Alte im Film und auf der Bühne: Neue Altersbilder und Altersrollen in den darstellenden Künsten [1. Aufl.] 9783839429365

Age reframed - film and theater discover age anew. This volume takes a multifaceted look at the medial staging of age an

200 66 24MB

German Pages 340 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Film- und Bühnenkunst aus der Sicht kulturwissenschaftlicher Alter(n)sforschung
Biographisches und dargestelltes Alter
Doing age auf den Bühnen des Films. Von alten Helden und alten Schauspielern
Altersliebe und Alterssexualität im Spielfilm
Liebe als Selbstfindungsprozess im Alter. Variationen und Spielarten der späten Liebe im zeitgenössischen Film
The Spectrum of Desire. Late-Life Love and Intimacy in Hope Springs and Autumn Spring
Late-Life Masculinity in Wandering Streams by Pascal Rabaté
Bilder des Begehrens – doing age/doing desire
Demenz im Film
Demenz im Spielfilm. Andreas Kleinerts Mein Vater, Richard Glatzers Still Alice, Til Schweigers Honig im Kopf und Nikolaus Leytners. Die Auslöschung
Demenz im Dokumentarfilm. Vergessen – die Materie und das Selbst
Die Komik des Vergessens. Altersdemenz im japanischen Film am Beispiel von Pecoross’ Mother and her Days
Alter und Generationenbeziehungen
Alter(n) erleben. Generationsübergreifende und interkulturelle Erfahrungsräume im Film. Sofia Coppolas Lost in Translation und Doris Dörries Kirschblüten – Hanami
Alters-WGs im Film. Stéphane Robelins Et si on vivait tous ensemble? und Ralf Westhoffs Wir sind die Neuen
»Hand in Hand mit der Sprache / bis zuletzt«. Anna Ditges’ Dokumentarfilm Ich will dich über die letzten Lebensjahre von Hilde Domin
Krise und Ambivalenz. Zur Altersdarstellung in Alexander Paynes Film About Schmidt
Demenz auf der Bühne
»Es sind eben sehr unterschiedliche Menschen«. Altersrollen, Rollenspiele und Körperlichkeit in Lilo Mangelsdorffs »Kontakthof« von Pina Bausch getanzt von Damen und Herren ab 65
»Dein Bett steht im Laub«. Theatrale Begegnungen mit Menschen mit Demenz
Autorinnen und Autoren
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Alte im Film und auf der Bühne: Neue Altersbilder und Altersrollen in den darstellenden Künsten [1. Aufl.]
 9783839429365

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Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch (Hg.) Alte im Film und auf der Bühne

Alter(n)skulturen Herausgegeben von Peter Angerer, Ute Bayen, Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch, Christoph Kann, Ulrich Rosar, Christian Schwens, Shingo Shimada, Stefanie Ritz-Timme und Jörg Vögele | Band 3

Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch (Hg.)

Alte im Film und auf der Bühne Neue Altersbilder und Altersrollen in den darstellenden Künsten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Et si on vivait tous ensemble? von Stéphane Robelin, Frankreich 2011. Mit freundlicher Genehmigung von Les Films de La Butte und Manny Films Redaktionelle Mitarbeit: Robin-M. Aust und Denise Pfennig Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2936-1 PDF-ISBN978-3-8394-2936-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Film- und Bühnenkunst aus der Sicht kulturwissenschaftlicher Alter(n)sforschung Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch, Mara Stuhlfauth-Trabert, Florian Trabert | 9

B iographisches und dargestelltes A lter Doing age auf den Bühnen des Films Von alten Helden und alten Schauspielern Hans J. Wulff | 27

A ltersliebe und A lterssexualität im S pielfilm Liebe als Selbstfindungsprozess im Alter Variationen und Spielar ten der späten Liebe im zeitgenössischen Film Anja Hartung | 55

The Spectrum of Desire Late-Life Love and Intimacy in Hope Springs and Autumn Spring Pamela Gravagne | 73

Late-Life Masculinity in Wandering Streams by Pascal Rabaté Aagje Swinnen | 95

Bilder des Begehrens – doing age/doing desire Lena Eckert, Silke Martin | 119

D emenz im F ilm Demenz im Spielfilm Andreas Kleiner ts Mein Vater, Richard Glatzers Still Alice, Til Schweigers Honig im Kopf und Nikolaus Leytners Die Auslöschung Henriette Herwig | 139

Demenz im Dokumentarfilm Vergessen – die Materie und das Selbst Robin Curtis | 177

Die Komik des Vergessens Altersdemenz im japanischen Film am Beispiel von Pecoross’ Mother and her Days Elisabeth Scherer, Christian Tagsold | 193

A lter und G enerationenbeziehungen Alter(n) erleben. Generationsübergreifende und interkulturelle Erfahrungsräume im Film Sofia Coppolas Lost in Translation und Doris Dörries Kirschblüten – Hanami Anita Wohlmann | 215

Alters-WGs im Film Stéphane Robelins Et si on vivait tous ensemble? und Ralf Westhoffs Wir sind die Neuen Alina Gierke, Maike Rettmann | 235

»Hand in Hand mit der Sprache / bis zuletzt« Anna Ditges’ Dokumentar film Ich will dich über die letzten Lebensjahre von Hilde Domin Mara Stuhlfauth-Trabert, Florian Trabert | 263

Krise und Ambivalenz Zur Altersdarstellung in Alexander Paynes Film About Schmidt Thomas Küpper | 281

D emenz auf der B ühne »Es sind eben sehr unterschiedliche Menschen« Altersrollen, Rollenspiele und Körperlichkeit in Lilo Mangelsdor ffs »Kontakthof« von Pina Bausch getanzt von Damen und Herren ab 65 Maike Purwin | 303

»Dein Bett steht im Laub« Theatrale Begegnungen mit Menschen mit Demenz Barbara Wachendorff | 319

Autorinnen und Autoren  | 333

Film- und Bühnenkunst aus der Sicht kulturwissenschaftlicher Alter(n)sforschung Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch, Mara Stuhlfauth-Trabert, Florian Trabert

