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German Pages 160 Year 2015
Andrea von Hülsen-Esch (Hg.) Alter(n) neu denken
Alter(n)skulturen Herausgegeben von Peter Angerer, Ute Bayen, Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch, Christoph Kann, Ulrich Rosar, Christian Schwens, Shingo Shimada, Stefanie Ritz-Timme und Jörg Vögele | Band 6
Andrea von Hülsen-Esch (Hg.)
Alter(n) neu denken Konzepte für eine neue Alter(n)skultur
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort Andrea von Hülsen-Esch | 7
Was ist Alter(n)? Konzepte im frühneuzeitlichen Diskurs der gelehrten Medizin Daniel Schäfer | 17
Literarische Alterskonstruktionen als Medien der Erinnerung und der Reflexion epochalen Wandels Theodor Fontanes Der Stechlin, Wilhelm Raabes Altershausen und Christa Wolfs Leibhaftig Henriette Herwig | 41
Zur Entstehung einer »Age-free«-Gesellschaft Herausforderungen durch neue Altersbilder in Japan Michiko Mae | 71
Aging Studies als Kulturtheorie und -methode Eine anokritische Betrachtung Roberta Maierhofer | 93
Macht der Experten – Ohnmacht der Unternehmen?! Empirische Befunde und personalwirtschaftliche Gestaltungsempfehlungen für alternde und schrumpfende Unternehmen Manfred Becker, Anja Beck, Andrea Herz | 119
Eine psychologische Sicht des Alterns Potenziale und Sisyphos-Elemente gehen Hand in Hand Hans-Werner Wahl | 133
Autorinnen und Autoren | 155
Vorwort Andrea von Hülsen-Esch Die Zukunft des Alters hängt also in erheblichem Maße von Altersbildern ab.1
Vielfältige Forschungen, Veranstaltungen und Veröffentlichungen zum Alter(n) in den letzten zehn Jahren haben gezeigt, dass die Herausforderungen im Zusammenhang mit den alternden Gesellschaften und der damit einhergehenden Verschiebung im gesellschaftlichen Gefüge und der Defizite im Versorgungssystem erkannt sind. Es unterliegt keinem Zweifel, dass damit eine Akzentverschiebung einhergegangen ist: Es kann in erster Linie nicht darum gehen, die Kennziffern für die Bemessung der notwendigen Zuwendung für alte Menschen immer wieder zu justieren, vielmehr sollte über eine Aktualisierung der Annahmen, die unser Bild vom Alter(n) bestimmen, eine Änderung unserer Haltung gegenüber dem Alter(n) herbeigeführt werden.2 1 | Andreas Kruse et al., Warum ein Altenbericht zum Thema Altersbilder?, in: Eine neue Kultur des Alterns. Altersbilder in der Gesellschaft – Erkenntnisse und Empfehlungen des Sechsten Altenberichts, hg. v. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2010, S. 6. 2 | Ebd.: »Wie Individuen und die Gesellschaft mit diesen Aufgaben und Anforderungen umgehen, wird von Altersbildern wesentlich mitbestimmt. Altersbilder haben großen Einfluss sowohl auf die Verwirklichung von Entwicklungsmöglichkeiten im Alter als auch auf den Umgang mit Grenzen im Alter. Die Zukunft des Alters hängt also in erheblichem Maße von Alters-
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Alter(n) ist also neu zu denken, und dieses Neu- oder Umdenken kann nur durch die Umsetzung neuer Konzepte erfolgen, die bestehende Prozesse ergänzen oder sie verändern. Dazu ist es unabdingbar, die altersgerechte Versorgung und den Umgang mit alten Menschen auch jenseits leiblicher Versorgungsaspekte zu reflektieren. Insbesondere hinsichtlich des Bedarfs an institutionalisierter Hilfe pflegebedürftiger älterer und hochaltriger Menschen werden zwar staatliche Maßnahmen eingeleitet, doch ist schon heute absehbar, dass die gesellschaftliche Verantwortung nicht an die den Bedarf nur teilweise deckenden, staatlichen und schon gar nicht an die privaten Einrichtungen abgegeben werden kann. Welche Möglichkeiten eröffnen sich aber einer Gesellschaft, die den Blick auf das Alter und auf das Alter(n) verändert? Gesellschaftliche Verantwortung beschränkt sich nicht auf Versorgung und Pflege, sondern sie erstreckt sich auch auf die Bedürfnisse alternder und alter Menschen, die nicht in Pflegeeinheiten zeitlich messbar oder in der Anzahl bestehender Einrichtungen quantifizierbar ist. Eine bestimmte Haltung dem Alter und alten Menschen gegenüber fließt als oftmals nicht bewusste Grundannahme in das Regelwerk des gesamtgesellschaftlichen Gefüges ein, und dieser Umgang ist geprägt von der Kultur, verstanden als das umfassende Merkmal für eine gesellschaftliche Prägung: von der Sprache und der historischen Tradition über die literarischen und medialen Äußerungsformen, die strukturgebenden Formen des Zusammenlebens und der sozialen Gruppenbildung bis hin zum Handeln in wirtschaftlichen Unternehmen, wodurch eine spezifische Unternehmenskultur ausgebildet wird. Kultur aber ist keine unveränderliche Setzung, sondern wandelt sich in ihrer raumzeitlichen Vielfalt und wirkt auf diese Vielfalt zurück. Deshalb ist es möglich, über eine Reflexion der kulturellen Bedingungen, Gegebenheiten und Artefakte auch mit Konzepten, die eine Kultur des Alter(n)s betreffen, auf den gesellschaftlichen Umgang mit dem bildern ab. Die in unserer Gesellschaft dominierenden Altersbilder werden jedoch der Vielfalt des Alters oftmals nicht gerecht.«
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Alter(n) einzuwirken. Alter(n), aufgefasst als eine kulturelle Konzeption, die sich in der Praxis manifestiert, lässt Rückschlüsse auf den Umgang mit dem Alter(n) in der Vergangenheit zu, doch dieser Ansatz bietet auch Analyseinstrumente für die Gegenwart und liefert Anregungen für ein verändertes gesellschaftliches Handeln in der Zukunft. Durch diesen Perspektivwechsel kann es gelingen, den Umgang mit dem Alter, statt mit den üblichen Kennziffern zu messen, mit anderen Kategorien zu bewerten und Maßnahmen vorzuschlagen, die eine stärkere Teilhabe der alten und hochaltrigen Menschen am Lebensalltag zur Folge haben.3 Es geht darum, das Alter(n) selbst als einen kulturellen Prozess zu begreifen, starre, beschäftigungsbezogene Altersgrenzen mit neuen Beschäftigungsmodellen zu überwinden und ein aktiv gestaltetes Alter(n) einem »produktiven« 4 bzw. einem »erfolgreichen«5 Alter(n) entgegenzusetzen; beispielhaft steht die Sprache im Zusammenhang mit dem Alter(n) hier als Symptom für die negative Konnotation des 3 | Erste unter diesen Gesichtspunkten in die Praxis wirkende Ansätze sind veröffentlicht in: Kultur und Alter. Kulturangebote im demographischen Wandel, hg. v. NRW KULTURsekretariat Wuppertal, Essen 2006 und in: Kultur und Alter. Dokumentation der Tagung vom 23./24. November 2006, Rudolf Oetker-Halle, Bielefeld, hg. v. NRW KULTURsekretariat Wuppertal, Wuppertal 2006, veranstaltet vom NRW KULTURsekreteriat in Verbindung mit dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband und der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.; Angebote zur Verbesserung der Kulturkompetenz im Hinblick auf eine stärkere kulturelle Teilhabe älterer Menschen vermittelt bspw. die Akademie Remscheid mit ihrem »Kompetenzzentrum für Kultur und Bildung im Alter« (kubia). 4 | Tina Denninger, Silke van Dyck, Stephan Lessenich und Anna Richter, Leben im Ruhestand. Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft, Bielefeld 2014, S. 127-163, 187-190 u. 278-285. 5 | Harm-Peer Zimmermann, Dimensionen anderen Alterns: Differenzialität – Othering – Alterität, in: Medien & Altern. Zeitschrift für Forschung und Praxis 1 (2012), S. 22-36, hier S. 32.
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Alter(n)s.6 Die zunehmend positive Bewertung der individualisierten Lebensstile hat zu einer Abwertung des Alter(n)s beigetragen, da sie auf Selbständigkeit angelegt sind, während alte Menschen oftmals auf Hilfe der Gemeinschaft angewiesen sind.7 Diese Entwicklung hat zur Folge, dass bei den im historischen Verlauf ausgeprägten Stereotypen ›Weisheit des Alters‹ auf der einen Seite und ›Verfall des Körpers‹ auf der anderen Seite mehr und mehr die Verfallserscheinungen mit dem Alter verbunden werden,8 weil u.a. die Beschleunigung in der Wissensgesellschaft zu dem Eindruck führt, dass die Weisheit alter Menschen anscheinend keinen Beitrag zur Lösung der Probleme bieten kann. Die Normierung der Lebensphasen über Körpervorstellungen, die übrigens längst nicht mehr nur das weibliche Geschlecht betreffen, lassen Altersstereotype lebendig werden, die nur dadurch, dass sie ins Bewusstsein gerückt und erkannt, auch überwunden werden können.9 Die Entwicklung von neuen Konzepten für das Alter(n) und deren Umsetzung in die Praxis wird eine Auseinandersetzung mit diesen Stereotypen nach sich ziehen, für Diversität in der Gesellschaft sensibilisieren, die Sinne für verstellende mediale Praktiken schärfen, den Wert altersbedingter Erfahrung steigern und ein Bewusstsein für das Recht auf kulturelle Teilhabe auch im Alter schaffen. Neue Konzepte für das Alter(n) sind jedenfalls dazu geeignet, bestehende kulturelle und soziale Praktiken zu befragen und zu verändern.
6 | Vgl. auch Birgit Hoppe und Christoph Wulf, Art. Alter, in: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, hg. v. Christoph Wulf, Weinheim-Basel 1997, S. 398-403, hier S. 399: »Alterslast«, »Überalterung«, »Pflegelawine«. 7 | Ebd., S. 401. 8 | Andrea von Hülsen-Esch, Falten, Sehnen, Knochen. Zur Materialisierung des Alters in der Kunst um 1500, in: Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin, hg. v. Henriette Herwig, Freiburg 2009, S. 13-44. 9 | Vgl. die Beiträge in: Henriette Herwig (Hg.), Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2014.
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Entstanden sind die hier vorliegenden Beiträge im Rahmen einer Vorlesungsreihe des Graduiertenkollegs »Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis« an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.10 Dieses Graduiertenkolleg basiert auf der Annahme, dass das Alter(n) nicht nur eine biologische und soziale, sondern auch eine kulturelle Tatsache ist. Die Besonderheit des Kollegs ist, dass es von einem integrierten Konzept ausgeht, welches geistes-, sozial-, rechts- und medizinwissenschaftliche sowie wirtschaftswissenschaftliche Diskurse aufeinander bezieht. Alterskonzepte, d.h. Vorstellungen, Wertungen und ›Bilder‹ des Alter(n)s, sind Deutungsmuster für elementare Bedürfnisse an der Schnittstelle von individuellem und kollektivem Leben. Um zu zeitgemäßen, d.h. gesellschaftlich relevanten Konzepten zu gelangen, müssen zum einen die verschiedenen Formen des Wissens über das Alter(n) mit den tradierten wie auch den sich entwickelnden Normierungen und Kodierungen reflektiert werden, zum anderen sind die gesellschaftlich geprägten Erfahrungen, Alterswahrnehmungen und Rollenerwartungen zu analysieren.11 Ziel ist es, Alter(n) als Ergebnis von Wissen und von kultureller Praxis zu untersuchen und Strategien für neue Formen des Umgangs mit dem Alter(n) zu entwickeln. Durch Analyse und Reflexion historischer und aktueller Diskurse sollen Sinn und Kohärenz von Leben, Körper und Gesellschaft in der Lebensspanne bewusst und für die Praxis fruchtbar gemacht werden. Die Beschäftigung mit Konzeptionen vom Alter(n) als möglichem Grundbestandteil des Bildes vom Menschen überhaupt sowie dessen Ausdruck in kulturellen Praktiken verspricht neue Erkenntnisse über epochenspezifische und epochenübergreifende Denkmodelle, die sich beispielsweise in Einzelkunstwerken, Textsorten, Diskursen und Filmen aktualisieren und in der Populärkul-
10 | www.phil.hhu.de/ageing 11 | Vgl. Max Bolze, Cordula Endter, Marie Gunreben, Sven Schwabe und Eva Styn (Hg.), Prozesse des Alterns. Konzepte – Narrative – Praktiken, Bielefeld 2015.
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tur reflektiert werden.12 Hier setzen die vernetzten kulturwissenschaftlichen Forschungen an,13 die, ergänzt um natur-, medizin-, rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Fragestellungen, weitgespannte Diskurse zusammenführen und mit der Entwicklung von Konzepten in die Praxis vermitteln wollen.
12 | Hierzu hat es in jüngster Zeit einige Veröffentlichungen gegeben; vgl. Henriette Herwig und Andrea von Hülsen-Esch (Hg.), Alter im Film, Bielefeld 2015; Sabine Kampmann, Miriam Haller und Thomas Küpper, Altern – Medial produziert, in: Sabine Kampmann, Miriam Haller, Thomas Küpper, Jörg Petri (Hg.), Altern. Themenheft der Zeitschrift Querformat. Zeitschrift für Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur, 7 (2014); Ulla Kriebernegg und Roberta Meierhofer (Hg.), The Ages of Life. Living and Ageing in Conflict?, Bielefeld 2013. Die Akademiengruppe ›Altern in Deutschland‹ hat sich auch kulturellen Fragestellungen gewidmet, allerdings vorwiegend aus historischer Perspektive. Die Wissenschaftler, die Teil dieser Gruppe waren, sind zum Teil mit eigenen Forschungsschwerpunkten zum Alter an ihren Universitäten hervorgetreten, innerhalb der Akademiengruppe handelt es sich aber eher um Verbundforschung mit Beiträgen verschiedener Disziplinen als um transdisziplinäre Forschung. Dies ist auch bei der »Kulturwissenschaftliche(n) Forschungsgruppe Demografischer Wandel« an der Universität Köln der Fall; hierbei handelt es sich ebenfalls um einen Zusammenschluss multilokal verteilter Forscher, deren Zielsetzungen primär auf den erziehungsund sozialwissenschaftlichen Bereich fokussiert sind. Der Schwerpunkt des Gesamtprojekts liegt auf dem demographischen Wandel, der Altenarbeit und der partizipativen Altersforschung. 13 | Vgl. mit einem Forschungsüberblick: Andrea von Hülsen-Esch, Miriam Seidler und Christian Tagsold (Hg.), Methoden der Alter(n)sforschung. Disziplinäre Positionen und transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2013; ferner: Hans-Werner Wahl und Andreas Kruse (Hg.), Lebensläufe im Wandel. Entwicklung über die Lebensspanne aus Sicht verschiedener Disziplinen, Stuttgart 2014 und Thomas R. Cole, Ruth E. Ray und Robert Kastenbaum (Hg.), A Guide to Humanistic Studies in Aging. What Does It Mean to Grow Old?, Baltimore 2010.
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Mit welchen Konzepten kann eine Gesellschaft sich nun im Hinblick auf die allmähliche Überalterung wappnen? Die Beiträge dieses Bandes versammeln Perspektiven aus der Literatur-, Kultur- und Sozialwissenschaft, der Genderforschung, der Betriebswirtschaftslehre und der ethnologischen Forschung; sie zeigen beispielhaft die Spannbreite und Relevanz des Themas und Möglichkeiten der Entwicklung neuer Konzepte für alternde Gesellschaften: Daniel Schäfer legt mit seinem Beitrag Was ist Alter(n)? Konzepte im frühneuzeitlichen Diskurs der gelehrten Medizin die Grundlage für eine ethisch fundierte Alter(n)skultur. Er reflektiert die Vorstellungen und Begriffe vom Alter(n), fragt, wie die Praxis des Alter(n)s aussieht und eruiert die Möglichkeiten der Alter(n)svorsorge im nichtökonomischen Sinn anhand der Medizingeschichte. Damit zeigt er auf, welch grundsätzliche Fragen und Antworten aus dem Bereich der Medizingeschichte auch heute noch relevant sind, und wie stark medizinische Konzepte von gesellschaftlichen Vorstellungen geprägt werden. Henriette Herwig wendet sich in ihrem Beitrag Literarische Alterskonstruktionen als Medien der Erinnerung und der Reflexion epochalen Wandels: Theodor Fontanes »Der Stechlin«, Wilhelm Raabes »Altershausen« und Christa Wolfs »Leibhaftig« der Überwindung von Vorstellungsmustern, die sich zu Stereotypen verdichtet haben, und von wiederkehrenden Alterstopoi durch eine Analyse der in der Literatur verarbeiteten Figurenmodelle zu. In den von ihr ausgewählten Texten, Fontanes Altersroman Der Stechlin, Raabes letztem Romanfragment Altershausen und Wolfs später Erzählung Leibhaftig, geht es dabei sowohl um die Reflexion figurenhistorischer Leitbilder, die Diskursivierung des Altersthemas an sich und die Symbolhaftigkeit für das Ende einer Epoche (oder einer Gesellschaftsform) als auch um die Erörterung der Frage nach einem ›Altersstil‹, gemeinhin verknüpft mit dem Verfassen eines Textes in einem späten Lebensalter der Autoren. Die japanische Gesellschaft weist eine den Europäern vergleichbare demographische Entwicklung auf. Michiko Mae untersucht in ihrem Beitrag Zur Entstehung einer »Age-free«-Gesellschaft: Heraus-
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forderungen durch neue Altersbilder in Japan, ob Japan rückblickend als eine altersfreundliche Gesellschaft bezeichnet werden kann und wie das Land heute versucht, neue Strukturen für eine alter(n)sgerechte Gesellschaft zu implementieren. Ein Schritt in diese Richtung stellt das 1995 in Japan erlassene »Rahmengesetz für Maßnahmen bezogen auf die Alterungsgesellschaft« dar, womit die Grundlagen für das Konzept einer age-free-society, also einer altersunabhängigen Gesellschaft gelegt wurden. Es stellt den Entwurf für ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem dar, das gewissermaßen ›altersneutral‹ ist und, so Michiko Mae, zu einem Konzept für eine age-free-Partizipationsgesellschaft mit Vorbildcharakter auch für europäische Gesellschaften weiterentwickelt werden könnte. Roberta Maierhofer reflektiert in Aging Studies als Kulturtheorie und -methode: Eine anokritische Betrachtung die negative Akzeptanz des Alters in der Gesellschaft und stellt die These auf, dass die negative Interpretation der Darstellung von Alter durch die Erwartungshaltung der Rezipienten und die vorherrschende literaturwissenschaftliche Methode bestimmt wird. Damit werden gesellschaftliche und kulturelle Erwartungen hinsichtlich einer Definition von »Alter« festgeschrieben, obgleich die Betroffenen selbst den Prozess individuell erleben und in verschiedenen Phasen anders beschreiben. Im Rahmen der Ageing Studies wurde in den U.S.A. die »humanistische Gerontologie« entwickelt, die kulturell geprägte Vorstellungen über das Alter berücksichtigt, um eine Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen zu erreichen. Diesen Ansatz verfolgt Roberta Maierhofer mit der anokritischen Methode, einem kulturwissenschaftlichen Ansatz, der eine Re-Lektüre der Texte ermöglicht, in dem Bestreben, über eine Unterscheidung zwischen chronologischem Alter und den mit alten Menschen assoziierten Stereotypen eine andere Betrachtung von Alter(n) zu erreichen. Manfred Becker, Anja Beck und Andrea Herz gehen in ihrem Beitrag Macht der Experten – Ohnmacht der Unternehmen?! Empirische Befunde und personalwirtschaftliche Gestaltungsempfehlungen für alternde und schrumpfende Unternehmen der Frage nach, ob sich die
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Macht der Experten verändert, wenn bei einer alternden Bevölkerung immer weniger Menschen in das Berufsleben eintreten. Da Experten ihre Macht über die Beeinflussung von Entscheidungen, das Zurückhalten von Wissen oder mikropolitische, taktische Maßnahmen ausüben, können unternehmerische Entwicklungen davon empfindlich betroffen sein. Ergebnis des Forschungsprojekts ist, dass Experten ihre Macht weniger nutzen, wenn ihre Expertise bedarfsgerecht nachwächst. Deshalb plädieren die Autoren für ein bedarfsgerechtes Nachwachsen von Expertenwissen durch eine systematische Personalentwicklung in Unternehmen und schlagen verschiedene Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels vor. Aus der Perspektive der Lebenslauf- und der Alternspsychologie unternimmt es Hans-Werner Wahl in seinem Beitrag Eine psychologische Sicht des Alterns – Potenziale und Sisyphos-Elemente gehen Hand in Hand, die Bedingungen des heutigen Alterns kritisch zu untersuchen. Dabei kommt er zu dem Schluss, das diese geändert werden müssen, um ein gutes Altern zu ermöglichen, und schlägt zehn Weichenstellungen vor, die u.a. auch das Erfahrungswissen alter Menschen, die Bewahrung der Lernfähigkeit und die Potentiale von gesundheitlicher Prävention berücksichtigen, zugleich aber auf die gesamtgesellschaftliche Verantwortung, das intergenerationelle Miteinander und die Implementierung wissenschaftlicher Befunde abheben. Die Herausgeberin hofft, mit diesem Band im Sinne des letzten Beitrags neueren wissenschaftlichen Untersuchungen zur Verbreitung zu verhelfen, einer veränderten Wahrnehmung vom Alter(n) den Weg zu ebnen und mit den hier vorgestellten Konzepten und Vorschlägen Denkanstöße zu geben. Herzlich gedankt sei den Autoren für ihr Engagement und Sabrina Pompe für ihre bewährte sorgfältige und kritische Redaktionsarbeit.
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Was ist Alter(n)? Konzepte im frühneuzeitlichen Diskurs der gelehrten Medizin 1 Daniel Schäfer »Das Alter ist kein Thema für die Universität« – so beginnt im Jahr 1994 der damals 85-jährige italienische Rechtsphilosoph und Politikwissenschaftler Noberto Bobbio seine Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Sàssari. Darin wendet er sich vehement gegen die rhetorische Verherrlichung der letzten Lebensphase, wie sie gerade unter den Gelehrten vor allem unter dem Einfluss Ciceros immer wieder üblich war.2 Bobbio, dieser hochdekorierte und berühmte Professor für Politikwissenschaft, kokettiert zwar mit diesem Statement; denn er redet ausgerechnet an einer Universität über etwas, was seiner Ansicht nach nicht dorthin gehört. Aber er bleibt uns auch die Erklärung für seine Behauptung nicht schuldig: Seiner Ansicht nach wurde bislang die bittere Realität des Alterns, von der er ausführlich aus eigener Anschauung spricht, gegenüber den Lobreden weitgehend verschwiegen. Deshalb solle man über das Alter nur aus Erfahrung, möglichst der eigenen, reden und es nicht zum abstrakten 1 | Vortrag anlässlich der Eröffnung des Graduiertenkollegs »Alter(n)skulturen« am 3.5.2012; Gliederung und Sprachduktus wurde in der schriftlichen Fassung teilweise beibehalten. 2 | Norberto Bobbio, Vom Alter – De senectute, Berlin 1997, S. 23, 31; vgl. Marcus Tullius Cicero, Cato Maior de senectute, hg. u. eingel. v. J.G.F. Powell, Cambridge 1988.
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Thema machen, sondern vielmehr das eigene Erleben reflektieren. Und so will Bobbio auch explizit nicht als Professor, sondern als alter Mann zu seinen Zuhörern sprechen. Bobbios antiakademisches Argument ist nicht gerade originell und schon gar nicht altersspezifisch. Gerade auch beim Umgang mit der Drogenszene wurde es immer wieder angeführt, jedoch von professionellen Therapeuten zurückgewiesen: Ein Arzt oder Psychologe muss nicht alkoholkrank sein, um entsprechende Patienten behandeln zu können – und so muss ein Altersforscher auch nicht unbedingt das Alter aus eigener Erfahrung beschreiben können. Vielmehr ist es ja für akademisches Reden und Denken typisch geworden, eine Distanz zum diskutierten Objekt aufzubauen, es nur aus geistiger Anschauung zu analysieren. Besonders leicht hat es hier der Historiker, denn seine Anschauungsobjekte sind – abgesehen von den Quellen – naturgemäß nicht mit Händen zu greifen, sondern sind vergangene Ideen und Realitäten. Doch besteht die große Gefahr, dass man bei dieser historischen Betrachtungsweise das Alter einseitig, das heißt vor allem ideengeschichtlich betrachtet. Und hier hat Bobbio zweifellos recht – das ist schon viel zu lange unter Ausschluss sozialhistorischer Realitäten geschehen. Allerdings zeigt auch die Ideengeschichte über viele Jahrhunderte eine erstaunliche Dichotomie der Anschauungen über das Alter: Während einerseits die letzte Lebensphase vorwiegend als Zeit der Weisheit glorifiziert und verteidigt wird, gilt sie andererseits vor allem als Zeit des physischen, psychischen, manchmal sogar moralischen Niedergangs. Auch eine scheinbar nüchterne, der Rhetorik nicht besonders zugewandte Disziplin wie die Medizin wurde und wird noch von diesen gegensätzlichen Strömungen erfasst und beeinflusst. Und je nachdem, welche Quellen der Medizinhistoriker wählt, kann er bei seiner Analyse vormoderner Konzepte zu dem einen oder anderen Ergebnis kommen. Wir müssen also um so mehr eine vorsichtige Balance halten, um aufgrund der normierten, aber auch der sozialhistorischen Quellen, die uns zur Verfügung stehen, nicht ein einseitiges Bild von der vergangenen Altersheilkunde zu zeichnen.
Was ist Alter(n)? Konzepte im Diskurs der gelehr ten Medizin
Modifizieren wir für unsere Zwecke Bobbios Behauptung und fragen im Folgenden: Ist das Alter ein Thema für die Medizin? Ja, selbstverständlich, werden wir aus heutiger Sicht sagen, wer braucht denn die Medizin mehr als alte Menschen? Ist nicht die Geriatrie, die Altenheilkunde, genauso wie die Pädiatrie, die Kinderheilkunde, ein fester Bestandteil unseres medizinischen Fächerkanons? Gibt es nicht nationale und internationale Gesellschaften, Institutionen, Forschungseinrichtungen und vieles mehr? Das alles gibt es, aber aus Sicht des Historikers noch nicht sehr lange – das meiste davon ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und teilweise noch im Auf bau begriffen. Selbst der Begriff Geriatrie ist nur etwa 100 Jahre alt – der nach Amerika ausgewanderte Österreicher Ignaz Nascher hatte ihn erst 1909 geprägt.3 Und immer noch hat es die Geriatrie trotz des demographischen Umbruchs schwer, genügend Nachwuchs zu bekommen, ist das Fach an der Universität kaum etabliert, wird die Geriatrie in der Praxis fast immer vom niedergelassenen Hausarzt oder Internisten übernommen. Man könnte die Situation derzeit mit aller Vorsicht als ein Spannungsfeld zwischen Spezialistentum und Vernachlässigung charakterisieren – und darin gleicht sie der Altersmedizin, wie sie seit Jahrtausenden betrieben wurde: Fast in jeder Epoche haben sich nur verhältnismäßig wenige Ärzte dem Thema mit Elan gewidmet.4 Offensichtlich konnte und kann man damit keine Karriere machen, weder Schüler noch Lehrer beeindrucken, und ein dauerhafter Erfolg ist für die Patienten auch nicht zu erwarten. Mehr noch als die Gerontologie, also die allgemeine Lehre vom Altern, ist die Geriatrie, die Altersheilkunde, von einem negativen 3 | Ignaz L. Nascher, Geriatrics, in: New York Medical Journal 90 (1909), S. 358-359. 4 | Übersicht zur Geschichte der Geriatrie bei Mirko D. Grmek, On ageing and old age. Basic problems and historic aspects of gerontology and geriatrics, Den Haag 1958; Daniel Schäfer, Krankheit Alter? Eine kurze Geschichte der Geriatrie und Gerontologie, in: Handbuch Geriatrie. Lehrbuch für Praxis und Klinik, Düsseldorf 2005, S. 47-61.
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Trend belastet: Altern wurde innerhalb und außerhalb der Medizin über lange Zeit lediglich als Defizit, als Abnahme körperlicher Funktionen gegenüber dem Standard früherer Lebensphasen aufgefasst, und das höhere Lebensalter entsprechend als ein Defektzustand. Entsprechend prägte die frühneuzeitliche Geriatrie das Wortspiel ›senectus defectus‹.5 Woher kommt das? Sind die biologischen Konstanten des fortschreitenden körperlichen Verfalls wirklich so dominierend, dass es keine andere Möglichkeit gäbe, das Alter zu betrachten? Es ginge auch anders, wie der Blick auf orientalische und asiatische Kulturen oder auch die idealistische Philosophie des Westens lehrt. Aber die naturphilosophische Tradition, auf der die westliche Medizin bis heute fußt, setzt seit der griechisch-römischen Antike andere, eben materialistische, körperbezogene Prioritäten. Aristoteles etwa entwickelte das dreistufige Modell einer Lebenskurve, in der gegenüber einem Höhepunkt (akmé) in der Mitte des Lebens die erste und die letzte Periode, also Kindheit und Alter abfallen.6 Diese einseitige Vorstellung vom defizitären, ›abfallenden‹ Alter prägte – und prägt teilweise immer noch – die somatisch orientierte Geriatrie stärker als alle anderen Alterswissenschaften. Vor diesem Hintergrund einer Defizitvorstellung wurde das Altsein in der Geschichte der Geriatrie fast nie als Zustand der Gesundheit beschrieben. Es ist vielmehr eine Periode, in der die Verborgenheit der Gesundheit, von der Hans-Georg Gadamer spricht7, aufgebrochen wird und in der sich angesichts der körperlichen Veränderung die Frage nach dem Gesunden und Kranken im Menschen besonders stellt. In der Tat definierte die Medizin über lange 5 | Aurelio Anselmi, Gerocomica sive de senum regimine. Opus non modo philosophis & medicis gratum, sed omnibus hominibus utile, Venetiis, Apud Franciscum Ciottum, 1606, S. 13, 24. 6 | Aristoteles, Rhetorik II 13 (1389 a1-2); De caelo I 1 (268 a11). 7 | Hans-Georg Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, in: Ders., Über die Verborgenheit der Gesundheit. Aufsätze und Vorträge, Frankfurt a.M. 1993, S. 133-148.
Was ist Alter(n)? Konzepte im Diskurs der gelehr ten Medizin
Zeit das Alter als ein Neutrum zwischen Krankheit und Gesundheit, vergleichbar mit der Phase der Rekonvaleszenz. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts galt es sogar als besondere Krankheit, die den Menschen zum Tode führt.8 Ist das Alter eine Krankheit? Der Blick in die Geschichte lehrt, dass diese Frage nicht von der Medizin, sondern in erster Linie von der Gesellschaft beantwortet wird. Sie ist es, die darüber entscheidet, was gesund und krank ist. Dies geschieht in erster Linie unbewusst und intuitiv, aber nicht unbeeinflusst vom Wissen der Zeit. Im Folgenden verzichte ich auf eine chronologische Darstellung von Autoren, Quellen und Meinungen entlang der Zeitachse von der Antike bis heute. Stattdessen möchte ich einige wichtige Fragestellungen zum Alter herausgreifen, die die Medizin immer wieder in der Geschichte zu beantworten hatte: 1. Wie ist das Alter definiert? Welche physiologischen Modelle des Alterns gibt es? 2. Wie sieht die Praxis des Alterns aus? Welche Leiden kommen nach Ansicht der Medizin besonders im Alter vor, und welche Behandlungsmöglichkeiten bietet sie dafür an? 3. Welche Möglichkeiten der Alter(n)svorsorge (nicht im ökonomischen, sondern biologischen Sinne) gibt es? Wie kann ein Mensch Altern verhindern oder es möglichst lange hinauszögern und damit sein Leben verlängern? Exemplarisch soll immer wieder die frühneuzeitliche Medizin zu Wort kommen; das Thema wird aber ganz bewusst auch in einen breiteren chronologischen Zusammenhang dargestellt. Viele As8 | Ausführlich dazu: Daniel Schäfer, »That senescence itself is an illness …«. Concepts of age and ageing in perspective, in: Medical History 46 (2002), S. 525-548; Daniel Schäfer, Krankheit und Natur. Historische Anmerkungen zu einem aktuellen Thema, in: Das Gesunde, das Kranke und die Medizinethik. Moralische Implikationen des Krankheitsbegriffs, hg. v. Markus Rothhaar und Andreas Frewer, Stuttgart 2012, S. 15-31.
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pekte der Frühen Neuzeit lassen sich nur vor dem Hintergrund der antiken Tradition verstehen und einordnen, und gelegentlich ist auch ein Blick in die Gegenwart jenseits aller plumpen Vergleiche lohnenswert.
1. D efinition und M odelle des A lter (n) s Dieser Punkt wurde bereits in qualitativer Hinsicht, bei der Frage nach dem Status des Alters zwischen Krankheit und Gesundheit, angesprochen: Was ist eigentlich das Alter, wodurch wird es gekennzeichnet? Auch quantitativ ist diese Frage schwer zu beantworten. In der Regel vertrat und vertritt die Medizin bis heute den Standpunkt, dass Menschen individuell verschieden biologisch altern, dass also ein 60-Jähriger zumindest körperlich, vielleicht auch geistig deutlich älter sein kann als ein 70-Jähriger. Phänomene vorzeitigen und verspäteten Alterns werden seit 2000 Jahren beschrieben und oft auch medizinisch begründet. Dies geschieht beispielsweise mit Hilfe der angeborenen Konstitution oder besonderer Ereignisse (s.u.). Andererseits ist das individuelle Altern immer auch von den sozioökonomischen Umständen abhängig, die früher schichtbezogen noch viel unterschiedlicher als heute waren: Bauern alterten vermutlich früher als Prälaten; allerdings behauptete die Medizin in der vorstatistischen Ära immer wieder auch das Gegenteil, weil sie in erster Linie die Luxuskrankheiten der Reichen, insbesondere die Gicht zu behandeln hatte und ländliches Leben teilweise idealisierte. Darüber hinaus ist die Hypothese, dass von der Antike bis weit in die Neuzeit hinein das biologische Altern aufgrund der härteren Lebensbedingungen im Durchschnitt früher einsetzte als heute, sehr plausibel, aber im Detail nur mit umfangreichen archäologischen Untersuchungen zu beweisen. Wegen dieser Variabilität biologischen Alterns sind es zunächst eher nicht-medizinische Quellen, die eine chronologische Einteilung des Lebens in numerische Abschnitte überliefern. Hier können beispielsweise die Lebensalter-Elegie Solons aus dem sechsten
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vorchristlichen Jahrhundert (zehn Siebenjahresabschnitte) oder die bekannten frühmittelalterlichen Etymologien Isidors von Sevilla (sieben Lebensabschnitte unterschiedlicher Länge) genannt werden.9 Erst im späten Mittelalter erwähnt auch die Medizin, vielleicht unter dem Einfluss juristischer Autoren, die für die Rechtspraxis exakte Grenzen brauchen, Zahlen für den Beginn des Alters. Sie schwanken jedoch zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr, je nachdem, wieviele Phasen des Alterns man annahm und welche Anzeichen bewertet wurden. Als Ende des Alterungsprozesses wurde übrigens keine Zahl, sondern immer der Tod angegeben und aus dieser Perspektive die letzte Lebensphase häufig auch qualitativ betrachtet: Alte Menschen sind sozusagen halbtot (senex quasi seminex)10, sie werden vom eigentlichen Leben bereits abgegrenzt. Entsprechend bezeichnen beispielsweise Martin Luther und Erasmus von Rotterdam die Alten ungeniert als »lebendige Leichname«.11 Viel wichtiger als Zahlen waren für die Heilkunde seit jeher äußere Kennzeichen des Alterns, insbesondere Hautrunzeln, Grauhaarigkeit und Haarausfall12 sowie eine Abnahme körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit. Eine besondere Rolle spielte der Verlust der Zeugungsfähigkeit, die bis weit in die Frühe Neuzeit hinein nicht so sehr tabuisiert wurde wie in der Moderne. Bei Frauen 9 | Übersicht bei John Anthony Burrow, The ages of man. A study in Medieval writing and thought, Oxford 1988; Daniel Schäfer, Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase, Frankfurt a.M. 2004, S. 33-36. 10 | Georg Adam Struve, Tractatus exhibens iura ac privilegia senectutis. Von Freyheiten Alter betagter Leute, Jenae, Apud Ernestum Christianum Rudolph, 1737, S. 4. 11 | Erasmus von Rotterdam, Laus stultitiae 31, in: Ders., Ausgewählte Schriften in 8 Bänden, hg. v. Werner Welzig, Bd. 2, Darmstadt 1995, S. 71; Martin Luther, Der zwelfte und letzte Teil der Bücher des ehrnwirdigen Herrn D. Mart. Luthero: Nemlic: Die erste Auslegung über die Epistel an die Galater/ Ecclesiastes oder Prediger Salomo … Wittemberg, Hans Lufft, 1559, S. 158 v. 12 | Vgl. Schäfer, Alter und Krankheit (wie Anm. 9), S. 95f.
