gilt für Judit, Tobit, die Makkabäerbücher und das Buch Jesus Sirach, sowie das Jubiläenbuch und Henoch. Auf diese alle verweist wohl schon der griechische Prolog zum Sirachbuch mit der Sammelbezeichnung „die (übrigen) Schriften (der Väter)“. Vom 2. Jh. v. Chr. an bis in die Abfassungszeit der neutestamentlichen Schriften jedoch bildete sich ein zweiteiliges Schriftencorpus heraus, das unangefochten als normative Glaubensurkunde galt. Es wird summarisch als „Gesetz und Propheten“ bzw. „Mose und die Propheten“ bezeichnet (Sir, 1QS 1,1; 8,15; Lk 16,16; 16,29; 16,31; 24,27; Apg 26,22; 28,23), vereinzelt begegnet auch „Mose, Propheten und Psalmen“ (4Q397; Lk 24,44). Die letzten ursprünglich hebräisch verfassten frühjüdischen Schriften sind Dan, Sir und 1 Makk. Danach umfasste die hebräische Literaturproduktion hauptsächlich Kommentar- und Auslegungsliteratur; die antikjüdische Literatur wurde von nun an überwiegend in Aramäisch und Griechisch geschrieben. Insofern kann man das späte 2. bzw. frühe 1. Jh. als vorläufigen Abschluss der alttestamentlichen Literaturgeschichte und das Alte Testament auch als „hellenistisches Buch“ bezeichnen. H.-P. Mathys, Das Alte Testament – ein hellenistisches Buch, in: U. Hübner/E.A. Knauf (Hg.), Kein Land für sich allein (FS M. Weippert), Freiburg/Göttingen 2002 (OBO 186), 278–293.
259
auf dem Weg zum Kanon
260
5 Thematischer Querschnitt: Theologien
im Alten Testament
Inhalt
utb-mehr-wissen.de utb-mehr-wissen.de
5.1
Schöpfung: Von der Entstehung der Welt?. . . . . . . . . . Ϝ
5.2
Abraham, Isaak, Jakob: Familiengeschichten? . . . . . . . Ϝ
5.3
Das Gesetz im Alten Testament: Was sollen wir tun? 263
5.3.1 Die alttestamentliche Darstellung: Texte, Grundzüge, Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 5.4
„So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie . . . . . . . . 280
5.4.1 Prophetie im Alten Testament (Geschichte der Prophetie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 5.4.2 Prophetische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 5.4.3 Themen der Prophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 5.5
„Lobe JHWH, meine Seele“: Die Psalmen. . . . . . . . . . 305
5.5.1 Gebete und Gottesdienst im Alten Testament . . . . . 305 5.5.2 Gebetsliteratur im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . 308 5.5.3 Themen der Psalmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 5.6
„Gottesfurcht ist der Anfang der Erkenntnis“: Die Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
5.6.1 Weisheit, Vernunft und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 5.6.2 Weisheitliche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 5.6.3 Themen der Weisheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
!
Problemanzeige Ein sachgemäßes Verstehen der geschichtlichen Umstände der Entstehung des Alten Testaments ist grundlegender Bestandteil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Bibel und Theo-
Thematischer Querschnitt
261
logie. Viele Fragen und Probleme, die sich aus unserer heutigen Perspektive auf die Texte ergeben, klären sich durch die historische Auseinandersetzung damit. Schließlich ist das Alte Testament ein Buch, das aus einer fremden und vergangenen Welt stammt. Trotzdem ist die historische Erschließung des Alten Testaments nur die halbe Wahrheit. Aus christlicher Sicht macht ja die ganze Bibel Alten und Neuen Testaments Aussagen, die eine überzeitliche Wahrheit enthalten − also das, was damals gesagt, gedacht und geschrieben wurde, gilt für christliches Glauben und Handeln noch immer (und ausschließlich) als verpflichtend (→ Kap. 1). Die Aufgabe christlich-kirchlicher Praxis besteht darin, diese biblischen Inhalte plausibel in die heutige Welt zu „übersetzen“, so dass ihr Sinngehalt auch weiterhin deutlich wird. In der alttestamentlichen Wissenschaft ist diese Auseinandersetzung mit den religiösen Inhalten die Aufgabe einer „Theologie des Alten Testaments“. Diese zeichnet die geschichtliche Entwicklung des alttestamentlichen Gottesbildes und der alttestamentlichen Glaubensinhalte nach den Texten und anderen Quellen nach. Dazu werden historische und literarhistorische (→ Kap. 3 und 4) Einsichten über die Entstehung des Alten Testaments zugrundegelegt und mit den Methoden der Formgeschichte (→ Kap. 2.5.3), der Überlieferungsgeschichte (→ Kap. 2.5.4) und der Traditionsgeschichte (→ Kap. 2.5.5) näher untersucht. Außerdem werden häufig sozialgeschichtliche (→ Kap. 2.6.1) und − in neuester Zeit − auch religionswissenschaftliche Fragestellungen angewandt. „Theologie des Alten Testaments“ oder „Religionsgeschichte Israels“?Bis zur Mitte der 1950er Jahre vollzog sich eine Theologie des Alten Testaments vor allem themenbezogen. Sie stellte die Aussagen des Alten Testaments in Bezug auf die Inhalte der christlichen Glaubenslehre (Dogmatik) dar: Lehre von der Schöpfung, Lehre von Gott, Lehre von der Sünde usw. Die historische Dimension wurde dabei weitgehend ausgeblendet, der normative Charakter alttestamentlicher Aussagen für den christlichen Glauben stand im Vordergrund. Die 1957 erschienene zweibändige „Theologie des Alten Testaments“ von Gerhard von Rad (1901–1971) markiert hier einen Wendepunkt. Von Rad formulierte: „War es nicht fast immer so, daß einem veränderten oder neuen formgeschichtlichen Befund ein veränderter oder neuer theologischer Tatbestand entsprach? Die Überlieferungsgeschichte hat … die verschiedensten Formen der Darstellung der Geschichte Gottes
262
Thematischer Querschnitt
mit Israel in ihrer Schichtung neu sehen gelehrt und hat deutlich gemacht, wie Israel zu allen Zeiten damit beschäftigt war, seine Geschichte von bestimmten Eingriffen Gottes her zu verstehen und wie sich diese Setzungen Gottes jeder Zeit wieder anders darstellten.“ (G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, München 101992, 7)
Seitdem stellt die Theologie des Alten Testaments den Glauben Israels als historischen Entwicklungsprozess dar. Dabei zeigte sich mehr und mehr, dass man sachgemäß besser von Theologien des oder im Alten Testament spricht, weil sich in den Texten verschiedene Glaubensvorstellungen neben-, manchmal auch gegeneinander artikulieren. Ein weiterer Umbruch vollzog sich gegen Ende der 1980er Jahre. Vor allem die Archäologie, aber auch sozialgeschichtliche Forschungen hatten gezeigt, dass es sich bei dem Alten Israel um eine sozial, kulturell und religiös vielfältige Gesellschaft handelte, die untrennbar mit ihrem altorientalischen Kontext verwoben war. Die alttestamentlichen Texte ebnen einen Teil dieser Vielfalt ein und grenzen Israel als Volk JHWHs radikal von seiner Umwelt ab. Dagegen ergibt sich unter Einbeziehung weiterer historischer Quellen (Kunstgegenstände, Bilder, Inschriften usw.) ein ganz anderes Bild. Rainer Albertz forderte daher: „Der religiöse Diskurs Israels fand nicht in einem geschlossenen Raum statt, sondern in einer mehr oder weniger offenen vorderorientalischen Umwelt, unter fortwährender Aufnahme, Abwandlung und Abstoßung dort schon längst geprägter Deutungs- und Verhaltensmuster. (…) Zu fordern bleibt …, daß nicht nur vereinzelte religiöse Aussagen, sondern ähnliche gesellschaftlich-religiöse Konzepte miteinander verglichen werden und daß dieser Vergleich fair … geschieht. Gemeinsamkeiten sind genau so wichtig wie Unterschiede! Der religionsgeschichtliche Vergleich hat nicht die Aufgabe, die Einzigartigkeit der Religion Israels zu beweisen …, sondern ihrem besseren Verstehen zu dienen.“ (R. Albertz, Religionsgeschichte, 31 f.)
Die Konsequenz dieser Perspektive auf den Glauben Israels ist es, auf eine normative „Theologie“ zu verzichten und konsequent historisch-wertneutrale „Religionsgeschichte“ zu schreiben. Die theologische und die religionsgeschichtliche Perspektive auf den Glauben des Alten Israel stehen derzeit nebeneinander. Sie unterscheiden sich dabei weniger in ihren Methoden und Ergebnissen als in ihrem Ziel. Religionsgeschichte versteht sich in erster Linie als historische Disziplin, die dem besseren Verständnis des Glaubens Israels dient. Theologie des Alten Testaments hebt darauf ab, dass das Alte Testament (auch) normative Schrift des christlichen Glaubens ist und daher nicht nur historisch-deskriptiv bearbeitet werden kann. Dieses Buch ordnet sich in die theologische Richtung ein. Der (christlich behauptete) Anspruch auf die Verbindlichkeit der alttestamentlichen Texte soll in die Darstellung mit eingehen.
263
Das Gesetz im Alten Testament: Was sollen wir tun?
Die theologische Praxis in Schule und Gemeinde trifft aus der Vielfalt der religiösen Themen des Alten Testaments eine Auswahl. In diesem Kapitel werden die bedeutendsten dieser Auswahlthemen ausführlicher dargestellt: Schöpfung (5.1), Vätergeschichten (5.2) (beide Kapitel online unter utb-mehr-wissen.de) und Gesetz (5.3). Dem schließen sich drei Überblicke über alttestamentliche Literaturen an, die bisher nur am Rande verhandelt wurden: Prophetie (5.4), Psalmen (5.5) und Weisheit (5.6). Die historischen Entstehungsbedingungen der alttestamentlichen Texte, die Sie in Kap. 3 und 4 kennen gelernt haben, werden hier durch Inhalte, Themen und exemplarische Textauslegungen vertieft. Auf utb-mehr-wissen.de finden Sie auch Ausblicke in die Wirkungsgeschichte und einige Praxis-Impulse, die Ihnen helfen sollen, mit dem Alten Testament sachgemäß umzugehen.
R. Albertz, Religionsgeschichte, 17–43. W. Dietrich, Wer Gott ist und was er will. Neue „Theologien des Alten Testaments“, in: EvTh 56 (1996), 258–285. Jahrbuch für biblische Theologie (JBTh), Bd. 10: Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments?, hg. von I. Baldermann, Neukirchen-Vluyn 1995.
Schöpfung: Von der Entstehung der Welt?
5.1
Abraham, Isaak, Jakob: Familiengeschichten?
5.2
Kapitel 5.1 und 5.2 finden Sie online unter utb-mehr-wissen.de.
Das Gesetz im Alten Testament: Was sollen wir tun? Im Alten Testament spielt „das Gesetz“ eine wichtige Rolle. Der gesamte Zusammenhang von Genesis bis Deuteronomium wird im Judentum unter der Überschrift „Tora“ (= (An-)Weisung) zusammengefasst, obwohl er auch viele erzählende Texte enthält. Nur diese Tora gilt als unmittelbare Offenbarung Gottes. Sie normiert jüdisches Glauben, Leben und Handeln. Alle anderen Bücher haben lediglich eine abgeleitete Autorität. Das Christentum nimmt eine andere Haltung zum „Gesetz“ ein. Nach christlichem Verständnis geht der Glaube dem Handeln voraus und muss es − im Zweifelsfalle auch gegen das Gesetz − bestimmen. Die Frage, welche Vorschriften der Tora auch für christliches Handeln normativ sein sollen, wird daher in der christlichen Theologie breit diskutiert. Ein christlicher Umgang mit dem Phänomen „Gesetz“ hat also einen Maßstab, der nicht
5.3
264
Thematischer Querschnitt
im Alten Testament selbst begründet liegt. Als sachliche Zusammenfassung − und interner Bewertungsmaßstab − gelten häufig die Zehn Gebote (Ex 20; Dtn 5). Aber auch andere alttestamentliche Vorschriften haben die nachbiblische Ethik und Rechtsprechung geprägt. Unabhängig von der Frage, welche Vorschriften aus christlichtheologischer Sicht als Gottes Wille zu gelten haben und welche nicht, ist die ungeheure Vielfalt alttestamentlicher „Gesetzes“Texte zu berücksichtigen. Hier ist ohne eine historische und sachliche Differenzierung nicht viel zu gewinnen. 5.3.1
Die alttestamentliche Darstellung: Texte, Grundzüge, Entwicklungen H.-J. Boecker, Redeformen des Rechtslebens im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 21970 (WMANT 14). J. C. Gertz, Die Gerichtsorganisation Israels im deuteronomischen Gesetz, Göttingen 1994 (FRLANT 165). N. Lohfink, Gesetz, Gerechtigkeit und Erbarmen im Alten Testament und im Alten Orient, in: ED 52 (1999), 251–265. H. Niehr, Rechtsprechung in Israel. Untersuchungen zur Geschichte der Gerichtsorganisation im Alten Testament, Stuttgart 1987 (SBS 130). E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart/Berlin/Köln 1994 (ThW 3,2).
Texte, die − mit oder ohne göttliche Autorität − vorschreiben, was man tun oder lassen soll, finden sich nicht nur im Pentateuch. Handlungsnormierende Aussagen liegen außerdem in der weiteren Erzählüberlieferung (z. B. Jos 24), in der Prophetie (z. B. Am 5), den Psalmen (z. B. Ps 119) und den Sprüchen Salomos (z. B. Prov 1,10−16) vor. Die wenigsten dieser Texte beziehen sich auf das Gesetz in dem Sinne, dass sie die gesetzlichen Vorschriften erläutern. „Gerechtigkeit“ und WeltordnungGrundlage für ethisch normative Aussagen im Alten Testament ist die Idee der „Gerechtigkeit“. Diese ist im Alten Testament keine abstrakte Handlungsnorm oder allein ein Rechtsgrundsatz, sondern eine Art dynamischer Prozess. Gerechtigkeit ereignet sich. Der Ausgangspunkt ist auch hier das altorientalische Weltbild. „Gerechtigkeit“ (hebr. s≥ædæq, s≥eda ¯qah¯ ) ist die ideale Ordnung der Welt, die Menschen politisch, sozial und ethisch verwirklichen können. Sie äußert sich darin, dass jeder bekommt, was er braucht, und jeder und jede tut, was zu tun ist. So wie Gott das Chaos in Gestalt von Feinden und Katastrophen daran hindert, sich unkontrolliert auszubreiten, so wird mit der Gerechtigkeit verhindert, dass sich Unterdrückung und Gewalt unkontrolliert ausbreiten. Diese Vorstellung gilt im gesamten Alten Orient.
Das Gesetz im Alten Testament: Was sollen wir tun?
Das heißt, Gerechtigkeit ereignet sich in Mitmenschlichkeit, Solidarität, Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft usw., aber auch darin, Regeln und Grenzen anzuerkennen. Der alttestamentliche Mensch hat das Ideal, ein „Gerechter“ (s≥addiq) zu sein, was viel mehr ist als ein im juristischen Sinne Unschuldiger. Ein Gerechter ist vielmehr ein aufrichtiger und verantwortungsbewusster Mensch. Der gesamte Alte Orient weiß, dass sich dieses Ideal nicht von selbst einstellt, sondern dass man zur Gerechtigkeit immer wieder ermahnt und ermuntert werden muss. Recht und Gesetz sind eine Möglichkeit, Gerechtigkeit zu verwirklichen. Eine gesetzgebende Autorität sorgt für die allgemeine Geltung der Regeln und durch konkrete Sanktionen für deren Einhaltung.
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Gerechtigkeit als Handlungsnorm
Gesetzescorpora im Alten TestamentGesetz im Sinne konkreter Rechtsbestimmungen findet sich im Alten Testament in folgenden Textabschnitten: Exodus Ex 20,22–23,33
sog. „Bundesbuch“
Ex 25–31; 35–40
Kultgesetz
Ex 34,10–26
sog. „Privilegrecht JHWHs“
Leviticus Lev 1–7
Opfervorschriften
Lev 11–15
Reinheitsvorschriften
Gesetzgebende Autorität in allen diesen Textcorpora ist Gott selbst. Empfänger dieser Gesetze ist Israel, das meist direkt angeredet wird (als „Du“ oder als „Ihr“). Die Folgen bei Beachtung oder Nichtbeachtung der Bestimmungen sind je nach Rechtsgegenstand sehr unterschiedlich. In die Gesetzescorpora ist heterogenes Material eingegangen; es handelt sich um komplexe Sammlungen rechtsverbindlichen Materials ganz unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Reichweite. Die entsprechenden Sätze unterscheiden sich in Form und Inhalt, nicht aber in ihrer Normativität. F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, Gütersloh 21997. N. Lohfink, Das Recht und die Barmherzigkeit. Rechtsbücher im alten Orient und in der Bibel, in: Ders., Im Schatten deiner Flügel. Große Bibeltexte neu erschlossen, Freiburg/Basel/Wien 1999, 64–81.
Die genannten Gesetzescorpora bilden eine komplizierte Entstehungsgeschichte ab; sie entstammen unterschiedlichen Zeiten, Verfasserkreisen und historischen Kontexten. Insgesamt ist cha-
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das Bundesbuch als Grundlage des alttestamentlichen Gesetzes
Thematischer Querschnitt
rakteristisch für das alttestamentliche Gesetz, dass nicht automatisch ein jüngeres Gesetz das ältere aufhebt, sondern dass die unterschiedlichen Sammlungen sich gegenseitig interpretieren sollen. Als älteste Gesetzessammlung des Alten Testaments gilt allgemein das sog. „Bundesbuch“ in Ex 20,22–23,33. An ihm lässt sich die Eigenart alttestamentlicher Gesetzesethik exemplarisch studieren.
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Ex 20,22−23,33. W. Oswald, Art. Bundesbuch, in: www.wibilex.de. R. Rothenbusch, Die kasuistische Rechtssammlung im „Bundesbuch“ (Ex 21,2–11.18–22,16) und ihr literarischer Kontext im Licht altorientalischer Parallelen, Münster 2000 (AOAT 259). L. Schwienhost-Schönberger, Das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33). Studien zu seiner Entstehung und Theologie, Berlin/New York 1990 (BZAW 188).
Das Bundesbuch hat seinen Namen nach Ex 24,7, die Sammlung von Gesetzen war aber ursprünglich von der Erzählsituation Exodus − Mose − Sinai unabhängig (→ Kap. 4.2.2.; 4.3.3). Sie enthält im Grundbestand folgende Vorschriften: Ϝ Ϝ Ϝ Ϝ Ϝ Ϝ
Ex 21,1−11* (Vorschriften zur Behandlung von Sklaven) Ex 21,12−17* (Todeswürdige Verbrechen) Ex 21,18−32 (Rechtsfälle bei körperlichen Verletzungen) Ex 21,33−22,14* (Haftungsfragen) Ex 22,15−16 (Rechtsfälle bei körperlichen Verletzungen) Ex 22,17−19* (Todeswürdige Verbrechen).
Das Bundesbuch stellt also eine durchdachte Komposition dar. Die einzelnen Vorschriften haben ihren Sinn nicht nur in sich selbst, sondern auch in ihrer Anordnung und ihrem Bezug zueinander. Diese Komposition soll den Rechtsgelehrten, die sowohl die Verfasser als auch die Leser dieser Texte waren, dabei helfen, die einzelnen Vorschriften nicht nur zu verstehen, sondern auch zu memorieren: Die Zusammenstellung diente vermutlich ursprünglich der Ausbildung von Juristen am Königshof. Im Bundesbuch begegnen sehr unterschiedliche Vorschriften, sowohl formal als auch inhaltlich.
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Das Gesetz im Alten Testament: Was sollen wir tun?
Rechtssatzformen im Alten TestamentAlttestamentliche Rechtssätze lassen sich in zwei Grundformen ausdifferenzieren: „apodiktisches“ und „kasuistisches“ Recht. Die Unterscheidung stammt von Albrecht Alt. – „Apodiktisches“ (griech. für „beweiskräftig“) Recht formuliert eine Abfolge von Rechtsfall und Rechtsfolge, doch vom konkreten Fall wird völlig abgesehen. Im Bundesbuch gehören vor allem die sog. „Todessätze“ zum apodiktischen Recht: Ex 21,12 Wer einen Menschen schlägt, dass er stirbt, der soll des Todes sterben. 15 Wer Vater oder Mutter schlägt, der soll des Todes sterben. 22,18 Wer einem Vieh beiwohnt, der soll des Todes sterben.
– Die Fälle, die sehr konkret eine Sache durchbuchstabieren, nennt man „kasuistisches“ (= fallbezogenes) Recht. Ein Fall wird eingeführt mit einem Bedingungssatz: „Gesetzt den Fall, dass jemand“ – die Folge wird dann mit einem Folgesatz bestimmt „dann soll man (er)“. Es können auch noch Unterfälle dazukommen. Ein typisches Beispiel für kasuistisches Recht ist Ex 22,4–5: 4 Wenn jemand in einem Acker oder Weinberg Schaden anrichtet, weil er sein Vieh das Feld eines andern abweiden lässt, so soll er‘s mit dem Besten seines Ackers und Weinberges erstatten. 5 Wenn ein Feuer ausbricht und ergreift die Dornen und verbrennt einen Garbenhaufen oder das Getreide, das noch steht, oder den Acker, so soll Ersatz leisten, wer das Feuer angezündet hat.
Der überwiegende Teil von Ex 21 und 22 ist kasuistisch formuliert. Diese Rechtssätze haben z. T. wörtliche Vorbilder in mesopotamischen Rechtssammlungen. Albrecht Alt verband diese beiden Grundformen des Rechts mit unterschiedlichen sozialen und religiösen Herkunftssituationen: Das apodiktische Recht stamme demzufolge aus nomadischen Verbänden, die sozial wenig differenziert waren. Sie leiteten ihre rechtlichen Normen direkt von Gott her. Kasuistisches Recht dagegen habe seine Herkunft in der kanaanäischen Stadtstaatenkultur. Die sozial- und religionsgeschichtliche Herleitung Alts ist inzwischen von der Forschung in Frage gestellt worden, die formale Unterscheidung wird jedoch beibehalten.