Vogelgezwitscher, Blick in ein Schlafzimmer auf ein Ehebett, das Gesicht einer Frau (Senta Berger) auf dem Kopfkissen. Sie steht auf. Erst allmählich wird auch der Mann (Bruno Ganz) sichtbar, der noch vergraben unter der Bettdecke liegt, zunächst nur sein Arm, dann dreht er sich nach vorn zur Kamera. In der Küche setzt er sich subkutan eine Spritze. Nach dem Frühstück verabschiedet er sich, sich verlegen räuspernd: »Ich geh ins Büro.« (TC: 00:03:25-00:03:27) Die Frau macht die Betten und wendet sich dann auf der Terrasse ihren Blumen zu. Beim Einkaufsbummel durch die Stadt sieht sie ihren Mann von hinten, wie er einen neuen Staubsauger in ein fremdes Haus trägt. Sie folgt ihm unbemerkt in den Hausflur, vor den Lift, drückt den Knopf mit dem leeren Namensschild, fährt hinauf in den fünften Stock und betritt eine helle leere Wohnung: »Du hast gesagt, du gehst ins Büro.« »Ich hab die Wohnung gekauft, etwas Geld investiert.« (TC: 00:06:43-00:06:57) Damit beginnt der Konflikt, der die Ehe des alternden Paares in Sophie Heldmans Filmdrama Satte Farben vor Schwarz (D/CH 2010) von nun an belasten und selbst das Hochzeitsfest der Tochter überschatten wird. Worin besteht das Problem? Fred, so erfahren wir kurz darauf, ist unheilbar an Prostatakrebs erkrankt. Die Eigentumswohnung, die er ohne Wissen seiner Frau gekauft hat, ist sein neues Rückzugsdomizil, ein Ort zum Nachdenken, wie er behauptet. Doch seine Frau durchschaut den Vorwand, unterstellt zunächst eine erneute Geliebte, begreift dann aber bald: Es ist der Sterbeort, den er für sich bestimmt hat. Was zunächst nur wie ein Vertrauensbruch wirkt, der ihre wütende Abwendung von ihm unverhältnismäßig heftig erscheinen lässt, ist mehr als das: die Preisgabe einer einst geteilten Liebesutopie, des Versprechens, gemeinsam zu sterben. Fred will sich aus Angst vor den möglichen Konsequenzen eines chirurgischen Eingriffs nicht operieren lassen, mit seiner Krankheit offenbar aber auch nicht mehr lange weiterleben. Er kann sich nicht vorstellen, als Patient zu enden. Damit fühlt Anita sich aus der Zweisamkeit entlassen und schlagartig zur ›alten‹

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Frau gemacht. Sie verlässt die Familienvilla samt dem – hoch symbolisch – sturmverwüsteten Garten und zieht freiwillig in eine Anlage für betreutes Wohnen, wo die noch ›junge‹ Alte befragt wird, als sei sie bereits ein Pflegefall. Zurück bleibt – neben erwachsenen Kindern, die sich in ihrem Lebensvollzug im Grunde nicht stören lassen, und einer Enkelin, die das Liebeskonzept der Großeltern nicht versteht – ein verblüffter Ehemann, der erneut um die Frau, mit der er seit Jahrzehnten zusammenlebt, zu werben beginnt – und das mit dem Charme des 69-jährigen Bruno Ganz. Weil Anita die Erfahrung macht, dass es leichter ist, den Sprung vom ›dritten‹ ins ›vierte‹ Lebensalter zu beschließen, als Tag für Tag zu leben, geht sie – wiederum im Garten – auf Freds Liebeswerben schließlich wieder lächelnd ein. Es ist aber kein Angebot zur Fortsetzung des gemeinsamen Lebens, sondern eine implizite Frage nach ihrer Bereitschaft zum gemeinsamen Liebestod. Und der wird in Freds neuer Wohnung von den wie für ein Fest geschmückten Partnern dann auch mit stoischer Ruhe vollzogen. Behält Fred die ›männliche‹ Deutungshoheit über ihre Liebe und ihre Ehe damit bis in den Tod? Was verstehen die drei Generationen des Films unter Liebe, sexueller Erfüllung und Eheglück? Wo liegen für sie die Grenzen der Selbstbestimmung? Ist Verständigung über Werte zwischen den Generationen möglich? Wo endet die Familiensolidarität? Warum zieht die hoch attraktive Anita, die vielleicht noch zwanzig, dreißig gesunde Lebensjahre vor sich hat, den Liebestod mit Fred dem Weiterleben vor? Hat die Altenheim­erfahrung, die als Trotzreaktion begann, sie so verändert, dass sie für sich als bald allein stehende alternde Frau – trotz Kindern und einer Enkelin – keine Perspektiven mehr sieht? Worin unterscheidet das Altern des Mannes sich von dem der Frau? Warum setzt erst der Entschluss zu sterben beider Vitalität wieder frei? Ist das Ende tröstlich oder eine Familienkatastrophe? Diese Fragen, mit denen der Film von Sophie Heldman die Rezipienten konfrontiert, sind über den speziellen Fall hinaus für viele filmische Repräsentationen des Alter(n)s relevant.

P erspek tiven kulturwissenschaf tlicher A lter (n) sforschung Gegenwärtig rücken die kulturellen Dimensionen des Alter(n)s mehr und mehr ins Licht der Forschung – sind es doch nicht nur die sozialen und medizinischen Gegebenheiten, deren Untersuchung für die Entwicklung lebenswerter Perspektiven im Alter fruchtbar gemacht werden kann: Bildende Kunst, Film, Literatur, Theater und Tanz führen uns vor Augen, dass unsere Vorstellungen vom Alter und unser Umgang mit ihm nicht in Messtabellen aufgenommen werden und mit Medikamenten behandelt werden können. Vielmehr zeigen die Reflexionen über das Alter in den verschiedenen Künsten nicht nur, mit welchen Altersbildern, Rollenerwartungen und stereotypen Vorstellungen wir diesem Lebensabschnitt begegnen, sondern auch, wie sich Erwartungen an altersgerechtes