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interpretierte man schon sehr früh die ausbleibende Monatsregel als sicheres Zeichen für Sterilität und setzte deshalb den Beginn weiblichen Alterns fast immer um das 50. Lebensjahr an. Bei Männern wurde dieser Termin eher offengelassen; unter Umständen berief man sich auf Aristoteles, der ihnen erst mit 70 eine völlige Unfruchtbarkeit konstatiert hatte.13 Angesichts dieser Unsicherheit waren beim männlichen Geschlecht andere Alterskennzeichen wichtiger. Überhaupt war man bis etwa 1700 der Ansicht, dass Frauen früher alterten als Männer, weil sie auch früher reif würden und insgesamt von schwächerer Konstitution (im humoraltheoretischen Sinne ›kalt‹ und ›feucht‹) wären.14 Erst im 18. Jahrhundert erkannte man aufgrund erster statistischer Untersuchungen, dass sich seit der Antike die Geschlechtsproportionen im Alter umgekehrt hatten15: Während es in der griechisch-römischen Antike wohl in der Tat mehr alte Männer als Frauen gab, verkehrte sich dieser Sachverhalt spätestens seit 1500 in sein Gegenteil.16 Wichtig ist an dieser Stelle noch ein weiterer demographischer Hinweis: Natürlich wurden Menschen früher im Durchschnitt nicht so alt. Aber man sollte sich von den statistischen Lebenserwartungen von etwa 30 Jahren, die bis nach 1800 für Neugeborene in Europa typisch waren, nicht irreführen lassen. Rechnet man die ersten zehn Lebensjahre, in denen mindestens die Hälfte der Lebendgeborenen starb, heraus, hatte ein Jugendlicher durchaus eine gute Chance, 50 oder 60 Jahre 13 | Aristoteles, Historia animalium V 14 (545 b27-30). 14 | Aristoteles, De generatione animalium IV 6 (775 a4-23). 15 | Besonders der Theologe und Statistiker Johann Peter Süßmilch widmet dieser Frage Beachtung und kommt zu eindeutigen Ergebnissen: Johann Peter Süßmilch, Die göttliche Ordnung in denen Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen, 3 Bde., Berlin 1765-1776, Bd. 2, 1765, §§ 477-80, S. 348-352. 16 | Vgl. George Minois, History of old age. From Antiquity to Renaissance, Cambridge 1989, S. 80, 290-93; Vern Bullough und Cameron Campbell, Female longevity and diet in the Middle Ages, in: Speculum 55 (1980), S. 317-332.
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alt zu werden.17 Auch Berichte über 80- und 90-Jährige sind je nach Berufsstand durchaus noch vertrauenswürdig, selbst wenn man in Betracht zieht, dass bis weit ins 19. Jahrhundert in vielen Teilen Europas alten Menschen ihr genaues Geburtsjahr nicht bekannt war. Kurz gesagt: Es gab gegenüber heute weniger alte Menschen, aber es gab sie durchaus, und meist wurden bereits die 50-Jährigen, manchmal auch die 40-Jährigen dazugezählt. Wie erklärten sich Ärzte das ›Geheimnis des Alterns‹? Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die zahllosen Hypothesen und Theorien vorzustellen, die verschiedene Epochen und Kulturen zu dieser Frage entwickelten. Ich begnüge mich damit, nachfolgend die fünf wichtigsten Modelltypen mit einigen Vertretern anzugeben, wobei Vermischungen zwischen diesen Typen eher die Regel als die Ausnahme darstellen.18 Wohl am häufigsten sind, wie bereits angedeutet, Defizitmodelle. Auf die hippokratische Medizin und ältere naturphilosophische Schulen geht beispielsweise die Vorstellung zurück, dass der Mensch mit einem Maximum an innerer Wärme und Feuchtigkeit geboren werde. Je älter er sei, umso mehr verliere er diese angeborene Lebenswärme, eine Energie oder irgendein anderes Agens im Körper (z.B. Blut oder Samen). Deshalb sterbe er am Schluss kalt, trocken, vielleicht auch ausgebrannt, wenn man das alte Bild von der Lebensflamme verwenden will (s.u.). Vorstellungen aus der Natur, beispielsweise vom Welken und Vertrocknen der Pflanzen, mögen hier Pate gestanden haben.19 Eine moderne Variante dieses 17 | Eingehende Hinweise dazu bei Martin Illi, Lebenserwartung und Lebensqualität aus der Sicht des Historikers, in: Alterskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Internationaler Kongress Krems an der Donau, 16.18. Oktober 2006, hg. v. Elisabeth Vavra, Wien 2008, S. 59-74. 18 | Angelehnt an Grmek, On Ageing (wie Anm. 4), S. 8-22. 19 | Zur Verwendung von Analogien in der Altersphysiologie vgl. ausführlich Daniel Schäfer, More than a fading light. Old age physiology between speculative analogy and experimental method, in: Blood, sweat and tears. The changing concepts of physiology from Antiquity into Early Modern Europe,
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Modells ist das sogenannte Hayflick-Phänomen, das eine Verkürzung der Chromosomen-Enden bei jeder Zellteilung beschreibt – also auch ein fortschreitendes Defizit –, bis die Zellen teilungsunfähig werden und absterben. Die mit den Defizittheorien verwandten Abnutzungsvorstellungen basieren meist auf mechanischen Modellen vom Körper, die etwa seit 1700 en vogue waren. Damals betrachteten viele Ärzte den Menschen in erster Linie als Maschine. Durch ständigen Gebrauch, z.B. das fortwährende Pulsieren des Blutes durch den Körper, würden Gefäße und Organe dieser Maschine allmählich in Mitleidenschaft gezogen, was nichts anderes als altern bedeute. Bei sogenannten bradytrophen Geweben, die also einen geringen Stoffwechselumsatz haben und sich entsprechend schlecht erneuern können, spielt dieses Konzept der mechanischen Abnutzung heute noch eine große Rolle, vor allem beim Gelenkknorpel, der dann Symptome der Arthrose zeigt. Davon sind heute bis zu 80 % der alten Menschen betroffen. Ein weiterer medizinischer Modelltyp des Alterns geht genau vom Gegenteil aus: einem Zuviel an Etwas, also von Überfluss oder Vergiftung. Verhältnismäßig einfach ist die alte Vorstellung, dass man durch den Stoffwechsel lebenslang Abfallstoffe produziert, nur teilweise ausscheidet und deshalb immer mehr davon im Körper anhäuft. Bei manchen Zelltypen kann man in der Tat eine allmähliche intrazelluläre Vergiftung beobachten. Etwas komplizierter ist eine Variante, die bis ins 18. Jahrhundert hinein populär war: Die antike Heilkunde beschrieb die Verdauung des Menschen als einen Vorgang des ›Kochens‹. Wenn aber die innere Wärme zum ›Kochen‹ allmählich ausgeht (Defizitmodell!), verdaut der Körper immer weniger und unvollständiger. Demzufolge wird im Alter der Organismus immer mehr durch unverdaute oder nur teilweise verdaute Stoffe aus der Nahrung belastet, die faulen können und auf diese Weise den Körper vergiften. Hier waren ebenfalls Vorstellungen aus der Natur wegweisend: Altern hg. v. Manfred Horstmanshoff, Helen King und Claus Zittel, Leiden 2012, S. 241-266.
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und Tod sind eben nicht nur vom Vertrocknen und Erkalten, sondern auch von Fäulnisvorgängen überflüssiger Materie geprägt. Ein vierter Modelltyp betont den Einfluss der Umwelt auf das Altwerden. Die Tatsache, dass der Mensch ständig Essen, Trinken und Temperatur seiner Konstitution anpassen müsse, lasse ihn über den Verbrauch an Lebensenergie und Zunahme an Abfallstoffen altern. Außerdem mache ihn verseuchte Luft und verseuchtes Wasser (beides kennt auch schon die Frühe Neuzeit!) nicht nur krank, sondern auch alt. Kosmische Einflüsse durch Planeten und Sterne (heute spricht man eher von UV-Licht oder ionisierenden Strahlen) könnten den gleichen Effekt zeigen. Auf diese Weise ließen und lassen sich Klimazonen und Regionen postulieren, die besonders günstig oder ungünstig auf den alternden Menschen wirken. Ein letzter Modelltyp stellt im Unterschied zu den ersten vier heraus, dass Organe und Zellen des Körpers unterschiedlich schnell altern, je nach Funktion, Belastung und Regenerationsfähigkeit. Historisch wurden beispielsweise das Gehirn, das Herz, aber auch die Gefäße als erste bzw. wichtigste Faktoren der Altersgenese angeschuldigt. Die moderne Medizin hat zusätzlich zu diesen fünf Grundtypen zahlreiche neue Altersvorstellungen auf genetischer und molekularbiologischer Ebene ins Spiel gebracht; eine einheitliche Erklärung scheint aber noch nicht in Sicht, abgesehen von der Erkenntnis, dass mit der Zelldifferenzierung bei höheren Organismen Alterung und Tod regelmäßig einprogrammiert sind. Ohnehin überlässt die Heilkunde das teleologische Problem des Alterns – wozu altern wir eigentlich? – seit langem den Geisteswissenschaften, der Theologie und neuerdings auch der Evolutionsbiologie.
2. A lter (n) spathologie und - ther apie Neben diesen Fragen nach der Definition und den Ursachen des Alterns, die ja eher der Grundlagenforschung zuzuordnen sind, beschäftigt sich die Medizin seit langem mit der Praxis des Alterns:
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Welche Phänomene, welche Leiden und Krankheiten sind mit dem Altern verbunden, und welche altersspezifischen Möglichkeiten, sie zu lindern, sind vorhanden? Über die schon genannten äußeren Erscheinungen (Hautfalten und Haarveränderungen) hinaus werden seit grauer Vorzeit Listen von Altersbeschwerden aufgestellt, beispielsweise folgende: Die Gebrechlichkeit ist eingetreten … Altersschwäche ist dazugekommen, infantile Schwäche manifestiert sich erneut, (wegen ihr) döst man tagaus tagein dahin … die Sehkraft ist gering, das Hörvermögen ertaubt, die Kraft schwindet dem, dem das Herz müde ist; der Mund ist schweigsam, er kann nicht mehr reden. Das [Gedächtnis] lässt nach, es kann sich nicht mehr des Gestern erinnern. Die Knochen schmerzen wegen der Länge (der Jahre). Was (früher) gut war, ist (jetzt) schlecht. Jeglicher Geschmackssinn ist dahin. Was das Alter den Menschen antut? Übles in jeder Hinsicht!20
So heißt es in einer altägyptischen Lebenslehre, die vermutlich schon 2400 Jahre vor Christus verfasst wurde – allerdings nicht von einem Arzt, sondern von Ptahhotep, einem Wesir des Pharao, der von seinem Amt aus Altersgründen befreit werden wollte. Etwas weniger poetisch klingt eine Liste aus dem hippokratischen Schriftenkorpus um 400 v. Chr., die insgesamt 17 Beschwerden aufzählt – ebenfalls Sinnesminderungen, Gelenkaffektionen und allgemeiner körperlicher Abbau, aber auch so altersunspezifische Symptome wie Harnleiden, Schlaganfall, Juckreiz, Schlaflosigkeit, Durchfälle und Husten.21 Bemerkenswert viele Ärzte nahmen in der Frühen Neuzeit noch eine weitere Liste von metaphorisch umschriebenen Altersbeschwerden in ihre Untersuchungen auf, die im Buch Kohelet der Bibel (auch Prediger oder Ecclesiastes genannt) überliefert wird; da kommen etwa noch der Zahnausfall, das Zittern der Hän-
20 | Dieter Kurth, Altägyptische Maximen für Manager. Die Lehre des Ptahhotep, Darmstadt 1999, S. 23. 21 | Corpus Hippocraticum, Aphorismi III 31 (ed. Littré, Bd. 4, S. 500-502).
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de oder die Gangunsicherheit zur Sprache.22 So umfangreich und verschieden solche Listen auch waren, so sehr blieben sie im Zufälligen und rein Deskriptiven verhaftet. Zwar bemühten sich frühneuzeitliche Ärzte, die Krankheiten und Symptome mit dem gerade vorherrschenden Erklärungsmodell des Alterns in Zusammenhang zu bringen; letztlich dominierte aber häufig eine nicht-altersspezifische Erklärung des Leidens, und man therapierte diese angeblich speziellen Altersleiden oft ohne besondere Rücksicht auf das Alter. Erst als sich die Organpathologie im ausgehenden 18. und vor allem im 19. Jahrhundert weiterentwickelte, lernte man bedeutsame Veränderungen des greisen Organismus und die korrespondierenden Alterskrankheiten näher kennen, beispielsweise das Gelenkrheuma, bestimmte Lungenkrankheiten oder die Arteriosklerose. Aber es währte bis ins 20. Jahrhundert, bis man die in der Regel chronischen Erkrankungen – schon Hippokrates hatte einen langen Verlauf von Krankheiten als typisch für das Alter angesehen – therapeutisch wirksam angehen konnte. Heute unterscheidet man zahlreiche altersassoziierte Erkrankungen (die also vermehrt im höheren Lebensalter auftreten) von relativ wenigen altersabhängigen Erkrankungen, die praktisch immer mit dem Alter auftreten und deren Entstehen unmittelbar mit Alterungsprozessen in Zellen und Geweben zu erklären ist: etwa die Altersweitsichtigkeit, vielleicht auch bestimmte Demenzformen. Neben zahlreichen körperlichen Erkrankungen wies die Heilkunde seit der Antike immer wieder auch auf den Verfall geistiger Fähigkeiten, insbesondere des Gedächtnisses, hin.23 Dies war insofern ein Problem, als die idealistische platonisch-christliche Philosophie höhere geistige Funktionen der unsterblichen und damit auch 22 | Koh 12, 1-8; vgl. Schäfer, Alter und Krankheit (wie Anm. 9), S. 325-350. 23 | Ausführlich zu diesem Thema s. Daniel Schäfer, Demenz vor Alzheimer? Altern und Gedächtnis in der Frühen Neuzeit, in: Medizingeschichte im Rheinland. Beiträge des »Rheinischen Kreises der Medizinhistoriker« (Schriften des Rheinischen Kreises der Medizinhistoriker, Bd. 1), hg. v. Dominik Groß und Axel Karenberg, Kassel 2009, S. 105-124.
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alterslosen Seele zuschrieb. Dementsprechend pflegten ihre Anhänger das Ideal eines geistig rüstigen, weisen und deshalb besonders zum Staatsamt befähigten Greises (von Nestor bis Adenauer wurden deshalb Greise als besonders gute Politiker betrachtet). Die seit der griechischen Antike überwiegend materialistisch eingestellte Medizin befasste sich jedoch, wenn überhaupt, nur mit Seelenvermögen, die gemeinsam mit dem Körper altern. Als Kompromiss behalf man sich lange Zeit mit der Erklärung, dass lediglich die körperlichen Sinne und Gehirnfunktionen, die für geistige Fähigkeiten Voraussetzung sind, altern, nicht jedoch die Seele selbst. Trotzdem hielt sich die Medizin bis 1700 auffällig zurück, diese Themen zu diskutieren, und dies deutet nicht nur auf ein Defizit im tatsächlichen Verständnis der Gehirnfunktionen hin, sondern auch auf die ideologischen Vorbehalte, die damit verbunden waren. Einen weiteren Sonderfall der Altersleiden stellt der sogenannte Marasmus dar, mit dem sich die Medizin fast 2000 Jahre lang intensiv befasste.24 Schon in der hippokratischen Liste war von Kachexie, also Auszehrung, als Altersphänomen die Rede; der spätrömische Arzt Galen benutzte dafür das griechische Wort Marasmos, was Austrocknung bedeutet. Marasmus war in der antiken Medizin eigentlich eine altersunspezifische Bezeichnung für den körperlichen Endzustand nach heftigen Fiebererkrankungen oder nach besonders stark wirkenden Fiebertherapien, wenn ein Mensch gleichsam ausgebrannt, also kalt und ausgetrocknet ist.25 Nach der humoralpathologischen Defizittheorie galt der alte Mensch ebenfalls als kalt und trocken, und wohl deshalb benutzte Galen dieses Marasmuskonzept als Modell oder Analogie für das Altern: Alter ist also wie Marasmus, und alte Menschen sind wie solche, die eine lange Fiebererkrankung hinter sich haben. Aus dieser bloßen Analogie wurde jedoch mit der Zeit eine Verschmelzung: In der Frühen 24 | Übersicht bei Johannes Steudel, Der Marasmus senilis und die Geschichte der Alterskrankheiten, in: Medizinische Welt 16 (1942), S. 932-935, 957-961; Schäfer, Alter und Krankheit (wie Anm. 9), S. 56f., 196f. 25 | Ausführlich dazu Galen, De marcore (ed. Kühn, Bd. 7, S. 666-704).
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Neuzeit sprach man vom natürlichen Marasmus und verstand darunter zuletzt die klinische Endstrecke des Alterns kurz vor dem Tod, wenn ein Mensch lethargisch, kaum ansprechbar vor sich hin dämmert und womöglich noch leicht fiebert. Am Ende sollte ein schmerzfreier Tod durch das Alter stehen, den Ärzte erstmals im 18. Jahrhundert mit dem heutzutage schillernden Begriff euthanasia, guter Tod, umschrieben.26 Die Verbindungen zwischen dem Altersmarasmus, der sogenannten Altersschwäche, der eingangs erwähnten Krankheit Alter und dem Alterstod, also der ursprünglichen Bedeutung von Euthanasie, waren ganz eng. Das Konzept des Altersmarasmus und eines natürlichen Alterstodes ohne spezielle Krankheiten verflüchtigte sich erst im letzten Jahrhundert.27 Während die Altersmedizin in der Erkennung und Behandlung spezifischer Altersleiden lange Zeit wenig zu bieten hatte, lag ihre Stärke und ihr Schwerpunkt eindeutig in Hilfen und Empfehlungen für eine altersadäquate Lebensweise, die Alterskrankheiten vorbeugen und gegebenenfalls lindern sollte. Deren Wurzeln lassen sich wiederum in der Antike finden: Der bereits erwähnte spätrömische Arzt Galen bezeichnete im zweiten nachchristlichen Jahrhundert die Gerokomiké, die Altersfürsorge, als ein wichtiges Teilgebiet der Medizin.28 Unter Altersfürsorge verstand Galen hauptsächlich Empfehlungen, wie ein alter Mensch selbst seinen Tag gestalten soll; nur in Einzelfällen sind Pflegepersonen angesprochen, die für Gymnastik und Transport sorgen oder die Zubereitung besonderer Speisen übernehmen. Nach dem griechischen Wort diaitá, Lebensweise, nannte man diese Form der Behandlung Diätetik. Die heute noch übliche Bezeichnung Diät (Regel für das Abnehmen/Politikeralimente) ist nur noch ein schwacher Abglanz des komplizierten Regelwerks dieser historischen Diätetik, das zur Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten meist an erster Stelle eingesetzt wur26 | Schäfer, Alter und Krankheit (wie Anm. 9), S. 187, 376. 27 | Noch 1983 las ich auf einem Totenschein die völlig unprofessionelle Diagnose ›Altersschwäche‹. 28 | Galen, De sanitate tuenda V 4 (ed. Kühn, Bd. 6, S. 330).
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de. Natürlich gab es einen großen Strom allgemeindiätetischer Regeln, die ohne Rücksicht auf das Lebensalter Geltung besaßen. Mit Galen setzt aber ein kleineres, gleichwohl kontinuierliches Rinnsal spezieller Regeln für das Alter ein. Eine alte altersdiätetische Regel besagt beispielsweise, dass der Wein die Milch der Greise sei (vinum lac senum). Diese Auffassung hielt sich durch die Jahrhunderte, allen Protesten der Ärzte in der Frühen Neuzeit zum Trotz, die vor der Trunksucht der Greise warnten.29 Schon in der Spätantike, spätestens aber im Mittelalter, wurde das große Gebiet der Diätetik in sechs Teile untergliedert, die man lateinisch die ›sechs nicht-natürlichen‹ Dinge (sex res non naturales) nannte, – ›nicht-natürlich‹ deshalb, weil ihre Regelung nicht angeboren, sondern dem menschlichen Einfluss unterworfen sei.30 An vorderster Stelle stand die Luft, stellvertretend für sämtliche klimatische Faktoren, die auf den Menschen einwirken. Es ging also um die Regulation von Temperatur und Wind durch Kleidung, Hausbau, die Auswahl der Region, in der man lebt etc. Alte Menschen sollten es natürlich möglichst gleichmäßig warm haben und um der reinen Luft willen möglichst weit oben wohnen (an ihre Mobilität dachte man noch nicht). Es folgte (2.) die geeignete Auswahl an Speisen und Getränken – passend zur Kaufähigkeit, zur eingeschränkten Verdauung und zu den Defiziten im Säftehaushalt. Gefordert wurden möglichst viele, kleinere Mahlzeiten. Der dritte Punkt, die Ausgewogenheit zwischen Bewegung und Ruhe, erörterte besonders den Bereich von Gymnastik, Massagen und Bädern im Tagesablauf, möglichst vor den Mahlzeiten, um die Verdauungswärme zu fördern. Der Wechsel von Schlaf und Wachen (4.) war angesichts von Schlaflosigkeit und Schlafsucht im Alter besonders wichtig; neben günstigen Schlafpositionen und dem Gebrauch der 29 | Schäfer, Alter und Krankheit (wie Anm. 9), S. 62, 203. 30 | Vgl. Wolfram Schmitt, Art. »Res non naturales«, in: Lexikon des Mittelalters, 9 Bände, München/Zürich 1977-98, Bd. 7, Sp. 751f. – Nachfolgende Ausführungen zu Altersdiätetik sind ausführlich beschrieben und belegt bei Schäfer, Alter und Krankheit (wie Anm.9), S. 105-111, 202-204.
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Nachtmütze wurde beispielsweise auch der Mittagsschlaf ausgiebig besprochen. Fülle und Entleerung (5.) spricht die heiklen Gebiete von Toilette und Sexualität an; letztere sei für alte Frauen durchaus empfehlenswert, für Männer dagegen überhaupt nicht.31 Außerdem wurden in diesem Zusammenhang der Aderlass und andere Verfahren der Blutentleerung besprochen, die früher eine immense Bedeutung hatten. Beim Umgang mit Emotionen wie Zorn, Furcht, Freude oder Schmerz (6.) waren alte Menschen aufgefordert, jedes Übermaß, das tödlich wirken kann, zu meiden. Als anschauliches Beispiel wurde immer wieder davon berichtet, dass Inhaftierte innerhalb einer Nacht durch die erlittene Angst weißhaarig geworden, also stark vorgealtert wären32 – ein Topos, der auch die Literaturgeschichte von der Antike bis heute durchzieht. Angesichts der sonstigen therapeutischen Hilflosigkeit besaßen diese diätetischen Regeln im praktischen Leben von Gesunden und Kranken, Alten und Jungen eine enorme Bedeutung – sie gingen völlig in die Alltagsgestaltung von Küche, Hof und Keller, Reisen und Festen ein und wurden oft gar nicht mehr reflektiert. Doch gerade im Alter, das wie die Rekonvaleszenz zwischen Krankheit und Gesundheit positioniert war, galt es, sich in vielen Punkten langsam umzustellen, um Krankheiten zu vermeiden oder vorsichtig die Gesundheit wieder zu erlangen. Natürlich war dieses Regelwerk sehr kompliziert, von Laien insgesamt nicht zu durchschauen und unter Fachleuten in Details sehr umstritten – etwa beim Wein. Deshalb wurden seit dem Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert hinein zahlreiche medizinische Traktate als Ratgeber für das tägliche Leben eines alten Menschen verfasst.33 Sie sprachen allerdings eher ein Luxuspublikum an. Es gab auch Versuche, das System radikal zu vereinfachen, insbesondere von Laienseite aus. Noch von Goethes Leibarzt Christoph Wilhelm Hufeland wurde in diesem Zusam31 | Vgl. Schäfer, Alter und Krankheit (wie Anm. 9), S. 198f., 278. 32 | Anselmi, Gerocomica (wie Anm. 5), S. 78. 33 | Zur einschlägigen Textsorte der Gerokomien vgl. Johannes Steudel, Gerokomie, in: Deutsches medizinisches Journal 7 (1956), S. 89-91.
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menhang der venezianische Adelige Alvise Cornaro erwähnt, der bereits Mitte des 16. Jahrhunderts an seiner eigenen Person eine radikale Hungerdiät ausprobierte und sie als Mittel zum gesunden und langen Leben im Alter empfahl.34 Cornaros begeisterte Schilderung kam im zeitgenössischen Europa sehr gut an, und in der Tat gibt es ja einen Zusammenhang zwischen Kalorienreduktion und Langlebigkeit.35 Seine Diät hinterließ aber auch bedenkliche Spuren; sie verstärkte nämlich noch die häufig anzutreffende Attitüde alter Menschen (»Ich brauche ja nicht viel«) und trug vielleicht zu manchem Fall von Altersmarasmus bei.
3. A lter (n) spr ävention und L ebensverl ängerung Mit Cornaro sind wir schließlich beim letzten Hauptpunkt angekommen, der – auch an die Medizin gerichteten – konzeptionellen Frage nach der Altersvorsorge: Wie kann man das Altern verhindern oder zumindest hinauszögern, wie das Leben verlängern oder sogar wieder jung werden? Das sind zeitlos brennende Fragen, die weit über das Alter hinaus den uralten Wunsch nach Unsterblichkeit einschließen. Sie beschäftigen die Antike genauso wie den Menschen heute. Eines der ältesten überlieferten Rezepte im ägyptischen Papyrus Edwin Smith verheißt zu Beginn: »Anfang von der Buchrolle für das Verwandeln eines Alten in einen Jugendlichen«.36 Leider zeigen die Bestandteile des Rezeptes, dass es sich bloß um Hautkosmetik handelt – nicht unwichtig im Alter, aber keineswegs von dauerhaftem Erfolg. Am anderen Ende der Zeitachse stehen hormonbasiertes Anti-Aging, Botox-Injektionen, Internet-Angebo34 | Alvise Cornaro, Vom maßvollen Leben oder die Kunst, gesund alt zu werden, hg. u. eingel. v. Klaus Bergdolt, Heidelberg 1997. 35 | Vgl. dazu Daniel Schäfer, Aging, longevity, and diet: Historical remarks on calorie intake reduction, in: Gerontology 51 (2005), S. 126-130. 36 | Sm Rs.21,9-22,10; Übersetzung in: Wolfhart Westendorf, Handbuch der ägyptischen Medizin, Bd. 2, Leiden 1999, S. 747f.
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te für Kryonik und andere Verfahren. Durch Konservierung wollen die Anbieter den menschlichen Körper zumindest bis zu dem Zeitpunkt erhalten, an dem technische Verfahren zur Verjüngung entwickelt sein werden. Diese Beispiele könnten jetzt den Eindruck erwecken, dass die Themen Altersverzögerung, Verjüngung und Langlebigkeit nur eine Spielwiese für Scharlatane und die sogenannte Komplementärmedizin seien. Das stimmt so nicht: Auch die seriöse Medizin beschäftigt sich seit langem ernsthaft mit diesem Thema; nur ist das gesellschaftliche Interesse so groß und die konkret anwendbaren Antworten der Forschung insgesamt so bescheiden, dass der spekulative Markt der Möglichkeiten seit jeher wuchert. Moderne Molekularbiologen suchen fieberhaft nach dem ›Unsterblichkeitsgen‹, das den programmierten Zelltod aufhält. Alter wird auf diese Weise wieder zu einer Krankheit, die man therapieren kann (und unter dem gesellschaftlichen Druck irgendwann vielleicht sogar muss). In der älteren Medizin finden sich zum Teil ebenfalls solche Versprechungen; überwiegend betont sie aber wie bereits Galen die Unaufhaltsamkeit des Alterns und weist lediglich auf die Möglichkeit hin, durch optimale Diaita (also Lebensweise) das Altern hinauszuzögern. So sind es häufig medizinische Außenseiter oder Laien, die sich der Wünsche nach Langlebigkeit annehmen. Oft führen sie verschiedene ältere Traditionen zusammen, wenn sie Heilmittel zur Altersretardierung mit geheimnisvollen Worten umschreiben.37 In der Vergangenheit waren dies Bestandteile von Pflanzen, Tieren, Mineralien und Metallen, die selbst das Odeur der Langlebigkeit besaßen. Darin spiegelt sich ein ausgeprägtes Analogie-Denken – Gleiches wird mit Gleichem behandelt (similia similibus). So gibt es viele Mittel mit Schlangenbestandteilen, denn die Schlangen schei37 | Überblick zur Geschichte der Verjüngungsmedizin bei Daniel Schäfer, Auf der Suche nach der Überwindung des Todes. Medizinische Spekulationen im kulturellen Kontext, in: Endlichkeit, Medizin und Unsterblichkeit (Ars moriendi nova, Bd. 1), hg. v. Annette Hilt, Isabella Jordan und Andreas Frewer, Stuttgart 2010, S. 19-32.
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nen sich durch Häutung zu verjüngen. Ferner galten alle Stoffe, die zur Leichenkonservierung nützlich waren, als potente Lebensretter und -verlängerer, beispielsweise Aloe und Ambra, aber auch stark duftende Pflanzen wie Rosmarin und Wacholder – und insbesondere die Mumie selbst, die pulverisiert als Medikament diente. Bestandteile der Zeder, die man als ältesten Baum der Welt ansah, aber auch ›unvergängliches‹ Gold und makellose Perlen empfahl man in unterschiedlichen Zubereitungen allen, die noch länger leben wollten – in erster Linie natürlich alten Menschen. Paracelsus, der als ›Luther der Medizin‹ im 16. Jahrhundert die Heilkunde reformieren wollte, griff dagegen zu den Erzeugnissen der Alchemie. Auf diese Weise wollte er nicht nur unedle Metalle in Gold verwandeln, sondern auch den Körper entrosten und ihm viele Jahre schenken. Seine schulmedizinischen Kritiker jubelten dementsprechend laut, als er schon mit 47 Jahren das Zeitliche segnete und auf diese Weise seine eigenen Lehren widerlegte.38 Wunsch und Skepsis, das Geheimnis des Alterns zu lüften, finden sich in vielen Epochen oft nebeneinander. Angesichts der in den letzten Jahrzehnten exorbitant wachsenden Lebenserwartung dominiert in der modernen Geriatrie im Unterschied zur AntiAging-Medizin derzeit eher die Skepsis. Das erklärte Ziel heutiger Altersheilkunde ist viel mehr, den Jahren Leben hinzuzufügen, anstelle dem Leben Jahre.39 Qualität statt Quantität im Alter – nur bleibt fraglich, ob diese Einsicht Gesellschaft und autonomem Individuum angesichts von Jugendkult und Todesangst zu vermitteln ist. Das schon in der Antike verbreitete Bonmot – »Keiner will alt sein, doch alle wollen alt werden«40 – gilt heute mehr denn je. Und 38 | Zu Paracelsus vgl. Schäfer, Alter und Krankheit (wie Anm. 9), S. 134140. 39 | Dieses Bonmot ist bereits in den 1920er Jahren zu finden bei Peter Schmidt, Das überwundene Alter. Wege zu Verjüngung und Leistungssteigerung, Leipzig 1928, S. 361. 40 | Über Stobaios (Anthologia IV 50, 1) bereits für den griechischen Dichter Krates von Athen (5. Jh. v. Chr.) nachgewiesen; vgl. Peter Ferdinand Moog,
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ungeachtet der Diskussionen um Patiententestament und Sterbehilfe wird die Medizin auch und gerade in einer säkularen Gesellschaft für dieses Ziel in die Pflicht genommen. Die ethischen Probleme, die mit diesem Wunsch nach Lebensverlängerung verbunden sind, nämlich eine Medikalisierung des Alters und vor allem des Sterbens, werden an anderer Stelle und zu anderen Zeiten verhandelt – nämlich erst dann, wenn sie für den einzelnen und die Gesellschaft überhand nehmen. Diese vielfältigen Informationen zu historischen Konstrukten von Alter und Krankheit sollten verdeutlichen, wie grundsätzliche Fragen und Antworten aus diesem Bereich auch in der Gegenwart immer wieder relevant sind, und wie eng medizinische Konzepte mit gesellschaftlichen Vorstellungen verbunden, ja davon geprägt sind. Allerdings ist das Wissen über das ›Geheimnis des Alterns‹ heute viel größer als in früheren Zeiten, und auch das Altern selbst hat sich fundamental gewandelt. Aber auf diese Unterschiede muss in einem eigenen Beitrag eingegangen werden.
L iter atur Anselmi, Aurelio Gerocomica sive de senum regimine. Opus non modo philosophis & medicis gratum, sed omnibus hominibus utile, Venetiis, Apud Franciscum Ciottum, 1606. Bobbio, Norberto, Vom Alter – De senectute, Berlin 1997. Bullough, Vern/Campbell, Cameron, Female longevity and diet in the Middle Ages, in: Speculum 55 (1980), S. 317-325. Burrow, John Anthony, The ages of man. A study in Medieval writing and thought, Oxford 1988. Cornaro, Alvise, Vom maßvollen Leben oder die Kunst, gesund alt zu werden, hg. u. eingel. v. Klaus Bergdolt, Heidelberg 1997. Daniel Schäfer und Joannes Stobaios, »On old age«: An important source for the history of gerontology, in: Journal of the American Geriatrics Society 56 (2008), S. 354-358.
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A lter , kulturwissenschaf tlich und kulturgeschichtlich Altern ist ein komplexer Vorgang, der neben biologischen, psychologischen, medizinischen, sozialen, ökonomischen und juristischen auch kulturelle Dimensionen hat. In den Kulturwissenschaften gilt Alter heute – wie Geschlecht, Rasse und Ethnie – »als Differenzkategorie«, als eine Wirklichkeit, die nicht einfach gegeben, »sondern kultureller und gesellschaftlicher Deutung unterworfen ist«1, ja sogar durch Praktiken, Diskurse, Genres, Medien konstruiert und in Relation zu Jugend bestimmt wird. Alter wird subjektiv erlebt und
1 | Dorothee Elm u.a., Einleitung, in: Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, hg. v. Dorothee Elm u.a., Berlin/ New York 2009, S. 1-18, hier S. 2. Dazu auch: Irmhild Saake, Die Konstruktion des Alters. Eine gesellschaftstheoretische Einführung in die Alternsforschung, Wiesbaden 2006, und: Henriette Herwig, Für eine neue Kultur der Integration des Alters, in: Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, hg. v. Henriette Herwig, Bielefeld 2014, S. 7-33.
