Altertumswiıssenschaft mit Zukunft [Reprint 2021 ed.] 9783112584781, 9783112584774


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Altertumswiıssenschaft mit Zukunft [Reprint 2021 ed.]
 9783112584781, 9783112584774

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Sitzungsberichte des Plenums und der Klassen der Akademie der Wissenschaften der DDR

Altertumswissenschaft mit Zukunft Dem Wirken Werner Hartkes gewidmet

AKADEMIE-VERLAG - BERLIN

1973

Sitzungsberichte des Plenums und der Klassen der Akademie der Wissenschaften der DDR

Jahrgang 1973 • Nr. 2

ALTERTUM SWIS S EN SCHAFT MIT ZUKUNFT Dem Wirken Werner Hartkes gewidmet

AKADEMIE-VERLAG•BERLIN 1973

Vorträge und Beiträge zum Kolloquium der Klasse „Erbe und Gegenwart" und des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR aus Anlaß des 65. Geburtstages von Akademiemitglied Werner Hartke am 29. Februar 1972

Herausgegeben im Auftrage des Präsidenten der Akademie der Wissenschaften der DDR von Vizepräsident Heinrich Scheel

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1973 by Alcademie-Vei'lag Berlin Lizenznummer: 202 • 100/313/73 Herstellung: IV/2/14 VE BiDruckerei "Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4104 Bestellnummer: 752 409 8 (2010/73/2) • ES 0885 Printed in GDR EVP 13,50

Inhalt

W E E N E R BAHNER

5

Vorbemerkung J O H A N N E S IRMSCHER

Vom Beruf des Philologen — gestern, heute und morgen

. .

KLATJS-PETER J O H N E

Zu Problemen der Historia-Augusta-Forschung

7 13

LISELOT HUCHTHAUSEN

Soldaten des 3. J a h r h u n d e r t s u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

19

HERBERT BOGE

Die Tachygraphie — eine Erfindung römischer Sklaven . . . RENATE JOHNE

Horaz-lmpressionen

52 gg

REINHARD KRUG

Mittel- und Neulatein im Republik

Schulunterricht der

Weimarer 74

HOLGER NICKEL

Isidor in Inkunabeln

90

E R N S T SCHUBERT

Eine Forderung nach Lohnerhöhung im J a h r e 1367

101

BOTHO W I E L E

Der Aspektwandel des Barbarenbegriffes bei den Piömern als Ausdruck der wachsenden Wertschätzung des patrius sermo .

106

URSULA W I N T E R

Die mittelalterlichen Bibliothekskataloge von Corbie . . . .

116

4

Inhalt

BRIGITTE MÜLLER-STOLL

Dank an den akademischen Lehrer und sozialistischen Erzieher

125

JOACHIM HERRMANN

Schlußwort

128

WERNER HARTKE

Replik

131

Autorenverzeichnis

140

Vorbemerkung

Zu Ehren des 65. Geburtstages von Akademiemitglied Werner Hartke veranstalteten die Klasse „Erbe und Gegenwart" und das Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR am 29. Februar 1972 im Plenarsaal der Akademie ein Kolloquium, das dem weitgespannten und vielfältigen wissenschaftlichen Wirken Werner Hartkes gewidmet war. Da auf diesem Kolloquium nur einige seiner Mitarbeiter, Freunde und Schüler unmittelbar zu Wort kommen konnten, wurden diesem Band, der aus Anlaß des Jubiläums erscheint, weitere Beiträge als Erstveröffentlichung hinzugefügt. Der vorliegende Band ist Ausdruck des Dankes für den Gelehrten, der nicht nur als Altertumswissenschaftler neue wissenschaftliche Erkenntnisse vermittelt, sondern auch viele Jahre als Präsident und Vizepräsident unserer Akademie deren wissenschaftliches Leben verständnisvoll gefördert hat. Werner Bahner

J O H A N N E S IBMSCHER

Vom Beruf des Philologen — gestern, heute und morgen

Wir sind zusammengekommen, um einen Gelehrten zu ehren, den seine Diplome und sein Lehrstuhl als klassischen Philologen ausweisen, dessen Forschungsarbeit indes erheblich die Grenzen durchbrach, mit welchen landläufige Definitionen den Raum der Philologie abstecken, und der vollends als Leiter und Organisator wissenschaftlicher Tätigkeit weit über das Fach hinaus wirkte, von dem er seinen Ausgang nahm. Ein solches Phänomen wirft als naheliegend clie Frage auf, ob eine Aktivität solchen Ausmaßes lediglich in der individuellen Anlage der Persönlichkeit ihre Begründung findet und somit spezialwissenschaftliche und wissenschaftsleitende Tätigkeit als nahezu autonome Bereiche nebeneinander stünden oder ob nicht vielmehr das in Rede stehende Fach bestimmte Prädispositionen auf ein seine Grenzen überschreitendes Wirken in sich birgt, welche durch die Persönlichkeit bewußt genutzt und entfaltet wurden. Ein Blick darauf, wie Philologen in der Vergangenheit den Gegenstand ihrer Wissenschaft und die Aufgaben ihres Berufes bestimmten, mag uns helfen, zur Klärung beizutragen. Erschwert wird freilich diese Klärung durch ein befremdliches Faktum: Es gibt ein recht umfangreiches Schrifttum zur Geschichte der Philologie, dagegen haben es die Philologen augenscheinlich versäumt, über Benennung und Entwicklung ihres Berufes zu reflektieren; nur soweit es dessen Anfänge und die Gegebenheiten des klassischen Altertums angeht, steht eine ausreichende Bibliographie zu Gebote. Unsere nachfolgenden Überlegungen sollen daher zugleich auf ein Desiderat der Forschung aufmerksam machen und für dessen Behandlung erste Anregungen vermitteln. Vorauszuschicken ist, was in unserem Zusammenhang unter Philologie verstanden werden soll, nämlich nicht — wie üblich — die Erforschung beliebiger Kulturen auf der Grundlage von Sprachzeugnissen, sondern — in einem älteren, aber durchaus noch, z. B. im Russischen, lebendigen eingeschränkteren und doch zugleich weiteren Verständnis — die Erforschung der Kultur des griechisch-römischen Altertums und ihre Erschließung für die Kultur der Gegenwart, wobei Zeugnisse sprachlicher Überlieferung als Fontes sicher die dominierende, aber keineswegs die alleinige Rolle spielen und auch in metho-

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J O H A N N E S IRMSCHER

discher Hinsicht der philologische Aspekt durchaus nicht Anspruch auf Ausschließlichkeit erhebt. Das Geschäft und den Beruf des Philologen im eben skizzierten Sinne, wiewohl zum Teil mit anderen Vokabeln, hat bereits das griechisch-römische Altertum aus seinem Selbstverständnis heraus entwickelt, als ein Epigonenzeitalter die geistigen Leistungen einer großen Vergangenheit für vorbildlich, mustergültig, eben klassisch erachtete und Männer der Wissenschaft zu Wahrern dieser Überlieferung setzte. Der alexandrinische Philologe war indes kein bloßer Stubengelehrter, so viel auch der Beiname Chalkenteros gelten mochte, sondern Ästhetiker, Kulturpolitiker, Volkserzieher, insofern seine Tätigkeit auf die Paideia, die Bildung — der herrschenden Klasse, wie sich versteht —, gerichtet war. Daß unter den Bedingungen eines despotischen Absolutismus, wie ihn das hellenistische Staatensystem verkörperte, sich auch Tendenzen zu zweckfreier Erudition und apolitischer Zurückgezogenheit sichtbar machten, darf schon deshalb nicht unerwähnt bleiben, weil eben auch diese Entwicklung das Bild des Philologen geprägt hat. Byzanz hat die im Hellenismus herausgebildeten und von Rom weithin rezipierten Vorstellungen aufgenommen und einer neuen Gesellschaft dienstbar gemacht; das Erbe der Antike wurde zum Fundament der Weltanschauung, der politischen Ideologie, der ästhetischen Auffassungen, der Fachwissenschaften. Das Amt des Philologen, das jenes Erbe vermittelte, gewann dadurch bedeutsames Gewicht. Sicher gab es auch die Zerrbilder des kritiklosen Vielschreibers Tzetzes und des deklassierten Literaten Ptochoprodromos, doch was bedeuten sie gegenüber dem Humanisten, Staatsmann und Hierarchen Photios, mit dessen Wirken sich eine Neugeburt der Antike verband, gegenüber dem Wissenschaftsorganisator auf dem Kaiserthron, Konstantin V I I . Prophyrogennetos, der den praktischen Kenntnis- und Erfahrungsschatz des Altertums für die eigene Zeit mobilisierte, gegenüber den nikänischcn Philologen, die durch ihre gelehrten Leistungen den byzantinischen Legitimitätsanspruch wider abendländische Anmaßung unterstrichen! Und jene „Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit", welche durch die Renaissance „die moderne Herrschaft der Bourgeoisie begründeten" (F. Engels), stützten sich sämtlich auf die progressiven Errungenschaften der Alten! Wie viele unter ihnen aber waren im vollen Sinne Philologen: der Pia toniker Gemistos Plethon, der eine Wiedergeburt des Hellenentums zum K a m p f e gegen die Osmanen anstrebte; Laurentius Valla, Universitätslehrer und politischer Berater, der die Urkunde der sogenannten Konstantinischen Schenkung als Falsifikat erwies und damit päpstliche Ansprüche entwaffnete; das Haupt der Humanisten, Erasmus von Rotterdam, dessen Edition des Neuen Testamentes die Voraussetzungen der Bibelkritik

V o m Beruf des Philologen

9

legte und dessen satirisches Talent die Schwächen des Feudalismus und der römischen Kirche entlarvte; endlich der Mitstreiter Luthers, Philipp Melanchthon, dem mit Grund der Ehrentitel „Praeceptor Germaniae" zuteil wurde! Sie alle lebten in den Gestalten und Gedanken des klassischen Altertums, doch nicht, um sich in eine ferne Vergangenheit einzuspinnen, sondern weil sie in dieser Vergangenheit Zielstellung und Wegleitung fanden, um die Gegenwart vorwärts weisend zu verändern. Die vertiefte Beschäftigung mit der Antike erweiterte mit Notwendigkeit das Spektrum der Fragen, welche die Philologen an ihren Gegenstand richteten bereitete die Entwicklung der Philologie zur Altertumswissenschaft vor, ohne daß darum ihre humanistische, auf die Bildung des Individuums und der Gesellschaft gerichtete Funktion preisgeben worden wäre. Kein Zufall, daß die als Symbol der bürgerlichen Revolution der Niederlande gegründete Universität Leiden dem großen französischen Philologen J o s e p h Scaliger Asyl und Schaffensmöglichkeit g a b ; kein Zufall auch, daß die Dissertation über die Phalarisbriefe, die Richard Bentley, der Zeitgenosse der Glorious Revolution, vorlegte, mit Lessings polemischen Schriften in eine Reihe gestellt werden konnte! Der deutsche Neuhumanismus hat expressis verbis an diese Linie angeknüpft und brachte Philologen hervor wie den universalen Göttinger Christian Gottlob Heyne, der dem Jakobiner Georg Forster auch dann noch väterlicher Freund blieb, als alle anderen ihn verließen, oder Friedrich August Wolf, der dank seiner Freundschaft mit Goethe das Antikebild der deutschen Klassik prägen half, oder endlich Wilhelm von Humboldt, den Gelehrten, Staatsmann und Organisator der Forschung wie des Bildungswesens. Sie alle trugen dazu bei, jene Komplexwissenschaft vom griechischrömischen Altertum zu entwickeln, die das Leben der Antike in allen seinen Äußerungen, seinen historischen Fundamenten wie in den Verzweigungen des ideologischen Uberbaus zu erfassen bestrebt ist, deren wesentliche Inhalte aber zugleich in den Dienst der Menschenbildung, der Erziehung zur Humanität treten, weil in ihnen das Wahre, Gute und Schöne gefunden und die vollkommene Persönlichkeit erkannt werden, deren K r ä f t e sich zu allseitiger Harmonie entfalten. Nicht anders als die Humanisten in der Epoche der Renaissance wollten die Neuhumanisten am Beginn der bürgerlichen Revolution in Deutschland mit den Mitteln und Möglichkeiten ihrer Wissenschaft Erzieher des Volkes und dadurch Mitgestalter seiner Zukunft sein. Als jedoch die Bourgeoisie ihre fortschrittliche Rolle erfüllt hatte und mit der Verschärfung der kapitalistischen Widersprüche im Verlaufe des 19. J h . reaktionär geworden war, änderten sich auch Gestalt und Funktion des Philologen. Zwar traten nicht wenige Vertreter der klassischen Altertumswissenschaft, ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung eingedenk, bewußt auf

10

JOHANNES IBMSCHBE

die Seite des Fortschritts — genannt seien beispielhaft Wilhelm Wolff, der treue Freund und Mitkämpfer von Marx und Engels, Friedrich Wilhelm Rüstow, Herausgeber und Interpret antiker Kriegsschriftsteller, sowie der auf byzantinischem und neogräzistischem Felde tätige Bibliothekar Adolf Ellissen und nicht zuletzt Theodor Mommsen, der auch im Wilhelminischen Zeitalter an den liberalen Idealen seiner Jugend festhielt—, im ganzen aber war ein wachsendes Auseinanderklaffen zwischen Ideal und Wirklichkeit unverkennbar. Die Forscher isolierten sich weithin von den Anforderungen des praktischen Lebens, folgten zuvörderst der jeder Disziplin zweifelsohne innewohnenden Eigengesetzlichkeit und entwickelten, um ihr Verhalten zu rechtfertigen, die Fiktion einer zweckfreien Wissenschaft, während andere im Reiche eines ästhetischen Scheins, das seinen Glanz aus dem Griechentum zu empfangen schien, ihre Zuflucht suchten, der Einwirkung auf Mit- und Nachwelt von vornherein resigniert entsagend. Die Philologen der Gymnasien aber degradierte die kapitalistische Wirklichkeit zu ausgebeuteten und willfährigen Werkzeugen und stempelte sie überdies oft genug noch zu Spottfiguren. Es wäre töricht, leugnen zu wollen, daß ungeachtet dieser Zwiespältigkeit die Altertumsforschung der letzten hundert Jahre ganz erhebliche Fortschritte machte, und zwar gerade dank den Voraussetzungen, welche der in sein imperialistisches Stadium getretene Kapitalismus legte: die Entwicklung des Verkehrs erleichterte Studien- und Kongreßreisen; die Entwicklung der Technik stellte Schreib- und andere Büromaschinen sowie die Photographie in den Dienst der Philologie und gab wesentliche neue Möglichkeiten für die archäologische Feldarbeit an die Hand; die Erschließung der vordem unerschlossenen Teile der Erde führte zusätzliche Kader zu, ließ neue Arbeitsstätten entstehen. Ebensowenig ist indes die Krise zu bestreiten, in welche Philologie und Philologen durch jene ökonomischen und politischen Veränderungen gerieten: sie verfeinerten ihre Methoden bis zum Äußersten, im Zeichen des Historismus weiteten sie ihr Arbeitsfeld ins Unermeßliche, Ziel, Sinn und Zweck all dieses Aufwandes jedoch wurden zweifelhaft, und das um so mehr, als die allgemeinbildende Schule die alten Sprachen, ja weithin sogar das antike Erbe überhaupt als überflüssigen Ballast zur Seite zu schieben begann. Gerade auch in der Bundesrepublik Deutschland, wo man lange genug die Problematik überdecken zu können meinte, sind in den letzten Jahren alarmierende Stimmen laut geworden. Damit aber haben wir mit unserem Thema die unmittelbare Gegenwart erreicht. Es geht nicht an — soviel dürfte deutlich geworden sein —, unkritisch an Überkommenes anzuknüpfen nur darum, weil es eben überkommen ist, und es reicht auch nicht aus, dieses Überkommene durch einige Schönheitskorrekturen auf ein scheinbar höheres Niveau heben zu wollen, vielmehr

Vom Beruf des Philologen

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fordert die Problematik eine prinzipielle, radikale Lösung: Was ist die Aufgabe des Philologen (in dem Sinne, wie wir ihn eingangs definierten) in unserer sozialistischen Gegenwart und Zukunft? Der Rückblick auf die progressiven Perioden der Vergangenheit, den wir vornahmen, wird es uns erleichtern, eine Antwort zu finden. Dabei wird diese Antwort zweifacher Natur sein, wird von den Inhalten zu reden haben, welche der Philologe behandelt, sowie von den Methoden, deren er sich hierbei bedient. Was zunächst die Inhalte angeht, so macht die Antike in ihren vorwärtsweisenden Leistungen unbestritten einen unverlierbaren Bestandteil der humanistischen Weltkultur aus, welchen die sozialistischen Nationalkulturen in schöpferischer Aneignung rezipieren. Diese sozialistische Antikerezeption stellt dem Philologen vielfältige reizvolle Aufgaben, gilt es doch, jene Werte einer weit zurückliegenden Vergangenheit in ihren Entstehungsbedingungen zu erfassen, sie im Verhältnis zu ihrer Entstehungszeit einzuschätzen und sie gemäß den objektiven Gesetzmäßigkeiten der fortschrittlichen Entwicklung der Gesellschaft kulturpolitisch zu nutzen. Die Lösung dieser Aufgaben erfordert Vertrautheit mit dem immensen Faktenmaterial, das die Philologen in Jahrhunderten zusammentrugen, sowie den Einsatz des gesamten Instrumentariums, das sie sich erarbeiteten; sie wird erleichtert durch den Umstand, daß jene ihr Studiengebiet schon seit langem in komplexer Weise zu behandeln lernten. Sie vermieden dadurch ein unsinniges Gegeneinander von Philologie und Historie, vielmehr erachteten sie die Geschichte Griechenlands und Roms als ihr mit den Althistorikern gemeinsames Terrain, wie sie sich gleichzeitig bewußt werden, daß die in unseren Tagen sich vollziehende Erweiterung der sogenannten Alten Geschichte zur Geschichte der vorfeudalen Gesellschaftsformationen schlechthin die Stellung der griechisch-römischen Geschichte entscheidend verändert; in diesem Prozeß dürften jedoch die Aufgaben des Philologen eher noch wachsen, jedenfalls nicht eingeschränkt werden. In noch stärkerem Maße gilt eine solche Prognose für das zentrale Anliegen des Philologen, die Vermittlung antiker Kultur, Kunst, Literatur, Philosophie usf. Hier ist er durch die sozialistische Kulturrevolution mit seiner ganzen Persönlichkeit, mit allen seinen Kenntnissen und Fähigkeiten, aber auch mit seiner Phantasie und Findigkeit gefordert, daran mitzuwirken, daß die gedanklichen Errungenschaften des antiken Humanismus optimal für die Herausbildung und Weiterentwicklung des sozialistischen Humanismus nutzbar werden. Der Philologe der bürgerlichen Epoche wirkte außer als Gelehrter vor allem in der Schule bzw., konkretur gesprochen, der Eliteschule der Bourgeoisie; der Philologe unserer sozialistischen Epoche hat dank der dieser innewohnenden Gesetzmäßgkeit, den Zugang zu Kultur und Bildung allen Werktätigen zu erschließen, sehr viel weitergehende Aufgaben, für deren

12

JOHANNES IBMSCHER

Lösung freilich weithin die Voraussetzungen erst noch gelegt, die zweckvollen F o r m e n erst noch gefunden werden müssen. Aber auch von den spezifischen Methoden des Philologen m u ß noch gesprochen werden. Die l a n g a n d a u e r n d e Beschäftigung mit einem historischen Gegenstande, der einigermaßen klar u m g r e n z t sowie nach Zeit u n d R a u m überschaubar ist u n d dessen verfügbarer Quellenbestand sich als durchaus beachtlich darstellt, h a t Arbeitsweisen von höchster Subtilität ausgebildet, welche auf die Nachbardisziplinen einwirkten, zugleich aber durch sich selbst bei den besten ihrer Adepten Qualitäten entwickelt, die auch bei anderer geistiger Tätigkeit sich als förderlich erwiesen: unbedingte R a t i o n a l i t ä t , Ablehnung blinder Emotion, Drang zur Systematisierung, Fähigkeit zur Abstraktion, Differenzierungsvermögen, Verlangen nach kritischer Auseinandersetzung, Liebe zur Sprache, zur eigenen wie zur fremden, u n d andere mehr. Nicht zuletzt um der Herausbildung solcher Qualitäten willen ließ die Bourgeoisie in ihren Bildungsstätten die alten Sprachen lehren, u n d ganz gewiß nicht n u r mit Mißerfolg! Es steht durchaus zu fragen, ob nicht auch f ü r das sozialistische Bildungswesen aus solchen E r f a h r u n g e n Anregungen zu gewinnen sind, wobei noch ein weiteres Moment h i n z u t r i t t : Dank der vorhin dargelegten U m s t ä n d e bietet sich das antike Gesellschaftssystem in seiner Genese, seinen Varianten, seinen Entwicklungen u n d schließlich seinem Untergang modellhaft dar. Ob nicht, g e f ü h r t durch den kundigen Philologen, Staatswissenschaftler, Kulturwissenschaftler, Soziologen, Ökonomen an einem solchen Modell mancherlei Einsichten f ü r ihre auf Gegenwart u n d Z u k u n f t gerichteten Forschungen gewinnen könnten? Die Frage stellen heißt sie beantworten. Wir fassen z u s a m m e n : Nicht mehr wie im Zeitalter der Renaissance ist die Philologie die Königin u n t e r den Wissenschaften, aber noch h a t sie auch in der Epoche des Sozialismus Gewichtiges zur F o r m u n g des Menschenbildes, zur Ausprägung des Geschichtsbewußtseins, zur Vermittlung von K u n s t e r l e b nissen beizutragen. Von den Philologen selbst h ä n g t es ab; daß sie erkennen was in einer sich verändernden Welt ihres Berufes ist, daß sie lernend sich in dieser Welt orientieren u n d durch Lehren handelnd sie mitgestalten helfen. F ü r die ausgehende bürgerliche Epoche k o n n t e Ulrich von WilamowitzMoellendorff, einer der damals bedeutendsten R e p r ä s e n t a n t e n seines Faches, den Philologen bezeichnen als Vir bonus, discendi peritus; uns Heutigen jedoch ist diese Charakteristik zu wenig, u n d wenn wir sie aufgreifen, müssen wir sie ergänzen: Philologus vir bonus, discendi atque agendi peritus („Ein Philologe ist ein rechtschaffener Mann, der zu lernen u n d zu handeln weiß").