Film- und Bühnenkunst

Verhalten unterlaufen, verändern und erweitern lassen. Trotzdem schenkt unsere Gesellschaft der möglichen Wirkung kultureller Akteure auf Politik, soziale Programme und medizinische Forschung noch immer viel zu wenig Aufmerksamkeit. Veranstaltungsprogramme für alte Menschen in Alterseinrichtungen – wie Singkreise oder Spielenachmittage beispielsweise – basieren noch immer auf tradierten Vorstellungen von regressiven Verhaltensstrukturen im Alter; die Tabuisierung von Alterssexualität rekurriert auf fortgeschriebene Verhaltensnormen; das Internieren Demenzkranker ist dem Schutzbedürfnis der Gesellschaft geschuldet, nicht mit unvorhersehbaren Verhaltensweisen konfrontiert zu werden. Das Alter(n) wird bislang primär aus biologisch-medizinischer, aus historischer, demographischer und aus sozialwissenschaftlicher Perspektive erforscht, was zur Folge hat, dass die aus diesen Disziplinen generierten Problemlösungen mehr auf die medizinische Versorgung sowie die Etablierung und Stabilisierung von Rahmenbedingungen für das Altwerden abzielen als auf den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit dieser Herausforderung. Mit welchen Konzepten aber kann eine Gesellschaft der allmählichen Überalterung begegnen? Nimmt man die Perspektive ein, Alter(n) als Ergebnis von Wissen und von kultureller Praxis zu untersuchen, so lassen sich neue Strategien für produktive Formen des Umgangs mit dem Alter(n) entwickeln. Die kulturwissenschaftliche Forschung macht deutlich, dass Alter(n) als Gegenstand des Wissens und als Konzept begriffen werden muss.1 Alterskonzepte sind Vorstellungen, Wertungen und ›Bilder‹ des Alter(n)s, also Deutungsmuster, denen normative Kraft zukommen kann. In einer globalisierten Welt muss Alter(n)sforschung deshalb nicht 1 | Seit der Jahrtausendwende beginnt die kulturwissenschaftliche Forschung vermehrt Ansätze zu entwickeln; vgl. Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen, Frankfurt a.M. 2000; Elisabeth Herrmann-Otto, Georg Wöhrle, Roland Harth (Hg.): Die Kultur des Alterns von der Antike bis zur Gegenwart, St. Ingbert 2004; Daniel Schäfer: Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2004; Pat Thane (Hg.): Das Alter. Eine Kulturgeschichte, Darmstadt 2005; Elisabeth Vavra (Hg.): Alterskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Wien 2008; Dieter Ferring, Miriam Haller, Hartmut Meyer-Wolters (Hg.): Sozio-kulturelle Konstruktionen des Alters. Transdisziplinäre Perspektiven, Würzburg 2008; Heiner Fangerau u.a. (Hg.): Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s, Berlin 2007; Miriam Haller, Hartmut Hautzel (Hg.): Lebenslanges Lesen, Nümbrecht 2009; Henriette Herwig (Hg.): Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin, Freiburg i.Br. u.a. 2009; Dorothee Elm u.a. (Hg.): Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin/New York 2009; Anja Hartung (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011; Rudolf Freiburg, Dirk Kretzschmar (Hg.): Alter(n) in Literatur und Kultur der Gegenwart, Würzburg 2012; Andrea von Hülsen-Esch u.a. (Hg.): Methoden der Alter(n)sforschung, Bielefeld 2013; Henriette Herwig (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2015; Andrea von Hülsen-Esch (Hg.): Alter(n) neu denken. Konzepte für eine neue Alter(n)skultur, Bielefeld 2015.

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nur unterschiedliche Wissenskulturen, sondern auch die künstlerische Produktion von Alterskonzepten einbeziehen, die historische und aktuelle Diskurse und Wertungen reflektiert und damit Sinn und Kohärenz von Leben, Körper und Gesellschaft in dieser Lebensspanne unmittelbar sinnfällig macht.2 Allerdings stehen wir erst am Anfang einer transdisziplinären Forschung, die naturwissenschaftliche, medizin- und humanwissenschaftliche Diskurse mit kulturwissenschaftlichen zusammenführt. Zwar werden die verschiedenen Formen des Wissens über das Alter(n) mit den tradierten wie auch den sich entwickelnden Normierungen und Kodierungen mehr und mehr reflektiert und gesellschaftlich geprägte Erfahrungen, Alterswahrnehmungen und Rollenerwartungen analysiert. Dennoch sind zum Beispiel Untersuchungen zu Demenz, die diese Krankheit als Identitätsverlust und kulturell bedingtes Interpretationsmuster zugleich erörtern, rar.3 Diese Dimension von Demenz wird in Filmen und auf der Bühne ebenso hervorgehoben wie genderspezifische Differenzen und interkulturelle Unterschiede. Es ist eine der großen Herausforderungen unserer Gesellschaft, die nach Alter, Herkunft und Geschlecht aufgeteilte Lebensgestaltung grundsätzlich neu zu durchdenken und zu strukturieren.4 Dabei sind die Vorstellungen, wann ein Mensch alt ist, nicht nur kulturell bedingt verschieden – selbst innerhalb einer Gesellschaft kursieren unterschiedlichste Vorstellungen von Altersgrenzen, die vor dem Hintergrund von anderen Lebensalterseinteilungen (Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter etc.) variabel sind und unsere Erwartungshaltungen steuern.5 Davon zeugt nicht nur die Erfindung eines ›vierten Lebensalters‹ als Synonym für die Hochaltrigkeit, auch die verschiedensten Altersklassifizierungen für Sport- oder Konsumangebote (50+, 55+, 60+ etc.) reflektieren das Bemühen, die Grenze zu dem, was möglicherweise unter ›Alter‹ verstanden wird, flexibel zu halten.6 Damit ergeben sich zugleich verschiedene Identitäten für die Altersstufen, ein Faktum, das einmal mehr verdeutlicht, dass ›Alter‹ stets kon­ struiert wird, Veränderungen des Körpers – oder im Lebenslauf – bezeichnet und

2 | Zur Bedeutung der künstlerischen Produktion beispielsweise für unsere Geschichtsnarrative vgl. Bernhard Jussen: Vom wissenschaftlichen und vom künstlerischen Arbeiten an der Vergangenheit, in: ders. (Hg.): Von der künstlerischen Produktion der Geschichte I. Jochen Gerz, Göttingen 1997, S. 7-32. 3 | Vgl. den komplexen Ansatz von Henriette Herwig: Demenz im Spielfilm, in diesem Band, S. 139-176. 4 | Vgl. Henriette Herwig: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, in: dies. (Hg.): Merkwürdige Alte, S. 7-33. 5 | So schon grundlegend Göckenjan: Das Alter würdigen. 6 | Zum Problem der unscharfen unteren Grenze vgl. jüngst Christiane Mahr: »Alter« und »Altern«. Eine begriffliche Klärung mit Blick auf die gegenwärtige wissenschaftliche Debatte, Bielefeld 2016, S. 224f.