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täglich, stündlich neu performativ inszeniert.2 Entsprechend geht man heute nicht mehr von Altersidentitäten aus, sondern von wechselnden Altersrollen und performativen Altersinszenierungen. Dabei spielen Vorstellungsmuster eine Rolle, die sich im Verlauf der Kulturgeschichte herausgebildet haben und in Texten, Bildern, Filmen und Diskursen tradiert werden.3 Was dabei entsteht, sind Stereotypen, Analogisierungen des menschlichen Lebenslaufs mit den Tageszeiten, ›Lebensabend‹, den Jahreszeiten, ›Herbst des Lebens‹, den Temperaturen, ›Kälte‹ des Alters im Gegensatz zur ›Hitze‹ der Jugend, Vorstellungen vom menschlichen Leben als linearer Aufstieg, ›Stufengang‹, als Auf- und Abstieg, ›Lebenstreppe‹, als Rückkehr des Endes an den Anfang, ›Lebenszyklus‹, und als kontinuierlicher Verfall. Alter kann als »Erfolgsgeschichte« – Zunahme an Weisheit und Erfahrung – oder als »Verfallsgeschichte« – Verlust der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit – verstanden werden.4 Das eine ist ein Wachstumsmodell, das andere ein Defizitmodell. Die Opposition zwischen ›jung‹ und ›alt‹ erfasst heute sogar die Kategorie Alter selbst, da den positiv konnotierten, erleb2 | Die Übertragung des von Judith Butler eingeführten Begriffs der ›performativen Geschlechtsidentität‹ auf das Alter wurde im deutschen Sprachraum vorgeschlagen von Miriam Haller, ›Ageing trouble‹. Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung, in: Altern ist anders, hg. v. dem InitiativForum Generationenvertrag, Münster 2004, S. 170-188; Miriam Haller, Die ›Neuen Alten‹? Performative Resignifikation der Alterstopik im zeitgenössischen Reifungsroman, in: Elm, Alterstopoi (wie Anm. 1), S. 229-247; Miriam Haller, Undoing Age. Die Performativität des alternden Körpers im autobiographischen Text, in: »Für Dein Alter siehst Du gut aus!«, hg. v. Sabine Mehlmann und Sigrid Ruby, Bielefeld 2010, S. 215-233. 3 | Vgl. Gerd Göckenjan, Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a.M. 2000. 4 | Heike Hartung, Zwischen Verfalls- und Erfolgsgeschichte. Zwiespältige Wahrnehmungen des Alter(n)s, in: Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, hg. v. Heike Hartung, Bielefeld 2005, S. 7-18.
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nisfreudigen »jungen Alten« oft die negativ konnotierten, pflegebedürftigen »alten Alten« gegenübergestellt werden.5 Die Art, wie der Einzelne sein Altern erlebt, hängt nicht nur von seinen Entfaltungsmöglichkeiten und seinem Körperschicksal ab, sondern auch von verinnerlichten Altersnormen, Altersrollen, Fremdzuschreibungen, vorhandenen oder unterstellten Erwartungen anderer, medialen Darstellungen und gesellschaftlichen Stereotypen. Trotzdem ist er nicht nur Opfer medialer und diskursiver Strategien, er kann sich auch zu ihnen verhalten, sie unterwandern, ironisieren, sabotieren. Kaum ein Medium zeigt das besser als die Literatur. Die Geschichte des literarischen Altersdiskurses seit der abendländischen Antike ist zum einen die Geschichte wiederkehrender Alterstopoi und ihrer Redegattungen. Zu ihnen gehören die Altersklage, die Altersschelte, das Alterslob, der Alterstrost und der Altersspott, die – insbesondere in der Typenkomödie, aber nicht nur in ihr – zur Ausbildung von Figurenmodellen6 geführt haben wie der weise Alte – seltener die weise Alte –, der/die kindische Alte, der/die geizige Alte, der/die verschlagene Alte, der/die verliebte Alte, der/ die alte Diener/in, der alte Bock, der alte Narr, der alte Asket, die alte Hexe, die alte Kupplerin. In letzter Zeit kommen der/die ›junge‹ Alte, der/die pflegebedürftige Alte und der/die demente Alte hinzu.7 Dabei zeigen sich viele Antinomien. Die Reihe der gegensätzlichen Begriffe, mit denen »der letzte Lebensabschnitt des Menschen cha5 | Barbara Pichler, Aktuelle Altersbilder: »junge Alte« und »alte Alte«, in: Handbuch soziale Arbeit und Alter, hg. v. Kirsten Aner und Ute Karl, Wiesbaden 2010, S. 415-425, hier S. 415. 6 | Miriam Seidler, Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen 2010, S. 433f. 7 | Die zwei zuletzt genannten Typen treten beispielsweise in der neuen Gattung Pflegeheimroman in Erscheinung. Deutschsprachige Beispiele sind u.a.: Marc Wortmann, Der Witwentröster, Köln 2002 (dazu: Seidler, Figurenmodelle (wie Anm. 6), S. 315-379); Jürg Schubiger, Haller und Helen, Innsbruck 2002; Pierre Chiquet, Königsmatt, Zürich 2003; Annette Pehnt, Haus der Schildkröten, München 2006; Björn Kern, Die Erlöser AG, München 2007.
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rakterisiert wird«, reicht »von Geistesschwäche und Weisheit über Lüsternheit und Lustfeindlichkeit bis zu Geiz und Fürsorge oder Völlerei und Askese«.8 Sie zeigt eine starke Geschlechterdifferenz in der kulturellen Konzeptualisierung des Alters. Weisheit wird seit Ciceros berühmtem Essay De senectute9 (entst. ab 44 v. Chr.) fast ausschließlich dem alten Mann zugeschrieben, Kuppelei, die Lust an der Stiftung von Liebesbeziehungen, häufiger der alten Frau. Armut und Krankheit trifft beide Geschlechter. Eine kluge Greisin wie die alte Jeschke in Fontanes Kriminalnovelle Unterm Birnbaum (1885) gilt als ›alte Hexe‹, nicht als das, was sie eigentlich ist: eine raffinierte Detektivin.10 Topoi wie die genannten werden in rhetorischer Absicht aber nicht nur ständig zitiert, sie werden dabei auch resignifiziert. So ergibt sich in der Konstanz eine verblüffende Variabilität. Kulturgeschichte hat es also nicht nur mit Stereotypenbildung zu tun, sondern auch mit Individualisierung. Das spannungsvolle Verhältnis 8 | Elm, Alterstopoi (wie Anm. 1), S. 2. 9 | Tullius Cicero, Cato maior de senectute. Cato der Ältere über das Alter, lateinisch – deutsch, übers. und hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 2003 (1998). Cicero war zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes 62, seine Figur Cato maior fast 85 Jahre alt. Die Rede Catos widerlegt vier Anklagepunkte gegen das Alter: erstens den »Zwang zur Untätigkeit«, zweitens »die Schwächung der körperlichen Kräfte«, drittens den »Verlust vieler Freuden« und viertens die Todesnähe. Gegen den ersten spricht »die Fülle politischer, künstlerischer, erzieherischer und häuslicher Wirkungsmöglichkeiten«, gegen den zweiten der Vorrang der Geisteskraft vor der körperlichen Kraft, gegen den dritten der Genuss »des durch Leistung erworbenen Ansehens«, gegen den vierten die Tatsache, dass »der Tod den Menschen in jedem Alter treffen kann«, und »die Erwartung eines Fortlebens der Seele nach dem Tod«. Harald Merklin, Einführung, in: ebd., S. 14f. 10 | Henriette Herwig, Alter(n) und Geschlecht in ausgewählter Prosa Theodor Fontanes, in: Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute, Bd. 1: Aufsätze, hg. v. Andrea von Hülsen-Esch und Hiltrud Westermann-Angerhausen, Regensburg 2006, S. 52-62, hier S. 53ff.
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von Tradition und Innovation, dem auch Topoi und stereotype Bilder unterworfen sind, ist längst noch nicht ausreichend erforscht.11 Das aber tut dringend not. Denn in den hoch entwickelten Industriegesellschaften sind die Lebensläufe der Menschen nicht mehr vorgegeben, sondern individualisiert. Das gilt auch für die letzte Lebensphase, das Alter. Eine Gesellschaft, in der schon heute jeder vierte über 65 Jahre alt ist, steht vor neuen Herausforderungen. Sie muss neue Formen des Umgangs mit dem Altern lernen und neue Wege der Sinngebung für das Alter entdecken. Sie braucht individualisierte Altersentwürfe. Der Literatur als Raum des Probehandelns kommt hier ein besonderer Stellenwert zu. Literatur kann mögliche Welten erfinden, Rollen erproben, Machtverhältnisse offenlegen, Ideologien durchleuchten, Hierarchien unterwandern, Normen spielerisch brechen. Sie kann zeigen, wem Diskursmuster dienen und wer von ihnen profitiert. Sie kann Vergangenheit reflektieren und Zukunft antizipieren. Dabei ist sie Motor und Medium der Reflexion von kulturellem Wandel zugleich. Was sie tut, hat keine direkten Handlungskonsequenzen, vielleicht aber indirekte. Es lohnt sich also zu schauen, was Schriftsteller tun, wenn sie das Alter repräsentieren. Alter spielt in der Literatur in vielerlei Hinsicht eine Rolle: als Lebensphase des Autors, Alterswerk, als Stileigentümlichkeit des Textes, ›Altersstil‹ – der aber nicht essentialistisch verstanden werden darf –, als Thema, diskursiv reflektiert oder in alten Figuren verkörpert, und als Symbol für das Ende einer Gesellschaftsform oder das Ausklingen einer Epoche. Das will ich im Folgenden an drei Beispielen konkretisieren: an Theodor Fontanes Altersroman Der Stechlin (1898), Wilhelm Raabes letztem Romanfragment Al-
11 | Einschlägig hierzu: Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt a.M. 1976, S. 103. Wilhelm SchmidtBiggemann und Anja Hallacker, Topik. Tradition und Erneuerung, in: Topik und Tradition. Prozesse der Neuordnung von Wissensüberlieferungen des 13. und 17. Jahrhunderts, hg. v. Thomas Frank u.a., Göttingen 2007, S. 15-27.
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tershausen (posthum 1911) und Christa Wolfs später Erzählung Leibhaftig (2002).
Theodor F ontanes A ltersroman D er S techlin Zwischen 1895 und 1897 schreibt Theodor Fontane, der sowohl die kunsttheoretischen Debatten seiner Zeit als auch die »Kursänderung in der wilhelminischen Politik« aufmerksam verfolgt12, seinen Altersroman Der Stechlin. Dieser Zeit-, Gesellschafts-, Vielheits- und Gesprächsroman ist ein sprachkritisches Alterswerk. Er spiegelt in Kommentaren konservativer Figuren wie Adelheid und Rex nicht nur den Byzantinismus Kaiser Wilhelms II., die Verschärfungen seiner Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik wider, sondern auch die Gefährdungen des politischen und gesellschaftlichen Systems durch die beschleunigte Industrialisierung, die Verstädterung, den Geldadel und die aufstrebende Sozialdemokratie. Fontane sieht klar, dass die märkischen Gutsbesitzer eine »anachronistisch gewordene[.] Gesellschaftsstruktur« symbolisieren, die nicht mehr zukunftsfähig ist.13 Wer nun aber glaubt, der Autor mache aus dem Titelhelden Dubslav von Stechlin, der so heißt wie sein Schloss, das Dorf, die Region und der geheimnisvolle See, eine anachronistische Figur, hat weit gefehlt. Der alte Dubslav wird als äußerst sympathischer Herr gezeichnet, der den Entwicklungstendenzen der Zeit aufgeschlossen gegenübersteht und dem Veralten seiner Welt mit Humor und Selbstironie begegnet. Jünger als er kann man kaum sein. Er liebt Paradoxien wie: »Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig.«14 12 | Eda Sagarra, Der Stechlin. Roman, in: Fontane-Handbuch, hg. v. Christian Grawe und Helmuth Nürnberger, Stuttgart 2000, S. 662-679, hier S. 664f. 13 | Ebd., S. 667. 14 | Theodor Fontane, Der Stechlin. Roman. Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Bd. 5, hg. v. Helmuth Nürnberger, Darmstadt 2002, S. 10.
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Sein feines Stilempfinden lässt ihn sich über die Sprachverkümmerung durch das neue Medium der Telegraphie ärgern; trotzdem zögert er nicht, die Vorteile der beschleunigten Fernkommunikation einzuräumen. Dass er bei der Rheinsberger Wahl als Kandidat der Konservativen durchfällt, erleichtert ihn. Im Gegensatz zu seiner starrsinnigen Schwester Adelheid, der Domina von Kloster Wutz, steht er der Heirat seines Sohnes Woldemar mit einer Tochter aus dem weltoffenen Hause Barby aufgeschlossen gegenüber. Im Alter nimmt er – sehr zum Ärger Adelheids – die Tochter einer Prostituierten bei sich auf, die kleine Agnes. Obwohl sich in ihren roten Strümpfen der bevorstehende Gesellschaftsumsturz schon symbolisch ankündigt, ist ausgerechnet sie es, die dem alten Gutsherrn seinen Lebensabend vergoldet: »[…] die Agnes bleibt. Ich sehe so gern was Zierliches. Es ist ein reizendes Kind. […] Du sagst, sie wird wie die Karline. Möglich is es. Aber vielleicht wird sie auch ’ne Nonne. Man kann nie wissen.«15 Herr von Stechlin verkörpert den Adel nicht, »wie er ist«, sondern, wie er »sein sollte«16, offen für das Neue, soweit nötig, das Alte bewahrend, soweit möglich. Privilegien versteht er als Verpflichtung. Melusine von Barby, die geschiedene, intelligente, selbständige, ›neue‹ Frau, die seinem Sohn zwar gefällt, aber suspekt ist, wäre durchaus eine Partnerin für den alten Herrn von Stechlin. Ihr werden die letzten Worte des Romans in den Mund gelegt: »[…] es ist nicht nötig, daß die Stechline weiterleben, aber es lebe der Stechlin.«17 Gemeint ist zunächst der See in der Ruppiner Provinz, der durch einen geheimnisvollen Wasserstrahl mit allen natur- und weltgeschichtlichen Ereignissen der Erde in Verbindung steht. Ihm, nicht dem Adelsgeschlecht der Stechline, gehört die Zukunft. Mit dem Schlusswort Melusines kann aber auch der Roman selbst gemeint sein, das Vermächtnis des Autors 15 | Ebd., S. 356. 16 | Brief an Carl Robert Lessing vom 8.6.1896. Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe, Abteilung IV: Briefe, Bd. 4: 1890-1898, hg. v. Otto Drude und Helmuth Nürnberger, Darmstadt 1982, S. 562. 17 | Fontane, Stechlin (wie Anm. 14), S. 388.
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über seinen Tod hinaus. So gelesen, ist es ein selbstreferentieller poetologischer Kommentar. Dann gehört die Zukunft der poetischen Imaginationskraft. Dubslav stirbt nicht im Herbst, sondern im Vorfrühling. Im Gegensatz zum Geschichtsdenken seiner Zeit ist Fontanes Fokus auf die Gestalt und die Tendenzen, die sie reflektiert, »zutiefst antiteleologisch«.18 Wir haben es mit einem Alterswerk in einem selbstreflexiven ›Altersstil‹ zu tun. Es ist um eine alte Figur zentriert, die als alter Weiser und alter Narr, vom alten Diener Engelke verwöhnt, das Altern von Menschen, Dingen, Konventionen und Strukturen bedenkt und dabei den epochalen Wandel spiegelt. Mit seiner Offenheit, seinem Weitblick und seiner Toleranz verkörpert der alte Dubslav von Stechlin Fontanes Begriff von Humanität. Mag die neue Zeit kommen! Mag die Weltgesellschaft entstehen! Wichtig ist nur, dass das Leben, so human wie möglich, weitergeht.
W ilhelm R aabes fr agmentarischer A ltersroman A ltershausen Soeben hat er seinen 70. Geburtstag gefeiert. Er ist nicht krank, er ist nicht schwach, er ist nicht senil. Trotzdem bricht Wilhelm Raabe seine Jahrzehnte lange »Fahrt über das Dintenmeer«19 plötzlich ab. Sein letzter Roman Altershausen20 , begonnen im Februar 189921, bearbeitet bis August 1902, bleibt Fragment. Obwohl der Autor noch 18 | Sagarra, Stechlin (wie Anm. 12), S. 668. 19 | Brief an Siegmund Schott vom 12.8.1895. Wilhelm Raabe, Sämtliche Werke, 20 Bde. und 5 Ergänzungsbde., hg. v. Karl Hoppe u.a., Göttingen 1951ff., Ergänzungsbd. 2: Briefe, Göttingen 1975, S. 370. 20 | Ich zitiere den Text nach der Ausgabe: Wilhelm Raabe, Altershausen, Berlin 2010, mit der Sigle A und Seitenangaben in Klammern. 21 | Das Tagebuch vermerkt unter dem Datum 2.2.1899: »Angefangen: Altershausen«. Raabe, Sämtliche Werke (wie Anm. 19), Bd. 20: Hastenbeck, Altershausen, Gedichte, Göttingen 1968, S. 482.
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acht Jahre lebt, ist diese Entscheidung unwiderruflich – aus welchem Grund?22 »Ich habe mich ausgeschrieben, und als Schriftsteller des 19. Jahrhunderts zum zwanzigsten gar nichts mehr zu sagen.«23 So lautet einer seiner ersten Selbstkommentare. Das kann nur eine ironische Untertreibung sein. Denn Altershausen selbst ist das beste Beispiel dafür, dass der Autor ganz und gar nicht »ausgeschrieben« war, sondern im Gegenteil Erzählmöglichkeiten erprobte, die seiner Zeit weit voraus waren, heute geradezu postmodern anmuten. Kurz vor seinem Tod, im Brief an den Berliner Verleger Grote vom 13. Juli 1910, spricht er von einem »bittere[n] Ding« und von »abgerissenen Fäden«, die »wieder an einander zu knüpfen« er nicht im Stande sei.24 Hält Raabe sich und seine Ausdrucksformen für historisch überholt, oder ist die Zeit für seine neuen Formexperimente noch nicht reif? Werfen wir, um diese Frage beantworten zu können, zunächst einen Blick auf den Text, seinen Inhalt und seine Erzählstruktur. Worum geht es in Altershausen? Wie der Titel schon sagt: um das Zuhause des Alters, um die Gestaltung der letzten Lebensphase vor dem Tod. Und wie entfaltet der Text seinen Altersdiskurs? Er lässt einen 70-jährigen Jubilar in Ich-Form über seinen runden Geburtstag Bericht erstatten und diesen mit dem ersten Kapitel in die epische Schilderung einer Reise an den Ort der Kindheit übergehen, die eine Reise in die Vergangenheit ist. Das ist eine Form der
22 | Roy Pascal, Warum ist Altershausen Fragment geblieben?, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (1962), S. 147-154, hier S. 147. Theo Buck, Am Rande des inneren Monologs. Zur Erzählkonstruktion von Raabes Altershausen, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (1987), S. 24-45. 23 | Aufzeichnung von Fritz Hartmann, o. D. Raabe, Sämtliche Werke (wie Anm. 20), Ergänzungsbd. 4, Gespräche: Ein Lebensbild in Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen, hg. v. Rosemarie Schillemeit, Göttingen 1983, S. 167. 24 | Raabe, Sämtliche Werke (wie Anm. 20), Ergänzungsbd. 2: Briefe, S. 504.
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»Verräumlichung der Zeit«.25 Der Text, der dadurch entsteht, spielt mit dem Wechsel von Ich- und Er-Erzählung, Übergängen von der Außen- in die Innenperspektive, von der fiktiven Realität in Traum und Illusion, mit Vermischungen von Gelesenem und Erlebtem: erzählte Erinnerung »am Rande des inneren Monologs«.26 Der Geheime Obermedizinalrat a. D. mit dem sprechenden Namen Dr. Fritz Feyerabend, ein berühmter Arzt und Psychiater, wacht am Tag nach der Feier seines 70. Geburtstags mit einem Gefühl der Erleichterung auf: »Überstanden!« (A 7) Das kurze »Feuerwerk« (A 11) der öffentlichen Ehrungen ist vorüber, jetzt kommt die lange Zeit der Alterseinsamkeit. »Siebenzig Jahre nun und – für das Alter immer noch merkwürdig gut auf den Beinen«, mit Phrasen wie dieser nur schwach getröstet, sieht der »Jubelgreis« (A 8) sich einem völligen Vakuum an Altersrollen gegenüber, das er mit dem Schreiben eines Erinnerungsprotokolls aufzufüllen beginnt. Er selbst ist zwar noch »dabei«, sogar »in perfect health and memory« (A 9), sein Weib und sein Kind sind es aber schon lange nicht mehr. »Das schöne Wetter, und mein Kind nicht mehr dabei!« (A 8), dieser Schmerzensschrei seiner Frau, die schon mehr als dreißig Jahre tot ist, ist das Erste, was dem Pensionär beim Erwachen wieder einfällt. Damit ist das Leitmotiv angeschlagen, die »Kontrastspannung einer existentiellen Grunderfahrung im Zeichen des ›immer noch‹ und des ›nicht mehr‹« aufgebaut.27 Die Restzeit eines ›noch dabei‹-Seins, was ist mit ihr anzufangen? Wird sie mehr sein als ein inneres Leben mit den Toten? Die Phase der beruflichen Tätigkeit, der öffentlichen Wirksamkeit ist vorüber. Schon vor Jahrzehnten entfielen auch die Rolle des Ehemannes und die des Vaters. Deshalb steht jetzt auch die des Großvaters nicht zu Gebote, keine Generationenbeziehung, keine Sinnstiftung durch Genealogie. Eine Umorientierung des alten Psychiaters hin zu den traditionell »weibliche[n] Vergesell25 | Hubert Ohl, Bild und Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Raabes und Fontanes, Heidelberg 1968, S. 151. 26 | Buck, Am Rande (wie Anm. 22), S. 24. 27 | Ebd., S. 27.
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schaftungsformen«28 wie Fürsorge für Kinder und Kindeskinder ist nicht möglich. Selbst die Adressaten seines Berichts sind die Toten: »Noch dabei, ihr Toten! …« (A 11) »Träumend und überwach in einem sieht er sich verstrickt in endzeitlich-zeitlose Spiele der ›Simulation‹ (Jean Baudrillard) erlebter, vorgeblich längst erledigter Begebenheiten.«29 An die Stelle der verstorbenen Frau ist die Schwester getreten, die den berühmten Gelehrten ermahnt: ›[...] daß du mir jetzt nicht zu früh ein alter Mann wirst! Klateriges, winseliges Hinhocken in Ehren und Würden, wenn man den alten Kaiser, den alten Bismarck, den alten Roon und Moltke an allen Wänden aufgehängt sieht, finde ich lächerlich, und aufs Fliegenabwehren beim Nachmittagsschlaf lasse ich mich fürs erste bei dir auch noch nicht ein. [...]‹ (A 21)
Auf diesen Altersspott hätte das schwesterliche Lästermaul verzichten können, denn den Rat: »Bleib in den Stiefeln, Mensch! So lange als möglich« (A 21) hat der alternde Gelehrte sich längst selbst gegeben. Er kann die Beschönigungs-Phrasen für das Alter auch sprachkritisch reflektieren und durch hyperbolisches Zitat ironisch unterlaufen: ich habe mich gut ›konserviert‹. Alle sagen das, und auch mein allergnädigster Landesherr wird, wenn ich ihm demnächst meinen Dank für den huldreichst verliehenen hohen Orden zu Füßen legen werde, vielleicht eine ähnliche freundliche Bemerkung fallenlassen. (A 8f.)
Feyerabend kennt die Regeln des geselligen Verkehrs, nimmt sie aber nicht mehr ernst. Sein Reflexionsvermögen bewahrt ihn aber nicht vor dem Gift, das ihn beim »Ehrenfestmahl für den Mann
28 | Gertrud M. Backes, Geschlechterverhältnisse im Alter, in: Soziale Gerontologie. Ein Handbuch für Lehre und Praxis, hg. v. Birgit Jansen u.a., Weinheim/Basel 1999, S. 453-469, hier S. 454. 29 | Buck, Am Rande (wie Anm. 22), S. 31.
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der Wissenschaft«30 plötzlich infiziert, dem »Heimweh nach der Jugend« (A 22), nach dem Geburtsort Altershausen, nach seiner »Kaninchenzucht mit Ludchen Bock« (A 24). Ludchen war sein Jugendfreund, sein Lehrer in der Lebenskunst, ein Junge, der ihm beibrachte, was der Lateinlehrer ihm vorenthielt. Es ist Ludchens Stimme, die der Geheimrat während der Festreden als unwillkürliche Erinnerung (Marcel Proust) plötzlich vernimmt: »Herr Rektor, Feyerabend ist unrein!« (A 25), was heißt: Auf seinem Kopf krabbelt eine Laus. Zu Ludchen führt die Reise, zu der Feyeraband sich als Melancholie-Therapie31 entschließt. Eine Reise in die Metropolen der Welt, zu Kongressen, an die Krankenbetten reicher Patienten, hätte die Schwester ohne weiteres gebilligt. Über seine erste selbstbestimmte, aber »letzte Reise, seine Jubiläumsfahrt nach Altershausen« (A 34), ist sie entsetzt – vielleicht auch, weil der Bruder sie nicht mitnimmt. »Feyerabend hat [...] zum erstenmal unbegrenzte Zeit; aber zugleich hat er keine mehr zu verlieren.«32 Seine Reise duldet keinen Aufschub. Am Ort der Kindheit angekommen, fühlt er sich aber »so sehr in der Fremde« (A 39) wie Odysseus bei seiner
30 | Jens Malte Fischer, Nimmundlies (VI). Wilhelm Raabe: Altershausen, in: Merkur 56 (2002), S. 451-455, hier S. 451. 31 | Die Gestalt des melancholischen Gelehrten, seit Albrecht Dürers Kupferstich Melencolia I (1514) ein Topos, steht auch im Mittelpunkt von Goethes Faust (1808), der zu den Subtexten von Altershausen gehört. Heinz Rölleke, Kommentierungen zu Wilhelm Raabes Altershausen, in: Jahrbuch der RaabeGesellschaft (2003), S. 66-77. 32 | Siegfried Hajek, Die Freiheit des Gebundenen. Bemerkungen zu Raabes Altershausen, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (1974), S. 24-40, hier S. 25. Den Nachweis, dass Raabes Altershausen in viel weitreichenderem Sinn als bisher wahrgenommen »als Hypertext der Odyssee« zu lesen ist, hat Heiko Ulrich (Wilhelm Raabe zwischen Heldenepos und Liebesroman, Berlin 2012, S. 55) erbracht.
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Heimkehr nach Ithaka.33 Nicht zufällig hat er die Fahrt dorthin verschlafen. Anagnorisis, das seit der Poetik des Aristoteles hoch gelobte Wiedererkennen von Menschen und Dingen, hat ja immer eine paradoxale Struktur. Anagnorisis im strengen Sinne gibt es nicht. Das Verstreichen der Zeit verunmöglicht sie. Das zu erkennende Objekt ist verwandelt, das erkennende Subjekt hat sich verändert, der Wahrnehmungskontext ist ein anderer. Deshalb ist jedem Akt des Wiedererkennens auch das Erschrecken über die Differenz eingeschrieben. Es gibt keine Identität im Wiedererkennen, nur Bewusstsein des Wandels.34 In jedem Wiedererkennen steckt neben dem Glück auch ein Moment von Wahnsinn. Verschiedene Reaktionen auf diese Irritation sind denkbar: »Man kann ja entweder die dem Wiedererkennen vorangegangene Negativität des Vergessens, des Verlusts, ja sogar die radikale Negativität des Gar-nicht-gehabt-Habens und Gewesen-Seins betonen, oder umgekehrt die Positivität des Wieder-, Noch-einmal- und vielleicht sogar Mehr-als-vorher-Habens hervorheben.«35 Man kann dabei Trauer über Verlorenes, Wehmut über Verpasstes oder Freude über Immer-noch-Mögliches empfinden. Man findet aber nicht, was man gesucht hat. Auch Dr. Feyerabend trifft am Bahnhof des Heimatorts zwar zufällig auf Ludchen Bock, die weinerliche Kinderstimme, mit der er ihm Hilfe beim Gepäcktransport anbietet, gibt dem Gelehrten sogar das Gefühl, »wirklich noch einmal zu Hause in Altershausen angelangt« (A 40) zu sein. Er blickt aber in das faltenlose Gesicht eines alten »Idioten« (A 60). 33 | Das unterstreicht der Text mit einem Zitat aus dem 13. Gesang der Odyssee des Homer: »›Da erwachte der edle Odysseus/Ruhend auf dem Boden der lange verlassenen Heimat./Und er kannte sie nicht‹ –« (A 39). 34 | Helmut Müller-Sievers, Ahnen ahnen. Formen der Generationenerkennung um 1800, in: Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie, hg. v. Sigrid Weigel u.a., München 2005, S. 157-169. 35 | Eva Geulen, Anagnorisis statt Identifikation (Raabes Altershausen), in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 82 (2008), H. 3, S. 424-447, hier S. 429.
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Denn Ludchen Bock ist im Alter von zwölf Jahren auf den Kopf gefallen und seither in seiner geistigen Entwicklung stehen geblieben. Für ihn steht die Zeit still. Noch mit 70 Jahren ist er im ersten Kinderspiel »wirklich mit dabei« (A 113), in das Feyerabend sich nur träumerisch zurückversetzt. Das macht aus Ludchen Bock eine groteske Figur, ein kindisch vergnügt lachendes »Ding«, ein »Gespenst« (A 40). Feyerabend reagiert auf das greise Kind, in dem Roy Pascal nur eine »tragische Lebensfratze« zu sehen vermag36, auf zwei Zeitebenen und in zwei Rollen zugleich: Der Arzt in ihm diagnostiziert betrübt und mit schlechtem Gewissen die unheilbare Krankheit, der Bub in ihm will die Gassenjungen, die Ludchen heute wie damals verspotten, ergreifen und verprügeln. Feyerabend hat gefunden, was er suchte, doch in grotesk entstellter Form. Umgekehrt kann auch Ludchen in dem fremden Mann, der Inkognito – wie Odysseus in Ithaka – in Altershausen angekommen ist, nicht seinen Jugendfreund Fritze Feyerabend wiedererkennen. Aber mit untrüglichem Instinkt nennt er ihn beim nächtlichen Gang durch den Ort plötzlich bei seinem »Kindheitsnamen«37: »[…] sie haben mir den blanken Taler weggenommen, Herre, Herre, […] und nun kann ich nicht nach Hause aus Angst, Fritze!« (A 58f.). In dem Moment ist alles, was das Leben des Gelehrten bisher ausgemacht hat, weggewischt: »Nichts übrig als zwei Jungen auf dem Wege nach Hause – beide mit dem Gefühl, sich verspätet zu haben! …« (A 60) Doch diese Gemeinsamkeit täuscht. Ludchen ist spät nachts auf dem Heimweg zu Minchen Ahrens, die ihm das unversehrte Leben ermöglicht, indem sie es abschirmt. Als lebenslanges Kind bleibt er angewiesen auf den Schutz einer Mutterfigur, die mit ihm altert, ohne dass er es merkt. Feyerabend sucht kurz vor dem Tod eine verlorene Lebensunmittelbarkeit. Er hat sich nicht im tageszeitlichen, sondern im lebenszeitlichen Sinn »verspätet« und kommt auch als Arzt für Ludchen, dem er vielleicht hätte helfen können, »zu spät« (A 100). Ludchen spricht Feyerabend 36 | Pascal, Fragment (wie Anm. 22), S. 151. 37 | Geulen, Anagnorisis (wie Anm. 35), S. 439.
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als den Knaben an, der er einmal war, er erkennt nicht das jetzige Alter des einstigen Jugendfreundes. Von gelungener Kommunikation, einer Begegnung »auf gleicher geistiger Ebene« kann deshalb keine Rede sein.38 »[…] das Heimweh nach der Jugend – nach dem Leben hatte den Greis nach Altershausen getrieben, und er mußte es nur herausbringen, was Ludchen Bock dazu zu sagen hatte!« (A 101) Will er das jetzt noch wissen? Wenn ja, was hat der in seiner Entwicklung Stehengebliebene dem Arzt, der einerseits die Vergangenheit bis zur Realpräsenz vergegenwärtigt, andererseits in einem Traum als »Nußknacker vom vorigen Jahr« (A 104) schon seinem Amtsnachfolger begegnet und damit die Zukunft antizipiert39, noch zu sagen? Dass Feyeraband sein Leben verfehlt hat, dem Schein, dem Ruhm, der Ehre aufgesessen ist und darüber das Sein verpasst hat? Macht Raabe hier einen ›Verrückten‹ zum Inbegriff des wahren Lebens? Oder lernt der Gelehrte am Beispiel des grotesken Kindes, sein Altern als Preis für das bewusst gelebte Leben zu akzeptieren? Derjenige, der »vor dem furchtbaren Geheimnis des Selbstbewußtseins« (A 47) geflohen ist, steht jetzt vor einem, der kein Selbstbewusstsein hat, also auch kein Bewusstsein seines Alterns. Soll man aus dieser Konstellation mit Andreas Maier den Schluss ziehen: »Die Menschen sind falsch, alle. Besser wären sie als Kinder, was bei Erwachsenen dann aber Idiotismus bedeutet«?40 Wohl kaum, eher wird in Ludchen Bock Feyerabends »Protest […] gegen das Älterwerden« zurückgewiesen.41 Darüber hinaus hat die Figur neben ihrer existentiellen Bedeutung für den alten Gelehrten auch eine poetolo38 | Torsten Voß, Narrative des Alters. Wilhelm Raabes Altershausen, in: Signaturen realistischen Erzählens im Werk Wilhelm Raabes, hg. v. Dirk Göttsche und Ulf-Michael Schneider, Würzburg 2010, S. 215-230, hier S. 228. 39 | Hier spielt der Text mit Anklängen an E.T.H. Hoffmanns Kunstmärchen Nußknacker und Mausekönig (1816). 40 | Andreas Maier, Nachwort, in: Raabe, Altershausen (wie Anm. 19), S. 127-141, hier S. 141. 41 | Pascal, Fragment (wie Anm. 22), S. 153.
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gische Funktion. Allegorisch verstanden verkörpert Ludchen Bock die narrative Utopie der »stillgestellte[n] Zeit«.42 Und die erlaubt es dem Protagonisten, nicht nur den »Ort der Kindheit« zu besuchen, sondern in der erneuten Begegnung mit Ludchen Bock »diese selbst […] wieder lebendig« werden zu lassen.43 Die auf diese Weise entworfene Zeit ist eine fiktive, eine Art Traumrealität. An diesem Punkt wird es Zeit, von Minchen Ahrens zu reden, die bei dem Gedanken, Ludchen könne plötzlich »mit seinem gesunden Vestande« (A 100) aus seinem Dornröschenschlaf erwachen, geradezu erschrickt. Warum hat Minchen die Rolle von Ludchens Krankenschwester übernommen? Nur, weil sie »mit weinen« musste, »wenn er weinte, und mit lachen, wenn er lachte« (A 98)? Das sympathetische Gefühlsempfinden ist nur der vorgeschobene Grund. Hinter ihm verbirgt sich ein Trauma. Denn die Erinnerungen an die Jugend, die Minchen »am Maienborn« (A 117) von Altershausen mit Fritze Feyerabend austauscht, sind keineswegs idyllisch. Weit davon entfernt, nur Feyerabends »Muse der Repetition«44 zu sein, stellt Minchen seinem Lebensschicksal ihr eigenes gegenüber und zwingt den privilegierten Mann damit zu einer Relativierung seiner Prioritäten. Denn Minchen nutzt die Gelegenheit, etwas zu erzählen, das ihr Herz schon seit Jahren beschwert. Es hat mit dem zu tun, »was alle Tage passiert unter jungem Volk« (A 125), was auch ihr als junge Frau passiert ist und was sie inzwischen zur »alte[n] Rat-hole-Tante« (A 123) für andere junge Mädchen gemacht hat. Das kann neben der verlorenen Liebe: »ich hatte damals einen, mit dem ich nicht bloß Mitleid hatte« (A122), kaum etwas anderes gewesen sein als eine ungewollte Schwangerschaft und ein verlorenes oder 42 | Ingo Meyer, Im »Banne der Wirklichkeit«? Studien zum Problem des deutschen Realismus und seinen narrativ-symbolistischen Strategien, Würzburg 2009, S. 545. 43 | Voß, Narrative (wie Anm. 38), S. 219. 44 | Eckart Oehlenschläger, Erzählverfahren und Zeiterfahrung. Überlegungen zu Wilhelm Raabes Altershausen, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 98 (1979), S. 242-267, hier S. 267.