Zumindest die kasuistischen Fälle in Ex 21,18−22,16 sind für die aktuelle Rechtsprechung und für Gerichtsverfahren konzipiert. Es handelt sich um konkrete straf- und zivilrechtliche Handlungsanweisungen. Bestimmte Straftatbestände oder Ordnungswidrigkeiten werden konkret benannt, und es wird ein Verfahren zur Lösung des Problems festgesetzt. Fälle wie diese wurden wohl in den Ortschaften verhandelt. Prinzipiell gilt bei den Rechtsverfahren, die auf diesem Weg geregelt wurden, dass jeder den gleichen Anspruch auf Gehör
Ex 21,18–22,16: Anleitung zur Rechtsprechung
Auge um Auge
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Thematischer Querschnitt
vor Gericht und auf Ausgleich seiner Interessen hatte, wie auch prinzipiell jeder sein Interesse geltend machen konnte − solange es sich um einen freien, grundbesitzenden, einheimischen Mann handelte. Frauen, Kinder, Arme und Fremde waren keine Rechtssubjekte, sondern darauf angewiesen, dass jemand ihre Interessen vertrat. Als berühmtestes und am häufigsten missverstandenes Recht dieser Art kann Ex 21,22–25.26–27 gelten. 21,22 Wenn Männer sich raufen und dabei eine schwangere Frau stoßen, so dass ihr die Leibesfrucht abgeht, aber kein weiterer Schaden entsteht, so muss dem Schuldigen eine Geldbuße auferlegt werden, je nachdem, wieviel ihm der Eheherr der Frau auferlegt, und er soll nach dem Ermessen von Schiedsrichtern geben. 23 Falls aber ein weiterer Schaden entsteht, so sollst du geben Leben um Leben, 24 Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, 25 Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme. (ELB)
Verhinderung von Anarchie
Der Satz „Entsteht aber ein weiterer Schaden daraus …“ bezieht sich auf Leib und Leben der geschädigten Frau. Wird sie über die vorzeitig beendete Schwangerschaft hinaus bei dem Handgemenge verletzt, so entspricht die Bestrafung des Schuldigen exakt der angerichteten Verletzung, d. h. im schlimmsten Fall muss der Totschläger sterben, wenn die Frau (und nur sie) bei diesem Fall ums Leben kommt. Hier gibt es keinen Ermessensspielraum mehr, der Grundsatz wird durch die Anrede in der 2. Person ins Grundsätzliche erhoben. Anwendbar war er daher vermutlich auch in anderen Fällen unbeabsichtigter Körperverletzung mit weiteren Folgen. Der Satz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ wird als „Talionsrecht“ (lat. talio = Ausgleich, Vergeltung) bezeichnet und gilt häufig als Inbegriff alttestamentlicher Ethik im Sinne des „Wie du mir, so ich dir“ oder der Rache. Tatsächlich steht dahinter aber gerade das Prinzip des Täter-Opfer-Ausgleichs. In der Rechtswissenschaft spricht man in solchen Fällen von „Spiegelstrafe“. Bei der Anwendung des Talionsprinzips gilt, dass der Schaden erst bilanziert werden muss. Einer unkontrollierten Rache − die notwendig zu Anarchie führen muss − ist damit Einhalt geboten. Es gilt: nur ein Leben für ein Leben. Die Talionsformel findet sich übrigens auch in anderen Gesetzessammlungen außerhalb des Alten Testaments und ist daher kein genuin alttestamentliches Prinzip. Vor allem aber gilt sie nur in der Rechtsprechung und
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Das Gesetz im Alten Testament: Was sollen wir tun?
nur bei Körperverletzung. Es handelt sich nicht um einen ethischen Grundsatz. Die auffallend sorgfältig behandelte Thematik der (Schuld-) Sklaverei weist auf den historischen Hintergrund der Komposition des Bundesbuches. Erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung während der assyrischen Zeit (→ Kap. 3.3.6; 3.3.7) nahm die Schuldsklaverei als Instrument des Kreditrechts in signifikantem Maße zu; die Behandlung der Schuldsklaven war jedoch noch nicht übergreifend geregelt. Da man mit unterschiedlichen juristischen Einzelfallbestimmungen in Juda und Israel rechnen muss, deutet die Vereinheitlichung des Sklavenrechts − wie auch der Fragen von Sachhaftung − auf die Zeit nach 720 v. Chr. Die aus Flüchtlingen und Einheimischen zusammengesetzte Bevölkerung Judas nach der Eroberung Samarias erhielt eine neue Rechtsordnung und wurde auf gemeinsame Maßstäbe verpflichtet. Erlassen wurden diese Gesetze wahrscheinlich vom König; meist wird die Erstfassung des Bundesbuches unter Hiskia angesetzt. Der Ausgangspunkt des alttestamentlichen Gesetzes war also eine staatliche Rechtsordnung, die auf allgemeinorientalischen Grundlagen fußte. Sie regelte den geordneten Vollzug der Gemeinschaft in Konfliktfällen. Gott steht als Autorität hinter diesen Gesetzen, aber sie wurden noch nicht als Gottes Wort erfasst. Die fortschreitende historisch-politische Entwicklung führte aber zu einer verstärkten theologischen Ref lexion und Begründung des Rechts. Zwischen 720 und 587 v. Chr. wurde die theologische Begründung von Recht und Gerechtigkeit in dem Maße wichtiger, wie die Akzeptanz der Könige Judas unter dem Druck der Fremdmächte abnahm. Hinzu kommt, dass der Kulturdruck der Assyrer und Babylonier, also die Propaganda für Assur und Marduk als (Schutz-)Götter der besetzten Territorien, in Samaria und Juda eine Gegenbewegung in Gang setzte, die die Autorität JHWHs stärkte (→ Kap. 4.2.3; 4.2.4). Die theologische Begründung und der verpflichtende Charakter des Rechts sind ein integraler Bestandteil dieser Entwicklung. Schon im Bundesbuch lässt sich beobachten, dass die konkrete Rechtsprechung um sozialethische Grundsätze erweitert wird. Sie sind in der 2. Person formuliert und gebieten − ohne juristische Konkretion − den Schutz besonders Benachteiligter: Fremder und Schuldner aus dem eigenen Volk, Witwen und Waisen (Ex 22,19−23,9; 23,10−12). Außerdem wird die Kultausübung vereinheitlicht: Geregelt wird der Bau von Altären (Ex 20,24−26) sowie
das Bundesbuch: Recht in der späten Königszeit
vom Königsrecht zum Gottesrecht
270
Vereinigung von Recht und Ethik
das Deuteronomium: Liebe und Gebot
Thematischer Querschnitt
der Vollzug von Festen und Opfern (Ex 22,28 f.; 23,14−17.18−19). Die konsequente Formulierung als Anrede in der 2. Person weist darauf hin, dass Gott hier als Sprecher gedacht und das Gesetz explizit auf das Wort Gottes zurückgeführt wird. Indem Recht und Ethik zusammengeführt und gemeinsam der Autorität Gottes unterstellt wurden, brach Israel mit gemeinorientalischen Traditionen. Recht und Ethik waren bis dahin zwei verschiedene Weisen, wie Menschen Gerechtigkeit und Ordnung verwirklichen konnten und sollten. Es stand auch niemals in Zweifel, dass Handlungsregeln auf göttlicher Setzung beruhten. Ethisches und moralisches Handeln bedurften aber keiner religiösen oder theologischen Begründung, sondern waren vielmehr eine Sache des gesunden Menschenverstandes oder der „Weisheit“, in der jeder Mensch erzogen wurde (→ Kap. 5.6). Recht hingegen wurde in göttlichem Auftrag vom König gesetzt. Im spätvorexilischen Bundesbuch wurden nun beide normativen Systeme zusammengeführt und als Offenbarung Gottes begründet. Man kann das „Ethisierung des Rechts“ oder „Verrechtlichung der Ethik“ nennen, auf jeden Fall wurden sie gemeinsam theologisiert. Der Sinn dieser Neubewertung und Neubegründung allen Handelns war es, Israel und Juda in allen Aspekten auf sich und seine Beziehung zu JHWH zu gründen und dem Einf luss der Nachbarmächte keinen Raum zu lassen. Eine Vermischung von Recht und Ethik sowie eine Unterordnung der beiden unter die Autorität Gottes findet sich auch im Deuteronomium (→ Kap. 4.3.4). Dabei übernahm das Deuteronomium in seinem rein gesetzlichen Teil (Dtn 19−25) die Vorschriften des Bundesbuches und aktualisierte sie. Die juristische Grundschrift für das alttestamentliche Gesetz ist also das immer neu interpretierte Bundesbuch. Das Deuteronomium gestaltet sich aber grundsätzlich von der Idee des Bundes zwischen JHWH und Israel her und stellt seiner Handlungsanweisung die theologische Präambel von Dtn 6,4−6 voran: 4 Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. 5 Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. 6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen.
die Zehn Gebote
Dem erweiterten Bundesbuch fehlte zunächst eine solche theologische Präambel. Ex 20−23 erhielt seine theologisch-ethische Grundlage in den Zehn Geboten, die dem erweiterten Bundesbuch vorangestellt wurden.
Das Gesetz im Alten Testament: Was sollen wir tun?
271
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Ex 20,2−17. R. Albertz, Hintergrund und Bedeutung des Elterngebots im Dekalog, in: ZAW 90 (1978), 348– 374. H. Deuser, Die Zehn Gebote. Einführung in die theologische Ethik, Stuttgart 2002. F.-L. Hossfeldt, Zum synoptischen Vergleich der Dekalogfassungen. Eine Fortführung des begonnenen Gesprächs, in: Ders. (Hg.), Vom Sinai zum Horeb. Stationen alttestamentlicher Glaubensgeschichte, Würzburg, 1989, 73–117. M. Köckert, Die Zehn Gebote, München 2007. M. Köckert, Art. Dekalog, in: www.wibilex.de. R. G. Kratz, Der Dekalog im Exodusbuch, in: VT 44 (1994), 205–238. B. Lang, „Du sollst nicht nach der Frau eines anderen verlangen“, in: ZAW 93 (1981), 216–224.
Die Zehn Gebote (auch griech. Dekalog = Zehn Worte; nach Dtn 4,13; 10,4) sind eine Zusammenstellung von Anweisungen zum rechten Glauben und Handeln. Im Judentum und Christentum gelten sie als die ethische Anweisung schlechthin, als Zusammenfassung des Gesetzes. Ihre Zählung ist im Judentum und in den christlichen Kirchen unterschiedlich. Die Unterschiede der Zählung ergeben sich aus theologischen Entwicklungen und Interpretationen aus nachbiblischer Zeit sowie aus unterschiedlichen Interpretationen des Gebotscharakters der einzelnen Sätze. In der Sache besteht aber kein Unterschied: Die Zehn Gebote sind die von Gott offenbarte Grundlage allen Handelns. Ex 20,2–17
Judentum Reformierte/ Katholische/ Orthodoxe Lutherische Kirchen Kirchen
2 Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.
1
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1
3 Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
2
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4 Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist. 5 Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein
2
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272
Thematischer Querschnitt
Ex 20,2–17
Judentum Reformierte/ Katholische/ Orthodoxe Lutherische Kirchen Kirchen
Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, 6 aber Barmherzigkeit erweist an vielen Tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten. 7 Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.
3
3
2
8 Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. 9 Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. 10 Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. 11 Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.
4
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12 Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.
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13 Du sollst nicht töten.
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14 Du sollst nicht ehebrechen.
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15 Du sollst nicht stehlen.
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16 Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
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17 Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
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Das Gesetz im Alten Testament: Was sollen wir tun?
Ex 20,2–17
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.
Judentum Reformierte/ Katholische/ Orthodoxe Lutherische Kirchen Kirchen 10
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Der unterschiedliche Umgang der nachbiblischen Religionen mit dem Text der Zehn Gebote hat auch eine alttestamentliche Vorgeschichte. Die Zehn Gebote gehören zu den ganz wenigen Texten, die sich an zwei Stellen des Alten Testaments finden: Ex 20,2–17 und Dtn 5,6–21. Dabei unterscheiden sich die beiden Fassungen voneinander. Diese Unterschiede haben mit der Entstehungsgeschichte der Zehn Gebote zu tun. Vor allem aufgrund der textlichen Unterschiede stellt sich die Frage, welche Dekalogfassung die ältere ist und für welchen literarisch-theologischen Zusammenhang sie erstmalig konzipiert wurde. Dabei muss man davon ausgehen, dass beide Fassungen heute nicht mehr in ihrer Urform vorliegen. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass die Fassung von Ex 20,2−17 die ältere Version der Zehn Gebote darstellt (ausführlich R. G. Kratz, Dekalog). Die älteste erreichbare Textfassung des Dekalogs ist wahrscheinlich Ex 20,2–5a.7a.8.12a.13–17. Für die weitere Textentwicklung ist noch wichtig, dass sich die Begründung des Sabbatgebots in Ex 20 und Dtn 5 signifikant unterscheidet. In beiden Fassungen wird der Sabbat unter dem Eindruck der exilisch-nachexilischen Entwicklungen in einen wöchentlichen Ruhetag verwandelt und als zu JHWH gehörig bezeichnet (Ex 20,9−10; Dtn 5,13−14). Dtn 5,15 fügt dann eine Begründung hinzu, die sich auf den Exodus zurückbezieht, Ex 20,11 begründet den Sabbat mit der priesterschriftlichen Herleitung aus der Schöpfung. Diese Begründung ist mit Sicherheit die jüngere. Der Dekalog formuliert in weitgehend apodiktischer Form Vorschriften, die das Verhältnis Israels zu Gott und der einzelnen Israeliten untereinander betreffen. Angeredet wird Israel in der 2. Person Sg. als „Du“, so dass diese Sammlung von Vorschriften zu einer Sache der persönlichen Aneignung wird, der sich niemand entziehen kann. Begründet wird lediglich die Einzigartigkeit des Gottes, der diese Forderungen erlässt. Konsequenzen rechtlicher oder moralischer Natur werden nur beim Elterngebot angedeu-
ein Text an zwei Stellen
Ex 20: Grundstruktur
274
Ex 20: zweiteilige Gliederung
Ex 20: dreiteilige Gliederung
Thematischer Querschnitt
tet. So steht der Dekalog als Ganzer in sich selbst und für sich selbst und erhält seine Gültigkeit aus der Autorität des gebietenden Gottes und seiner Beziehung zum angeredeten Israel. Die Anordnung der einzelnen Gebote und ihre Bezüge untereinander sind sorgfältig komponiert. Üblicherweise gliedert man den Dekalog in zwei Teile: Vv. 2–11 formulieren „Gottesrecht“, also das, was man Gott gegenüber zu tun hat; Vv. 12–17 dagegen „Menschenrecht“, also grundsätzliche Regeln für den Umgang mit den Mitmenschen. In der Tradition, vor allem in der Bilddarstellung, sind diese Teile auf die zwei Gebotstafeln verteilt worden. Es ist erkennbar, dass Vv. 2−6 in der 1. Person formuliert sind: JHWH spricht von sich selbst. Vv. 7−17 sprechen in der 3. Person mask. von JHWH. Und das heißt: schon innerhalb des sog. „Gottesrechts“ wird eine grundlegende Unterscheidung getroffen zwischen Geboten, in denen Gott unmittelbar spricht, und solchen, die mittelbar auf Gott bezogen sind. Daraus folgt: Der Dekalog gliedert sich sachlich möglicherweise in die zwei Teile „Gottesrecht“ und „Menschenrecht“, formal sind aber drei Teile zu unterscheiden: „Folgt man … der durch den Personenwechsel erreichten Zweiteilung, so setzt sich der Dekalog nicht eigentlich aus den ‚zwei Tafeln‘, sondern aus dem Kopf der Jahwerede V. 2–6 und ihrer Entfaltung in Gottesrecht V. 7–11 sowie im ‚Menschenrecht‘ V. 12–17 zusammen.“ (R. G. Kratz, Der Dekalog, 208)
Ex 20,2–6: das Kopfstück
Ex 20,7–17: Komposition
Das „Kopfstück“ oder die Präambel der Zehn Gebote gibt die Begründung für die nachfolgenden Einzelforderungen: Gott ist der Befreier aus Ägypten. Erst in der Anerkennung JHWHs ist das Halten der Gebote möglich. Damit bilden Vv. 2−6 den theologischen Vorspann zu den Geboten, den begründenden Ansatzpunkt für theologische Ethik, nicht die Ethik selbst. Ex 20,7−17 enthält die konkreten Gebote, die sich dann sachlich in „Gottesrecht“ (Vv. 7−11) und „Menschenrecht“ (Vv. 12−17) einteilen lassen. Die Anordnung ist sorgfältig durchkomponiert. In den Vv. 7−11 beginnt die Reihe mit einem Verbot („Du sollst nicht“) und wird mit einem Gebot („Du sollst“) fortgesetzt. In Vv. 12−17 ist dieses Verhältnis umgekehrt: Erst kommt das Gebot, dann die Verbote. Gleichzeitig erhalten die beiden jeweils ersten Teile, der Namensmissbrauch und das Elterngebot, eine zum Handeln motivierende Begründung. Bei V. 7 entspricht dem Verbot eine negative Folge, bei V. 12 sind Gebot und positive Mo-
275
Das Gesetz im Alten Testament: Was sollen wir tun?
tivation hintereinandergestellt. Die Begründung des Sabbatgebots in V. 11 ist ein späterer Zusatz. Bis zum Elterngebot spricht der Text regelmäßig von „JHWH, deinem Gott“ − ab V. 13 ist von Gott nicht mehr die Rede. Die Komposition Vv. 7−13 als Ganze ist also noch besonders eng auf das einleitende Kopfstück bezogen. V. 7 fordert, dass man sich im Gebrauch des Gottesnamens das Wesen dieses Gottes bewusst macht: Er ist der Befreier, der Gnädige und der Heimsuchende. Nach altorientalischem Denken wird im Namen einer Sache oder einer Person etwas von ihrem Wesen transparent, spricht man diesen Namen aus, dann versucht man, sich dieses Wesens zu bemächtigen: als Hilfe oder als Gegner. Die Namen von Göttern offenbaren demzufolge auch etwas von deren Wesen. Deswegen hütete man sich ohnehin davor, die Götter allzu oft mit ihrem Namen zu benennen. Dieser Impuls wird im Verbot des Namensmissbrauchs eingeschärft. Es ist das einzige Gebot des Dekalogs, das mit einer echten Strafandrohung belegt wird, weil es in ihm immer noch um das Wesen Gottes geht. Das Sabbatgebot ist das positive Gegenstück zum Bilderverbot: Man dient dem Befreier am besten, wenn man einmal pro Woche Freiheit verwirklicht, weniger für sich selbst als für die, für die man Verantwortung trägt. Von daher bedarf es der zusätzlichen Begründung des Sabbatgebotes in Ex 20,11 bzw. Dtn 5,15 eigentlich nicht. Die beiden Erklärungen sind nachgetragen, um die verschiedenen Theologien des Sabbats aneinander anzugleichen: die der Priesterschrift, die den Sabbat aus der Schöpfung ableitet, und die Tradition der Zehn Gebote, die den Sabbat aus dem Exodusereignis heraus begründet. Im jetzigen Bibeltext stehen die beiden Begründungen hintereinander, Schöpfung in der Fassung von Ex 20, Herausführung aus Ägypten in Dtn 5, und wiederholen so die gesamte Großerzählung des Pentateuch: Schöpfung, Exodus, Sinai. Das positiv formulierte Sabbatgebot wird mit einer weiteren positiv formulierten Anweisung fortgesetzt, dem Elterngebot. Hier erreicht der Text die Regeln für das Zusammenleben unter Menschen, wobei im Elterngebot noch einmal der Gottesname genannt und das Gebot begründet wird. So bildet das Elterngebot den Übergang von der genuin theologischen zur Alltagsethik. Es wird mit einer begründenden Motivation versehen: damit deine Tage lange währen in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt.
Ex 20,7: der Missbrauch des Gottesnamens
Ex 20,8–11: das Sabbatgebot
Ex 20,12: das Elterngebot
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Ex 20,11–13: das Recht des anderen
Thematischer Querschnitt
Auf diese Weise kommt im Elterngebot die Geschichte an ihr Ziel, die mit der Herausführung aus Ägypten beginnt. Diese erfolgt ja nicht nur, damit die Israeliten aus der Sklaverei befreit werden, sondern damit ihr neues Dasein als von Gott Befreite eine Heimat bekommt: im Land, das JHWH ihnen gibt. In diesem Land soll sich die geschenkte Freiheit konkret bewähren. Der Respekt vor den Eltern hat dabei auch den Sinn, die Generationenfolge derer, die JHWH lieben, nicht abreißen zu lassen. Die nächsten drei Gebote bilden eine Einheit eigener Art. Streng genommen handelt es sich um Verbote, die in äußerster Kürze formuliert werden: Ex 20,13: Du sollst nicht töten (wörtlich: morden) Ex 20,14: Du sollst nicht ehebrechen Ex 20,15: Du sollst nicht stehlen
An das Tötungsverbot hat sich eine lange Diskussion angeschlossen. Der hebräische Text lautet „Du sollst nicht ‚morden‘. Das Verb rās≥ah≥ wird weder im Alten Testament noch in verwandten Sprachen in echten juristischen Texten verwendet. Es handelt sich also nicht um ein Töten, das rechtlich handhabbar wäre. Rās≥ah≥ bezeichnet auch niemals das Töten im Krieg oder die Tötung durch Unfall oder aus Notwehr. Nur ein einziges Mal wird es im Zusammenhang mit der (streng kontrollierten) Blutrache verwendet. In den Zehn Geboten wird also das gewalttätige schuldhafte Töten verboten, dessen Art und Weise nicht näher definiert ist. So unbequem es für uns ist: Krieg, Notwehr, Hinrichtungen fallen für das Alte Testament nicht unter das Tötungsverbot. Luthers Übersetzung hat das verwischt, und heute fassen wir zumindest in Europa das Tötungsverbot in seiner größtmöglichen Breite auf. In dieser Interpretation drücken sich zweieinhalbtausend Jahre Wirkungsgeschichte der Zehn Gebote aus, in deren Verlauf das Tötungsverbot immer mehr verschärft und Handlungen einbezogen wurden, auf die der Text ursprünglich nicht zielt. Über der Diskussion um die inhaltliche Füllung des Tötungsverbots gerät häufig ein wichtiger Aspekt außer Blick. Bei keinem der drei Gebote Vv. 11−13 wird ein Geschädigter genannt. Das heißt, dass das Mordverbot jedes potentielle Opfer schützt. Hier wird in der konkreten Dramaturgie des Dekalogs im Grunde unser unveräußerliches Menschenrecht formuliert, das lautet: Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. In alttestamentlichem Denken: Der Gott der
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Das Gesetz im Alten Testament: Was sollen wir tun?
Freiheit und Befreiung will keine Gewalt von Menschen an Menschen. Die Erinnerung an Ägypten soll dies ausschließen. Das gleiche gilt für Ehebruch und Diebstahl. Mit diesen drei Prohibitiven wird ein Minimum an sozialem Miteinander in einer armen, verunsicherten und durch Krieg und Deportation bereits stark vermischten und unübersichtlichen Gesellschaft möglich. Egal, ob Mit-Israelit oder Umgesiedelter, ob Einheimischer oder Flüchtling, JHWH-Gläubiger oder Gottesverehrer, Besatzer oder Sklave, Mann, Frau, Kind: Ihr Leben, ihre Familie und ihr Eigentum sind zu respektieren und zu schützen, weil und obwohl JHWH Israel von den anderen Völkern abgrenzt. Dass diese − wahrscheinlich durchaus nicht neuen − ethischen Grundsätze in so scharfer Formulierung in den Dekalog eingesetzt werden, gibt ethischen Selbstverständlichkeiten einen ganz neuen Aspekt. Es gibt keine historische Situation und keine gesellschaftliche Konstellation, in der man den anderen als Untermenschen oder anderweitige Ausnahme von Gottes Willen betrachten könnte. Die beiden letzten Anweisungen stellen dann die Linse noch einmal schärfer. Hier geht es um den „Nächsten“, tatsächlich den Angehörigen des eigenen Volkes. Er darf nicht durch Verleumdung, falsche Anklage oder Meineid geschädigt werden, und sein Hausstand ist zu respektieren. Diese Gebote beschränken sich zwar auf die Angehörigen des eigenen Volkes, aber es werden keine sozialen Unterschiede gemacht. Mit diesem Blick auf die Verhältnisse innerhalb des eigenen Volkes kommt der Dekalog an sein Ende. Sowohl im Exodusbuch als auch im Deuteronomium fungieren die Zehn Gebote als Zusammenfassung dessen, was − im Lichte der Befreiung aus Ägypten − zu tun ist. Es handelt sich dabei mehr um theologische Ethik als um „Gesetz“. Es gibt keine Instanz, die die Einhaltung der Gebote überprüft, noch werden Strafen für Übertretungen angedroht. Eine solche Kontrolle ist Wesen des Gesetzes, dies folgt erst in Ex 21−23; Dtn 12−26. Ihre Plausibilität und Begründung erfahren Dekalog und Gesetz in Ex−Dtn durch die erzählerische Verortung in einer bestimmten historischen Situation. Israel erhielt Gebot und Gesetz nach der Befreiung aus Ägypten. Die Erinnerung an diese Heilstat wird in den Vorschriften transportiert: Herrschaft von Menschen über Menschen soll nie wieder die Form der ägyptischen Sklaverei annehmen. Gottes Wille zur Gerechtigkeit ist direkt und unmittelbar, durch keine Form von Herrschaft oder Staatlichkeit gefiltert.
Ex 20,16–17: das Recht des Nächsten
Gebot und Gesetz
Gesetz und Geschichte
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Thematischer Querschnitt
So versucht sich das alttestamentliche Israel gegen die Unwägbarkeiten seiner politischen und sozialen Geschichte gewissermaßen zu immunisieren. Aus dieser Herleitung aus der einen Heilstat Gottes folgt aber nicht nicht ein einziges und unwandelbares Gesetz. In die Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten werden neben Ex 19−23 und Dtn 5; 12−26 weitere Vorschriften eingetragen. Der Wille Gottes ist an die einmalige und unwiederholbare Situation gebunden, kann in seiner Konkretion aber unterschiedliche Formen, sogar Widersprüchlichkeiten annehmen. Damit ist nicht nur die Befolgung der Gebote, sondern auch ihre Auslegung im Rahmen der Geschichte den Menschen aufgetragen (→ Kap. 4.4.4). A. Schüle, „Denn er ist wie Du“. Zu Übersetzung und Verständnis des alttestamentlichen Liebesgebots Lev 19,18, in: ZAW 113 (2001), 515–534. die priesterschriftliche Sicht auf das Gesetz
Die priesterschriftlichen Texte des Pentateuch/der Tora (→ Kap. 4.3.5) bringen einen eigenen Umgang mit dem Gesetz ein, der für das antike Judentum von großer Bedeutung war. Die größte Zahl priesterschriftlicher Gesetze findet sich im Buch Leviticus. Es handelt sich dabei um Opfer- und Reinheitsvorschriften (Lev 1−7.11−15) sowie um das sog. „Heiligkeitsgesetz“ Lev 17−26, benannt nach seinem Mottovers „Ihr sollt heilig sein, denn ich, JHWH, euer Gott, bin heilig“ (Lev 19,2). Sowohl der Inhalt der priesterschriftlichen Gesetze als auch ihre Einbindung in die Pentateuch-Erzählung zeigen ein eigenes theologisches Konzept. Nach priesterschriftlicher Theologie garantiert die Heilstat des Exodus allein noch keine vollgültige Offenbarung JHWHs für Israel. Diese hängt vielmehr an seiner Gegenwart in und bei Israel. In der Priesterschrift ist sie erst vollzogen, als Gottes Majestät sich im Zeltheiligtum, d. h. im Tempel, niedergelassen hat (Ex 40P). Erst dann ist eine Beziehung zwischen Israel und JHWH möglich, die im Grunde genommen ein ununterbrochener Gottesdienst ist.