KLAUS-PETER JOHNE

Zu Problemen der Historia-Augusta-Forschung

Eines der interessantesten und problemreichsten Werke der römischen Literatur ist die sogenannte Historia Augusta, eine Biographiensammlung, die die Lebensbeschreibungen der römischen Kaiser, Thronanwärter und Usurpatoren des 2. und 3. Jahrhunderts u. Z. enthält. Die Regierung des Kaisers Hadrian, die in die J a h r e 117—138 fällt und mit der die Historia Augusta ihren Anfang nimmt, hat für die Geschichte des Römischen Reiches ebenso wie für die Literaturgeschichte und insbesondere auch für die Historiographie einen nicht zu übersehenden Einschnitt bedeutet. Mit den „Annalen" des Tacitus hört die historische Gesamtdarstellung für etwa zweieinhalb Jahrhunderte auf und wird erst in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts wieder aufgenommen. In dem dazwischen liegenden Zeitraum ist es die literarische Gattung der Kaiserbiographie, die die annalistische Geschichtsschreibung ablöst. Der Begründer dieser Richtung ist Sueton, und in seiner Nachfolge stehen Marius Maximus und eben auch die Historia Augusta. In den Biographien stehen zwar Leben und Taten der Kaiser im Mittelpunkt, doch bewirkte das Fehlen einer sonstigen historiographischen Form, daß der jeweilige Verfasser mehr oder weniger Interessantes und Wissenswertes aus der behandelten Zeit m i t in die Lebensbeschreibungen aufnahm. So ist auch die Historia Augusta mindestens ebenso eine Geschichte des Römischen Reiches dieser Epoche wie der das Imperium regierenden Kaiser geworden. Die Darstellung der innen- und außenpolitischen Ereignisse, die Beleuchtung wirtschafts- und sozialpolitischer Verhältnisse und Einzelheiten über Regierung, R e c h t , Verwaltung und Bautätigkeit machen den historischen W e r t der Viten aus. Daher muß jeder, der sich mit Fragen des 2. und 3. J a h r hunderts u. Z. beschäftigt, auf die „Kaisergeschichte" als die für diese Zeit wichtigste und unentbehrliche Quelle zurückgreifen. Ist es doch immerhin eine entscheidende Epoche in der Übergangszeit von der antiken Gesellschaftsformation zu der des Feudalismus, die hier ihre literarische Behandlung gefunden hat. Diejenigen Teile der Biographien, die für die Forschung des behandelten Zeitraumes nichts ausgeben, wie erfundene Dokumente zur Füllung der Lebensbeschreibungen, rhetorische Ausführungen und anti-

14

K L A U S - P E T E R JOHNE

quarische Reminiszenzen, sind literarhistorisch deshalb von Interesse, da sie Aufschlüsse über die Gedankenwelt des Verfassers und ganz allgemein über die Entstehungszeit geben. Die Frage nach Autor und Abfassungszeit der Historia Augusta gehört nun aber zu den umstrittensten Problemen in der spätantiken Literatur. Worum geht es? Seit über 80 Jahren besteht die Auffassung, daß die eigenen Angaben der „Kaisergeschichte" über ihre Abfassung und ihre Verfasser falsch sind. Das Werk selbst gibt sich als eine Sammlung aus, in der die Arbeiten von sechs Autoren Aufnahme gefunden haben. Die sonst völlig unbekannten Biographen wollen die Viten unter den Kaisern Diokletian und Konstantin am Ende des 3. und in den ersten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts, etwa von 293 bis 330, geschrieben haben. Seit dem für die Historia-AugustaForschung bahnbrechenden Aufsatz von Hermann Dessau „Uber Zeit und Persönlichkeit der Scriptores historiae Augustae" in der Zeitschrift „Hermes" des Jahres 1889 ist jedoch der Glaube an die Echtheit der Zeignisse, die die Scriptores über sich selbst geben, schwer erschüttert worden 1 . Dessau hat die These aufgestellt, die Sammlung sei das Werk eines einzigen Autors und nicht nur die Namen der Verfasser, sondern auch die angegebene Entstehungszeit sei gefälscht, sie sei in Wahrheit unter der Regierung Theodosius' I. am Ende des 4. Jahrhunderts zu suchen. An seinem Vorschlag hat sich eine bis jetzt anhaltende Diskussion über die Datierung und die Verfasserfrage entzündet 2 . Die Skala der Meinungen über die Entstehungszeit reicht heute von der ursprünglichen Ansicht, daß die diokletianisch-konstantinische Zeit als die richtige anzunehmen sei, bis zur Annahme einer Fälschung in der ersten Hälfte des 5. oder gar erst im 6. Jahrhundert 3 . Es lassen sich im wesentlichen drei Datierungsrichtungen unterscheiden. Die Abfassung in der diokletianischkonstantinischen Epoche wurde als Reaktion auf die umstürzenden Behauptungen Dessaus früher häufig verteidigt''1. Heute erscheint dieser Stand1 Hermes 24 (1889), 337-392. Den neusten Forschungsbcricht bietet A. Chastagnol, Recherclies sur l'Histoire Auguste, Bonn 1970, Antiquitas, Reihe 4, Band 6, 1—37. 3 Vgl. die gegensätzlichen Auffassungen von E. M. Schtajerman, Vestnik Drevnei Istorii 1/59 (1957), 233—245; Die Krise der Sklaveuhalterordnung im Westeu des Römischen Reiches, übers, u. hrsg. von W. Seyfarth, Berlin 1964, 19—21 und A. Momigliano, Studies in Ilistoriography, London 1966, 143—180 einerseits und andererseits J. Straub, Heidnische Geschichtsapologetik in der christlichen Spätantike, Bonn 1963, Antiquitas, Reihe 4, Band 1, und H. P. Kohns, Bonner HistoriaAugusta-Colloquium 1964/65 (1966), Antiquitas, Reihe 4, Band 3, 99-126. 4 Vgl. H. Peter, Die Scriptores historiae Augustae. Sechs literargeschichtliche Untersuchungen, Leipzig 1892; Ch. Lecrivain, Etudes sur l'Histoire Auguste, Paris 1904.

2

Zu Problemen der Historia-Augusta-Forschung

15

punkt allerdings kaum noch haltbar und wird fast nicht mehr vertreten. Einen Kompromißvorschlag unterbreitete seinerzeit Theodor Mommsen. Danach handele es sich bei den Biographien um ein zweimal überarbeitetes Werk. So glaubte der bedeutende Althistoriker sowohl der eigenen Darstellung der Kaiserviten als auch den Feststellungen Dessaus genügen zu können 5 . Aber auch für eine doppelte Redaktion gibt es keine Anhaltspunkte. Die Forschungen des letzten halben Jahrhunderts haben vielmehr deutlich werden lassen, daß die Historia Augusta erst nach dem Tode Konstantins I. im Jahre 337 entstanden sein kann und daher hinsichtlich ihrer gesamten Entstehung als Fälschung angesehen werden muß. Wann sie nun allerdings geschrieben wurde, darüber sind sich auch die Anhänger einer nachkonstantinischen Entstehungszeit nicht einig. Der Engländer Norman Hepburn Baynes deutete 1926 die Lebensbeschreibungen als Propagandaschrift zugunsten des heidnisch-neuplatonischen Kaisers Julian und sah sie als in dessen kurzer Regierungszeit 361—363 verfaßt an 6 . Viele Argumente sprechen jedoch dafür, daß der einst von Dessau verfochtene Ansatz im wesentlichen das Richtige getroffen hat und es sich hier um ein literarisches Produkt aus der Zeit um 390 bis 400 handelt 7 . In den letzten Jahren hat die ebenfalls Ende des vergangenen Jahrhunderts entwickelte Auffassung, daß die Entstehung im ersten Viertel des 5. Jahrhunderts zu suchen sei, wieder an Bedeutung gewonnen 8 . Die Grundlage für die Spätdatierung ist der von Dessau geführte Nachweis, daß in dem Werk nachkonstantinisches Schrifttum verarbeitet worden ist. In der Lebensbeschreibung des Kaisers Septimius Severus hängt die Darstellung ganz offenkundig von dem „Liber de Caesaribus" des Sex. Aurelius Victor ab, den dieser im Jahre 360 schrieb. Dieses J a h r ist heute sehr weitgehend als der terminus post quem anerkannt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist auch das 369/370 fertiggestellte Breviarium des Eutrop in den Kaiserbiographien benutzt worden. Unsicherer sind dagegen die Spuren anderer literarischer Werke geblieben, obwohl man sich sehr bemüht hat, Abhängigkeit von Rufius Festus und von Ammianus Marcellinus, von Briefen des Hieronymus, von den Scholien zu Juvenal und von Werken Claudians nachzuweisen. In die gleiche Richtung gehen Versuche, Gesetze des Codex Theodosianus als Vorbilder für bestimmte Anordnungen in der Sammlung zu erweisen und damit die Abfassungszeit näher zu bestimmen. Allein mit der Erkenntnis, daß die Historia 5 Hermes 25 (1890), 228-292 ( = Gesammelte Schriften, Band 7, Berlin 1909, 302 bis 362). 6 The Historia Augusta. Iis date and purpose, Oxford 1926. 7 Vgl. Chastagnol a. O. 4 f. 8 O. Sceck, Jahrbücher für classische Philologie 36 (1890), 609-639; Straub a. O.

16

Klatjs-Peter Johne

Augusta später als die Schriften des Aurelius Victor und Eutrop verfaßt wurde, ist schon eine Datierung nicht früher als in die letzten Jahrzehnte des 4. Jahrhunderts möglich. Die Suche nach einer literarischen Abhängigkeit, die f ü r die Datierung von Bedeutung ist, ist in der Forschung heute weit verbreitet, jedoch keineswegs die einzige Art von Anachronismus in dem Werk. Solche fanden sich bei Durchleuchtungen der „Kaisergeschichte" auf verschiedenen Gebieten, und die Methoden, mit denen man sie untersucht hat, sind recht mannigfaltig. Wort- und Stiluntersuchungen stehen neben prosopographischen, numismatischen, rechts-, verwaltungs- und religionsgeschichtlichen. Die gemeinsame Arbeit von Althistorikern und Philologen an diesem Problem h a t die Historia-Augusta-Forschung zu einer kleinen Spezialdisziplin werden lassen. Bei den Untersuchungen über Zeit und Verfasser der Schrift ist eine wahrhaft ungeheure Fülle von Erkenntnissen über die römische Kaiserzeit auf fast allen Gebieten gewonnen worden und zwar nicht nur über das behandelte 2. und 3. Jahrhundert, sondern auch hinsichtlich des 4. und 5. Mit vollem Recht sind diese Bemühungen eine „Standarddiskussion der althistorischen Forschung" genannt worden 9 . An der internationalen Diskussion haben Gelehrte der Berliner Akademie einen bedeutenden Anteil gehabt. Neben Hermann Dessau und Theodor Mommsen sind hier besonders E r n s t Hohl — und Werner H a r t k e zu nennen. Der verehrte Jubilar des heutigen Tages h a t mit seinem wissenschaftlichen Werk einen grundsätzlichen Beitrag zur Interpretation der „Kaisergeschichte" geleistet. Seine Forschungen haben bis heute Maßstäbe gesetzt. In ihrem Mittelpunkt stand immer die Frage nach Abfassungszeit, Autor und Tendenz des spätrömischen Geschichtswerkes. Die 1932 erschienene Dissertation „De saeculi quarti exeuntis historiarum scriptoribus quaestiones" wurde in einer Zeit geschrieben, als nach dem Hervortreten von Baynes der Streit um julianische oder theodosianische Datierung alle anderen Gegensätze in der HistoriaAugusta-Kontroverse in den Hintergrund hatte treten lassen. Die lateinisch geschriebene Arbeit machte u. a. die Verwendung des Geschichtsabrisses des Rufius Festus von 371 in dem Biographienwerk wahrscheinlich. Das Buch „Geschichte und Politik im spätantiken R o m " ließ seinen Verfasser zum bedeutendsten Vertreter der von Dessau begründeten Datierungsrichtung in der neueren Forschung werden 10 . Nur zwei Aspekte daraus seien hervorgehoben. In minutiöser Kleinarbeit wurde der Versuch unternommen, eine ganz präzise Datierung zu gewinnen. Danach wären die Kaiserbiographien 9 10

A. Heuß, Römische Geschichte, Braunschweig 1960, 567. Geschichte und Politik im spätantikeii Rom. Untersuchungen über die Scriptores Historiae Augustae, Klio, Beiheft 45, Neue Folge 32, Leipzig 1940.

Zu Problemen der Historia-Augusta-Forschung aus aktuell-politischem

Anlaß

17

u n m i t t e l b a r nach

dem

Sturz

des

heiden-

freundlichen Kaisers Eugenius durch seinen christlichen Gegner Theodosius E n d e 3 9 4 und Anfang 395 v e r f a ß t worden. Auf den letzten Seiten dieser Habilitationsschrift versuchte der Autor, den Verfasser der Historia Augusta namentlich zu bestimmen, ein S c h r i t t , der in der Forschung bis zu diesem Zeitpunkt

als

Aspekte, das

singulär Bemühen

bezeichnet

werden

muß.

Die beiden

genannten

um eine genauere Datierung und um Person und

gesellschaftliche Stellung des Verfassers, haben die weitere Forschung nachhaltig beeinflußt. Aus der historischen I n t e r p r e t a t i o n eines Satzes der Historia

Augusta

„Mögen die G ö t t e r uns schützen vor Kinderkaisern" k a m der Anstoß zu der umfangreichsten Monographie, die bisher über dieses Problem geschrieben wurde und die unter dem Titel „ R ö m i s c h e Kinderkaiser. E i n e

Struktur-

analyse römischen Denkens und Daseins" 1951 im Akademie-Verlag in Berlin erschien. E s war der großartige Versuch, das Biographienwerk in den R a h m e n seiner Zeit zu stellen und aus der spätantiken Anschauungsweise heraus zu begreifen. E i n e der wesentlichen Erkenntnisse, die H a r t k e vermitteln konnte, war die, daß die Historia Augusta zur G a t t u n g

derjenigen

historischen

Biographie gehört, in die die Aretalogie, die Wundererzählung, eingedrungen ist. Zugunsten einer Datierung in die von ihm vertretene Zeit k o n n t e der A u t o r viele längst b e k a n n t e Argumente untermauern, wobei seine

Text-

interpretationen von Plautus bis Cassiodor reichten, andere neu beibringen, wie z. B . die Ablehnung von Kinderkaisern. Die Abfassungszeit um die J a h r e s wende 3 9 4 / 3 9 5 wurde verteidigt und die E n t s t e h u n g des Werkes in weitausgreifenden Untersuchungen aus dem Kreise des stadtrömischen Adels, aus dem

Kreis

der

Symmachi

und Nicomachi,

erklärt.

Hervorgehoben

zu

werden verdient, daß in dieser monumentalen Monographie erstmals auch Äußerungen der Historia Augusta über wirtschaftliche Probleme in größerem R a h m e n ausgewertet wurden. 2 0 J a h r e sind seit dem Erscheinen der „ K i n d e r k a i s e r " vergangen. E s ist zu einem H a n d b u c h der Historia-Augusta-Forschung geworden, wie die Register aller einschlägigen W e r k e beweisen. Der von H a r t k e ermittelte terminus post quem 3 9 4 für die Abfassungszeit h a t weiterhin volle Anerkennung in der Forschung gefunden, weniger die allzu genaue Datierung auf wenige Monate, auf die, nach den W o r t e n eines R e z e n senten, der Verfasser „ m i t geradezu unheimlicher Präzision alle wichtigen Bezüge konzentrierte" 1 1 . S o sprachen sich in den letzten J a h r e n R o n a l d S y m e für die J a h r e 395—396, André Chastagnol für 397—398 und Wolfgang S c h m i d " Straub, Gnomon 24 (1952), 29. 2

Altertumswissenschaft

18

Klatjs-Pbter Johne

für 397—399 aus 12 . DieEntstehung der Kaiserbiographien in den Jahren um 400 scheint sich damit heute gegenüber allen anderen Anschauungen durchzusetzen. Auch hinsichtlich der Verfasserschaft haben die Hartkeschen Forschungen eine bedeutende Nachwirkung gehabt, die z. B. in Arbeiten von Henri Stern, Emilienne Demougeot, Jacques Schwartz und Jean Rougé deutlich wird 13 . Eng verbunden ist damit die Fragestellung nach der Tendenz und den gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen. Alle bisherigen Versuche, die Lebensbeschreibungen als Apologie oder Propaganda für einen ganz bestimmten Zweck zu deuten, haben nicht befriedigt. Eine Absicht — und vielleicht die wichtigste — war es, durch eine solche unterhaltsame Darstellung der Geschichte des 2. und 3. Jahrhunderts, durch die Abfolge und Gegenüberstellung von „guten" und „schlechten" Kaisern ein bestimmtes Geschichtsbild weiter zu verbreiten. Das ist das Geschichtsbild der spätrömischen Senatsaristokratie. Von ihrem Standpunkt aus wird der Geschichtsablauf betrachtet, und das Kriterium für die Bewertung der einzelnen Kaiser ist deren Verhalten gegenüber dem Senat. Eine Reihe von Indizien gestatten eine weitere Einengung und lassen den Schluß auf eine relativ kleine Gruppe mächtiger Großgrundbesitzerfamilien als die möglichen Auftraggeber zu. Dazu gehört auch die von Hartke vorgeschlagene Familie der Symmachi-Nicomachi. Die Historia Augusta ist eine sehr wichtige, wenn auch in ihren einzelnen Teilen unterschiedlich zu bewertende Geschichtsquelle für den entscheidenden Zeitabschnitt einer Übergangsepoche. Sie ist aber auch nach einem langen Weg der Forschung als ein höchst interessantes literarisches Zeugnis für die Ideologie eines Teils der herrschenden Klasse im spätantiken Rom erkannt worden 14 . 12

13

14

R. Syme, Ammianus and the Historia Augusta, Oxford 1968, 72 f. 79. 220; Chastagnol a. 0 . 90f. 96—98; W. Schmid, Bonner Historia-Augusta-Colloquium 1964/ 65 (1966), 179f. H. Stern, Date et destinataire de l'Histoire Auguste, Paris 1953; E. Demougeot, L'Antiquité Classique 22 (1953), 379. 381; J. Schwartz, Bonner Historia-AugustaColloquium 1966/67 (1968), Antiquitas, Reihe 4, Band 4, 97. 99; J. Rougé, Revue des Etudes Anciennes 68 (1966), 314 f. Vgl. zu allen angeschnittenen Fragen K.-P. Johne, Untersuchungen zur Datierung und sozialen Herkunft der Historia Augusta, Phil. Diss. Berlin 1972.

LISELOT HUCHTHAUSEN

Soldaten des 3. Jahrhunderts u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

1.

Das

Material

D e r Codex Iustinianus (C.) ist eine S a m m l u n g kaiserlicher

constitutiones,

E r l a s s e im weitesten Sinne, genauer: eine S a m m l u n g von Zitaten aus kaiserlichen Erlassen, beginnend m i t einem R e s k r i p t Kaiser Hadrians, endend m i t umfangreichen Verfügungen K a i s e r J u s t i n i a n s selbst. R e s k r i p t e — in F o r m eines Briefes oder einer bloßen subscriptio

unter der Anfrage — sind G u t a c h t e n

zu R e c h t s p r o b l e m e n , die dem K a i s e r vom zuständigen Magistrat 1 oder — weitaus häufiger — von einer der streitenden Parteien vorgelegt worden waren. E s war auch möglich, daß eine Privatperson im Interesse einer anderen die Anfage stellte, wie aus den Reskripten C. 2, 2 2 , 1 ; 6, 46, 3 ; 12, 35, 5 hervorgeht. D e k r e t e dagegen sind förmliche Entscheidungen eines

Rechtsfalles,

auf die sich die Kaiser nur selten und ungern einließen, wenn ihnen nur eine P a r t e i die S a c h e vorgetragen h a t t e . T r a j a n z. B . lehnte es sogar kategorisch ab, an P r i v a t l e u t e G u t a c h t e n zu erteilen, um nicht durch seine A u t o r i t ä t etwa der falschen S e i t e zum Siege zu verhelfen 2 . I m Folgenden sind beide Gruppen unter der Bezeichnung ' R e s k r i p t ' zusammengefaßt, da es für uns auf die juristische Trennung nicht a n k o m m t . Die G u t a c h t e n wurden im Namen des Kaisers von den J u r i s t e n seiner Kanzlei erteilt, die Größe des eigenen Anteils der Herrscher ist k a u m zu ermitteln. P r i v a t e R e c h t s g u t a c h t e n angesehener J u r i s t e n gab es noch bis zur Zeit Severus Alexanders, später sind sie jedenfalls n i c h t m e h r nachweisbar. Auch durch die Entscheidung eines Einzelfalles, auch durch die authentische Auslegung eines Gesetzes in einem G u t a c h t e n schuf der Kaiser bzw. die von ihm dazu autorisierte Kanzlei geltendes R e c h t , falls das decretum

oder

rescriptum 'proponiert', d. h. durch Anschlag b e k a n n t g e m a c h t wurde. Sollte eine Entscheidung nicht als Präjudiz verwendet werden, so wurde ausdrücklich eine Einschränkung auf den Einzelfall ausgesprochen. J e d e m Interessenten 1

2

2*

W. Litewski, Consultatio ante Rechtsgescliichte, Romanistische Hist. Aug., Opil. Macr. 13, 1 . . . ad alias causas facta praeferrentur,

sententiam, Zeitschr. der Savignystiftung f. Abt. 86, 1969, 227—257. cum Traianus numquam libellis responderit, ne quae ad gratiam composita viderentur.

20

L i s e l o t Huchthausen

stand es frei, zum eigenen Bedarf eine Abschrift eines proponierten Reskriptes anzufertigen oder anfertigen zu lassen. Dulckeit/Schwarz3 meinen sogar, der Anfragende selbst sei auf diesen Weg angewiesen gewesen und habe das Ergebnis seiner Anfrage nur in Rom ermitteln können. Das ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil z. B. Diokletian und seine Mitregenten oft aus anderen Städten reskribieren (ich greife wahllos heraus: C. 6 , 3 1 , 4 aus Sirmium, C. 6, 37, 19 aus Nicomedia, C. 6, 42, 22 aus Byzanz) — die Praxis könnte also nur in der Prinzipatszeit bestanden haben. Zum anderen hätte dies Verfahren die Anfragemöglichkeit sehr beschränkt: wie hätte z. B. ein Soldat, der in der Provinz bei seiner Truppe stand, die er nicht verlassen durfte, je erfahren sollen, ob und was ihm geantwortet worden war? Außerdem werden zahlreiche Konsultanten direkt an den praeses provinciae verwiesen ( z . B . C. 4, 44, 1; 4, 51, 1; 9, 1, 10) — und da wäre der Umweg über Rom ziemlich groß gewesen. Ich möchte also behaupten, daß auf jeden Fall seit den Severern eine Antwort an den Anfragenden direkt erging und ein weiteres Exemplar im Archiv aufgehoben wurde, während u. U. sogar mehrere proponiert worden sein mögen, wenn das Problem interessant war. Bei der Durchsicht des Codex fällt auf, daß die an Privatpersonen gerichteten Reskripte mit dem Jahre 304 — dem Ende der Regierungszeit Diokletians — aufhören. Alle spätem kaiserlichen Erlasse sind an hohe Beamte oder ad populum, ad senatum adressiert. Wir wollen uns hier auf die Behandlung von Reskripten des 2. und 3. Jahrhunderts beschränken. Um die Identifikation eines Reskriptes zu erleichtern, wurde beim Zitieren außer dem Namen des reskribierenden Kaisers und einer genauen Datumsangabe jedesmal auch der Name des Empfängers mit überliefert. Das war notwendig, weil oft mehrere Reskripte unter dem gleichen Datum herausgingen: vom 24. 6. 224 stammen z. B . die fragmenta C. 3, 44, 6; 9, 20, 3 ; 12, 36, 2. Außerdem sind solche Angaben Schreibfehlern besonders ausgesetzt, wie eine beträchtliche Anzahl von Reskripten sine die et consule und eine Anzahl von Irrtümern beweisen: z. B . wird C. 3, 15, 2 ein Reskript, das dem Datum nach von Diokletian und seinen Mitregenten stammen muß, Severus und Caracalla zugeschrieben. Eine dreifache Sicherung war also durchaus angebracht. Darüber hinaus aber spielen die Empfänger in der juristischen Literatur praktisch keine Rolle; sie sind übrigens auch sehr selten einer Aufnahme in die Real3

G. Dulckeit/F. Schwarz, Römische Rcchtsgeschiclile, 5., neu bearbeitete Auflage, München 1970, 226: „Die Bekanntgabe an den Bittsteller erfolgte lediglich durch öffentlichen Aushang in R o m ; der Anfragende mußte sicli dann selbst eine Ab Schrift des kaiserlichen Bescheides nehmen." Weit weniger apodiktisch ist L. Wenger, Die Quellen des römischen Rechts, Wien 1955, 429—432, bes. A. 40.