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gestorbenes Kind.45 Wenn diese Hypothese stimmt – und dafür spricht, dass Minchen sich so intensiv nach Feyerabends früh verstorbener Frau und seinem toten Kind erkundigt – werden in diesem Text nicht nur zwei, sondern drei »negative Lebensbilanzen«46 ineinander verwoben. Auch Minchen ist inzwischen eine Greisin. Auch ihr Leben verlief anders, als sie es sich in der Jugend gewünscht hat. Die Adoption Ludchens, dem sie durch ihr Samaritertum ein Leben in paradoxer Freiheit ermöglicht, war der Ersatz für ein verlorenes Lebensglück mit Mann und Kind. Beide Alten trauern um ihr ungelebtes Leben und das ihrer toten Kinder.47 Sie therapieren sich gegenseitig durch das Erzählen. Im Gegensatz zu Fritz steckt Minchen aber nicht in einer Sinnkrise. Ihr fiel genau im richtigen Moment mit Ludchen ein »lebendiges Kind« (A 125) zu und damit eine Aufgabe, die sie als sinnstiftend erlebt. Wie es dazu kam, braucht nicht mehr erzählt zu werden, ist aber das, was den weltgewandten Mann, dem seine Erfolge nichts mehr bedeuten, mehr als alles andere interessiert: »Erzähle mir doch davon, Minchen. Jetzt sitze ich nur dessentwegen hier. Und nimm dir Zeit. Die haben wir beide jetzt.« (A 126) Minchen erkennt auch sofort, dass Feyeraband nicht nur Ludchens wegen nach Altershausen zurückgekehrt ist, sondern aus »Heimweh« nach dem, was bei seinem »Altersfest« »nicht mehr auch dabeisein konnte – dem Besten aus [s]einen besten Jahren!« (A 93), nach Frau und Kind. Und die sind nirgendwo mehr zu finden, auch in Altershausen nicht, sie gehören ja nicht einmal zu der mit diesem Ort verbundenen Lebensphase. »Endgültiger kann man kaum sein. Da werden
45 | Christoph Zeller, Allegorien des Erzählens. Wilhelm Raabes Jean-PaulLektüre, Stuttgart/Weimar 1999, S. 331. Vgl. auch: Geulen, Anagnorisis (wie Anm. 35), S. 441. 46 | Buck, Am Rande (wie Anm. 22), S. 34. 47 | Das Thema des toten Kindes ist für Raabe auch von autobiographischer Bedeutung. Seine jüngste Tochter starb im Alter von 16 Jahren. Werner Fuld, Wilhelm Raabe. Eine Biographie, München/Wien 1993, S. 324-326.
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Leben verworfen wie Samen in den Wind, nur daß sie nicht mehr aufgehen.«48 Ludchen spielt als infantiler Greis täglich neu die alten Kinderspiele und verstrickt den Geheimrat beim erneuten Wiedersehen dabei sogar wieder in Rivalität.49 Feyerabend lässt sich aus Mangel an persönlichen Beziehungen von einem Mitglied seiner Herkunftsfamilie bemuttern und von Minchen in eine Erzählgemeinschaft der Verlebendigung von Vergangenheit entführen. Minchen verweilt mit einem geistig Behinderten, den sie adoptiert hat, in dessen fortdauernder Kindheit. Den selbst gewählten Verzicht auf Entwicklung und andere Formen der Identitätsperformanz bricht sie erst in dem Moment auf, als sie im Gespräch mit dem Jugendfreund zur Erzählerin wird. Als solche lässt Feyerabend als Protokollant ihrer Erinnerung sie aber nicht zu Wort kommen. Ihre Lebensgeschichte bleibt im Text eine Leerstelle, die der Leser sich aus vagen Andeutungen zusammenreimen muss. So wird auch die Möglichkeit einer späten Beziehung zwischen Feyerabend und Minchen, die sich ja am Maienborn von Altershausen wiederbegegnen, verspielt oder besser: in Text überführt, teilweise sogar in unterschlagenen. Kein Gedanke an Silver Sex, weit gefehlt! An der Einsamkeit aller in ihren Lebensbezügen gefangenen alten Figuren ändert sich nichts. Raabe gestaltet die Erschütterung des bürgerlichen Selbstverständnisses am Beginn der Moderne als Dissoziation von sozialer und personaler Identität, als Krise des Zeitbewusstseins50 und als Krise des Erzählens. Dabei spielt er einen durch Krankheit entstellten gegen zwei gesunde und einen traditionell ›männlichen‹ 48 | Maier, Nachwort (wie Anm. 40), S. 128. 49 | Wie Telemach, der Sohn des Odysseus, – allerdings erfolglos – selbst den Bogen seines Vaters spannen will, um die Freier zu besiegen und Penelopes Wiederverheiratung zu verhindern, so vertreibt Ludchen seit Jahrzehnten die Bewerber seiner Pflegemutter und stört auch jetzt die Annäherung Feyerabends an Minchen Ahrens. Ulrich, Wilhelm Raabe (wie Anm. 32), S. 109-117. 50 | Dirk Göttsche, Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes, Würzburg 2000, S. 153-171.
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gegen einen traditionell ›weiblichen‹ Lebenslauf aus. Er lässt den äußerlich erfolgreichen, aber innerlich vereinsamten alten Mann bei einer alten Frau in die Lehre gehen, die ihr Leben in den Dienst eines Geisteskranken gestellt hat, um ihn vor der »Anstalt« (A 87) und sich vor der Verzweiflung zu bewahren. Obwohl er sich nicht verliebt, wird der Alte dabei vom melancholischen Gelehrten zum Greis im Frühling und zum selbstkritischen Schreiber. Heißt das nicht auch, dass Raabe am Ende seiner Schaffenszeit ein Verlaufsschema der männlichen Normalbiographie in Frage stellt, das auf Erfolg und öffentliche Anerkennung ausgerichtet ist, dabei aber auf emotionale Zufuhr von Frauen angewiesen bleibt? Dann geht es in Altershausen nicht nur um die Frage der Wiederholbarkeit von Erlebtem, seiner Vergegenwärtigung im Erzählen und seiner Integration in das Selbstbild des vernünftigen Subjekts, dann geht es auch um die Utopie eines Ausgleichs zwischen männlichen und weiblichen Formen des Alterns, bei dem der Mann die »Feminisierung«51 des Alters als Chance erlebt. Der Text ist auch als Beleg für das Veralten von Erzähltraditionen52 und die nachlassende Kreativität des Autors im Alter gelesen worden. Diesem Stereotyp muss mit Nachdruck widersprochen werden. Richtig ist, dass dem subjektiven Bewusstseinsprozess Feyerabends »die Erzählform des inneren Monologs«53 entsprochen hätte, die der 51 | Birgit Hoppe, Geschlechterdifferenz des Alterns, in: Altern braucht Zukunft. Anthropologie, Perspektiven, Orientierung, hg. v. Birgit Hoppe und Christoph Wulf, Hamburg 1996, S. 77-93, hier S. 84. Backes, Geschlechterverhältnisse (wie Anm. 28). 52 | Selbst Ralf Simon, der »Spätstil« als ästhetische, nicht als biologische Kategorie auffasst, verbindet das Ende der realistischen Erzähltradition noch mit dem Topos des Alterswerks (Gespenster des Realismus. ModerneKonstellationen in den Spätwerken von Raabe, Stifter und C. F. Meyer, in: Konzepte der Moderne, hg. v. Gerhart von Graevenitz, Stuttgart/Weimar 1999, S. 202-233, hier S. 202 und 221). Dazu: Voß, Narrative (wie Anm. 38), S. 218f., Anm. 11. 53 | Buck, Am Rande (wie Anm. 22), S. 36.
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junge Arthur Schnitzler zur selben Zeit in Wien entwickelt, zu der der alte Raabe sich aber nicht mehr durchringt, obwohl er sie mit der Fokussierung auf den Schreibprozess des Jubilars zunächst anlegt. Das epische Erzählen, für das er sich schließlich entscheidet, ist aber kein realistisches mehr, ganz im Gegenteil. Raabes Andeutungsstil spart das Entscheidende häufig aus. Sein sprunghaft-digressionsreiches Erzählen ist mehr von Cervantes, Sterne und Jean Paul geprägt als von den großen Realisten des 19. Jahrhunderts – und von Homers Odyssee. Raabes passiver Held wird in die Doppelrolle von Figur und Erzähler gespalten und damit zum Kommentator seiner selbst. Als Erzählinstanz ist er auf sämtlichen Zeitebenen allgegenwärtig, ohne dass seine Urteile deshalb an Verlässlichkeit gewönnen. Sie können kindlich naiv, scherzhaft humorvoll, träumerisch selbstvergessen, hoch reflektiert und zutiefst selbstironisch sein; »häufig werden sie durch Ironiesignale, durch den Fortgang der Handlung und die Schlußgestaltung desavouiert«.54 So entsteht das Paradox der Unzuverlässigkeit auktorialen Erzählens, das Raabes späte Prosa ebenso weit von der Verklärungspoetik des Poetischen Realismus entfernt wie von der Drastik naturalistischer Milieuschilderung. Sein experimenteller, humoristisch-selbstreflexiver Spätstil weist schon auf Erzählweisen der Postmoderne voraus. Altershausen zeugt eher von der Freiheit des alten Autors im Umgang mit Traditionen, Erzählkonventionen und Marktgesetzen als von nachlassender Kreativität im Alter. Mit Hans-Georg Pott würde ich hier eher vom »Eigensinn des Alters«55 sprechen. Zu Raabes an Rücksichtslosigkeit grenzender Freiheit gehört auch die Entscheidung, die angedeutete Parallelgeschichte Minchens vorzuenthalten und eine mögliche Engführung beider Lebensläufe zu einer Alterszweisamkeit zu verweigern. Harmonische Schlüsse sucht man beim späten Raabe vergeblich.
54 | Hans-Jürgen Schrader, Nachwort, in: Wilhelm Raabe, Altershausen, Frankfurt a.M. 1985, S. 263-276, hier S. 271. 55 | Hans-Georg Pott, Eigensinn des Alters. Literarische Erkundungen, München 2008.
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Aufgrund der Rückwärtsgewandtheit der Perspektive kommt zivilisatorischer Fortschritt in Altershausen nur am Rande zur Sprache, zum Beispiel in dem Hinweis des Parkwächters: »Ungeziefer gibt es nicht mehr bei uns. Die Zeit, wo man damit seine Last hatte, ist vorbei. […] da sind die jetzigen städtischen Verhältnisse dran schuld« (A 17). Dass zur Realität des späten 19. Jahrhunderts die beschleunigte Industrialisierung mit ihren Folgen der Verstädterung und Umweltverschmutzung gehört, wird nur angedeutet. Ökologie ist in einem anderen Text Wilhelm Raabes Thema, in Pfisters Mühle (1884), dem ersten Umweltroman deutscher Sprache.
C hrista W olfs späte E rz ählung L eibhaftig In Leibhaftig 56 liegt eine alte Frau nach einem verschleppten Blinddarmdurchbruch mit einer Bauchfellentzündung im Krankenhaus. Eine Sepsis bringt sie in Lebensgefahr. In fünf aufeinander folgenden Operationen versuchen die Ärzte lange Zeit vergeblich, den Eiterherd zu entfernen. Er muss durch wiederholte Computertomographien immer wieder neu verortet werden. Mit jedem Mal wächst die Gefahr, dass die Kranke den nächsten chirurgischen Eingriff nicht überlebt. Die Bemühungen der Ärzte und des Pflegepersonals werden durch die Mangelverwaltung des DDR-Krankenhauses erschwert: Es fehlt an wirksamen Medikamenten, haltbaren Plastikhandschuhen, Nachthemden zum Wechseln. Aber auch der Körper der Patientin scheint nicht mithelfen zu wollen. Nach jeder Operation steigt das Fieber wieder bis zum Schüttelfrost, droht eine erneute Sepsis. Das veranlasst den behandelnden Arzt zu der Frage: 56 | Ich zitiere den Text nach der Erstausgabe: Christa Wolf, Leibhaftig. Erzählung, München 2002, im Folgenden mit der Sigle L und Seitenangaben in Klammern. Eine ausführlichere Fassung der folgenden Analyse findet sich in: Henriette Herwig, Liebe, Krankheit und Tod in Christa Wolfs später Erzählung Leibhaftig, in: Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, hg. v. Henriette Herwig, Bielefeld 2014, S. 325-343.
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»Warum ist Ihr Immunsystem derart schwach?« (L 102) Diese Frage ist das Leitmotiv des Textes. Sie kann nur mit Bezug auf das ganze Leben der Patientin beantwortet werden, dessen Verletzungen, traumatische Erfahrungen und ungelöste Konflikte sich als »Körperschriften«57 ihrem Körper eingeschrieben haben. Der Gedanke an einen Bilanzselbstmord liegt nahe. Erst als der Pathologe die besonders bösartigen Erreger der Infektion im Bauchraum identifiziert hat, kann das wirksame Gegenmittel aus dem Westen herbeigeschafft und der Patientin verabreicht werden. Damit ist die Krise überwunden, setzt die Heilung ein. Jetzt kann der Chefarzt der Patientin auch erfreut für ihre »gute Mitarbeit« (L 117) danken. Nach einer langen Zeit des Schwebens zwischen Leben und Tod scheint sie sich für das Weiterleben entschieden zu haben. Der Pathologe gratuliert der Frau, »die derart gefährliche Biester in sich gezüchtet hatte« (L 166), am Schluss zu ihrem »Sieg« (L 167). Die Erzählung ist autobiographisch. Christa Wolf lag 1988 selbst mit einem Blinddarmdurchbruch in einem Schweriner Krankenhaus und musste fünf Operationen über sich ergehen lassen. Ihr Bericht über diese Zeit ist eine private Krankengeschichte und eine Allegorie auf den Untergang der DDR zugleich. Christa Wolf setzt sich mit den Ursachen, die zum Zusammenbruch der DDR geführt haben, auseinander und mit jenen, die das Immunsystem der mit diesem Staat identifizierten Patientin kollabieren ließen. Bis zum Zeitpunkt der Erkrankung hat sie die DDR für das ›bessere Deutschland‹ gehalten. Jetzt muss sie sich die Frage stellen, ob sie einer Ideologie aufgesessen ist. Ihre Wunde ist ein tief in der Bauchhöhle versteckter Eiterherd, verursacht »durch jahrelanges Leben in einem Staat«, der selbst seine loyalsten Bürger »eingesperrt und überwacht«58 und einen noch größeren Unrechtsstaat, das NS-Regime, nahtlos abgelöst hat. Den Eiterherd im Körper bekämpft das 57 | Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003 (1999), S. 241. 58 | Helge Jordheim, Versuche zu einer Zeithermeneutik der Moderne und der Postmoderne. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Grass’ Im
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wirksame Medikament, die Heilung der Psyche erfolgt über einen schmerzhaften Erinnerungsprozess. Diese Arbeit findet in den Träumen und Fieberphantasien der Patientin statt. In ihnen steigt die Erzählerin, begleitet von ihrer Anästhesistin Kora Bachmann, in die Tiefen des eigenen Körpers und in die Geschichte der geteilten Stadt Berlin. Das erzähltechnische Verfahren der Verräumlichung von Zeit dient der Vergegenwärtigung von Vergangenheit, ist Medium der Erinnerung an die Abfolge zweier totalitärer Staaten in Deutschland und deren Auswirkung auf die Familie der Patientin. Zu einer dieser Schichten gehört Hannes Urban, das negative Alter Ego der kranken Schriftstellerin. Urban, ein früherer »Freund und Genosse« (L 36), den die Erzählerin in ihrer Leipziger Studienzeit als Student der Germanistik kennen lernte und der später als opportunistischer Kultursekretär im SED-Ministerium Karriere machte, hat sich als Reaktion auf eine scharfe Kritik der Partei das Leben genommen. Urban ist einer jener Weggefährten, die in der Jugend utopiegläubig waren, sich dann aber zu verhärteten Realsozialisten entwickelten und am Missbrauch einer Heilsidee mitwirkten. In den vom Ich erinnerten Gesprächen mit ihm vertritt er einen utilitaristischen Wahrheitsbegriff: »Die Wahrheit, hatte Urban gesagt, […] sei eine Funktion des Fortschritts in der Geschichte. Alles andere sei Gefühlskitsch.« (L 139) In dieser Geschichtsphilosophie heiligt der Zweck die Mittel. Zunehmend beschäftigt die Kranke die Frage, »an welchem Zipfelchen Urban und [sie] zusammenhängen« (L 180). Es ist die Versuchung, sich den Schwierigkeiten des Lebens in einem Staat, der seine Gründungsmythen verraten hat, durch den Tod zu entziehen.
Krebsgang und Wolfs Leibhaftig, in: Moderne, Postmoderne – und was noch?, hg. v. Ivar Sagmo, Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 111-132, hier S. 128.
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Vorlage für den alten Genossen Hannes Urban könnte – wie Martina Caspari vermutet – der »hochrangige[.] SED-Kulturfunktionär Hans Koch« gewesen sein59: der allermächtigste Literaturideologe und Dogmatiker der DDR, der sich 1988 völlig unerwartet an einem Baum erhängt hat. Koch hat zusammen mit Wolf in Leipzig studiert. Beide waren Sekretäre im Schriftstellerverband, als sie Mitte zwanzig waren. Jahrzehntelang war er Direktor des Instituts für Literatur beim Zentralkomitee der SED, so dass er als der ›Literaturpapst‹ der DDR galt. 60
Zugunsten der ›Sache‹ und mit Rücksicht auf seinen hohen Posten im Ministerium für Kultur hat er lange opportunistisch zu allen SED-Verbrechen geschwiegen, manchmal auch selbst auf unsaubere Mittel zurückgegriffen: Utilitarismus, chamäleontische Wandlungen, rhetorische Worthülsen, das Stellvertreter-Opfer von Personen. In dieser Figur nimmt das Diabolische, das schon im Titel der Erzählung steckt – der ›Leibhaftige‹ ist bekanntlich der Teufel – Gestalt an. Urban ist ein »Teufel«, der »der allervernünftigsten Vernunft entstiegen« (L 119) ist. Das kann man hier auch auf die Utopie des Sozialismus beziehen, an die Urban so fest wie die Erzählerin selbst geglaubt hat, allerdings auch auf das mechanistische Menschenbild der technokratischen Medizin, der die Kranke jetzt ausgeliefert ist. Offenbar gibt es janusköpfige Teufel. Urbans Freitod löst bei der alten Patientin einen Prozess der Selbstbefragung aus. Die Kranke hat ihre Kindheit im Nationalsozialismus, ihr Erwachsenenleben im SED-Staat verbracht und damit übergangslos unter zwei Diktaturen gelebt. Das hat sie – wie 59 | Martina Caspari, Im Kern die Krisis. Schuld, Trauer und Neuanfang in Christa Wolfs Erzählung Leibhaftig, in: Weimarer Beiträge 49 (2003) H. 1, S. 135-138, hier S. 138, Anm. 4. 60 | Nikolaos-Ioannis Koskinas, »Fremd bin ich eingezogen, fremd ziehe ich wieder aus.« Von Kassandra, über Medea, zu Ariadne. Manifestationen der Psyche im spätesten Werk Christa Wolfs, Würzburg 2008, S. 209, Anm. 646.
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ihre Erfinderin – autoritätsgläubig gemacht. Christa Wolf hat das in ihrer »Dankrede für den Geschwister-Scholl-Preis« im November 1987 in München sogar zugestanden: Mir scheint, dass vielen Angehörigen meiner Generation […] von ihren frühen Prägungen her der Hang zur Ein- und Unterordnung geblieben ist, die Gewohnheit zu funktionieren, Autoritätsgläubigkeit, Übereinstimmungssucht, vor allem aber die Angst vor Widerspruch und Widerstand, vor Konflikten mit der Mehrheit und vor dem Ausgeschlossenwerden aus der Gruppe. 61
Zum Zeitpunkt dieser Rede hielt Christa Wolf die DDR noch immer »für den deutschen Staat, der für ein antifaschistisches Geschichtsbewusstsein stand«.62 Leibhaftig gestaltet die Krise, in die sie die lange verdrängte Einsicht in »das wahre Gesicht« des DDR-Sozialismus gestürzt hat.63 Die durch den Erinnerungsprozess ausgelöste Revision des Selbstbildes wird zum Abschied von einem zu idealistischen Bild der DDR. Leibhaftig parallelisiert den Altersverfall einer Person mit dem Zerfall eines Staates. Der Staat, an den die Patientin in ihrer Jugend geglaubt hat, ist im Begriff zusammenzubrechen, sie selbst überlebt eine schwere Krise und schaut am Schluss in einen Horizont, der kein ›geteilter Himmel‹64 mehr ist. Der Horizont, der sich hier abzeichnet, ist das wiedervereinigte Deutschland und eine neue Haltung der Erzählerin dieser geschichtlichen Perspektive gegenüber.
61 | Christa Wolf, Essays/Gespräche/Reden/Briefe 1987-2000. Werke, Bd. 12, hg. v. Sonja Hilzinger, München 2001, S. 103-110, hier S. 104f. 62 | Jörg Magenau, Christa Wolf. Eine Biographie, Reinbek b. Hamburg 2003, S. 358. 63 | Christine Palm Meister, Christa Wolf leibhaftig oder die hermeneutische Kraft der Phraseologie, in: Wörter-Verbindungen, hg. v. Ulrich Breuer und Irma Hyvärinen, Frankfurt a.M. u.a. 2006, S. 229-235, hier S. 230f. 64 | Der geteilte Himmel (1963) war der Titel der ersten Erzählung Christa Wolfs, mit der sie auch im Westen bekannt wurde.
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L iter atur Primär- und Quellentexte Cicero, Tullius, Cato maior de senectute. Cato der Ältere über das Alter, lateinisch – deutsch, übers. und hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 2003 (1998). Fontane, Theodor, Der Stechlin. Roman. Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, Bd. 5, hg. v. Helmuth Nürnberger, Darmstadt 2002. Fontane, Theodor, Werke, Schriften und Briefe, Abteilung IV: Briefe, Bd. 4: 1890-1898, hg. v. Otto Drude und Helmuth Nürnberger, Darmstadt 1982. Raabe, Wilhelm, Altershausen, Berlin 2010. Raabe, Wilhelm, Sämtliche Werke, 20 Bde. und 5 Ergänzungsbde., hg. v. Karl Hoppe u.a., Göttingen 1951ff. Wolf, Christa, Essays/Gespräche/Reden/Briefe 1987-2000. Werke, Bd. 12, hg. v. Sonja Hilzinger, München 2001. Wolf, Christa, Leibhaftig. Erzählung, München 2002.
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Literarische Alterskonstruktionen als Medien der Erinnerung
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Zur Entstehung einer »Age-free«-Gesellschaft Herausforderungen durch neue Altersbilder in Japan Michiko Mae Im heutigen Japan wird viel von der Alterungsgesellschaft und der überalterten Gesellschaft gesprochen. Dies macht deutlich, in welch hohem Maß das Alter als eine immer machtvollere gesellschaftliche Realität in das öffentliche wie auch in unser subjektives Bewusstsein vordringt. Immer mehr Menschen in Japan – wie auch in Deutschland – wird bewusst, dass wir neue Formen des Umgangs mit dem Altern und der Sinngebung für das Alter suchen müssen. Japan gehört zu den modernen Gesellschaften, in denen der Anteil der alten Menschen an der Gesamtbevölkerung besonders groß ist, und dieser Anteil nimmt sehr schnell zu. Von den ca. 128 Millionen JapanerInnen betrug im Jahr 2007 die Zahl der über 65-jährigen etwa 27 Millionen, was einen Anteil von 21 % der Gesamtbevölkerung ausmacht. Die Zahl der über 75-Jährigen lag bei ca. 13 Millionen und machte ca. zehn Prozent der Bevölkerung aus. Bei einer insgesamt abnehmenden Bevölkerungszahl wird der Anteil der über 65-Jährigen bereits im Jahr 2013 25 % überschreiten, und im Jahr 2055 werden zwei von fünf Personen über 65 Jahre alt sein. Die über 75-Jährigen werden im Jahr 2055 mit 27 % eine von vier Personen ausmachen. Gleichzeitig hat man heute in Japan eine der höchsten Lebenserwartungen (bei Frauen 86, bei Männern 79 Jahre; 2008), und
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es gibt bereits 32 000 über hundertjährige Menschen.1 Nicht nur wegen dieses radikalen demographischen und gesellschaftlichen Wandels, sondern auch, weil die Menschen nach dem Ende der Erwerbstätigkeitsphase im Durchschnitt noch etwa 20 Jahre Lebenszeit haben, muss man die gesamtgesellschaftliche Struktur umdenken und neu organisieren. Das ist eine dringende und wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe. Wie weit sind unsere Gesellschaften in Japan und Deutschland dafür vorbereitet? Wie kann und soll man sich dafür vorbereiten? Dieser Aufsatz soll für die Beantwortung dieser Fragen wichtige Ansätze und Anregungen geben. Wie die konkreten Zahlen gezeigt haben, hat sich die Lage in Japan beim Thema Überalterungsgesellschaft bedrohlich zugespitzt; aber gerade deshalb ist es sinnvoll, die Aufmerksamkeit auf Japan zu richten. Für die notwendige Umstrukturierung der Gesellschaft bedarf es einer grundlegenden Veränderung unseres Bewusstseins und unserer Wahrnehmung des Alter(n)s. Kann das japanische Beispiel in dieser Frage eine neue Perspektive eröffnen? Dazu soll im Folgenden zuerst ein kurzer Rückblick zeigen, ob Japan historisch als eine alter(n)sfreundliche Gesellschaft bezeichnet werden kann, und wenn ja, worin die besondere Wertschätzung des Alters besteht bzw. bestand.
H istorischer R ückblick Altern ist nicht nur ein biologischer und psychischer Vorgang, der Alternsprozess und das Alter als letzte Lebensphase sind auch soziale und kulturelle Konstruktionen. In dem Maße, wie wir die verschiedenen Formen des Umgangs mit dem Altern und die unterschiedlichen Einstellungen zum Alter in anderen Kulturen wie auch in vergangenen Epochen vergleichend untersuchen, wird 1 | Vgl. Toru Suzuki, The Latest Development in Population of Japan, in: The Japanese Journal of Population 7.1 (2009), S. 87-90.
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uns dies immer stärker bewusst. Solche kulturvergleichenden und sozial- und kulturgeschichtlichen Untersuchungen gibt es in nennenswertem Ausmaß erst seit den 1970er Jahren.2 Inzwischen – seit sich in Deutschland wie in Japan der Begriff der ›alternden Gesellschaft‹ (kōreika-shakai) auch im öffentlichen Bewusstsein etabliert hat – ist das Interesse am Alter(n) in der Wissenschaft wie in der Öffentlichkeit so gewachsen, dass man in beiden Ländern von einer Konjunktur der Beschäftigung mit der Altersfrage sprechen kann.3 Zu unserer gesellschaftlichen und kulturellen Selbstvergewisserung gehört – gerade heute im Zeitalter der Globalisierung – der Vorgang des Kulturvergleichens. So gehört es zu den festen Vorstellungen des Westens, dass in den ostasiatischen Gesellschaften den alten Menschen ein hoher Respekt und sozialer Status und eine quasi natürliche Autorität zukommen, dass darüber hinaus in diesen Ländern die gesellschaftliche Ordnung und die soziale Hierarchisierung in hohem Maß vom Senioritätsprinzip bestimmt sind, und dass schließlich das hohe Alter als Zeit der erlangten Reife und Weisheit gesehen wird, in der der Mensch zu seinem wahren Selbst findet. Das Leben scheint hier also in seiner letzten Phase zu seinem Höhepunkt zu kommen und nicht in seiner Mitte, wie es der westlichen Vorstellung entspricht. Das Alter scheint damit seinen Wert, seine Würde und seinen Sinn als Ziel und Erfüllung eines ganzen Lebenswegs zu haben. Kann man aber aus den vor allem konfuzianisch geprägten Vorstellungen, Normen und Erwartungen bezogen auf das Alter direkte Rückschlüsse ziehen auf die realen Lebensbedingungen al2 | Vgl. Andreas Sagner, Wurzeln, Gegenstandsbereiche und Entwicklungslinien der ethnologischen Altersforschung, in: Zeitschrift für Ethnologie 122.2 (1997), S. 143-169. 3 | Der Begriff der kōreika-shakai kam in den 1980er Jahren vermehrt in den Gebrauch. Ab den späten 1990er Jahren wurden auch die Begriffe chōkōrei shakai und chōkōreika-shakai in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen. Vgl. Florian Coulmas, Die Gesellschaft Japans. Arbeit, Familie und demographische Krise, München 2007, S. 15.
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ter Menschen in den vormodernen Epochen in ostasiatischen Ländern? Konnten die Alten wirklich ein gesichertes, würdiges und sinnvolles Leben in hoher Achtung durch die Jüngeren führen? Es gibt dazu bis heute noch zu wenig sozialgeschichtliche Untersuchungen, aber alle bisherigen Forschungen zeigen, dass es so etwas wie ein ›Goldenes Zeitalter‹ für alte Menschen – vor allem für alte Frauen – auch in konfuzianisch geprägten Gesellschaften nicht gegeben hat.4 Anders als die chinesische Tradition des Taoismus, die auch in Japan eine starke Wirkung hatte, betont der Buddhismus bezogen auf das Alter vor allem den Aspekt des Leidens. So konnte diese Religion mit ihrer Lehre, alles Leben sei letztlich Leid, denn es führe unentrinnbar auf Alter und Tod hin, an das Genre der Klagelyrik über das Alter, das in der Heian-Zeit (794-1185) entstand und auch in den folgenden Epochen der japanischen Geschichte verbreitet war, anknüpfen. Das Leid in Form von Alter, Krankheit und Tod zeigt dem Menschen die unentrinnbaren Grenzen seines Daseins, aber auch den ständigen Wandel, zu dem unvermeidlich der Verfall gehört. Die Leidhaftigkeit des menschlichen Daseins ist begründet in seiner Vergänglichkeit. Hier überschneiden sich der Buddhismus und die japanische Klagelyrik über das Altern: Für beide ist das Alter Sinnbild und Inbegriff der Vergänglichkeit. Das Alter lehrt die Vergänglichkeit des Lebens zu begreifen. Der Buddhismus zieht daraus den Schluss, dem Leben selbst keinen Wert beizumessen und strebt nach Abkehr von der Welt, Entsagung und Loslösung, einem Zustand, der dem Gesetz des Wandels und des Verfalls nicht mehr unterworfen ist. In der japanischen Klagelyrik dagegen bringt gerade die Klage über die Vergänglichkeit den Wert des individuellen menschlichen Lebens ins Bewusstsein. Das Alter wird als ein literarischer Topos zum Sinnbild der Vergänglichkeit des mensch4 | Siehe dazu: Susanne Formanek, Denn dem Alter kann keiner entfliehen. Altern und Alter im Japan der Nara- und Heian-Zeit, Wien 1994, und zusammen mit Sepp Linhart, Aging. Asian Concepts and Experiences Past and Present, Wien 1997.
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lichen Lebens. Und da in der literarischen und kulturellen Tradition in Japan gerade solchen Phänomenen der höchste ästhetische Wert zugesprochen wird, die das Empfinden, das Ergriffensein und die Wehmut über die Vergänglichkeit aller Dinge hervorrufen, drückt sich nach dem Verständnis der traditionellen Ästhetik im Klagen über das Altern eine tiefe Einsicht in das Wesen des menschlichen Lebens und der Natur aus.
A mbivalente A ltersbilder in J apan Der vergleichende Blick auf verschiedene Kulturen wie auch auf verschiedene historische Epochen zeigt uns, dass keine andere gesellschaftliche Gruppe in ihrem Ansehen und ihrem sozialen Status so ambivalent bewertet wird wie die der alten Menschen. So erscheint im Westen vielen Menschen Japan als ein Land, in dem die alten Menschen eine hohe Stellung haben, der Respekt vor dem Alter und die Autorität der Alten noch wirksam sind. In der Tat ist ein wesentliches Element der gesellschaftlichen Hierarchisierung in Japan das Senioritäts- und das Anciennitätsprinzip, was zu einer hohen Stellung der Alten in der Gesellschaft führt. Die gleiche Wirkung hat auch die mit dem Shintō verbundene Ahnenverehrung, da die Alten den verehrten Ahnen ja am nächsten stehen. Und in der Tradition des Konfuzianismus wird das Leben nicht als Auf- und dann Abstieg, als Ablaufen der Lebenszeit gesehen, wie im Westen, sondern als Weg des inneren Wachstums mit dem Alter als Zeit der erlangten Reife und Weisheit, in der man zu seinem wahren Selbst findet und zum Vorbild für die Jüngeren wird. Aber dennoch und gleichzeitig mussten – und das macht die tiefe Ambivalenz in der Bewertung und in der Erfahrung des Alterns deutlich – in der japanischen nicht anders als in der europäischen Geschichte in den Unterschichten viele alte Menschen für ihren Lebensunterhalt hart arbeiten und wurden brutal behandelt oder sogar vertrieben, wenn sie zu schwach zum Arbeiten wurden. Und noch ein irritierendes Bild: Zur ostasiatischen Kultur gehört der Respekt
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und die Achtung vor den alten Menschen und die Autorität der alten Menschen. Aber man kann beobachten, dass in der stark reglementierten Gesellschaft Kindern und alten Menschen besondere Freiheiten zugestanden werden. Man scheint also alte Menschen mit Kindern gleichzusetzen, und darauf deutet auch der Brauch hin, mit dem 60. Geburtstag das Kanreki-Fest zu feiern, das nach dem alten chinesischen Kalender das Abschließen eines Kreislaufes und damit die symbolische Rückkehr zum Lebensbeginn, also zum Kindesalter bedeutet. Eine ähnlich ambivalente Einstellung zu alten Menschen drückt sich in dem Begriff ›aisareru rōjin‹ aus, den man mit ›liebenswerte Alte‹ übersetzen könnte, der aber eher eine Bevormundung alter Menschen meint und für sie einen Zwang zur Anpassung bedeutet, d.h. sie sollen möglichst keine Schwierigkeiten machen und keine eigenen Ansprüche stellen. Allerdings gilt diese Denkweise heute nicht mehr für erst 60-Jährige, die ja meist noch engagiert mitten im Berufsleben stehen.
D as konfuzianische V erständnis des A lters Man könnte noch weitere ähnliche Beispiele in der japanischen Gesellschaft und Geschichte finden. Insgesamt kann man allerdings sagen, dass bis heute das japanische Altersbild am stärksten durch die konfuzianische Traditionslinie geprägt wurde. In dieser Tradition der von China beeinflussten Kultur Ostasiens hat die Wertschätzung und hohe Stellung des Alters ihre Grundlage in dem hohen Wert, welcher der Pflichterfüllung und dem Gehorsam den Eltern gegenüber zugesprochen wird. Die Pietät den Eltern gegenüber gilt im Konfuzianismus als staatstragende Tugend und als die Wurzel aller anderen Tugenden. Als ethische Grundregel hat sie auch im alten Japan zunehmend an Bedeutung gewonnen. Allerdings wird die Pietätspflicht der Kinder weniger auf die Autorität der Eltern bezogen, als auf deren Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit im Alter. Es geht also weniger um unbedingte Autorität und um die Pflicht zum Gehorsam, als um die Versorgungspflicht
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gegenüber den alten abhängigen Eltern. Damit sie den hohen Respekt der Jüngeren gewinnen konnten, wurde von den Alten erwartet, dass sie selbst neben dem Ausdruck der Würde und Weisheit ein hohes Maß an Selbstbeschränkung und Zurückhaltung zeigten. Die konfuzianische Tugend der kindlichen Pietät sollte man deshalb nicht nur als eine der Grundlagen patriarchalischer und gerontokratischer Strukturen im alten Japan sehen; sie hat bis heute vor allem als private Versorgungspflicht für die eigenen alten Eltern in der japanischen Gesellschaft eine starke Wirkung. Das konfuzianische Verständnis des Alters führt dazu, dass alte Menschen einen Vorbildcharakter gewinnen, der die Jüngeren verpflichtet, ihrem Rat Folge zu leisten. Es galt im Konfuzianismus als eine besondere Tugend, die Alten nach ihrem Wissen zu befragen. Ihre Funktion als Überlieferer des traditionellen Wissens war eine Grundlage der hohen Wertschätzung alter Menschen. Für den Konfuzianismus ist also nicht nur das Ideal der Altenverehrung charakteristisch, sondern auch sein ›lernorientiertes Moralsystem‹, das von den alten Menschen fordert, weiterzulernen und die Jüngeren in ihrer Lernorientierung zu unterstützen. Anders als bei dem europäischen Bild der Alterstreppe, die zuerst nach oben und dann nach unten führt, ist der Prozess des Alterns bei Konfuzius eine lebenslange Entwicklung und Steigerung mit dem Alter als Höhepunkt. Konfuzius sagt: »Mit Dreißig zur Selbständigkeit gelangen, mit Vierzig Zweifel loswerden, mit Fünfzig das vom Himmel gegebene Schicksal bzw. die eigene Berufung erkennen. Mit Sechzig kann man auf die Anderen hören und mit Siebzig sich frei verhalten und zugleich die moralischen Normen erfüllen.«5 Bei japanischen Künstlern gab es die Vorstellung, dass man mit dem Alter in seinen Fähigkeiten nicht etwa nachlässt, sondern sich immer weiter entwickelt. Der Maler und Meister der Holzschnittkunst Katsushika Hokusai (1760-1849), der mit seinen Bildern von den wechselnden Ansichten des Berges Fuji auch im Westen sehr bekannt ist, stellt seine Vorstellung des Alterns als eine kontinuier5 | Kōshi [Kaji Nobuyuki], Rongo, Tokio 2004, II.4. Ü. d. A.