Das Gebot der Nächstenliebe in Lev 19,18Aus den eben skizzierten Gründen formuliert das priesterschriftliche Heiligkeitsgesetz die Zehn Gebote um. Lev 19 nimmt die Rolle der Präambel für die nachfolgenden Einzelgebote ein. In diesem Kapitel finden sich alle Gebote des Dekalogs, aber ergänzt und neu angeordnet. Innerhalb der Gebotsreihe formuliert Lev 19,18: Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR.
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Das Gesetz im Alten Testament: Was sollen wir tun?
Das Gebot der Nächstenliebe ist somit nicht erst eine Erfindung Jesu, sondern findet sich gewissermaßen in der Mitte der Tora. Der „Nächste“ (hebr. re ¯’a¯) meint hier, wie in Ex 20,16–17, den Angehörigen Israels. Insofern ist das Nächstenliebegebot im Alten Testament eingeschränkt. Trotzdem ist es schon sehr weitreichend und zwar in doppelter Hinsicht: – Einerseits ist hier genau wie in Ex 20 jeder und jede Angehörige Israels gemeint. Das Liebesgebot gilt also für alle Abkömmlinge Abrahams, Isaaks und Jakobs, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, politischen Position oder moralischen Qualität. – Wichtiger ist der zweite Aspekt. Die zitierte Lutherübersetzung folgt der griechischen Wiedergabe des Textes. Vom hebräischen Text her ist folgende Übersetzung angemessener: Du sollst deinen Nächsten lieben, denn er ist wie du.
Mit dieser Formulierung wird eine Gleichheit zwischen dem Angeredeten und dem Nächsten ausgedrückt. Hier zieht die Priesterschrift die Konsequenzen aus dem Menschenbild für die Gebote. Aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen bei der Schöpfung (→ Kap. 5.1) folgt die Gleichheit aller Geschöpfe vor Gott. In Lev 19,18 werden wie in der ganzen Tora die Gebote direkt aus Gottes Mund geboten, d. h. Gott schärft die weitgehende Gleichheit selbst ein. Andreas Schüle formuliert dazu: „Es geht nicht um ein Gefühl der Nähe oder Ferne, das die Wahrnehmung des Nächsten leitet, „er ist wie du“ beinhaltet vielmehr eine Aussage, die keinerlei Einschränkung mit sich hat: Er ist dir gleich, (…) Gleichheit als genuine Form von Zwischenmenschlichkeit muss deswegen von außen zugesagt werden … Indem der Mensch den Willen Gottes erfährt, gewinnt er zugleich eine Erkenntnis seiner selbst, die er nicht aus sich selbst schöpfen kann.“ (A. Schüle, „Denn er ist wie Du“, 516 f.)
Ähnlich wie beim Sabbat (→ Kap. 5.1) vollendet sich also auch im Gebot der Nächstenliebe an Israel etwas, was bereits in der Schöpfung angelegt ist. Dabei ist in der Perspektive der Priesterschrift auch schon vor dem Sinai eine grundlegende Gebotserfüllung für alle Menschen möglich. Sowohl Noah (Gen 6,9P) als auch Abraham (Gen 17,1P) „wandeln mit Gott“ und sind „fromm“ (hebr. tām). Die Priesterschrift kann also eine menschliche Gerechtigkeit außerhalb des Gesetzes denken, die allerdings − darin ist die Priesterschrift ganz realistisch − nur von so wenigen verwirklicht werden kann, dass Gott regulierend eingreifen muss. Zwar stammt die Menschheit nach der Sintf lut (→ Kap. 5.1) von Noah ab und hat daher die grundsätzliche Möglichkeit, fromm zu sein. Trotzdem ist es nötig, ihr − sozusagen als ethische Minimalfor-
der Auftrag Israels
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Thematischer Querschnitt
derung − ein grundsätzliches Tötungsverbot aufzuerlegen, das in der Gottebenbildlichkeit begründet ist. Über seine Einhaltung wacht Gott. Für die Abrahamsippe gilt dann bereits, dass aus der Frömmigkeit Abrahams zwar der Bund begründet wird, Bund und Gebotserfüllung aber in gegenseitiger Abhängigkeit stehen (→ Kap. 5.2). Fortschreitende Offenbarung Gottes geht also mit fortschreitender Beauftragung zur Gebotserfüllung einher. Für die Priesterschrift gilt, dass Israel innerhalb der Menschheit die Rolle des Priesters spielt. Diese Ansicht hat für das antike Judentum große Bedeutung gewonnen. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Lev 19. Welche Gebote des Dekalogs werden dort erwähnt, welche sind hinzugesetzt?
5.4
„So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie Für die Entstehung und die Theologie des Alten Testaments sind die Propheten von entscheidender Bedeutung. Sie lieferten vom 8. Jh. v. Chr. an die Deutungsmodelle zum Verständnis der historischen Ereignisse und zu ihrer Bewältigung und stellten so die literarisch-theologische „Initialzündung“ für das Alte Testament als Textsammlung dar. Den Propheten verdankt Israel die Entscheidung für den Monotheismus und dessen Reflexion sowie das Selbstbild als Volk JHWHs. Im kanonischen Aufriss des Alten Testaments ist diese historisch-theologische Reihenfolge umgekehrt: Die Propheten werden hinter der Tora als deren Verkünder angeordnet. Diese Leserichtung hat die Prophetendeutung und -forschung lange Zeit bestimmt. Die besondere Eigenart der Prophetenbücher und ihre Bedeutung für das Alte Testament werden jedoch besser erkennbar, wenn man sie zunächst einmal als eigenes literarisch-theologisches Corpus liest. Wem das Alte Testament nicht vertraut ist, dem erschließt sich die prophetische Literatur nur schwer. Es fehlen weitgehend die großen Erzählungen, Sprache und Inhalte der Prophetie sind nicht sofort verständlich. Überdies werden die Propheten überwiegend als Verkünder des zornigen und vernichtenden Gottes wahrgenommen. So tut sich die theologische Praxis mit der Pro-
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„So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie
phetie schwer; in den Lehrplänen für den Schulunterricht spielen sie denn auch eine vergleichsweise geringe Rolle. Die Unterordnung der Prophetie unter andere Texte und Themen des Alten Testaments vor allem in der Schule lässt sich sowohl didaktisch als auch kanongeschichtlich und theologisch begründen: Die Propheten sind schwierig, und sie sind der Tora nachgeordnet. Die Geschichte des Judentums, des Christentums und des Islams zeigt jedoch, dass jede Reform und jede Neuorientierung innerhalb dieser Religionen mit einer Neuinterpretation der Propheten und der Prophetie begann. Das Phänomen „Prophetie“ ist also ein Bindeglied zwischen den drei Religionen. Prophetie im Alten Testament (Geschichte der Prophetie)
5.4.1
J. Blenkinsopp, Geschichte der Prophetie in Israel. Von der Landnahme bis zum hellenistischen Zeitalter, Stuttgart 1998. K. Koch, Die Profeten. Bd. 1 Stuttgart 31995, Bd. 2 Stuttgart 21988. R. G. Kratz, Die Propheten Israels, München 2003. M. Nissinen, Art. Prophetie (Alter Orient), in: www.wibilex.de. B. Pongratz-Leisten, Herrschaftswissen in Mesopotamien: Formen der Kommunikation zwischen Gott und König im 2. und 1. Jahrtausend v. Chr., Helsinki 1999 (SAAS 10). M. Weippert, Art. Prophetie im Alten Orient, in: NBL 3, 1988, 196–200.
Im Alten Testament ist die Geschichte der Prophetie an eine Reihe prophetischer Personen gebunden. In den Samuel-, Königsund Chronikbüchern wird von Propheten und ihren Worten und Taten erzählt: Samuel (1 Sam 1−27), Natan (2 Sam 7; 12; 2≈Kön 1), Ahia von Silo (1 Kön 11; 14), Elia (1 Kön 16−2 Kön 8), Elisa (2 Kön 1−10), Asarja (2 Chr 15) und Jesaja (2 Kön 18−20). Daneben finden wir die sechzehn bzw. fünfzehn Prophetengestalten, die als Autoren eines Buches gelten: Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Daniel, Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja und Maelachi. (Im hebräischen Tanak wird Daniel nicht zu den Propheten gezählt, in den übersetzten Bibeln seit der Septuaginta gilt Daniel als prophetisches Buch.) So ist die Prophetie im Alten Testament an historisch, literarisch und theologisch identifizierbare Gestalten gebunden, die Prophetie ein personengebundenes Phänomen. Die alttestamentlichen Prophetengestalten decken nur einen Teil der Geschichte Israels ab: Die alttestamentliche prophetische Literatur endet mit den Propheten der persischen Zeit Haggai, Sacharja und Maleachi. Der Beginn der Prophetie als historisches Phänomen ist schwieriger zu bestimmen. Auch Abraham
Prophetengestalten: das biblische Bild
Geschichte der Prophetie
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Was ist ein Prophet?
Thematischer Querschnitt
(Gen 20,7; Ps 105,15), Isaak (Ps 105,15), Jakob (Ps 105,15), Mose (Dtn 18,15; 34,10−12), Aaron (Ex 7,1), Miriam (Ex 15,20) und Josua (Ex 17,9) werden unter die Propheten gezählt. So erscheint im Alten Testament die Geschichte JHWHs mit Israels als Geschichte der Prophetie, und es entsteht der Eindruck, Propheten habe es schon immer gegeben. In der antik-jüdischen Tradition gilt dann auch, dass die Propheten „von Mose bis [in die Zeit der Herrschaft des] Artaxerxes“ reichen (vgl. dazu R. G. Kratz, Propheten, 12). Durch Abraham und Mose als prophetische Figuren wird auch die Tora zum prophetischen Buch. Diese „Prophetisierung“ der Tora verdankt sich der Bedeutung der prophetischen Literatur für ihre Entstehung. Mose und die Väter werden aber erst aufgrund theologischer Reflexion zu Propheten erklärt, der Beginn der Prophetie im Alten Testament ist in etwa mit dem Beginn des Königtums anzusetzen. Damit entspricht die Prophetie in Israel ihren Entstehungsbedingungen nach dem Phänomen der Prophetie im Alten Orient. Nach allgemeinem Verständnis ist ein Prophet ein Mensch, der aufgrund übersinnlicher Erfahrungen, göttlicher Offenbarung, bestimmter Techniken oder schlichter Einsicht die Zukunft vorhersagen kann. Dieses Phänomen gibt es in fast allen Kulturen und Religionen. Der Fachbegriff für „Zukunftsschau“ lautet „Mantik“ (von griech. mantein, „wahrsagen“). Als Prophetie im engeren Sinne bezeichnet man die Zukunftsvorhersage, die an den Wortlaut einer Botschaft übernatürlichen Ursprungs gebunden ist. Die prophetischen Gestalten des Alten Testaments (neben den genannten noch weitere weniger bedeutende Figuren sowie anonyme „Propheten“) werden mit einer ganzen Reihe von Begriffen bezeichnet, z. B. Seher (z. B. 1 Sam 9,9), Mann Gottes (z. B. 1 Kön 13). Auch „Wahrsager“, Totenbeschwörer (z. B. 1 Sam 28; Lev 20) und Zeichendeuter (z. B. Mi 5,12) sind unter die Propheten zu zählen; das Alte Testament hat diese Techniken aber für unrechtmäßig erklärt. Der häufigste Begriff für den Propheten lautet im Hebräischen nābī’, weiblich nebī’āh, was in etwa „Rufer“ oder „Berufener“ bedeutet. Das griechische Wort prophetés, weibl. prophétis bezeichnet eigentlich allgemein den Dolmetscher, im engeren Sinne den „Ausleger“ (des Gotteswortes). Der griechische Begriff führt an die Wurzel der Prophetie.
„So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie
283
Zukunftsschau im Alten OrientObwohl der Alte Orient von einem grundlegenden Ordnungsdenken geprägt war (→ Kap. 4.2.1; 5.1), wussten doch alle altorientalischen und antiken Kulturen auch um die Unberechenbarkeit von Ereignissen. Vor allem Handlungen, die aus aktuellen Umständen erfolgten (wie ein Kriegszug oder eine Heirat), oder Ereignisse, die sich scheinbar plötzlich vollzogen (wie ein Umsturz oder eine Hungersnot), waren dahingehend zu deuten, wie sie sich zum Willen der Götter verhielten. Dabei ging man davon aus, dass die Götter ihren aktuellen Willen durch bestimmte Zeichen ausdrückten, die aber nicht für jeden lesbar waren: Bestimmte Sternkonstellationen kündeten z. B. eine Dürre an. Die Aufgabe von Propheten und Zeichendeutern war es, diese Botschaften der Götter zu entziffern und bekannt zu machen, damit das Handeln darauf abgestimmt werden konnte. Aufgabe der Menschen war es dann, die Unzufriedenheit der Gottheit durch richtiges Handeln und/oder durch Rituale zu beschwichtigen und so die Dürre zu verhindern oder wenigstens handhabbar zu machen. Neben der Beobachtung der Sterne wurden weitere Techniken herangezogen: die Deutung der Leber von Opfertieren (Leberschau, in Mesopotamien und in Rom), die Deutung des Vogelflugs (Vogelschau, in Rom), Orakel durch Würfeln, Stöckchen o. ä. Auch hier gilt, dass die Kommunikation der Götter in den Phänomenen erkennbar war und für Normalsterbliche „übersetzt“ werden musste. Der Fachbegriff für den gesamten Bereich der Zukunftsschau durch Zeichendeutung lautet „induktive Mantik“, d. h. Wahrsagen durch Rückschlussverfahren von den Zeichen auf die Wirklichkeit. Der Zeichencharakter von Tierorganen oder Vogelflug ist uns heute nicht mehr zugänglich. In vielen altorientalischen und antiken Kulturen wurde diese induktive Mantik gepflegt; es handelte sich um eine hochspezialisierte Wissenschaft mit Einzeldisziplinen und langer Ausbildung. Mantiker und Mantikerinnen gehörten im weitesten Sinne der Priesterschaft an. Daneben wurde in allen Kulturen auch immer die Zukunftsvorhersage durch die einfache Übermittlung eines Gotteswortes gepflegt (sog. „intuitive Mantik“). Diese setzt nicht auf Zeichen; vielmehr gibt es Personen, die durch Ausbildung oder eine schlichte Gabe in der Lage sind, das Wort Gottes direkt zu empfangen, zu verstehen und weiterzugeben. Das bekannteste Beispiel ist die griechische Pythia im Orakelheiligtum von Delphi. In den meisten altorientalischen und antiken Kulturen wurden induktive und intuitive Mantik nebeneinander praktiziert – der Komplexität der Welt und der Götter entsprach eine Komplexität der Kommunikation mit dem Göttlichen. Wahrscheinlich kannte auch das alttestamentliche Israel mantische Techniken. Sie wurden allerdings im Lauf der Zeit als illegitime Praktiken der Erkundung des göttlichen Willens betrachtet.
Tatsächlich war das Thema von Mantik und Prophetie gar nicht primär die Vorhersage der Zukunft. Die altorientalische und antike Prophetie traf in der Regel keine langfristigen Prognosen, die prophetische Perspektive auf die ganze Geschichte ist eine spätere Entwicklungsstufe der biblischen Prophetie. Die altorientalischen, antiken und auch der größere Teil der biblischen Prophe-
Zukunftsschau und Gegenwartsdeutung
284
Thematischer Querschnitt
ten hatten es mehr mit der Gegenwart und der unmittelbaren Zukunft zu tun. Sie konnten − durch Technik oder Ausbildung − gewissermaßen die Tiefenschicht der Wirklichkeit so lesen, dass sie sagen konnten, was als nächstes geschehen würde und was dies bedeutete. Damit gaben sie eine Anleitung zum Umgang mit dem (scheinbar) Unvorhersehbaren, Plötzlichen und Unverständlichen. Der Fachbegriff für das scheinbar Zufällige in einer sonst geordneten Welt lautet Kontingenz (lat. für „Zusammentreffen“). Zum menschlichen Handeln gehört das Bedürfnis, mit dieser Kontingenz umzugehen − sie zu vermeiden oder zu verstehen. Prophetie steht im Dienste der Kontingenzbewältigung und ist trotz ihrer zeitbedingten religiösen Erscheinungsform ein menschliches Grundbedürfnis. Vor diesem Hintergrund betrachtet, waren Propheten ein wichtiger Bestandteil der antiken Gesellschaften. Ihre Kompetenz war in allen gesellschaftlichen Schichten und bei allen Anlässen gefragt: bei Heirat, Geburt und Tod ebenso wie bei der Ernte oder Vermögensplanung und bei Anlässen der großen Politik. Das prophetische Wort entsprach in seiner Bedeutung einem gegenwärtigen Expertengutachten oder einer medizinischen oder psychologischen Diagnose. Aus diesem Grund konnte sich die biblische Prophetie zu einem so wichtigen Faktor innerhalb der alttestamentlichen Literatur- und Theologiegeschichte entwickeln: Sinn und Funktion von Prophetie waren wesentlich breiteren Gesellschaftsschichten plausibel als die spezialisierten Mythen und Geschichtsentwürfe der Tora und der Geschichtsbücher. Gleichwohl haben die Dokumente, die von prophetischem Wirken im einfachen Volk sprechen, nicht überlebt. Die volksreligiöse Nachfrage nach Prophetie für das alltägliche Leben lässt sich erst in hellenistisch-römischer Zeit besser beobachten. F. H. Cryer, Divination in Ancient Israel and its Near Eastern Environment. A Socio-Historical Investigation, Sheffield 1994 (JSOT.S 142). M. Holzinger, Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft. Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie, Bielefeld 2007. M. Nissinen, Die Relevanz der neuassyrischen Prophetie für die alttestamentliche Forschung, in: M. Dietrich/O. Loretz (Hg.), Mesopotamica – Ugaritica – Biblica (FS K. Bergerhof), Neukirchen-Vluyn 1993 (AOAT 232), 217–258. Herrschaftswissen
Wichtiger ist trotzdem die Rolle des Propheten im Zusammenhang von Staat und Königtum. Der Prophet diente als Berater des Königs bei der Planung und Bilanzierung politischer Aktionen, Prophetie gehörte zum „Herrschaftswissen“:
„So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie
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„Mit Herrschaftswissen ist hier die auf der Kommunikation des Königs mit der Götterwelt beruhende Überzeugung von der Identität, Fähigkeit und Legitimität des Königs sowie der Berechtigung und Begrenzung seiner Herrschaft gemeint. Insofern ist Prophetie, zumindest nach den uns zur Verfügung stehenden Quellen, eng mit der Institution des Königtums verbunden. In ihrer Rolle als Übermittler göttlicher Worte waren die Propheten in der Lage, die göttliche Unterstützung der Herrschaft des Königs zu bestätigen, aber auch gegebenenfalls Mängel in der Ausführung seiner Herrschaft deutlich zu machen.“ (M. Nissinen, Prophetie)
Als Berater des Königs traten die Propheten auf, um eine Dynastie zu legitimieren (so besonders bei den neuassyrischen Königen des 7. Jhs., vgl. dazu M. Nissinen, Relevanz), Kriege zu befürworten oder davon abzuraten, wirtschaftliche Transaktionen zu beraten, gelegentlich auch, um die Könige an ihre Pf lichten gegenüber Göttern und Untertanen zu erinnern (vgl. dazu R.G. Kratz, Propheten 22−26). Besonders der letzte Aspekt ist für die alttestamentliche Prophetie von Bedeutung, denn der Prophet hatte die Möglichkeit, königliche Herrschaft zu kritisieren. Negative Ereignisse wurden auf das Versagen des Königs an den Göttern zurückgeführt; den König an seine Pf lichten zu erinnern, war daher wesentlicher Bestandteil der prophetischen Rolle. W. Oswald, Nathan der Prophet. Eine Untersuchung zu 2. Samuel 7 und 12 und 1. Könige 1, Zürich 2008 (AThANT 94). M. Pietsch, Art. Nathan/Nathanweissagung, in: www.wibilex.de. T. Veijola, Die ewige Dynastie. David und die Entstehung seiner Dynastie nach der deuteronomistischen Darstellung, Helsinki 1975 (AASF.B 193).
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie 2 Sam 7 und 2 Sam 11−12. Unter diesem Horizont ist der Prophet Natan, der David in dessen Zeit als König in Juda begleitete, das beste biblische Beispiel für einen Propheten in altorientalischer Tradition. 2 Sam 7 erzählt, dass David Israel, Juda und Jerusalem als König vereinigt hatte und nun in Frieden herrschte (→ Kap. 3.3.3). Altorientalischem Brauch folgend, wollte er dem Gott einen Tempel bauen, dem er seine Herrschaft verdankte: JHWH. Damit sollte die Einheit zwischen Gott und König ausgedrückt werden. Der Prophet Natan, dessen Vorgeschichte wir nicht kennen, stimmte zunächst zu, er-
Beispiel: der Prophet Natan
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Thematischer Querschnitt
hielt aber dann im Traum eine göttliche Offenbarung: Gott will den Tempelbau nicht − erst Davids Sohn und Nachfolger Salomo soll der Erbauer des Tempels werden. Stattdessen verheißt Gott der Dynastie Davids ewige Dauer. Der Text lebt von einem hebräischen Wortspiel: „Tempel“ heißt auf Hebräisch „Haus JHWHs“ oder „Haus für JHWH“, eine Dynastie wird ebenfalls als „Haus (des Dynastiegründers)“ bezeichnet. Der Text besagt also, dass David kein Haus für JHWH bauen soll, stattdessen wird JHWH ihm ein „Haus“ bauen. 2 Sam 7,11 Und der HERR verkündigt dir, dass der HERR dir ein Haus bauen will. 12 Wenn nun deine Zeit um ist und du dich zu deinen Vätern schlafen legst, will ich dir einen Nachkommen erwecken, der von deinem Leibe kommen wird; dem will ich sein Königtum bestätigen. 13 Der soll meinem Namen ein Haus bauen, und ich will seinen Königsthron bestätigen ewiglich. 14 Ich will sein Vater sein und er soll mein Sohn sein. Wenn er sündigt, will ich ihn mit Menschenruten und mit menschlichen Schlägen strafen; 15 aber meine Gnade soll nicht von ihm weichen, wie ich sie habe weichen lassen von Saul, den ich vor dir weggenommen habe. 16 Aber dein Haus und dein Königtum sollen beständig sein in Ewigkeit vor mir, und dein Thron soll ewiglich bestehen.
Ob der Text an dieser Stelle historisch verlässlich ist, ist nicht von Belang (vgl. dazu die Literatur). Entscheidend ist, dass der Aufstieg Davids zum König, sein Sieg über Saul und die neue Einheit von JHWH, David und Juda-Israel durch Gott bestätigt ist. So wird dann Davids Nachfolger Salomo auch das noch ausstehende Tempel-Haus bauen können. Derselbe Natan wird in 1 Kön 1−2 dafür sorgen, dass Salomo auch wirklich die Nachfolge seines Vaters antreten kann. Ein Beispiel für die andere Aufgabe des Propheten − die Kritik am König − findet sich in 2 Sam 11−12. David hat mit Batseba, der Frau seines Generals, Ehebruch begangen und ein Kind mit ihr gezeugt. Um dies zu vertuschen, lässt David Batsebas Mann umbringen und nimmt Batseba zu sich, so dass das Kind legitim geboren werden kann (2 Sam 11). Es tritt jedoch Natan auf. Mithilfe eines Gleichnisses von einem reichen Mann, der einem Armen das einzige Schaf wegnimmt, um es selbst zu verwenden, kritisiert Natan Davids Ehebruch und erklärt ihm, dass er in Gottes Augen eigentlich des Todes würdig sei, mindestens aber den Verlust seiner Herrschaft verdient hätte. Gott werde ihn allerdings weder töten noch entthronen. Stattdessen aber werde nun die Dynastie Davids mit Gewalt und Bedrängnis zu kämpfen haben.
„So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie
2 Sam 12,7 So spricht der HERR, der Gott Israels: Ich habe dich zum König gesalbt über Israel und habe dich errettet aus der Hand Sauls 8 und habe dir deines Herrn Haus gegeben, dazu seine Frauen, und habe dir das Haus Israel und Juda gegeben; und ist das zu wenig, will ich noch dies und das dazutun. 9 Warum hast du denn das Wort des HERRN verachtet, dass du getan hast, was ihm missfiel? Uria, den Hetiter, hast du erschlagen mit dem Schwert, seine Frau hast du dir zur Frau genommen, ihn aber hast du umgebracht durchs Schwert der Ammoniter. 10 Nun, so soll von deinem Hause das Schwert nimmermehr lassen, weil du mich verachtet und die Frau Urias, des Hetiters, genommen hast, dass sie deine Frau sei.