Soldaten des 3. Jh. u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

21

e n z y k l o p ä d i e der klassischen A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t ( R E ) u n d n i c h t in allen F ä l l e n einer A u f n a h m e in den T h e s a u r u s L i n g u a e L a t i n a e g e w ü r d i g t w o r d e n . D e n n o c h k ö n n e n a u c h die P r i v a t p e r s o n e n u n t e r den A d r e s s a t e n u n s e r I n t e r e s s e b e a n s p r u c h e n , d e n n jedes R e s k r i p t w a r j a , ehe es geltendes R e c h t w u r d e , die B e g u t a c h t u n g eines k o n k r e t e n Falles: h i n t e r j e d e m j u r i s t i s c h e n P r o b l e m s t e h t ein lebendiger Mensch. M a n c h m a l , w e n n m i t der rechtlichen E n t s c h e i d u n g noch eine B e l e h r u n g , eine energische Z u r e c h t w e i s u n g oder ein Z u s p r u c h v e r b u n d e n ist, wird deutlich, d a ß diese T a t s a c h e d e m S c h r e i b e n d e n d u r c h a u s b e w u ß t war. In einem R e s k r i p t des S e v e r u s A l e x a n d e r aus d e m J a h r e 230 (C. 2, 18, 13) wird ein allzu g e s c h ä f t s t ü c h t i g e r E h e m a n n , der die A r z t k o s t e n f ü r seine k r a n k e F r a u v o n seinem S c h w i e g e r v a t e r einklagen m ö c h t e , zurechtgewiesen: Quod in uxorem tuam aegram erogasti, non a socero repetere, sed affectioni tuae debes expendere. Auf den U n t e r s c h i e d zwischen juristischem u n d moralischem R e c h t weisen Diokletian u n d seine M i t r e g e n t e n C. 4, 52, 4 (o. J . ) den S o l d a t e n U l p i a n h i n : Portionem quidem tuam militantis alienare frater tuus non potuit. Eius autem partem pretio soluto tibi restitui postulare nec militari gravitati convenit. D e r folgende Z u s a t z in d e m R e s k r i p t des j u n g e n Kaisers G o r d i a n I I I . a n einen e r z ü r n t e n E h e m a n n w i r k t ein wenig altklug, w e n n m a n b e d e n k t , d a ß der Kaiser, in dessen N a m e n geschrieben w u r d e , im J a h r e 242 selbst erst 17 J a h r e z ä h l t e : C. 9, 9, 15 wird einem S o l d a t e n , dessen F r a u i h m f o r t g e l a u f e n ist, m i t g e t e i l t , er k ö n n e sie im Augenblick n i c h t belangen, a b e r Sane cum per occupationes militares licuerit, accusare eam sollemniter poteris; nec enim teinpus, quo muneribus militaribus occuparis, vindictam tibi, quam dolore maritali percussus reposcis, debet auferre. Diese B e m e r k u n g e n weisen ebenfalls darauf hin, d a ß die R e s k r i p t e d e m F r a g e s t e l l e r d i r e k t zugingen. Man wird a n n e h m e n müssen, d a ß solche H i n weise n u r d a n n die E x z e r p i e r u n g ü b e r s t a n d e n h a b e n , w e n n sie m i t der R e c h t s a u s k u n f t u n t r e n n b a r verflochten waren, a b e r das besagt m . E . n i c h t , d a ß sie n u r in diesen F ä l l e n ü b e r h a u p t v o r g e k o m m e n wären. A u c h eine F o r m u l i e r u n g in d e m S i n n e : „ D u bist völlig i m R e c h t , dein Gegner soll f r o h u n d d a n k b a r sein (tibi gratulari), d a ß d u i h n n u r auf R ü c k g a b e des Geldes u n d Zinsen, u n d n i c h t wegen D i e b s t a h l v e r k l a g s t " (C. 4, 34, 3, G o r d i a n a. d. J . 239) ist so persönlich, d a ß m a n sich k a u m d e n k e n k a n n , sie sei n u r f ü r die A n s c h l a g t a f e l konzipiert w o r d e n . D e r viel b e r e d e t e kasuistische C h a r a k t e r der römischen R e c h t s w i s s e n s c h a f t h a t seine U r s a c h e n anscheinend doch n i c h t n u r in einer A b n e i g u n g gegen w e i t e r g e h e n d e A b s t r a k t i o n e n oder g a r in der U n f ä h i g k e i t dazu, s o n d e r n vielm e h r darin, d a ß in der A n t i k e , selbst in der S p ä t a n t i k e , der Mensch in g a n z a n d e r e r Weise im Z e n t r u m menschlicher B e s t r e b u n g e n u n d G e d a n k e n s t a n d

22

Liselot H u c h t h a u s e n

als in der Epoche des Kapitalismus, der die von uns benutzten juristischen Handbücher noch zum größten Teil entstammen. Erst diese Gesellschaftsordnung war und ist dadurch gekennzeichnet, daß „neben der Ausbeutung . . . die unmenschliche Versachlichung und Abstraktion allen menschlichen Tuns und Treibens sichtbar" wird 4 . Zwar war das Produktionsziel in der Sklavenhaltergesellschaft nur „der Mensch in seiner Bestimmtheit und Begrenztheit, also der Mensch in seiner Ungleichheit" 5 — aber doch der Mensch und nicht „der Tauschwert, in seiner Form als Mehrwert, als Maximalprofit" 6 . Es ist daher bedeutsam, daß im Codex Iustinianus auch der Sklave, die Sklavin, die auf dem Rechtsweg um ihre Freiheit kämpfen, vom Kaiser, bzw. in seinem Namen von der Kanzlei direkt angesprochen werden (z. B Caracalla an Valerius C. 7, 4, 2), sogar dann noch, wenn ihr Anspruch zurückgewiesen wird (Diokletian und seine Mitregenten an Laurina C. 7, 2, 11). Dabei soll nicht übersehen werden, daß ein Sklave nur dann die Möglichkeit hat, sich an den Kaiser zu wenden, wenn gewichtige Gründe bestehen, anzunehmen, er sei eben n i c h t mehr Sklave, sondern ein freier Mann. Dieses extreme Beispiel zeigt jedoch am besten, in welcher Richtung es sich lohnt, altgewohnte Vorstellungen von Charakter des römischen Rechts neu zu überdenken.

2.

Möglichkeiten

und Grenzen der

Auswertung

Mag aber für den Reskribierenden der Fragesteller nicht nur ein Fall, sondern auch eine Person gewesen sein, so hilft uns das heute nur wenig weiter. Wir werden kaum jemals über den einzelnen Adressaten Genaueres erfahren können. Erhalten ist in der überwiegenden Zahl der Fälle nur e i n Name: cognomen, nomen gentile oder seit Diokletian bereits nomen singulare, so daß trotz der erwähnten genauen zeitlichen Fixierung der meisten Reskripte nur in seltenen Fällen, wenn überhaupt jemals, die Identifizierung eines Adressaten etwa mit einer aus Inschriften bekannten Person möglich sein dürfte. Günstiger aber wird die Lage, wenn wir versuchen, bestimmte Personengruppen — um mich so vorsichtig wie möglich auszudrücken — herauszuheben und näher zu untersuchen. 4

5

6

E. Ch. Welskopf, Die Produktionsverhältnisse im Alten Orient und in der griechisch-römischen Antike, Berlin 1957, 421. Welskopf, Produktionsverhältnisse, 349, vgl. auch 249ff., wo die Verfasserin eine ausgezeichnete Interpretation von Ausschnitten aus K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, bes. 384—387, gibt. Welskopf, Produktionsverhältnisse, 421.

Soldaten des 3. Jh. u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

23

Hier ergibt sich sogar die Möglichkeit, zu statistisch verwertbaren Ergebnissen zu gelangen. Wir können die Masse der erhaltenen Reskripte als eine Stichprobe aus den tatsächlich aus der kaiserlichen Kanzlei ergangenen Schreiben dieser Art ansehen, und zwar ist es, mathematisch gesehen, bereits eine große Stichprobe (die Grenze liegt etwa bei 200 Einheiten, es sind aber etwa 2500 'Privatreskripte' erhalten). Unabhängig davon, wie groß die Zahl der tatsächlich erteilten Reskripte war, sind in diesem Fall brauchbare Schlüsse möglich, z. B. in bezug auf den Personenkreis, auf die Schichten der Bevölkerung, die sich mit solchen Anfragen an die kaiserliche Kanzlei wandten. Allerdings könnten diese Schlußfolgerungen nur sehr allgemeiner Natur sein, wenn man sie auf die gesamte Periode von 117 bis 304 u. Z. beziehen wollte. Es empfiehlt sich also, Untergruppen zu bilden. Dabei wird sich auch herausstellen, ob mit einer einheitlichen oder mit mehreren Grundgesamtheiten zu rechnen ist. Von den Kaisern Hadrian bis einschließlich Pertinax stammen nur 23 Reskripte: bei einer so schmalen Basis ist größte Vorsicht geboten. Marc Aurel z. B. pflegte seine Reskripte halbjährlich zu veröffentlichen 7 ; daß von ihm nur sechs aufgenommen sind, liegt also nicht daran, daß er in dieser Hinsicht nicht tätig geworden wäre. Es ist vielmehr anzunehmen, daß von den Rechtsentscheidungen und- auskünften der frühen Prinzipatsperiode eine größere Zahl den gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen der Justinian-Zeit nicht mehr entsprach als von denen des 3. Jahrhunderts; außerdem mußte durch den größeren zeitlichen Abstand mehr verlorengehen. Von den beiden ersten Severern zusammen aber erscheinen 434, von Severus Alexander 453, von Gordian III. 276, von Philippus Arabs und Philippus 78, von Valentianus und Gallienus 83, von Diokletian und seinen Mitregenten 1080 Reskripte. Das alles sind statistisch gut auswertbare Zahlen, zwischen denen sich dann auch Vergleichsmöglichkeiten ergeben. Bleibt noch die Frage, ob die Stichprobe als zufällig ausgewählt gelten kann. Ich möchte das bejahen, obwohl sie natürlich nicht nach den Methoden moderner Statistik zustandegekommen ist. Aber das Auswahlprinzip war einerseits von dem der beabsichtigten Auswertung ganz unabhängig (es interessierten die juristischen Fragen, nicht die Personen), andererseits wird der ganze weite Bereich des Privatrechts erfaßt (außerdem noch Kirchenrecht, Verwaltungsrecht und einige strafrechtliche Fragen, Gebiete, für die Anfragen ? L. Wenger, Quellen (vgl. A. 3), 439, bes. A. 141.

L i s e l o t Huchthaitsen

24

von Privatpersonen weniger oder gar nicht in Frage kommen), und damit alles, was einen Bürger oder Peregrinen juristisch interessieren konnte, so daß gute Aussicht besteht, in dieser Hinsicht eine repräsentative Auswahl aus den Fragestellern vorzufinden. Uber einige Einschränkungen im Einzelfalle wird weiter unten zu reden sein. B e i dieser Untersuchung können wir die Frage, ob eine Stelle interpoliert ist oder nicht, beiseite lassen, denn es k o m m t uns darauf an, wen welches Problem interessierte, nicht, welche Lösung gefunden wurde.

3.

Uberblick über die

Soldatenreskripte

Unter der Masse der Adressaten zeichnen sich schon bei flüchtiger Durchmusterung zwei Gruppen ab, die in sich immerhin so geschlossen sind, daß eine Einzelauswertung Erfolg verspricht. Die erste der beiden Gruppen kann man durchaus als Vertreter einer sozialen Schicht bezeichnen: es sind die Soldaten, kenntlich am hinzugefügten miles, veteranus, evocatus8, zweimal auch centurio. Die zweite, größere Gruppe sind die — an der Namensform kenntlichen — Frauen. Sie können theoretisch natürlich aus sämtlichen Schichten der Bevölkerung kommen und bilden also keine derart homogene Gruppe. Die Behandlung der Frauenreskripte wird an anderer Stelle erfolgen. An Soldaten sind rund 100 der etwa 2500 Reskripte gerichtet, d. h. etwa 4 % . Der Anteil ist also nicht hoch, jedoch ist zu vermuten, daß das Zufallsprinzip in diesem Falle als durchbrochen gelten muß. F ü r Soldaten, ihre Verwandten und ihre Erben waren die Probleme der folgenden tiiuli von besonderem Interesse: de re militari

de testamento de restitutione

C. 12, 35

militis militum

(5 von 8 Anfragen aus der Zeit zwischen

C. 6, 21 C. 2, 5 0

Severus und Diokletian stammen von Soldaten) (5 von 14 Anfragen aus dieser Zeit von Soldaten) (4 von 1 Anfragen aus dieser Zeit von Soldaten)

8

Evocati waren in der Iiaiserzeit Veteranen, zuerst der Praetorianer, nach der Reform des Sept. Severus vor allem der auderen stadtrömischen Kontingente, die sich nach Ablauf ihrer mit Auszeichnung abgeleisteten Militärzeit zur weiteren Verwendung gemeldet hatten. Wurden sie akzeptiert, so setzte man sie in den Provinzen bei den dort stationierten Legionen, besonders in der Verwaltungs- und Gerichtstätigkeit eil). Sie genossen fast das Ansehen eines Centurio. Vgl. J. Kromayer/G. Veith, Heerwesen und Kriegsführung der Griechen und Römer (Handbuch der Altertumswissenschaft), München 1928 (später unverändert nachgedruckt), 490 f.

Soldaten des 3. Jli. u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei de castrensi

25

peculio C. 12, 36

(2 von 5 A n f r a g e n aus dieser Zeit von Soldaten) (de veteranis C. 12, 46 enthält nur spätere Verfügungen) M a n k a n n wohl a n n e h m e n , d a ß es zu diesem Problemkreis des ö f t e r e n u n d a u s verschiedenen Reichsteilen A n f r a g e n gegeben h a t . Andererseits liegt es bei der v o n den J u r i s t e n n a c h d e m Vorgange Kaiser T r a j a n s den S o l d a t e n a t t e s t i e r t e n „ E i n f a l t " 9 nahe, d a ß sich die gleichen, v e r h ä l t n i s m ä ß i g simplen A n f r a g e n m e h r f a c h wiederholt h a b e n werden, so d a ß eine A u f n a h m e weniger Belege in den Codex g e n ü g t e 1 0 . A u ß e r d e m w a r e n g e r a d e auf d e m Gebiet d e s Militärwesens die A u s w i r k u n g e n der Diokletianischen R e f o r m u n d ihrer Volle n d u n g d u r c h K o n s t a n t i n so einschneidend, d a ß viele f r ü h e r e Bescheide obsolet w e r d e n m u ß t e n : wir finden z. B. in C. 12, 35 einen sehr h o h e n Anteil s p ä t e r e r V e r f ü g u n g e n , die titull 12, 37. 38. 39 e n t h a l t e n ü b e r h a u p t n u r solche. E s l ä ß t sich also a n n e h m e n , d a ß der w a h r e Anteil der S o l d a t e n r e s k r i p t e an der G e s a m t m a s s e e t w a s höher, auf keinen Fall a b e r niedriger war, als d u r c h den Codex ausgewiesen. E i n e b e s t i m m t e A n z a h l v o n Grenzfällen k o m m t d a d u r c h z u s t a n d e , d a ß a u c h ehemalige S o l d a t e n geschrieben h a b e n , denen die Bezeichnung vetcranus n i c h t z u s t a n d , da sie v o r Ablauf der n o r m a l e n Dienstzeit wegen I n v a l i d i t ä t (C. 12, 35, 8) oder m i t Schimpf u n d S c h a n d e (ignominia, C. 12, 35, 3) aus d e m Dienst geschieden waren. Schließlich waren, wie m a n sich leicht b e i m Vergleich der T e x t a u s g a b e n v o n H e r m a n n u n d K r ü g e r 1 1 ü b e r z e u g e n k a n n , die A d r e s s a t e n a n g a b e n in bezug auf Verschreibungen verständlicherweise anfällig, u n d ein f ü r den B e n u t z e r so wenig wichtiger Z u s a t z wie das miles in p r i v a t rechtlichen F ällen k o n n t e leicht e i n m a l verlorengehen. So m a gö der Doles o (C. 7, 35, 6), der so lange in feindlicher G e f a n g e n s c h a f t war, d u r c h a u s ein S o l d a t gewesen sein. W i r h a b e n u n s hier a b e r n i c h t auf solche S p e k u l a t i o n e n eingelassen u n d n u r die wirklich eindeutig überlieferten S o l d a t e n r e s k r i p t e b e h a n d e l t (dabei w u r d e n u r Zinima [C. 4, 21, 7] aus textlichen G r ü n d e n einbezogen, obwohl die Bezeichnung veteranus fehlt, denn es h e i ß t a u s d r ü c k l i c h , er h a b e sein Militärdiplom verloren).

9

10

11

simplicitas, Ulpian ad edict., Dig. 29, 1, 1. Gaius, Inst. 2, 109 spricht von „nimia imperitia". Daß eine solche Wiederholung von Anfragen nicht selten war, zeigt der etwas unwirsche Schluß von C. 4, 65,11: Invitos conductores . . . non esse retinendos saepe rescriptum est; in ähnlichem Sinne C. 4, 64, 2; 5, 38, 4. Codicis iuris civilis pars altera, Codicem continens, ed. E. Hermann, Leipzig 1843 (viele Stereotypnachdrucke); Codex Fustinianus, ed. P. Krueger, Berlin 1377, überarbeitet 1914; 1954 u. weiterhin unveränderte Nachdrucke.

Liselot Htjchthatjsen

26 Die Reskripte verteilen sich wie folgt: Hadrian - Pertinax ( 1 1 7 - 1 9 6 )

1 von

23

Severus Severus und Caracalla (197—211)

1 von

192

0>5%

14 von

248

5,6% 6,8%

Caracalla allein ( 2 1 2 - 2 1 7 ) Alexander ( 2 2 2 - 2 3 5 )

29 von

453

Gordian I I I . ( 2 3 8 - 2 4 4 )

4 0 von

276

5 von

78

1 von

83

Philippus A. u. Philippus C. ( 2 4 4 - 2 4 9 ) Valerian und seine Mitregenten (254—260) Diokletian und seine Mitregenten (293—304)

4.

Die in den Soldatenreskripten

behandelten

:! 1 von 1080

14,50/o 6,40/ 0 1.2% 1,0%12

Probleme

Die 102 Soldatenreskripte lassen sich nach dem jeweils behandelten Gegenstand in einige größere Gruppen teilen. Dabei decken sich die gewählten Ordnungsgesichtspunkte nicht in jedem Fall mit juristischen Kategorien: 4.1 Rechte und Pflichten des Soldaten 4.1.1 Dienst — Rechtsbeschränkungen — Altersversorgung 4.1.2 Verfügung über das peculium castrense, besonders Soldatentestament; einige andere Rechtsvorteile 4.1.3 Rechtlicher Schutz gegen die privatrechtlichen Folgen der langen Abwesenheit vom Heimatort (besonders restitution in integrum) 4.1.4 Strafrechtliche Probleme 4.2 Private Rechtsstreitigkeiten, deren Entstehung durch die Tatsache begünstigt wird, daß der Kläger Soldat ist 4.2.1 Übergriffe gegen Familienangehörige in Abwesenheit des Soldaten 4.2.2 Depotveruntreuung u. ä. Delikte 4.3 Private Geschäfte des Soldaten, die auch jeder andere durchführen könnte, unter dem Gesichtspunkt der Größe des dabei angelegten Betrages 4.4 Erbstreitigkeiten und andere vermögensrechtliche Familienzwistigkeiten (ohne Soldatentestament) Es bleiben dann nur wenige Fälle, die nicht einzuordnen sind

12

38 (10) (16) (9) (3) 15 (4) (11) 30 12 7

Von den 101 Reskripten der Kaiser Elagabal, Maximinus Thrax, Decius (und Mitregenten), Gallus und Volusianus, Gallienus allein, Claudius Goticus, Aurelian, Probus, Carus (und Mitregenten) ist keines an einen Soldaten gerichtet.

Soldaten des 3. Jh. u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

4.1

27

Rechte und Pflichten des Soldaten 13

4.1.1 Dienst — Rechtsbeschränkungen — Altersversorgung Mit dem Dienstbetrieb befaßt sich ein Reskript Caracallas (o. J . ) an die Soldaten der ersten Kohorte' (C. 12, 35, 2): „Wenn ihr 20 Jahre gedient habt, darf euch keine Schmutzarbeit mehr befohlen werden" 14 . Diese kaiserliche Entscheidung dürfte in der Folgezeit des öfteren einem Offizier entgegengehalten worden sein, denn der Einsatz beim Straßen- und Brückenbau, j a sogar im Bergwerk war zweifellos bei den Vorgesetzten wesentlich beliebter als bei den Mannschaften. Seit Augustus war die Dienstzeit der Legionäre auf 20 Jahre heraufgesetzt worden (Cassius Dio, LV, 23), danach mußten sie noch 5 Jahre als Reserve für den Kriegsfall zur Verfügung stehen 15 . Die Stelle ist ein Beweis für die im Grunde illegale Ausdehnung der Dienstzeit auf die vollen 25 Jahre 1 6 , zeigt aber auch, daß im Gegensatz zu Domaszewskis Ansicht 17 , die Erinnerung daran, daß die velerani eigentlich nur eine Reserve waren, auch im 3. Jahrhundert noch nicht völlig geschwunden war. — Merkwürdigerweise scheint das folgende Reskript bisher keine Verwunderung h e r v o r g e r u f e n z u h a b e n (C. 4, 7, 3, de condictione ob turpem causam, D i o k l e t i a n u n d M a x i m i a n a . d. J . 2 9 0 ) : Quod evitandi tirocinii causa dedisse te apud competentem iudicem ei de quo quereris indubia probationis luce constiterit, instantia eius recipies: qui memor censurae publicae post restitutionem pecuniae etiam concussionis crimen inultum esse non patietur. — E s g e h t also u m einen E r p r e s -

sungsfall (concussio), und zwar hat ein Soldat jemandem Geld gegeben evitandi tirocinii

causa.

Nun liegt eine klagbare Erpressung nur dann vor, wenn nicht auch der Geber sich einen rechtswidrigen Vorteil verschaffen wollte — wenn beide Teile schuldig sind, bleibt das Geld dem Besitzer 18 . Nützlich zur allgemeinen Information: A. Neumann, Disciplina militaris, RE Suppl. 10, 1965, 142—178; E. Sanders, Das Recht des römischen Soldaten, Rhein. Museum f. Phil., N. F., 101, 1958, 1 5 2 - 1 9 1 u. 1 9 2 - 2 3 4 ; E. Sander, das römische Militärstrafrecht, Rhein. Mus. f. Phil., N. F. 103, 1960, 2 8 9 - 3 1 9 . 14 C. 1 2 , 3 5 , 2 : Vigintistipendiasi implestis,sordidamuneramilitiae vobis non indicentur. 15 Zu dieser Frage vgl. Kromayer/Veith (vgl. A. 8), 487 und A. v. Domaszewski, Die Rangordnung des römischen Heeres, Bonn 1908, 78—79. >6 Vgl. Neumann (vgl. A. 13), 168; CIL XVI, p. 186ff. 17 Domaszewski (vgl. A. 15), 80: „Mit der fortschreitenden Provinzialisierung dienen auch die Legionare 25 Jahre wie die Auxilia. Wenistens ist im 2. Jahrhundert keine Spur dieser Reserve mehr nachzuweisen." 1 8 Das ergibt sich aus C. 4, 7, 2 : Cum te propter turpem causam contra disciplinam temporum meorum domum adversariae dedisse profitearis, frustra eam restitui tibi 13

28

LlSELOT HuCHTHATTSEiT

Die Übersetzung 'Rekrutenstand, Rekrutendienst' für tirocinium, die sich zu dieser Stelle bei Schilling 1 9 und im Handlexikon von Heumann/Seckel findet 2 0 , kann daher nicht richtig sein, denn kein Heer könnte es sich leisten, sich die Ausbildungszeit abkaufen zu lassen. Aus der Prinzipatszeit wissen wir, daß bei Aushebung gelegentlich alte und gebrechliche Leute konskribiert und nur gegen Bezahlung einer Geldsumme freigelassen wurden (Tacitus, Hist. IV, 14). E s läge also eine Deutung im Sinne von 'Militärdienst' nahe, wenn dagegen nicht außer den fehlenden sprachlichen Belegen die T a t s a c h e spräche, daß zur Zeit Diokletians ein Freikauf v o m Militärdienst längst völlig legal und üblich war, und daß der Bittsteller S o l d a t ist. E r müßte denn gezahlt haben und dennoch nicht frei gekommen sein. In diesem Falle hätte entweder ein Nichtberechtigter das Geld genommen (der dann allerdings k a u m abgewartet haben dürfte, bis er gerichtlich belangt wurde) oder ein Mitglied der Aushebungskommission h ä t t e einen Unterschleif auf K o s t e n dieses Mannes begangen. In beiden Fällen aber wäre das Delikt nicht Erpressung, sondern B e t r u g oder Unterschlagung. Diesen Schwierigkeiten entgeht m a n durch die Annahme, es habe sich bei dem tirocinium u m ein 'Probestück' gehandelt, mit dem der Neuling sich quasi als vollwertiger S o l d a t zu legitimieren hatte. S o etwas konnte in der H a n d eines bösartigen Centurio oder Altgedienten leicht zur Quälerei und zum Mittel der Erpressung werden. Der T a t b e s t a n d läge auch vor, weil solch ein Probestück sicherlich von der Dienstvorschrift n i c h t gefordert wurde. I m Corpus iuris haben wir keine passende Parallelstelle, wohl aber bei dem älteren S e n e c a : potest tirocinium esse homicidium, parricidium non potest (Seneca, controv. 3, 20) — „ E i n Mord kann ein Probestück sein, ein Vatermord nicht".