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liche Entwicklung im Sehen und in den künstlerischen Fähigkeiten folgendermaßen dar: Ich hatte seit meinem sechsten Lebensjahr die Neigung, Gegenstände zu skizzieren und stellte mit fünfzig öfter meine Bilder in der Öffentlichkeit vor. Aber unter den Bildern, die ich vor meinem siebzigsten Lebensjahr angefertigt habe, gab es kaum bemerkenswerte Werke. Erst mit dreiundsiebzig erkannte ich das Knochengerüst der Tiere und die Abstammung der Pflanzen. Mit achtzig werde ich meine Kunst weiterentwickeln, mit neunzig den Dingen auf den Grund gehen und mit hundert Jahren eine übersinnliche Kunst erreichen. Und mit hundertzehn wird bei mir jeder Punkt und jeder Strich lebendig sein. (Vorwort zu Fugaku hyakkei) 6
D as A lter (n) im modernen V erständnis Es gab in der Geschichte des Alters ein ständiges Auf und Ab des Ansehens der alten Menschen und des Status des Alters. In Europa war es eine lange Entwicklung im Sinne eines Humanisierungsprozesses, bis sich in der Zeit der Aufklärung die Achtung vor den alten Menschen allmählich durchsetzte. Erst durch die Hochschätzung der Alten und durch die Achtung vor dem Alter, wie sie die Aufklärung als Ideal entwickelte, konnte ein Prozess in Gang gesetzt werden, wie man das Alter(n) sinnvoll gestalten kann. Dass die Diskriminierung, Missachtung und Entwertung des Alters und alter Menschen ein Charakteristikum der modernen Industriegesellschaften sei, ist sicher eine falsche Vorstellung. Das ständige Auf und Ab des Ansehens des Alter(n)s und der alten Menschen setzte sich auch im Zeitalter der Moderne fort, und die Widersprüchlichkeit und Ambivalenz in der Wertschätzung des Alters scheint auch in unserer Zeit weiter zu bestehen. In dem Maß, wie die Lebensläufe der Menschen in der Moderne immer weniger vorgegeben und institutionalisiert sind, wächst die 6 | Katsushika Hokusai [Kaisetsu Suzuki Jûzō], Fugaku Hyakkei, Tokio 1986.
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Verantwortung jedes einzelnen für die Gestaltung seines Alters als der letzten Lebensphase. Wie und was wir im Alter sind bzw. sein werden, muss als Resultat eines lebenslangen Prozesses gesehen werden. Alter wird heute weniger als eine fest umgrenzte Lebensphase und mehr als ein sehr komplexes Geschehen verstanden, denn jeder altert auf seine ganz individuelle Weise. Und in Zukunft werden diese individuellen Unterschiede des Alterns noch ausgeprägter sein. Deshalb müssen wir heute jede schematische und typisierende Sicht auf das Alter vermeiden. Durch die starke und zunehmende Tendenz zur Individualisierung entsteht eine Vielzahl von Altersformen, während Altersnormen und das Alter im Sinne von Lebensjahren immer mehr an Verbindlichkeit verlieren. Dass gerade die Moderne, die auf Produktivität einen so großen Wert legt, eine zunehmende Zahl von Menschen nach der Produktivitätsphase hervorbringt, ist in gewisser Weise eine Ironie. Dass heute Menschen im Alter nicht generell krank, schwach, gebrechlich sind, sondern lange Zeit – wenn sie keine Krankheiten haben – geistig und körperlich gesund und stabil bleiben, schafft für jeden einzelnen Menschen eine größere Verantwortung für die Gestaltung des Alter(n)s. Durch diese neue Situation des Alter(n)s und der alten Menschen muss die einseitige Produktivitätsorientierung der Gesellschaft hinterfragt werden. Die Erkenntnis der Vielfalt der Formen des Alter(n)s ist folgenreich und fordert eine gesellschaftliche Umorientierung heraus. Als eine positive Orientierung des Alter(n)s gibt es in Deutschland den Begriff ›erfolgreiches Altern‹, der bezogen wird auf Konzepte wie ›Lebenszufriedenheit‹, das Gefühl, noch gebraucht zu werden, auf die soziale Integration und soziale Kompetenz, vor allem aber auf die kompetente Bewältigung (coping) von schwierigen sozialen Situationen und von zunehmenden Verlusterfahrungen, wie sie mit dem Prozess des Alterns verbunden sind.7 All das verweist auf ein hohes Maß an individuellen Unterschieden, denn 7 | Vgl. z.B. Daniela Jopp, Erfolgreiches Altern. Zum funktionalen Zusammenspiel von personalen Ressourcen und adaptiven Strategien des Lebens-
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diese Faktoren eines ›erfolgreichen Alterns‹ sind bedingt durch die jeweilige biographische Entwicklung, die Persönlichkeitsstruktur, das Selbstkonzept und Selbstwertgefühl, die subjektive Wahrnehmung von Lebenssinn etc. Entsprechend groß ist die Variabilität und Verschiedenartigkeit des Alterns und des subjektiven Alterserlebens. Es gibt in keiner modernen Gesellschaft und Kultur – auch nicht in der japanischen – eine einheitliche und universelle Form des Alterns. Wenn man im deutschen Kontext als zentrales Kriterium für ›erfolgreiches Altern‹ das Erreichen einer möglichst hohen Lebenszufriedenheit ansetzt, dann ist im japanischen Kontext das zentrale Prinzip für ›erfolgreiches Altern‹ das, was man Japanisch ›ikigai‹ nennt. Übersetzen und verstehen könnte man dieses Konzept als ›Streben nach einem sinnorientierten Lebensinhalt oder Lebenszweck‹. Ikigai hat eine ziel- und zukunftsorientierte Intention und ist mehr als nur Streben nach Glück und Zufriedenheit. Das Konzept ikigai wird im Alter zu einer Art Kompensation für den sozialen Rollen- und Funktionsverlust und wird als Leitprinzip zur Förderung von Aktivitäten für ältere Menschen in vielen Regionen und Kommunen benutzt. Allerdings besteht ein Widerspruch ähnlich wie im Konzept des ›erfolgreichen Alterns‹ darin, dass ikigai individuell und intrinsisch motiviert ist und eigentlich nicht von außen gesteuert werden kann. Quellen für ikigai können sein: Arbeit im Alter, vielfältige soziale, kulturelle und Bildungsaktivitäten, zwischenmenschliche Beziehungen und Netzwerke, Beschäftigung mit der Tradition und Vergangenheit (auch der eigenen biographischen), Pläne für die Zukunft, etwas Neues zu unternehmen oder einfach etwas Sinnvolles, Wertvolles, Nützliches zu tun. Es gibt eine interessante Untersuchung, die eine Beziehung zwischen ikigai und Langlebigkeit herstellt; sie wurde in Okinawa durchgeführt, der Präfektur in Japan mit der größten Anzahl von Hundertjährigen und mit der höchsten Lebenserwartung, aber auch mit der höchsten managements, Berlin 2003, S. 11-12. www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/ FUDISS_thesis_ 000000000904, gesehen am 22.9.2009.
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Arbeitslosigkeit und dem niedrigsten Einkommen. Die alten Menschen auf Okinawa werden als glücklich, lebendig und jugendlich beschrieben.8
A k tive S elbstgestaltung des A lters »Die Menschen altern heute anders als früher.« Diese Aussage gilt für Deutschland wie auch für Japan; sie meint, dass die Veränderungen, die der soziale Wandel in der heutigen Umbruchphase in beiden Gesellschaften bewirkt, auch zu neuen Lebensstilen im Alter führen. Damit sind viele Lebensbereiche und Faktoren angesprochen: von höheren Einkommen und besserer Alterssicherung über bessere Bildung und Gesundheit bis zu größeren Partizipationschancen und einer reichen Angebotsstruktur vielfältiger Aktivitäten. Es geht also vor allem um die Gestaltbarkeit des Alters, und es scheint sinnvoll zu sein, hier wieder einen kurzen Blick auf das alte Japan zu werfen. In der Edo-Zeit (1603-1868) war es möglich, dass der Haushaltsvorstand, wenn sein ältester Sohn das Alter von 20 Jahren erreicht hatte, ihm das Geschäft und die Verantwortung als Hausvorstand überließ, sich aus dem aktiven Leben zurückzog und seine Zeit frei einem Hobbyleben mit Dichtung, Musik, Gartenarbeit etc. widmete. Daraus lässt sich vermuten, dass die Vorstellung vom Lebensabend als einer ›Lebensphase in Freiheit‹ im alten Japan durchaus bereits vorhanden war – vorausgesetzt es war finanziell überhaupt möglich. Zeigen sich hier nicht das moderne Bild des ›jungen Alten‹ und die Vorstellung des Alters als einer eigenständigen Lebensphase jenseits des Erwerbslebens und in freier Selbstbestimmung?
8 | Vgl. Leng Leng Thang, Ikigai and the longevity among the elderly in Okinawa, in: Aging. Asian concepts and experiences past and present, hg. v. Susanne Formanek und Sepp Linhart, Wien 1997, S. 257-269.
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In den alternden Gesellschaften Deutschlands und Japans nimmt die Zahl der sog. ›jungen Alten‹ zu, die wirtschaftlich unabhängig und gut gebildet sind und es gelernt haben, ein selbständiges Leben zu führen. Dies trifft in Japan in besonderem Maß auf die Babyboomer-Generation zu, die zwischen 1947 und 1949 geboren wurde, ca. 6,8 Millionen umfasst und ab dem Jahr 2012 das Alter von 65 Jahren erreicht. Sie weigern sich, die traditionelle Altersrolle zu übernehmen und setzen das, was sonst den Jüngeren vorbehalten ist, in ihrem fortschreitenden Alter einfach fort. Sie nutzen die vielfältigen Freisetzungsprozesse aus Abhängigkeiten und Verpflichtungen und die neuen Freiheitsspielräume, die sich ihnen mit ihrem Alter eröffnen. Und sie verkörpern mit ihren finanziellen Ressourcen und ihren Entwicklungs- und Handlungspotentialen das sog. ›Alterskapital‹ für die Gesellschaft, ein Kapital und eine Ressource, die – in Japan wie in Deutschland – noch viel zu wenig erkannt und genutzt werden. In Japan war bis vor wenigen Jahren ein hoher Anteil von alten Menschen in sog. Altenclubs (rōjin kurabu) organisiert. Diese Clubs entstanden Mitte der 1950er Jahre in ganz Japan als autonome Organisationen von alten Menschen, die in der damaligen gesellschaftlichen Umbruchsphase nach neuen Rollen und Aufgaben gesucht haben. Es gibt heute (2009) noch etwa 122 000 Clubs mit ca. 7,6 Millionen Mitgliedern9; sie bilden Netzwerke, leisten gegenseitige Unterstützung und freiwillige soziale Dienste für die Kommunen wie die Pflege von Parkanlagen, Besuchsdienste bei Kranken etc., aber auch die Organisation von Freizeitaktivitäten. Sie fördern – wie auch die sog. ›Altenuniversitäten‹ – die Selbstbildung und Weiterbildung und die Weitergabe von kulturellen Traditionen als Aufgabe gerade der alten Menschen. Auf diese Weise nehmen die Altenclubs eine Vermittlerfunktion zwischen den Alten und der Gesellschaft ein und ermöglichen es den alten Menschen, ein neues Selbstbewusstsein aufzubauen, den sozialen Rollen- und 9 | Vgl. Zenkoku rōjin kurabu rengōkai, Shiryōshû, http://www4.ocn.ne.jp/~ zenrou/, gesehen am 1.10.2009.
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Funktionsverlust zu kompensieren und sich als soziale Gruppe und eigene soziale Kraft zu formieren. Seit längerem verzeichnen die Altenclubs allerdings einen Schwund von Mitgliedern. Nicht nur weil heutzutage viele alte Menschen noch aktiv arbeiten, sondern auch weil der Begriff ›Alte‹ (rōjin) im Japanischen heute einen sehr negativen Klang und ein festlegendes Image hat, so dass die jungen Alten sich kaum damit identifizieren können. Außerdem gibt es auf kommunaler Ebene und auf privater Basis zahlreiche Veranstaltungen und Kursangebote, aber auch die Möglichkeit, sich in verschiedenen ehrenamtlichen Aktivitäten zu engagieren. Und es gibt heute in Japan viele von älteren Menschen selbst initiierte Organisationen wie z.B. die Japan Association of Second-life Service, die seit 1990 Computerkurse, Englischkurse etc. selbst organisieren und anbieten.10 Die Stiftung Japan Silver Voluntaries (Shirubā jinzai sentā) mit ca. 760 000 Mitgliedern (2006)11 in ganz Japan vermittelt arbeitsmotivierte alte Menschen für verschiedene soziale Aufgaben und Tätigkeiten. Dies sind wichtige Ansätze, gerade für jüngere Alte, die oft noch voll leistungsfähig sind, das schwierige Problem des Übergangs aus dem aktiven Berufsleben in eine Lebensphase jenseits der Erwerbsarbeit sinnvoll zu gestalten. Für die Lebenszufriedenheit im Alter ist gerade bei den auf Arbeit und Beruf zentrierten japanischen ›Betriebsmenschen‹ (kaisha ningen) das Bewusstsein wichtig, mit ihren beruflichen Erfahrungen noch gebraucht zu werden.
10 | Vgl. Homepage der Japan Association for Second-life Services (JASSkurabu), http://homepage3.nifty.com/jassclub/information/information. htm, gesehen am 29.9.2009. 11 | Vgl. Shirubā jinzai sentā, Heisei 20 nendo jigyōhōkokushō, www.zsjc. or.jp/rhx/upload/Financial/101.pdf, gesehen am 29.9.2009.
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N eue S truk turen einer alter (n) sgerechten G esellschaf t ? Schon 1995 ist in Japan ein ›Rahmengesetz für Maßnahmen bezogen auf die Alterungsgesellschaft‹ (Kōreishakai taisaku kihonhō)12 in Kraft getreten. In diesem Gesetz wird in der Präambel kritisch festgestellt, dass auf der einen Seite das Ausmaß der Überalterung der Gesellschaft stetig und schnell zunimmt, dass aber auf der anderen Seite das Bewusstsein der Einzelnen, aber auch die Gesellschaftsstruktur insgesamt sich nicht entsprechend verändern. Als Grundidee und Ziel des Rahmengesetzes wird eine ›gerechte und dynamische Gesellschaft‹ genannt, in der jedem/r StaatsbürgerIn während seines/ihres ganzen Lebens eine Chance zur Partizipation an vielfältigen gesellschaftlichen Aktivitäten garantiert wird; jede/r Einzelne soll als wichtiges Mitglied der Gesellschaft sein/ihr Leben lang respektiert werden.13 Ein Jahr später, 1996, wurden die ›Richtlinien zu Maßnahmen zur Alterungsgesellschaft‹ (Kōreishakai taisaku taikō)14 im Kabinett beschlossen, die auf der Grundlage des Rahmengesetzes mittelund langfristig konkrete Maßnahmen bestimmen. In den revidierten Richtlinien von 2001 wird die den Maßnahmen zugrunde liegende Orientierung in fünf Punkten zusammengefasst: 1. Grundsätzliche Revidierung der einheitlichen Betrachtungsweise des Alterns/der alten Menschen zugunsten der Anerkennung ihrer individuellen Vielfalt. 2. Nicht nur umfassende Maßnahmen im Alter ergreifen, sondern Förderung einer frühen Vorbeugung, der Vorbereitung und der Vorsorge für das Alter(n). 12 | Gesetzestext online abrufbar unter: http://law.e-gov.go.jp/htmldata/ H07/H07HO129.html, gesehen am 29.9.2009. 13 | Ebd. Kōreishakai taisaku kihonhō, Artikel 2.1. 14 | Gesetzestext online abrufbar unter: http://www8.cao.go.jp/kourei/ measure/taikou/index-t.html, gesehen am 29.9.2009.
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3. Förderung einer aktiven Teilnahme alter Menschen an der regionalen Gesellschaft und Verbesserung der notwendigen Bedingungen dafür. 4. Förderung von Maßnahmen, die aus der Perspektive des ›Rahmengesetzes zur gleichen Partizipation von Männern und Frauen‹ notwendig sind. 5. Förderung und Anwendung von auf die medizinische Behandlung, auf die soziale Wohlfahrt sowie auf Information und Kommunikation bezogenen Technologien. Besonders wichtig an dem Rahmengesetz und an den Richtlinien scheint zu sein, dass die individuelle Vielfalt der Formen des Alterns erkannt und dass eine Unterstützung für die Realisierung von unterschiedlichen Lebensformen/Lifestyles angestrebt wird. Die Haltung, Menschen nur nach dem Alter festzulegen und nach bestimmten Altersbegrenzungen die gesellschaftliche Partizipation einzuschränken, soll nun geändert werden. Gegen Menschenrechtsverletzungen bezogen auf alte Menschen soll strikt vorgegangen werden. Auf der Grundlage des ›Partizipationsrahmengesetzes für Männer und Frauen‹, das 1999 in Kraft getreten ist, sollen gleiche Partizipationsmöglichkeiten auch für alte Menschen und für das Altern mit konkreten Maßnahmen angestrebt werden.15 Dass nun das Alter(n) und alte Menschen nicht mehr einheitlich und gleichmachend behandelt werden, sondern dass auch alte Menschen – wie Menschen in ihren jungen Jahren – als unterschiedliche Individuen anerkannt werden, ist sehr positiv zu bewerten. In dieser 15 | Das Danjō byōdo sankaku kihonhō steht in einer Reihe von Gesetzen zur Eliminierung der Diskriminierung gegen Frauen, die nach der Ratifizierung der UNO-Antidiskriminierungskonvention durch Japan im Jahr 1985 entstanden und ist das bisher umfassendste Gesetzeswerk unter diesen. Zielsetzung des Gesetzes ist die Schaffung einer Partizipationsgesellschaft, in der jeder seine Fähigkeiten voll entwickeln kann. Vgl. Michiko Mae, Zur Entwicklung einer partizipatorischen Zivilgesellschaft in Japan, in: Japan 2008. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, hg. v. Iris Wieczorek, Berlin 2008, S. 219-224.
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Einstellung scheint die neue Idee des age-free-Konzepts (d.h. das Konzept einer altersunabhängigen Gesellschaft) enthalten zu sein. In Japan werden ausgehend von der Idee des barrier-free (hindernisfrei) ähnliche Anglizismen in der Alltagssprache angewendet wie z.B. gender-free oder age-free. Die Idee des barrier-free-Konzepts, das zuerst für eine angemessene Konzeptionierung von Wohnräumen oder in der Stadtplanung für behinderte Menschen benutzt wurde, wurde in dem allgemeinen Sinn von ›hindernisfrei‹ auf andere Bereiche übertragen. Mit der Idee des gender-free ist z.B. gemeint, dass Männer und Frauen nicht durch die konventionell festgelegten Schranken von bestimmten Männlichkeits- oder Weiblichkeitsvorstellungen in ihrer Teilnahme am gesellschaftlichen Leben eingeschränkt werden dürfen, sondern frei von solchen festlegenden Vorstellungen ihre eigene Männlichkeit oder Weiblichkeit gestalten können sollen. Das Konzept einer age-free-Gesellschaft ist von dem Wirtschaftswissenschaftler Seike Atsushi entwickelt worden und meint ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das sozusagen ›altersneutral‹ ist. Zur Zeit wird dieses age-free-Konzept im Sinne von Seike hauptsächlich auf die Einstellungsverhältnisse im Berufsleben bezogen angewendet; es sollen keine Einschränkungen mehr bei der Stellenausschreibung, Einstellung und bei der Dienstaltersgrenze nach dem Alter festgelegt werden. In dem Ansatz geht es aber auch um die Erreichung einer besseren work-life-balance (Gleichgewicht zwischen Arbeit und Privatleben) und er strebt insgesamt eine gesellschaftliche Veränderung an. Das Konzept wurde von der regierungsnahen Stiftung ›Sozioökonomische Produktivität‹ aufgenommen und gefördert und dies trifft auch auf einzelne Unternehmen zu. Den age-freeAnsatz gibt es ebenso im Bereich von Pflegeeinrichtungen wie Pflegeheimen, in denen nicht nur alte Menschen, sondern auch Kinder und jüngere pflegebedürftige Menschen betreut werden können.16
16 | Vgl. Atsushi Seike, Eijifurii shakai no jitsugen, in: Aging & Health 34 (2005), www.coe-econbus.keio.ac.jp/data/dp2003-006.pdf, gesehen am 5.10.2009.
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Die japanische Regierung hat seit 1998 eine Kampagne gestartet, jedes Jahr die besten Projektgruppen oder einzelne Personen für ageless-life-Praktiken auszuzeichnen. Ageless-life wird so definiert, dass man »ungeachtet des Alters nach den eigenen Fähigkeiten und in eigener Verantwortung freie dynamische Lebensformen entwickelt«.17 Im Arbeitsministerium (das heutige Ministry of Health, Labor and Welfare) wurde 1997 im Zusammenhang mit der Abschaffung und dem Verbot einer Festlegung von Altersgrenzen für die Erwerbstätigkeit (diese Grenze lag bei 60 Jahren) der Begriff einer ageless society erwähnt und seitdem wird dieser Begriff allgemein benutzt. Im Jahr 2001 taucht der andere Begriff, age-free, zuerst im Protokoll des Beratungsausschusses zur Beschäftigungssituation (koyō shingikai) auf und wird seit 2004 als age-free-Projekt (Projekt zur Grundlagenbildung für eine Gesellschaft, in der man ungeachtet des Alters arbeiten kann,) in ganz Japan umgesetzt. Beide Begriffe – ageless und age-free – werden etwa in der gleichen Bedeutung benutzt und sind bisher mehr oder weniger nur auf den Arbeits- und Beschäftigungsbereich bezogen. Bei beiden Konzepten ist der Aspekt, die Erwerbstätigkeit nicht nach dem Alter festzulegen und in diesem Zusammenhang alte Menschen nicht mehr zu diskriminieren, positiv zu bewerten. Allerdings gibt es dafür auch eher negativ zu bewertende Gründe vor dem Hintergrund, dass die japanische Gesellschaft durch die sinkende Geburtenrate einen Arbeitskräftemangel und große finanzielle Probleme wegen der schnellen Zunahme der Zahl der Rentenempfänger hat, besonders seit dem Eintritt der BabyboomerGeneration ins Rentenalter. Das Pensionsalter wird sukzessiv auf 65 Jahre hinausgeschoben.18 Angesichts dieser Tatsache erscheinen die Konzepte einer ageless- und age-free-Gesellschaft, nach denen 17 | Vgl. http://www8.cao.go.jp/kourei/kou-kei/h10ageless/age98.htm, gesehen am 5.10.2009. 18 | 2004 wurde ein Teil des ›Gesetzes zur Stabilisierung der Beschäftigung alter Menschen‹ geändert und alle Unternehmen verpflichtet, die Pensionsaltersgrenze von 60 Jahren abzuschaffen und auf 65 Jahre zu erhöhen oder
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man ein Leben lang aktiv arbeiten können soll, fast zynisch. Andererseits arbeiten viele alte Menschen in Japan nicht nur wegen ihres geringen Alterseinkommens, sondern sind motiviert und arbeiten gern auch nach dem Eintritt des Pensionsalters. Das age-free-Konzept sollte aber nicht nur auf die Erwerbsarbeit im Pensionsalter, sondern auf das ganze Leben der Menschen bezogen entwickelt werden. Bisher war der Lebenslauf der Menschen in Japan besonders strikt nach dem Prinzip des Alters reguliert. Aber Bildung und Ausbildung können heute ohnehin nicht mehr auf die Schulzeit allein beschränkt sein; lebenslanges Lernen – und zwar nicht nur für das Berufsleben – ist schon längst für jeden notwendig geworden. Das Leben strikt nach dem Alter aufzuteilen, erst Schulbildung, dann höhere Bildung, Berufstätigkeit und schließlich das Rentenalter, das heutzutage ja sehr lang ist und in dem man plötzlich in ein schwarzes Loch fällt, ist nicht sinnvoll. Diese Orientierung und Gestaltung des Lebens ist nach dem männlichen Lebensmuster konzipiert. Nach diesem Muster werden Lebensbereiche wie Familie, soziales Engagement und Beziehungsarbeit wie z.B. Alten- und Krankenpflege in der Familie ins Private verdrängt und zur Frauenarbeit gemacht. Diese nach Alter und Geschlecht aufgeteilte Lebensgestaltung muss heute grundsätzlich neu durchdacht und umstrukturiert werden. Es gibt ja bereits solche Konzepte wie das work-life-balance- und das work-sharing-Modell, die viel diskutiert werden, aber noch nicht umfassend realisiert sind. Um zu vermeiden, dass man nach der Erwerbstätigkeit plötzlich etwas völlig Neues, einen neuen Lebenssinn suchen muss, sollten das ganze Leben lang mehrere Aspekte und Möglichkeiten des Arbeitens und der Partizipation gleichzeitig praktiziert werden können. Daher denke ich, eine Partizipationsgesellschaft (sankaku shakai), wie sie im ›Rahmengesetz zu einer Gesellschaft, in der Männer und Frauen sich gleichermaßen beteiligen‹, entworfen wird, ist ein gutes Modell: Jede/r soll an allen Lebensbereichen teilnehmen ein Weiterbeschäftigungssystem einzuführen. Siehe dazu: www.mhlw.go.jp/ general/seido/anteikyoku/kourei2/, gesehen am 7.10.2008.
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können, und niemand soll wegen seines Alters von bestimmten Bereichen ausgeschlossen werden. Dies gilt sowohl für Männer im Arbeitsleben, die ja aus dem Familienleben und vom Umgang mit ihren Kindern quasi ›ausgeschlossen‹ werden, wie auch für Frauen, die wegen ihrer Familienverantwortung aus dem Berufsund öffentlichen Leben ausgeschlossen werden, aber auch für alte Menschen, die aus dem Berufs- oder öffentlichen Leben verdrängt werden, nur weil das Gesellschaftsleben nicht altersgerecht und altersoffen organisiert ist. In diesem Sinn plädiere ich für eine agefree-Partizipationsgesellschaft, in der alle Menschen in jedem Alter an allen Lebensbereichen teilnehmen können. In einer solchen age-free-Partizipationsgesellschaft könnte dann auch die alte Vorstellung, dass die Menschen erst in ihrem Alter die höchste Stufe der Reife und Selbstverwirklichung erreichen, in einer modernen Form verwirklicht werden. Wenn sich diese Partizipationsgesellschaft nicht nur als eine Arbeits- und Produktionsgesellschaft versteht, sondern auch als eine Kommunikations- und Lerngesellschaft im Sinne des lebenslangen Lernens, dann könnte gerade das Alter mit seiner Freisetzung aus vielen Zwängen eine Lebensphase mit ganz neuen Möglichkeiten und Chancen werden. Und wir könnten – wie der Maler Katsushika Hokusai seine künstlerische Entwicklung – unser Leben so planen, dass wir unsere Ziele im Alter von 100 Jahren schließlich erreichen und verwirklichen werden. (Der Aufsatz wurde 2009 abgeschlossen.)
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Aging Studies als Kulturtheorie und -methode Eine anokritische Betrachtung Roberta Maierhofer Gegenwart und Zukunft unserer Gesellschaft werden durch einen hohen und wachsenden Anteil alter und sehr alter Menschen geprägt, was bereits 1975 als schleichende demographische Revolution bezeichnet wurde.1 Mit der positiven und berechtigten Erwartung einer längeren Lebensspanne werden jedoch überwiegend negative Vorstellungen von diesem Lebensabschnitt assoziiert: Man denkt an den Abbau geistiger Fähigkeiten und der körperlichen Gesundheit, an soziale Vereinsamung und Inaktivität, ökonomische Unsicherheit und gesellschaftliche Abhängigkeit. Während gesellschaftspolitische Fragestellungen sich mit den Anforderungen nach zusätzlicher sozialer Betreuung, der finanziell aufwendigen Einkommenssicherung im Alter oder der medizinischen Versorgung alter Menschen auseinandersetzen, stellt sich für den Einzelnen die Frage nach der Möglichkeit eines aktiven, selbstbestimmten und sinnerfüllten Lebens im Alter.2 Unabhängig von den Wissenschaftsdisziplinen suchen die einzelnen Teilbereiche der Gerontologie immer noch nach einer grundsätzlichen Definition von Alter und Altern. So stellte der Gerontologe W. Andrew Achenbaum fest, dass alle Definitionen von Alter nur partiell und vorläufig zu 1 | Robert Butler, Why Survive? Being Old in America, New York 1975. 2 | Karl Ulrich Mayer und Paul B. Baltes (Hg.), Berliner Altersstudie, Berlin 1996, S. 7.
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werten sind.3 In der Einleitung zum Oxford Book of Aging bemerkt der Kulturwissenschaftler Thomas R. Cole, dass wir kulturelle Analphabeten sind, was das Alter betrifft, und führt dies darauf zurück, dass unser abendländisches Denken zu sehr in dualistischen Gegensätzen verhaftet bleibt, was dazu führt, dass die eigene Erfahrung nur im Rahmen der dominanten sozio-kulturellen Erwartung von Jugend, Gesundheit oder Erfolg gelesen werden kann: »A good deal of Western (and especially American) cultural illiteracy about aging derives from middle-class stereotypes, that drive out nuanced thinking in favor of moralistic dualism […].«4 Auch die Berliner Altersstudie betont die Schwierigkeit einer Definition von Alter, da viele unserer Vorstellungen über das Alter und das Altern und die damit verbundenen Belastungen und Gestaltungschancen auf einer sehr unzureichenden und unsicheren Wissensbasis beruhen. Die Studie sucht Antworten auf folgende Fragen: »Wie alt ist man im Alter?« und »Wie hängen Lebensalter und ›funktionales‹ Alter miteinander zusammen?«5 Der in der Sozialgerontologie und Lebenslaufforschung anerkannte Soziologe und Sozialphilosoph Leopold Rosenmayr geht von folgender Definition von Altern aus, in der er eine Gegenüberstellung von Verlust und Gewinn vornimmt. Während die körperlichen Prozesse dem Menschen Beschränkungen und Grenzen setzen, erfährt der alternde Mensch auf der seelischgeistigen Ebene neue Möglichkeiten: Altern ist eine naturhafte Veränderung des Lebendigen, die durch Verluste und Einschränkungen gekennzeichnet ist. Neben dem Altern, dem naturhaften ›Verlieren unter Widerstand‹, und vielfältig verschlungen mit ihm ist ein aufbauendes seelisches Gewinnen, ein seelisches ›Wachstum‹ durch Ent-
3 | W. Andrew Achenbaum, Crossing Frontiers. Gerontology Emerges as a Science, Cambridge 1995, S. 13. 4 | Thomas R. Cole und Mary G. Winkler (Hg.), The Oxford Book of Aging. Reflections on the Journey of Life, Oxford/New York 1994, S. 7. 5 | Mayer, Altersstudie (wie Anm. 2), S. 7.
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wickeln auf Ziele hin möglich. ›Wachstum‹ ist in gewisser Weise gegenläufig zum Altern. Die Lebensprozesse sind umfassender als die des Alterns. 6
Ein erster Schritt zu einem veränderten Verstehen von Alter könnte die Erkenntnis sein, dass bei der Beschreibung von Lebensphasen das Instrumentarium zur Beschreibung der Altersabstufungen fehlt. Kathleen Woodward, die sich mit Literatur und Altern beschäftigt hat, argumentiert in ihrem Buch Aging and Its Discontents (1991), dass die westliche Kultur ohne differenzierte Altersabstufungen auskommt und nur die Binarität jung–alt, die hierarchisch angeordnet ist, kennt. Jugend ist der positive Bezugspunkt, um zu bestimmen, wer als alt klassifiziert wird. Kulturelle Darstellungen des Alterungsprozesses und des Alters bleiben daher häufig gefangen in vordergründig negativen Stereotypen, wobei Jugend, vom subjektiven Standpunkt aus bestimmt, eine nicht festgesetzte Markierung darstellt, eine Kategorie, die beinahe unendlich erweiterbar und fließend ist. Die Bezeichnung ›alt‹ wird im Alltag oft nur in der Relation ›älter als ich‹ verwendet.7 Ausgehend von einem psychoanalytischen Ansatz zeichnet Woodward in ihrer Analyse literarischer Texte ein tristes Bild des Alterungsprozesses. Im Einklang mit dem Titel ihres Buches – Aging and Its Discontents – präsentiert Woodward alte Menschen als Opfer, am Rande der Gesellschaft vegetierend und ohne Hoffnung auf Erlösung. Ich stimme Woodwards Analyse zu, was die gesellschaftliche Akzeptanz von Alter betrifft, möchte aber behaupten, dass die negative Interpretation der Darstellung des Alters bestimmt wird durch ihre Erwartungshaltung und ihre literaturwissenschaftliche Methode, die beide zu einer bestimmten Textauswahl anregen. In meinen Untersuchungen habe ich viele Texte gefunden, die an Chancen des Alters zu denken erlauben. Bedingt wird dieser positive Zugang durch eine literaturwissenschaftliche Methode, die in der Fiktionalität die Möglichkeit 6 | Leopold Rosenmayr, Die Kräfte des Alters, Wien 1995, S. 21. 7 | Kathleen Woodward, Aging and Its Discontents. Freud and Other Fiction, Indiana 1991, S. 6.
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erkennt, Realität zu transzendieren und vorgefasste Meinungen der LeserInnen in Frage zu stellen. Weiters ist eine Definition des Selbst notwendig, die menschliche Identität ganzheitlicher im Lebensverlauf bestimmt. Gesellschaftliche Werte werden so in Frage gestellt und eine Gegenwelt assoziiert. Literarische Texte, die auf diese Art neuinterpretiert werden, können Richtlinien anbieten für eine ständig wachsende Bevölkerung von alten Menschen, die derzeit gesellschaftlich marginalisiert lebt. Diese Vorgangsweise eröffnet somit auch die Chance auf eine erweiterte Definition des Begriffs von Altern, die den Dualismus jung–alt aufhebt und sich der statischen Festlegung auf chronologisches Alter widersetzt. Alter und Altern werden als eine Entwicklung des Menschen im Lebenskontinuum gewertet. Dementsprechend ist es nicht möglich, eine Zuweisung von Eigenschaften und Identitätsmerkmalen aufgrund gelebter Jahre vorzunehmen, sondern vielmehr ist die Integration von Erfahrung in das Bewusstsein als Individuum identitätsbestimmend. Ausgehend von einer Definition des Alterns, die besagt, dass biologische und psychologische Prozesse bewusst oder unbewusst sozial und kulturell beeinflusst werden, betont Rosenmayr, dass gesellschaftlich produzierte, die Lebensgeschichte betreffende Effekte auf das biologische ›Schicksal‹ nicht nur tiefgreifende Wirkung ausüben, sondern dieses sogar konstituieren.8 Wie auch andere ForscherInnen unterscheidet Rosenmayr biologisches Alter und die ›seelische Entwicklungsfähigkeit des Menschen‹.9 Diese Entwicklungsfähigkeit begründet sich in den geistigen Fähigkeiten des Menschen in Kunst, Kultur und Wissenschaften, Symbole zu schaffen, die die Zeit und den Raum überbrücken. Rosenmayr setzt auf die Möglichkeiten des Einzelnen und spricht davon, dass Altern gestaltbar ist, Gesellschaft und Mensch stehen im Zusammenhang von Geschichte und Lebensgeschichte.10 Entsprechend der gängigen Wissenschaftsauffassung betrachtet Rosenmayr Alter 8 | Rosenmayr, Kräfte (wie Anm. 6), S. 21. 9 | Ebd., S. 35. 10 | Ebd., S. 11f.