Natan tadelt David nicht etwa, weil er gegen die Zehn Gebote verstoßen hat. Die Norm des „Gesetzes“ wird hier gar nicht erwähnt. Davids Verhalten ist strafwürdig, weil er die Verpflichtung, die er mit dem Königtum übernommen hat, nicht eingehalten hat. Ihm ist von JHWH der Schutz seiner Untergebenen anvertraut − zu diesem Zweck hat JHWH Saul verworfen und David erwählt. David aber hat sich verhalten wie Saul, demzufolge wird auch seine Herrschaft und die seiner Nachfolger nicht mehr ungestört verlaufen. Im Rahmen altorientalischen Ordnungsdenkens ausgedrückt: Mit Davids Ehebruch und Mord ist ein Element des Chaos in den Kosmos der gemeinsamen Herrschaft von JHWH und den Davididen eingedrungen, der von nun an bekämpft werden muss. Nach dem Ehebruch ist nichts mehr wie vorher. Der Text von 2 Sam 12 ist in seiner literarischen Gestalt wahrscheinlich schon durch die spätere Prophetie und das politische Versagen des Königtums nach David gefiltert, doch die Funktion der prophetischen Strafansage ist klar erkennbar: Vernachlässigt der König seine Verpflichtungen gegenüber Gott und Volk, setzt er sein Amt aufs Spiel und hat demzufolge Konsequenzen und Tadel zu erwarten. Wie weit die Konsequenzen gehen, zeigt die Fortsetzung der Geschichte: Das im Ehebruch gezeugte Kind wird krank und stirbt, obwohl David alle nur erdenklichen Bußrituale und Gebete vollzieht. Die für uns Heutige unbehagliche Erzählung liegt ganz auf der Linie des frühen alttestamentlichen Denkens: Eine bestimmte Tat hat Auswirkungen, die weit über den Täter hinausgehen und seine Umgebung und/oder seine Nachkommen betreffen, selbst wenn die Umwelt unwissend und unschuldig ist.
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Thematischer Querschnitt
Der „Tun-Ergehen-Zusammenhang“Die in 2 Sam 11–12 auserzählte Denkfigur bezeichnet man als „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ (auch „Tat-Folge-Zusammenhang“). Sie entspringt der Wahrnehmung, dass Handeln immer bestimmte Konsequenzen hat, die sehr weitreichend sein können. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist auch und vor allem ein handlungsleitendes Prinzip: Ein Handeln ist nie abgeschlossen, sondern wirkt weiter, bis es am Täter oder seinem Umfeld zum Ziel kommt und sich vollendet. Das gilt im Guten wie im Schlechten: Gutes wirkt Gutes (für den Einzelnen und die Umwelt), Böses wirkt Böses. Ein vernünftiges Verhalten kalkuliert die möglichen Konsequenzen vor der Tat mit ein. Vor allem für das soziale Handeln ist der Tun-Ergehen-Zusammenhang (unter diesem Aspekt auch „konnektive Gerechtigkeit“) eine wichtige Kategorie. Das Ideal altorientalischen und alttestamentlichen Handelns ist, immer im Interesse der anderen zu handeln, um eine stabile Gesellschaft zu errichten. Diese „horizontale Solidarität“ spiegelt die „vertikale Solidarität“, mit der Gott und König sich der Gesellschaft annehmen (J. Assmann, Maat). Ein ägyptischer Text bringt dieses Konzept folgendermaßen zum Ausdruck: „Der Lohn eines Handelnden liegt darin, dass man für ihn handelt.“ (Stele des Neferhotep, zit. nach J.F. Quack, Maat)
In der älteren Forschung erfasste man das altorientalisch-alttestamentliche Denken in Tat-Folge-Zusammenhängen mit dem Begriff der „Vergeltung“. Gerade die ältere Literatur zum Alten Testament spricht gern von einem „alttestamentlichen Vergeltungsdogma“: Eine gute Tat wird von Gott belohnt, eine böse von Gott bestraft. Seit den Untersuchungen des Alttestamentlers Klaus Koch muss aber folgendes gelten: 1. In den Zusammenhang von Tat und Folge wird Gott im Alten Testament nicht grundsätzlich eingebunden. 2. Das Konzept der Vergeltung setzt eine übergeordnete richterliche Instanz voraus; Lohn und Strafe werden dem Täter von außen zugeteilt, und zwar nach einer vorgegebenen Norm, die in den alttestamentlichen Texten so nicht nachweisbar ist. Vielmehr werden „Schuld“ und „Strafe“ im Hebräischen mit demselben Wort ausgedrückt. 3. Der hebräische Begriff für das Ziel eines Handelns ist meistens „vollenden“ (hebr. ˇsa¯le¯m). Demzufolge vollendet sich das in einer Tat angelegte Potential von selbst. Wenn JHWH hier erwähnt wird, dann so: „JHWH bringt das vom Menschen in seiner Tat angelegte Geschick zur Entfaltung, er leistet gewissermaßen einen „Hebammendienst.“ (Koch, Vergeltungsdogma, 69). „JHWH setzt den Zusammenhang von Tun und Ergehen in Kraft, wobei er stärker mit dem Zusammenhang guter Tat und heilvollen Ergehens als mit dem böser Tat und Unheil in Verbindung gebracht wird (Koch, 71).“ (G. Freuling, Art. Tun-Ergehen-Zusammenhang)
Der Begriff des „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ ist von Koch daher als sachgemäßer Ersatz für „Vergeltung“ vorgeschlagen worden und wird heute in der Exegese auch allgemein verwendet (Sie können ihn als TEZ abkürzen).
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„So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie
J. Asmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 2006. G. Freuling, Art. Tun-Ergehen-Zusammenhang, in: www.wibilex.de. G. Freuling, Art. Vergeltung, in: www.wibilex.de. B. Janowski, Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Umkreis des „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“, in: Ders., Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999, 167–191. K. Koch (Hg.), Um das Prinzip der Vergeltung in Religion und Recht des Alten Testaments, Darmstadt 1972. K. Koch, Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament, in: Ders., Spuren des hebräischen Denkens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie. Gesammelte Aufsätze Bd. 1, hg. von B. Janowski und M. Krause, Neukirchen-Vluyn 1991, 65–103. J. F. Quack, Art. Maat, in: www.wibilex.de.
In einer ähnlichen Konstellation wie Natan finden sich im Alten Testament u. a. Ahia von Silo (1 Kön 11; 14), Elisa und seine Schüler (2 Kön 9), Hulda (2 Kön 22), Jesaja (2 Kön 18−20; Jes 32−35), Amos (Am 7,10−17) und Jeremia (Jer 28,1−11). Auch die gegen König und Führungsschichten gerichteten Worte bei Hosea (Hos 5; 10) und Jesaja (Jes 28−30) sind als Königskritik zu verstehen, die der Warnung dienen soll. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang ist dabei immer vorausgesetzt, und zwar in dem Sinne, dass wenn der König versagt, das ganze Land und Volk leiden werden. An diesem Punkt hat die alttestamentliche Prophetie − befördert durch die historische Entwicklung − ihren eigenen Weg genommen, der im Alten Orient ohne Beispiel ist.
Propheten als Kritiker des Königs und seines Hofes
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie 1 Kön 11,1−12,33; 14,1−18 und vergleichen Sie die Rolle des Propheten Ahia von Silo mit der Rolle Natans aus dem Beispiel. Was sind Gemeinsamkeiten, was sind Unterschiede?
2. Lesen Sie 2 Kön 22,1−20. Aus welchem Anlass wird hier der Ratschlag der Prophetin eingeholt? Was genau verheißt sie?
3. Lesen Sie Jer 37−38. Was verkündet Jeremia dem König? Wie ist seine Reaktion darauf ? Aus welchem Grund lässt der König den Propheten festnehmen? U. Becker, Die Wiederentdeckung des Prophetenbuches. Tendenzen und Aufgaben der gegenwärtigen Prophetenforschung, in: BThZ 21 (2004), 30–60. I. Willi-Plein, Spuren der Unterscheidung von mündlichem und schriftlichem Wort im Alten Testament, in: G. Sellin/F. Vouga (Hg.), Logos und Buchstabe. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Judentum und in der Antike, Tübingen/Basel 1996 (TANZ 20), 77–89.
Die weitere Geschichte der Prophetie ist im Wesentlichen den prophetischen Büchern zu entnehmen. Sie werden jeweils auf
prophetische Gestalten
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Thematischer Querschnitt
einen einzelnen Autor zurückgeführt, als dessen (gottgewirktes) Wort das gesamte Buch gilt. Dies ist allerdings eine literarische Konstruktion. An einzelne Prophetenworte haben sich Fortschreibungen und Aktualisierungen angehängt, die im Namen des jeweiligen Propheten, aber nicht mehr durch diesen selbst geschahen. Manche prophetischen Bücher sind insgesamt als literarischer Entwurf entstanden, ohne dass ihnen die Worte eines konkreten Propheten zugrundeliegen. Im Einzelnen ist das ganze Feld hoch umstritten. Einen Propheten als Ausgangspunkt des Buches darf man annehmen bei: Ϝ Ϝ Ϝ Ϝ Ϝ Ϝ
Amos: um 740 v. Chr. im Nordreich Israel Hosea: um 720 v. Chr. im Nordreich Israel Jesaja: etwa zwischen 736 und 701 in Jerusalem Micha: vor 701 in Juda Jeremia: zwischen 625 und 585 in Jerusalem Ezechiel: etwa gleichzeitig mit Jeremia in der babylonischen Go¯la¯ Ϝ Haggai: um 520 in Jerusalem Ϝ Sacharja: um 520 in Jerusalem Die Annahme einer prophetischen Figur ist in der Regel gewissen Indizien der prophetischen Bücher zu entnehmen (biographische Angaben, Augenzeugenschaft zu bestimmten Ereignissen u. ä.), sie ist aber bei keinem sicher. Alle Prophetenfiguren entstammten gebildeten und besitzenden Kreisen in Israel und Juda: Amos und Micha kamen offensichtlich aus Grundbesitzerfamilien, Jesaja aus dem nichtpriesterlichen Adel Jerusalems, Jeremia, Ezechiel, Haggai und Sacharja aus priesterlichen Familien (vgl. jeweils die Buchüberschriften). Bei Hosea sind die Lebensumstände ganz unklar, die Sprache und das Denken des Buches verraten aber ebenfalls eine Persönlichkeit von Bildung und Zugang zum Hof. Obwohl alle diese Propheten in nächster Nähe zum König agierten und somit die herkömmliche Rolle eines Propheten spielen konnten, füllten sie diese jedoch mit ganz neuen Inhalten. G. Fleischer, Von Menschenverkäufern, Baschankühen und Rechtsverdrehern. Die Sozialkritik des Amosbuches in historisch-kritischer, sozialgeschichtlicher und archäologischer Perspektive, Frankfurt a. M. 1999 (BBB 74). J. C. Gertz, Die unbedingte Gerichtsankündigung des Amos, in: F. Sedlmeier (Hg.), Gottes Wege suchend. Beiträge zum Verständnis der Bibel und ihrer Botschaft (FS R. Mosis), Würzburg 2003, 153–170. P. Höffken, Art. Amos/Amosbuch, in: www.wibilex.de.
„So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie
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J. Jeremias, Die Anfänge des Dodekapropheton: Hosea und Amos, in: Ders., Hosea und Amos. Studien zu den Anfängen des Dodekapropheton, Tübingen 1996 (FAT 13), 34–54. R. G. Kratz, Die Worte des Amos von Tekoa, in: M. Köckert u. a. (Hg.), Propheten in Mari, Assyrien und Israel, Göttingen 2003 (FRLANT 201), 54–89. R. G. Kratz, Das Neue in der Prophetie des Alten Testaments, in: I. Fischer u. a. (Hg.), Prophetie in Israel (Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads [1901–1971] Heidelberg, 18.–21. Oktober 2001), Münster 2003 (Altes Testament und Moderne 11), 1–22. H.-D. Neef, Art Hosea/Hoseabuch, in: www.wibilex.de. A. Schart, Die Entstehung des Zwölfprophetenbuchs. Neubearbeitungen von Amos im Rahmen schriftenübergreifender Redaktionsprozesse, Berlin/New York 1998 (BZAW 260).
Der Durchbruch zur typisch alttestamentlichen Prophetie ist mit Amos und Hosea anzusetzen. Beide erlebten, wie das Königreich Israel zunächst in den Sog des assyrischen Zugs nach Westen geriet und dann den Assyrern unterlag (→ Kap. 3.3.6). Das Neue ist, dass sie die drohende Gefahr nicht nur herannahen sahen, sondern auch in ihrer ganzen Tragweite erkennen konnten: Ganz Israel wird vernichtet werden, oder, mit Am 8,2: Da sprach der HERR zu mir: Reif zum Ende ist mein Volk Israel; ich will ihm nichts mehr übersehen.
Ankündigungen von solcher Reichweite kennt die altorientalische Prophetie nicht − in ihrer herrschaftsstabilisierenden Funktion konnte sie dies gar nicht denken. Dabei ist nicht nur die Reichweite der Unheilsankündigung von Bedeutung, sondern auch ihre Begründung: Die Propheten analysieren ihre Gesellschaft, in der die besitzenden Gruppen und Schichten von der assyrischen Leitkultur profitieren und sich an ihr bereichern. Diese Bereicherung geschieht zu Lasten und auf Kosten der Armen und weniger Privilegierten. Damit ist aber der Grundsatz der „konnektiven Gerechtigkeit“ (vgl. oben) verletzt, und die Tat wird sich zwangsläufig an den Tätern vollenden: Israel wird untergehen (vgl. Am 3−6). Bei Hosea kommt noch ein weiteres Argument hinzu: dass die führenden Kreise Israels außer JHWH auch noch andere Götter verehren, die Hosea pauschal als „Ba’al“ (der Name des Hauptgottes der Aramäer und Phönizier) bezeichnet. Bei dieser Hinneigung zu anderen Göttern, die die Konsequenz einer Bündnispolitik mit den Nebenmächten ist, handelt es sich in Hoseas Perspektive um Verrat an JHWH (Hos 6,10−11; 7,8−12). Eine Hinwendung zu den Reichen und ihren Göttern vollendet sich zwangsläufig in der Machtübernahme der anderen Götter (Hos 10): Israel wird erobert und vernichtet werden.
„Das Ende ist gekommen für mein Volk Israel“
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Schuld und Verantwortung
Woher Amos und Hosea ihre Einsichten hatten, lässt sich nicht erklären. Fest steht, dass sie mit ihrer Ankündigung des Endes unmittelbar recht behielten: Israel wurde im Jahr 720 erobert, und Assur triumphierte über JHWH in Samaria. Dieses unheimliche Recht-Behalten der beiden ersten Propheten war der Grund für die Überlieferung und Fortschreibung ihrer Worte. Damit sollte die Katastrophe begründet und weitere Katastrophen dieser Art vermieden werden. Im Rückblick konnten die Überlebenden begreifen, dass sie wider besseres Wissen in ihr Unglück gelaufen waren. Die Struktur des Tun-ErgehenZusammenhangs bot hier Deutungsmöglichkeiten an: Zwar hatten einzelne Personen in Israel sich falsch verhalten, die Konsequenzen hatten aber ganz Israel ergriffen − das hieß im Umkehrschluss auch, dass nicht nur einzelne für die Katastrophe verantwortlich waren, sondern alle mit ihrem Handeln dazu beigetragen hatten. Die Botschaft der frühen Propheten und ihre Rezeption führten die Kategorien von Schuld und Verantwortung in die Religion Israels ein. Das überlebende Israel übernahm die Schuld für das Versagen der Könige. Dieses Schuldbewusstsein führte (unter anderem) dazu, dass der Untergang Samarias nicht auch zu einem Untergang JHWHs wurde. Die nachträgliche Einsicht, das Schicksal verdient zu haben, machte die politische Katastrophe nicht zu einem geschichtlichen Unfall, dem Israel und sein Gott zum Opfer gefallen waren, sondern zu einer Tat JHWHs, der Israel sich zu stellen hatte. Schuld verhinderte, dass die überlebenden Israeliten zu den Göttern der Sieger überliefen. Ein weiteres Resultat dieses Denkprozesses war wahrscheinlich die Ausformulierung der Traditionen um Jakob im Nordreich (→ Kap. 4.2.2; 5.2). Die prophetische Überlieferung des Amos- und Hoseabuches gelangte wahrscheinlich mit Flüchtlingen auch nach Juda (→ Kap. 3.3.7). Wo sie rezipiert wurde, wurde sie vermutlich im Sinne einer Mahnung umgesetzt: Was sich zwischen JHWH und Israel abgespielt hatte, konnte sich auch zwischen JHWH und Juda ereignen. In der Fluchtlinie dieses Denkens liegen die Propheten Micha und − mit historisch bedingten Neuakzentuierungen − Jeremia und Ezechiel. Auf diesem Traditionsweg vollzogen sich die ersten Schritte zum biblischen Monotheismus, der JHWHs alleinige Beziehung mit Israel und Juda reflektiert. Die Übernahme der Bezeichnung Israel für die Bewohner Judas, die sich zuerst in den prophetischen Schriften findet, spiegelt dies wider.
von Israel nach Juda
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„So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie
J. Barthel, Prophetenwort und Geschichte. Die Jesajaüberlieferung in Jes 6–8 und 28–31, Tübingen 1997 (FAT 19). U. Becker, Jesaja – von der Botschaft zum Buch, Göttingen 1997 (FRLANT 178). U. Berges, Das Buch Jesaja. Komposition und Endgestalt, Freiburg u. a. 1998 (HBS 16). K. Schmid, Literaturgeschichte, 97–101.
Eine Sonderrolle in der Geschichte der frühen Prophetie nimmt der Prophet Jesaja ein. Der historische Kern des nach ihm benannten Buches ist wohl in Kap. 6−9 zu suchen (vgl. U. Becker, Jesaja; R. G. Kratz, Propheten, 57−63). Der frühe Jesaja verkündete in der Zeit des Bruderkrieges zwischen Israel und Juda um das Jahr 734 (→ Kap. 3.3.6) die Botschaft von der Niederlage Israels und dem Sieg Judas, es galt also: Unheil für Israel = Heil für Juda. Das Heil ist bei Jesaja sehr stark an die theologische Bedeutung Jerusalems gebunden: Wichtige Elemente sind der Tempel auf dem Berg Zion (Jes 30; 31) und die Herrschaft der Könige aus dem Haus Davids (Jes 7). Beide symbolisieren die heilvolle Gegenwart JHWHs in Juda, auf die man fest vertrauen muss, um die Katastrophe zu vermeiden. Auch Jesaja behielt Recht: Israel unterlag im Bruderkrieg von 734. Wichtiger war jedoch, dass eine politisch geschickte Aktion Hiskias von Juda (→ Kap. 3.3.7) im Jahre 701 zur Rettung des Tempels vor den Assyrern führte. Mit dem Buch Jesaja wird auch das Heil zum Thema der Prophetie, das ebenso unerwartet geschah wie die Katastrophe. Die Heilsperspektive wurde nun zum zweiten Pol der Prophetie. Zunächst brachten jedoch die historischen Umstände bis zum Untergang Jerusalems und zur Exilszeit (→ Kap. 3.3.7) auch im Buch Jesaja einen Überhang des Unheilsthemas (in theologischer Begriff lichkeit: Gericht), wohingegen die Heilsperspektive sich allenfalls als zaghafte Hoffnungsperspektive äußerte. Eine unmittelbare Wirkung der Unheilsprophetie ist nach allgemeiner Ansicht in der Abfassung der Mose-Exodus-Geschichte (→ Kap. 4.3.3) sowie des Deuteronomiums (→ Kap. 4.3.4) zu sehen. In ihnen drückt sich der Wille aus, die Treue Israels zu JHWH zu begründen, zu bekunden und in klaren Anweisungen zum rechten Handeln (→ Kap. 5.3.1) auch zu verwirklichen. Aus der Königskritik der frühen Propheten wurde Herrschaftskritik, aus der Hoffnung auf Befreiung wurde Erinnerung an Befreiung; vor allem aber wurde in den „gesetzlichen“ Partien von Exodus und Deuteronomium ein Weg gefunden, Gerechtigkeit ohne Bindung an ein Königtum zu verwirklichen. JHWH und Israel bleiben aneinander gebunden. Das Scheitern der vorexilischen Gesellschaft führte nun allerdings auch dazu, dass rechtes Handeln als of-
Jesaja und das Heil für Israel
Prophetie und Geschichtsbücher
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fenbartes Gebot JHWHs neu begründet werden musste und − falls nötig − in den Horizont der Konsequenz der Vernichtung, mindestens aber des Landverlustes gestellt wurde. Alles in allem besteht eine sehr enge Verbindung des Deuteronomiums mit den Samuel- und Königebüchern und einer frühen Sammlung von Prophetenbüchern (Am, Hos, Mi, Jer, evtl. Jes), die diesen Zusammenhang reflektieren (vgl. A. Schart, Entstehung). Die Prophetie ist somit in entstehungsgeschichtlicher Perspektive die Mutter der Tora, obwohl sie ihr später theologisch untergeordnet wird. C. Ehring, JHWHs Rückkehr zum Zion, Neukirchen-Vluyn 2007 (WMANT 118). K. Schmid, Literaturgeschichte, 132–137. die Wende zum Heil: Deuterojesaja
Ähnlich unvermittelt und unerwartbar wie der Untergang Israels vollzog sich am Beginn der Perserzeit die Wende zum Heil. Mit dem Beginn der Perserzeit trat die Prophetie in ihre dritte Epoche und gewann noch einmal neue Konturen. Mit der gleichen unheimlichen Einsicht in die Tiefenschicht der Wirklichkeit wie Amos und Hosea erkannte ein namenloser Prophet das Heilspotential, das im Siegeszug des Persers Kyros lag: Mit ihm führte JHWH das Heil und die Heimkehr herauf (→ Kap. 3.5.2). Die entscheidenden Verheißungen finden sich in den Kapiteln 40−55 des Jesajabuches. Sie wurden an Jesaja angefügt, weil dieses Buch als einziges bislang auch eine Heilsperspektive kannte, stammen aber von einem anderen Propheten. Da wir seinen Namen nicht kennen, wird er wissenschaftlich als „Deuterojesaja“ (Zweiter Jesaja, abgekürzt DtJes) bezeichnet. Für die Prophetie und das Alte Testament ist entscheidend, dass er die Wende zum Heil nicht mit dem richtigen Verhalten Israels begründete, sondern auf JHWHs reine Gnade und Liebe zu Israel zurückführte. Um Israels willen lässt JHWH die ganze Geschichte so ablaufen, wie sie sich vollzieht, die Perser sind nur sein Werkzeug. Bei Deuterojesaja wird zum ersten Mal der alttestamentliche Monotheismus in seiner vollen Schärfe ausformuliert. Jes 44,6 So spricht der HERR, der König Israels, und sein Erlöser, der HERR Zebaoth: Ich bin der Erste und ich bin der Letzte, und außer mir ist kein Gott.
Die unmittelbar auf das Exil folgenden Propheten Haggai und Sacharja verbanden diese Wende zum Heil mit der (Wieder-)Verknüpfung JHWHs mit seinem Tempel in Jerusalem. Neben dem rechten Verhalten Israels ist es vor allem die Rückkehr JHWHs in sein angestammtes Haus, die seiner Herrschaft sichtbaren und
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„So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie
erfahrbaren Ausdruck verleihen wird. Diese Theologie wurde in geschichtstheologischer Hinsicht von der Priesterschrift (→ Kap. 4.3.5) vorbereitet und begleitet. S. Beyerle, Die Wiederentdeckung der Apokalyptik in den Schriften Altisraels und des Frühjudentums, in: VF 43 (1998), 34–59. R. G. Kratz, Propheten, 87–121.