10

20

desideras und C. 4, 7, 4: Quotiens aeeipientis, non etiam dantis turpis invenilur causa, . . . datum condici tantum, non etiam usurae peti possunt. Das Corpus Iuris Civilis, ins Deutsche übersetzt von einem Verein Rechtsgelehrter und herausgegeben von C. E. Otto, B. Schilling, C. F. F. Sintenis, Bd. 5, Leipzig 1832 (Codex, übersetzt von B. Schilling), 4, 7, 3: „D. K. Diokletian und Maximian an Dizon, den Soldaten: Wenn du bei dem competenten Richter durch Beweisführung in unzweifelhaftes Licht setzest, dass du zu Umgehung des Rekrutenstandes etwas gegeben habest, so wirst du dieses durch seiue Hülfe wiedererlangen. Derselbe wird [der Notwendigkeit] öffentlicher Ahndung eingedenk, auch das Verbrechender Erpressung nicht ungestraft lassen." (Dies ist die einzige deutsche Übersetzung des Codex) Heumanns Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, in 9. Auflage neu bearbeitet von E. Seckel, Jena 1907, (seither mehrfach unverändert nachgedruckt) s. v. tirocinium. In der Literatur habe ich die Stelle nirgendwo erwähnt gefunden.

Soldaten des 3. Jh. u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

29

Auf j e d e n Fall m u ß der S o l d a t Dizo, er w a r d e m N a m e n n a c h m i t ziemlicher S i c h e r h e i t ein T h r a k e r , Zivilcourage g e h a b t h a b e n , d a ß er die Beschwerde ü b e r h a u p t v o r z u b r i n g e n w a g t e . I n t e r e s s a n t ist dabei, d a ß eine d e r a r t i g e A n f r a g e u n t e r U m g e h u n g des I n s t a n z e n w e g e s v o m Kaiser a n g e n o m m e n u n d beantwortet wurde. — A k t i v e S o l d a t e n d u r f t e n f ü r n i e m a n d a n d e r e n , a u c h n i c h t f ü r den n ä c h s t e n Angehörigen, als procurator v o r G e r i c h t erscheinen u n d a u c h in eigener S a c h e n u r in b e s t i m m t e n F ä l l e n a u f t r e t e n . Z u m curator oder tutor d u r f t e n sie ebenfalls n i c h t eingesetzt werden (C. 5, 34, 4). Das f ü h r t e n a t ü r l i c h zu H ä r t e n , w e n n e t w a V a t e r oder M u t t e r in einen Prozeß verwickelt w a r e n ; a b e r die K a i s e r blieben f e s t u n d m u ß t e n es auch, u m n i c h t die S c h l a g k r a f t der T r u p p e e r n s t l i c h zu g e f ä h r d e n (C. 2, 12, 7. 13); 9, 1, 10 zeigt, d a ß S o l d a t e n A n k l a g e erheben durften. U m die Stellung der entlassenen S o l d a t e n g e h t es C. 10, 55, 2 ; 5 , 6 5 , 2 ; 12, 35, 7. C. 4, 21, 7 wird einem V e t e r a n e n , d e m sein Militärdiplom a b h a n d e n g e k o m m e n ist, die Möglichkeit e i n g e r ä u m t , den Beweis d a f ü r , d a ß i h m die V o r r e c h t e eines V e t e r a n e n z u s t e h e n , d u r c h Zeugenaussagen zu e r b r i n g e n : die B e f r e i u n g v o n E h r e n ä m t e r u n d L a s t e n w a r sehr wichtig. U n g ü n s t i g w a r die L a g e der invalidisierten S o l d a t e n , u n d G o r d i a n (o. J . ) m a c h t C. 12, 35, 6 d e m B r u t u s wenig H o f f n u n g auf eine Wiedereinstellung ins H e e r — wahrscheinlich f ü r einen F r e u n d oder V e r w a n d t e n , denn der A d r e s s a t ist als miles bezeichnet. — Den K o n f l i k t zwischen d e n verschiedenen B e d ü r f n i s s e n der Z e n t r a l g e w a l t , die u m diese Zeit k a u m noch w u ß t e , ob die S o l d a t e n oder die S t e u e r z a h l e r s c h w e r e r zu e n t b e h r e n waren, spiegelt das R e s k r i p t C. 12, 33, 2 v o n Diok l e t i a n u n d M a x i m i a n (o. J . ) zu der T h e m a t i k Qui militare possunt vel non: W e r in fraudem civilium munerum z u r F a h n e schwört, soll von diesem B e t r u g keinen Vorteil h a b e n . E s ist die Zeit, in der viele M ä n n e r v e r s u c h e n , im H e e r u n t e r z u t a u c h e n , u m der u n e r t r ä g l i c h e n B e l a s t u n g d u r c h S t e u e r n u n d a n d e r e A u f l a g e n zu e n t g e h e n .

4.1.2 V e r f ü g u n g ü b e r das peculium einige a n d e r e R e c h t s v o r t e i l e

castrense,

besonders

Soldatentestament;

S o l d a t e n h a t t e n d a s V o r r e c h t , ein formloses T e s t a m e n t errichten zu dürfen 2 1 , w ä h r e n d das römische V e r f a h r e n sonst r e c h t u m s t ä n d l i c h w a r . Selbst H a u s s ö h n e n , die noch der potestas ihres V a t e r s u n t e r s t a n d e n , w a r das R e c h t 21

M. Käser, Das römische Privatrecht, 1. Band, (Handbuch der Altertumswissenschaft), München 1955, 59—60 (die 2. Auflage war mir leider nicht zugänglich).

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L l S E L O T HtrCHTHATTSEN"

eingeräumt, ihr peculium castrense, das ist das im Krieg Erworbene, nach eigenem Ermessen zu vererben oder anderweitig darüber zu verfügen, solange sie Soldat waren. Ziviles Vermögen durften sie dagegen nicht haben. Mit Einzelfragen dieses Gebietes befassen sich C. 6, 21, 1. 2 (Caracalla), C. 3, 44, 5 ; 12, 26, 3 (Severus Alexander), C. 6, 21, 8 ; 12, 36, 4 (Gordian I I I . ) , C. 6, 21, 1 0 . 11 (Philippus Arabs), C. 2, 3, 19 (Diokletian und Maximian). Zeitlich reichen diese Reskripte von 212 bis 290, also über den ganzen Bereich des 3. J a h r hunderts. Das zeigt, daß das Thema immer aktuell blieb und Anfragen ständig eingingen. Drei Reskripte wollen wir noch etwas näher betrachten. C. 9, 23, 5 (es handelt sich hier genau genommen um ein Dekret, denn der Kaiser entscheidet den Fall direkt), weist Severus Alexander den Soldaten Gallicanus darauf hin, daß es nicht angängig ist, sich selbst als Erben oder Legatar einzusetzen,, wenn man für einen anderen, der schreibunkundig oder schreibunfähig ist, ein Testament aufsetzt; das Geschriebene ist ungültig. E r fährt dann fort: Sed secutus tenorem indulgentiae meae poencim legis Corneliae tibi remitto, in quam credo le magis errore quam malitia incidisse (es handelt sich um die L e x Cornelia de falsis, vgl. Dig. 48, 10). Auch hier wird also auf die simplicitas des Soldaten Rücksicht genommen. E r wird nicht bestraft. C. 5, 1 6 , 2 (aus dem J a h r e 213) ist ein Beispiel ziemlich willkürlicher Rechtsauslegung zugunsten eines Soldaten und zu Ungunsten eines Zivilisten, besonders wenn man bedenkt, daß dies Gutachten verallgemeinert wurde: „Wenn du dem Statthalter beweist, daß die Sklavin von deinem Geld gekauft und die Urkunde nur zum Zwecke der Schenkung auf den Namen deiner Haushälterin ( f o c a r i a ) ausgestellt ist, so wird er befehlen, daß sie dir zurückgegeben wird. Da ihr nicht verheiratet wart 2 2 , konnte eine gültige Schenkung statthaben — ich will aber nicht, daß meine Soldaten aus diesem Grunde und durch falsche Schmeicheleien von ihren Haushälterinnen ausgeplündert werden" 2 3 . Käser 2 4 interpretiert die Stelle so „Doch verbietet Ant. C. 5, 16, 2 Schenkungen von Soldaten an focariae" — aber im Grunde gibt der Kaiser den Soldaten nur die Möglichkeit, solche Schenkungen rückgängig zu machen. E s ist eine demagogische Entscheidung; die Fürsorge für 'meine' Soldaten 22 23

Eine Schenkung unter Eheleuten war ungültig, vgl. Käser, Privatrecht 1, 283. C. 5, 16, 2 : Si ancillam nummis tuis comparatam esse praesidi provinciae probaveris donationisque causa focariae tuae nomine instrumentum emptionis esse conscriptum, eam tibi restitui iubebit. Nam licet cessante iure matrimonii donatio perfici potuerit, milites tarnen meos a focariis suis hac ratione fictisque adulationibus spoliari nolo. Käser, Privatrecht 1, 281, A. 6.

Soldaten des 3. Jh. u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei k o s t e t den K a i s e r und den

31

S t a a t gar nichts, nur der ohnehin ökonomisch

unterlegene Teil wird noch mehr gedrückt. F ü r die prekäre Stellung der focaria

spricht auch C. 6, 46, 3

(ebenfalls

Caracalla), wo es darum geht, daß ein S o l d a t seine Haushälterin dadurch ü b e r seinen T o d hinaus zu sichern versuchte, daß er ein L e g a t an die Bedingung knüpfte, daß der L e g a t a r die focaria

und ihre M u t t e r übernehmen solle. D e r

lehnte das ab, und der K a i s e r entscheidet, daß er dann auch keinen Anspruch auf das Vermächtnis habe. D a ß die focariae

später nicht m e h r erscheinen, liegt wahrscheinlich daran,

daß unter Severus den Soldaten die Heiratserlaubnis erteilt wurde 2 5 und das. P r o b l e m danach zwar nicht verschwand — sonst h ä t t e n die K o m p i l a t o r e n diese F r a g m e n t e nicht m e h r aufgenommen — aber doch an

Dringlichkeit

verlor. Einige weitere Rechtsvorteile bieten die R e s k r i p t e C. 4, 61, 3 (Severus und Caracalla, o. J . ) und C. 1, 18, 1 (Caracalla 212), die hier angeschlossen sein mögen, den S o l d a t e n : I m ersten wird milde Behandlung bei versäumter Zoll- oder Steuererklärung zugesichert — gezahlt m u ß aber werden! — und im zweiten wird einem Soldaten, der propter

simplicitatem

armatae

militiae

versäumt hat, in einem P r o z e ß

einige relevante Entlastungsgründe anzuführen, erlaubt, das noch nachträglich zu tun. Diese sogenannte simplicitas

rührte übrigens daher, daß viele Soldaten

Peregrine, wenn nicht gar B a r b a r e n waren und infolgedessen keine K e n n t n i s des römischen R e c h t s h a t t e n . Das R e s k r i p t konnte auch nach der Constitutio Antoniniana in K r a f t bleiben, weil sich m i t der bloßen Verleihung des B ü r g e r r e c h t s an die überwiegende Zahl der Einwohner des Imperium R o m a num natürlich in dieser Hinsicht sachlich nichts änderte.

4.1.3 Rechtlicher

Schutz

gegen

die privatrechtlichen

Folgen

der

langen

Abwesenheit B e s i t z ging in R o m durch Ersitzung in E i g e n t u m über, das dem I n h a b e r dann n i c h t mehr streitig zu machen war. Die Ersitzungsfristen waren f ü r Grundstücke länger als für bewegliches E i g e n t u m und so bemessen, daß der berechtigte Besitzer oder E i g e n t ü m e r im Normalfall Gelegenheit h a t t e , festzustellen, daß ihm etwas fehlte, und die S a c h e in Ordnung zu bringen. Anspruch 25

Herodian, Ab excessu Divi Marci 3, 8, 4 ; zur Diskussion über die Tragweite und die Auswirkungen vgl. Neumann (vgl. A. 13), 171, Kromayer/Veith (vgl. A. 15), 532, Käser (vgl. A. 21), 270f„ bes. A. 29.

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LISELOT HUCHTHAUSEN

auf gestohlene Sachen verjährte nicht, aber abgesehen davon, daß man nach römischer Auffassung Land nicht stehlen konnte, gab es auch sonst allerlei Möglichkeiten für unseriöse Praktiken und natürlich auch f ü r Irrtümer. Gegen die Auswirkungen fremder Arglist und eigener Rechtsunkenntnis schützte den Minderjährigen der Anspruch auf in integrum restitutio, auf 'Wiedereinsetzung in den früheren Stand', auch über die normale Ersitzungsfrist hinaus. Eine entsprechende Regelung galt für diejenigen, die rei publicae causa längere Zeit vom Heimatort entfernt sein mußten oder in Gefangenö o schaft gerieten. Der Prätor erklärte dann Veräußerungen ihres Eigentums und andere Rechtsgeschäfte für ungeschehen (vgl. Dig. 4, 6, 1). Anfragen zur Sache und zum Verfahren werden beantwortet C. 2, 50, 2, 3. 5. 6; 2, 52,1. 2. 3; 2, 49, 1. Umgekehrt verjähren Forderungen des Soldaten, deren Existenz nachgewiesen werden kann, nicht, solange er sich auf einem Feldzug befindet: C. 7, 35, 1. (Allein fünf dieser Reskripte stammen von Gordian, keines ist später als 254 abgefaßt.)

4.1.4 S trafrechtliche Probleme 2 6 Zwei recht verschiedene strafrechtliche Probleme stehen hier zur Debatte, Totschlag bzw. fahrlässige Tötung und Desertation, letztere aber nur wegen ihrer ökonomischen Auswirkungen. Der erste Fall zeugt von einem bestimmten Vertrauensverhältnis zwischen Soldaten und Kaiser: Ein Soldat h a t durch einen unglücklichen Zufall (Genaueres erfährt man nicht) einen Kameraden getötet. Seine Brüder h a t t e n offenbar zum zuständigen Richter kein rechtes Zutrauen; sie versteckten ihn zunächst und wandten sich mit der Frage: „Was n u n ? " an den Kaiser selbst. Sie beteuerten dabei, er habe den anderen ja nicht umbringen w o l l e n . Das läßt sich aus dem Text des Antwortschreibens erschließen, in dem Caracalla (C. 9, 16, 1) sie darauf hinweist, daß ihr Bruder besser getan hätte, sich sogleich freiwillig dem Statthalter zu stellen: frater vester rectius fecerit, si se praesidi provinciae obtulerit. Diese Mahnung ist aber durchaus väterlich-freundlich gehalten. Danach wird der Unterschied zwischen Verbrechen und fahrlässiger Tötung, der in der voluntas nocendi liege, auseinandergesetzt und versprochen, daß es dem Soldaten nicht an den Hals gehen werde, denn ea, quae ex improviso casu potius quam fraude accidunt, fato plerumque, non noxae imputantur. In 26

Die Reskripte C. 4, 7, 3; 9, 1, 10 und C. 9, 23, 5 sind bereits in anderem Zusammenhang (unter 4.1.1 und 4.1.2) behandelt worden. Auch Ehescheidungssachen fallen in bestimmten Fällen unter das Strafrecht, vgl. C. 9. 9, 15, S. 21.

Soldaten des 3. J h . u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

33

diesem Falle kann man die vorsichtige Vermutung wagen, daß der Name des Bittstellers — Aurelius Herculianus — auf eine nähere Beziehung zum Kaiserhaus der Severer deuten könnte. Daß die zweite Anfrage, wieder von mehreren Soldaten, diesmal an Gordian gerichtet (C. 12, 35, 5, o. J . ) , überhaupt gestellt werden konnte, ergibt zusammen mit der Tatsache, daß die selbstverständlich abschlägige Antwort in so ruhigem Ton erfolgt und nicht einmal eine energische Zurechtweisung, geschweige denn eine Strafandrohung enthält, ein beredtes Zeugnis für die prekäre Lage des Kaisers und des Reiches: ein Deserteur ist nach siebenjährigem Aufenthalt bei den Feinden wieder zurückgekehrt und in Gnaden aufgenommen worden. F r a g e : Muß er nicht den Sold für diese Zeit nachgezahlt bekommen? 2 7 Der Rückkehrer hatte den Anstand nur eben so weit gewahrt, daß er nicht selbst anfragte, sondern die Brüder seiner Frau vorschickte. Besonders bedenklich wird die Angelegenheit dadurch, daß man eine solche Frage nicht als grotesken Einzelfall abtat, sondern das Reskript für verallgemeinerungswürdig hielt, sonst wäre es j a nicht noch fast dreihundert J a h r e später in den Codex aufgenommen worden. Nicht die leidenschaftslose Feststellung des juristischen Tatbestandes, daß ein Deserteur keinen Anspruch auf Nachzahlung des Soldes habe, vielmehr die Zeit nachdienen müsse, ist hier das Wesentliche, sondern die Tatsache, daß das Problem offenbar ganz öffentlich und harmlos diskutiert wurde. Nicht ganz klar ist C. 12, 35, 1, aus früherer Zeit, wahrscheinlich von Caracalla, Antoninus Pius ist nicht völlig auszuschließen, da das Datum fehlt; denn während in diesem Falle nur von apud

hostes fuisse

die R e d e ist, war C. 12, 35, 5 ausdrücklich gesagt Septem,

annos in desertione egisse. F ü r einen anderen Tatbestand, z. B . Gefangenschaft, spricht es, daß es überflüssig gewesen wäre, beide Reskripte aufzunehmen, wenn es um die gleiche Sache gegangen wäre.

4.2

Private Rechtsstreitigkeiten, deren Entstehung durch die Tatsache begünstigt wird, daß der Kläger Soldat ist

4.2.1 Übergriffe gegen Familienangehörige Zwei Fälle liegen vor, in denen der Vater eines Soldaten von einem Mächtigeren durch Drohungen dazu gebracht wurde, sein Haus (C. 4, 44, 1, a. d. J . 222) oder seinen Grundbesitz (C. 2, 19, 5, a. d. J . 239) zu verkaufen, im 27

3

C. 12. 35, 5 Imp. Gordianus A. Valentino et aliis militibus. Cum adlegatis Septem annos in desertione egisse maritum sororis vestrae et indulgentia nostra esse restitutum, non recte desideratis, ut id tempus, ac si in castris fuerit, habeatur. Proinde Altertumswissenschaft

34

LISELOT HTTCHTHATJSEN

zweiten Falle sogar unter Wert. In einem dritten Falle hat der Gläubiger eines minderjährigen Bruders dem rechtlich nicht richtig informierten Vater eine Zahlung abgepreßt (extorta est pecunia, C. 4, 13, 1, a. d. J . 238), die dieser gar nicht zu leisten verpflichtet war. Schließlich hat einmal ein Richter es dem Sohn des Soldaten verwehrt, den Vater in einem Rechtsstreit zu verteidigen, da er keine Vollmacht vorweisen konnte, und den im Felde Stehenden in Abwesenheit ungehört verurteilt (C. 2 , 1 2 , 12, a. d. J . 230). In allen diesen Fällen erscheinen die Soldaten eindeutig als Vertreter der Schicht der Kleineigentümer: ein wohlhabender Mann wäre nämlich derartigen Schikanen entweder gar nicht erst ausgesetzt gewesen oder hätte sie auch in Abwesenheit abwehren können. Die Reskripte der Kaiser, die jedesmal Abhilfe durch den zuständigen Richter versprechen, passen in die von der Zentralgewalt ständig, wenn auch mit wechselndem und nie dauerhaftem Erfolg verfolgte Linie, das Kleineigentum gegen die Großgrundbesitzer wenigstens einigermaßen zu schützen, da die Wehrkraft des Reiches in starkem Maße auf seiner Erhaltung beruhte.

4.2.2 Depotveruntreuung und ähnliche Delikte Eine Reihe von Reskripten beziehen sich auf Fälle, in denen anscheinend der Geschäftspartner darauf spekulierte, daß der Soldat ein vorzeitiges Ende finden und seine Rechte nicht mehr wahrnehmen könne. In Aufbewahrung gegebene Gegenstände sind veruntreut worden (C. 4, 34,1. 2. 3 . 4 ) — das sind ein Drittel der fragmenta aus diesem titulus, vermutlich gehört auch C. 3, 32, 8 hierher, wo es darum geht, daß ein anderer sich vom Geld des des Soldaten Philippus etwas gekauft hat. C. 3, 3 2 , 6 ist Bestandteil des gleichen Schreibens wie C. 4, 34, 3. In anderen Fällen hat der Gegner Eigentum des Soldaten gegen besseres Wissen veräußert oder verpfändet (C. 4, 5 1 , 1 ; 3, 37, 2 ; 4, 52, 4). In den letzten beiden Anfragen dieser Reihe war der eigene Bruder der Unredliche. Zweimal (C. 3, 32, 4 und 3, 42, 5) hatte der umstrittene Gegenstand sogar schon zum zweiten Male den Besitzer gewechselt, ehe der Soldat merkte, was geschehen war. Auch hier wird immer Abhilfe durch den zuständigen Richter zugesagt — nur in einem Falle erfolgt eine glasharte Ablehnung: Wenn der fiscus, der in dieser Zeit (Gordian o. J . ) bereits praktisch mit der Staatskasse identisch ist, auf einen Teil des verschwundenen Erbteils Anspruch hatte und dann das Ganze verkaufte, wie es sein Recht ist (solidiexcepto eo tempore, quocl ad desertore s pertinet, restitutus nostra indulgentia residuo militaie debebit; ideoque nec stipendia temporis, quo in desertione fuerit, exigere poterit.