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nicht als eine isolierte Phase, sondern stellt es in den Gesamtkontext des Lebenslaufs und der Generationsbeziehungen. Durch die Betonung der Gestaltungsmöglichkeiten des Einzelnen spricht er davon, dass es viele Alter gibt, da in Zukunft der Mensch herausgefordert sein wird, sich mehr um die eigene Sinnfindung und Daseinsgestaltung zu bemühen.11 Gewinn an Selbst-Identität oder die ›Entdeckung‹ der das Selbst ermöglichenden Entwicklungen sind an reflexive Leistungen gebunden, die ohne schmerzvolle Einsicht, ohne Überwindung von Widerständen und ohne das Ertragen von Kritik nicht zu erreichen sind.12 Der Philosoph Richard Rorty13 und der Soziologe Anthony Giddens14 kommen zu dem Schluss, dass die narrative Vergegenwärtigung des eigenen Selbst ein Mittel zur Formung dieses Selbst ist. Lebensformen, in denen der Einzelne seine Biographie selbst herstellt, die eine Individualisierung der Gesellschaft bewirkt, beeinflussen auch die Vorstellung von Alter. Individualisierung bedeute nicht ›Autonomie‹, sondern den Umgang mit Entscheidungszwängen, den ›paradoxen Zwang‹ zur Herstellung, Selbstgestaltung, Selbstinszenierungen nicht nur der eigenen Biographie, aber auch ihrer Einbindung in Netzwerke im Wechsel von Präferenzen der Entscheidungen und Lebensphasen.15 Entgegen der differenzierten Sicht Rosenmayrs sind die drei häufigsten Definitionen, um Alter festzuschreiben, die chronologische, die funktionelle und die kulturelle, zu vereinfachend. Während chronologisches Alter von den Kalenderjahren ausgeht und somit das Erreichen von einer bestimmten Anzahl von Jahren als das Altwerden benennt, geht der funktionelle Ansatz davon aus, wie 11 | Leopold Rosenmayr, Altern im Lebenslauf. Soziale Position, Konflikt und Liebe in den späten Jahren, Göttingen 1996, S. 7f. 12 | Rosenmayr, Altern im Lebenslauf (wie Anm. 11), S. 32. 13 | Richard Rorty, Solidarität oder Objektivität?, Stuttgart 1988. 14 | Anthony Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Stanford 1991. 15 | Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim, Nicht Autonomie, sondern Bastelbiographie, in: Zeitschrift für Soziologie, 22/33 (1993), S. 178-187.
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sehr der Einzelne in der Lage ist, für sich zu sorgen, und ist nicht im Zusammenhang mit den gelebten Jahren zu sehen. Kulturelle Definitionen von Alter gehen von all diesen Ebenen aus, setzen aber diese in Beziehung zu den Wertesystemen der jeweiligen Kultur. In den Alternswissenschaften hingegen wurde trotz der verschiedenen Zugänge ein Konsens erreicht: die Zurückweisung einer festgeschriebenen Kategorie für Alter zugunsten einer Definition von Alter auf der Basis von Relativität und Vorläufigkeit.16 Wie der Soziologe Haim Hazan bemerkt: »I now argue against any single ›read‹ on old age as being correct, or all inclusive, or even preferred. We look at the topic from different angles and we see, as we might expect, different images and different hues.«17 Aber nicht nur die Gesellschaft hat bislang den Alterungsprozess simplifiziert, auch die Entwicklungspsychologie hat zunächst den Lebenszyklus als eine Fallkurve gezeichnet, wie die Anthropologin Sharon Kaufman in ihrer Kritik dieser These festgestellt hat. Ein Mensch ›steigt auf‹ und entwickelt sich, indem er Wissen, Fähigkeiten, Eigenschaften, Macht und Selbstbewusstsein erlangt, bevor er ›absteigt‹, indem er einige oder all diese Eigenschaften wieder verliert. Das alternde Individuum wird so interpretiert, dass es sich gegen diesen unweigerlichen Fall stemmt und versucht, an dem Erreichten festzuhalten, oder sich würdevoll dem unausweichlichen Fall stellt.18 Diese Theorie vernachlässigt jedoch die Erfahrungen des Einzelnen von Altern und Alter und die literarischen Texte. Im Gegensatz zur populären Auffassung, dass das Alter eine unveränderliche Phase im Leben sei, formulieren alte Leute persönliche und kulturelle Symbole ihrer Vergangenheit immer wieder neu, um in einem sinnvollen, kohärenten System ihr Selbst zu verste16 | Lynn Bothelo und Pat Thane, Women and Ageing in British Society Since 1500, Harlow, Ess., 2001, S. 4f. 17 | Haim Hazan, Old Age. Constructions and Deconstructions, Cambridge 1994, S. 53. 18 | Sharon R. Kaufman, The Ageless Self. Sources of Meaning in Late Life, Madison 1986, S. 5.
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hen. Durch diesen kreativen Prozess generieren sie Gegenwärtigkeit. Dies wird auch bestätigt durch die Tatsache, die Kaufman in ihrer Untersuchung hervorhebt und die in der von mir eingesehenen Literatur ebenfalls nachzuweisen ist, dass Altern nicht an sich als sinnvoll erlebt wird, sondern Sinn darin gefunden wird, Identität auch im Alter immer wieder neu zu begründen. Kaufmans Interesse gilt daher dem Umgang der alten Leute mit Veränderungen auf einer Basis des Verstehens der Kontinuität und Bedeutung ihres bisherigen Lebens. Identität wird nicht festgeschrieben als ein statischer Punkt in der Vergangenheit und ist nicht durch die kurze Zeit der Jugend definiert. Sharon Kaufman verwendet den Begriff des ›zeitlosen Selbst‹ (ageless self)19, um das kontinuierliche Definieren des Ichs zu beschreiben, das fortwährend und kreativ ist, ein Begriff, den ich für die Neubewertung literarischer Texte sehr nützlich finde. Die amerikanische Schriftstellerin Meridel LeSueur verwendet den Begriff ›ripening‹ (Reifen)20, wenn sie vom Altern spricht, und ersetzt dadurch die lineare, quantitative Funktion der Dimension Zeit durch eine qualitative Funktion, die letztlich die Möglichkeit bietet, eine ganzheitliche Identität als Person individuell zu gestalten. Mittlerweile wird auch in der Entwicklungspsychologie von der Vorstellung des ›individuellen‹ Alterns ausgegangen. Wenn unabhängig von den biologischen Grundlagen gesellschaftliche und kulturelle Erwartungen die Entwicklung der Person prägen und somit zu unterschiedlichen Lebensmustern und Lebensläufen führen, so muss auch die Bewertung und Einschätzung dieses Alterns individuell erfolgen. Es gibt zwar Gemeinsamkeiten des Alterns, die medizinisch, soziologisch und psychologisch aufzuzeigen sind, aber es besteht ein Freiraum, den der Mensch individuell nützen kann, der wiederum auch Auswirkungen auf die medizinische, soziologische und psychologische Darstellung des Phänomens ›Alter‹ hat. Auch 19 | Kaufman, Ageless Self (wie Anm. 18), S. 5. 20 | Meridel LeSueur, Ripening. Selected Work, hg. v. Elaine Hedges, New York ²1998.
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im Bereich der naturwissenschaftlich-medizinischen Publikationen wird eine Unterscheidung zwischen biologischem und kulturellem Alter zumindest implizit angesprochen. So beschäftigt sich etwa eine neurobiologische Studie über Erscheinungsformen und Mechanismen des Alterns, wie der Titel besagt, mit dem biologischen Altern.21 Der Autor erwartet sich von einer genaueren Kenntnis der physiologischen Veränderungen der Organe und einem exakteren Verständnis der Alternsveränderungen in den Zellen des Zentralnervensystems allerdings auch ein Überwinden der mit dem biologischen Altern assoziierten Vorurteile und eine Akzeptanz der veränderten Umstände im Alter. Rosenmayr spricht von einer ›bunten Gesellschaft‹, einer qualitativen Vielheit, wo das planende Selbst erfolgreich wird.22 Der Begriff ›neue Alte‹ bezeichnet eine kulturelle Entwicklung als Resultat einer fortschreitenden Ausdifferenzierung des Altersbildes.23 Wenn Bernice Neugarten 1974 die Homogenität des Konzepts ›Alter‹ durch die Unterscheidung alter Menschen in ›young-old‹ und ›old-old‹ differenzierte, betonte sie die Möglichkeit eines individuellen Alterns.24 Somit kommt es zu einer Definition von Altern, die unterschiedliche Konzepte, die sich zu widersprechen und auszuklammern scheinen, vereint und erschwert zum Teil auch einen Zugang zum Thema. Minois benennt in seiner Geschichte des Alters als Grund für die Vernachlässigung des Forschungsgebiets im Vergleich zur Kindheit genau diese Vielschichtigkeit und Individualität des Alterns. Da alte Leute keine homogene Gruppe waren, wer21 | Hans-Peter von Hahn, Das biologische Altern. Erscheinungsformen und Mechanismen des Alterns, Nürnberg 1979. 22 | Rosenmayr, Altern im Lebenslauf (wie Anm. 11), S. 10. 23 | Brigitte Donicht-Fluck, Neue Alte in den USA – Konsequenzen und Probleme einer Ausdifferenzierung des Altersbildes, in: Produktivität des Alters. Beiträge zur Gerontologie und Altenarbeit 75, hg. v. Detlef Knopf, Ortfried Schäffter und Roland Schmidt, Berlin 1995, S. 232-255, hier S. 232. 24 | Bernice Neugarten, Age Groups in American Society and the Rise of the Young-Old, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences, 415 (September 1974), S. 187-198.
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den sie in historischen Quellen unter der Kategorie der Erwachsenen subsumiert. Alte Menschen treten als eine soziale Kategorie erst mit dem gesellschaftlich festgesetzten Ruhestand auf, vor diesem Zeitpunkt erscheinen sie in individuellen Fallstudien, die schwer fassbar auf gesamtgesellschaftliche Aspekte umzulegen seien.25 In meinem Zugang zum Thema Alter(n) gehe ich davon aus, dass Altern – verstanden als kulturelles Phänomen in Anlehnung an Rorty und Giddens – als kreatives Ausformulieren der eigenen Identität zu sehen ist, nicht unähnlich dem Akt des Schreibens. Alter und Altern müssen somit als ein kontinuierlicher, kreativer Prozess gesehen werden, der nicht an die Chronologie der Jahre gebunden ist, als eine Auseinandersetzung des Individuums mit sich verändernden Lebensumständen. Der humanistische Anspruch, der hinter der Forderung nach Identifikation einerseits auf einer allgemein-menschlichen andererseits auf einer persönlich involvierten Ebene besteht, liegt darin, den Wert des Einzelnen und die Würde des Individuums unabhängig von Klasse, Rasse, Geschlecht und Alter anzuerkennen. In Anlehnung an die von Adrienne Rich aufgegriffene Unterscheidung zwischen ›Homophobie‹ und ›Heterosexismus‹ durch Gloria I. Joseph, nach der Homophobie die individuelle panische Reaktion ausdrückt, während Heterosexismus das tiefverwurzelte, gesellschaftliche Vorurteil als eine politische Indoktrinierung aufzeigt26, fordert Kathleen Woodward eine ähnliche Unterscheidung bezüglich der Einschätzung von Altern. ›Gerontophobie‹ würde demnach die Furcht des Einzelnen ausdrücken, während ›Ageism‹ das politische Vorurteil bezeichnen könnte, das gesellschaftliche Bedingungen mitprägt und, wenn als solches erkannt, auch mit Argumenten zu widerlegen sei.27 In der Zusammenschau von Alter und Geschlecht lassen sich diese Argumente 25 | Georges Minois, History of Old Age, übers. v. Sarah Hanbury Tenison, Chicago 1989, S. 5. 26 | Adrienne Rich, Blood, Bread, and Poetry. Selected Prose. 1979-1985, New York 1986, S. 200. 27 | Woodward, Aging (wie Anm. 7), S. 194.
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deutlicher formulieren, da Altern ein individuelles ›Projekt‹ ist, das gesellschaftlich gelebt werden muss.
A ging S tudies als D iskurs Hat sich in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts die Kategorie Geschlecht (gender) als methodischer Ansatz in der Literatur- und Kulturtheorie etabliert, so begann in den 1990er Jahren die Kategorie Alter im kulturwissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskurs eine wesentliche Rolle zu spielen. War der Begriff ›Alter‹ bis Mitte der 1980er Jahre meist nur für GerontologInnen von Interesse, die sich in soziologischen und medizinischen Studien mit den sogenannten Realitäten des Alterns befassten, so wird Alter seither zunehmend als kulturell definierte Kategorie wahrgenommen. Vormals wurden kulturelle Darstellungen von Alter und Altern in Literatur und Film – falls überhaupt beachtet – nur als Spiegel der Gesellschaft gelesen, ohne das subversive Potential fiktionaler Texte, gesellschaftsverändernd zu wirken, wahrzunehmen. Die Vorstellung, dass individuelle Identität in Literatur und Gesellschaft kulturell determiniert ist, verändert auch die Kategorie ›Alter‹. So wie die feministische Theorie eine Unterscheidung zwischen biologischem und kulturell konstruiertem Geschlecht vornimmt, so müsste zwischen chronologischem und kulturell festgelegtem Alter differenziert werden. Trotz der Universalität des biologischen Alterungsprozesses ist Alter – wie Jugend – eine kulturell und gesellschaftlich definierte Größe. Als eine der ersten Stimmen, die die kulturellen Implikationen der Definition von ›Alter‹ anspricht, weist Susan Sontag auf einer Konferenz des Instituts für Gerontologie 1973 auf die Schnittpunkte von Alter und Geschlecht hin und zeigt damit die enge Verbindung der beiden Kategorien, die die Matrix meines Ansatzes darstellen.28 28 | Susan Sontag, The Double Standard of Aging. No Longer Young. The Older Woman in America. Proceedings of the 26th Annual Conference on Aging, Ann Arbor 1975, S. 31-39.
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In ihrer Präsentation spricht Susan Sontag von den unterschiedlichen Maßstäben (›Double Standard of Aging‹), die in Bezug auf das Altern bei Männern und Frauen angelegt werden, und sie unterscheidet zwischen Alter (old age) und Älterwerden (aging). Sie definiert Alter als ein Faktum menschlicher Existenz, als eine qualvolle Prüfung, der sich Männer wie Frauen auf ähnliche Weise unterziehen müssen, und Älterwerden – also ein kulturell festgemachtes Altern – als eine Qual der Phantasie, eine gedachte Krankheit, eine Pathologie, die durch die Tatsache gekennzeichnet ist, dass mehr Frauen als Männer darunter leiden. So spricht Sontag davon, dass Männer ein hohes Alter erreichen, dass Frauen aber alt werden oder, genauer, dass sie ›älter‹ werden. Altern ist ein weibliches Phänomen, weil Frauen als alt angesehen werden, sobald sie nicht mehr sehr jung sind. Sontag hat daher Altern nicht als den biologischen Prozess definiert, sondern als eine gesellschaftliche Verurteilung von Frauen, bestimmt durch die Art, wie die Gesellschaft den Freiraum von Frauen, sich selbst kulturell zu imaginieren, einschränkt. Aufgrund der zugewiesenen Geschlechterrollen wird Alter traditionell in Bezug auf Frauen als das Fehlen von etwas (›no longer young‹) definiert, während Männer im Alter durchaus Prestigegewinn erfahren können.29 Es sind die engen gesellschaftlichen Vorstellungen, die Frauen einschränken und ausgrenzen, und nicht die Tatsache des Alterns an sich. Da Jugend eine Metapher für Energie, ruhelose Mobilität und Streben nach Anerkennung ist, alles Eigenschaften, die traditionell mit ›Maskulinität‹ assoziiert werden, und Alter mit Inkompetenz, Hilflosigkeit, Passivität, Konkurrenzunfähigkeit und NettSein in Zusammenhang gebracht wird, Eigenschaften, die auch feminine Stereotype sind30, verstärkt ›ageism‹ – die systematische Stereotypisierung und Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres Alters – die diskriminierenden Aspekte des weiblichen Rollenbildes. Dabei wird davon ausgegangen, dass die äußere Erschei29 | Ebd., S. 31ff. 30 | Ebd., S. 32.
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nung, das Aussehen, Identität bestimmt. Dies ist Teil der Ideologie, die Frauen und Alter als das ›andere‹ gegenüber Maskulinität und Jugend stellt, die als menschliche Normen in der westlichen Gesellschaft angesehen werden. Bereits in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte sich in den U.S.A. aus dem starken Bedürfnis, Altern als ethische und kulturelle Aufgabe zu begreifen, eine neue Fachrichtung, die als ›humanistic gerontology‹ bekannt wurde und eine neue, aber wenig beachtete Ausrichtung der Kulturwissenschaften begründete. Nachdem sich die gerontologische Forschung jahrelang an der rein technik- und fortschrittsgläubigen medizinischen Wissenschaft orientiert hatte, wurde versucht, einen stärker humanistischen und menschlich-ganzheitlichen Standpunkt zu vertreten. So haben gerade in der amerikanischen gerontologischen Literatur Themen wie Spiritualität und Ethik, Selbstdarstellungen und Kreativität, Selbstbestimmung und Menschenwürde ihren festen Platz erobert. Das Forschungsgebiet der ›humanistic gerontology‹ hat sich durch eine Vielzahl von Publikationen, die Mitte der 1980er Jahre erschienen sind, entwickelt.31 Die historische Dimension des Alterns wurde bereits früh untersucht. Die ausführlichste Beschäftigung mit dem Thema Altern in der amerikanischen Kultur ist die Publikation The Journey of Life des Historikers Thomas R. Cole, die durch eine genaue Analyse theologischer, philosophischer und wissenschaftsgeschichtlicher Texte besticht. Cole gibt einen ideengeschichtlichen Überblick über die Zuschreibungen des Alters im Verlauf der Geschichte. Dabei bezieht er den Begriff ›Altern‹ auf den von ihm sogenannten ›zwei-
31 | Thomas R. Cole und Sally Gadow (Hg.), What Does It Mean to Grow Old? Reflections from the Humanities, Durham 1986, Donna Polisar et al. (Hg.), Where Do We Come From? What Are We? Where Are We Going? An Annotated Bibliography of Aging and the Humanities, Washington, DC 1988 und Thomas R. Cole, David D. van Tassel und Robert Kastenbaum (Hg.), Handbook of the Humanities and Aging, New York 1992.
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ten Abschnitt‹ des Lebens32, wobei er allerdings in seiner Einleitung betont, dass er sich nicht auf eine dieser Altersgruppen beschränken möchte oder chronologisches Alter als Grundlage seiner Arbeit sieht, sondern dass er der grundsätzlichen Erfahrung und dem Prozess des Altwerdens nachgehen möchte. Wie bereits im Titel seiner Arbeit angesprochen, sieht er diesen Prozess als Reise, die für ihn trotz kultureller Determiniertheit für den Einzelnen jedes Mal eine einzigartige und neue Erfahrung darstellt. Dieser Zugang, der auch andere Publikationen der 1990er Jahre charakterisiert, setzt sich deutlich von den Ansätzen der Alternswissenschaften der 1980er Jahre ab. Während etwa Historiker der späten 1970er und frühen 1980er Jahre Anleihen bei den Sozialwissenschaften und der Biomedizin nahmen33, die Alter als ein zu bewältigendes oder zumindest zu lösendes Problem definierten, gehen die ForscherInnen der 1990er Jahre von den Möglichkeiten und Chancen des Alterns aus. So bedauert etwa Cole, dass Historiker für ihr Fachverständnis und für ihre Auseinandersetzung mit dem Thema ›Alter‹ Vorstellungen der medizinisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Gerontologie entlehnt haben und Fakten von Vorstellungen, Ideen und Bildern des Alters trennen. Dies bewirke eine epistemologische Spaltung, die die Erfahrungen des Einzelnen und die kulturellen Darstellungen von Alter und Altern, die ja erst die Realitäten für den alternden Menschen ausmachen, verneine34, ein Manko, das nicht zuletzt durch eine stärkere Beachtung zum Beispiel literarischer Texte verringert werden könnte.
32 | Der zweite Abschnitt des Lebens benennt die Gruppe der ›young old‹, der dritte die Gruppe der ›old old‹ und den Abschnitt bis zum Tod. Diese Bezeichnung hat die Konnotation von Dynamik und Autonomie und steht im Gegensatz zu der Assoziation von Alter mit Statik und Unfähigkeit. 33 | HistorikerInnen widmeten sich vorrangig Themen wie Sozialpolitik, Arbeitslosigkeit, Altersarmut, Krankheiten, Krankenpflege und medizinischer Versorgung, Ruhestand und Pensionen. 34 | Cole, Journey (wie Anm. 4), S. 21.
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»W e A re You G rown O ld «: H umanistische G erontologie Dieser traditionell positivistischen Haltung wird nicht nur durch Coles historische Arbeit, sondern auch durch die Infragestellung der Trennung von Körper und Geist durch die gerontologische Forschung entgegengetreten. In den späten 1980er Jahren erschienen daher einige Werke, die sich gegen eine rein auf Binarität ausgerichtete Forschung und deren Unterscheidung zwischen Körperlichem und Geistigem wandten und Religiosität und Spiritualität in die Erforschung menschlichen Alters und Alterns miteinbezogen.35 In seinem Zugang zum Thema setzt sich Cole dafür ein, Altern als subjektive Erfahrung wahrzunehmen, deren Bewusstheit durch soziale Gegebenheiten und kulturelle Bedeutungen geprägt wird, und wendet sich gegen die in der naturwissenschaftlichen Tradition des 19. Jahrhunderts stehende Vorstellung, dass Altern ein Problem des Lebens sei, das durch reine Kraftanstrengung von Wissenschaft, Technologie und Expertentum gelöst werden könne. In diesem Zusammenhang spricht Cole vom wissenschaftlichen Management von Altern, das mehr Probleme schaffe, als es löse: The problem with this mythology of scientific management is not that it is altogether false, but that it is only half true. The scientific management of aging fundamentally misconstrues the ›problem‹ of aging. […] [It] is really a mystery rather than a puzzle. […] Mysteries require meaning. Born of moral commitment and spiritual reflection, the experience of meaning helps indi35 | Ronald J. Manheimer, The Narrative Quest in Humanistic Gerontology, in: Journal of Aging Studies 3.3 (Fall 1989), S. 231-252, James E. Birren und Vern L. Bengston (Hg.), Emergent Theories of Aging, New York 1988, L. Eugene Thomas (Hg.), Research on Adulthood and Aging. The Human Science Approach, Albany 1989, Morris Berman, Coming to Our Senses. Body and Spirit in the Hidden History of the West, New York 1989 und Sally A. Gadow, Body and Self. A Dialectic, in: Journal of Medicine and Philosophy 5 (1980), S. 172-185.
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viduals to understand, accept, and imaginatively transform the unmanageable, ambiguous aspects of existence. 36
Was humanistische GerontologInnen gemeinsam haben, ist eine Skepsis gegenüber rein ›sozialtechnischen‹ Lösungen und eine Hinwendung zum Geistig-Spirituellen. Viele von ihnen gehen davon aus, dass es einen natürlichen Zyklus des Lebens gibt, was auch die ethische Vorgabe inkludiert, die Einschränkungen, mit denen Menschen leben lernen müssen, anzunehmen. In diesem Zusammenhang werden oft organische Metaphern und bildhafte Verweise auf die Natur eingesetzt, um die Unweigerlichkeit der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens nicht nur als gegeben auszuweisen, sondern auch, um sie akzeptabel zu machen. So sieht Cole die Aufgabe unseres Lebens in der Suche nach Liebe und Sinn im Bewusstsein des Todes und findet eine Antwort auf diese existentielle Frage im Zyklischen, indem es gerade durch die Begrenzungen, denen der Mensch durch seine Existenz im Zeitlichen ausgesetzt ist, Sinn bekommt. Growing old and dying, like being born and growing up, will remain part of the cycle of organic life, part of the coming into being and passing away that make up the history of the universe. Human freedom and vitality lie in choosing to live well within these limits, even as we struggle against them. 37
Während der französische Historiker Georges Minois in seiner 1987 in Frankreich erschienenen Geschichte des Alters von der Antike bis zur Renaissance von den Sozialwissenschaften, der Psychologie und der geriatrischen Medizin erwartet, ein wirkliches Bild der Bedürfnisse der Menschen im Alter zu entwickeln38, wendet sich Cole gegen diese Vorstellung. Cole ist sich stärker der kulturell determinierten Position der Wissenschaften bewusst und verlangt nach ei36 | Cole, Journey (wie Anm. 4), S. 23. 37 | Ebd., S. 25. 38 | Minois, History (wie Anm. 25), S. 307.
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ner kritischen Auseinandersetzung mit den in der Altersforschung etablierten Begriffen. At the same time, ideals are always socially located and implicated in relationships of power and authority. […] I see medicine and social science as essential for understanding patterns of health and disease, but as inadequate for teaching us what kind of elders we want to be. In fact, medicine and science since the Renaissance have generally been infused with unacknowledged middle-class, masculine ideals. These ideals call for criticism and evaluation in social, moral, and existential terms. 39
Wie auch die AutorInnen der Berliner Altersstudie festgestellt haben, beeinflussen Vorstellungen über das Alter unser alltägliches Verhalten gegenüber alten Menschen, die Einstellung älterer Menschen zu sich selbst, unsere eigene Lebensführung und nicht zuletzt auch die staatliche Sozialpolitik und diejenigen, die beruflich mit alten Menschen zu tun haben. Die Gerontologie prangerte zu Recht lange Zeit negative Altersstereotypen an und setzte Befunde und Postulate vom ›aktiven‹, ›produktiven‹ und ›erfolgreichen‹ Altern dagegen. Die AutorInnen äußern in diesem Zusammenhang Zweifel, ob man nicht in der Abwehr und Zurückweisung negativer Behauptungen über das Alter zu weit gegangen ist und wir eher durch unsere Neigung zum Verdrängen von Gebrechlichkeit, Leiden und Tod sowie durch unsere Hoffnung auf ein langes und gesundes Leben bestimmt werden. Wenn Hinweise auf relativ gesunde und aktive alte Menschen die Möglichkeit erfolgreicher individueller Selbstgestaltung und sozial- beziehungsweise gesundheitspolitischer Intervention stützen, dann kann die Abwehr von negativen Altersvorstellungen die Chancen und Notwendigkeiten zum Handeln auch behindern.40 Wenn zunächst die Fachbereiche Medizin, Psychologie und Soziologie von einer männlichen Norm des Alters und Alterns ausgin39 | Cole, Journey (wie Anm. 4), S. 28. 40 | Mayer, Altersstudie (wie Anm. 2), S. 599.
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gen, woran der Begriff ›Gerontologie‹, der sich vom griechischen Wort ›geron‹ (alter Mann, Greis) ableitet, erinnert, öffneten sie sich in letzter Zeit vermehrt einem multidisziplinären und differenzierteren Zugang. Die humanistische Gerontologie versteht sich nun als Wissenschaft an der Schnittstelle zwischen medizinisch-naturwissenschaftlichen, soziologisch-empirischen und geisteswissenschaftlich-humanistischen Disziplinen. Dies zeigt sich auch in der Tatsache, dass die WissenschaftlerInnen, die sich zu einer solchen Disziplin bekennen, aus all den angeführten Wissenschaftsgebieten kommen. Dadurch erweist sich die humanistische Gerontologie vor allem als ein spezifischer Zugang zur Thematik ›Altern‹, der interdisziplinär zur Geltung gelangt, wie das Beispiel von Thomas R. Cole zeigt, der als Historiker und Theologe in der medizinischen Fakultät am Institute of the Medical Humanities lehrt und in der Ärzteausbildung tätig ist. Ausgehend von der schon erwähnten persönlichen Betroffenheit und einem politischen Engagement, zur Verbesserung der Situation älterer Menschen in unserer Gesellschaft beizutragen, haben die Zugänge in der Alternswissenschaft noch eine weitere Gemeinsamkeit aufzuweisen: Die meisten WissenschaftlerInnen postulieren einen moralischen Anspruch. Angesichts seiner Analyse der Veränderungen im Generationsverhältnis, im Auf bau der Lebensphasen und aufgrund der verbreiteten Individualisierung fordert Rosenmayr eine stärkere Verantwortung der Betroffenen, zur Schaffung einer ›Alterskultur‹ beizutragen und in der Folge Modelle des ›Homo Curator‹ zu entwerfen, des in wechselseitiger Sorge um einander bemühten Menschen.41 Die geforderte Bereitschaft, Altern zu lernen, schlägt sich auch in Publikationen nieder, die Anleitungen geben, wie diese Hilfe zur Selbsthilfe entwickelt werden kann. So sprechen Boeckler und Dirschauer von einem ›emanzipierten Alter‹ und ermutigen dazu, den eigenen Altersprozess bereits früh
41 | Rosenmayr, Altern im Lebenslauf (wie Anm. 11), S. 8f.
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zu akzeptieren und zu gestalten.42 Auch die vielfach in den Alternswissenschaften beschworene ›Ressource Alter‹ ist ein Aspekt dieses moralischen Zuganges, weil dies meist in Zusammenhang mit einer ›Verpflichtungsethik‹ diskutiert wird.43 Thomas Rentsch spricht in seinem Aufsatz »Philosophische Anthropologie und Ethik der späten Lebenszeit« von den Aufgaben des ›Werdens zu sich selbst‹. Dieses Selbst ist potentiell immer ein neues und ethisch postuliertes, bis zum Tod.44 Auch Cole weist in seiner Einleitung zur Anthologie The Oxford Book of Aging darauf hin, dass es beim Altern heißt, mit und in einer bestimmten Zeit zu leben und somit mit den Veränderungen, die diese Zeit bestimmen, einerseits auf einer persönlichen Ebene der körperlichen und geistigen Veränderung, andererseits auf einer sozialen Ebene, auf der nicht nur wir uns verändern, sondern auch unsere Umgebung. Cole postuliert ein Leben in der Zeit, eine Annahme unserer Gegenwärtigkeit: While scientific research and medical technology will continue to alter the biological possibilities of human life, they cannot free us from the necessity of living within limits. Time – invisible, intangible, yet inexorable – is perhaps the most mysterious limit of all. Aging is about living in time. Born into the world at a certain historical moment, destined to pass out of it at a later, uncertain moment, we are creatures who change significantly over a lifetime. For groups as well as individuals, time brings changes of form and condition. 45
42 | Richard Boeckler und Klaus Dirschauer (Hg.), Emanzipiertes Alter, Band 1: Sachbuch. Band 2: Werkbuch, Göttingen 1990. 43 | Vgl. Donicht-Fluck, Neue Alte (wie Anm. 23). 44 | Thomas Rentsch, Philosophische Anthropologie und Ethik der späten Lebenszeit, in: Die Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung, hg. v. Paul B. Baltes und Jürgen Mittelstrass, Berlin 1992, S. 432-460. 45 | Cole, Oxford Book (wie Anm. 4), S. 5.
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Unabhängig von den theoretischen und methodischen Ausrichtungen der Disziplinen scheinen sich alle KulturwissenschaftlerInnen im Bereich der Alternswissenschaften einig zu sein, dass die Beschäftigung mit Altern kein abstraktes, abgelöstes Unterfangen bleiben kann, sondern dass die persönliche Involviertheit einen bestimmten Zugang zum Thema nicht nur ermöglicht, sondern auch zwingend werden lässt. Wenn sich die feministische Forschung zwar zögerlich, aber dennoch im immer stärkeren Ausmaß mit dem Thema ›Altern‹ zu beschäftigen beginnt, so möchte sie auf diesem Gebiet eine Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen erreichen, ebenso wie GeisteswissenschaftlerInnen, die im Rahmen der medizinisch orientierten Altenbetreuung auch auf der praktisch-angewandten Ebene eingebunden sind, die Intention verfolgen, eine Verbesserung unser aller Lebensbedingungen zu ermöglichen. Beide Ansätze wehren sich gegen eine auf Binarität basierende Ideologie, die nur in Gegensätzen wie etwa jung–alt und Mann–Frau eine Gesellschaftsform begründet, die eine Gruppe gegenüber der anderen ausgrenzt und marginalisiert. Im Gegensatz zu einer einseitigen Identifikation fordert die Kulturwissenschaft daher eine Überwindung der Binarität. Wenn Kathleen Woodward in der bereits erwähnten psychoanalytischen Studie literarischer Texte das Misstrauen, Schweigen und Befremden der wissenschaftlichen Gemeinschaft, die ihrem Buchprojekt aufgrund der Themenwahl entgegen gebracht werden, mit der Angst vor dem eigenen Altern erklärt, dann schwingt in ihrem Zugang ein Interesse an Aufklärung und Gesellschaftsveränderung mit: In the recent practice of literary and cultural criticism of difference – gender, race, ethnicity, and postcolonial discourse – it has become almost axiomatic that one’s body should resemble the subject of one’s research. If it does not, one is vulnerable to the charge of speaking for others. […] In the case of the study of old age by someone who is not yet old, one’s motivations may be called into question in a particularly insidious way, devaluing the research. The accusation may be that one is afraid of aging, the implication being that one is psychologically unsound. I prefer to understand such
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a charge as a projection of the other person’s fear and thus as a symptom of the denial of aging. 46
So wie Altern Individualität und Einzigartigkeit betont, so erkennt Woodward im Zugang zu einem altersbezogenen Thema immer eine individuelle Ausprägung und ein persönliches Interesse. In ihrer Interpretation der Themenwahl überwindet sie die Binarität von Selbst und anderem, indem sie eine Gemeinsamkeit im Anderssein im Alter postuliert: »Aging is a subject in which we all have interests of our own. The difference of age is the one difference which we will ultimately all have in common, if we live long enough. The subject of aging is one that belongs to all of us.«47
A nokritizismus – E ine kulturwissenschaf tliche M e thode der A lternswissenschaf ten Wenn sich feministische Literaturwissenschaft das Ziel setzt, die Welt durch eine Neubewertung der Vergangenheit zu verändern, und dazu anregt, dass Literatur von einem neuen Gesichtspunkt aus betrachtet und bewertet wird, so stellen sich LiteraturwissenschaftlerInnen auf dem Gebiet der Alternswissenschaften einer ähnlichen Herausforderung und nehmen eine vergleichbare politische Haltung ein, mit demselben Ziel, nicht nur die Welt zu interpretieren, sondern durch eine Bewusstseinsänderung die Beziehung zwischen Text und LeserIn und in der Folge zwischen LeserIn und Welt neu zu definieren.48 Literatur stellt an sich für die Alternswissenschaften einen Zugang zur Welt der Betroffenen dar. So nähern sich etwa die Soziologinnen Suzanne England und Carol Ganzer dem Thema der Betreuung von Alzheimer-PatientInnen 46 | Woodward, Aging (wie Anm. 7), S. 22. 47 | Ebd., S. 23. 48 | Judith Fetterley, The Resisting Reader. A Feminist Approach to American Fiction, Bloomington 1977.