Die Prophetie der späteren persischen Zeit hat keine eigenständigen Bücher mehr hinterlassen, sondern bereits bestehende Texte fortgeschrieben. Dabei vollzog sich eine immer stärkere theologische Unterordnung der Prophetie unter die Tora. Die Funktion dieser rein literarischen Prophetie bestand in der Aktualisierung historischer Ereignisse, die von den älteren Propheten angekündigt worden waren, auf tagesaktuelle Probleme hin. Da das nachexilische Israel nicht mehr königlich verfasst war, wurde Kritik am Fehlverhalten, das sich potentiell katastrophisch auswirken konnte, auf Israel als Volk ausgeweitet. So gilt im Rückblick: Ganz Israel war schuld an den Katastrophen, ganz Israel wird schuldig sein an künftigen Katastrophen. Die Verzögerung des endgültigen Heils, das bei Deuterojesaja, Haggai und Sacharja angekündigt ist, liegt daran, dass Israel immer wieder Fehler von früher wiederholt, die jetzt allerdings im Lichte der Toragebote interpretiert werden. Kann man gewissermaßen von einem Erlöschen der Prophetie sprechen (vgl. R. G. Kratz, Propheten, 102−105), das sich zwischen der späten persischen und der frühen griechischen Zeit vollzog, so erlebte die Prophetie am Ende der hellenistischen Zeit noch einmal ein gewaltiges Nachspiel. Die politisch unübersichtliche Lage sowohl in der Welt als auch in Judäa (→ Kap. 3.6.3) führte zu einer neuen Sicht auf Gott und die Geschichte. Diese hat sich alttestamentlich in das Danielbuch eingeschrieben, ursprünglich eine Diasporanovelle (→ Kap. 4.5.4). Daniel sieht in verschlüsselten Visionen die ganze Geschichte offenbart, von der Schöpfung bis zum nahe bevorstehenden Ende, das die Entmachtung der politischen Reiche und die endgültige Herrschaft Gottes heraufführen wird. Am Ende werden die Gerechten (aller Völker) leben und die Ungerechten (aller Völker) vernichtet sein, sogar die Toten werden auferstehen. Da sich diese Sicht auf die Geschichte nur wenigen Auserwählten offenbart, bezeichnet man diese theologische Richtung als Apokalyptik (von griech. apokalýptein, „enthüllen, offenbaren“). Diesen Faden haben die parabiblischen Texte und das Neue Testament aufgegriffen.
von der Prophetie zur Apokalyptik
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Thematischer Querschnitt
Die Geschichte der alttestamentlichen Prophetie lässt sich mit Reinhard Gregor Kratz so zusammenfassen: „Die Propheten Israels, wie sie uns in den Büchern des Alten Testaments entgegentreten, sind die markantesten Repräsentanten der jüdischen Religion. In ihren Rückblicken auf die Vergangenheit, den Analysen der Gegenwart und den Prognosen der Zukunft künden sie von einem Gott, der sein Volk verworfen hat, aber nicht von ihm lassen kann. Und sie künden von einem Volk, das seinen Gott verlassen hat, aber ohne ihn nicht leben kann. Der Bruch könnte tiefer nicht sein, aber Gott und Gottesvolk gehören zusammen wie nirgends sonst.“ (R.G. Kratz, Propheten, 7).
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Prägen Sie sich die kanonische Reihenfolge der prophetischen Bücher ein. 2. Prägen Sie sich die historische Reihenfolge der Propheten ein.
5.4.2
Prophetische Literatur A. Behrens, Art. Vision/Visionsschilderung (AT), in: www.wibilex.de. A. Behrens, Prophetische Visionsschilderungen im Alten Testament. Sprachliche Eigenarten, Funktion und Geschichte einer Gattung, Münster 2002 (AOAT 191). J. Krispenz, Art. Prophetische Redeformen, in: www.wibilex.de. J. Krispenz, Art. Botensendung/Botenformel/Botenspruch, in: www.wibilex.de. A. Wagner, Prophetie als Theologie. Die so spricht Jahwe-Formeln und das Grundverständnis alttestamentlicher Prophetie, Göttingen 2004 (FRLANT 207). C. Westermann, Grundformen prophetischer Rede, München 51978. C. Westermann, Prophetische Heilsworte im Alten Testament Göttingen 1987 (FRLANT 145).
„So hat JHWH gesprochen“: der Botenspruch
In den prophetischen Büchern begegnen viele Textsorten und Gattungen, die auch in anderen alttestamentlichen Büchern auftauchen: Erzählungen, Gebete, predigtartige Reflexionen, kurze Merksprüche u. a. Trotzdem hat die prophetische Literatur auch einige typische Gattungen und Formen hervorgebracht, die Sie kennen sollten. Sie sind ihrerseits in die nichtprophetische Literatur übernommen worden und zeugen so von einer gegenseitigen Durchdringung von prophetischer und anderer Literatur. Die Grundgattung prophetischer Literatur ist der sog. Botenspruch „So hat JHWH gesprochen“ (in manchen Übersetzungen auch: „So spricht der HERR“, zum Übersetzungsproblem s. J. Krispenz, Botensendung). Mit dieser Formel gibt der Prophet zu erkennen, dass das Folgende nicht seine eigene Rede ist. Die
„So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie
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Formel stammt vermutlich aus der Diplomatensprache, mit ihr legitimierten sich Boten als Botschaftsüberbringer. Die verwendete 3. Person (JHWH) ist damit eigentlich eine verdeckte 1. Person, die Formel ist eine Art „Anführungszeichen“ für das nachfolgende Zitat. Sie wird in den Prophetenbüchern mehr als 350-mal verwendet und sagt einiges über die Rolle des Propheten aus: Er ist lediglich das Medium für die Botschaft, die unverändert durch ihn hindurch geht. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie das Amosbuch ganz. An welchen Stellen kommt die Botenformel vor? Wie strukturiert sie den Text? In den meisten Fällen erfahren wir nicht, wie der Prophet zu dem Wort gekommen ist, das er als Bote Gottes verkündet. Bei einigen Propheten finden sich allerdings Berichte über visionäre Erlebnisse, in denen sie ein einzelnes Wort Gottes, meist aber den Auftrag für ihre ganze Verkündigung erhalten. Sie dürfen als typisch prophetische Gattung gelten, obwohl sie sich nicht bei allen Propheten finden.
„Solches ließ mich JHWH schauen“: der Visionsbericht
Prophetische Visionsberichte im Alten TestamentVisionsberichte finden sich an folgenden Stellen: Am 7–9; Jes 6,1–11; Jer 1,11–12; Ez 1–3; 8–11; 37; Sach 1–6; Dan 7–12 Es sind also für alle vier „großen“ Propheten (Jes, Jer, Ez, Dan) Visionen überliefert, unter den „kleinen“ (Hos-Mal) nur für Amos und Sacharja. Visionsberichte sind unterschiedlich gestaltet (vgl. im Einzelnen A. Behrens, Vision); das entscheidende Element ist, dass der Prophet nicht nur etwas sieht, sondern auch hört. Dabei können das Gesehene (Vision) und das Gehörte (Audition) in einem sachlichen Zusammenhang stehen, so in Am 8,1–2; Jer 1,11–12. In beiden Visionen besteht die Beziehung zwischen dem Gesehenen und Gehörten in einem Gleichklang der Worte: Jer 1,11 Und es geschah des HERRN Wort zu mir: Jeremia, was siehst du? Ich sprach: Ich sehe einen erwachenden (hebr. ˇsa¯qad) Zweig. 12 Und der HERR sprach zu mir: Du hast recht gesehen; denn ich will wachen (hebr. ˇsa¯qad) über meinem Wort, dass ich’s tue. Am 8,1 Gott der HERR ließ mich schauen, und siehe, da stand ein Korb mit reifem Obst. 2 Und er sprach: Was siehst du, Amos? Ich aber antwortete: Einen Korb mit reifem Obst (hebr. qajis≥). Da sprach der HERR zu mir: Reif zum Ende (hebr. qe¯s≥) ist mein Volk Israel; ich will ihm nichts mehr übersehen.
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Thematischer Querschnitt
Bei Jesaja und Ezechiel ist das Schauen Gottes Anlass zum Auftrag an den Propheten (sog. „Berufungsvisionen“), dabei wird der Prophet in seine Vision mit einbezogen. Jes 6,1 In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel. 2 Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie. 3 Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! 4 Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch. 8 Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich! 9 Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet’s nicht; sehet und merket‘s nicht!
In Am 7; Sach 1–6 sind die Visionen symbolisch verschlüsselte Ankündigungen dessen, was geschehen wird.
Visionen haben eine doppelte Funktion: Ϝ Zum einen verstärken sie die Verkündigung des Propheten, indem sie sie gewissermaßen „visualisieren“: Ϝ Zum zweiten dient die Rückführung der Verkündigung auf eine unerwartete und unableitbare (und manchmal unverständliche) Begegnung mit Gott der Legitimation des Propheten. Er hat sich das folgende nicht ausgedacht, sondern erlebt. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie die prophetischen Visionsberichte in: Am 7−9; Jes 6; Jer 1; Ez 1−3; Sach 1−6. Stellen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede fest.
das Gerichtswort
Das drohende und bevorstehende Unheil wird in der Prophetie in einer charakteristischen Gattung angekündigt. Das Gerichtswort (auch „Drohwort“) besteht aus einer kurzen Analyse der Situation und einer darauf abgestimmten Folge. Die beiden Teile werden in einem „Weil“-„Darum“-Zusammenhang verknüpft. Die Botenformel kann den Folgeteil oder das ganze Wort einleiten. Ein Beispiel ist Mi 2,2−3: 2 Sie reißen Äcker an sich und nehmen Häuser, wie sie’s gelüstet. So treiben sie Gewalt mit eines jeden Hause und mit eines jeden Erbe.
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„So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie
3 Darum spricht der HERR: Siehe, ich ersinne wider dies Geschlecht Böses, aus dem ihr euren Hals nicht ziehen und unter dem ihr nicht so stolz dahergehen sollt; denn es soll eine böse Zeit sein.
In diesem Fall entspricht der Ausbeutung der Armen (V. 2) die Demütigung der Ausbeuter (V. 3). Mit dieser engen Verknüpfung wird der Zusammenhang zwischen Vergehen und Folge argumentativ einsichtig gemacht. Je knapper das Wort formuliert ist, umso leichter prägt es sich ein. Verbindet sich die Ankündigung von Unheil mit einem Aufruf zur Verhaltensänderung, spricht man vom Mahnwort, z. B. Am 4,6: Suchet den HERRN, so werdet ihr leben, dass er nicht daherfahre über das Haus Josef wie ein verzehrendes Feuer, das niemand löschen kann.
Das Heilswort, auch „Heilsorakel“, findet sich besonders häufig bei Deuterojesaja. Es wird immer mit einer Botenformel eingeleitet und hat den Aufruf „Fürchte dich nicht!“ zum ersten Satz. Dem folgt eine Begründung des Aufrufs, die in eine Heilszusage mündet. Im Heilswort wird niemals auf das Verhalten der Angesprochenen verwiesen, sondern einzig die bevorstehende Heilstat Gottes entfaltet, z. B. Jes 43,1−3:
das Heilswort
1 Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! 2 Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. 3 Denn ich bin der HERR, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland.
Die hier genannten Grundgattungen (zu weiteren Gattungen vgl. J. Krispenz, Prophetische Redeformen) sind in den einzelnen prophetischen Büchern mehr oder weniger häufig vorhanden; sie können verlängert oder variiert werden. Tatsächlich hat jedes prophetische Buch seine eigene Form, die der Eigenart und Dynamik des Inhalts geschuldet ist. Bei der Redaktion und Zusammenstellung der Bücher wurde jedoch versucht, die prophetische Literatur formal und inhaltlich zu systematisieren. Dabei überlagern sich verschiedene Anordnungsprinzipien, die auf lang anhaltende Arbeit an der prophetischen Literatur weisen. Bei der Abfolge der Prophetenbücher wurden die drei/vier „großen“ Prophetenbücher (der Name deutet auf ihren Umfang) in historischer Reihenfolge hintereinandergestellt: Jesaja
Prophetenbücher: Anordnung in historischer Reihenfolge
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Anordnung der Prophetenbücher: vom Unheil zum Heil
das „eschatologische Schema“
Thematischer Querschnitt
(8./7. Jh.) − Jeremia (7./6 Jh.) − Ezechiel (6. Jh.) − Daniel (6./5. Jh.). Bei den nachfolgenden kleinen Propheten wurde ebenfalls eine historisch-chronologische Reihenfolge angezielt, die so allerdings nicht ganz stimmt (Amos, Hosea und Micha müssten eigentlich direkt hintereinander stehen). In jedem Fall wird auf diese Weise zweimal der Weg Israels von der assyrischen Eroberung bis zur Rückkehr aus dem Exil prophetisch gedeutet. Jedes einzelne Prophetenbuch ist in seiner Endgestalt nach dem grundsätzlichen Schema „erst Unheil − dann Heil“ angeordnet. Hier wirkt offensichtlich das Vorbild des frühen Jesajabuches nach, das zum Deutungsprinzip für die gesamte Prophetie wurde. Bei den drei Büchern Jesaja, Jeremia und Ezechiel ist ein dreiteiliges Anordnungsprinzip zu erkennen: Ϝ Unheil für (Israel und) Juda: Jes 1−12; Jer 1−25; Ez 1−24 Ϝ Unheil für die Völker: Jes 13−23; Jer 46−51; Ez 25−32 Ϝ Heil für Israel (und die Völker): Jes 40−66; Jer 30−35; Ez 33−39; 40−48.
Propheten als Nachfolger Moses
Da zumindest das Jesajabuch eine Perspektive bis ans Ende der Zeiten hat (vgl. Jes 65−66), nennt man dieses Auf bauprinzip „eschatologisches Schema“ (Eschatologie = Lehre von den letzten Dingen). Die Gesamtanlage von Hos−Mal ist möglicherweise auch darauf abgestimmt. Die Tora endet mit der Würdigung Moses als des Propheten schlechthin: Dtn 34,10 Und es stand hinfort kein Prophet in Israel auf wie Mose, den der HERR erkannt hätte von Angesicht zu Angesicht, 11 mit all den Zeichen und Wundern, mit denen der HERR ihn gesandt hatte, dass er sie täte in Ägyptenland am Pharao und an allen seinen Großen und an seinem ganzen Lande, 12 und mit all der mächtigen Kraft und den großen Schreckenstaten, die Mose vollbrachte vor den Augen von ganz Israel.
Nach dem Tod des Mose wird dessen Nachfolger Josua mit dem Charisma begabt und leitet nun als zweiter Prophet die nachmosaische Epoche ein. Jos 1,1 Nachdem Mose, der Knecht des HERRN, gestorben war, sprach der HERR zu Josua, dem Sohn Nuns, Moses Diener: 7 „Sei nur getrost und ganz unverzagt, dass du hältst und tust in allen Dingen nach dem Gesetz, das dir Mose, mein Knecht, geboten hat. Weiche nicht davon, weder zur Rechten noch zur Linken, damit du es recht ausrichten kannst, wohin du auch gehst.“
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„So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie
Moses prophetisches Amt vererbt sich durch die Propheten und Prophetinnen der Bücher Ri−2 Kön weiter. Die „hinteren“ Propheten Jes−Mal werden in diese Amtsfolge durch den Schlusssatz des Buches Maleachi eingebunden: Mal 3,22 Gedenkt an das Gesetz meines Knechtes Mose, das ich ihm befohlen habe auf dem Berge Horeb für ganz Israel, an alle Gebote und Rechte! 23 Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia, ehe der große und schreckliche Tag des HERRN kommt. 24 Der soll das Herz der Väter bekehren zu den Söhnen und das Herz der Söhne zu ihren Vätern, auf dass ich nicht komme und das Erdreich mit dem Bann schlage.
So verbinden sich am Ende des Prophetencorpus Tora und Prophetie zu einer Geschichte des Wortes Gottes, das von der Schöpfung bis in die Endzeit reicht und von Propheten verkündet worden ist. Themen der Prophetie
5.4.3
Entsprechend ihrer Ausdifferenzierung in fünfzehn bzw. sechzehn einzelne Bücher ist die Prophetie thematisch ausgesprochen vielfältig. Trotzdem lassen sich einige Themen benennen, die als besondere Anliegen der Prophetie gelten können. R. Kessler, Art. Sozialkritik (AT), in: www.wibilex.de. W. Zwickel, Die Wirtschaftsreform des Hiskia und die Sozialkritik der Propheten des 8. Jahrhunderts, in: EvTh 59 (1999), 356–377.
Das Thema des Umgangs mit Schwächeren zieht sich wie ein roter Faden durch die prophetischen Bücher. Die Aufdeckung sozialer Ungerechtigkeit − als Grund für das Unheil wie für die Verzögerung des Heils − wird unter dem Stichwort „prophetische Sozialkritik“ erfasst. Die prophetische Kritik richtet sich gegen den Missbrauch der Schuldknechtschaft (Am 2; 3), Grundstücksspekulation (Mi 2; Jes 5), betrügerische Handelsgeschäfte (Zef 1) und allgemein gegen Luxusleben auf Kosten und zu Lasten der Schwächeren. In Am 4 wird dieses Fehlverhalten mit dem scharfen Begriff „Verbrechen“ (hebr. pæša‘) angeprangert. Da der Schutz der Schwächeren und Schwächsten ein zentrales Element der Gerechtigkeit als Weltordnung ist (→ Kap. 5.4.1), liegt es auf der Hand, dass solche Verbrechen Gott zum Eingreifen herausfordern. Die für uns Heutige unbequeme Konsequenz, die die Propheten verkünden, ist, dass nicht nur die Schuldigen die Folgen ihres Fehlverhaltens tragen und bestraft werden, sondern dass die sozialen Missstände den Untergang des ganzen Volkes
prophetische Sozialkritik
302
Thematischer Querschnitt
zur Folge haben. Gerade in Zeiten von Globalisierung und Finanzkrisen lohnt es sich, die biblischen Wurzeln der Einsicht freizulegen, dass jedes Handeln seine Folgen hat, die die ganze Gesellschaft tragen muss. Ein Ertrag der prophetischen Sozialkritik ist die Sozialgesetzgebung der Tora, vor allem des Deuteronomiums, die den Schutz der Schwachen zum göttlichen Gebot macht (→ Kap. 4.3.3). In der nachexilischen Prophetie gilt dann, dass das Weiterwirken des Egoismus die endgültige Herrschaft Gottes nachhaltig verhindert. E. Aurelius, Der Ursprung des Ersten Gebots, in: ZThK 100 (2003), 1–21. M. Bauks, Art. Monotheismus (AT), in: www.wibilex.de. O. Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Geschichte des Monotheismus, Teile 1–2, Göttingen 2007 (OLB IV/1). der eine Gott
Alle Propheten sprechen im Namen JHWHs. Einen anderen Gott erkennen sie nicht an. Damit werden die Voraussetzungen, die überhaupt zum Monotheismus führen konnten, von den Propheten − noch vor den Geschichtsentwürfen des Deuteronomiums (→ Kap. 4.3.3) und der Priesterschrift (→ Kap. 4.3.5) − theologisch reflektiert: die Tatsache, dass es zwei Königreiche gab, die denselben Gott verehrten, und dass sie nacheinander mit ihm Erfahrungen des Untergangs und der Rettung machten. Erleichternd kam hinzu, dass die Religion Israels niemals ein so stark ausdifferenziertes Göttersystem hatte wie Ägypten und Mesopotamien. Es waren vor allem die Propheten, die in der Konkurrenz JHWHs zu den anderen Göttern innerhalb Israels (vgl. Hos 4; Jer 4) und auch im Kontakt mit den Großmächten (vgl. Jes 40−55) darauf hinwiesen, dass JHWH allein sich gegen die anderen Götter durchsetzt und sich in Heil und Unheil als der einzige Gott erweist. In der frühen Prophetie von Hosea bis Jeremia wird dies noch in der Forderung nach Alleinverehrung JHWHs umgesetzt, vgl. z. B. Hos 13,4: 4 Ich aber bin der HERR, dein Gott, von Ägyptenland her, und du solltest keinen andern Gott kennen als mich und keinen Heiland als allein mich.
Die Wende zum Heil mit dem Aufstieg des Kyros lässt es dann für Deuterojesaja offenkundig werden, dass es überhaupt nur den einen Gott JHWH gibt, vgl. Jes 43,10−13: 10 Ihr seid meine Zeugen, spricht der HERR, und mein Knecht, den ich erwählt habe, damit ihr wisst und mir glaubt und erkennt, dass ich’s bin. Vor mir ist kein Gott gemacht, so wird auch nach mir keiner sein. 11 Ich, ich bin der HERR, und außer mir ist kein Heiland.
303
„So hat JHWH gesprochen“: Die Prophetie
12 Ich hab’s verkündigt und habe auch geholfen und hab’s euch sagen lassen; und es war kein fremder Gott unter euch. Ihr seid meine Zeugen, spricht der HERR, und ich bin Gott. 13 Ich bin, ehe denn ein Tag war, und niemand ist da, der aus meiner Hand erretten kann. Ich wirke; wer will‘s wenden?
Der Gedanke der Einheit und Einzigkeit Gottes als Schöpfer und Erlöser geht somit auf die Prophetie zurück. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie das ganze Kapitel Jes 43. Mit welchen Argumenten wird die Einzigkeit Gottes begründet? Wen will Gott hier mit seiner Rede überzeugen?
2. Lesen Sie jetzt Jes 41,23−29. Mit wem setzt sich Gott in dieser Rede auseinander, und wie begründet er seine Einzigkeit? J. Jeremias, Der Zorn Gottes im Alten Testament. Das biblische Israel zwischen Verwerfung und Erwählung, Neukirchen-Vluyn 2009 (BThSt 104), 46–120.
Entscheidend für diese Entwicklung des Monotheismus mit prophetischer „Geburtshilfe“ ist, dass an ihrem Beginn eine konkrete Erfahrung steht. Israel hat sich nicht durch abstrakte Reflexionen von der Einzigkeit Gottes überzeugt, sondern ist durch die Erfahrungen mit diesem Gott überzeugt worden. Die Propheten weigerten sich, die Niederlagen von 720, 587 und alle weiteren Katastrophen als Sieg Assurs oder Marduks zu begreifen, sondern erkannten Israels Verantwortung dafür als Schuld und Versagen an. Die grundlegende Metapher für diese Erfahrung mit Gott ist sein „Zorn“, der in der Prophetie und den davon beeinflussten Büchern die ganz konkrete Erfahrung der Konsequenz des eigenen Versagens ist. In entstehungsgeschichtlicher Perspektive auf das Alte Testament muss gesagt werden, dass Israel Gottes Zorn erst erfahren und deuten musste, um dann in Tora und späteren Propheten Vermeidungsstrategien zu entwickeln. Jörg Jeremias schreibt zu Ez 16, einem besonders eindringlichen Kapitel über den Zorn Gottes: „Gottes Zorn brennt automatisch auf, wo schweres Unrecht geschieht, das die Völkerwelt nach ihren eigenen Maßstäben als Unrecht feststellen muss, sodass sich der „Eifer“ Gottes und der „Zorn der Völker“ im Letzten entsprechen.“ (J. Jeremias, Der Zorn, 98)
Dabei wird gerade bei den Propheten der Zorn Gottes als Konsequenz enttäuschter Liebe Gottes zu Israel verstanden, die am An-
Zorn und Liebe
304
Thematischer Querschnitt
fang dieser Beziehung steht. Diese Liebe drückt sich gerade bei den Propheten in Metaphern der intimen Beziehung zwischen Gott und Volk aus: Elternschaft und Ehe. Wie sehr Gott mit sich selber ringt, schildert besonders eindrücklich das Buch Hosea. Liebe und Zorn sind menschliche Empfindungen, und Gottes Göttlichkeit zeigt sich darin, dass er seinen Zorn so lange zurückhält, bis er ihn um der Weltordnung willen vollstrecken muss. Bezüglich der Erfahrung der Liebe und des Zornes Gottes gilt für die Prophetie, dass Gottes Liebe immer den Vorrang hat, z. B. Jer 3,12−14: 12 Geh hin und rufe diese Worte nach Norden und sprich: Kehre zurück, du abtrünniges Israel, spricht der HERR, so will ich nicht zornig auf euch blicken. Denn ich bin gnädig, spricht der HERR, und will nicht ewiglich zürnen. 13 Allein erkenne deine Schuld, dass du wider den HERRN, deinen Gott, gesündigt hast und bist hin und her gelaufen zu den fremden Göttern unter allen grünen Bäumen, und ihr habt meiner Stimme nicht gehorcht, spricht der HERR. 14 Kehrt um, ihr abtrünnigen Kinder, spricht der HERR, denn ich bin euer Herr! Und ich will euch holen, einen aus einer Stadt und zwei aus einem Geschlecht, und will euch bringen nach Zion.
JHWH und die Völker
Unter dieser Erfahrung von Schuld und Neuanfang, Liebe und Zorn erkennt die Prophetie die Einzigartigkeit und Einzigkeit JHWHs in dem Moment, wo unverdient und ohne Anlass das Heil anbricht, wie es Deuterojesaja schildert. Die unbedingte − und häufig enttäuschte − Liebe JHWHs zu Israel bedingt auf weite Strecken sein Verhältnis zu den anderen Völkern. Er ist ihr Herr, ohne dass sie es wissen. In der frühen Prophetie bedient er sich ihrer als Werkzeug, um seinen Zorn an Israel und Juda zu vollstrecken (vgl. z. B. Jes 8,5−8). In den späteren Prophetentexten (Jes 13−23; Jer 46−51; Ez 25−32) misst JHWH auch die Völker an demselben Maßstab wie Israel. Da sie ihn nicht anerkennen, ist ihr Schicksal immer schon zum Unheil entschieden. Darin liegt − für uns schwer nachvollziehbar − für Israel ein Trost, aber auch eine Verpf lichtung. Gerade die ganz späten Texte der Prophetie kennen auch eine andere Vision, nämlich die Bekehrung aller Völker zu JHWH, die in einer friedlichen Wallfahrt zu JHWH auf dem Zion in Jerusalem gipfelt: Jes 56,6 Und die Fremden, die sich dem HERRN zugewandt haben, ihm zu dienen und seinen Namen zu lieben, damit sie seine Knechte seien, alle, die den Sabbat halten, dass sie ihn nicht entheiligen, und die an meinem Bund festhalten, 7 die will ich zu meinem heiligen Berge brin-
305
„Lobe JHWH, meine Seele“: Die Psalmen
gen und will sie erfreuen in meinem Bethaus, und ihre Brandopfer und Schlachtopfer sollen mir wohlgefällig sein auf meinem Altar; denn mein Haus wird ein Bethaus heißen für alle Völker. 8 Gott der HERR, der die Versprengten Israels sammelt, spricht: Ich will noch mehr zu der Zahl derer, die versammelt sind, sammeln.