Film- und Bühnenkunst

mit einem Sinn belegt.7 Die körperbezogenen Veränderungen und der Umgang damit werden in Filmen, Texten, Theater- und Tanzproduktionen augenfällig gemacht, wobei nicht nur die biologischen Prozesse, sondern auch die (psycho-) sozialen, kulturellen und ökonomischen Aspekte Thema sind. Alte Menschen, die im Zuge der demographischen Entwicklung in nicht allzu ferner Zukunft mehr als ein Drittel der Bevölkerung Deutschlands ausmachen werden, erhalten durch den Entzug der Teilhabe an alltäglichen Abläufen den Status einer Randgruppe. Die Frage, ob wir wirklich unseren Lebensabend in einer Gesellschaft verbringen wollen, die einerseits in den jugendlich gebliebenen Alten eine willkommene Zielgruppe zur Ankurbelung einzelner Wirtschaftszweige sieht, andererseits die beständig anwachsende Gruppe der körperlich eingeschränkten Alten und Hochaltrigen räumlich zu einer Art Satellit macht und sie damit in die Einsamkeit treibt, wird von den Künsten mit Nachdruck gestellt. Es ist das Verdienst von Künstlern, Filmemachern, Choreographen, Autoren und Regisseuren, in ihren Werken genau diese Ausgrenzung der Alten zu thematisieren, zu reflektieren und aufzuspießen. Filme, Bilder, Prosatexte und Bühnenstücke zeigen die Konstruktion von Altersbildern auf, legen stereotype Vorstellungen von alters- und geschlechtstypischen Verhaltensweisen frei, entwerfen aber auch mögliche Formen des Umgangs mit dementen alten Menschen, mit dem alternden Körper, mit Wohnsituationen und mit Emotionen wie der Liebe, die eigentlich nur jungen Menschen zugestanden werden. »Als komplexes Medium der (Selbst-)Beobachtung von Kultur bietet gerade der Film vielfältige Möglichkeiten, kulturelle Identitätssymbole zu hinterfragen«8 und überholte Vorstellungen vom Alter zu korrigieren. Dass Künstler dabei neue Bilder des Alters konstruieren und dem kulturellen Gedächtnis einschreiben, ist jedoch nur die eine Seite eines Bestrebens, den Blick auf diese Lebensphase zu verändern. Die andere Seite betrifft die kulturwissenschaftliche Erforschung der Altersnarrative von Literatur, Film, bildender Kunst, Theater und Tanz, das Bemühen, sie als Teil der unterschiedlichen Wissenschaftskulturen von Natur- und Lebenswissenschaften, Gesellschafts- und Gei­ stes-­ wissenschaften in einem neuen Diskurs zu vereinen und aus den Erkenntnissen gesellschaftliche Problemlösungen zu generieren. Die in diesem Band versammelten Beiträge zu »Alter im Film und auf der Bühne« sind ein Plädoyer dafür, filmkünstlerische Entwürfe und Bühnendarstellungen von Alter und Alterungsprozess in die Wissensdiskurse, die Alter(n) als Objekt verhandeln, mit einzubeziehen, da sie Deutungsschemata der Altersvorstellungen freilegen, Werturteile und Weltanschauungen auf den Prüfstand stellen, neue Lebensformen im Alter erproben und zugleich die künstlerischen Mittel für die Konstruktion von Altersbildern reflektieren. 7 | Dieser Ansatz bereits formuliert bei Irmhild Saake: Die Konstruktion des Alters. Eine gesellschaftstheoretische Einführung in die Altersforschung, Wiesbaden 2006. 8 | Anja Hartung: Liebe als Selbstfindungsprozess im Alter, in diesem Band, S. 69.

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Henriette Her wig, Andrea von Hülsen-Esch, Mara Stuhlfauth-Traber t, Florian Traber t

F ilmgenres , F ilmsemiotik , F ilmanalyse Die Analyse von Filmbildern und Filmgeschichten ist eine wichtige Aufgabe kulturwissenschaftlicher Forschung, denn Filme sind Seismographen gesellschaftlichen Wandels.9 Für die Filmanalyse ist das Konzept ›Genre‹ von besonderer Relevanz. Geschichtlich lässt sich dies durch den Umstand erklären, dass vor allem in der amerikanischen Filmkultur mit ihrer ausgeprägten kulturindustriellen Produktion bereits um 1910 die ersten Filmgenres wie Melodram, Western oder Comedy hervortreten.10 Für eine kulturwissenschaftliche Alter(n)sforschung ist dieser Umstand insofern von Belang, als gerade den etablierten Filmgenres altersspezifische Codierungen eingeschrieben sind – die nicht selten mit Codierungen hinsichtlich der Kategorien Gender, Ethnie und sozialer Klasse einhergehen.11 Diese Genrekonventionen weisen alten Figuren typischerweise eine marginale Rolle zu: Der Liebesfilm ist zumeist ein Film über junge Liebende, das Roadmovie eine Darstellung vorrangig männlicher Adoleszenz, und auch der Western – »das prägnanteste, in sich konsistenteste und dauerhafteste Hollywood-Genre«12 – präsentiert vor allem juvenile und maskuline Helden. Sicherlich sind Genrekonventionen im Mainstream-Kino stärker präsent als in art house-Produktionen oder Autorenfilmen, sofern man derartige Distinktionen zwischen low und high culture überhaupt noch akzeptieren will; für alle Filme kennzeichnend ist aber letztlich eine dialektische »Bewegung zwischen der Herausbildung von Prototypen und der Absetzung von denselben«13 beziehungsweise ein »Spannungsverhältnis von Standardisierung und Individualisierung, von Konventionellem und Innovativem«.14 Filmische Genres unterliegen immer einer gewissen Dynamik, da sie sich historisch verändern und auch in den verschiedenen Kulturkreisen variieren. Diesen Beobachtungen kommt eine über den filmanalytischen Horizont hinausgehende Relevanz zu, da Genres nicht nur die Funktion erfüllen, beim Publikum »einen jeweils spezifischen Erwartungshorizont und angemessene Rezep-