Soldaten des 3. Jh. u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

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tatem iuxta proprium Privilegium vendidit, C. 4, 52, 2), dann wäre es höchst unvernünftig, dagegen etwas einwenden zu wollen (fidem eius infringi minime rationis est) — und von einer H e r a u s g a b e auch nur eines Anteils an den E r b e n ist nicht die Rede. Die Reskripte stammen aus der Zeit von Severus Alexander bis Diokletian (222—294), allein sieben der zwölf Entscheidungen sind aus der Kanzlei Gordians ergangen (C. 3, 32, 4. 6 ; 4, 34, 2. 3. 4 ; 3, 42, 5 ; 4, 52, 2). Z u s a m m e n m i t den unter 4. 1. 2 u n d 4. 1. 3 genannten Reskripten dieses Kaisers vermittelt das doch den Eindruck, als habe Gordian oder wahrscheinlich eher sein energischer Schwiegervater Timesitheus, der zeitweise praktisch die Regierung führte 2 8 , das Ziel verfolgt, die Rechtsunsicherheit zu bekämpfen und gerade die Soldaten nicht nur durch Geschenke, sondern auch durch feste Eingliederung in das Rechtsgefüge des Reiches an ihre Pflichten zu binden gesucht. Auf Gordians im Vergleich mit den übrigen Soldatenkaisern sehr erhebliche Reskribiertätigkeit, die durch die im Codex erhaltenen insgesamt 276 R e s k r i p t e zu erschließen ist, wurde bei der Einschätzung dieses K a i s e r s bisher wenig oder kein Gewicht gelegt. Allerdings war Gordian, vielleicht infolge von Timesitheus' unzeitigem Tode, kein Erfolg beschieden, und dieser h ä t t e j a auch im besten Falle nur eine restaurative, nicht eine revolutionäre B e d e u t u n g gehabt.

4.3

Private Geschäfte des Soldaten

Noch nahe an die unter4.2.2 behandelten Fälle gehören K l a g e n darüber, daß ein K a u f p r e i s v o m Gegner nicht rechtzeitig oder nicht vollständig erlegt worden sei (C. 4, 54, 3. 5 ; 4, 38, 9). Denn auch hier ist es möglich, daß der K ä u f e r im stillen hoffte, nach einer Weile der Zahlung ganz überhoben zu sein, falls der S o l d a t im Felde den T o d finde. D a n n gibt es aber zahlreiche andere geschäftliche Beziehungen zwischen Soldaten und Zivilpersonen, die sich von den Geschäften der letzteren untereinander nicht unterscheiden und für uns hauptsächlich dadurch von Interesse 28 P. v. Rohden, Antonius (60), R E 12,1894,2619ff... F. Altheim, Die Soldatenkaiser, Frankfurt 1939, geht im Hinblick auf Gordian III. über das bei Rohden Gesagte nicht hinaus. Nach W. Hartke, Römische Kinderkaiser, Berlin 1951, hieß der Schwiegervater Tim i sitheus (198f.). Dieses Buch hat aber nicht das Ziel, neue Erkenntnisse über das Leben Gordians oder eines anderen der Kaiser zu vermitteln, die Entstehungszeit und die Bestrebungen, die hinter der Historia Augusta standen, stehen im Mittelpunkt der Untersuchung. 3*

36

LlSELOT HtrCHTHATJSEN

sind, daß sie einen gewissen Einblick in die Vermögensverhältnisse der Soldaten gewähren. Wie Sander 2 9 ausführt, war der Gerichtsstand f ü r die Soldaten das Lager, und da es schwierig war, sie anderweitig zu belangen, unterwarfen sich auch Kläger und Beklagte zivilen Standes der militärischen Gerichtsbarkeit, um nur überhaupt ein Urteil zu erzielen. Da es den Soldaten nicht erlaubt war, die Provinz zu verlassen, in der ihre Truppe stand, wenn sie nicht z. B. als Kurier eingesetzt waren, wird es sich mit wenigen Ausnahmen u m Geschäfte handeln, die am Ort getätigt wurden. Ohne auf die rechtlichen Fragen, die im einzelnen zur Debatte stehen, näher einzugehen, lassen sich folgende Probleme herausheben: Der Soldat h a t Geld verliehen: C. 4, 32, 1 (Antoninus Pius, o. J.), 8 , 1 6 , 4 (a. d. J . 225), 4, 21, 5 (a. d. J . 240), 4, 35, 7 (Gordian o. J.). Der Soldat h a t Geld geborgt: C. 4. 32, 6 (a. d. J . 212). Der Soldat soll gepfändet werden: C. 7, 53, 4 (a. d. J . 216). Der Soldat h a t etwas v e r k a u f t und es reut ihn: C. 5, 72, 1 (a. d. J . 205), 4 , 5 4 , 2 (a. d. J . 222), 2 , 2 7 , 1 (o. J . u m 230), 4 , 4 4 , 6 . 7 (a. d. J . 293), 4, 4 4 , 1 4 (a. d. J . 294). Der Soldat h a t eine Erbschaft ver- bzw. g e k a u f t : C. 4, 39, 4 (a. d. J . 223), 4, 39, 6 (a. d. J . 230), dazu eine lex gemina: C. 7 , 1 0 , 3. Kauf oder Verkauf?: C. 4, 65, 9 (a. d. J . 234), 4, 48, 4 (a. d. J . 239). Der Soldat h a t f ü r jemanden gebürgt: C. 4, 65, 7 (a. d. J . 227), 4, 35, 6 (a. d. J . 238). Der Soldat h a t Ärger mit Hausbesitz: C. 8, 1, 1 (zu der gleichen komplizierten Anfrage des evocatus Aper gehören auch die Reskripte C. 8 , 1 0 , 3 und 8, 5 2 , 1 , alle aus dem J a h r e 224), 3, 33, 7 (a. d. J . 243), 3, 34, 5 (a. d. J . 246). Verträge anderer A r t : C. 2, 3, 14; 2, 4, 5. 7. Um einen großen Betrag geht es mit einiger Sicherheit nur in C. 4, 65, 7: der Soldat Septimius Terentianus h a t f ü r einen gewissen Hermes, der eine Abgabe (vectigal octavarum) auf fünf J a h r e gepachtet hatte, gebürgt. Diese Kaution kann nicht gering gewesen sein, weil sie den S t a a t sicherstellen mußte, selbst wenn aus dem Text nicht hervorgeht, daß Septimius der einzige Bürge gewesen wäre. In den anderen Fällen spricht die Wahrscheinlichkeit eher dafür, daß es sich u m mittlere Beträge handelte (eine zahlenmäßige Einschätzung ist nicht möglich). Um sich den Besitz eines Sklaven zu erhalten, haben außer den Soldaten Pompeius (bzw. Pomponius C. 4,39, 6/ 7, 10, 3) und Marcus (C. 5, 16, 2) auch ein später zu erwähnender Crescens (C. 3, 42, 1) und manche Privatleute an den Kaiser geschrieben. Der Wert wird je nach Beruf und Qualifi29 Sanders, Militärstrafrecht (vgl. A. 13), 298f.

Soldaten des 3. Jh. u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

37

kation des Sklaven geschwankt haben 30 . Immerhin besaß ein ganz armer Mann keinen Sklaven — er hätte ihn weder unterbringen noch ernähren können — ein Senator dagegen hatte es kaum nötig, deswegen eine Anfrage an den Kaiser zu richten; falls ihm wirklich an dem Menschen lag, konnte sein Anwalt zweifellos die Frage beim zuständigen Richter zu seiner Zufriedenheit regeln. Weiter: wer ein Haus eignet oder besitzt, ist nicht ganz arm — aber wer dabei über so primitive Rechtsfragen nicht Bescheid weiß, wie sie C. 3, 34, 5 und 3 , 3 3 , 7 gestellt werden (Verletzung einer Servitut; Verpflichtung des Nießbrauchers, die nötigen Reparaturen durchführen zu lassen), ist kein versierter Geschäftsmann und also vermutlich ebenfalls nicht gerade reich zu nennen. Ein Hinweis darauf, daß die umstrittenen Beträge nicht ganz geringfügig waren, ergibt sich daraus, daß mehrfach von Zinsen die Rede ist. Selbst bei den hohen antiken Zinssätzen hätte sich der Aufwand eines Prozesses doch kaum gelohnt, wenn es sich um sehr geringfügige Außenstände gehandelt hätte (C. 4, 54, 5; 4, 32, 1. 6). Außerdem ist es nicht wahrscheinlich, daß man um eine ausgesprochene Bagatelle gleich den Kaiser bemüht haben würde, wenn auch das, was dem einzelnen als Bagatelle erscheint, stark von seinem Vermögensstand abhängt. Um Grundbesitz geht es in sechs Fällen: C. 4,54, 2 ist von fundum, C. 4, 54, 5 v o n possessio, C. 4, 54, 3 ; 5, 72, 1; 2, 2 7 , 1 ; 4, 44, 14 v o n

praedium

die Rede. Über die Größe der Fläche läßt sich nichts ausmachen, die Ausdrücke werden in der juristischen Literatur synonym gebraucht. Man sieht aber eine Tendenz, das im Kriege erworbene Geld in Landbesitz anzulegen, offensichtlich über das hinaus, was einem Veteranen zugewiesen wurde, in einigen Fällen auch den Versuch, das väterliche Erbe zurückzugewinnen (C. 5, 7 2 , 1 und C. 4, 44, 14 ebenso wie in dem früher behandelten fragmentum C. 2,19, 5). Das ist ein Zeichen dafür, daß diese Soldaten nicht nur aus kleinbäuerlichen Schichten herkamen, sondern sich auch durchaus noch als Bauern fühlten. Die verhältnismäßig breite Skala der Anfragen ist immerhin ein Beweis dafür, daß die Soldaten um die Mitte des 3. Jahrhunderts während ihrer 30

W. Held, Das Ende der progressiven Entwicklung des Kolonats am Ende des 2. und in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts im Römischen Imperium, Klio 53, 1971, macht auf S. 240f. Angaben über sinkende Sklavenpreise im 2. Jahrhundert und verweist dabei auf L. Ruggini, Economia e società nell' 'Italia annonaria', Milano 1961 — aber es handelt sich dort um ausgesprochene Landwirtschaftssklaven, die zum Einsatz auf großen Gütern bestimmt waren. Soldaten hatten z. B. einen Sklaven, der ihre Ausrüstung trug, er brauchte nicht besonders hoch qualifiziert, mußte aber kräftig und vor allem vertrauenswürdig sein, er war entsprechend wertvoll.

38

L I S E L O T HUCHTHATJSEN

Dienstzeit bares Geld in der Hand hatten und damit auch Geschäfte machen konnten und durften. Seit Domitian bereits war der Anteil des Soldes, der in der Kohortenkasse deponiert werden mußte, auf 1000 Sesterzen beschränkt worden, während vorher alles, was nach Abzug von Verpflegung und Ausrüstung davon übrig blieb, bis zur Entlassung des Soldaten, bzw. bis zu seinem Tode dort stehenbleiben mußte. Neumann 31 zeigt aber, daß der Zenturio viele Mittel hatte, die ihm unterstellten Soldaten zu schröpfen, von der Bezahlung des Urlaubsscheins bis zum Abkauf der Prügelstrafe, so daß man bei ihm den Eindruck gewinnt, es könne nichts oder kaum etwas übrig geblieben sein. Dieser Eindruck wird durch die Angaben des Codex etwas gemildert.

4.4

Erbstreitigkeiten und andere vermögensrechtliche Familienzwistigkeiten

„Der Mensch ist an drei Proben zu erkennen. Erstlich: erzürne ihn. Zweitens : berausche ihn. Drittens: teile mit ihm ein Erbe. Wenn er in der dritten Probe nicht mankiert, ist er probat," sagt Johann Peter Hebel. Tatsächlich ist in einer Ausbeutergesellschaft die Stunde der Testamentseröffnung oft eine Stunde der Wahrheit, in der „dem Familienverhältnis" nur zu oft der „rührend sentimentale Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt" 32 wird — und das auch schon, ehe die Bourgeoisie an die Macht kommt. Kaum in einem anderen juristischen Bereich wird der Vorrang ¿er ökonomischen Macht vor den verwandtschaftlichen und gefühlsmäßigen Bindungen so unbarmherzig enthüllt: man braucht nur daran zu denken, wie leicht sowohl in Griechenland als auch in Rom bei der Anfechtung eines Testaments darauf verwiesen wurde, der Erblasser, der eigene Vater oder nahe Verwandte, sei offensichtlich nicht mehr ganz bei Verstand gewesen, als er das in Frage stehende Testament errichtete . . . Solche krassen Fälle spiegeln sich in den Soldatenreskripten nicht. Immerhin sind mehr als 12% aller von Soldaten gestellten Anfragen in Erbstreitigkeiten und anderen Vermögensauseinandersetzungen in der Familie ergangen, die nicht mit dem Soldatentestament zu tun haben: C. 2,43, 2; 3,33, 5; 3, 36, 6; 4, 31, 8; 4, 37, 3; 4, 52, 1; 4 , 6 4 , 1 ; 6 , 2 2 , 1 ; 6 , 2 4 , 3 ; 6 , 3 0 , 2 . 3 ; 6 , 3 1 , 4 (zwischen 223 und 293). — Was noch übrig ist, bezieht sich auf einen Streit mit Vormündern (C. 5, 53, 3), einen Streit zwischen Vater und Mutter um einen widerrechtlich verkauften Sklaven, in dem der Soldat Crescens die Partei seiner Mutter er31 Neumann (vgl. A. 13), 167. 32 K. Marx/F. Engels, Das Kommunistische Manifest, MEW 4, Berlin 1959, 465.

Soldaten des 3. Jh. u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

39

greift (C. 3, 42, 1). C. 2, 4, 8 geht es um eine Alimentenklage, C. 9, 9, 15 um eine Ehescheidung (vgl. oben S. 21). C. 2, 9, 2 liegt eine Verfahrensfrage in einem nicht näher bestimmbaren Prozeß vor, und schließlich gibt es noch zwei in integrum restitutiones von Minderjährigen (C. 2, 22, 1. 2.).

4.5

Zusammenfassung

a) Die Soldatenreskripte des 3. Jahrhunderts zeigen, daß nicht nur Privatleute, sondern auch Soldaten die Möglichkeit hatten und nutzten, sich bei rechtlichen Zweifeln direkt an den Kaiser zu wenden, und zwar nicht nur in privatrechtlichen, sondern auch in strafrechtlichen Fragen und bei Streitigkeiten wegen der Dienstordnung. Sie waren nicht an einen Instanzenweg gebunden, und die Kaiser griffen gelegentlich zu ihren Gunsten direkt in ein Verfahren ein. Das eine Reskript aus dem 2. Jahrhundert (C. 4, 32,1) genügt, um eine ähnliche Praxis zumindest in privatrechtlichen Fragen für diese Zeit zu erweisen. b) Die Reskripte bestätigen die Ansicht, daß die Soldaten aus der Schicht der Kleineigentümer und -produzenten stammten, sie erweisen weiter, in welchem Umfange sie bereits vor der Diokletianischen Heeresreform in das ökonomische Leben der Provinz, in der sie stationiert waren, verflochten waren. Die unter 4.2 behandelten Reskripte weisen aber auch darauf hin, daß die Entfernung vom Heimatort in dieser Zeit noch beachtlich gewesen sein muß, jedenfalls so groß, daß er nicht jederzeit zu erreichen war. Die Soldaten hatten nicht nur die Möglichkeit, sondern das Recht, Geldgeschäfte aller Art zu tätigen. Dabei weisen die Reskripte darauf hin, daß es um kleinere und mittlere Beträge zu gehen pflegte. Einen verhältnismäßig großen Raum nehmen die Erbstreitigkeiten ein, auch ein Beweis dafür, daß zwar Kleineigentum, aber immerhin doch ein schätzbares Eigentum bei ihnen und ihren Angehörigen vorhanden war. Die Soldatenreskripte bestätigen die aus anderen Quellen bekannte Tatsache, daß die Kaiser sich bemühten, das Kleineigentum wenigstens in gewissem Umfange gegen Übergriffe zu schützen.33 c) Für das 3. Jahrhundert ist „Barbarisierung und Provinzialisierung des römischen Heeres" ein stehender Begriff 34 . Er ist völlig berechtigt als Be33

M. Rostovtzeff, Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich, Leipzig

34

Rostovtzeff, Bd. 1, 110, mit Berufung auf Cassius Dio L X X I V , 2 „ S o wurde

1929 (Übers.), Bd. 2, 117. zweifellos das römische Heer am Ende des 2. Jh. . . . immer mehr barbarisiert und vertrat immer weniger die kultivierte Bevölkerungsschicht. Wenn man von den . . . Offizieren absieht, waren es nicht die städtischen Elemente, sondern fast ausschließlich die Söhne des flachen Landes, die dem Heer das Gepräge gaben."

40

L I S E L O T HTJCHTHAUSEN

Zeichnung dafür, daß die Zahl der Provinzialen im Heer im Verhältnis zu der der Italiker und Römer ständig zunimmt. Aber die Wörter haben auch noch eine andere, abwertende Bedeutung, die sich z. B. bei Maschkin ganz stark herausgestellt findet: „Der Dienst in der römischen Armee entfremdete den Krieger der sozialen Schicht, der er angehörte. Im III. J h . u. Z. stellten die Soldaten eine deklassierte Masse dar" 35 , eine Äußerung, die in dieser Schärfe durch die Polemik gegen Rostovtzeff geprägt ist, der die Soldaten zu Trägern einer „sozialen Revolution" machen wollte und damit ebenfalls über das Ziel hinausschoß (über seine modernistische Geschichtsauffassung braucht hier nichts mehr gesagt zu werden). 36 Ich will gar nicht bestreiten, daß die Bürger des römischen Reiches in der Zeit der Soldatenkaiser allen Grund hatten, das römische Heer kaum weniger zu fürchten als ein feindliches — dennoch widersprechen die Reskripte der Aussage Maschkins: Wer so in private Rechtsgeschäfte verflochten ist, wer Geld verleiht und hinterlegt und Grundstücke besitzt — und Streitigkeiten in dieser Hinsicht auf gerichtlichem Wege zu klären versucht! — der ist kein Teilchen einer „deklassierten Masse". Und so unerfreulich Erbstreitigkeiten an sich sein mögen — ihr Vorkommen beweist, daß die Soldaten durchaus Beziehungen zu ihren Familien und damit auch zu der sozialen Schicht hatten, der sie angehörten. d) Bei der schwierigen, um nicht zu sagen trostlosen Situation, was literarische Quellen für das 3. Jahrhundert angeht 37 , sollte man diese hundert Reskripte entschieden heranziehen und vor allem nicht vergessen, daß sie nur 4 % der Gesamtmasse ausmachen. Eine gründliche Analyse aller Reskripte unter soziologischen Aspekten verspricht, wie dieses Probe zeigt, eine entschiedene Bereicherung unserer Kenntnisse über diese dunkle Zeit. Für das Heer am Ende des 3. Jh. heißt es Bd. 2, 174: „Die anzuwerbenden Söldner wurden sorgfältig ausgesucht, teils aus den militärisch tüchtigeren Stämmen des Reiches — den Illyrern, Thrakern, Arabern, Mauren, Briten — teils aus den Reihen der Germanen und Sarmaten. Die Aushebung beschränkte sich nach Möglichkeit auf die Söhne der angesiedelten Soldaten . . . Dieses Verfahren hatte den Erfolg, daß die Kaiser sich auf den Kern der Truppen, die der Bevölkerung fast fremd gegenüberstanden und das Bewußtsein hatten, mit dem Kaiser zu stehen und zu fallen, verlassen konnten; der Kaiser hatte die Möglichkeit, diese Truppen im Notfalle sogar gegen die Provinzialheere zu verwenden." 35 N. A. Maschkin, Römische Geschichte (1949), dt. Berlin 1953, 585. 36 Rostovtzeff, Bd. 2, besonders Kapitel X, der Ausdruck fällt auf S. 156, und Kapitel XII, besonders Uli. 37 Rostovtzeff, Bd. 2, 143—49 gibt eine Ubersicht, die immer noch brauchbar ist. Den Codex (der ja auch für die übrige Bevölkerung manchen Aufschluß geben könnte), erwähnt er nicht, die Digesten werden dagegen herangezogen.

Soldaten des 3. Jh. u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

5.

Die

Herkunft

der

41

Adressaten

Z u p r ü f e n ist die F r a g e , ob der K r e i s d e r j e n i g e n S o l d a t e n , die v o m R e c h t der A n f r a g e an den K a i s e r Gebrauch m a c h t e n , i r g e n d w i e beschränkt w a r . R a n g m ä ß i g g a b es offensichtlich keine B e g r e n z u n g nach u n t e n : die Z a h l d e r Z e n t u r i o n e n b l e i b t i m R a h m e n des prozentual zu E r w a r t e n d e n (2), die d e r evocati l i e g t allerdings höher (8, denn drei d e r R e s k r i p t e gehören z u s a m m e n ) . D e r Unterschied w i r d dadurch b e g r ü n d e t sein, daß sie durch ihren Dienst in der V e r w a l t u n g , u m nicht zu sagen „ S c h r e i b s t u b e " , doch e t w a s v e r s i e r t e r w a r e n , leichter G e l e g e n h e i t zu P r i v a t g e s c h ä f t e n f a n d e n als andere u n d sich auch leichter zu einer derartigen A n f r a g e entschlossen 3 8 . T r o t z d e m

bleiben

g e n ü g e n d R e s k r i p t e an einfache S o l d a t e n übrig (84, dazu 6 an veterani,

wenn

m a n auch hier j e z w e i z u s a m m e n g e h ö r i g e R e s k r i p t e a b z i e h t ) , um die o b e n g e m a c h t e A u s s a g e a u f r e c h t zu erhalten. Wenn

also der R a n g n i c h t entscheidend w a r , k ö n n t e die H e r k u n f t

der

S o l d a t e n eine R o l l e spielen. 38

Die rechtlichen Probleme sind bei ihnen vergleichsweise kompliziert: 1. C. 2, 4, 5. 7. de transactionibus

(A . . . evocatus a. d. J. 227; Licinius

Timotheus,

a. d. J. 238) 2. C. 3, 33, 5 de usufructu (...

evocatus, a. d. J. 226)

3. C. 4, 32, 1 de usuris (Aurelius

evocatus, das einzige gesicherte Reskript aus dem

2. Jh., Ant. Pius, o. J.), 4. C. 4, 52, 1 de communium

rerum alienatione (Apollodorus

evocatus, Gordian o. J.),

5. C. 4, 54, 5 de pactis inier emptorem et venditorem compositis

(Aurelius

Longinus

evocatus, Gordian o. J.), 6. C. 8, 16, 4 quae res pignori

obligari possunt (A..

7. C. 8, 1, 1. 10, 3. 52, 1 de interdictis;

. evocatus, a. d. J. 225),

deaedibus privatis;

quae sit longa consuetudo

[Aper evocatus, a. d. J. 224). Andererseits fallen sie aber damit keineswegs völlig aus dem Rahmen, denn im ersten und zweiten Falle hat noch ein Soldat, im 3., 4. und 5. haben sogar je zwei Soldaten Anfragen, die in den gleichen titulus fallen, lediglich die Anfragen 5 und 6 werden nicht von anderen Militärpersonen gestellt. Die Namen der evocati — leider sind gerade von ihnen drei nicht überliefert — stehen übrigens in einem gewissen Widerspruch zu dem Äußerungen Kromayer/Veiths, vgl. A . 8. Jedenfalls zeigen sie, daß auch Nichtrömer in den cohortes

urbanae

Dienst tun und in diese Verwaltungslaufbahn gelangen konnten, denn Apollodorus und Aurelius Longinus sind höchstwahrscheinlich Provinziale — v g l . die Namenanalyse. Das Material ist aber so dünn, daß man nicht sehen kann, ob es sich um Ausnahmen handelt. Die beiden Zenturionen, Germanus (C. 2, 50, 6 a. d. J. 254, das einzige Reskript der Kaiser Valerianus und Gallienus an einen Soldaten) und Petronius (C. 2, 50, 2 a. d. J. 222) erkundigten sich nach der in integrum

restitutio.

42

LISELOT HUCHTHAUSEN

Um darüber etwas zu ermitteln, bleibt nur die Analyse der Namen. Aus diesen ist die s o z i a l e Herkunft allerdings praktisch nicht zu erkennen, da in den meisten Fällen nomen gentile o d e r cognomen angegeben ist, ein vornehmes nomen gentile aber ebensogut einem Freigelassenen gehören kann wie seinem patronus.