Es soll nicht verschwiegen werden, dass alttestamentliche Texte die Vision von der Herrschaft Gottes auch als Kampf und Vernichtung aller Sünder und Heiden imaginieren können. Auffallenderweise ist diese Vorstellung jedoch nicht mehr in nennenswertem Maße in die Prophetie eingegangen (obwohl sie in Sach 14 mit den friedlichen Bildern verknüpft wird), sondern findet sich im Buch Daniel in einem anderen Kanonteil. Die Prophetie schließt überwiegend mit der Hoffnung, dass die ganze Welt die Liebe des einzigen Gottes anerkennen wird. Die Bitte des Vater Unser „Dein Reich komme“ ist davon abgeleitet.
„Lobe JHWH, meine Seele“: Die Psalmen
5.5
Gebete und Gottesdienst im Alten Testament
5.5.1
M. Leuenberger, Art. Gebet, in: www.wibilex.de. P. D. Miller, They Cried to the Lord. The Form and Theology of Biblical Prayer, Minneapolis 1994.
Psalmen sind Gebete. Nach der Definition von Martin Leuenberger versteht man unter Gebet: „die in den allermeisten und namentlich in sämtlichen altorientalischen Religionen geübte (einseitige) verbale Kommunikation („Gespräch“) von Menschen mit Gottheiten bzw. himmlischen Wesen, die in aller Regel personal (und d. h. im Unterschied zu vielen neuzeitlichen Positionen grundsätzlich ansprechbar, beeinflussbar und handlungsfähig) vorgestellt werden. Im alten Orient stellt es damit ein anthropologisches Grundphänomen dar und bildet – neben Opfern und Kultvollzügen generell – einen zentralen Bestandteil der religiösen Praxis. Die Kommunikationssituation coram deo [lat. „vor Gott“] impliziert, dass es sich beim Gebet insgesamt um direkte Anrede, um Rede zu, mit oder auch gegen Gott handelt – im Unterschied zur Rede über Gott.“ (M. Leuenberger, Gebet)
Das Gebet im Alten Israel konnte sowohl als private Handlung als auch öffentlich stattfinden, allein oder in Gruppen. Indes sind im Alten Testament keine Texte überliefert, die zuverlässig das anlassgebundene Privatgebet einzelner Personen schildern. Die alttestamentlichen Gebetstexte sind allesamt von Spezialis-
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Begriffe für das Gebet
die Handelnden des Gebets
Gebetsanlässe
Thematischer Querschnitt
ten entweder zum öffentlichen Vortrag oder zur weitergehenden Reflexion verfasst. Das biblische Hebräisch kennt keinen Allgemeinbegriff für „beten“, sondern bezeichnet die Kommunikation mit Gott mit verschiedenen Verben, die bereits auf Inhalt und/oder Gattung des Gebets weisen: „sprechen“, „reden“, „schreien“, „rufen“ (in Notsituationen), „rühmen“, „loben“ u. a. Das Buch der Psalmen trägt die Überschrift Tehillim („Loblieder“), obwohl die meisten Psalmen keine Loblieder sind. Manche einzelnen Psalmen haben gattungsbezogene Überschriften („Lied“, „Loblied“, „Gesang“ u. a.), die aber schwer oder gar nicht deutbar sind. Der Fachbegriff „Psalm“ leitet sich vom griechischen psalmós (= Saitenspiel) her und weist darauf hin, dass Psalmen zu Musikbegleitung gesungen wurden. Das Gebet spielt sich in der Regel zwischen einem betenden Subjekt und Gott ab. Das Subjekt thematisiert sich selbst als „Ich“ oder „Wir“, Gott wird mit „Du“ angeredet. In vielen alttestamentlichen Gebeten weist jedoch die Formulierung darauf, dass ein Einzelner sein Gebet vor den Augen und Ohren einer Gruppe spricht, die er gelegentlich mit einbezieht. In diesen Fällen kann von Gott dann auch in der dritten Person gesprochen werden. Die Gebetshaltung im Alten Testament konnte variieren: In der Regel betete man im Stehen mit erhobenen Armen oder nach oben geöffneten Händen (1 Kön 8,22; Ps 28,2). Übersetzungen, bei denen vom „Niederknien“ gesprochen wird, geben den Proskynese (von griech. „niederwerfen“) genannten Gestus wieder: Der Betende liegt mit dem Gesicht und den Händen nach unten flach auf dem Boden. Diese Haltung nahm man auch vor dem König ein, sie symbolisierte die äußerste Demut und Angewiesenheit. Im Alten Testament konnte − wie heute − prinzipiell jede Situation zum Gebetsanlass werden: Freude, Dankbarkeit, Not, bedrängende Fragen. Im Psalter nehmen Gebete, die für den Vortrag im Tempel bestimmt waren, großen Raum ein. Indes gab es einen Gottesdienst, wie ihn Judentum, Christentum und Islam zelebrieren, zu alttestamentlicher Zeit noch nicht. Die ritualisierte Form der Zusammenkunft vor Gott zu einem bestimmten Termin fiel im Alten Testament eher unter die Kategorie „Fest“ und war an die großen Festanlässe gebunden: Passa, Wochenfest, Laubhüttenfest, Versöhnungstag, Neujahrsfest. Tempelweihen, Siegesfeiern oder auch Hunger oder Niederlagen konnten kultisch in spontane Dank- oder Klagefeiern umgesetzt werden.
307
„Lobe JHWH, meine Seele“: Die Psalmen
I. Willi-Plein, Opfer und Kult im alttestamentlichen Israel. Textbefragungen und Zwischenergebnisse, Stuttgart 1993 (SBS 153). W. Zwickel, Der Salomonische Tempel, Mainz 1999 (Kulturgeschichte der Antiken Welt 83).
Viele alttestamentlich überlieferte Psalmgebete haben ihren Bezug zum Kult JHWHs im Tempel von Jerusalem. Dieser Kult wurde nicht nur zu festlichen Anlässen vollzogen, sondern im Dauerbetrieb. Der Tempel galt vor- und nachexilisch als Ort der Anwesenheit Gottes, als sein Wohn- und Erscheinungsort. Der Kult mit Opfern und Gesängen diente dazu, JHWHs Anwesenheit symbolisch auszudrücken, war aber auch „Gottesdienst“ in dem Sinne, dass die Priester den Haushalt Gottes pf legten und versorgten. Lieder und Gebete dienten hierbei der Beschreibung und dem Lob des anwesenden Gottes. Die Öffentlichkeit war zu diesem Kult nur bedingt zugelassen; wahrscheinlich durften die Gläubigen nur den äußeren Tempelbereich betreten, um dort ihre Opfer zu vollziehen und − vermittelt durch Priester − mit Gott in Kontakt zu treten. Tatsächlich war vor- wie nachexilisch der JHWH des Tempels in Jerusalem für die meisten Menschen ein „ferner“ Gott, dem sie sich nie weiter nähern konnten als bis in die öffentlich zugänglichen Tempelbereiche. Das hängt mit dem altorientalischen Konzept von „Heiligkeit“ zusammen.
der Tempelkult
Heiligkeit„Heiligkeit“ (hebr. qa¯doˇ¯s) bezeichnet keine göttliche Qualität im Sinne der moralischen Integrität oder der Frömmigkeit, sondern das Besondere und ganz Andere. Die Heiligkeit Gottes ist eine Macht oder Energie, die mit allergrößter Sensibilität und Vorsicht gehandhabt werden muss. Im Falle einer Störung würde sie unkontrolliert und mit unabsehbaren Folgen ausbrechen. Da altorientalische und antike Texte in diesem Zusammenhang metaphorisch vom „Zorn Gottes“ sprechen oder davon, dass er gekränkt oder beleidigt ist (vgl. z. B. Lev 21,1–24), kommt es häufig zu dem Missverständnis, Gottes Heiligkeit hätte etwas mit Willkür oder gar Launenhaftigkeit zu tun. Tatsächlich ist diese anthropomorphe Redeweise ein Versuch, die rätselhafte und ehrfurchteinflößende Macht Gottes begrifflich zu erfassen. (Heutzutage sind medizinische oder technische Vergleiche vielleicht angemessener: Das Göttliche in altorientalisch/antiker Konzeption gleicht einem medizinischen Wirkstoff oder einer Brennstoffzelle, die mit äußerster Kompetenz gehandhabt werden muss, damit ihr nützliches Potential nicht in ein zerstörerisches umschlägt.) Die Ferne Gottes, die nur von ausgebildeten Priestern überbrückt werden konnte, diente dem gegenseitigen Schutz: Das Heilige konnte nicht verunreinigt werden, Menschen erlitten keine Gefahr. Die extrem detaillierten Vorschriften des Buches Leviticus zur Reinheit für Priester und Laien leben von diesem Konzept.
308
Thematischer Querschnitt
C. Colpe (Hg.), Die Diskussion um das Heilige, Darmstadt 1977 (WdF 305). C. Colpe, Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen, Frankfurt a. M. 1990. M. Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a. M., 31987. W. Gantke, Der umstrittene Begriff des Heiligen. Eine problemorientierte religionswissenschaftliche Untersuchung, Marburg 1998. G. Lanczkowski u. a., Art. Heiligkeit – I. Religionsgeschichtlich, II. Altes Testament, III. Neues Testament, IV. Systematisch-theologisch, in: TRE 14 (1985), 695–712.
Da in biblischer Zeit diese Heiligkeitsvorstellung von allen geteilt wurde, stellte sie kein theologisches Problem dar. Laien empfanden den beschränkten Zugang zum Tempel wahrscheinlich nicht als „Ferne“, sondern fühlten sich in diesem Bereich Gott nahe. Hier war vermutlich auch der Raum für Gebete aus privatem Anlass.
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie 1 Sam 1,1−17 und beantworten Sie vor dem Hintergrund des eben Gelesenen folgende Fragen: a) Warum betet Hanna nicht zu Hause, sondern anlässlich eines Jahresfestes im Tempel von Silo? b) Was könnte daran anstößig sein, wenn Hanna betrunken wäre? c) Warum übermittelt Eli Hanna die Antwort Gottes auf ihre Bitte?
5.5.2 Psalmen außerhalb des Psalters
Gebetsliteratur im Alten Testament Die meisten alttestamentlichen Gebete finden sich im Buch der Psalmen. Das Buch der Klagelieder enthält außerdem eine Sammlung von fünf Gebeten anlässlich der Zerstörung des Jerusalemer Tempels 587/6 v. Chr. Traditionell gilt der Prophet Jeremia als deren Verfasser, weswegen sie in den übersetzten Bibeln im Anschluss an sein Buch stehen. Außerdem finden sich Gebete in der erzählenden Literatur (Ex 15; Dtn 32; Ri 5; 1 Sam 2; 2 Sam 7,17−19; 22; 23,1−7; 1 Chr 16,7−36; 29,10.19; Tob 13; Jud 16; Sir 1), bei manchen Propheten (Jes 12; 63; Jer 14; 17; 20) und im Hiobbuch. R. G. Kratz, Die Tora Davids. Ps 1 und die doxologische Fünfteilung des Psalters, in: ZThK 93 (1996), 1–34. E. Zenger, Das Buch der Psalmen, in: Ders., Einleitung, 438–370.
309
„Lobe JHWH, meine Seele“: Die Psalmen
Die Entstehung des Psalmenbuches als Sammlung der Einzeltexte ist bis heute außerordentlich unklar. Das liegt an der Psalmensprache (s. unten), die eine exakte historische Einordnung erschwert. Forschungskonsens ist einzig, dass der größere Anteil der Einzelpsalmen der nachexilischen Zeit entstammt und das Psalmenbuch in der hellenistischen Zeit abgeschlossen wurde. Häufig wird angenommen, dass in der Sammlung Ps 3−14 Psalmen aus vorexilischer Zeit enthalten sind, die jedoch exilischnachexilisch ergänzt und fortgeschrieben wurden. Eine Reihe einzelner Psalmen außerhalb dieser Sammlung (Ps 21; 24; 29; 45; 46−48; 72; 76; 93; 110) geht vermutlich auf eine vorexilische Grundfassung zurück. Ps 44; 60; 74; 79; 80; 83; 85; 89; 90; 123; 126; 137 haben ihre Wurzeln in der Exilszeit (vgl. E. Zenger, Psalmen, 362 f.). Gewachsen ist das Psalmenbuch wahrscheinlich in Blöcken, die hintereinandergesetzt wurden. Dabei konnten in spätere Sammlungen durchaus frühere Texte aufgenommen werden. Am Abschluss von Ps 41; 72; 89 und 106 findet sich ein fast gleichlautender Lobpreis Gottes (Doxologie), so z. B. Ps 89,53: Gelobt sei der HERR ewiglich! Amen! Amen!
Diese Doxologien sind ein Indiz für eine Gliederung des Psalmenbuches in fünf Teile: 1. 2. 3. 4. 5.
Ps 1−41 Ps 42−72 Ps 73−89 Ps 90−106 Ps 107−150
Diese Teilung in fünf „Bücher“ entspricht offensichtlich dem fünfteiligen Auf bau der Tora/des Pentateuch: „Die Psalmen sind die Antwort Israels auf die Israel gegebene Tora. (…) Zugleich macht diese doxologische Rahmenstruktur den Psalter zur lobpreisenden Antwort Israels, die auf Ewigkeit hin angelegt ist, d. h. die Psalmen sind die bis zum Ende der Weltzeit vollgültige Antwort Israels (und der Völker) auf das Handeln JHWHs.“ (E. Zenger, Psalmen, 355) D. Erbele-Küster, Lesen als Akt des Betens. Eine Rezeptionsästhetik der Psalmen, NeukirchenVluyn 2001 (WMANT 87). A. A. Fischer, Art. David, in: www.wibilex.de. E. Zenger, Der Psalter als Heiligtum, in: B. Ego u. a. (Hg.), Gemeinde ohne Tempel. Community without Temple. Zur Substituierung und Transformation des Jerusalemer Tempels und seines Kults im Alten Testament, antiken Judentum und frühen Christentum, Tübingen 1999 (WUNT 118), 115–130.
die Entstehung des Psalmenbuchs
die Gliederung des Psalmenbuchs
310
David und die Psalmen
Thematischer Querschnitt
Das deutet aber auch darauf hin, dass sich in der Phase des Abschlusses des Psalmenbuches die Gebetsliteratur vom Tempelkult emanzipiert hatte. Das Psalmenbuch will unter dieser Perspektive vor allem gelesen werden; jeder Leser und jede Leserin soll beim Lesen eine Teilnahme an einem betenden Kult imaginieren (vgl. dazu D. Erbele-Küster, Lesen). Die Psalmen sind eine Art „transportabler Tempel“ (vgl. E. Zenger, Psalter, 124−127). Deutet die Fünfteilung des Psalmenbuchs auf eine Analogie zur Tora, so sind die Psalmen auch mit dem Kanonteil „Propheten“ kompositorisch verbunden. 72 der 150 Psalmen gelten als „von David“ verfasst, eine Reihe davon (z. B. Ps 3; 7; 34; 51) wird mit Ereignissen in seinem Leben verbunden, z. B. Ps 3,1: 1 Ein Psalm Davids, als er vor seinem Sohn Absalom floh.
Die Tradition vom Sänger David geht zurück auf 1 Sam 16,14−23, wo von David als „Musiktherapeuten“ für Saul erzählt wird. Entstehungsgeschichtlich verweist David als (fiktiver) Autor der Psalmen wahrscheinlich auf die enge Verbindung der Psalmendichtung mit dem königlichen Kult im vorexilischen Jerusalem. In der nachexilischen Komposition des Psalmenbuches nimmt die „Davidisierung“ der Psalmen eine andere Richtung. Alexander A. Fischer bemerkt: „eine Modellsituation, in die sich der Beter einfinden und seine Erfahrungen der Not und Befreiung artikulieren kann. Dabei orientieren sich die biographischen Vermerke auffälligerweise nicht an David als dem König, sondern an David als dem in Not geratenen Einzelnen. Das Davidbild, das hier aufgenommen wird, tritt in den Geschichten seiner Verfolgung durch Saul besonders hervor (Ps 18,1; Ps 34,1; Ps 52,2; Ps 54,2; Ps 56,1; Ps 57,1; Ps 59,1; Ps 63,1; Ps 142,1).“ (A.A. Fischer, David)
weitere Psalmenautoren
David als der modellhafte Beter der Psalmen erlaubt somit auch eine Verknüpfung der Psalmen mit den (vorderen) Propheten. Außer den 72 mit David verbundenen Psalmen wird noch für weitere Psalmen ein Autor genannt. So nennt Ps 90 Mose als Autor, Ps 72 Salomo. Diese Angaben sind fiktiv. Historisch dagegen ist wahrscheinlich die Zurückführung von Ps 73−83 auf eine Gruppe oder Familie Asaph, von Ps 42; 44−49; 84; 85; 87; 88 auf die Gruppe oder Familie Korach. Beide Familien werden zu den „Tempelsängern“ gezählt (vgl. Esr 7; Neh 11), bei denen es sich wohl um professionelle Dichter und Musiker handelte. H. Gunkel/J. Begrich, Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, Göttingen 41985.
311
„Lobe JHWH, meine Seele“: Die Psalmen
K. Seybold, Poetik der Psalmen, Stuttgart 2007. K. Seybold, Studien zu Sprache und Stil der Psalmen, Berlin/New York 2010 (BZAW 415).
Wahrscheinlich sind nicht alle Psalmen für die betende Rezitation verfasst worden, sondern manche wurden von vornherein als „literarische Gebete“ konzipiert. Auf jeden Fall ist kein im Psalmenbuch überliefertes Gebet ein spontanes, aus der Situation geborenes, das nachträglich verschriftet wurde. Eher verlief der Vorgang umgekehrt: Die Psalmen wurden für bestimmte Anlässe verfasst und bei passender Gelegenheit vorgetragen. Dafür spricht die Formulierung der Psalmentexte, die bei allem Situationsbezug doch recht allgemein bleibt. Psalmen sind in poetischer Form verfasste Texte. Ihre Grundlage ist die Grundform hebräischer Poesie, der zwei-, manchmal dreizeilige „Parallelismus membrorum“ (→ Kap. 4.1.2), der „Gedankenreim“. Diese Form wird durch vielerlei Stilmittel ausgeschmückt und verstärkt: Rhythmus, Reim, Wortspiele, alphabetisch geordnete Satzanfänge (Akrosticha), Alliterationen und vor allem eine sehr lebendige, anschauliche Bildsprache. Leider kann keine Übersetzung − und sei sie noch so gut − die Sprachgestalt der Psalmen wiedergeben. Die strenge Gebundenheit des Gebets an die Gedichtform hat zwei Zwecke:
Psalmensprache
Ϝ Erstens dient sie als Gedächtnisstütze zum Auswendiglernen. Viele Psalmen wurden vorgetragen, dabei aber sicher nicht abgelesen. Je strenger und klarer eine Form ist, umso leichter lässt sie sich lernen. Ϝ Zweitens dient die Form dazu, die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu gewinnen. Selbst bei literarischen Gebeten ist der Horizont der Texte doch die Kommunikation mit Gott. Mit sorgfältig gestalteten Texten soll also auch Gott zum Zuhören geradezu gezwungen werden. Grundsätzlich lassen sich drei Grundformen der Gebetsliteratur unterscheiden: Lob, Dank und Klage. Die Bitte − auf die der deutsche Begriff „beten“ zurückgeht − ist in den Psalmen notwendiger Bestandteil der Klage und bildet keine eigene Form. Viele Psalmen lassen sich einer der drei Grundformen zuordnen, es gibt aber auch eine ganze Reihe gemischter Texte und solche, die sich keiner Form zuordnen lassen. In der Regel unterscheidet man zusätzlich nach der Anzahl der Sprecher Ich-Psalmen (Individualpsalmen) und Wir-Psalmen
Grundformen des Psalmgebets
312
Hymnen
Klagepsalmen
Dankpsalmen
weitere Gattungen
Thematischer Querschnitt
(Kollektivpsalmen). Diese können beliebig mit den oben genannten Gattungen kombiniert werden: So gibt es Klagen des Einzelnen und Klagen des Volkes. Psalmen, die ausschließlich oder überwiegend das Lob Gottes zum Thema haben, werden als Hymnen bezeichnet (griech. hymnos = Lobgesang). Sie sind formal ausgesprochen variabel, charakteristisch für sie ist der ein- und ausleitende Aufruf zum Lob Gottes, hebräisch „Hallelu-ja“ (= Lobt JHWH). Hymnen sind in der Regel Gruppenpsalmen. Der Grund des Lobs wird in ihnen breit ausgeführt. Je nach thematischer Zuspitzung unterscheidet man Schöpfungshymnen (z. B. Ps 8; Ps 104), Zionshymnen (z. B. Ps 46; 48), JHWH-Königs-Hymnen (Ps 93−100) und weitere inhaltlich bestimmte Gruppen. Die Hymnen waren vermutlich zum öffentlichen Vortrag während des Tempelkults bestimmt. Obwohl das Psalmenbuch mit „Tehillim“ (Loblieder) überschrieben ist, sind die meisten Psalmen Klagegebete. In ihnen wird eine Notsituation beschrieben und Gott um die Abwendung der Not gebeten. Am Ende steht häufig ein Ausblick auf die Situation nach der Rettung. Sie kommen als Klagen des Einzelnen (z. B. Ps 7; 13; 22; 69; 88 u. a.) und als Klagen des Volkes (Ps 73; 79; 79; 137 und Klgl 1−5) vor. Die Volksklagepsalmen sind vermutlich in Reaktion auf die Eroberung Jerusalems und die Zerstörung des Tempels im Jahr 587 verfasst und bei Klage- und Trauerfeiern vorgetragen worden. Klagen des Einzelnen sind situativ variabel und selten nur auf eine einzige Notlage zugespitzt (vgl. unten). Bei den Dankpsalmen handelt es sich formal gesprochen um eine Mischung aus Klage und Lob. Sie beginnen in der Regel mit einem Aufruf zum Dank an Gott, dem sich ein Rückblick auf die Situation anschließt, die den Dank veranlasst. Meist handelt es sich um eine Rettungstat Gottes. Auch diese Gattung kommt kollektiv (Ps 114; 124; 129) und individuell (Ps 9; 18; 30; 118 u.ö.) vor. Psalmen mit bestimmten gemeinsamen inhaltlichen Merkmalen werden zu Gattungen zusammengefasst: Vertrauenspsalmen (Ps 11; 16; 23; 131), Wallfahrtspsalmen (Ps 15; 24; 120−134), Weisheitspsalmen (Ps 1; 19; 37; 119), Geschichtspsalmen (Ps 78; 81; 105; 106) u. a. Es handelt sich dabei um „idealtypische“ Beschreibungen, die nur den Interpretationsrahmen abstecken, den jeder Psalm individuell ausfüllt.
313
„Lobe JHWH, meine Seele“: Die Psalmen
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Ps 13; 22; 130: Welche formalen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten weisen diese Klagepsalmen des Einzelnen auf ?
2. Lesen Sie Ps 44; 60; 74: Welche formalen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten weisen diese Klagepsalmen des Volkes auf ? Wie verhalten sich Volksklagepsalmen zu Klagepsalmen des Einzelnen?
3. Lesen Sie Ps 8; 33; 113; 117; 148: Welche formalen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten weisen diese Hymnen auf ?
Themen der Psalmen
5.5.3
B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003. C. Körting, Zion in den Psalmen, Tübingen 2006 (FAT 48). M. Millard, Art. Psalter, in: www.wibilex.de. H. Spieckermann, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen, Göttingen 1984 (FRLANT 148).
Als eines der am spätesten abgeschlossenen Bücher des Alten Testaments hat das Buch der Psalmen fast alle Themen der anderen Bücher aufgesogen und theologisch verarbeitet. Gleichwohl lässt sich diese Theologie auf einen Generalnenner bringen: Psalmtheologie vollzieht sich zwischen den Polen „JHWH, der König der Herrlichkeit“ − „JHWH, mein König und mein Gott“ (H. Spieckermann, Heilsgegenwart 284). Vom Königtum JHWHs über die Welt, Israel und die Götterwelt nehmen die Psalmen ihren Ausgangspunkt und kommen dorthin als zu ihrem Ziel zurück. JHWHs Königsherrschaft ist das einzige Thema einer Gruppe von Psalmen: Ps 47; 93; 96−99. Als Grundform und Kern der Psalmtheologie darf Ps 93 gelten: 1 Der HERR ist König und herrlich geschmückt;/der HERR ist geschmückt und umgürtet mit Kraft. Er hat den Erdkreis gegründet, dass er nicht wankt. 2 Von Anbeginn steht dein Thron fest; du bist ewig. 3 HERR, die Wasserströme erheben sich,/die Wasserströme erheben ihr Brausen, die Wasserströme heben empor die Wellen; 4 die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen mächtig; der HERR aber ist noch größer in der Höhe. 5 Dein Wort ist wahrhaftig und gewiss; Heiligkeit ist die Zierde deines Hauses, HERR, für alle Zeit.