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anhand literarischer Darstellungen. Sie untersuchen fünf Romane, zwei Theaterstücke, drei Tagebuchaufzeichnungen und eine Kurzgeschichte, um mehr über die Erfahrungen der Familienangehörigen von Alzheimer-PatientInnen zu erfahren49, und sind ein gutes Beispiel einer praktizierten humanistischen Gerontologie. Trotz der vielfältigen Werbung einer Schönheitsindustrie, jung zu bleiben, trotz Versicherungen und Banken, die plötzlich die Konsumenten und Konsumentinnen der ›jungen‹ Alten entdeckt haben, ist Alter(n) – wie ein Alternswissenschaftler formuliert hat – ein unbekanntes und unerforschtes Land (»The trouble is that old age is not interesting until one gets there, a foreign country with an unknown language.«).50 In meinem anokritischen Zugang spreche ich von Alter als einer Intersektionalität oder Identitätsmarkierung, die trotz Poststrukturalismus und Postmoderne noch nicht dekonstruiert wurde. Altern ist somit im Sinne von Derrida eine Spur (›trace‹): Das, was ich Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. Und diese Verweise bleiben nie stehen. Es gibt keine Grenzen der differentiellen Verweisung einer Spur auf die andere. Eine Spur ist weder eine Anwesenheit noch eine Abwesenheit. Folglich setzt dieser neue Begriff des Textes, der ohne Grenzen ist – ich habe deshalb gesagt, auch als scherzhafte Bemerkung, es gäbe kein Außerhalb des Textes –, folglich setzt dieser neue Begriff des Textes voraus, dass man in keinem Moment etwas außerhalb des Bereichs der differentiellen Verweisung finden kann, das ein Wirkliches, eine Anwesenheit oder eine Abwesenheit wäre […] Ich habe geglaubt, dass es notwendig wäre, diese Erweiterung, diese 49 | Suzanne England und Carol Ganzer, The Many Faces of Loss. Autobiography of the Alzheimer’s Experience, in: Illness, Crises & Loss. Multidisciplinary Linkages 2.2 (Summer 1997), S. 13-21. 50 | Andrew Blaikie, Ageing and Popular Culture, Cambridge 1999. Zitiert aus: J. Ford und R. Sinclair, Sixty Years On. Women Talk About Old Age, London 1987, S. 51.
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strategische Verallgemeinerung des Begriffs des Textes durchzuführen, um der Dekonstruktion ihre Möglichkeit zu geben […]. 51
Diese Möglichkeit der Dekonstruktion gilt es nun für uns als KulturwissenschaftlerInnen auch hinsichtlich von Alter und Altern zu ergreifen. Wenn ich davon spreche, dass Alter zunehmend als kulturell definierte Kategorie wahrgenommen wird, ist damit gemeint, dass Altern nicht nur als ein rein biologischer, soziologisch analysierter und medizinisch relevanter Vorgang gesehen wird, sondern ersichtlich ist, dass nicht nur der individuelle Lebenszusammenhang, sondern auch das kulturelle Umfeld und die Rollenbilder für ein selbstbestimmtes Altern des Individuums entscheidend sind. Die bereits etablierte kultur- und literaturwissenschaftliche Forschung bezüglich Fragen des Anders-Seins, ob bezüglich Geschlecht, Rasse, Ethnizität, Sexualität, muss daher um den Aspekt des Alters erweitert werden. Die Erkenntnis, dass individuelle Identität kulturell determiniert ist, verändert nämlich den Begriff ›Alter‹. So wie die feministische Theorie eine Unterscheidung zwischen biologischem und gesellschaftlich konstruiertem Geschlecht vornimmt, so müsste zwischen chronologischem und kulturell festgelegtem Alter differenziert werden. In der Tradition Elaine Showalters, die eine Auseinandersetzung mit der Geschichte, der Form, den Themen, den Genres und dem Auf bau von Texten von Schriftstellerinnen forderte und dafür den Begriff ›gynocriticism‹ prägte, fordere ich eine Suche nach einer spezifischen kulturwissenschaftlichen Kultur des Alterns. Germaine Greer verwendet den Terminus ›anophobia‹52, um die Angst vor alten Frauen zu benennen. Ich schlage nun die Einführung des Begriffs ›anocriticism‹ vor, um den Aspekt ›gesellschaftlichen‹ Alterns zu untersuchen, um ein Verständnis zu generieren, was es für Frauen und Männer bedeu51 | Peter Engelmann, Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 2004, S. 20-21. 52 | Germaine Greer, The Change. Women, Aging and the Menopause, New York 1992, S. 4.
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tet, in Margaret Morganroth Gullettes Formulierung ›durch Kultur gealtert‹ zu sein (›aged by culture‹).53 Der von mir geprägte Begriff ›anocriticism‹ benennt einen interpretatorischen Ansatz, der vor allem die Autorität der individuellen weiblichen Erfahrung im Alter(n) als Widerstand versteht, die Erfahrung beliebiger Einzelner zur Norm zu erheben und zu generalisieren. So wie feministische Theorie zwischen Sexualität und Geschlecht unterscheidet, so sollte eine Unterscheidung zwischen chronologischem Alter und den Stereotypen assoziiert mit alten Menschen vorgenommen werden, um einen Ausweg aus dem eingrenzenden binären Gegensatz von ›jung‹ und ›alt‹ zu finden. Ausgehend von der Prämisse, dass Alter – ähnlich wie Rasse, Klasse und Geschlecht – nicht natürlich oder unvermeidbar vom anatomischen Körper des Individuums fließt, kann die Wissenschaft untersuchen, wie Altersidentität sowohl für jung als auch für alt in Literatur und Gesellschaft konstruiert wird. Durch eine Untersuchung, wie ›Jugend‹ oder ›Alter‹ eine festgelegte Bedeutung zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Kontext erlangt, sowie durch die Betonung des notwendigen Zusammenhanges dieser beiden Begriffe kann ein Verständnis dafür erreicht werden, dass das, was wir als typisch ›jung‹ in einer bestimmten Gesellschaft ansehen, teilweise davon abhängt, was wir in Unterscheidung dazu als ›alt‹ definieren und umgekehrt. Diese Einsicht führt zum Ergebnis, dass das, was altersneutral – nämlich allgemeingültig – erscheint, implizit als männlich und jung angesehen wird und somit das Weibliche und Alte ausschließt. Alter(n) ist somit ein kontinuierlicher Prozess im Kontext der Intersektionalität und eine Auseinandersetzung des Individuums mit sich verändernden Lebensumständen. Identität als Wechselspiel von Veränderung und Kontinuität verstanden begründet eine Definition des Selbst als Identitäten in Veränderungen. Wichtig in diesem Prozess ist nicht nur das Leben als Narrativ zu erfassen, sondern auch der Interpretation dieses Narrativs Raum zu geben.
53 | Margaret Morganroth Gullette, Aged by Culture, Chicago, 2004.
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Macht der Experten – Ohnmacht der Unternehmen?! Empirische Befunde und personalwirtschaftliche Gestaltungsempfehlungen für alternde und schrumpfende Unternehmen 1 Manfred Becker, Anja Beck, Andrea Herz
R elevanz und Z ielsetzung des F orschungsprojekts Wenn die Bevölkerung altert und immer weniger Menschen in das Berufsleben eintreten, stellt sich die Frage, ob sich die Macht von Experten unter diesen Bedingungen verändert. Es ist davon auszugehen, dass Wissen in ›reifen‹ Volkswirtschaften zunehmend zur prominenten Machtquelle wird. Die Sicherung von Erfolg und Wohlstand hängt mehr als je zuvor von der Expertise weniger Spezialisten ab. Die Expertenmacht wird steigen, weil Wissen wichtiger und die Experten knapper werden. So steigt bereits jetzt die Nachfrage nach Akademikern beständig an.2 Der demographische Ersatzbedarf 1 | Vgl. Manfred Becker, Anja Beck und Andrea Herz, Macht der Experten – Ohnmacht der Unternehmen? Eine empirische Studie zur Entwicklung und Steuerung wachsender Expertenmacht in alternden und schrumpfenden Organisationen, hg. v. denselben, Reihe Personal und Organisation, Mainz 2012. 2 | Weitere Ausführungen zu Expertise und Macht vgl. Mark Ackermann, Volkmar Pipek und Volker Wulf, Sharing Expertise. Beyond Knowledge Management, Massachusetts 2003; Horst Bosetzky, Mikropolitik, Machiavellismus
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wächst und die nachwachsenden Akademiker-Kohorten werden zu klein sein, um den Ersatzbedarf aller Unternehmen zu befriedigen. Der Kampf um die Talente hat begonnen und er wird an Härte zunehmen. Experten werden beste Bedingungen vorfinden, ihre Macht auch für die Durchsetzung egoistischer Ziele einzusetzen. Das Forschungsprojekt »Macht der Experten in alternden und schrumpfenden Unternehmen« möchte einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten, ob die Macht von Experten tatsächlich wächst bzw. schon gewachsen ist. Wenn sich herausstellt, dass die Macht bereits hoch ist und weiter steigen wird, dann sollte weiter untersucht werden, welche Auswirkungen die wachsende Macht von Experten auf Leistung und Zusammenarbeit in Organisationen hat bzw. haben wird. Schließlich sollen personalwirtschaftliche Handlungsoptionen zur konstruktiven Nutzung und Lenkung der neuen Machtund Machtakkumulation, in: Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, hg. v. Willi Küpper und Günther Ortmann, Opladen 1988, S. 2737; Colin Camerer, George Loewenstein und Martin Weber, The Curse of Knowledge in Economic Settings. An Experimental Analysis, in: Journal of Political Economy 97 (5) (1989), S. 1232-1254; Russell Cropanzano, John C. Howes et al., The relationship of organizational politics and support to work behaviors, attitudes, and stress, in: Journal of Organizational Behavior 18 (2) (1997), S. 159-180; Michel Crozier und Erhard Friedberg, Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns, Königsstein 1979; Hans Gruber, Bedingungen von Expertise, in: Begabt sein in Deutschland, hg. v. Kurt A. Heller und Albert Ziegler, Münster 2007, S. 93-112; Willi Küpper und Günther Ortmann, Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, Opladen 1988; Henry Mintzberg, Power in and around organizations, Englewood Cliffs 1983; Gilbert Probst, Steffen Raub und Kai Romhardt, Wissen managen. Wie Unternehmen ihre wertvollste Ressource optimal nutzen, Wiesbaden 62010; Bernd Simon, Macht. Zwischen aktiver Gestaltung und Missbrauch, Göttingen 2006; Barbara, Weißbach, Expertenwelten und Managementpraxis. Zur Mikropolitik des Wissens, in: Arbeit 10 (2) (2001), S. 167-177; Hannah Zaunmüller, Anreizsysteme für das Wissensmanagement in KMU. Gestaltung von Anreizsystemen für die Wissensbereitstellung der Mitarbeiter, Wiesbaden 2005.
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verhältnisse abgeleitet werden. Es wird gezeigt, was getan werden muss, damit Experten ihr implizites Wissen nicht egoistisch horten, sondern altruistisch der Organisation zur Verfügung stellen.
H ypothesen , F orschungsdesign und me thodisches V orgehen Die Hypothesen zum Forschungsprojekt lassen sich wie folgt zusammenfassen: H 1: Die Macht der Experten wächst. H 2: Transformationale Führung3, systematische Personalentwicklung4 und Arbeitsbedingungen moderieren den Zusammenhang zwischen der Expertenmacht und dem organisationalen Leistungsverhalten. Zur Überprüfung der Hypothesen wurde sowohl ein Fragebogen für Führungskräfte als auch ein Fragebogen für Experten entwickelt. Die Fragebögen wurden an Unternehmen verschiedener Größen und Branchen verschickt. Der Rücklauf bei den Führungskräften lag bei 11 % (37 Bögen von 340), der Rücklauf bei den Experten betrug 12 % (114 Bögen von 922). Die befragten Führungskräfte waren überwiegend männlich, durchschnittlich 50 Jahre alt und bereits seit 15 Jahren im Unternehmen tätig. Sie schätzten die aktuelle und zukünftige Entwicklung der Macht von Experten ein. Diese qualitativen Einschätzungen dienten der Überprüfung der ersten Hypothese. Zur Überprüfung der zweiten Hypothese wurden die Experten selbst befragt. Dazu wurden von 114 Mitarbeitern 74 als Experten ausgewählt. Diese Per3 | Vgl. Bernard M. Bass, Leadership and Performance beyond Expectations, New York 1985. 4 | Vgl. hierzu Manfred Becker, Systematische Personalentwicklung. Planung, Steuerung und Kontrolle im Funktionszyklus, Stuttgart ²2011.
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sonen verfügen über eine hohe Expertise (Können) und eine starke Machtmotivation (Wollen). Die Experten machten quantitative Angaben bezüglich ihres Handlungs- und Entscheidungsspielraums (Dürfen), dem Führungsstil ihres Vorgesetzten, der Gestaltung der Personalentwicklung und der Arbeitsbedingungen sowie zu ihrem organisationalen Leistungsverhalten. Die befragten Experten waren überwiegend männlich, durchschnittlich 45 Jahre alt und seit etwa 14 Jahren im Unternehmen tätig.
Z entr ale E rgebnisse des F orschungsprojek ts Die qualitative Befragung der Führungskräfte liefert interessante Ergebnisse, die sich wie folgt darstellen: • Experten stellen einen Anteil zwischen 5-10 % an der Gesamtbelegschaft. • Die Macht der Experten wird von den Befragten als hoch eingeschätzt. • Etwa 60 % der Befragten geben an, dass die Macht der Experten in den letzten 10 Jahren gestiegen sei. • Fast 70 % der Führungskräfte geben weiter an, dass die Macht der Experten in Zukunft noch steigen werde. • Experten setzen ihre Macht über die Beeinflussung von Entscheidungen (58 % Zustimmung), den Einsatz mikropolitischer Taktiken (16 % Zustimmung) und über das Zurückhalten von Wissen (16 % Zustimmung) ein. • Der demografische Wandel wird nicht als zentrale Ursache der wachsenden Expertenmacht angesehen. Die demografische Entwicklung ist entweder in den Unternehmen noch nicht angekommen, oder aber die Gefahr wird noch nicht gesehen, in der Zukunft von immer weniger Experten immer stärker abhängig zu sein.
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Mit diesen Aussagen kann Hypothese 1 bestätigt werden. Die Macht der Experten ist gewachsen und wird auch in Zukunft weiter zunehmen. Die Ergebnisse der quantitativen Befragung zeigen, dass Experten mit wachsender Macht ihre vertraglichen Pflichten vernachlässigen. Die Macht der Experten wirkt sich nur dann positiv auf ihr organisationales Leistungsverhalten aus, wenn sie sich durch systematische Personalentwicklung gefördert fühlen. Hierbei vermag Personalentwicklung zum einen den nicht bedeutsamen Zusammenhang zwischen der Expertenmacht und dem Organizational Citizenship Behavior (OCB)5 in einen signifikant positiven Zusammenhang umzuwandeln (Abb. 1) und zum anderen den zunächst negativen Zusammenhang zwischen der Expertenmacht und dem geforderten Arbeitsverhalten (GA) ins Positive zu transformieren (Abb. 2). Abbildung 1: Moderatoreffekt der Personalentwicklung auf den Zusammenhang von Macht und OCB
5 | Vgl. zum OCB-Konzept Dennis W. Organ, Organizational citizenship behavior. The good soldier syndrome, Lexington 1988; Dennis W. Organ, Philip M. Podsakoff und Scott Bradley MacKenzie, Organizational Citizenship Behavior. Its Nature, Antecedents, and Consequences, Thousand Oaks 2006.
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Abbildung 2: Moderatoreffekt der Personalentwicklung auf den Zusammenhang von Macht und GA
Demnach erbringen Experten mit wachsender Macht nicht zwangsweise außerordentliche Leistungen (OCB), ihre vertraglichen Verpflichtungen (GA) erfüllen sie sogar mit abnehmender Intensität. Systematische Personalentwicklung ist jedoch in der Lage, gefordertes und außerordentliches Arbeitsverhalten positiv zu beeinflussen. Anders als erwartet, haben transformationale Führung und Arbeitsbedingungen keinen moderierenden Effekt auf den Zusammenhang von Macht und Leistungsverhalten. Hypothese 2 wird folglich nur teilweise bestätigt.
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I mplik ationen für U nternehmensführung und P ersonalmanagement Implikationen für das Personalmanagement Die Macht der Experten wird wachsen, sie zu begrenzen ist nicht möglich und auch nicht ratsam. Die Personalarbeit muss vielmehr die wachsende Macht der Experten konstruktiv und produktiv lenken, damit Experten ihre Exklusivität nicht opportunistisch und egoistisch ausnutzen. Personalentwicklung ist hier der entscheidende Stellhebel: Empfinden Experten, dass sie in einem Unternehmen systematisch und bedarfsgerecht gefördert werden, dann sind sie motiviert, ihre Macht im Sinne des Unternehmens einzusetzen und ihr wertvolles Wissen mit anderen zu teilen. In Abb. 3 sind schwache und starke Maßnahmen der Personalentwicklung dargestellt, die in unterschiedlichem Ausmaß geeignet sind, die Expertenmacht konstruktiv zu lenken und nutzbar zu machen. Abbildung 3: Starke und schwache Maßnahmen zur Regulation von Expertenmacht Schwache/ Profane Maßnahmen (Hygienefaktoren) zur Nutzung von Expertenmacht • Angemessene, differenzierende Entlohnung zur Vermeidung von Unzufriedenheit • Soziale Zusatzleistungen wie Kinderbetreuung, Work-Life-Balance, Flexible Arbeitszeiten • Intaktes Miteinander, positives Betriebsklima
Starke/ Profunde Maßnahmen (Motivatoren) zur Nutzung von Expertenmacht • Wahlmöglichkeiten zwischen Fach- und Projektkarrieren zur optimalen Nutzung individueller Expertise • Coaching, Mentoring und systematische Entwicklungsberatung als individuelle Fördermaßnahmen • Tutorielles Lernen und Arbeiten zur Erweiterung der Expertise
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• Optimale mediale und technische Ausstattung des Arbeitsplatzes
• Projektarbeit und Teamentwicklung zur Erhöhung der Bereitschaft zur Wissensteilung
• Anforderungsgerechte und • Systematisches Kompetenzrechtzeitige Information management zur Verbesserung der Transparenz von Tätigkeiten und Anforderungen • Aufbau und Pflege von • Angemessene Führung, Expertennetzwerken als Plattinsbesondere transforform für Erfahrungsaustausch mationale Führung • Anforderungsgerechte • Aufbau von Unternehmungs-, Entscheidungsbeteiligung Arbeitgeber-Human-Resourcesund Mitsprache Department- und EmployeeMarken zur Herausbildung individueller und organisationaler Einzigartigkeit
Es geht kein Weg daran vorbei, dass Unternehmen ihre Personalentwicklung (PE) professionalisieren und mit einem PE-Konzept absichern. Eine leistungsfähige und systematische PE nimmt den Experten den Wechselgrund. Wenn die PE sicherstellt, dass die Elite jederzeit wechselfähig ist, dann finden die Experten c. p. in der neuen Stelle nur das, was sie bereits bei ihrem derzeitigen Arbeitgeber erreicht haben, die Sicherung ihrer Expertise, die Erhaltung und Anpassung ihres Humanvermögens an die sich verändernden Anforderungen. Anders als erwartet, erwiesen sich transformationale Führung und Arbeitsbedingungen nicht als Moderatoren des Zusammenhangs von Macht und Leistungsverhalten der Experten. Auf den zweiten Blick überrascht dieses Ergebnis allerdings nicht, weil Führung und Arbeitsbedingungen Hygienefaktoren sind, die von Experten als selbstverständliche Voraussetzung ihres Engagements angesehen werden. Persönliche Entwicklung wird dagegen als Motivator wahrgenommen. Maßgeschneiderte Personalentwicklung
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stärkt die Macht und die Zufriedenheit der Experten und motiviert sie zu Leistung. Zu den Motivatoren zählen Wachstum, Fortschritt und Anerkennung – Faktoren, die die Personalentwicklung fördert. Das erkennen die Experten und geben der Personalentwicklung deshalb die entsprechende Priorität, weil sie die Macht der Experten optimal sichert.
I mplik ationen für die U nternehmensführung Die Unternehmensführung und die Mitarbeiterführung sind im Umgang mit den Experten gezwungen, nach dem klugen Ratschlag zu verfahren, der da heißt: »Wen Du nicht besiegen kannst, den mache Dir zum Freund!« Bedenkt man, dass die Macht der Experten vor allem auf Fachexpertise beruht, dann erzeugen die Experten die Unverwechselbarkeit, die Einzigartigkeit, die Nachahmungsresistenz und damit den Fortbestand des Unternehmens. Diese Macht ausrotten zu wollen, wäre töricht. • Damit Experten in die Unternehmen strömen und exzellente Arbeit abliefern, müssen verstärkt Fachkarrieren und Projektkarrieren aufgebaut werden.6 • Flächentarifvertragsverliebte werden vom Lokführersyndrom der Erpressbarkeit wachgerüttelt und erkennen, dass die neue Elite als Unikate zu behandeln und zu bezahlen sind. • Eine Folge der Individualisierung der Vertragsverhältnisse wird die deutliche Verbesserung juristischer Kenntnisse der Führungskräfte und der Personalabteilung sein. Das individuelle Arbeitsrecht gewinnt an Bedeutung.
6 | Vertiefend hierzu vgl. Gunther Olesch, Experten- und Stellvertreterlaufbahn. Alternative zur traditionellen Karriereentwicklung, in: PERSONAL. Zeitschrift für Human Resource Management (2001), S. 292-295.
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Eine erfolgreiche Positionierung auf dem Arbeitsmarkt wird nur gelingen, wenn Unternehmen nach dem Grundsatz verfahren: »Gebt den Experten, was den Experten ist!« Es bedarf eines gründlichen Umdenkens, wenn Unternehmen in der Zukunft gewissermaßen als Bittsteller auf dem Arbeitsmarkt für Hochqualifizierte um Nachwuchs buhlen. Nicht von ungefähr kommt der Boom dualer Hochschulstudiengänge. Mit diesen Studiengängen gelingt eine frühe Bindung der nachwachsenden Elite an das Unternehmen. Weil der frühe Beginn und die Dauer der betrieblichen Sozialisationszeit die egoistische Machtausübung der Experten zugunsten von Loyalität und Bindung begrenzt, bevorzugen Unternehmen diese Studiengänge. Mit der Ausweitung der dualen Studiengänge gewinnt die fachliche Weiterbildung an Bedeutung. Die Weisheit »Staff should be able to leave, but happy to stay« verlangt eine systematische und leistungsfähige Weiterbildung. • Meist junge Führungskräfte müssen in der Zukunft sowohl erfahrene Alte als auch exzellent qualifizierte junge Mitarbeiter führen. Im Bild gesprochen führen wohl in Zukunft viele »mit der Binde vor den Augen«. Sie wissen nicht, was die Mitarbeiter tun. Ob unter diesen Umständen Führung noch attraktiv ist, darf ein Stück weit bezweifelt werden. • Stipendien für Weiterbildung, die Gewährung von Sabbaticals, Bezahlung berufs- und tätigkeitsbegleitender Weiterbildung wird den Unternehmen in weit höherem Maße abverlangt werden, wenn sie die Experten an Bord halten möchten. • Gar kein Zweifel besteht daran, dass die Vereinbarkeit von Familie, Privatleben und Beruf eingelöst werden muss. • Die zu erwartende Lohndrift wird die Mitarbeiterbeteiligungsmodelle wieder beleben. Wer am Unternehmen beteiligt ist, verlässt es nicht so schnell und wird auch motivierter arbeiten. • Die Arbeitsorganisation wird herausgefordert sein, die Aufteilung der Arbeit neu zu organisieren. In Gruppen werden Talente zusammengeführt werden müssen, frei nach dem Motto »Sie-
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ben Dumme sind klüger als ein Gescheiter«. Damit gewinnen Gruppenarbeitskonzepte wieder stark an Bedeutung. • Mit der Segmentierung wird der Einfluss der Gewerkschaften verändert. Die Humanvermögenskapitalisten (HUKA) stehen kollektiven Einsprüchen reserviert gegenüber. Die Humanvermögenspauperisten (HUPA) verlangen nach dem Motto »L’union fait la force« gewerkschaftlichen Schutz. • Es bedarf eines intensiven Dialogs zwischen Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, den Kammern und den Unternehmen, ja wohl auch der Beeinflussung der Politik, damit die Ungleichheit nicht zu größeren Konflikten und damit zur Reduzierung der Wirtschaftsleistung führt. Ein wichtiges Ziel der Wirtschaftspolitik, der Verbände, der Kammern und der Unternehmen muss es sein, die gesellschaftliche Mitte nicht weiter erodieren zu lassen. Handwerker, Gewerbetreibende, Gründer und Nachfolger sind Garanten des Dialogs und der Beherrschung von Expertenmacht. Die Experteneinbahnstraße führt zur Pfadabhängigkeit, zum professionellen Lock in, wie die Pfadtheoretiker sagen. Weil die Führungskräfte die Aufgaben der Fachelite nicht beurteilen können, sind korrigierende Eingriffe des Managements nicht im erforderlichen Maße zu erwarten. Begegnen kann man dieser Gefahr durch verstärkte Cross Functional Assignments: Der Beschaffungsexperte wechselt mit dem Produktionsexperten den Job. In den Mokassins des anderen sehen die Dinge ganz anders aus, Fehler werden sichtbar, Verbesserungen werden möglich. Last but not least werden die Unternehmen die Professionalität der Personalabteilung überprüfen und wahrscheinlich verbessern müssen. Die Toolbox der Personalarbeit und des Managements sind auf die schöne neue Welt der Expertokratie hin zu entrümpeln und neu zu bestücken.
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Systematische Entwicklungsberatung für Schüler, Studierende und Beschäftigte verschafft Orientierung darüber, welche Talente jemand hat, wo und wie er diese ausbilden und vermarkten kann. Die Forschung zur Expertenmacht muss intensiviert werden. So ist davon auszugehen, dass weitere Variablen, die in diesem Forschungsprojekt nicht untersucht wurden, auf Einstellung, Verhalten und Leistung der Experten wirken. Auch sollten ›spezielle‹ Expertengruppen, z.B. Strategieexperten, Forschung&Entwicklung-Experten, Experten in Schlüsselbranchen, auf ihre Macht und ihr Verhalten untersucht werden.
F a zit und A usblick Die Personalarbeit ist an den Bedürfnissen der Experten auszurichten und nicht umgekehrt. Denn Experten wollen ihren Wissensvorsprung möglichst lange als Machtquelle nutzen. Sie sind daher nicht per se bereit, ihre Expertise mit anderen zu teilen und Machtverluste hinzunehmen. Wissen mit anderen zu teilen, muss sich für Experten lohnen. Das Forschungsprojekt hat gezeigt, dass insbesondere systematische Personalentwicklung eine Kultur der Wissensteilung unterstützt. Experten nutzen ihre Macht weniger opportunistisch, wenn eine leistungsstarke Personalentwicklung dafür sorgt, dass ihre Expertise bedarfsgerecht nachwächst. Unternehmen, die keine konzeptionell abgesicherte systematische Personalentwicklung betreiben, sind für die Besten unattraktive Arbeitgeber.
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L iter atur Ackermann, Mark/Pipek, Volkmar/Wulf, Volker, Sharing Expertise. Beyond Knowledge Management, Massachusetts 2003. Bass, Bernard M., Leadership and Performance beyond Expectations, New York 1985. Becker, Manfred/Beck, Anja/Herz, Andrea, Macht der Experten – Ohnmacht der Unternehmen? – Eine empirische Studie zur Entwicklung und Steuerung wachsender Expertenmacht in alternden und schrumpfenden Organisationen, hg. v. denselben, Reihe Personal und Organisation, Mainz 2012. Becker, Manfred, Systematische Personalentwicklung. Planung, Steuerung und Kontrolle im Funktionszyklus, Stuttgart ²2011. Bosetzky, Horst, Mikropolitik, Machiavellismus und Machtakkumulation, in: Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, hg. v. Willi Küpper und Günther Ortmann, Opladen 1988, S. 27-37. Camerer, Colin/Loewenstein, George/Weber, Martin, The Curse of Knowledge in Economic Settings. An Experimental Analysis, in: Journal of Political Economy 97 (5) (1989), S. 1232-1254. Cropanzano, Russell/Howes, John C. et al., The relationship of organizational politics and support to work behaviors, attitudes, and stress, in: Journal of Organizational Behavior 18 (2) (1997), S. 159-180. Crozier, Michel/Friedberg, Erhard, Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns, Königsstein 1979. Feldhoff, Ellen/Wiskemann, Gabriel, Unterstützung des Wissensmanagement durch die Gestaltung von Entgeltsystemen, in: Personal 5 (2001), S. 250-254. Gruber, Hans, Bedingungen von Expertise, in: Begabt sein in Deutschland, hg. v. Kurt A. Heller und Albert Ziegler, Münster 2007, S. 93-112. Küpper, Willi/Ortmann, Günther, Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, Opladen 1988.
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Mintzberg, Henry, Power in and around organizations, Englewood Cliffs 1983. Olesch, Gunther, Experten- und Stellvertreterlaufbahn. Alternative zur traditionellen Karriereentwicklung, in: PERSONAL. Zeitschrift für Human Resource Management (2001), S. 292-295. Organ, Dennis W., Organizational citizenship behavior. The good soldier syndrome, Lexington 1988. Organ, Dennis W./Podsakoff, Philip M./MacKenzie, Scott Bradley, Organizational Citizenship Behavior. Its Nature, Antecedents, and Consequences, Thousand Oaks 2006. Probst, Gilbert/Raub, Steffen/Romhardt, Kai, Wissen managen. Wie Unternehmen ihre wertvollste Ressource optimal nutzen, Wiesbaden 62010. Simon, Bernd, Macht. Zwischen aktiver Gestaltung und Missbrauch, Göttingen 2006. Weißbach, Barbara, Expertenwelten und Managementpraxis. Zur Mikropolitik des Wissens, in: Arbeit 10 (2) (2001), S. 167-177. Zaunmüller, Hannah, Anreizsysteme für das Wissensmanagement in KMU. Gestaltung von Anreizsystemen für die Wissensbereitstellung der Mitarbeiter, Wiesbaden 2005.
Eine psychologische Sicht des Alterns Potenziale und Sisyphos-Elemente gehen Hand in Hand Hans-Werner Wahl
E inführung — A ltern ist noch jung Es ist heute allgemein akzeptiert, Altern nicht nur als Veränderung in körperlich-biologischen, sondern auch in psychischen Bereichen zu begreifen.1 Psychisches Altern ist ferner stets im Kontext anderer Systeme zu sehen, beispielsweise der Ebene hirnorganischer Alternsveränderungen, aber ebenso auch der Ebene gesellschaftlicher Einflüsse und Prägungen des Alterns.2 So ist die Fokussierung von psychischen Alternsprozessen besonders durch ihre ›Scharnierfunktion‹ zwischen biologischem Altersgeschehen und gesellschaftlich-politischen und damit auch historischen Überformungen des Alterns gekennzeichnet. In diesem Beitrag soll vor diesem Hintergrund vor allem die Lebenslauf- und Alternspsychologie zu Wort kommen. Die entsprechenden Fragen und Antworten der empirischen Gero-Psychologie sind vielschichtig, in manchen Teilen beunruhigend, in anderen ermutigend, in wieder anderen unerwartet. Angesichts des enor1 | Hans-Werner Wahl, Manfred Diehl et al., Psychologische Alternsforschung. Beiträge und Perspektiven, in: Psychologische Rundschau, 59(1) (2008), S. 2-23. 2 | Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl, Psychische Ressourcen im Alter, in: Alter neu denken. Gesellschaftliches Altern als Chance ergreifen, hg. v. der Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2007, S. 101-124.
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men Anstiegs der Lebenserwartung in den zurückliegenden 120 Jahren, in denen etwa eine Verdopplung der Lebenserwartung bei Geburt von etwa 44 auf etwa 80 Jahre stattgefunden hat, ist zu fragen: Ist das System Mensch für eine solch lange Lebensdauer, oft im sehr hohen Alter mit Mehrfachverlusten im Bereich der körperlichen und geistigen Funktionen und im sozialen Bereich verbunden, überhaupt psychisch gerüstet? Immer mehr ›Energie‹ gilt es in den Erhalt von Ressourcen einzusetzen, jedoch werden die Ressourcen (körperlich, geistig, sozial) immer knapper. Ist demnach Verlust-Management die heute besonders geforderte Lebenskunst über eine recht lange Lebenszeit vor dem Tod hinweg? Oder ist dies eine doch zu deprimierende Vorstellung, und wir halten uns besser an die ›großen Leistungen‹ des jungen und häufig als ›aktiv‹ bezeichneten Alters zwischen etwa 65 und 80 Jahren? Allerdings: Beide, das junge und das alte Alter, gehören immanent zusammen, und diese beiden Lebensphasen im Sinne einer ›Zwei-Welten-Theorie‹ des Alterns zu trennen, wäre wohl fatal. Wir würden mit einem solchen Schritt gewissermaßen unsere späte Entwicklung, die Notwendigkeit des heute normativen Durchlaufens dieser beiden Altersphasen, auseinander reißen – was doch eigentlich niemand wollen kann. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die bereits Anfang der 1990er Jahre von Paul B. Baltes3 getroffene Aussage, dass »Altern noch jung« sei. In der Tat hat uns der enorme Anstieg der Lebenserwartung in historisch nur wenig mehr als 100 Jahren als Gesellschaft ›kalt erwischt‹. Individuelle Lebensentwürfe und -abläufe haben sich bereits deutlich verändert, aber die Gesellschaft hat mit kulturellen Ausformungen, Institutionen und Gelegenheitsstrukturen noch nicht nachgezogen. Wir haben es, wie die amerikanische Soziologin Mathilda Riley bereits in den 1990er Jahren aus-
3 | Vgl. z.B. Paul B. Baltes und Jürgen Mittelstraß, Vorwort, in: Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung, hg. v. Paul B. Baltes und Jürgen Mittelstraß, Berlin 1992, S. VII-XV.
Eine psychologische Sicht des Alterns
geführt hat, mit einer strukturellen Verzögerung zu tun (»structual lag«), die noch längst nicht aufgeholt ist.4
W as ist A ltern ? E ine schwierige F r age Vielleicht wird die Wissenschaft die Antwort auf die Frage, was denn Altern nun ›wirklich‹ sei, für immer schuldig bleiben, denn die Komplexität von Alternsprozessen ist wohl noch nie so deutlich zutage getreten wie heute – nach mehreren Jahrzehnten erfolgreicher Alternsforschung auf den Gebieten der Biologie, Medizin, Psychologie, Soziologie und weiteren Zugängen. Eine der grundlegendsten Forschungsprobleme besteht darin, dass wir nicht nur auf einer, sondern auf vielfachen Ebenen altern. Alleine die Biologie kennt viele Zugänge, die von genetischen Programmen bis hin zu unterschiedlichem Altern diverser Areale des Gehirns, dem unterschiedlichen Altern einzelner Organe und Organsysteme und der Suche nach grundlegenden Biomarkern von Altern reichen.5 Selbst ›nur‹ psychologisch gesehen ergibt sich ein schwer entwirrbares Bild von Multidirektionalität und Multidirektionalität. Wir müssen beispielsweise kognitives von persönlichkeitsbezogenem und sozialem Altern unterscheiden und innerhalb dieser Dimensionen sind erneute Differenzierungen notwendig. So altern z.B. die kognitive Leistungsfähigkeit und die Persönlichkeit deutlich unterschiedlich (das erstere System zeigt deutlich stärkere und negativere Altersveränderungen). Menschen fühlen sich zudem jünger oder älter, und man kann trefflich darüber streiten, was denn nun das ›richtige‹ Alter einer Person sei. Eines scheint jedenfalls völlig klar: Nur auf das chronologische Alter zu rekurrieren wäre 4 | Matilda White Riley und John W. Riley, Structural lag. Past and future, in: Age and structural lag, hg. v. Matilda White Riley, Robert L. Kahn und Anne Foner, New York 1994, S. 15-36. 5 | Hans-Werner Wahl und Vera Heyl, Gerontologie: Einführung und Geschichte, 2. völlig überarbeitete Auflage, Stuttgart 2015.