Die kaiserlichen nomina

gentilicia

(Aelius,

Aurelius,

Flavius)

weisen

zwar darauf hin, daß der Träger oder einer seiner Vorfahren das Bürgerrecht durch kaiserliche I-Iuld oder durch den Militärdienst erworben hat — ob seine Familie es aber inzwischen zum Ritterrang oder noch weiter gebracht hat, kann man nicht erkennen 39 . Einige Namen (Philippus, Tryphon) deuten zwar auf Sklaven bzw. Freigelassene hin — aber einerseits sagt das noch gar nichts über ihr Vermögen, und andererseits können Träger griechischer Namen, selbst wenn diese inschriftlich mehrfach für liberti belegt sind, ebensogut aus einer angesehen Provinzialenfamilie stammen; wie E. Fraenkel resigniert bemerkt: „In der Kaiserzeit ist überall auf griechischem Boden der Unterschied zwischen vornehmen und unvornehmen Namen völlig verblaßt" 4 0 . Es bedarf aber auch keines besonderen Beweises für die Tatsache, daß Mitglieder der eigentlichen Sldavenhalterklasse, der wohlhabenden und reichen Bevölkerungsschichten, unter den Soldaten dieser Periode nicht mehr zu suchen sind. Die Senatoren waren seit Severus vom Heeresdienst praktisch ausgeschlossen, und das Freikaufsystem führte dazu, daß jeder, der es sich leisten konnte, sich vertreten ließ — vorkommende Einzelfälle würden hier tatsächlich eine Deklassierung bedeuten. Es bleibt der Versuch, etwas über die l o k a l e Herkunft der Fragesteller zu ermitteln.

5.1

Örtlich fixierbare Namen

Unter den Empfängern der Reskripte zeichnet sich eine größere Gruppe von Soldaten mit griechischen Namen ab: Antigonos

(C. 4, 32, 6 a. d. J . 212),

Apollodorus (4, 52, 1, Gordian o. J.), Charisius (C. 4, 54, 2 a. d. J . 222), Licinius Timotheus (C. 2, 4, 7 a. d. J . 211) Philippus (C. 3, 32, 8 a. d. J . 246),

Timocrates (C. 4, 34, 4, Gordian o. J.), 39

Aurelius Diogenes — ein hoher Offizier im Range eines Senators, vir perfectissimus, in Castra Lambaesitana in Africa (CIL VIII 2573); ein Mitglied der Praetorianergarde (CIL VI 2638); ein Angehöriger der römischen Feuerwehr (CIL VI 32748 II 7). E. Fraenkel, Namenwesen, RE X V I 2, 1935, 1647.

Soldaten des 3. Jh. u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

43

Tryphon (C. 2, 22, 2 a. d. J . 241) und die in dieser Gestalt inschriftlich nicht nachweisbaren Doppelnamen mit griechischem cognomen Flavius

Aristodemus

Aelius

Sosibius

Aurelius

(C. 2 , 5 0 , 3 a . d . J . 2 2 3 ) ,

(C. 4 , 3 5 , 6 a . d . J . 2 3 8 ) ,

Basilides

(C. 4 , 4 4 , 1 4 a . d . J . 2 9 4 ) .

Einigermaßen häufig sind nach dem Ausweis des C I L 4 1 Philippus, mit einigem A b s t a n d noch Tryphon; besonders selten sind Aristodemus (CIL V I I I 22639 und X I I I 2163), Sosibius ( C I L X I V 1354, V I I I 22637, 97), Timocrates (CIL X I V 158 — ein eques aus Ostia — und I I I 7988, ein libertus, in Sarmizegetusa — Col.

Ulpia

Traiana

Augusta

Dacica)

und

Licinius

Timotheus,

(VI,

10247)

Alle N a m e n sind bei Bechtel 4 2 belegt. Aber für die H e r k u n f t der Männer ist d a m i t noch nicht sehr viel gewonnen. Daß sie tatsächlich Griechen waren, ist nicht weniger noch mehr wahrscheinlich, als daß sie aus Kleinasien, Syrien, Großgriechenland oder auch Aegypten stammten. Allerdings aus bäuerlichem italischem S t a m m dürften sie k a u m gewachsen sein, ebensowenig wie m a n in ihnen unbelesene Hirten v o m Schlage eines Maximinus T h r a x zu suchen hat. Dagegen spricht, daß sie alle geschäftlich nicht unbeschlagen 41

42

Corpus Inscriptionum Latinarum, herausgegeben von der Deutschen Akademie der Wissenschaften; benutzt wurden folgende Abteilungen: II Inscriptiones Hispaniae Latinae, 1869, mit Suppl. von 1892, III Inscriptiones Asiae, provinciarum Europae Graecarum, Illyrici Latinae, 1873, mit 5 Fase. Nachtr. 1889-1902 (kurz: „Östliche Provinzen"), V Inscriptiones Galliae Cisalpinae Latinae, 2 Teile, 1872—1877, VI Inscriptiones urbis Romae Latinae, 5 Teile und von Teil 6 Fase. 1, 1876— 1926 (hier fehlt bisher der Index cognominum), VII Inscriptiones Britanniae Latinae, 1873, VIII Inscriptiones Africa Latinae, 2 Teile, 1881, mit Supplementen 1891—1955, I X Inscriptiones Calabriae, Apuliae, Samnii, Sabinorum, Piceni Lalinae, 1883 (kurz: „Südilalien"), X Inscriptiones Bruttiorum, Lucaniae, Campaniae, Siciliae, Sardiniae Latinae, 1883 (kurz: „Großgriechenland"), X I Inscriptiones Aemiliae, Etruriae, Umbriae, Latinae 2 Teile, 1888—1926, X I I Inscriptiones Galliae Narbonensis Latinae, 1888, X I I I Inscriptiones trium Galliarum et Germaniarum Latinae, 6 Teile, 1899—1933 (kurz: „Nordgallien und Germanien"), X I V Inscriptiones Latii veteris Latinae, 1887, mit Nachträgen von 1899—1933, X V I Diplomata militaria, 1936. Für Rom habe ich die cognomina nicht systematisch zusammengesucht, sondern mich auf den Index nominum beschränkt. F. Bechtel, Die historischen Namen des Griechischen bis zur Kaiserzeit, Halle, 1917.

44

L I S E L O T ITUCHTHAUSEN

waren, wie aus der Art ihrer aus den Reskripten zu erschließenden Anfragen hervorgeht 43 . Das einzige 'Barbarenvolk', das sich namentlich sicher nachweisen läßt, sind die Thraker mit Dizo(n)

(C. 4, 7, 3 a. d. J . 290),

Mucatraulus (C. 9 , 1 , 1 0 a. d. J . 239 u n d C. 4, 44, 7 a. d. J . 293), Zinima (C. 4, 21, 7 a. d. J . 286)«.

Diese Thraker waren also offensichtlich stolz auf ihre Herkunft und romanisierten ihre Namen, wenn überhaupt, so nur oberflächlich. Auch unter den übrigen Reskriptempfängern sind mehrere Mucatrauli u n d ein Doles. N a c h Thrakien weist auch der Doppelname Aurelius Longinus (C. 4, 54, 5,

Gordian, o. J.). Von den sechs in Rom nachweisbaren Trägern dieses Namens stammte einer (CIL VI 32640) aus Anchialos/Pomorie, zwei andere setzten jeder einem aus Dakien stammenden Kameraden einen Grabstein (CIL VI 2698, 3236), einer stammte selbst aus Moesien (CIL VI 3292). Mehrere Träger des Namens waren equites singulares (CIL VI 3209, 3236, 3296) Von den sieben Trägern des Namens Aurelius Diogenes (C. 4, 39, 4, a. d.

J . 223), die in Rom inschriftlich belegt sind, stammte einer aus Philippopolis/ Plovdiv (CIL VI 32563, 10) und einer aus Serdica/Sophia (CIL VI 2638), die Herkunft der übrigen ist nicht zu ermitteln, allerdings weist noch eine große 43

44

Antigonos (C. 4, 32, 6) de usuris, Apollodorus (evocatus) (C. 4, 52, 1) de communium rerum alienatione Aurelius Basilides (C. 4, 44, 14) de resciscenda venditione, Charisius (C. 4, 54, 2) de pactis inter emptorem et venditorem compositis, Aelius Sosibius (C. 4, 35, 6) mandati, Philippus (C. 3, 32, 8) de vindicatione, Timocrates (C. 4, 43, 4) depositi (er versucht, noch Zinsen herauszuholen, das geht aber nicht); Licinius Timotheus (C. 2, 4, 7) de transactionibus (Streit mit dem procurator) Flavius Aristodemus (C. 2, 50, 3) de restitutione militum Tryphon (C. 2, 22, 2) de filio familias minore. Die Namen sind sämtlich nicht häufig. Mucatraulus (bzw. Mucatraulis) kommt z. B. CIL XVI 146 auf einem Militärdiplom aus Serdica/Sofia und CIL XIII 7292 = 11941 auf dem Grabstein eines Soldaten vor, als dessen Heimatort Anchialos/Pomorie angegegeben ist. Dizo(n) kommt außer in III 870, aus Cluj, VI 3210 in der Form Diso vor: Aur. Diso eques sing. n(atione) Thrax. Zinama findet sich auf einer Inschrift aus Moesia superior (CIL III 8147), außerdem in Rom auf einem stark beschädigten und schlecht geschriebenen Soldatengrabstein, den Kameraden dem Aur. Zinama setzten (CIL VI 2638) — er oder einer von ihnen, das ist nicht klar, war cives Serdicensis.

S o l d a t e n des 3. J h . u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

45

Weihinschrift für den Deus Sabadius (= Sabazios), eine phrygische Gottheit, auf der unter anderen conalarii des Stifters Julius Faustus auch ein Aurelius Diogenes verzeichnet ist (CIL VI 32748 II 7), und die aus der Zeit Gordians stammt, ebenfalls nach dem Osten, (vgl. auch A. 39) Noch einige andere Namen sprechen für die Herkunft des Trägers aus bestimmten, wenn auch nicht allzu fest umrissenen Teilen des Reiches: Celsinus (C. 4, 34, 2 a. d. J . 238) ist in Africa und den östlichen Provinzen nicht ganz selten, während der Name sonst nur vereinzelt vorkommt, das gleiche gilt für Emeritus (C. 4, 31, 8, Gordian o. J . und C. 5, 34, 4, Philippus a . d . J . 2 4 4 ) , Lucianus

(C. 3, 3 4 , 5 a . d . J . 2 4 6 ) , Ulpianus

(C. 3, 3 3 , 7 a. d . J .

243 und C. 4, 52, 4, Diokletian o. J . ) und Victorianus (C. 2, 3 , 1 9 a. d. J . 290). Für Ulpian und Lukian wird dieser Befund auch durch die literarische Überlieferung bestätigt 45 , in den übrigen Fällen widerspricht sie mindestens nicht. Rogatus (C. 2, 9, 2 a. d. J . 238) ist ein in Africa sehr häufiger Name, der anderwärts selten, in Großgriechenland und Süditalien nie vorkommt — die sieben Träger dieses Namens in Latium erklären sich durch die Hafenstadt Ostia, in der die Bevölkerung natürlich 'international' war. Munianus (C. 3, 32, 4 a. d. J . 238) findet sich in Africa viermal und sonst gar nicht 46 . Modestinus (C. 6, 31, 4 a. d. J . 293) ist in Spanien immerhin siebenmal vertreten, sonst überall 2—3mal; in der Cisalpina, in Großgriechenland und Africa fehlt der Name völlig. Avitus (C. 3, 37, 2 a. d. J . 222) ist in Spanien besonders häufig, kommt aber auch in allen anderen Provinzen (einschließlich Großgriechenland und der Cisalpina) häufiger vor als in Rom und im eigentlich italischen Gebiet. Gaianus

schließlich ( N o v i s i u s Gaianus,

C. 4, 4 4 , 6 a . d . J . 2 9 3 ) i s t l i t e r a r i s c h

nur als Name von Männern aus dem Südosten des Reiches ausgewiesen4781, die « Vgl. die RE-Artikel Ulpianus, R E V I I I A 1, 1961, 5 6 7 - 5 7 0 und Lucianus R E X I I I 2, 1927, 1614 (jeweils mehrere Verfasser). Von 7 dort genannten Ulpiani kommen fünf aus Phönizien bzw. v o m E u p h r a t ; außer dem berühmten Lukian von S a m o s a t e sind noch drei Syrer erwähnt, nur ein Lucianus war Senator in der Zeit Domitians, kann also auch schon aus einer neusenatorischen Familie stammen. « C I L V I I I 9819. 11139 = 60. 14313. 24969 - die letzte Inschrift steht auf dem der das seltene Alter zerbrochenen Grabstein eines Mannes namens Munianus, von 103 J a h r e n erreichte. Für eine Verbindung des Reskriptes mit C. 2, 52, 3, Mucianus aus dem gleichen J a h r , aber mit anderem D a t u m , sehe ich keinen zwingenden Grund. « a ) Zu Gaianus vgl. R E V I I 1, 1910, 483 f. - Artikel von Stein, W. Schmid, Seeck, und R E Suppl. I X , 1962, 1745 Ulbius Gaianus, von Hanslik.

46

L I S E L O T HUCHTHATXSEN

inschriftlichen Belege sind nicht so zahlreich, daß man damit allein etwas erweisen könnte. Doch zeigt eine Inschrift aus der Cisalpina in griechischen Buchstaben (CIL V 8673), die einem Leontinos Gambros Gaianos Konstantinopolitou gesetzt ist, immerhin in die gleiche Richtung. Das Novisius des Namens könnte eine Verschreibung oder Nebenform für Novicias sein — in dieser Form ist der Name nämlich nirgendwo belegt.4?15 Etwas kompliziert liegt die Sache bei Aurelius — dem bei weitem häufigsten unter den Soldatennamen: Aurelius allein (C. 4, 32, 1 Ant. Pius o. J., C. 4, 21, 5, a. d. J. 240, C. 4, 35, 7, Gordian o. J.), (Aurelius Basilides, Aurelius Diogenes und Aurelius Longinus wurden bereits behandelt), Aurelius Fuscus (C. 4, 65, 9 a. d. J. 234) 48 , Aurelius Herculicinus (C. 9, 16, 1 a. d. J. 215), Aurelius Maro (C. 4, 44, 1, a. d. J. 222), Aurelius Victorinus (C. 4, 37, 3, Diokletian o. J.) 4 9 . 47b

48

49

) Novicius findet sich in der Cisalpina: CIL V 3679 — ein Sklave — und CIL V 7837 — ein Maultierverleiher (mulio)', außerdem auf einer Inschrift aus Tiddies (Kheneg) in Nordafrika (CIL VIII 6721). Zwei römische Inschriften erwähnen den Namen Aurelius Fuscus, eine gehört zu den Latercula Praetorianorum (CIL VI 32624b 5), dort kommt M. Aur. m. f . Jul. Fuscus aus Philippopolis/Plovdiv vor. Über die Herkunft des anderen Aurelius Fuscus, der seinem gleichnamigen zweijährigen Söhnchen einen Grabstein setzte (CIL VI 7896), ist nichts zu erfahren. Der einzige inschriftlich häufig belegte Doppelname ist Aurelius Victorinus Er kommt in Rom 16mal, in dem Gebiet zwischen Regensburg und Split zehnmal, in Nordgallien und Germanien sowie in Latium je zweimal und in der Cisalpina einmal vor. Der Anteil von Soldaten an den Inschriften ist recht hoch — Victorinus war ja ein Name guten Omens für einen Krieger. Aus Rom gehören hierher ein eques singularis natione Daquus (CIL VI 3236), zwei Soldaten der II. Parthischen Legion (CIL VI 3401, 3404), die vermutlich k e i n e Parther waren, denn diese Legion stand seit ihrer Gründung durch Septimius Severus in den Albanerbergen, vielleicht als potentielles Gegengewicht gegen die Praetorianer. CIL I I I 10299 ist der Grabstein eines Soldaten der I. cohors Thracum Germanica aus Pannonia Inferior, CIL I I I 11966 einer aus Regensburg:

D M Aurel. Victorinus (sie!) mil. leg. III. Ital. Aber es gibt unter den Trägern dieses Namens auch Zivilisten, einen Kopisten (librarius, CIL I I I 3166), dem seine Kollegen den Grabstein setzten, einen tabularius Aug. libertus (CIL VI 9071 — er könnte Archivar, aber auch Legionsschreiber gewesen sein) und einen Sänftenträger (lecticarius, CIL VI 8875). In Buda setzte ein Aur. Victorinus, der anscheinend als Reitknecht (strator) sein Glück gemacht hatte, Jupiter und Juno einen kleinen Altar (CIL I I I 10426), und in

Soldaten des 3. Jh. u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

47

Bei allen Aurelii, die seit der Zeit Caracallas schreiben, kann man ziemlich zuversichtlich annehmen, daß sie ihr nomen gentile der Tatsache verdanken, daß sie oder ihr Vater oder Großvater vor ihnen durch den Militärdienst unter den Severern, die diesen Namen in ihren offiziellen Kaisernamen einfügten, zum Bürgerrecht gekommen sind. Soldatensöhne wurden mit sanfter Gewalt und durch die Gewährung bestimmter Vorrechte für diesen Fall dazu angehalten, den Beruf ihres Vaters ebenfalls zu ergreifen. Ein Blick in die Latercula Praetorianorum und die Grabinschriften von CIL VI zeigt, daß die Zahl der Träger diese Namens im römischen Heer buchstäblich Legion war. Wir hätten also nur den Aurelius C. 4, 32, 1 (unter Pius) auszuschalten, die übrigen waren Provinziale, aber ihre genaue Herkunft kann man nicht angeben. Macrinus (C. 2, 12, 7 a. d. J . 223) fehlt in Africa und Süditalien ganz, ist in der Cisalpina und der Narbonensis 30 bzw. 21mal vertreten und im übrigen Gallien und den germanischen Provinzen ebenso wie in den Ostprovinzen und in Spanien nicht ganz selten. In Italien und Britannien kommt der Name nur vereinzelt vor. Terentianus

(Septimius

Terentianus

C. 4, 6 5 , 7, a . d. J . 2 2 7 ) k o m m t

im

eigentlichen italischen Gebiet sowie in Gallien (einschließlich Narbonensis) und Germanien nur vereinzelt vor, in Spanien immerhin zehnmal, in den östlichen Provinzen 13mal und in der Cisalpina und in Großgriechenland je f ü n f m a l . D a s nomen gentile Septimius

ist überall gleichmäßig häufig, die Ver-

bindung beider Namen ist nicht nachzuweisen. In diesen beiden Fällen ist eine provinzielle Herkunft ebenfalls naheliegend. Die Form Annaeus (C. 12, 35, 1 o. J . ) ist in den meisten Gebieten seltener als Annius. Aber ohne cognomen läßt sich keine Entscheidung treffen. Diesen Namen s tehen auch einige gegenüber, die eine i t a l i s c h e H e r k u n f t ihrer Träger glaublich machen: Hilarianus (C. 9, 9, 15 a. d. J . 242) ist nur in Latium einigermaßen verbreitet (12 Belege); Split fand sich der Grabstein (CIL III 2225), den ein anderer Aurelius Victorinus seiner jung verstorbenen Ehefrau setzte; liebevoll, wenn auch in schlechtem Latein, ist die Inschrift abgefaßt. Die Leute sind offensichtlich Provinziale, aber der Radius ist diesmal ziemlich weit zu schlagen. Maro ist ein etruskischer Name, vgl. Wilhelm Schulze, Zur Geschichte lateinischer Eigennamen, Güttingen 1904, Nachdruck Berlin-Zürich-Dublin 1966, bes. 189, 306, aber das hat in dieser späten Zeit nicht mehr viel zu bedeuten. Der Name ist z. B. in Spanien und in der Cisalpina häufiger belegt als in Etrurien selbst. Aurelius Maro kommt einmal, CIL VI 2010 II 20, vor.

48

LISELOT HUCHTHAUSEN

Venuleius (C. 7, 3 5 , 1 a. d. J . 224) kommt außerhalb Roms und Oberitaliens nur vereinzelt vor, in Rom allerdings verhältnismäßg oft mit griechischem cognomen, also als Name von Freigelassenen; Thrasea (C. 4, 64, 1 a. d. J . 238) gibt es nur in Italien; Mestrius (C. 4, 34, 1, a. d. J . 234) stammt wohl aus Oberitalien, kommt auch in Rom und der Cisalpina nicht selten vor — allerdings auch 14mal in den Ostprovinzen, während dieser Name in Spanien, Britannien, Africa, der Narbonensis völlig fehlt. Auch Silvester (C. 4, 48, 4 a. d. J . 239) hat sein Hauptverbreitungsgebiet in Italien, kommt allerdings ebenfalls zehnmal in den Ostprovinzen vor. 5.2

Örtlich nicht fixierbare Namen

Eine große Anzahl der vorkommenden Namen sind aber in allen Teilen des Reiches, bis hinauf in das ferne Britannien, so verbreitet, daß eine Zuordnung zu einem bestimmten Gebiet unmöglich ist. Es sind das die nomina gentilicia: Aemilius, Annaeus (allerdings ist Annius häufiger, diese Form ist nur in Africa, den Ostprovinzen und Mittelitalien verbreitet), Caecilius, Cassius, Junius, Petronius (2 Reskripte), Pompeius und Pomponius (insgesamt 3 Reskripte, davon gehören C. 7,10, 3 und 4, 39, 6 trotz der verschiedenen Namen zusammen), Valerius; unklar ist Aurelius vor der Severerzeit. Außerdem die cognomina: Aper (3 zusammengehörige Reskripte), Aurelianus, Candidus, Carus (vielleicht gallischer Herkunft, aber durch die Homonymie mit carus überall verbreitet), Celer (!)50, Crescens (!), Felix (!!), Florentinus (3 Reskripte), Felicianus, Florus, Frontinus, Gallus, Germanus, Ingenuus, Justinus, Justus (!), Marcellus, Marcus (2 Reskripte), Maximus (!), Priscus (!), Pudens (!), Rufus (!!), Severus (!), Valens (1), Valentinus (!), Vitalis (l), Secundinus (3 Reskripte, C. 2, 52, 2 a. d. J . 238; 2, 4 9 , 1 a. d. J . 239; 2, 50, 5 a. d. J . 240 es ist möglich, daß die beiden letzten zusammengehören); Priscianus ist nur in Spanien, Sabinianus in Spanien und der Narbonensis selten. Einige andere Namen kommen in verschiedenen Reichsteilen vor, aber jeweils so selten, daß eine statistische Aussage nicht zu wagen ist; da sie im Gegensatz zu Dizo, Mucatraulus nicht als unrömisch zu fixieren sind: Brutus, Candianus, Domnus, Gallicanus (ein senatorisches cognomen noch in der Kaiserzeit!), Herennianus, Mucianus (nicht in Spanien), Septimus. 50

(!) bedeutet, daß der Name besonders häufig vorkommt.

S o l d a t e n des 3. J h . u. Z. als K o r r e s p o n d e n t e n der kaiserlichen K a n z l e i

49

Niemals zu belegen sind Austronius (vielleicht eine Verschreibung für Autronius, einen in Italien nicht seltenen Namen — die beiden Reskripte C. 4, 34, 3 und 3 , 3 2 , 6 sind Teile e i n e s Schreibens), Aeternius (C. 6, 21, 8) u n d Vicianus

5.3

(C. 2 , 1 2 , 1 3 — Vibianus

k ä m e vor).