9 | Sally Chivers: The Silvering Screen. Old Age and Disability in Cinema, Toronto u.a. 2011, S. xviii. 10 | Vgl. Jörg Schweinitz: ›Genre‹ und lebendiges Genrebewußtsein. Geschichte eines Begriffs und Probleme seiner Konzeptualisierung in der Filmwissenschaft, in: Montage/AV 3 (1994) H. 2, S. 99-118, hier S. 99f. 11 | Auf die Relevanz der Kategorien ›Gender‹ und ›soziale Klasse‹ für die Genrezugehörigkeit hat Hans J. Wulff (Drei Bemerkungen zur Motiv- und Genreanalyse am Beispiel des Gefängnisfilms, in: 6. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium, Berlin 1994, S. 149-154, hier S. 150f.) am Beispiel des Gefängnisfilms hingewiesen. 12 | Schweinitz: ›Genre‹ und lebendiges Genrebewußtsein, S. 107. 13 | Wulff: Drei Bemerkungen zur Motiv- und Genreanalyse, S. 149. 14 | Schweinitz: ›Genre‹ und lebendiges Genrebewußtsein, S. 102.

Film- und Bühnenkunst

tionshaltungen«15 zu aktivieren, sondern sich in Genres kulturelle Konventionen und Normen manifestieren. Gerade für eine Alter(n)sforschung, die Altersstereotypen kritisch reflektiert und die Sinne für den Blick verstellende mediale Praktiken schärft,16 bietet sich das Thema ›Alter im Film‹ somit als Forschungsgegenstand an. Filmische Repräsentationen des Alter(n)s verraten viel über bestehende kulturelle und soziale Normen, können zugleich aber auch einen wichtigen Beitrag dazu leisten, neue oder gesellschaftlich noch nicht akzeptierte Altersbilder zu entwerfen. Aufgrund der beschriebenen Marginalisierung von alten Figuren in vielen Filmgenres zeichnen sich viele Altersfilme gerade dadurch aus, dass sie die bestehenden Genres neu codieren. So evoziert der mehrfach prämierte Film Amour (dt. Liebe, F/D/A 2012) des österreichischen Regisseurs Michael Haneke bereits im Titel das Genre des Liebesfilms, und tatsächlich lässt die Handlung des Films keinen Zweifel daran, dass die beiden Hauptfiguren – ein altes, in Paris lebendes Ehepaar mit bildungsbürgerlichem Hintergrund (Jean-Louis Trintignant/ Emmanuelle Riva) – sich in einem emphatischen Sinne lieben. Die hohe emotionale Wirkung des Films resultiert – durchaus genretypisch – gerade aus diesem Umstand. Gleichwohl sind viele für das Gerne des Liebesfilms charakteristische Elemente in Amour nur als negative Folie präsent: Körperliche Intimität erscheint in Form von Pflege und nicht von Sexualität, Konflikte bestehen nicht mit der Eltern-, sondern mit der Kindergeneration, und insgesamt zeigt der Film nicht den Beginn einer Liebesbeziehung, sondern Sterbebegleitung und aktive Sterbehilfe. Andere Strategien im Umgang mit Genrekonventionen und gesellschaftlichen Normen weisen viele Filme auf, die Alterssexualität thematisieren und insbesondere der Vorstellung vom Alter als weitgehend asexueller Lebensphase entgegenwirken.17 In Satte Farben vor Schwarz lassen sich sogar beide Tendenzen beobachten, da Sexualität für das alternde Paar erst in dem Moment wieder lebbar wird, da die Partner sich zum koordinierten Freitod entschlossen haben. Diese Neuauflage des Mythos vom gemeinsamen Liebestod darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gründe für den Doppelselbstmord unterschiedlich sind: Während der Mann seinem Leben aufgrund einer schweren Krebserkrankung ein Ende setzen will und die Vorbereitungen dazu schon getroffen hat, bevor seine Frau sich dazu entschließt, mit ihm zu sterben, setzt die körperlich gesunde Frau ihrem Leben freiwillig ein Ende, um am Konzept der Liebe bis in den Tod festhalten zu können und nicht allein zurückzubleiben. Allerdings erscheint es im Hinblick auf Alterssexualität sinnvoll, zwischen der dritten und der vierten

15 | Ebd., S. 100. 16 | Vgl. Andrea von Hülsen-Esch: Vorwort, in: dies. (Hg.): Alter(n) neu denken, S. 7-15, hier S. 10. 17 | Vgl. die in diesem Band in der Sektion »Altersliebe und Alterssexualität im Spielfilm« versammelten Beiträge.