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wissenschaftlich gesehen eine unzulässige Simplifizierung – das chronologische Alter ist ja nicht mehr als vergangene Zeit, die man zwar sehr gut messen kann, die aber als Erklärung nur sehr bedingt taugt. Altern erscheint insgesamt in dem heute verfügbaren wissenschaftlichen Wissen auf allen fundamentalen Analyseebenen (biologisch, psychologisch, gesellschaftlich) als ein höchst komplexes Geschehen, dessen größter ›Feind‹ die Suche nach einer ›Einfachstruktur‹ ist. Eines scheint aber heute auch klar zu sein: Die vorliegenden wissenschaftlichen Befunde ermöglichen das Zeichnen eines überaus farben- und facettenreichen Bildes von Altern, das nach Kruse und Wahl6 vor allem eine Doppelbotschaft enthält. Wir müssen auf der einen Seite die vielfachen Stärken des heutigen Alterns in größtmöglicher Klarheit herausstellen und auf der anderen Seite gleichzeitig den Alternsprozess als das akzeptieren, was er in seinem Kern ist: eine Lebensgestalt mit erhöhter Wahrscheinlichkeit von Verlusterfahrungen und Grenzsituationen. Altern stellt sich heute immer deutlicher in seiner Gesamtheit als eine fortwährende Sisyphos-Arbeit dar, bei der immer wieder faszinierende Entwicklungsgewinne (z.B. Engagement für andere, grundlegende Lebenseinsichten, hohe Zufriedenheit und geringere Kluft zwischen idealem und realem Selbst) nach vorne treten, jedoch die über längere Zeit erfahrenen Verluste (von geliebten Menschen, von Funktionen, Mehrfacherkrankungen) auch in einem in der Regel nie dagewesenen Ausmaß auf die Lebensbühne treten. Ältere Menschen müssen immer mehr in den Erhalt ihrer Ressourcen investieren und dennoch nehmen diese Ressourcen mit zunehmendem Altern immer mehr ab.
6 | Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl, Zukunft Altern. Individuelle und gesellschaftliche Weichenstellungen, Heidelberg 2010.
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L ebensqualität als integr atives K onzep t – auch für die psychologische A lternsforschung Der Lebensqualitätsbegriff besitzt heute in der Alternsforschung ganz allgemein einen herausragenden Stellenwert. Für seine Definitionen und Annäherungen gilt, dass Lebensqualität im Alter als ein mehrdimensionales Geschehen betrachtet wird. Häufig wird auf die zum ersten Mal im Jahre 1983 vorgelegte Konzeption von Lawton zurückgegriffen (Abb. 1). Abbildung 1: Ein Lebensqualitätsmodell mit stark psychologischen Elementen. Grundmodell entnommen aus Lawton (1983), S. 355; ergänzt durch den Autor.
In der Sicht von Lawton 7 gehört zu Lebensqualität im Alter zum Ersten ein möglichst hohes Wohlbefinden, zum Zweiten eine möglichst positive Bewertung der eigenen Lebenssituation insgesamt, zum Dritten auf der Verhaltensebene möglichst ausgeprägte Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen, etwa der geistigen Leistungsfähigkeit. Zum Vierten wird die objektive Umwelt, räumlich 7 | M. Powell Lawton, Environment and other determinants of well-being in older people, in: The Gerontologist, 23(4) (1983), S. 349-357. doi:10.1093/ geront/23.4.349.
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und sozial und auf unterschiedlichen Ebenen zu betrachten, herausgestellt. Bedeutsam an einem derartigen Konzept von Lebensqualität im Alter ist die Ablehnung eines einseitig negativ getönten Altersbildes, seine integrative Kraft – vor allem im Hinblick auf eine notwendig multidisziplinäre Betrachtung des Alterns –, seine ganzheitliche Ausrichtung und seine immanente Tendenz zur Optimierung und Anwendung von wissenschaftlicher Evidenz in der Praxis.
P ersonressourcen aus S icht der P sychologie : E ine erste S piel art der S isyphos -A rbeit des Ä lterwerdens Zur Entwicklung der geistigen Leistungsfähigkeit im Alter: Wechselspiel von Mechanik und Pragmatik Gerade im Hinblick auf eine Gewinn-Verlust-Perspektive ist es hier sinnvoll und notwendig, zwischen einer biologienahen und stark geschwindigkeitsabhängigen Komponente der geistigen Leistungsfähigkeit, als Mechanik der Intelligenz bzw. fluide Intelligenz bezeichnet, und einer stark auf dem Erwerb von Wissen und Lebenserfahrung basierenden Komponente, Pragmatik bzw. kristalline Intelligenz genannt, zu unterscheiden.8 Die Multidirektionalität und Multidirektionalität der lebenslangen Entwicklung in diesen beiden Fähigkeitsbündeln wird in den Ergebnissen von Park und Reuter-Lorenz9 deutlich, die für viele ähnliche Befunde in diesem Bereich stehen kann (vereinfachte Wiedergabe in Abb. 2). 8 | Jutta Kray und Ulman Lindenberger, Fluide Intelligenz, in: Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. Ein Lehrbuch, hg. v. Jochen Brandtstädter und Ulman Lindenberger, Stuttgart 2007, S. 194-220. 9 | Denise C. Park und Patricia Reuter-Lorenz, The adaptive brain: Aging and neurocognitive scaffolding, in: Annual Review of Psychology, 60 (2009), S. 173-196. doi:10.1146/annurev.psych.59.103006.093656.
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Abbildung 2: Verlauf von fluiden (mechanischen) und kristallinen (pragmatischen) kognitiven Fähigkeiten vom 20. bis zum 80. Lebensjahr. Vereinfacht nach Park und Reuter-Lorenz (2009), S. C1.
Danach zeigen die stark geschwindigkeitsabhängigen Leistungen der fluiden Intelligenz bereits frühzeitig im Lebensverlauf bedeutsame Verluste, die sich bis ins höhere Lebensalter hinein fortsetzen. Auf der anderen Seite bleiben allerdings Fähigkeiten, die so etwas wie ›Weltwissen‹ beinhalten, bis ins hohe Alter hinein konstant bzw. sie steigen sogar noch an und spiegeln damit so etwas wie mit dem Alter verbundene Entwicklungsgewinne wider. Hier scheint fast so etwas wie eine Konstante menschlichen Alterns vorzuliegen. Beispielsweise ergaben Auswertungen von Briefen von König James VI. von England über einen längeren Zeitraum hinweg (1604-1624), wenngleich in einer sehr viel jüngeren Altersspanne als man heute ›Alter‹ ansetzen würde (38-58 Jahre), ein dem obigen Befund ganz ähnliches Bild: Die Komplexität der grammatikalischen Konstruktion der Briefe, eine Indikator für mechanische Intelligenzleistungen, nahm ab, während die semantische Reich-
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haltigkeit, als Indikator der Pragmatik, in dem untersuchten Zeitraum eher zunahm.10 Ein sehr spannender Punkt unter Lebenslaufentwicklungsgesichtspunkten zielt auf die Untersuchung der Frage, ob bereits die früh im Leben messbare Intelligenz letztlich Intelligenz spät im Leben vorhersagen kann. Hier zeigen vor allem die Befunde des schottischen Intelligenzforschers Ian Deary, dass dies tatsächlich der Fall ist.11 Deary konnte Kinder, die mit 11 Jahren in den 1930er Jahren Teilnehmer einer großflächigen schottischen Untersuchung zur geistigen Leistungsfähigkeit im Schulalter waren, spät im Leben (mit 80 Jahren) noch einmal untersuchen – und er fand eine für einen solch langen Zeitraum sehr hohe Korrelation von .73. Zudem waren die Intelligenzleistungen mit 11 Jahren sogar in der Lage, das spätere Überleben bzw. die Sterbeabfolge in der Untersuchungsgruppe selbst nach Kontrolle von Krankheiten und anderen Einflüssen statistisch sehr signifikant vorherzusagen, d.h. jene mit höheren Intelligenzwerten früh im Leben wiesen eine längere Überlebensdauer auf. Dies zeigt, dass (psychologische) Alternsforschung eines auf keinen Fall darf: sich nur auf das höhere Lebensalter konzentrieren. Vielmehr lernen wir, dies wird zunehmend durch wissenschaftliche Befunde deutlich, viel über den Verlauf des höheren Lebensalters, wenn wir Daten früher Lebensphasen miteinbeziehen bzw. die Möglichkeit besitzen, über lange Zeiträume hinweg erhobene Daten zu verbinden.12 10 | Kristine Williams, Frederick Holmes et al., Written language clues to cognitive changes of aging, in: The Journals of Gerontology Series B. Psychological Sciences and Social Sciences, 58(1) (2003), S. P42-P44. doi:10.1093/ geronb/58.1.P42. 11 | Ian J. Deary et al., The impact of childhood intelligence on later life. Following up the scottish mental surveys of 1932 and 1947, in: Journal of Personality and Social Psychology, 86(1) (2004), S. 130-147. doi:10.1037/00223514.86.1.130. 12 | Vgl. dazu auch Sabina Pauen und Hans-Werner Wahl, Neue Perspektiven im Schnittfeld zwischen Säugling und Altersforschung, in: Ruperto Carola (2012), S. 26-33.
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Gewinne und Verluste auch auf der Ebene von Kompetenzen und Wohlbefinden Hier liegen zwischenzeitlich viele empirische Belege für das sogenannte Wohlzufriedenheitsparadoxon vor, d.h. dem Verlust von Kompetenzen steht gleichzeitig ein relativ unverändertes Wohlbefinden gegenüber. In Abb. 3 ist dies anhand eigener Daten mit hochaltrigen Menschen über 80 Jahren dargestellt. Man sieht, dass bei diesen im Laufe eines Beobachtungszeitraums von etwa 8 Jahren die Kompetenz zur Ausführung der Aktivitäten des Alltagslebens deutlich zurück geht, jedoch die Lebenszufriedenheit in diesem Beobachtungsintervall relativ stabil bleibt. Abbildung 3: Verlauf der Alltagskompetenz und der Lebenszufriedenheit bei Hochaltrigen über etwa 8 Jahre hinweg. Entnommen aus Wahl und Schilling (2012), S. 322; mit Ergänzungen des Autors.
Anmerkung: Längsschnittliche Verläufe funktionaler Alltagskompetenz (ADL) und der Lebenszufriedenheit der deutschen Stichprobe des Projektes ENABLE-AGE (T1: N = 450 Personen, geboren 1911-1921) und des DFG-Nachfolgeprojekts LateLine (T3: N = 113); rote Line: Mittelwerte der LateLine-Überlebenden, grüne Linie: Mittelwerte der nach T2 ausgeschiedenen Teilnehmer (aus Wahl und Schilling, 2012, S. 322). Während die Alltagskompetenz über den Beobachtungszeitraum von etwa 8 Jahren hinweg deutlich absinkt, bleibt Lebenszufriedenheit der untersuchten Hochaltrigen relativ stabil.
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Gewinne und Verluste auch auf der Ebene subjektiver Alternsbewertungen Unsere Gesellschaft spielt heute viel mit Bildern des Alterns, und man könnte dies eventuell als letztlich belanglos abtun. Andererseits zeigen viele Befunde zu Altersstereotypen, dass gerade negative Altersstereotype sehr leicht ausgelöst werden können. Schon die Aussage »Liebe Frau Schmidt, Sie sind ja jetzt 85 Jahre alt. Lassen Sie uns nun einmal einen Gedächtnistest machen.« führt zu schlechteren kognitiven Leistungen als die Aussage »Liebe Frau Schmidt, lassen Sie uns nun einmal einen Gedächtnistest machen.« Die amerikanische Alterns- und Sozialpsychologin Becca Levy hat in vielen erfindungsreichen Experimenten immer wieder nachgewiesen, dass negative Altersstereotypen nicht nur zu schlechteren kognitiven Leistungen führen, sondern auch mit stärkerem Zittern der Hände, unsicherem Gehen, schlechterem Hören und weniger präventivem Verhalten einhergehen.13 In einer sehr bekannt gewordenen Studie konnten Levy et al.14 mit über 45-jährigen Teilnehmern sogar zeigen, dass positivere Bewertungen des eigenen Älterwerdens mit einer längeren Lebensdauer einhergehen und zwar auch bei statistischer Kontrolle von Erkrankungen zum ersten Messzeitpunkt. Waren in der Gruppe mit eher negativen Alternsbewertungen nach 15 Jahren 50 % der Kohorte verstorben, so war dies bei jenen mit positiven Alternsbewertungen erst nach 22,5 Jahren der Fall. Es zeigt sich auch in derartigen Befunden die Sisyphos-Arbeit des Alterns deutlich. Auf der einen Seite sehen wir die erfolgreiche Aufrechterhaltung von Personressourcen, die für eine hohe Lebens13 | Becca R. Levy, Stereotype embodiment. A psychosocial approach to aging, in: Current Directions in Psychological Science, 18(6) (2009), S. 332336. doi:10.1111/j.1467-8721.2009.01662.x. 14 | Becca R. Levy, Martin D. Slade, Suzanne R. Kunkel und Stanislav V. Kasl, Longevity increased by positive self-perceptions of aging, in: Journal of Personality and Social Psychology, 83(2) (2002), S. 261-270.
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qualität sehr bedeutsam sind. Zusätzlich besteht eine der größten Ressourcen des Alterns überhaupt wohl in der nur Menschen möglichen Interpretationsleistung: eher positiv oder eher negativ. Gerade vor dem Hintergrund des weiterhin vorherrschenden negativen Altersstereotyps und dessen oft unterschwelliger Bedeutung für Altern (im Sinne unnötiger Einschränkungen und mangelnder Selbstwirksamkeit) besteht ein Teil der Sisyphos-Arbeit des Älterwerdens darin, immer wieder gegen diese Altersstereotype anzukämpfen. Und dieser Kampf ist angesichts der noch wenig entfalteten Kultur eines neuen Alterns keineswegs leicht (Alter ist eben noch jung). Auf der anderen Seite finden sich in den unterschiedlichsten Bereichen auch Verluste, die im Grunde negative Bewertungen implizieren, aber häufig von älteren Menschen gar nicht so negativ bewertet werden (siehe noch einmal das Wohlbefindensparadoxon) – eine eigentlich großartige Leistung des Älterwerdens, die auch jüngeren Menschen Mut machen sollte!
U mweltressourcen aus S icht der P sychologie : E ine zweite S piel art der S isyphos -A rbeit des Ä lterwerdens Insbesondere die sog. Ökologische Gerontologie (environmental gerontology) hebt in besonderer Weise auf die räumlich-dingliche Dimension des Älterwerdens ab, wobei Überlappungen und Wechselwirkungen mit der sozialen Umwelt natürlich auch beachtet werden.15 Derartige Umweltressourcen wurden allerdings in der Alternsforschung lange Zeit gegenüber den Personressourcen vernachlässigt.
15 | Hans-Werner Wahl und Frank Oswald, Umwelten für ältere Menschen, in: Enzyklopädie der Psychologie, Bd. 2: Spezifische Umwelten und umweltbezogenes Handeln, hg. v. Volker Linneweber, Ernst-D. Lantermann und Elisabeth Kals, Göttingen 2010, S. 235-264.
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Person-Umwelt-Passung aus der Ebene objektiver Wohnmerkmale Gemäß der schon früh von Lawton und Nahemow16 formulierten Kompetenz-Umweltanforderungshypothese werden ältere Menschen mit zunehmendem Altern gegenüber Umweltanforderungen wie Barrieren, Treppen und ungünstiger infrastruktureller Anbindung ihrer Wohnungen immer verletzlicher. Misst man einerseits die Barrierehaftigkeit von Wohnungen älterer Menschen und andererseits ihre Kompetenzen zur gefahrlosen Bewältigung derartiger Barrieren, so wird dieser Wert zunehmend ungünstiger, je älter Menschen werden. Dies gilt besonders im hohen Alter. Auch wenn zumindest in den westlichen Industrienationen heute eine ›moderne‹ Wohnausstattung bei Älteren, speziell fließend Kalt- und Warmwasser, separates Bad und Zentralheizung, die Regel ist, so liegen doch im Detail, und zwar relativ unabhängig von der Hochwertigkeit der Wohnung/des Hauses bzw. vom sozioökonomischen Status der Beteiligten, häufig noch viele Barrieren, fehlende Unterstützungselemente in Wohnungen bzw. potenzielle Stolperfallen vor. In einer unserer Studien, der ENABLE-AGE Studie17, in der in der Gemeinde lebende und alleinlebende Hochaltrige zwischen 80 und 89 Jahren in der Region Heidelberg-Mannheim untersucht wurden, fehlten Haltegriffe im Bad zwar nur in 23,1 % der Fälle, aber bei genauem Hinsehen und Abmessen zeigte sich, dass sie bei 17,8 % der besuchten Personen zu hoch (> 90 cm) und bei weiteren 45,1 % zu niedrig (< 80 cm) angebracht waren und damit weitgehend nutzlos blieben. Waschbecken, die nur im Stehen genutzt werden können (Oberkante > 81 cm), fanden wir in 76 % 16 | M. Powell Lawton und Lucille Nahemow, Ecology and the aging process, in: The psychology of adult development and aging, hg v. Carl Eisdorfer und M. Powell Lawton, Washington, DC, 1973, S. 619-674. 17 | Frank Oswald, Hans-Werner Wahl et al., Relationships between housing and healthy aging in very old age, in: The Gerontologist, 47(1) (2007), S. 96107. doi:10.1093/geront/47.1.96.
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der Wohnungen, während bereits 56,7 % der Befragten eine erhöhte Toilette (Sitzhöhe > 42 cm) besaßen. Die häufigsten Schwachstellen in der Wohnung waren zu hohe Wandschränke und Regale (42,7 %), rutschige Gehflächen (außerhalb Hygienebereich: 56,7 %; Hygienebereich: 61,6 %), zu tiefe (> 30 cm) Regale (55,3 %) und schwer überwindbare Badewannen anstelle von leichter zugänglichen Duschen (74,7 %). Im Übergangsbereich von außen nach innen fehlten am häufigsten Handläufe im Treppenbereich (83,8 %) und Aufzüge (74,4 %); zudem waren Treppenstufen zu hoch, zu niedrig oder unregelmäßig (46,4 %) und Außentüren schlossen zu schnell (55,1 %). Im Nahbereich außerhalb der Wohnung waren die häufigsten Schwachpunkte: fehlende Sitzgelegenheiten (89,1 %), schwer zugängliche Mülltonnen (90 %), unzureichender Wetterschutz in Lade-/Entladezonen (91,8 %) und unebene Wegoberflächen (74,7 %). Insgesamt fanden sich 47 % aller Umweltbarrieren in der Wohnung, und hier primär in Bad und Küche, 23 % im Eingangsbereich und 30 % im Nahbereich um die Wohnung.
Zur Rolle des subjektive Erlebens des ›Aging in Place‹ Hier ist bedeutsam, dass nicht zuletzt nach eingetretenen Kompetenzverlusten Wohnumwelten eine sehr bedeutsame Rolle für subjektiv empfundene Lebensqualität spielen. So haben Oswald und Wahl gefunden18, dass seh- und gehbeeinträchtigte Ältere in viel stärkerem Maße als Unbeeinträchtigte das Erleben von Vertrautheit mit der Wohnung und dem Wohnumfeld hervorheben. Vieles spricht somit dafür, dass das lange Leben, Wohnen und Altern am selben Ort zu einer bedeutsamen Ressource des Umgangs mit schwerwiegenden Einbußen wird, und damit die psychische Widerstandskraft zur Bewältigung derartiger Verluste stärken kann. Es ist anzunehmen, dass solche Vertrautheit auch für Demenzkranke bzw. kognitiv beeinträchtigte Ältere 18 | Frank Oswald und Hans-Werner Wahl, Dimensions of the meaning of home in later life, in: Home and identity in later life. International perspectives, hg. v. Graham D. Rowles und Habib Chaudhury, New York 2005, S. 21-46.
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im Sinne der Stützung ihrer Orientierung und Alltagskompetenz relevant ist. Auf der anderen Seite kann es genau an dieser Stelle auch zu Paradoxien des von den meisten Älteren hocherwünschten ›Aging in Place‹ kommen, etwa wenn allzu hohe und unflexible Bindungen an Orte den notwendigen Umzug bzw. notwendige deutliche Anpassungen der angestammten Wohnung verhindern. Dies sind dann jene Situationen, in denen das tiefe und lebensqualitätsunterstützende Gefühl des ›Gut-aufgehoben-Seins‹ in den eigenen vier Wänden durch einen Sturz und einer möglichen Oberschenkelhalsfraktur jäh unterbrochen wird – und dies am Ende den endgültigen Abschied von den (bisherigen) eigenen vier Wänden einläutet. Insgesamt lässt sich somit gewissermaßen tagtäglich ein ›Kampf‹ älterer Menschen gerade auch mit ihren räumlichen Umweltbedingungen beobachten. Die Sisyphos-Arbeit besteht hier vor allem darin, auf der einen Seite Widrigkeiten der räumlichen Gegebenheiten zu widerstehen – und ihnen eventuell auch mit Wohnanpassungsmaßnahmen zu begegnen.19 Eine Zeit lang hilft zwar häufig ein Nichtwahrhaben-Wollen und, wenn man so will, ein Stück ›Verdrängung‹. Auf der anderen Seite ist vor allem im sehr hohen Alter die Arbeit doch wieder ein Stück vergebens und der meist ungeliebte Übertritt in eine stationäre Umwelt wird doch noch notwendig.
A bschliessende Ü berlegungen Auf der individuellen Ebene geht es bei der Sisyphos-Arbeit des heutigen Älterwerdens vor allem darum, grundlegende Motivationen und Kompetenzen so auszutarieren, dass nicht nur Selbständigkeit (Autonomie), sondern auch Wohlbefinden und Identität erhalten bleiben (Abb. 4). Auf der einen Seite steht hier das grundlegende Be19 | Hans-Werner Wahl und Frank Oswald, Wohnen, Wohnraumanpassung und Gesundheit, in: Angewandte Gerontologie. Interventionen für ein gutes Altern in 100 Schlüsselbegriffen, hg. v. Hans-Werner Wahl, Clemens TeschRömer und Jochen Philipp Ziegelmann, Stuttgart ²2012, S. 492-498.
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dürfnis nach Zugehörigkeit (›belonging‹), in dem sich auch so etwas wie Vertrautheit und Kontinuität spiegeln. Demgegenüber steht das Bedürfnis nach Handlungswirksamkeit (›agency‹), in dem sich Zielgerichtetheit, Veränderungswillen und Neugierde kristallisieren. Insgesamt spricht vieles dafür, dass Altern heute wie morgen durch einen Rückgang der Agency-Motivation und einen Anstieg der Belonging-Motivation gekennzeichnet ist.20 Abbildung 4: Motivationale Grundtendenzen guten Alterns und damit einhergehende Herausforderungen. Entnommen aus Wahl und Oswald (2007), S. 58; mit Ergänzungen des Autors
Gleichzeitig werden diese motivationalen Grundtendenzen überlagert von Aspekten der ›Hyperhabituation‹, die möglicherweise neue, für das Altern bedeutsame Erfahrungen verhindert, aber möglicherweise auch von Aspekten der ›Hyperaktion‹, bei der gute Formen des Älterwerdens mit unmäßiger Aktivität verwechselt werden.
20 | Hans-Werner Wahl, Susanne Iwarsson und Frank Oswald, Aging well and the environment: toward an integrative model and research agenda for the future, in: The Gerontologist, 52(3) (2012), S. 306-316. doi:10.1093/ geront/gnr154.
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In gesellschaftlicher (und individueller) Sicht schlagen Kruse und Wahl21 zehn Weichen vor, die heute richtig gestellt werden müssen, damit wir morgen als alternde Gesellschaft die besten Bedingungen für ein gutes Altern geschaffen haben22: • Weiche 1: Wissen über Altern implementieren und als Bildungsaufgabe begreifen – Unsere Gesellschaft braucht mehr Wissen über das Älterwerden bzw. ein solches Wissen muss stärker disseminiert werden. Eingangs wurde gefragt: Wo lernen wir eigentlich, gut zu altern? Eine Antwort kann nur sein: Wir müssen dies als große Bildungsaufgabe einer alternden Gesellschaft begreifen und dazu beispielsweise auch gute Lehrmaterialien für den Unterricht an Schulen bereitstellen. • Weiche 2: Kreativitätsfördernde Rahmenbedingungen für gutes Älterwerden schaffen – Alter braucht Anregung und ständige Förderung. Dies gilt beispielsweise auch für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es ist häufig nicht das Alter, sondern die mangelnde Weiterbildung, welche Berufsleistungen in stärkerem Maße beeinflusst. • Weiche 3: Engagement und Expertise der älteren Menschen nutzen – Ältere Menschen sind jene Gruppen, welche die höchste Zunahme hinsichtlich eines Engagements in den unterschiedlichsten Bereichen der Freiwilligenarbeit und des Ehrenamts zeigt. Hier fehlen niederschwellige Angebote in der Fläche, die zudem auch für die Älteren selbst entwicklungsförderliche Aspekte aufweisen. • Weiche 4: Das Miteinander der Generationen fördern – Unsere Gesellschaft ist traditionell noch sehr stark an einer Trennung der Generationen orientiert, vor allem jenseits informeller Fa21 | Kruse, Zukunft Altern (wie Anm. 6). 22 | Vgl. zu Veränderungs- und Optimierungsmöglichkeiten des Alterns auch: Hans-Werner Wahl, Clemens Tesch-Römer und Jochen Philipp Ziegelmann (Hg.), Angewandte Gerontologie. Interventionen für ein gutes Altern in 100 Schlüsselbegriffen, Stuttgart 2012.
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milienbeziehungen. Hier benötigen wir zukünftig viele Ideen, welche die Generationen, alt und jung, zusammen bringen und die Potenziale des Miteinanders der Generationen zur Entfaltung bringen. Weiche 5: Eine menschenfreundliche Umwelt für alle Lebensalter schaffen – Hier sprechen wir ganz bewusst nicht von einer ›seniorenfreundlichen Umwelt‹, denn es geht um die Optimierung von Umwelten für alle. Leicht zu bedienende technische Geräte oder einfach zu handhabende Verpackungen etwa kommen offensichtlich allen Lebensaltern zugute. Zunehmend werden auch Technologien zu den bedeutsamen Umwelten (auch) von Älteren gehören, so dass diesbezügliche Fördermöglichkeiten hoch bedeutsam für alternde Gesellschaften sind. Weiche 6: Die Wirtschaftskraft des Alters nutzen und aufgreifen – Der schon längst entstandene ›Silbermarkt‹ ist im Wachsen begriffen, und es finden sich mittlerweile viele Beispiele, die zeigen, dass hier zunehmend auch Arbeitsplätze entstehen. Nicht zuletzt durch die Wirtschaftskraft des Alters werden sich, so meine Prognose, negative Altersbilder zunehmend auflösen, denn sie werden immer geschäftsschädigender werden. Weiche 7: Die Potenziale lebenslanger Prävention bis ins höchste Alter nutzen – Die Evidenz beispielsweise des großen Nutzens von körperlicher Aktivität ist heute überwältigend. Hier liegen Möglichkeiten, etwa zur Reduzierung des Pflegebedürftigkeitsrisikos spät im Leben, die in Deutschland noch viel zu wenig aufgegriffen werden. Weiche 8: Einen neuen Gesundheits- und Pflegebegriff propagieren – Eine alternde Gesellschaft kann mit einem an Krankheiten bzw. die Abwesenheit von Krankheiten gebundenen Gesundheitsbegriff nicht allzu viel anfangen. Wollen wir wirklich die gesamte ältere Bevölkerung als ›krank‹ deklarieren, denn Ältere, vor allem Hochaltrige, haben nun einmal 2-3 Diagnosen gleichzeitig. Hier brauchen wir einen neuen, offenen Gesundheits- und Pflegebegriff, der an den verbliebenen Ressourcen und Potenzialen selbst nach eingetretener Pflegebedürftigkeit ansetzt.
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• Weiche 9: Sterben und Tod nicht länger tabuisieren – Eine stark alternde Gesellschaft, in der Sterben und Tod tabuisiert werden, ist doch eigentlich eine sonderbare Vorstellung, die leider auch vor den älteren Menschen selbst nicht halt macht (vgl. noch einmal die eingangs beschriebene unselige Wirkung einer ›ZweiWelten-Sicht‹ des Alters mit hoch aktiven und pflegebedürftigen Senioren). Wir brauchen eine proaktive und enttabuisierte Diskussion, auch zu – nicht zuletzt – ethischen Fragen des Älterwerdens bzw. von Sterben und Tod. • Weiche 10: Wissenschaftliche Befunde nachhaltiger implementieren – Dies sind, mit Gustav Heinemann gesprochen, die Finger, die auf die Alternsforschung selbst zurück weisen. Erst in den letzten Jahren hat man zunehmend gewürdigt, dass die besten Evidenzen, etwa zu Interventionsprogrammen, nichts bringen, wenn sie unter Bedingungen generiert wurden, die so in der Alltagswelt nicht reproduzierbar sind. Schönerweise entsteht nun auch in Deutschland zunehmend eine Implementierungswissenschaft, die anstrebt, wissenschaftliche Erkenntnisse optimal in Praxiszusammenhänge zu ›übersetzen‹.23 Unsere Gesellschaft steht vor großen Aufgaben, die allerdings keinesfalls nur bedrohlich sind, denn, wie gezeigt wurde, die psychologischen Potenziale des heutigen Älterwerdens sind durchaus erheblich. Sie müssen nur gesehen werden.
23 | Manfred Diehl und Hans-Werner Wahl, Prinzipien der Übersetzung und Implementierung in die Praxis, in: Angewandte Gerontologie. Interventionen für ein gutes Altern in 100 Schlüsselbegriffen, hg. v. Hans-Werner Wahl, Clemens Tesch-Römer und Jochen Philipp Ziegelmann, Stuttgart ²2012, S. 660-666.
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Autorinnen und Autoren
Anja Beck, seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin bei em. Prof. Dr. M. Becker. Studium der Psychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit den Schwerpunkten Arbeits- und Organisationspsychologie sowie Klinische Psychologie, Abschluss Diplom-Psychologin. Manfred Becker, geb. 1946, Univ.-Prof. Dr., studierte, promovierte und habilitierte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Von 1980 bis 1990 war er in leitenden Funktionen der Personalentwicklung der Adam Opel AG Rüsselsheim tätig. Von 1990 bis 1993 lehrte er als Universitätsprofessor für BWL, insbesondere Personalwirtschaft an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. Von 1993-2011 war er Inhaber des Lehrstuhls für BWL, insbesondere Organisation und Personalwirtschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zahlreiche Bücher, Buchbeiträge und Zeitschriftenartikel zu Themen der Personalwirtschaft, der Organisation, insbesondere der Personal- und Organisationsentwicklung. Aktuelle Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Praxis der PE, Führungskräfteentwicklung u.a. Führen aus der Distanz, Humanvermögensrechnung, Diversity-Management, insbesondere AltersDiversity-Management (ADM), Expertenforschung, Postmoderne und Personalwirtschaft. Henriette Herwig, geb. 1956, Prof. Dr., Lehrstuhlinhaberin im Fach »Neuere deutsche Literaturwissenschaft« an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Studium der Germanistik, Theologie, Er-
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ziehungs- und Gesellschaftswissenschaften an den Universitäten Kassel, Zürich und Bern (Schweiz). 1985 Promotion mit einer Arbeit über Dialogstrukturen im dramatischen Werk von Botho Strauß. 1996 Habilitation über Goethes Altersroman Wilhelm Meisters Wanderjahre. 1988 bis 1989 Visiting Scholar an den Universitäten Harvard und Duke (USA). Lehre in Basel, Bern, Fribourg, Wien und an der FU Berlin. 2001 bis 2003 Professorin für »Neuere deutsche Literaturgeschichte« an der Universität Freiburg/Br. Forschungsschwerpunkte: Goethe und Goethezeit, historische Anthropologie, Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts, Schweizer Literatur, Literaturtheorie, Gender Studies und Cultural Gerontology. Andrea Herz, seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin bei em. Prof. Dr. M. Becker. Studium der Psychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit den Schwerpunkten Arbeits- und Organisationspsychologie sowie Klinische Psychologie, Abschluss Diplom-Psychologin. Andrea von Hülsen-Esch, geb. 1961, Prof. Dr., Professorin für mittlere und neuere Kunstgeschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (seit 2001). Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie in Frankfurt a.M. und Göttingen, Promotion 1991; 1991-2001 wissenschaftliche Referentin am Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen. 2001 Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin über die Repräsentation, Darstellung und Wahrnehmung Gelehrter im Mittelalter. Seit 2012 Sprecherin des Graduiertenkollegs »Materialität und Produktion« und stellvertretende Sprecherin des universitätsinternen Graduiertenkollegs »Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis«. Forschungsschwerpunkte: transdisziplinäre Forschungen zu Alter(n)sdarstellungen sowie zu Materialität und Produktion in der Kunst des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bühnenbilder, Geschichte des Kunsthandels sowie Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte.
Autorinnen und Autoren
Michiko Mae, geb. 1951, Prof. Dr. Dr. h.c., Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Seit 1993 ist sie Professorin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Lehrstuhl Modernes Japan I). Sie war Research Fellow an der Universität Tokyo (2000; 2007) und Gastprofessorin an der Keio-Universität sowie an der Ochanomizu-Universität in Tokyo. Sie ist Mitherausgeberin der Reihe »Geschlecht und Gesellschaft« (Springer VS Verlag). Ihre Forschungs- und Publikationsschwerpunkte liegen in den Bereichen Interkulturalität und Transkulturalität, Kulturkonzepte im japanischen Modernisierungsprozess, Entwicklung einer multikulturellen Partizipationsgesellschaft in Japan sowie Genderforschung bezogen auf Japan und Deutschland in vergleichender Sicht. Roberta Maierhofer, geb. 1960, Professorin der (Inter)Amerikanistik, Leiterin des Zentrums für Inter-Amerikanische Studien (C.IAS) der Universität Graz, studierte Anglistik/Amerikanistik und Germanistik an der Universität Graz und Vergleichende Literaturwissenschaften an der State University of New York at Binghamton, wo sie heute noch als Adjunct Associate Professor tätig ist. 12 Jahre lang war sie Vizerektorin der Universität Graz (1999-2011). Neben ihrem Schwerpunkt in den Alternswissenschaften hat sie Arbeiten zu William H. Gass, den 1930er Jahren, Dokumentarfilmen, amerikanischer Kultur der 1980er Jahre, Interkulturalität, Frauen- und Geschlechterforschung und transatlantische Bildungskooperationen vorgelegt. In ihren Arbeiten im Bereich der kulturellen Gerontologie entwickelte sie einen theoretischen Zugang zum Thema Alter und Altern (Anokritizismus). Daniel Schäfer, geb. 1964, Studium der Humanmedizin, Germanistik und Medizingeschichte in Freiburg i.Br., Promotionen 1995 (Dr. phil.) und 1996 (Dr. med.); seit 1995 Assistent und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität zu Köln; 2002 Habilitation; 2007 außerplanmäßiger Professor; 2008 Akademischer Oberrat. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Gerontologie und Geriatrie (Schwerpunkt Frühe
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Alter(n) neu denken
Neuzeit), Geschichte und Ethik der Todesvorstellungen, Geschichte der Geburtshilfe (Schwerpunkt Kaiserschnitt). Hans-Werner Wahl, geb. 1954, Prof. Dr., leitet die Abteilung für Psychologische Alternsforschung am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg. Er promovierte 1989 an der Freien Universität Berlin bei Frau Prof. Dr. Margret Baltes. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Untersuchung des Umgangs mit chronischen Verlusten, die entwicklungsbezogene Bedeutung des Erlebens des Älterwerdens, Wechselwirkungen zwischen Altern und Umwelt, Selbständigkeit im Alter und Interventionsfragen. Er ist Mitherausgeber des European Journal of Ageing, und er hat 2009 den M. Powell Lawton Award der Amerikanischen Gerontologischen Gesellschaft für seine Beiträge zur angewandten Alternsforschung erhalten. 2013/14 war er Fellow des Marsilius-Kollegs der Universität Heidelberg.
Alter(n)skulturen Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch (Hg.) Alte im Film und auf der Bühne Neue Altersbilder und Altersrollen in den darstellenden Künsten Januar 2016, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2936-1
Max Bolze, Cordula Endter, Marie Gunreben, Sven Schwabe, Eva Styn (Hg.) Prozesse des Alterns Konzepte – Narrative – Praktiken Juli 2015, 322 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2941-5
Celia Spoden Über den Tod verfügen Individuelle Bedeutungen und gesellschaftliche Wirklichkeiten von Patientenverfügungen in Japan Juli 2015, 324 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3055-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Alter(n)skulturen Henriette Herwig (Hg.) Merkwürdige Alte Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s 2014, 350 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2669-8
Andrea von Hülsen-Esch, Miriam Seidler, Christian Tagsold (Hg.) Methoden der Alter(n)sforschung Disziplinäre Positionen und transdisziplinäre Perspektiven 2013, 274 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2520-2
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