Ergebnisse der Namenanalyse

Den 49 Namen (55 Personen), über deren Herkunft sich nichts ermitteln läßt, stehen immerhin gegenüber: 10 griechische Namen, 3 thrakische Namen (4 Personen: Dizo, Mucatraulus (2), Zinima), 2 potentiell thrakische Namen (Aur. Longinus, Aur. Diogenes), 2 Namen, deren Herkunft aus Africa wahrscheinlich ist (Rogatus, Munianus), 5 Namen (7 Personen), die wahrscheinlich aus Africa, dem Orient oder vom B a l k a n s t a m m e n (Celsinus,

Emeritus

(2),

Lucianus,

Ulpianus

Victo-

(2),

rianus),

1 Name, der nach dem Orient weist (Gaianos), 2 Namen, bei denen einiges für spanische Herkunft spricht (Acitus,

Modesti-

nus),

1 Name (6 Personen), bei dem provinzielle Herkunft sicher ist, ohne daß man sich örtlich genauer festlegen könnte ( Aurelius (2) und seine Verbindungen Aur.

Herculianus,

Aur.

Maro,

Aur.

Fuscus,

Aur.

Victorinus),

2 Namen, bei denen sich jedenfalls bestimmte Gebiete als Herkunftsort ausSeptimius schließen lassen, provinziale Herkunft liegt nahe (Macrinus, Terentianus);

5 Namen schließlich, die eine italische Herkunft ihrer Träger zwar nicht erweisen, aber doch vermuten lassen, wenn es sich auch um Freigelassene h a n d e l n k ö n n t e (Hilarianus,

Venuleius,

Thrasea,

Mestrius,

Silvester)

Das sind 32 Namen (40 Personen) 51 . Sichten wir die Ergebnisse mit aller gebotenen Vorsicht — denn die Herkunft ist mit Ausnahme der vier Thraker überall nur mit einer bes timmten Wahrscheinlichkeit, nie mit Gewißheit zu ermitteln —, so fällt folgendes a u f : 1. Ausländische Namen fehlen bis auf die griechischen und thrakischen, während auf Inschriften germanische, keltische und orientalische 52 Namen 51

Die Differenz zur Zahl des R e s k r i p t e k o m m t d a d u r c h z u s t a n d e , d a ß in 4 F ä l l e n der N a m e des E m p f ä n g e r s nicht g e n a n n t wird bzw. verloren ist, u n d d a ß e i n m a l 3 u n d z w e i m a l 2 R e s k r i p t e z u s a m m e n g e h ö r e n , w ä h r e n d andererseits ein R e s k r i p t 3 ( 2 ? )

52

4

. A d r e s s a t e n h a t (C. 4, 21, 5 Aurelio Prisco et Marco militibus). D a ich kein S p r a c h w i s s e n s c h a f t l e r bin, d r ü c k e ich m i c h b e w u ß t vorsichtig a u s . Altertumswissenschaft

50

LISELOT HTJCHTHAUSEN"

durchaus vorkommen 53 , obwohl nach der Kulturhöhe und der Dauer ihrer Zugehörigkeit zum römischen Reich die Thraker nicht gerade zur Beschäftigung mit dem römischen R e c h t vor den anderen prädestiniert erscheinen. Man wird in diesem Zusammenhang aber bemerken, daß im Gegensatz zu den Anfragen der Griechen die der Thraker nicht komplizierte Privatrechtssachen, sondern persönliche Ärgernisse betreffen 54 . 2. Von den vier gesicherten Thrakerreskripten kommen drei aus der Kanzlei Diokletians, und von den 31 anderen, bei denen provinzielle Herkunft des Fragestellers wahrscheinlich ist, stammen noch sechs aus der gleichen Quelle 55 . Der Anteil Diokletians an den Provinzialenreskripten, wenn diese Abkürzung einmal gestattet ist, ist also fast dreimal so hoch (28%) wie der an der Gesamtmasse der Soldatenreskripte (11%). Auch Gordians Anteil an den Provinzialenreskripten ist mit 13 ( 3 6 % ) hoch 56 , liegt aber noch etwas unter seinem Anteil an den Soldatenreskripten insgesamt (38%). Immerhin sei angemerkt, daß gerade die beiden Soldaten, deren Herkunft aus Africa, der Stammprovinz der Gordiane, naheliegt (Rogatus, Munianus) sich an ihn wandten, während die Thraker vielleicht den Illyrer Diokletian als einen Landsmann ansahen, zu dem sie besonderes Vertrauen hatten 5 7 . 53 Allerdings habe ich die Soldateneinschriften in dieser Hinsicht noch nicht systematisch durchforscht. 54 C. 4, 21, 7 : verlorenes Militärdiplom C. 4, 7, 3 : die Erpressungsklage, vgl. S. 27f. C. 9, 1, 10: Möglichkeit, als Soldat als Ankläger gegen jemanden aufzutreten, der ein crimen ad tuam tuorumque iniuriam pertinens begangen hat, C. 4, 44, 7 : Gefragt war nach der Möglichkeit, einen Verkauf rückgängig zu machen. Die Antwort ist eine ganz schlichte und leicht verständliche Belehrung über die Rechtsprinzipien, die das verbieten, und die letzten Endes auch im Interesse des Anfragenden und seiner Kameraden hegen, da sie im umgekehrten Falle auch nicht möchten, daß ein anderer sie so behandelte: Ratas manere semper perfectas iure venditiones vestra etiam interest. Nam si oblato pretio rescindere venditionem facile permittatur, eveniet, ut et si quid vos laboribus vestris a fisco nostro vel a privalo comparaveritis, eadem lege conveniamini, quam, vobis tribui postulatis. 5 5 Dizo, Mucatraulus, Zinima; Aur. Basilides, Ulpianus, Modestinus, Victorianus, Aur. Victorinus, Novisius Gaianos. 56 Apollodorus, Timocrates, Trypho, Sosibius, Mucatraulus, Aur. Longinus, Celsinus, Emeritus, Ulpianus, Rogatus, Munianus, 2mal Aurelius. 57 Die Zahl der Reskripte des Philippus Arabs ist mit 5 so klein, daß sie keine zuverlässige statistische Auswertung mehr gestattet. So sei nur hier in der Anmerkung darauf hingewiesen, daß Lucianus und Emeritus recht gut engere Landsleute dieses Kaisers gewesen sein können.

Soldaten des 3. Jh. u. Z. als Korrespondenten der kaiserlichen Kanzlei

51

3. Der Anteil der Italiker an den Reskripten läßt sich aus den Namen nicht ablesen. Es läßt sich nicht erweisen, daß sie im Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Zahl im Heer wesentlich stärker an den Anfragen beteiligt gewesen wären, aber auch das Gegenteil ist nicht zu belegen. 4. Die wenigen Doppelnamen, die überhaupt zu ermitteln waren, sind unter den Inschriften der Praetorianer und der equites singulares in Rom zu finden — das kann darauf hindeuten, daß auch diese Truppen sich an den Anfragen beteiligten, obwohl in den Überschriften keine Kennzeichnung vorkommt. Ein starkes Übergewicht unter den Fragestellern wird aber durch die verhältnismäßig hohe Zahl der Fälle unwahrscheinlich gemacht, in denen der Fragende an den praeses provinciae verwiesen wird. Nur wo allgemein von competens iudex die Rede ist (z. B . C. 4, 7, 3), könnte der römische Prätor gemeint sein. 5. Soweit etwas über die lokale Herkunft der Anfragenden zu ermitteln ist, sind die Hinweise auf die östliche Reichshälfte recht konkret (einschließlich Africa), für Spanien sind sie nur bedingt tragfähig. Namen, die eindeutig auf Germanien, Britannien, Gallien weisen würden, fehlen. Jedoch kommen so viele Namen vor, die in allen Pieichsteilen häufig sind, daß kein Gebiet ausgeschlossen werden kann. Insgesamt ermutigt das Ergebnis dieser Analyse ebenso wie das der vorhergehenden Untersuchung (vgl. 4.5) zu einer Einbeziehung weiterer Reskripte in die Betrachtung. Bei einer größeren Stichprobe wird das Ergebnis auch vom statistischen Standpunkt her noch aussagekräftiger. Es müßten sich Aussagen darüber gewinnen lassen, um was für Werte es in den Anfragen ging, d. h. welchen Bevölkerungsschichten die Anfragenden entstammten — und welcher Herkunft wenigstens ein Teil der Adressaten war. Dabei könnten die Ansichten über die Verbreitung der Anwendung des römischen Rechtes gegenüber den griechischen Rechten bestätigt oder modifiziert werden, und es würde sich auch zeigen, ob eine besonders enge Beziehung der Kaiser zu der Bevölkerung ihrer Heimatprovinz sich tatsächlich nachweisen läßt. 5 8 58 j ) a s undatierte Reskript Caracallas an Cratus und Donatus (C. 4, 32, 10) ist bei der Auswertung übersehen worden. Es geht um die Zinszahlung, ohne daß zu sehen wäre, ob die beiden Gläubiger oder Schuldner sind.

HERBERT BOGE

Die Tachygraphie — eine Erfindung römischer Sklaven N e u e s z u r a n t i k e n S c h n e l l s c h r i f t u n d zur F r a g e der P r i o r i t ä t ihrer Erfindung!

Die Anfänge der Schnellschrift liegen nicht in der Neuzeit, sondern in der Antike; es herrscht Übereinstimmung darüber, daß „es im alten Orient, abgesehen von gewissen Abkürzungen der gewöhnlichen Schrift auf Münzen u. a., keine Kurzschrift gegeben hat" 2 . Eindeutige Zeugnisse sprechen dafür, daß Griechen und Römer sie verwendet haben. Welchem dieser beiden Völker der Ruhm ihrer Erfindung gebührt, war sehr lange umstritten; denn die Erforschung der antiken Tachygraphie litt vor allem unter der mangelnden Einheitlichkeit der Terminologie, so daß oft trotz sachlich übereinstimmenden Erkenntnissen der Anschein gegensätzlicher Auffassungen entstand. Deshalb ist eine exakte D e f i n i t i o n sehr wichtig. Im Anschluß an Ch. Johnens 3 maßgebliche Begriffsbestimmung der Stenographie definiere ich die 'Tachygraphie' als eine besondere Schriftform mit Kurzzeichen, die von den Buchstaben der gewöhnlichen Schrift abweichen und sie an graphischer Kürze weit übertreffen, sowie mit systematisch gebildeten Kürzungen, durch deren Anwendung Minderwesentliches und Ergänzbares (Laute, Wortteile und sogar Wörter) sinnbildlich dargestellt oder weggelassen werden. Nur mit einer so erreichten sehr erheblichen Kürze der Schrift ist es möglich, Reden unmittelbar wörtlich aufzuzeichnen. 'Tachygraphie' und 'Stenographie' (Kurzschrift, Shorthand) sind also ihrer Wortbedeutung und ihrem Inhalt nach identisch. Zur Abgrenzung von der Kurzschrift der Neuzeit pflegt man aber die Schnellschrift der Antike und des Mittelalters 'Tachygraphie' zu nennen. Handelt es sich dagegen um eine wie immer geartete Verkürzung der allgemein verwen1

Die H a u p t g e d a n k e n dieses B e i t r a g s sind einigen A b s c h n i t t e n meiner „ U n t e r suchungen zur altgriechischen T a c h y g r a p h i e u n d zur F r a g e der P r i o r i t ä t ihrer E r f i n d u n g " , Phil. Diss. H u m b . - U n i v . Berlin 1963 e n t n o m m e n .

2

H . J e n s e n , Die S c h r i f t in Vergangenheit und G e g e n w a r t , 3. Aufl. Berlin 19 69, 577.

3

Ch. J o h n e n , Geschichte der S t e n o g r a p h i e , Berlin 1911, 2—3; ders., Allgemeine Ges chichte der K u r z s c h r i f t , 4. Aufl. Berlin 1940, 5. — Vgl. a u c h M. Füßl, Die S t e n o g r a p h i e als U n t e r r i c h t s g e g e n s t a n d in den Schulen, S t a a t s w i s s . Diss. München 1951, 1; H . - J . B ä s e , Die slawischen K u r z s c h r i f t s y s t e m e als A u s d r u c k des sprachlichen M i n i m u m s , Phil. Diss. G ö t t i n g e n 1958, 4. 45—51.

Die Tachygraphie — eine Erfindung römischer Sklaven

53

deten Schrift, so empfiehlt sich dafür der in der Paläographie übliche Terminus 'Brachygraphie'. Als Oberbegriff für Tachygraphie (Stenographie) und Brachygraphie sollte nicht 'Kurzschrift' (gleichbedeutend mit Stenographie!), sondern 'Schriftverkürzung' verwendet werden. Bisher fehlte ein ausführliches Handbuch der Tachygraphie; insbesondere die griechische Schnellschrift ist bis heute „ein gern gemiedenes Gebiet" 4 geblieben. Die unterschiedlichen Ansichten bekannter Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen (Historiker, Philologen, Epigraphiker, Papyrologen, Paläographen) zur Tachygraphie sind in vielen Monographien und philologisch-historischen Zeitschriften des In- und Auslands veröffentlicht worden. Darüber hinaus gibt es eine fast unübersehbare Anzahl mehr oder weniger wichtiger Beiträge zu diesem Gegenstand in stenographiewissenschaftlichen Geschichtswerken und Zeitschriften, die den Philologen meist unzugänglich waren und darum unbeachtet bleiben mußten. So ist es nicht verwunderlich, daß die Mehrheit der Gelehrten den Griechen wegen ihrer unbestrittenen kulturellen Überlegenheit über die Römer auch die Erfindung der Tachygraphie zugewiesen hat. Als Beweise für das Vorhandensein einer altgriechischen Kurzschrift wurden Zeugnisse bei antiken Autoren, auf Inschriften oder durch Papyri gewertet, die ich erneut kritisch geprüft habe. Oft hat man nur auf Grund einer klassizistischen Griechenverehrung so argumentiert: „Es scheint geratener, eine griechische Tachygraphie für die Zeit vor Tiro, wenn auch nicht für erwiesen, so doch für höchst wahrscheinlich zu halten" 5 . Aus Raumgründen kann ich hier lediglich einen kurzen Überblick über meine neuen Erkenntnisse geben. Da ich aber die älteste Zeit ausführlicher darstelle, kann sich der Leser selbst ein Urteil über die Richtigkeit des Ergebnisses bilden.

Die Anwendung

der griechischen

Tachygraphie

J e weiter man den Ursprung einer Kunst oder einer Wissenschaft zurückverfolgen konnte, desto gewichtiger erschien ihr Ansehen. Deshalb war man seit dem 18. J h . bemüht, die früheste Anwendung der griechischen Tachygraphie so weit wie möglich zurückzudatieren. So führte Th. Birt 6 zwei R. Fuchs, Rez. M. Gitlbauer, Die drei Systeme der griechischen Tachygraphie, Wochenschrift für klassische Philologie 12, 1895, 206. 5 W. Weinberger, Kurzschrift, R E 11, 1922, 2229. 4

6

Th. Birt, Zur Tachygraphie der Griechen, Rheinisches Museum für Philologie 79, 1930, 1 - 6 .

54

HEBBERT

BOGE

Stellen im K o m m e n t a r des Servius zu Vergils Aeneis ( I I I 444; VI 74) als „zuverlässiges Zeugnis" d a f ü r an, daß „ V a r r o eine griechische Notenschrift schon für die Zeit der Sibyllen voraussetzt". Daß diese Orakelsprüche tachygraphisch aufgezeichnet worden sind, entbehrt jeder historischen Grundlage. Ebensowenig kann bewiesen werden, daß zu den Beratungen der Amphiktyonen „ v o r beinahe dritthalb tausend J a h r e n " 7 oder „seit dem 12. J h . v. u. Z . " 8 Tachygraphen herangezogen wurden. Kürzungen auf Inschriften aus dem 7. J h . v. u. Z. in Messapien und seit dem 5. J h . v. u. Z. in Naukratis sind als Brachygraphie zu werten. Die B e h a u p t u n g 9 , X e n o p h o n habe die Worte des Sokrates in einer (von ihm erfundenen) Tachygraphie nachgeschrieben, wie eine Nachricht des Diogenes Laertios (II 48) interpretiert wurde, blieb unbewiesen. E s gibt keinen Beleg, daß in Griechenland in klassischer Zeit irgendeine A r t von Tachygraphie angewendet worden ist. B e d e u t s a m e r sind zwei Inschriftenfragmente, die seit dem E n d e des 19. J h . in der Fachwissenschaft viel diskutiert und bis in die Gegenwart hinein 1 0 als Tachygraphie bezeichnet worden sind. Sowohl das sehr lückenhaft beschriebene Schriftsystem, d a s auf einer 1883 in Athen aufgefundenen Inschrift ( I G I I / I I I 2 2783; u m 350 v . u . Z . ) überliefert wird, als auch die 'Konsonantenverbindungstafel' aus Delphi (III 1, 5 5 8 ; u m 280 v. u. Z.) sind beachtliche graphische Leistungen, die übliche Schrift zu verkürzen. Hier werden zwar Kurzzeichen, aber keine Kürzungsregeln vorgeschlagen, die ein ebenso wesentliches Merkmal der Definition sind; deshalb können sie nicht als T a c h y g r a p h i e gewertet werden, zumal auch von ihrer Anwendung nichts b e k a n n t ist. Ebenso bezeichnet der Ausdruck Ypa[i.[i.aT£iJ? ö^uypocipo? im 44. P s a l m der S e p t u a g i n t a , der etwa 130 v. u. Z. abgeschlosenen griechischen Übersetzung des Alten Testaments, den gewandten Schreiber in der gewöhnlichen Schrift, nicht einen Tachygraphen 1 1 . Die Unterschrift auf dem Leidener Nechutes-Papyrus v o m J a h r e 105 v. u. Z. glaubte V. Gardthausen 1 2 I. G. Berthold, Allgemeines System der Stenographie oder abgekürzte Geschwindschreibkunst, München 1819, Vorrede, 1. 8 F. J . Anders, Entwurf einer allgemeinen Geschichte und Literatur der Stenographie, Coeslin 1855, 9. 9 Vgl. u. a. A. Jurkowski, Hundert Wörter in der Minute. Aus der Geschichte der Stenografie, übersetzt von B. Aßmann, Leipzig 1955, 8; H. Glatte, Shorthand Systems of the World, 2. ed. London 1958, 3. 10 Vgl. F. Schreiter, 75 Jahre Akropolisstein, Deutsche Stenografenzeitung 66, 1958, 265-268; Jensen, a. a. 0 . ( A m 2), 577. 1 1 Vgl. V. Gardthausen, Griechische Palaeograpliie, 2. Aufl. Leipzig 1913, II, 274— 275. 12 Gardthausen, ebenda, 1. Aufl. Leipzig 1879, 223; 2. Aufl., 281, Anm. 1. 7

Die Tachygraphie — eine Erfindung römischer Sklaven

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als tachygraphische Schriftzeichen des Herrscherpaares Kleopatra und Ptolemaios deuten zu können. Es ist aber der übliche Vermerk des Beamten, der die Urkunde (in Kursivschrift) registrierte 13 . Seit Gardthausen 1 4 wird eine Stelle in einem Brief Ciceros (Ad Att. X I I I 32, 3) quia Sta o7)fi£i(ov scripseram als Beweis für das Vorhandensein einer griechischen Tachygraphie im 1. J h . v. u. Z. herangezogen; hier ist aber nicht „durch tachygraphische Zeichen", sondern allgemeiner „in Andeutungen" zu übersetzen 15 . Plinius (Nat. hist. VII 21, 85) berichtete von einer IliasAusgabe in nuce. Infolge ihres Umfangs von mehr als 100000 Wörtern vermutete Birt 16 , sie sei in tachygraphischen Zeichen geschrieben worden; A. Semenov 17 begründete die Übersetzung „in einem Kasten aus Nußbaumholz". Hier ist ebenso wie bei dem Distichon, das nach einem Bericht des Aelianus (Var. hist. I 17) auf die Oberfläche eines winzigen Sesamkorns geschrieben war, nur Raumersparnis und nicht die wörtliche Nachschrift einer Rede beabsichtigt gewesen; darum kann es sich nicht um Tachygraphie handeln. Von den anderen Belegen dieser Zeit sei nur noch die Wendung OUTE Sta YPOOTTOÜ OUTS Sta GY)[I.£LOU im Oxyrhynchos-Papyrus II 293 aus dem Jahre 27 u. Z. erwähnt, die sich nur auf eine nicht näher zu bestimmende „Botschaft" (message) bezieht 18 . Damit ist bereits die Zeit erreicht, in der die Anwendung der römischen Tachygraphie durch viele Belege bezeugt ist. Sichere Nachrichten für die Verwendung der griechischen Tachygraphie gibt es erst im 2. J h . u. Z. Bei Plutarch (Cato min. 23, 3) kommen erstmals die griechischen Wörter (rr)[xsia (Zeichen; notae) und a^fjLeioypaipoi (Zeichenschreiber; notarii) als Termini vor. Etwa zur gleichen Zeit hat Arrian nach seinem Bericht (Epict. diss.; p. 5 Schenkl) Epiktets Lehrvorträge wörtlich (auTO"ic, ov6[i.acriv), also wohl tachygraphisch 19 aufgezeichnet. Ein noch nicht 13

Vgl. C. Leemans, De onderteekening von den grieksch-egyptisch koopcontract op papyrus, Verslagen en mededeelingen der Koninkl. Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Afd. Letterkunde II, 9,1880, 222-242; K. Wessely, Der Wiener Papyrus Nr. 26 und die Ueberreste griechischer Tachygraphie in den Papyri von Wien, Paris und Leiden, Wiener Studien 3, 1881, 19 u. Anm. 9. « Gardthausen, a. a. O. (Anm. 11), 1. Aufl. 1879, 213; 2. Aufl., 1913, II, 276-277. « Vgl. W. Gaerte, Semeion, RE 2 A, 1923, 1339-1341. J

6 Th. Birt, Das antike Buchwesen in seinem Verhältniss zur Litteratur, Berlin 1882,

71. 17

A. Semenov, Ilias in nuce, Festschrift zum 25jährigen Stiftungsfest des historischphilologischen Vereins der Universität München, München 1905, 84—85. 18 Vgl. U. Wilcken, Bibliographie. XI. Paläographie und Diplomatik, Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete 4, 1908, 259. 19 Vgl. K. Hartmann, Arrian und Epilctet, Neue Jahrbücher für das klassische Altertum . . . 8 (15), 1905, 254-257. 274-275; ders., Flavius Arrianus und die

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HERBERT BOGE

entzifferter Papyrus (Bremen 82) aus Ägypten, der zwischen 113 und 120 datiert wird 20 , bietet die älteste Probe griechischer Tachygraphie. Zu den völlig sicheren Zeugnissen zählt der Lehrvertrag mit einem Tachygraphielehrer (Pap. Oxy. IY 724; 155 u . Z . ) , der ein anschauliches Bild von den Schwierigkeiten der Erlernung vermittelt; die Lehrzeit von zwei Jahren mutet ganz modern an. Das vereinbarte Honorar von 120 Drachmen soll in drei gleichen Raten gezahlt werden, deren letzte erst dann fällig wird, „wenn der Sklave jede Prosarede nachschreiben und tadellos wiederlesen kann". Dieser Geldbetrag ist nicht hoch, aber angemessen. Die älteste Nachricht über die griechische Tachygraphie bei einem Schriftsteller stammt aus dem J a h r e 164 u. Z.: Galen (Libr. prop. 1; p. II 95—96 Mü.) bezeugt wie bald darauf andere Autoren (Philostrat, Vita soph. II 5 u. Vita Apoll. I, 18; Ps.-Lukian, Dem. enc. 44, p. 523 Reitz; Eunapios, Vita soph., p. 489 Boiss.) die Verwendung von Tachygraphen. Auch das inzwischen etablierte Christentum machte sich die Hilfe der Tachygraphie bei der Aufzeichnung von Werken und Reden zunutze. So ist z. B . für Origenes bei Eusebios (Hist. eccl. VI 23, 1) ein vollständiges 'Tachygraphenbüro' mit sieben Tachygraphen und mindestens ebenso vielen Schönschreibern und Schönschreiberinnen, also Vorgängerinnen der heutigen Stenotypistinnen, bezeugt. Die Verwendung der griechischen Tachygraphie bei Konzilien, Synoden und Streitgesprächen ist bis ins 6. J h . vielfach überliefert. Auch Grabinschriften griechischer Tachygraphen und einer Tachygraphin sind erhalten geblieben. Die älteste dieser Art für einen 'Zeichenschreiber' namens P. Aelius Aktiakos ist unweit von Eumeneia in Phrygien gefunden worden (CIG I I I 3902 d) und stammt vermutlich aus der ersten Hälfte des 2. J h . u. Z. In einer Inschrift aus Elateia (IG I X 1, 128) aus derselben Zeit mit dem Testament eines reichen Mannes wird ein Sklave namens Epaphrodeitos erwähnt, der als Tachygraph tätig war und wahrscheinlich die Freiheit erhalten sollte 21 . Weitere Inschriften aus dem 2. und 3. J h . stammen aus Amisos am Schwarzen Meer (Stud. Pont. I I I 1, 3a), wo ein 22jähriger Tachygraph mit dem Namen Eulogos genannt wird, und aus Salonae, dem heutigen Split inDalmatien (CIL I I I 8899); außer einer Inschrift für einen gewissen Asteri(o)s ist dort das verstümmelte Brustbild mit einer Wachsdoppeltafel voller tacliy-

Tachygraphie, Archiv für Stenographie 56, 1905, 337—340; U. von WilamowitzMoellendorff, Die griechische Literatur des Altertums, Die K u l t u r der Gegenwart I, 8, 3. Aufl. Berlin-Leipzig 1912, 244. 20 Vgl. Ziegler, R E 21, 1951, 713. 2 1 Vgl. F. K r a u s , Die Formeln des griechischen Testaments, Phil. Diss. Gießen 1915, 41.