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Lebensphase zu differenzieren,18 da ihre Darstellung bei den ›jungen Alten‹ in dem Maße den Tabustatus verliert, wie ihr eine vielfach schon gelebte Realität entspricht, während Sexualität in der Phase der Hochaltrigkeit nach wie vor einer starken Tabuisierung unterliegt. Vergleichbare Beobachtungen lassen sich auch bei Vertretern der bereits angeführten Genres Roadmovie und Western machen. So folgt der Film The Straight Story von David Lynch (US 1999) zwar weitgehend den Vorgaben des Roadmovies, codiert diese aber neu, indem er statt eines Adoleszenten einen 73-jährigen Rentner zum Protagonisten werden lässt, der die genretypische Reise zudem nicht mit einem Auto, sondern auf einem Rasenmäher unternimmt. Die fließende Grenze von Affirmation und Subversion, auf die Judith Butler hinsichtlich von GenderStereotypen aufmerksam gemacht hat,19 veranschaulicht der Film No Country for Old Men von Ethan und Joel Coen (US 2007), der Elemente des Western und des film noir verbindet. Bereits der Titel des auf dem gleichnamigen Roman von Cormac McCarthy basierenden Films gibt mit aller Deutlichkeit zu verstehen, was ›der Western‹ – im emphatischen Sinn der Genrekonventionen – nicht ist: ein Ort für alte Männer und zum Altwerden. Entgegen den durch den Titel geweckten Erwartungen tritt in dem Film in Gestalt eines von Tommy Lee Jones gespielten Sheriffs auch eine alte Figur auf, der allerdings kaum eine andere Rolle als die einer homodiegetischen Erzählinstanz bleibt, die am Ende der brutalen Filmhandlung resigniert in den Ruhestand eintritt. Es bietet sich an, den beschriebenen genretypologischen Zugriff auf das Thema ›Alter im Film‹ durch eine filmsemiotische Herangehensweise zu flankieren, da der Film als »Kombination von Zeichensystemen«20 Alter auf den unterschiedlichsten visuellen wie akustischen Ebenen erfahrbar machen kann. Von besonderer Bedeutung ist dabei zunächst das Dekor, das im Film in Form der Landschaften, Bauten und Requisiten präsent ist, vor deren Hintergrund sich die Handlung abspielt. Als ein für viele Altersfilme typischer Handlungsort fungiert das Altersheim, das als soziale Enklave, in der bisherige Lebensgewohnheiten weitgehend außer Kraft gesetzt sind und der Kontrolle durch Dritte unterzogen werden, strukturell Orten wie dem Krankenhaus, dem Gefängnis und der Irrenanstalt gleicht, die filmgeschichtlich teilweise bis zum Status der Genrehaftigkeit eta­

18 | Vgl. Andrea von Hülsen-Esch, Miriam Seidler, Christian Tagsold: Methoden der Alter(n)sforschung. Disziplinäre Positionen – transdisziplinäre Perspektiven, in: dies. (Hg.): Methoden der Alter(n)sforschung, S. 7. 19 | In ihrer Analyse des Dokumentarfilms Paris is Burning über die transgender community in New York konstatiert Judith Butler (Körper von Gewicht, Frankfurt a.M. 1997, S. 182): »Es handelt sich nicht zuerst um Aneignung und dann um Subversion. Manchmal ist es beides zugleich, manchmal bleibt es bei einem unauflöslichen Spannungsverhältnis, und zuweilen erfolgt eine fatal nicht-subversive Aneignung.« 20 | Thomas Kuchenbuch: Filmanalyse. Theorien. Methoden. Kritik, Wien u.a. 2005, S. 87.

Film- und Bühnenkunst

bliert sind.21 Mit den genannten Orten teilt das Altersheim auch die Eigenschaft, dass man dieses in der Regel nicht freiwillig aufsucht. Anita, die Protagonistin von Satte Farben vor Schwarz, stellt in dieser Hinsicht die Ausnahme dar, die die Regel bestätigt, da sie sich nur für einen begrenzten Zeitraum im Altersheim aufhält und sich als ›junge Alte‹ in dieser Umgebung fremd fühlt. Als vor allem in der dritten Lebensphase praktikables Modell inszenieren einige Filme zudem Alters-WGs, die raumsemiotisch betrachtet sowohl zum Altersheim als auch zur Studenten-WG einen Gegensatz bilden. Von anderen Künsten, die wie die Literatur stärker an die Imaginationskraft des Rezipienten appellieren, unterscheiden sich Repräsentationen im Film – und auf der Bühne – auch durch den Umstand, dass die Kategorie Alter durch die Körperlichkeit der Schauspieler und Tänzer im wahrsten Sinne des Wortes ins Spiel kommt. Für die durch Filme und Bühnengeschehen vermittelten Altersbilder ist das Verhältnis von Akteur und Rolle entscheidend. Auf markante Weise veranschaulichen dies die Mitte der 1980er Jahre gedrehten James Bond-Filme Octopussy (GB 1983) oder A View to a Kill (dt. Im Angesicht des Todes, GB 1985), in denen die Titelfigur durch den zu diesem Zeitpunkt fast 60-jährigen Roger Moore verkörpert wurde, ohne dass die juvenile Codierung des Genres Agentenfilm prinzipiell in Frage gestellt würde. Genuin filmische Mittel stellen zudem die unterschiedlichen Möglichkeiten dar, das optische Material aufzubereiten, mit der Kamera aufzunehmen bzw. nachträglich zu bearbeiten.22 Parameter wie Beleuchtung, Farbgebung, Einstellungsgröße und -perspektive sowie Filmentwicklung tragen Entscheidendes zur Inszenierung von Alter im Film bei, indem sie etwa Altersmerkmale wie die Falten eines Schauspielers besonders deutlich hervortreten lassen oder eher verbergen. Dem Film als Kombination von Zeichensystemen vorgelagert ist zumeist das Zeichensystem einer in der Regel textuellen Vorlage. Es kann als ein Indiz für die Vielfalt von filmischen Repräsentationen des Alters aufgefasst werden, dass die in diesem Band untersuchten Filme hinsichtlich ihrer Vorlagen ein breites Spektrum aufweisen: Neben ›traditionellen‹ Spielfilmen, die auf einem Drehbuch basieren, finden sich auch Verfilmungen von literarischen Vorlagen wie der Film About Schmidt (US 2002) nach dem gleichnamigen Roman von Louis Begley oder filmische Umsetzungen von Comics bzw. Mangas wie Wandering Streams (F 2010) oder Pecoross’ Mother and her Days (J 2013). Bei der Filmanalyse auch die Differenz zu diesen Vorlagen zu berücksichtigen, schärft den Blick für die skizzierten Möglichkeiten des Mediums Film, Alter auf den unterschiedlichsten Ebenen erfahrbar zu machen. Einen Sonderfall stellen zudem Dokumentarfilme dar, da sich die Inszenierung von Alter hier stärker der Kontrolle der Filmemacher entzieht. 21 | Vgl. mit Bezug auf das Gefängnis Wulff: Drei Bemerkungen zur Motiv- und Genreanalyse, S. 152. 22 | Vgl. Kuchenbuch: Filmanalyse, S. 92.