JHWH ist König
314
Thematischer Querschnitt
der Zion
JHWHs Herrlichkeit und Pracht, sein Thronen im Tempel, aber auch seine (kriegerische) Macht gehören zum Grundbestand dieser Theologie, die sich auch in vielen anderen Psalmen ausdrückt (vgl. z. B. charakteristisch Ps 104). Zur Herrschaft JHWHs gehört auch die Abwehr der Chaosmächte − in Vv. 3−4 des Wassers. In Ps 93 erscheint dieses Motiv sehr gedrängt, kann aber in anderen Psalmen breiteren Raum einnehmen (z. B. Ps 74,12−19). Entscheidend ist, dass die Ewigkeit der Herrschaft JHWHs durch keine Chaosmacht gefährdet ist. Das gibt den Psalmbetern Raum zu weiteren Reflexionen über die Herrschaft Gottes, bildet aber auch den Ansatzpunkt für Klagen. Der Jerusalemer Tempel stand auf dem Gelände des Berges Zion. Der Tempel und der Zion sind demzufolge die Orte, an denen Gott anwesend und besonders zu loben und zu preisen ist. Zionslieder sind die Psalmen 46; 48; 76; 84; 87. Auch hier stehen die Herrschaft Gottes und die Überwindung der Bedrohung im Mittelpunkt, aber auch die Schönheit der Stadt und die Geborgenheit, die sie bietet: Ps 84,2 Wie lieb sind mir deine Wohnungen, HERR Zebaoth! 3 Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des HERRN; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. 4 Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen – deine Altäre, HERR Zebaoth, mein König und mein Gott. 5 Wohl denen, die in deinem Hause wohnen; die loben dich immerdar.
Diese Überzeugung von Gottes Herrschaft auf dem Zion und der heilvollen Qualität des Berges ließ die Rettung Jerusalems im Jahr 701 (→ Kap. 3.3.7) so bedeutsam für Juda werden und machte den Verlust des Tempels zu einem derartigen Trauma. Die Heilshoffnung der exilisch-nachexilischen Texte (→ Kap. 4.3.5; 5.4.3) hat denn auch JHWHs Rückkehr zum Zion zum Zentrum − eschatologische Heilshoffnungen wie Jes 58 (→ Kap. 5.4.3) gestalten sich als Vision einer Völkerwallfahrt zum Zion. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Ps 46; 48; 76; 84; 87. Welche formalen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten weisen diese Zionspsalmen auf ?
„Lobe JHWH, meine Seele“: Die Psalmen
Die heilvolle Anwesenheit JHWHs in seinem Tempel kann auch ganz persönlich ref lektiert werden. Das berühmteste Beispiel ist Ps 23:
315
geborgen in Gottes Nähe
1 Ein Psalm Davids. Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. 2 Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. 3 Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. 4 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. 5 Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. 6 Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.
Auch diesem Psalm liegt die Vorstellung des Gottes als König zugrunde. „Hirte“ war eine im Alten Orient übliche Metapher für den König − sie symbolisierte Schutz, Fürsorge und Verteidigung. In den genannten Variationen über das Thema „Königsherrschaft Gottes“ schimmert immer schon das Wissen durch, dass Gottes Ordnung, Herrschaft und Nähe gefährdet sind und jederzeit von allerlei feindlichen Mächten bedroht werden können. Das ist der Ansatzpunkt für die zahlreichen Klagegebete. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Vergleichen Sie Ps 23 mit Ps 139. Warum ist auch Ps 139 ein Vertrauenspsalm? Wie unterscheidet er sich von Ps 23? In den Klagepsalmen wird eine Notsituation vor Gott gebracht und auf die Bitte um Rettung zugespitzt. Ein prägnantes Beispiel ist Ps 13: 1 Ein Psalm Davids, vorzusingen. 2 HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? 3 Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele /und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben? 4 Schaue doch und erhöre mich, HERR, mein Gott! Erleuchte meine Augen, dass ich nicht im Tode entschlafe,
Klage: Konfliktgespräche mit Gott
316
Thematischer Querschnitt
5 dass nicht mein Feind sich rühme, er sei meiner mächtig geworden, und meine Widersacher sich freuen, dass ich wanke. 6 Ich aber traue darauf, dass du so gnädig bist; mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. Ich will dem HERRN singen, dass er so wohl an mir tut.
Der Anlass zur Klage wird in Ps 13 nicht recht deutlich; das ist der Befund für fast alle Klagepsalmen. Diese Unklarheit ist theologisch gewollt: Jede Not ist im Grunde nur ein Indiz für die gestörte Ordnung der Welt, die in der Regel als „Ferne Gottes“ ausgedrückt wird. Meist ist diese Erfahrung so unbegreif lich, dass der Beter sie nur als fassungslose Frage „Warum“ ausdrücken kann und in immer neuen Wendungen Gott dazu bewegen will, wieder eine Nähe herzustellen. Andernfalls hätte das Chaos gesiegt. Die wuchtigen Bilder für Not und Verlassenheit in den Klagepsalmen sind als Ausdruck tiefster Verzweif lung zu verstehen. Zum Mittel einer solchen Klage griff man nicht beim ersten Anzeichen eines Problems, sondern erst, wenn andere Mittel (Opfer, Bußrituale etc.) gescheitert waren. Aus diesem Grund können sich die Beter der Klagepsalmen auch immer − scheinbar selbstbewusst − als unschuldig und fromm und ihre Gegner als „Gottlose“ bezeichnen. Im Vorfeld des Gebets waren schon alle Maßnahmen ergriffen worden, um festzustellen, dass der Verfolgte, Bedrängte, Kranke, Leidende juristisch, moralisch und religiös reinen Herzens ist. Die Klage ist der letzte Ausweg. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Ps 7; 13; 17; 22; 28; 31; 35; 38. Welche Notsituationen werden jeweils geschildert? Mit welchen Argumenten wird Gott zum Eingreifen aufgefordert? M. Bauks, Art. Bilderverbot, in: www.wibilex.de. F. Hartenstein, Das Angesicht Gottes. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Ex 32–34, Tübingen 2006 (FAT 55). O. Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996. M. Köckert, Die Entstehung des Bilderverbots, in: B. Groneberg/H. Spieckermann (Hg.), Die Welt der Götterbilder, Berlin/New York 2007 (BZAW 376), 272–290. M. Köckert, Vom Kultbild Jahwes zum Bilderverbot. Oder: Vom Nutzen der Religionsgeschichte für die Theologie, in: ZThK 106 (2009), 371–406. Augen und Ohren Gottes
Der Wunsch nach der Nähe Gottes, der die Klagegebete durchzieht, wird häufig mit ganz menschlichen Metaphern ausge-
„Lobe JHWH, meine Seele“: Die Psalmen
317
drückt: Gott soll sehen, hören, sein Gesicht dem Beter zuwenden, ihn mit seinen Händen greifen usw. Der personal gedachte Gott wird in diesen Texten ganz anschaulich und geradezu bildhaft. Gottesbilder im Alten IsraelDer jüdischen, christlichen und islamischen Theologie ist neben dem Monotheismus und der jeweiligen Offenbarung Gottes in der Schrift die Bildlosigkeit des Glaubens gemeinsam: Gottes-Bilder, die man anbeten kann, gibt es nicht. Der Bezugspunkt ist Ex 20,4–5, das sog. Bilderverbot. Ob JHWH von Anfang an bildlos verehrt wurde, ist in der Forschung umstritten. Der syrisch-palästinische Raum kannte Traditionen einer bildlosen (oder allenfalls symbolisch komprimierten) Anbetung eines Gottes (sog. Anikonizität). Belege für eine Abbildung JHWHs im Tempel von Jerusalem oder in anderen Heiligtümern sind nicht eindeutig – allenfalls für das Heiligtum in Bet-El kann ein Bild JHWHs in Gestalt eines Stiers angenommen werden. Ohne einen eindeutigen archäologischen Beleg ist die Frage nicht zu entscheiden. Mit ziemlicher Sicherheit stand im (unzugänglichen!) Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels ein Thron für JHWH, der von Wächterfiguren (sog. Keruben) umgeben war (vgl. Jes 6). Möglicherweise war dieser Thron leer und JHWH wurde nur darauf sitzend vorgestellt. In den späteren alttestamentlichen Texten von Ex 20 an werden Alleinverehrung JHWHs und Bilderverbot geradezu miteinander identifiziert: Alles, was bildhaft dargestellt wird, ist ein anderer Gott als JHWH und daher überhaupt kein Gott. Im Zuge des sich entwickelnden Monotheismus hat das Alte Testament auch die bildliche Darstellung Gottes nach und nach abgestoßen, die vorher möglicherweise (in Ansätzen) vorhanden war. Spätestens mit Deuterojesaja ist die Erkennbarkeit JHWHs an seine Unsichtbarkeit gebunden.
Selbst wenn es ein Bild JHWHs gegeben haben sollte, war dieses nur sehr wenigen Menschen überhaupt sichtbar, da das Allerheiligste des Tempels nur vom Hohepriester betreten werden durfte. Die anthropomorphe Redeweise von Gott in den Psalmen dient damit für alle Beter und Beterinnen als Ersatz für das Bild. Gott wird sichtbar in der Sprache, und auf diesem Weg kann man sich ihm auch nähern oder um seine Nähe bitten. Dieser Teil der alttestamentlichen Gottesvorstellung − Gottes Menschengestaltigkeit − ist daher nicht altertümlich oder gar primitiv, sondern Resultat einer theologischen Reflexion. O. Keel, Feinde und Gottesleugner. Studien zum Image der Widersacher in den Individualpsalmen, Stuttgart 1969.
So wie die menschenförmige Anrede Gottes gewissermaßen Kommunikation mit Gott von Angesicht zu Angesicht erlaubt
die Feinde des Einzelnen
318
Thematischer Querschnitt
und in Lob und Klage eine große Nähe herstellt, personalisiert das Gebet auch die Not. In den meisten Psalmen besteht die Notsituation darin, dass der Beter sich von gefährlichen Feinden geradezu umringt sieht. Diese Feinde können als Tiere dargestellt werden, z. B. Ps 22,13−17: 13 Gewaltige Stiere haben mich umgeben, mächtige Büffel haben mich umringt. 14 Ihren Rachen sperren sie gegen mich auf wie ein brüllender und reißender Löwe. (…) 17 Denn Hunde haben mich umgeben, …
Oder sie erscheinen als Menschen, wie z. B. in Ps 55,2−6: 2 Gott, höre mein Gebet und verbirg dich nicht vor meinem Flehen. 3 Merke auf mich und erhöre mich, wie ich so ruhelos klage und heule, 4 da der Feind so schreit und der Gottlose mich bedrängt; denn sie wollen Unheil über mich bringen und sind mir heftig gram. 5 Mein Herz ängstet sich in meinem Leibe, und Todesfurcht ist auf mich gefallen. 6 Furcht und Zittern ist über mich gekommen, und Grauen hat mich überfallen.
Als „Gottloser“ wird dabei in den meisten Psalmen stereotyp der menschliche Feind bezeichnet. Es handelt sich dabei nicht um einen Ungläubigen, sondern um einen, der sich der Ordnung und Gerechtigkeit widersetzt. Ob die Beter der Klagepsalmen wirklich Anfeindungen von Menschen erlitten, lässt sich nicht sicher sagen. Sehr wahrscheinlich wird hier die Not in eine sprachliche Form gegossen, die zum Argument für das Eingreifen Gottes werden kann. Der Gott, der die Schwachen vor ihren Unterdrückern schützt, soll tätig werden. Dabei ist der Wunsch immer eindeutig die Vernichtung der Feinde. Das kann sich in den sog. „Rachepsalmen“ (Ps 109; 137) bis zu wilden Vernichtungsbitten steigern. Im Rahmen des alttestamentlichen Ordnungsdenkens (→ Kap. 4.1) ist das konsequent, für uns jedoch schwer nachvollziehbar. Es gilt aber mit Hermann Spieckermann: „[Die Stärke des Feindbildes] liegt in dem reichen Angebot an Metaphern, die dem betroffenen Beter in seiner Not Sprache verleihen, ihm erlauben, eine Sphäre zu bezeichnen, aus der die Ursache seiner Not
319
„Lobe JHWH, meine Seele“: Die Psalmen
kommt … Der häufigen Unklarheit der Ätiologie [= Ursache] der Not kommt die Vielzahl der (rational miteinander unvereinbaren) Metaphern entgegen, die keine Eindeutigkeit erzwingen, wo sie unerreichbar ist, und gleichwohl hilfreiche Klage ermöglichen, wo Schweigenmüssen grausam wäre.“ (H. Spieckermann, Heilsgegenwart, 248)
Die tiefste Anfechtung wird dort ausgedrückt, wo Gott selbst als Feind erlebt wird, der Urheber des Unheils ist. Diese sog. „Gottklage“ findet sich in den Psalmen nur selten, zeigt aber, dass die Kommunikation mit Gott kein Thema scheuen muss, noch nicht einmal die Anklage Gottes, vgl. Ps 88, 6−9:
Gott als Feind
6 Ich liege unter den Toten verlassen, wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, derer du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand geschieden sind. 7 Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe. 8 Dein Grimm drückt mich nieder, du bedrängst mich mit allen deinen Fluten. 9 Meine Freunde hast du mir entfremdet, du hast mich ihnen zum Abscheu gemacht.
Diese Anklagen gegen Gott sind Ausdruck der unbegreiflichsten aller Nöte, weil sie voraussetzen, dass Gott sich gegen sich selbst wenden müsste, um den Beter zu retten. Texte wie dieser (vgl. auch Ps 22; 44) zeigen, zu welchen religiösen Leistungen ein konsequenter Monotheismus imstande ist, der die Erfahrung des Leides und des Bösen nicht mehr auf eine Chaos-Gottheit oder auf gegengöttliche Feinde abschieben kann, sondern mit Gott gegen Gott argumentieren muss. A. Berlejung/B. Janowski (Hg.), Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner Umwelt. Theologische, religionsgeschichtliche, archäologische und ikonographische Aspekte, Tübingen 2009 (FAT 64). G. Eberhard, JHWH und die Unterwelt. Spuren einer Kompetenzausweitung JHWHs im Alten Testament, Tübingen 2007 (FAT II). J. Schnocks, Rettung und Neuschöpfung. Studien zur alttestamentlichen Grundlegung einer gesamtbiblischen Theologie der Auferstehung, Göttingen/Bonn 2009 (BBB 158).
Das stärkste Argument in Klagegebeten ist der drohende Tod des Beters. Wie das eben zitierte Beispiel aus Ps 88 zeigt, kann der Beter seine Not so ausdrücken, dass er „schon mit einem Bein im Grab steht“. Diese Bilder sind nicht rhetorisch gemeint. Vielmehr erlebt der alttestamentliche Mensch seine Not durchaus als einen Angriff der Chaosmächte, die ihn in ihren Bereich ziehen wollen und somit von Gott entfernen. Die verzweifelten Klagen
Gott und der Tod
320
Thematischer Querschnitt
und Bitten zielen darauf, dass Gott dies im letzten Moment verhindern möge. Der Tod im Alten TestamentFür das Alte Testament ist der Tod das natürliche Lebensende. Mit der Ausnahme von Gen 2–3 gehen die Texte davon aus, dass der Mensch sterblich geschaffen wurde. Sofern sich der Tod im Alter ereignet, stellt er für das Alte Testament auch kein Problem dar (Hi 42,17). Nach dem Tod geht der Verstorbene in die „Unterwelt“ (hebr. ˇse’o¯l), einen dunklen, traurigen Ort, aus dem es keine Rückkehr gibt. Ein glückliches Jenseits kennt das Alte Testament nicht; ebenso sind ihm aber die ausgeformten Totenreichsvorstellungen wie in Ägypten fremd. Wichtig für die Psalmen ist der Sachverhalt, dass JHWHs Macht nicht bis in die Unterwelt reicht. Der Tod markiert die endgültige Trennung zwischen Mensch und Gott. Das Totenreich oder die Unterwelt sind darum zu fürchten, repräsentieren aber keine Hölle, die von Teufeln bewohnt würde. Mit dem Tod endet alles. Eine Auferstehungshoffnung lassen erst die spätesten Texte des Alten Testaments erkennen (Dan 12). Diese Hoffnung hat sich nach-alttestamentlich aber schnell im antiken Judentum verbreitet, zur Zeit Jesu war sie schon allgemeiner Glaubensbesitz.
Gottes ewige Herrschaft als Ziel des Psalters
Markiert also der Tod die endgültige Trennung zwischen Gott und Mensch, so kann es nicht in JHWHs Interesse liegen, dass diese vorzeitig vollzogen wird. Dies würde bedeuten, dass er als Herr der Ordnung scheitert. Aus diesem Grund kann in den Klagepsalmen so dringlich um Rettung vor dem Tod gef leht werden. Obwohl die Klagen den größeren Teil des Psalters ausmachen, tendiert doch die Gesamtanlage des Buches in Richtung Lob und Hoffnung. Mit dem Ende des dritten Psalmenbuches in Ps 89 nimmt die Darstellung der Königsherrschaft Gottes massiv zu − die JHWH-Königs-Psalmen stehen gegen Ende des Psalmenbuches. Von Ps 145 an steigert sich das Gotteslob zu einem universalen Lobgesang auf Gott, um mit dem großen Halleluja von Ps 150 zu schließen: 1 Halleluja! Lobet Gott in seinem Heiligtum, lobet ihn in der Feste seiner Macht! 2 Lobet ihn für seine Taten, lobet ihn in seiner großen Herrlichkeit! 3 Lobet ihn mit Posaunen, lobet ihn mit Psalter und Harfen! 4 Lobet ihn mit Pauken und Reigen, lobet ihn mit Saiten und Pfeifen! 5 Lobet ihn mit hellen Zimbeln, lobet ihn mit klingenden Zimbeln! 6 Alles, was Odem hat, lobe den HERRN! Halleluja!
Am Ende des Psalmbuches wird das Lob des königlichen Gottes gewissermaßen zum Selbstzweck. Es wird kaum noch thematisch entfaltet, und der Aufruf zum Lob schließt alle Kreatur mit
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„Gottesfurcht ist der Anfang der Erkenntnis“: Die Weisheit
ein. In diesem Finale des Psalmbuches bündeln sich alle Themen der Psalmen und wollen das Lob Gottes auf Dauer stellen.
„Gottesfurcht ist der Anfang der Erkenntnis“: Die Weisheit
5.6
D. M. Carr, Writing on the tablet of the heart – origins of Scripture and literature, Oxford 2005. H. Delkurt, Ethische Einsichten in der alttestamentlichen Spruchweisheit, Neukirchen-Vluyn 1993 (BThST 21). K. J. Dell, „Get Wisdom, Get Insight”. An Introduction to Israel’s Wisdom Literature, Macon/ GA 2000. J. Hausmann, Art. Weisheit (AT), in: www.wibilex.de. M. Köhlmoos, Art. Weisheit/Weisheitsliteratur II. Altes Testament, in: TRE 35 (2003), 486–497. I. Müllner, Das hörende Herz. Weisheit in der hebräischen Bibel, Stuttgart 2006.
Weisheit, Vernunft und Glaube Das hebräische Wort h≥åkmāh wird gewöhnlich mit „Weisheit“ übersetzt. Es umfasst eine breite Palette sich überschneidender Bedeutungen. Ϝ Das intellektuelle Vermögen eines Menschen im Sinne von „Klugheit“, „Wissen“, „Intelligenz“ wird im Hebräischen mit dem Wortstamm h≥ākam („weise sein“) bezeichnet (vgl. Ri 5,29; 2 Sam 13,3; 14,2; Jer 9,22). Ϝ Mit „Weisheit“ wird das wissensmäßige und technische Vermögen umschrieben, das zur Ausübung einer Tätigkeit gehört, im Sinne von „Geschick“, „Fertigkeit“, „Meisterschaft“. Auch JHWHs Schöpfertätigkeit wird vor diesem Hintergrund als Weisheit bezeichnet (Prov 3,19 f.). Ϝ Als „weise“ im eigentlichen Sinn gilt im Alten Testament die Kombination von Intelligenz, Bildung und Geschick im Sinne von Lebensklugheit, Einsicht und sozialer Kompetenz. Vor allem das Sprüchebuch zeichnet das Bild vom aufrichtigen, verschwiegenen, zurückhaltenden, fleißigen, sparsamen, höf lichen und verantwortungsbewussten „Weisen“, der über „Einsicht“ und „Zucht“ verfügt (Prov 14,13.21). Synonyme zu „weise“ unter diesem Aspekt sind z. B. „rechtschaffen“, „aufrichtig“ (Ps 7,11; Hi 4,7) und „geradlinig“, „integer“ (1 Kön 9,4). Ϝ Vor allem der ethische Aspekt weisen Verhaltens im eben geschilderten Sinne bringt eine religiös-moralische Nebenbedeutung von „Weisheit“ mit sich, die häufig mit dem Begriff
5.6.1 Was ist Weisheit?
322
Thematischer Querschnitt
„Gottesfurcht“ (Prov 1,7 u. ö.) ausgedrückt wird, häufiger jedoch noch mit dem Wortfeld „gerecht/Gerechtigkeit“ (s≥addīq/ s≥edāqāh: Prov 9,9; 11,30; 23,24 u. ö.). Jemand, der sich − willentlich und wissentlich − dieser Weisheit entzieht, gilt als „böse“ (ra’: Prov 15,21) oder „Frevler“ (rāšā’: Prov 15,28). Es ist deutlich, dass die einzelnen Bedeutungsaspekte nicht trennscharf gegeneinander abzugrenzen sind. Darüber hinaus ist zu beachten, dass „Weisheit“ in keinem Falle eine abstrakte und/oder theoretische Kategorie ist; vielmehr ist das hebräische „weise sein“ immer in gleichem Maße sowohl auf Aneignung, Ein- und Ausübung als auch auf Weitergabe ausgerichtet. Salomo als WeiserAls exemplarischer Weiser gilt dem Alten Testament Salomo, von dessen außergewöhnlicher Weisheit 1 Kön 5,5–14 berichtet. Die Verse schließen den Bericht über Salomos Herrschaft ab. Als gerechter Richter (1 Kön 3,16–28), erfolgreicher Herrscher (1 Kön 4,20), Sicherer von Frieden und Wohlstand (1 Kön 5,4 f.) und mit Reichtum Gesegneter entspricht Salomo dem Idealbild des Königs (vgl. Prov 16,10–15; 20,2.8.26). Entsprechend werden das Sprüchebuch, das Buch Kohelet, das Hohelied und Ps 72 Salomo zugeschrieben, außerdem die apokryphen Schriften der Psalmen Salomos und der Weisheit Salomos.
Der Zusammenhang zwischen Weisheit, Vernunft und Erkenntnis wir am deutlichsten in der Einleitung des Sprüchebuches, Prov 1,1−7: 1 Dies sind die Sprüche Salomos, des Sohnes Davids, des Königs von Israel, 2 um zu lernen Weisheit und Zucht und zu verstehen verständige Rede, 3 dass man annehme Zucht, die da klug macht, Gerechtigkeit, Recht und Redlichkeit; 4 dass die Unverständigen klug werden und die Jünglinge vernünftig und besonnen. 5 Wer weise ist, der höre zu und wachse an Weisheit, und wer verständig ist, der lasse sich raten, 6 dass er verstehe Sprüche und Gleichnisse, die Worte der Weisen und ihre Rätsel. 7 Die Furcht des HERRN ist der Anfang der Erkenntnis. Die Toren verachten Weisheit und Zucht.
Hier werden dem Begriff Weisheit nicht weniger als 13 Synonyme zugeordnet. Es erscheinen Allgemeinbegriffe für Bildungsziele (Erziehung, vollständige Rede, Klugheit, Wissen, Kenntnisse), auf Lebenspraxis zielende Termini (Einübung kluger Verhaltensweisen, Gerechtigkeit, Rechtsordnung, Geradlinigkeit, Führungseigenschaften) und schließlich die weisheitlich akzentuierte Frömmigkeit (Gottesfurcht). Diese Aufzählung lässt das Bemühen um eine vollgültige Definition von Weisheit erkennen. Die
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„Gottesfurcht ist der Anfang der Erkenntnis“: Die Weisheit
Termini sind in eine dramaturgische Struktur eingebunden, die Ausgangs- und Zielpunkt des Bemühens um Erkenntnis transparent machen soll: Verstehen um zu lernen (Vv. 2−3) und Lehren, damit andere verstehen (Vv. 4−6), sind aufeinander bezogen und gipfeln schließlich in der Gottesfurcht, von der sie auch ihren Anfang nehmen. In der alttestamentlichen Wissenschaft wird der Bereich alttestamentlicher Literatur und Theologie als „Weisheit“ bezeichnet, der eine (systematische) Ref lexion der ethisch und theologisch konnotierten h≥åkmāh bietet. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie 1 Kön 3,4−14. Womit wird Salomos außergewöhnliche Weisheit begründet?