Die Tachygraphie — eine Erfindung römischer Sklaven

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graphischer Zeichen dargestellt. An der alten V i a T i b u r t i n a k a m eine I n schrift für die notaria graeca A p a t e ( C I L V I 3 3 8 9 2 ) ans Tageslicht. Aus s p ä t e r e r Zeit sind weitere Inschriften überliefert, in denen T a c h y g r a p h e n e r w ä h n t werden.

Die Anwendung der römischen

Tachygraphie

Aus einer Pieihe von B e r i c h t e n geht die Verwendung der römischen T a c h y graphie einwandfrei hervor. Das Zeugnis ihrer ersten öffentlichen Anwendung in der Zeit der untergehenden römischen Republik h a t P l u t a r c h (Cato min. 23, 3) aufgezeichnet, das ich so übersetze: „Von den Reden, die Cato gehalten h a t , soll nur diese eine dadurch erhalten sein, daß der Konsul Cicero die sich durch Schreibfertigkeit

auszeichnenden Schreiber vorher 'Zeichen', die in

kleinen und kurzen F o r m e n die B e d e u t u n g vieler B u c h s t a b e n haben, lehren und dann hier und dort im S e n a t verteilen ließ; denn sie (seil, die R ö m e r ) h a t t e n noch nicht ausgebildet und besaßen n i c h t die sogenannten 'Zeichenschreiber', sondern sollen damals die ersten Anfänge (seil, dieser Kunstfertigkeit) unternommen h a b e n . " Diese N a c h r i c h t P l u t a r c h s ist glaubwürdig; H. P e t e r 2 2 h a t nachgewiesen, daß er (ebenda 25 und 37) Thrasea Paetus, einen Zeitgenossen Senecas, als seinen Gewährsmann nennt, der seinerseits ein W e r k des Munatius Rufus, eines Freundes

Catos, für seine A r b e i t verwendete. E s b e s t e h t all-

gemeine Ubereinstimmung,

daß es sich um die b e r ü h m t e R e d e Catos v o m

5 . Dezember 6 3 v. u. Z. handelt,

in der er gegen Catilina die Todesstrafe

b e a n t r a g t e (vgl. Sallust, Cat. 5 2 , 36). Cicero h a t t e ein besonderes Interesse an der wörtlichen Aufzeichnung dieser R e d e und ließ darum j u n g e S e n a t o r e n in der T a c h y g r a p h i e ausbilden,

da j a Tiro als S k l a v e den S e n a t zum Nach-

schreiben nicht betreten durfte. Hier wurde erstmals in der Geschichte der Schnellschreibkunst das Verfahren d e r ' S c h r e i b r u n d e ' angewendet, das sich in der Lutherzeit und in der französischen R e v o l u t i o n wiederfindet. 0 . Morgenstern 2 3 bezweifelte die Verwendung v o n T a c h y g r a p h i e in dieser Senatssitzung und verwies auf eine Stelle bei Cicero (Pro Sulla X I V 41—42) aus dem J a h r e 6 2 , wo dieser über die Nachschrift der damaligen Zeugenaussagen durch S e n a t o r e n b e r i c h t e t ; doch dieser B e r i c h t Ciceros bezieht sich a u f die dritte Catilinarie in der Sitzung vom 3. Dezember 63, wie A. S t e i n 2 4 n a c h -

22 23 24

H. Peter, Die Quellen Plutarchs in den Biographieen der Römer, Halle 1865, 65—69 . O. Morgenstern, Cicero und die Stenographie, Archiv für Stenographie 56, 1905, 1. A. Stein, Die Stenographie im römischen Senat, Archiv für Stenographie 56, 1905, 179-180, Anm. 6.

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HERBERT BOGE

gewiesen hat. Ebenso unrichtig ist H. Lamers 25 Zeitansatz der „ersten datierbaren stenographischen Aufnahme einer Rede . . . am 7. November 63". Die obige unrichtige Argumentation Morgensterns wiederholte in neuester Zeit R. A. Coles26 mit der Schlußfolgerung: „But in all probability what Cicero introduced was nothing like the so-called 'Notae Tironianae', but only a rudimentary system at this early date". Coles26 will als „first evidence for the existence of a true shorthand system" erst eine Stelle bei Seneca (Apocol. 9, 2) gelten lassen, wo ein Tachygraph den Worten des Kaisers Claudius nicht folgen kann; Mentz 27 deutete diese Aussage zu Piecht so, daß sie sich nicht gegen die Schreibfertigkeit des Tachygraphen, sondern gegen die schlechte Sprechweise des Kaisers richtet. M. E. müssen Phänomene, die in einer Satire vorkommen, zuvor existiert haben, wenn Zuschauer oder Leser die Pointe verstehen sollen. Natürlich ist „die Rede, welche Sallust über die Catilinarische Verschwörung den Cato sprechen l ä ß t . . ., nicht die wirklich gehaltene"; denn das „erklärt sich aus dem Charakter der Sallustischen Geschichtsschreibung" 28 . Das Zweitälteste Zeugnis zur Tachygraphie überliefert Sueton (Caes. 55, 3): Im Jahre 62 v. u. Z. wurde eine Rede des jungen Caesar für den Volkstribun Q. Metellus, der gegen Cato und Cicero wirkte, von Tachygraphen niedergeschrieben (ab actuariis exceptam)29. Die Nachschrift anderer Reden Ciceros ist indirekt auch aus der erwähnten Plutarch-S teile zu folgern, da Cicero Tachygraphen schwerlich nur für die Wiedergabe der e i n e n Cato-Rede ausbilden ließ. Außerdem berichtet Asconius Pedianus (In Milon. 36, p. 42 Clark), daß Ciceros Miloniana am 8. April 52 von Tachygraphen aufgezeichnet und sofort aus dieser Nachschrift veröffentlicht worden sei; sie wich von der Fassung, die Cicero nachträglich niederschrieb und publizierte, wesentlich ab. war aber in der kürzeren Originalfassung noch zur Zeit Neros erhalten, E. Bickel 30 äußert sich ausführlich zum Verhältnis der gehaltenen Reden zu den veröffentlichten und verweist auf Ciceros Zeugnis (Pro Plancio 74), daß er „die Dankesrede an den Senat bei seiner Rückkehr aus der Verbannung nach 25

II. Lamer, Wörterbuch der Antike mit Berücksichtigung ihres Fortwirkens, 7. Aufl. Stuttgart 1966, 563. 20 R. A. Coles, Reports of Proceedings in Papyri, Papyrologica Bruxellensia 4, Bruxelles 1966, 10 und Anm. 3; ebenda 13. 27 A. Mentz, Die Tironischen Noten. Eine Geschichte der römischen Kurzschrift, Berlin 1944, 69. 28 Morgenstern, a. a. 0 . (Anm. 23), 1, Anm. 1. Vgl. F. Maier, Die tachygraphischen Nachrichten bei Sueton, Korrespondenzblatt. Amtliche Zeitschrift des Kgl. Stenographischen Instituts zu Dresden 47, 1902, 231-235. 260-264; Morgenstern, a. a. 0 . (Anm. 23), 2. 3" E. Bickel, Geschichte der römischen Literatur, Heidelberg 1937, 368-369.

Die Tachygraphie — eine Erfindung römischer Sklaven

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dem Manuskript gesprochen (dicta de scripto)" hat. Cicero hat sich nirgends näher über die Tachygraphie ausgesprochen. Nur aus einem Brief (Ad Att. X I I I 25, 3) geht hervor, daß Tiro als sein Tachygraph wirkte, wogegen er einem anderen Sklaven langsam diktierte (at ego ne Tironi quidem dictavi, qui totas TtzpioyoLq persequi solet, sed Spintliaro syllabatim). Wenn die Rede des Konsuls M. Antonius, die er nach Casars Ermordung in der Volksversammlung am 31. Juli 44 gehalten hatte, Cicero schon in der ersten Augusthälfte in Rhegium vorlag (Philipp. I 3, 8), so ist es trotzdem sehr fraglich, ob dies „stenographische Aufnahme und sofortige Vervielfältigung voraussetzt", wie Morgenstern 31 annahm. Unter den julischen und flavischen Kaisern verbreitete sich die Kenntnis der römischen Tachygraphie; die Zeugnisse ihrer Anwendung werden deshalb zahlreicher. Die Version litteras et natare bei Sueton (Aug. 64, 3), die sich auf die Enkel des Kaisers Augustus bezieht, glaubte J . Lipsius 32 in litteras et notare ändern und auf die Schnellschrift beziehen zu müssen. Schon L. Torrentius 33 verwies aber darauf, daß diese Wendung wie im Griechischen V E I V ~~KCD ypafifiara (Piaton, Leges I I I 9, p. 689 D) die harmonische Ausbildung von Körper und Geist bezeichnet. Weitere Nachrichten Suetons, daß Kaiser Titus im Scherz mit seinen Tachygraphen um die Wette geschrieben hat (Tit. 3, 2) und daß gewisse Äußerungen des Kaisers Tiberius nachgeschrieben wurden (Tib. 28, 2), sind glaubwürdig. Auch Dichter der frühen Kaiserzeit erwähnen die Schnellschrift: Manilius (Astron. IV 197—199) schreibt dem unter dem Tierkreiszeichen der Jungfrau Geborenen besondere tachygraphische Fähigkeiten zu; Martial ( X I V 208—209) verfaßt einen besonderen Sinnspruch Ad notarium und erwähnt an einer anderen Stelle (X 62, 4—5) einen Lehrer der Tachygraphie, der sich in bezug auf seine Schülerzahl mit dem Elementarlehrer messen kann. Schriftsteller und Gelehrte pflegten damals ihre Werke und Briefe einem Tachygraphen zu diktieren, wie es der jüngere Plinius (Epist. I X 36, 2) von sich und in einem anderen Brief ( I I I 5, 15) von seinem Onkel, dem älteren Plinius, berichtete. Auch wissenschaftliche Vorträge wurden mit Hilfe der Tachygraphie aufgezeichnet. So beklagte sich Quintilian (Inst. orat. I, prooem. 7; I I I 6, 68; V I I 2, 24) sehr darüber, daß seine Rhetorikvorlesungen nach heimlicher, schlechter tachygraphischer Aufzeichnung gegen seinen Willen entstellt veröffentlicht worden seien.

31 32 S3

Morgenstern, a. a. 0 . (Anm. 23), 2. J . Lipsius, Epistolarum selectarum centuriae VIII, Genf 1639, 636. C. Suetonii Tranquilli X I I Caesares et in eos Laevini Torrentii Commentarius auctior et emendatior, Antwerpen 1591, 113—114.

I-Ieebbrt Boge

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Die Entstehungsgeschichte

der römischen

Tachygraphie

Antike Nachrichten über die Erfindung und Weiterentwicklung der römischen Tachygraphie, die erst seit etwa 1550 'Tironische Noten' genannt wird 34 , „sind nach Zahl und Umfang sehr spärlich" 35 . Am ausführlichsten ist der Bericht Isidors von Sevilla (Etym. I 22), der aus verschiedenen Quellen zusammengesetzt zu sein scheint und durch eine leichte Änderung einen möglichst einheitlichen, wenn auch nur scheinbaren Zusammenhang erhalten hat. A. Reifferscheid 36 schrieb große Abschnitte des Gesamtwerks Isidors ausschließlich Sueton zu. Den Weg zum richtigen Verständnis dieser Stelle h a t L. Traube 3 7 gewiesen, der sie einem eingehenden Quellenstudium unterzog. Ich übersetze den Bericht wie folgt: „An gemeinschaftlichen Abkürzungen erfand Ennius zuerst eintausend und einhundert. Die Verwendung der Abkürzungen erfolgte deshalb, damit alles, was in einer Volksversammlung oder in Gerichtsverhandlungen gesagt wurde, mehrere beieinanderstehende Schreiber aufzeichneten, nachdem unter ihnen die Abschnitte aufgeteilt waren, wie viele Wörter und in welcher Reihenfolge jeder schreiben sollte. — In Rom h a t als erster Tullius Tiro, Ciceros Freigelassener, 'Noten' erfunden, aber n u r die 'Praepositiones'. Nach ihm haben Vipsanius, Philargius und Aquila, der Freigelassene des Mäcenas, der eine diese, der andere jene (Noten) hinzugefügt. Dann vollendete Seneca nach einer Sammlung und Ordnung aller (Noten) und nach Vermehrung ihrer Anzahl das Werk auf 5000. Noten aber sind sie deshalb genannt worden, weil sie (seil, die Tachygraphen) die Wörter oder Silben durch die vorangestellten Schriftzüge bezeichnen und ins Gedächtnis der Lesenden zurückrufen. Diejenigen, die sie gelernt haben, werden im eigentlichen Sinne Tachygraphen genannt." Diese Darstellung e n t s t a m m t größtenteils einem verlorenen Werk Suetons und besteht aus zwei Teilen: Abkürzungen der gewöhnlichen Schrift und tachygraphische Noten. Da sie Anklänge an andere Autoren zeigt (Valerius Probus, De litt, sing., fr. 1; Hieronymus, Eus. Chron., Ol. 194; Augustinus, De doctr. christ. II 26, 40), h a t Isidor anscheinend f ü r seinen „mosaikartig 34 35

36

37

Vgl. J. Gohory, De usu et mysteriis notarum liber, Paris 1550. A. Mentz, Die Entstehungsgeschichte der römischen Stenographie, Hermes 66, 1931, 369 (-386). A. Reifferscheid, C. Suetonii Tranquilli praeter Caesarum libros reliquiae, Leipzig 1860, 137. L. Traube, Die Geschichte der tironischcn Noten bei Suetonius und Isidorus, Archiv für Stenographie 53, 1901, 191—208; aers., Vorlesungen und Abhandlungen, herausgegeben von F. Boll, München 1920, III, 254-273.

Die Taehygraphie — eine Erfindung römischer Sklaven

61

zusammengesetzten" 3 8 Bericht verschiedene Quellen verwendet, aber dabei die historische Reihenfolge durcheinandergebracht. Er war olfenbar der Meinung, Ennius gehöre bereits zur Kurzschrift. Lange war umstritten, welche Persönlichkeit hier gemeint sei. Ich halte den Dichter Q. Ennius aus Rudiae in Kalabrien (239—169, seit 204 in Rom), der auch orthographische Studien betrieben hat 39 , f ü r wahrscheinlicher als einen Grammatiker gleichen Namens, der die Werke De litteris syllabisque und De metris verfaßt hat (Sueton, De gramm. 1). Weitere Schwierigkeiten macht die richtige Deutung der Wörter mille et centum. Daß Ennius 1100 Abkürzungen erfunden hat, ist wenig wahrscheinlich; einleuchtender ist die Annahme 40 , Ennius habe aus den beiden Beispielen für Abkürzungen M(ille) und C(entum), die er in seiner Quelle vorfand, zu Unrecht eine Zahlenangabe gemacht. Selbst 1100 Abkürzungen der gewöhnlichen Schrift sind keine Taehygraphie im Sinne meiner Definition. So ist der Sinn des Satzes, daß nur mit Hilfe der notae vulgares (wörtliche?) Nachschriften bei Volksversammlungen und Gerichtsverhandlungen hergestellt worden seien, kaum verständlich, zumal hier auch librarii und nicht notarii genannt sind. Dieser Satz sollte wahrscheinlich später im Zusammenhang mit den Tironischen Noten erscheinen. Erst mit dem dritten Satz wird von dieser römischen Taehygraphie berichtet, als deren Erfinder heute allgemein M. Tullius Tiro, Ciceros Sklave und Sekretär, der erst 53 freigelassen wurde, gilt. Es ist mir unverständlich, warum H. Oellacher 41 , H.-I. Marrou 42 und L. Bieler 43 in neuerer Zeit Tiro diese Erfindung absprechen, meist ohne dafür Gründe anzugeben. Ähnlich behauptet jetzt Coles 44 : „The connexion of Tiro with Latin shorthand is perhaps only later tradition". Aus K. Jaufmanns 4 5 Untersuchung der Eigennamen in den erhaltenen Notenlexika, die aus Ciceros Werken bekannt sind, 38 B. Altaner, Patrologie. Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter, 6. Aufl. Freiburg i. Br.-Basel-Wien 1960, 459. 39

40

41

42

43

44 45

Vgl. W. Weinberger, Der Dichter Ennius als Verfasser eines orthographischen Hilfsbuches, Philologus 63, 1904, 633-636. So Ch. Johnen in brieflicher Erörterung des Problems bei Weinberger, ebenda, 635 ; Mentz, a. a. O. (Anm. 27), 1 8 - 1 9 und Anm. 1 - 2 . H. Oellacher, Rez. A. Mentz, Die Tironischen Noten. Eine Geschichte der römischen Kurzschrift, Deutsche Literaturzeitung 62, 1941, 492. H.-I. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, deutsche Übersetzung von Ch. Beumann, Freiburg i. Br.-München 1957, 453. L. Bieler, Geschichte der römischen Literatur, Sammlung Göschen 52, Berlin 1961, 1,124. Coles, a. a. 0 . (Anm. 26), 10, Anm. 2. • Ii. Jaufmann, Marcus Tullius Tiro, Progr. Gymn. Dillingen 1896/97, 68.

62

H E B B E E T BOGE

ergibt such, „dass die Kürzungen für sie zu Tiros Zeit erfunden wurden". Wenn im späten Mittelalter 46 die Erfindung Cicero selbst zugeschrieben wurde, so erklärt sich das daraus, daß in der Antike Erfindungen von Sklaven, die ja keine juristische Rechtspersönlichkeit besaßen, ihren Herren zugeschrieben wurden; diese dürften aber, wenn sie wie Cicero gebildete und wissenschaftlich interessierte Männer waren, ihren Sklaven methodische Anregungen zur Vereinfachung und Beschleunigung der umfangreichen Schreibarbeit gegeben haben. Die Leseart commentatus statt commentus kann von Isidor stammen, der vielleicht selbst gemerkt hatte, daß zwei Erfinder (im Text zweimal primus!) nicht möglich sind; deshalb billigte er Tiro nur die „Zusammenstellung" der Noten zu. Bei den von ihm geschaffenen 'Praepositiones' handelt es sich nicht um den grammatischen Terminus 'Verhältniswörter', sondern um einen tachygraphischen, worunter die Noten zu verstehen sind, die allein aus einem Hauptzeichen ohne das nachfolgende Hilfszeichen zur Wiedergabe der Endung bestehen 46 . Weil es meist Kürzungen für Präfixe und kurze Indeklinabilia waren, konnte die Bezeichnung der Endungen ohne Beeinträchtigung der Lesbarkeit unterlassen werden. Die allergrößten Schwierigkeiten hat der Forschung die Identifizierung der von Isidor genannten F o r t s e t z e r Tiros bereitet, deren Namen in den Handschriften sehr verstümmelt überliefert sind. Der Editor W. M. Lindsay (Oxford 1911) nahm, wie seine Interpunktion Vipsanius, Philargius et Aquila . . . Seneca beweist, vier Persönlichkeiten an, die alle aus der frühen Kaiserzeit stammen und von denen nur Aquila als Freigelassener des Mäcenas näher bestimmt ist. Mentz 47 entschied sich zuletzt für den bekannten Heerführer und Staatsmann M. Vipsanius Agrippa, einen sonst unbekannten „Filargius", Aquila und den Philosophen Seneca. Wenn man jedoch eine Aussage Senecas (Epist. XIV 90, 25) zur Erklärung heranzieht, wo die Erfindung der Tachygraphie „niedrigsten Sklaven" zugeschrieben wird (vilissimorum mancipiorum ista commenta sunt), kann man den Feldherrn Agrippa und den Philosophen Seneca schwerlich für die Weiterentwicklung der Noten in Anspruch nehmen, selbst wenn man von dem Zeitaufwand absieht, den die Zusammenstellung eines Notenkommentars mit 5000 Zeichen erfordert. Ich halte es darum für sehr wahrscheinlich, daß auch die beiden anderen Fortsetzer Tiros Freigelassene oder Sklaven waren, nachdem man bereits zwei (freigelassene) Sklaven, Tiro und Aquila, sicher kennt, die Senecas Angabe bestätigen. Deshalb dürfte es sich m. E. bei Vipsanius Philargyrus (so möchte 46 Vgl. P. Bembo, Epist. fam. V, 8, p. 570 Patav. 1535; J. Trithemius, Polygraphiae libri sex, Straßburg 1518, VI, 5 9 9 - 6 0 0 . « Mentz, a. a. O. (Anm. 27), 18. 51.

Die Tachygraphie — eine Erfindung römischer Sklaven

63

ich den N a m e n lesen) um e i n e n Mann, und zwar vermutlich um einen F r e i gelassenen des Vipsanius Agrippa, und bei „ S e n e c a " um einen Freigelassenen des Philosophen n i c h t auch

handeln,

dessen

Cognomen

nicht überliefert

ist — wenn

hier der zuvor geschilderte T a t b e s t a n d anzunehmen ist, daß die

Leistungen von S k l a v e n wieder ihren Herren zugeschrieben worden sind, was im Ergebnis auf dasselbe herauskommt. E b e n s o schreibt Cassius Dio ( L X 7, 6 ) Maecenas selbst s t a t t Aquila die Erfindung „gewisser tachygraphischer Zeichen" zu. Diese Möglichkeit der Interpretation haben T r a u b e und seine Nachfolger gänzlich unberücksichtigt gelassen.

Außere Gründe für die römische Priorität der

Tachygraphie-Erfindung

Die Gegenüberstellung der frühesten Nachrichten über die Verwendung der T a c h y g r a p h i e ergibt eindeutig, daß die römische seit dem 1. J h . v. u. Z., die griechische aber erst seit dem 2. J h . u. Z. bezeugt ist. Die römische T a c h y graphie ist also die ältere; die P r i o r i t ä t dieser Erfindung ist den R ö m e r n , und zwar römischen S k l a v e n , zuzuweisen. E s wiegt schwer, daß der Grieche P l u t arch in seinem genannten B e r i c h t über die erste Anwendung der Tironischen Noten n i c h t nationalbewußt hinzugesetzt h a t , die Griechen h ä t t e n schon lange vorher eine solche Schriftform besessen. Die Gegenüberstellung der tachygraphischen Termini führt zu demselben E r g e b n i s : Die schon im 1. J h . u. Z. mehrfach belegte R e i h e notae — notare — notarius

b e s t ä t i g t evident die römische

Priorität;

die griechischen

Sub-

s t a n t i v a