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A lter im F ilm und auf der B ühne Die Beiträge dieses Bandes tragen dem breiten Spektrum filmischer und bühnenwirksamer Altersrepräsentationen Rechnung. Hans J. Wulff diskutiert die zentrale Dichotomie von Akteur und Rolle. Der filmischen Repräsentation des Alter(n)s liegt, wie Wulff in seiner breit angelegten Untersuchung zu Filmrollen in Abhängigkeit vom kalendarischen Alter des Schauspielers zeigt, eine Dialektik zugrunde, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Selbstwahrnehmung des Schauspielers und der Fremdwahrnehmung des Zuschauers ergibt. Indem die Zuschauer die Rollenbiographien der Schauspieler begleiten, werden sie auch mit ihrer eigenen Medienbiographie konfrontiert. Altern ist somit kein individueller Prozess, sondern ein Vorgang, der wesentlich durch soziale Erwartungen und kulturelle Erfahrungen gesteuert wird. Wulffs Typologie von Schauspielerrollen macht auch auf eine signifikante Geschlechterdifferenz aufmerksam: die nach wie vor wesentlich stärkere Verengung des Rollenspektrums bei alternden Schauspielerinnen im Vergleich zu dem ihrer männlichen Kollegen. Dass der greying market den Film verändert, ist der Ausgangspunkt des Beitrags von Anja Hartung. Sie zeigt, wie das Narrativ der Selbstverwirklichung im zeitgenössischen Film auf Figuren fortgeschrittenen Alters übertragen wird und so neue Altersbilder generiert, zu denen auch die Aufwertung des Motivs der späten Liebe gehört. Das kann innerhalb der Grenzen bürgerlicher Ehenormen die Form der Fürsorge für einen kranken Partner und der Verarbeitung von Verlustschmerz annehmen wie in Sarah Polleys Away from Her (CDN 2006) und Michael Hanekes Amour, einem befreiten Selbst zu einem Neuanfang verhelfen wie in Bettina Oberlis Die Herbstzeitlosen (CH 2006) und Sam Garbarskis Irina Palm (GB/B/LUX/D/F 2007) oder die Gestalt eines Tabubruchs durch eine neue, vorübergehend oder dauerhaft sexuell gelebte Liebesbeziehung annehmen wie in Shinji Imaokas Tasogare (J 2008) und Andreas Dresens Wolke 9 (D 2008). Im zuletzt genannten Fall geht der inhaltliche Bruch mit Normen altersgerechten Verhaltens auch mit dem Verstoß gegen filmästhetische Konventionen wie jener einher, alte Körper nicht aus der Nähe und nicht in grellem Licht zu zeigen. Der Widerstand gegen Fremdbestimmung durchdringt hier auch die Machart des Films, insbesondere die Schauplatzwahl, die Kameraeinstellung und die Lichtregie. Auch Pamela Gravagne konstatiert in ihrem Beitrag das zunehmende Interesse der Filmindustrie an den Themen Altersliebe und Alterssexualität. Sie bewertet diese Tendenz, die auch mit Veränderungen der Darstellung alter Körper einhergeht, positiv, wenn sie nicht dazu dient, alte Menschen zu romantisieren oder zu Sensationsobjekten zu degradieren. Filme wie Hope Springs (US 2012) und Autumn Spring (CS 2001) – das macht ihre Analyse deutlich – können dazu beitragen, Altersliebe und gelebte Alterssexualität zu normalisieren und somit der Vorstellung des Alters als weitgehend asexueller Lebensphase entgegenzuwirken. Eine vergleichbare Tendenz, essentialistisch begründete Altersstereotype in Frage zu stellen, sieht Aagje Swinnen in dem Film Wandering Streams am Werk,

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der auf der gleichnamigen Comic-Vorlage beruht. Swinnen lenkt den Fokus auf die problematische Konzeptualisierung von Männlichkeit im Alter, da dem Mann traditionellerweise mit Macht, Gesundheit, Stärke und sexueller Potenz genau die Attribute zugeschrieben werden, die der letzten Lebensphase im verbreiteten Defizitmodell von Alter fehlen. Wie Swinnen zeigt, wandelt der Film Wandering Streams das für Roadmovies typische Narrativ ab, indem er nicht den Konflikt eines männlichen Adoleszenten zwischen Rebellion und Anpassung thematisiert, sondern den psychologischen Prozess der Bewältigung der letzten Lebensphase. Lena Eckert und Silke Martin fragen nach den filmischen Strategien der Inszenierung und Herstellung von Begehren im Alter, nach der Art der Darstellung alter Körper und der Subversion stereotyper und normativer Vorstellungen von Alterssexualität. Mit Bezug auf David Sievekings Vergiss mein nicht (D 2012), Michael Hanekes Amour, Stéphane Robelins Et si on vivait tous ensemble? (dt. Und wenn wir alle zusammenziehen?, F 2011) und Sam Garbarskis Irina Palm entwickeln sie unter filmästhetischen und narrativen Gesichtspunkten eine »Bildtypologie des Begehrens« entlang von »Bildern des Entzugs, der Imagination, der Erinnerung und der Unvollständigkeit«.23 Die Beiträge von Henriette Herwig, Robin Curtis, Elisabeth Scherer und Christian Tagsold widmen sich der filmischen Repräsentation demenzieller Erkrankungen. Sie ermöglichen sowohl den Vergleich von Demenz im Spielfilm mit Demenz im Dokumentarfilm als auch den Kulturvergleich zwischen Deutschland, Österreich, Amerika und Japan. Henriette Herwig geht dabei von ethischen Fragen zum Begriff der Menschenwürde und zur Selbstbestimmung von Menschen mit Demenz aus, die bis zum Wunsch nach einem selbstbestimmten Tod reichen kann. Am Beispiel von Andreas Kleinerts Fernsehfilm Mein Vater (D 2003), Richard Glatzers Filmdrama Still Alice (US/F 2014), Til Schweigers Kinofilm Honig im Kopf (D 2014) und Nikolaus Leytners Fernsehfilm Die Auslöschung (A 2013) untersucht sie, welches Bild demenzieller Erkrankungen, der veränderten Lebenswelt der Betroffenen und ihrer Beziehungen die Filme zeichnen, welche Plot-Strukturen und filmästhetischen Mittel sie dabei einsetzen, welchen Begriff des Menschen, des Selbst und des Gedächtnisses sie zugrunde legen und welche – realistischen oder märchenhaft-utopischen – Bewältigungsstrategien von Pflegenot sie anbieten. Besondere Aufmerksamkeit wird auf die Art und Weise gerichtet, in der die Filme den Todeswunsch der Betroffenen und/oder ihrer Pflegepersonen inszenieren und damit zur ethischen Diskussion über Tötung auf Verlangen oder Beihilfe zum Suizid Stellung nehmen. Auch Robin Curtis geht von der notwendigen Neukonzeptualisierung von Subjektivität bei Demenz aus. Im Anschluss an Ulric Neissers Modell für Selbsterfahrung betont sie die Möglichkeit, dass das ›ökologische Selbst‹ und das ›private Selbst‹ bei Demenz erhalten bleiben, während das ›erinnerte‹, das ›zwischenmenschliche‹ und das 23 | Lena Eckert, Silke Martin: Bilder des Begehrens – doing age/doing desire, in diesem Band, S. 120f.