2. Lesen Sie 1 Kön 3,16−28. Was ist so weise an Salomos Urteilsspruch?
5.6.2
Weisheitliche Literatur R. Lux, Die Weisen Israels, Meister der Sprache, Lehrer des Volkes, Quelle des Lebens, Leipzig 1992. H. D. Preuß, Einführung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur, Stuttgart 1987.
Die als Weisheitsliteratur zusammengefassten alttestamentlichen Texte werden durch eine Anzahl „weisheitlicher“ oder „weisheitlich beeinflusster“ Schriften ergänzt. Überblick über die weisheitliche Literatur– Zur Weisheitsliteratur im strengen Sinne werden die Bücher Proverbia/Sprüche Salomos, Kohelet, Hiob und Sirach gezählt. Die Zusammenschau dieser Bücher ist bereits in der Septuaginta nachzuweisen. Außerdem dazuzurechnen sind die sog. „Weisheitspsalmen“ 1; 37; 39; 49; 73; 119. – Als weisheitliche Literatur gelten darüber hinaus die Josephserzählung (Gen 37.39–50) sowie die Bücher Ruth, Jona und Ester. – Für das Deuteronomium, für Amos und Jesaja sowie für eine Reihe weiterer Texte wird mit dem Einfluss weisheitlichen Denkens auf die Verfasser gerechnet.
Die Bücher Prov, Koh und Sir sowie die Weisheitspsalmen zeigen klare gemeinsame inhaltliche und formale Konturen, die es erlauben, von einer alttestamentlichen „Weisheitsliteratur“ zu sprechen. In durchgehend poetischer Form und hoher sprachli-
Weisheitsliteratur: Gattungen und Texte
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weisheitliche Sprache
Thematischer Querschnitt
cher Dichte und Gebundenheit ref lektieren die genannten Texte die Weisheit und ihre Konsequenzen für Theologie, Mensch und Gesellschaft. Als Grundgattung alttestamentlicher Weisheitsliteratur lässt sich der kurze Spruch, auch Kunstspruch oder Sentenz (hebr. māšāl) genannt, bezeichnen. In der Regel zweigliedrig im Parallelismus membrorum formuliert und zumeist durch poetische Stilmittel weiter verdichtet, bringt er eine Einsicht zur Sprache und damit zur Welt, vgl. Prov 16,18: Vor dem Zusammenbruch Hochmut und vor dem Fall ein stolzer Sinn.
Die Formulierung einer solchen Aussage ist bereits ein Akt der Weisheit: Die Form des māšāl „ist sowohl im erkennenden Subjekt als auch im erkannten Objekt begründet. Die Freude, eine Erkenntnis gewonnen und nach viel Mühe präzise formuliert zu haben, drückt sich genauso in gehobener poetischer Form aus, wie es die Würde dieses Teils der erkannten Wirklichkeit selbst erfordert. (...) Der Kunstspruch gibt seinen Fund, das Stück erkannte Ordnung, nicht einfach bekannt, sondern er zelebriert diese Erkenntnis.“ (C. Klein, Kohelet, 59) Vergleiche, Zahlen, Rätsel
Eine weitere Gattung sind die tōb- (hebr. für „gut“) oder Evaluativsprüche, die einen Vergleich zweier Phänomene nach dem Schema „A ist besser als B“ formulieren (Prov 16,16; 17,1; 27,5.10b; Sir 16,3; 19,24; 20,31; 29,12 f.22; 30,14.17; 41,15; 42,14). Viele dieser Sprüche formulieren Paradoxien und/oder überraschende Einsichten, die eine allgemeine Sicht auf die Dinge bewusst durchkreuzen und so neue Facetten der Wirklichkeit zum Ausdruck bringen. So zwingt z. B. der Satz Besser das Wenige des Gerechten als der Reichtum vieler Gottloser. (Ps 37,16)
über den Reichtum neu nachzudenken, der eigentlich als ein Segen gilt. (vgl. dazu die positive Einschätzung des Reichtums Prov 19,4.7). Ein ähnlich differenziertes Verhältnis zwischen möglichst genauer Aneignung eines Phänomens und seiner poetischen Verrätselung lässt der Zahlenspruch erkennen. In ihm werden verschiedene Sachverhalte unter einem übergeordneten Gesichtspunkt zusammengestellt und dann aufgezählt, so etwa Prov 30,24−28; Sir 25,1.2. Dabei kann es zur Zusammenschau auf den ersten Blick nicht zusammenhängender Größen kommen, die zur völligen Neubewertung der Wirklichkeit führt, vgl. Prov 30,18 ff., wo
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„Gottesfurcht ist der Anfang der Erkenntnis“: Die Weisheit
bezeichnenderweise die Dinge aufgezählt werden, die der Weise nicht versteht: 18 Drei sind mir zu wundersam, und vier verstehe ich nicht: 19 des Adlers Weg am Himmel, der Schlange Weg auf dem Felsen, des Schiffes Weg mitten im Meer und des Mannes Weg beim Weibe.
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Prov 16,16; 17,1; 275.10b. Was ist in diesen Sprüchen das „Bessere“, was das „Schlechtere“? Worin liegt jeweils die Überraschung?
2. Lesen Sie Prov 30,24−31. Welche Phänomene werden aufgezählt und unter welchem Gesichtspunkt werden sie zusammengestellt?
Die Spruchgattungen sind so formuliert, dass man daraus etwas lernen kann. Trotzdem wird nur selten eine direkte Handlungsanweisung gegeben (etwa in Prov 22,17−24,22). Die Sprache der Sprüche leitet zunächst zur verschärften Wahrnehmung an und erst in zweiter Linie − und meist nur indirekt − zur praktischen Umsetzung. Aus diesem Grund sind die Spruchformulierungen in der Regel generalisierend und typisierend formuliert, nach dem Muster: „Ein Törichter tut dies, ein Weiser tut das“. Inwiefern die aktuelle Situation auf diese Formel anwendbar ist, muss jeder Weise aufgrund seiner Bildung selbst entscheiden: „Weisheit lebt zweifelsfrei von gemachter Erfahrung und deren Systematisierung. Wenn gemachte Erfahrungen in Sprache verdichtet werden und z. B. in Form von Sprichwörtern weiter vermittelt werden, so steht dies nicht in Widerspruch zu der Einsicht, dass jeder Mensch seine eigenen Erfahrungen machen muss. Weisheitsliteratur weiß allerdings um die Allgemeingültigkeit von menschlichen Erfahrungen im Laufe der Generationen und in unterschiedlichen Kontexten.“ (J. Hausmann, Weisheit)
Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Prov 19,2; 20,1; 20,17. Versuchen Sie, die Sätze selbst nachzuformulieren, und leiten Sie daraus eine Handlungsanweisung ab: Was soll man tun, was soll man nicht tun?
Im Entstehungsprozess der alttestamentlichen Weisheitsliteratur lässt sich eine Entwicklung vom kurzen Einzelspruch zum
von einfachen zu komplexeren Formen
326
Weisheitspsalmen
Volkssprichwörter?
Thematischer Querschnitt
längeren Weisheitsgedicht, zur Lehrrede und zum Traktat erkennen. Diese Formen liegen hauptsächlich in Prov 1−9, Koh und Sir vor. Die einzelnen Gattungen sind dabei häufig nicht klar voneinander abgrenzbar, umstritten ist auch, ob die komplexeren Texte eigens formuliert wurden oder ob sie einfach bestehendes Material zusammenfassten. Alle Gattungen der alttestamentlichen Weisheitsliteratur setzen eine gewissermaßen dialogische Situation voraus, insofern sie auf Weitergabe und Aneignung der Einsicht tendieren. Indes wird erst in späteren Texten die Aneignung der Einsicht durch den Hörer/Leser im Text thematisiert und in konkrete Handlungsanweisungen umgesetzt, die den Text leitmotivartig durchziehen, vgl. z. B. Prov 3,1−26. Der pädagogische Impuls ist dabei unterschiedlich ausgeführt. Wollen Prov 1−9; Sir 2−4 deutlich den „Sohn“, d. h. den Leser oder Hörer, zur weisen Lebensführung und Disziplin mahnen, so bleibt bei Koh offen, wer angeredet ist und wie er handeln soll. Dort soll anscheinend die Zustimmung zu Kohelets Ref lexion zu bestimmten Handlungen führen. Eine Sonderform der Weisheitsliteratur stellen die Weisheitspsalmen dar. In diesen Texten findet die Ref lexion über die Wirklichkeit vor Gott statt. Die Weisheit und die Möglichkeit ihres Erwerbs werden in Gotteslob umgesetzt (Ps 1; 119,10−18). Umgekehrt kann der Beter die Grenzen der Erkenntnis und sein Leiden an diesen Grenzen im Gebet vor Gott bringen und ihn bitten, ihm Weisheit und Einsicht zu verleihen (Ps 119,19 ff.; 73). Im letzteren Fall sind die Grenzen der Erkenntnis häufig mit der Frage nach Tod und Leiden verbunden. Es kann nicht grundsätzlich bezweifelt werden, dass der Weisheitsliteratur gelegentlich sog. „Volkssprichwörter“ zugrunde liegen, wie sie z. B. auch in Gen 10,9; Ri 8,21; 1 Sam 10,12; 24,14; Ez 16,44 überliefert sind (vgl. dazu J. Hausmann, Weisheit). Indes ist schon das „Volkssprichwort“ durch poetische Elemente deutlich von der Alltagssprache abgesetzt, so dass sich auf literarischem Niveau kaum ein prinzipieller Unterschied zwischen „Volkssprichwort“ und „Kunstspruch“ geltend machen lässt, vgl. etwa den − wohl volkstümlichen − Satz Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Söhnen werden die Zähne stumpf. (Jer 31,29; Ez 18,2)
mit der weisheitlichen Einsicht Es kommt vor, dass ein Weg gerade ist vor einem Mann, doch sein Ende sind Todeswege. (Prov 14,12).
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„Gottesfurcht ist der Anfang der Erkenntnis“: Die Weisheit
Zwischen „Volkssprichwort“ und „Kunstspruch“ lässt sich − wenn überhaupt − allenfalls im Hinblick auf die Funktion differenzieren, insofern das Sprichwort auf Orientierung und konkrete situative Belehrung hin tendiert, der Kunstspruch hingegen auf Bildung und Erziehung (C. Klein, Kohelet). Da im Alten Testament alle Gattungen der Weisheit in literarischem Kontext vorliegen, ist es fraglich, inwieweit sich bestimmte weisheitliche Gattungen unterschiedlichen Ursprüngen (Volksweisheit, Bildungsweisheit, Erfahrungsweisheit) zuordnen lassen. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Aus vielen biblischen Weisheitssprüchen sind Sprichwörter geworden. Lesen Sie Prov 15,17; 16,18; 26,14. Kennen Sie die heutige Variation des biblischen Satzes?
Themen der Weisheit
5.6.3
G. Baumann, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1–9. Traditionsgeschichtliche und theologische Studien, Tübingen 1996 (FAT 16). I. Fischer, Gotteslehrerinnen. Weise Frauen und Frau Weisheit im Alten Testament, Stuttgart 2006. O. Kaiser, Anweisungen zum gelingenden, gesegneten und ewigen Leben. Eine Einführung in die spätbiblischen Weisheitsbücher, Leipzig 2003 (ThLZ.F 9). C. Klein, Kohelet und die Weisheit Israels. Eine formgeschichtliche Studie, Stuttgart 1994 (BWANT 132). I. Kottsieper, Alttestamentliche Weisheit: Proverbia und Qohelet, in: ThR 67 (2002), 1–34.201– 237. H. Spieckermann, Gott im Gleichnis der Welt. Die Stellung der Weisheit in der Theologie des Alten Testaments, in: M. Oeming u. a. (Hg.), Das Alte Testament und die Kultur der Moderne, Münster 2004 (atm 8), 99–116. C. Westermann, Forschungsgeschichte zur Weisheitsliteratur 1950–1990, Stuttgart 1991 (AzTh 71).
Neben der genuinen Weisheitsliteratur lässt im Alten Testament eine Reihe von Texten das Interesse erkennen, Themen und Anliegen weisheitlichen Denkens anhand eines konkreten Falls ausführlicher abzuhandeln. Diese Sonderfälle werden in Form von Prosaerzählungen dargestellt. Die Josephserzählung, die Bücher Jona, Ruth und Ester sowie das Hiobbuch sind in diesem Sinne zur weisheitlichen Literatur zu rechnen. Der beispielhafte Charakter der Hauptfiguren und des geschilderten Geschehens weist Beziehungen zur den generalisierenden
weisheitliche Erzählungen
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und typisierenden Menschenschilderungen der Weisheitsliteratur auf: Joseph lässt sich geradezu als Paradigma der weisheitlichen Tugenden Weitblick, Geduld und Tüchtigkeit verstehen, im Buch Ruth wird familiäre Solidarität exemplifiziert, im Buch Ester Klugheit, in der Rahmenerzählung des Hiobbuches Gottesfurcht. Allerdings liegen in den Erzählungen von Ruth, Joseph, Jona, Ester und Hiob (einschließlich der Dialogdichtung Hi 3−42,6) komplexe narrative Texte vor, die sich nicht auf eine einzige Tendenz und Absicht reduzieren lassen. Die lehrhafte Absicht dieser Texte liegt eher auf dem Niveau, das auch die pädagogische Funktion der Weisheitssprüche charakterisiert: Sie tritt nur indirekt zutage für das Publikum, das sich davon ansprechen lässt und die Impulse der Erzählung umsetzen will. Man sollte daher eher von Beispielerzählungen sprechen. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie noch einmal das Buch Ruth! Was kann man im Sinne der Weisheit daraus lernen?
Theologie der Weisheit
Hinsichtlich der theologischen Aussagen unterscheidet sich die alttestamentliche Weisheitsliteratur deutlich vom übrigen Alten Testament. Es fehlt nahezu durchgängig der Rekurs auf spezifisch religiöse Themen wie heilsgeschichtliche Ereignisse, Bund, Erwählung, Tora usw. (eine Ausnahme bildet Sir 44−50). Selbst Gott wird nur sehr selten erwähnt. Tatsächlich weist die alttestamentliche Weisheit eine eigene Theologie auf, die mit den anderen theologischen Schulen des Alten Testaments häufig nur lose verbunden ist. Der Schlüssel zum theologischen Verständnis der frühen Weisheit dürfte in der Verwendung des Begriffs s≥ædæq/s≥addīq/s≥edāqāh (Gerechtigkeit/gerecht) zu suchen sein, der besonders gehäuft in Prov 10−15 begegnet. Gerechtigkeit ist die Summe weisen Handelns und Verhaltens, gelegentlich können Gerechtigkeit und Weisheit der Sache nach austauschbar erscheinen, vgl. Prov 10,14 Weise halten mit ihrem Wissen zurück, aber der Toren Mund führt schnell zum Verderben.
mit Prov 10,20 Des Gerechten Zunge ist kostbares Silber, aber der Gottlosen Verstand ist wie nichts.
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Tatsächlich ist Gerechtigkeit nahezu der einzige Begriff, der auch außerhalb der Weisheit eine theologische Konnotation hat: Sie gehört zum Wesen Gottes, konkretisiert sich in Segen, Leben und Fülle. JHWHs Gerechtigkeit ermöglicht rechtes Handeln als Anteilgabe an seiner Gerechtigkeit. Dies gilt auch für die anthropologisch und ethisch ausgerichtete Reflexion über die Gerechtigkeit in der Weisheitsliteratur, obwohl dort der Gabecharakter der Weisheit selten zum Thema wird. Vielmehr bezeugt die Weisheit das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit vor dem Hintergrund eines Zusammenhangs von Tun und Ergehen. Im Rahmen der frühen Weisheit wird dieses Verhältnis relativ ungebrochen gesehen, obwohl einige Texte des Sprüchebuchs durchaus ein Bewusstsein der Grenzen des Erkennens und Verhaltens zeigen, vgl. Prov 16,12 Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber JHWH allein lenkt seinen Schritt. Prov 21,2 Einen jeglichen dünkt sein Weg recht, aber JHWH prüft die Herzen.
So gilt: [JHWH ist der,] „der zur Wirklichkeit des Menschen in allen ihren Bezügen gehört, und was von ihm gesagt wird, soll in eine einzelne, bestimmte Situation etwas sagen, was nur so kurz in einem Satz gesagt werden kann. Es ist kein Reden von Gott in spezifisch theologischen Zusammenhängen, sondern ein Reden von Gott mitten in der Alltagswirklichkeit des Menschen.“ (C. Westermann, Forschungsgeschichte, 47)
In der Sammlung und Redaktion des Sprüchebuchs lässt sich das Bemühen erkennen, den Bezug der Weisheit zu JHWH stärker herauszustellen, indem die Kombination eines JHWH- mit einem Weisheitsspruch häufig den Auftakt zu einer größeren Spruchsammlung bildet, vgl. Prov 10,1−3 als „Motto“ über Prov 10,1−32. Die nachexilische Weisheit sieht sich vor dem Problem, den nunmehr nicht mehr generell vorausgesetzten Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen im Rahmen von Reflexion, Mahnung und Lehre neu zu begründen (sog. „Krise der Weisheit“, vgl. dazu H.-D. Preuß, Einführung). Hier entstehen vielfältige Lösungsansätze. Die Sammlung des Sprüchebuches bindet die einzelnen Aspekte weisheitlicher Lehre stärker als vorher an JHWH selbst (Prov 10−22). Mit dieser Rückbindung verbindet sich die nun stärker erkennbare Mahnung zu rechtem Verhalten (Prov 22,17 ff.). Eine weitere Form der „Theologisierung“ der Weisheit ist die personale Verbindung von JHWH mit der Weisheit, wie sie in
nachexilische Weisheit
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Prov 1−9 zutage tritt. Das „Motto“ des gesamten Sprüchebuches „JHWH-Furcht ist der Anfang der Weisheit“ betont nun stärker als die Gerechtigkeitstheologie der frühen Weisheit das rechte, weise Handeln als Entsprechung zu JHWHs Wesen als Weisheit. Stärker als vorher tritt dabei auch JHWHs Schöpferweisheit hervor (programmatisch in Prov 3,13 ff.), so dass man für Prov 1−9 durchaus von einer weisheitlichen Schöpfungstheologie sprechen kann. Im Prozess dieser Theologie wird die Weisheit mehr und mehr personifiziert: „Sie ist sein transzendentes Geschöpf und vermittelt, ermöglicht durch ihr Wissen um die Weltordnung JHWHs ein Ethos an die Menschen, das im Ergebnis der Befolgung seiner Tora ähnelt.“ (G. Baumann, Weisheitsgestalt, 313)
In der späten Weisheit wird insgesamt das Anliegen deutlich, Bildung, Lehre und Mahnung stärker an die normativen Aussagen alttestamentlicher Theologie anzubinden. Besonders augenfällig wird dieses Bemühen im Buch Sirach. Hier werden die konkreten Ermahnungen gerahmt durch die Beispiele weisen Verhaltens, die die Schrift bereitstellt (Prolog; Lob der Väter Sir 44 ff.), und immer wieder durch Anbindung an die Weisheit der Tora akzentuiert. JHWHs Wort in der Tora und sein Handeln in der Geschichte werden so zur Norm allen rechten Lebens. Weisheit und Gesetz interpretieren sich in einer engen Bindung gegenseitig. Eine vergleichbare Theologie zeigen die Psalmen 1; 119, die den Psalter mit einer weisheitlichen Lesehilfe versehen. So wird Weisheit in ihrer späten Form vor allem zur Frömmigkeit: Leben in Weisheit ist Gotteslob (vgl. Ps 119,1−8; Prov 1,1−7; Sir 51,13 ff.) und bewährt sich in jeder Lebenssituation. In diese Richtung weisheitlichen Denkens sind auch die beispielhaften weisheitlichen Erzählungen, vor allem aber ihre redaktionellen Bearbeitungen (vgl. bes. Hi 28; 32−37), einzuordnen. Mit diesen Ansätzen hat die späte Weisheit einen Weg gefunden, auch in der Brüchigkeit des Lebens und den theologischen Anfechtungen nach der Katastrophe des Exils weiterhin Orientierung und heilvolles Leben zu ermöglichen. Eine andere Richtung spätweisheitlichen alttestamentlichen Denkens ref lektiert sowohl die Schöpfungstheologie als auch die Hingabe an JHWH kritisch. In dieser sog. „kritischen Weisheit“ in den Büchern Hiob und Kohelet wird nicht die Welt auf formulierbare Ordnungen hin geprüft, sondern die formulierten Ordnungen werden auf ihren Sinn hin befragt. Die weisheitliche
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Hiob-Dichtung lässt den frommen Hiob leiden, weil Gott und der Satan ihn prüfen wollen. Das führt vor allem die Vorstellung einer Entsprechung von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit ad absurdum, verzichtet auf die Zuordnung Gottes zu irgendeiner alttestamentlichen Heilstradition und lässt allein in der Hoffnung auf die personale Begegnung mit Gott einen Ansatz zur Lösung theologischer Probleme erkennen (Hi 42,1−6). Einen noch extremeren Weg geht Kohelet, für den Gott als Schöpfer in gleicher Weise absolut anwesend wie absolut abwesend ist, weil nichts begreif bar ist. Hinsichtlich menschlicher und auch theologischer Möglichkeiten der Lebensführung muss Kohelet daher skeptisch werden (Koh 3,11). Diese sog. „kritische Weisheit“ ist dabei jedoch nicht überzubewerten. Die beiden Texte haben innerhalb des Alten Testaments eine Ausnahmestellung. Sowohl Hiob als auch Kohelet sind durch Redaktionen (vgl. vor allem Hi 24−28; Koh 12) sowie durch intertextuelle Auseinandersetzungen (vgl. Sir 15,11−18,14 mit Koh) in den Klärungsprozess der alttestamentlichen Weisheit einbezogen worden. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Koh 3,1−15. Was schlussfolgert der Sprecher aus seiner Wahrnehmung, dass alles auf der Welt seine Zeit hat? Versuchen Sie eine zeitgemäße Neuformulierung.
Nähert sich die nachexilische Weisheitsliteratur sowohl in den nachexilischen Schriften als auch in der redaktionellen Bearbeitung vorexilischer Texte den dominanten Themen der nachexilischen Theologie des Alten Testaments − Tora, Monotheismus, Geschichte − an, so lässt sich doch andererseits auch ein Impuls beobachten, den die späte Weisheit von sich aus ins Alte Testament eingebracht hat, nämlich die Beschäftigung mit dem Tod. Schon in der frühen Weisheit wird der Tod als Mahnung zur weisen Lebensgestaltung eingesetzt, vgl. Prov 14,12; 10,2; 15,24. Dabei liegt das Hauptinteresse auf der Erhaltung und Ermöglichung gelingenden Lebens. Die Existenz des Frevlers ist bereits dem Tod verfallen; den Hochmütigen und Toren wird vor Augen gestellt, dass nichts vor dem Tod bewahren kann. Indes wird dieser gleichmachende Tod mehr und mehr zum Problem weisheitlichen Denkens. Der mahnende Impuls, das Leben angesichts des
Tod
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Todes in Weisheit und Gerechtigkeit zu führen, tritt hinter dem Wissen zurück, dass der Tod trotz allen weisen Verhaltens unausweichlich ist und zur Unterscheidung zwischen Frevlern und Frommen nicht taugt. In Hiob und Kohelet nehmen Todesreflexionen breiten Raum ein und verschärfen das Problem noch, indem sie bewusst machen, dass JHWH die Grenze zwischen Leben und Tod nicht überschreiten kann (vgl. Koh 3,14 ff.; Hi 3,13 ff.). In der Reflexion dieses Problems vor Gott gelangen vor allem die Weisheitspsalmen zu der Hoffnung, dass weises Leben von JHWH auch über den Tod hinaus anerkannt wird, vgl. bes. Ps 49,14−16; 37,28 f.; 73,23 f.; Hi 19,25−27. In der Apokalyptik wird diese Differenzierung zwischen Frommen und Frevlern weitergeführt (Dan 12) und auf diesem Wege später zum Bestandteil christlicher Auferstehungshoffnung. Die Todesthematik erweist sich somit als wichtige und fruchtbare Konstante alttestamentlicher Weisheit. Aufgaben/Arbeitsanweisungen
1. Lesen Sie Ps 90,10−12. Warum ist es weise bzw. klug (je nach Übersetzung), zu wissen, dass man sterben muss? Warum wird Gott darum gebeten, die Einsicht in die Sterblichkeit zu geben?
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Abkürzungsverzeichnis
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Abkürzungsverzeichnis
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