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›konzeptuelle Selbst‹ verloren gehen.24 Am Beispiel von Still Alice kritisiert sie die Tendenz des Spielfilms zur Beschönigung der identitätsauflösenden Folgen einer Erkrankung an Alzheimer durch die Suggestion der Identitätskontinuität von Alice. Dem stellt sie die viel radikalere Sicht der Alzheimer-Krankheit gegenüber, die Dokumentarfilme wie Doris Hoffmanns Complaints of a Dutiful Daughter (US 1994), Allan Kings Memory: For Max, Claire, Ida and Company (CDN 2005), David Sievekings Vergiss mein nicht und Alan Berliners First Cousin Once Removed (dt. Schleichendes Vergessen, US 2012) vermitteln. Diese Filme betonen mehr die Diskontinuität des Erlebens, die Kontraste zwischen früheren und späteren Lebensphasen, den Zerfall der innerhalb einer Familie geteilten Perspektiven und die krankheitsbedingten Verwandlungen der Identität der Erkrankten bis hin zu einem quasi ›posthumanen‹ Zustand des Einklangs mit Tieren und Pflanzen. Entsprechend nutzen sie auch andere filmästhetische Mittel wie den Verzicht auf chronologisches Erzählen, Zeitsprünge und disjunctive Montage. Elisabeth Scherer und Christian Tagsold weisen anhand der Geschichte des japanischen Demenzfilms die Abhängigkeit filmkünstlerischer Verarbeitung dieser Krankheiten von gesellschaftspolitischen Veränderungen nach. Obwohl die Altersthematik aufgrund der zunehmenden Überalterung der japanischen Gesellschaft bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend an Brisanz gewann, stand im Fokus der gesellschaftlichen Diskussion zunächst noch die Anpassung des Sozialsystems und der Pflegeleistungen. Als Beispiel für einen Film, der positive Bilder für den sozialen Umgang mit Dementen entwickelt, analysieren die Autoren exemplarisch den auf einem Manga basierenden Film Pecoross’ Mother and her Days, der Demenz als alternative Realität inszeniert, in der Zeit ihrer Bedeutung enthoben wird. Gesellschaftspolitisch brisant ist der Film zudem aufgrund der Tatsache, dass er eine mediale Diskussion über das Thema ›pflegende Söhne‹ angestoßen hat. Aus einer vorrangig interkulturellen Perspektive rückt auch Anita Wohlmann Japan in den Fokus. Wie ihre Analyse der in Japan spielenden Filme Lost in Translation (US/J 2004) und Kirschblüten – Hanami (D 2008) zeigt, erweisen sich die üblicherweise mit Alter assoziierten Erfahrungen von Fremdheit, Einsamkeit und Vergänglichkeit als generationenübergreifend und somit als gerade nicht an die letzte Lebensphase gebunden. Auch diese Filme leisten einen Beitrag dazu, Alter als vorrangig kulturelles Konstrukt kenntlich zu machen. Alina Gierke und Maike Rettmann spüren der filmischen Beschäftigung mit dem in Westeuropa noch jungen Wohnmodell der Alters-WG nach. Bei ihrer Auseinandersetzung mit den Filmen Et si on vivait tous ensemble? und Wir sind die Neuen (D 2014) fragen sie nach den Funktionen, Potenzialen und Defiziten der dargestellten Alters-WGs. Problematische Beziehungen zwischen den Generationen sind für die Handlung beider Filmkomödien konstitutiv: Während der französische Film die Bevormundung der Eltern durch ihre Kinder thematisiert, wird in dem 24 | Vgl. Robin Curtis: Demenz im Dokumentarfilm, in diesem Band, S. 182.

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deutschen Film der Generationenkonflikt durch die Gegenüberstellung einer Alters-WG und einer Studenten-WG veranschaulicht. Letztlich können in beiden Filmen beide Seiten voneinander lernen. Mara Stuhlfauth-Trabert und Florian Trabert betrachten Anna Ditges’ Dokumentarfilm Ich will dich (D 2008) über Hilde Domin vornehmlich unter werkgenetischen Gesichtspunkten. Die Produktion dieses Films wurde vor allem durch den großen Altersunterschied von knapp 70 Jahren zwischen der portraitierten Dichterin und der Filmemacherin erschwert. Entscheidend war dabei das hohe Alter Hilde Domins. Der mit ihrer Sprachpoetik verknüpften Angst Domins, durch die Kamera zum Objekt degradiert zu werden, stellt Ditges eine jugendlich rebellische Kameraführung entgegen, die auch eine neue Sicht auf das Alter ermöglicht. Thomas Küpper ordnet Alexander Paynes Film About Schmidt der ambivalenten Gattung Tragikomödie zu. So geraten die Ambivalenzerfahrungen, die der Film bietet, in den Blick, durch die gängige Unterscheidungen wie ›positives‹ oder ›negatives‹ Altersbild in der Schwebe gehalten werden. Die gleichermaßen tragische wie komische Existenz Schmidts zeigt sich nicht zuletzt in seiner Interaktion mit den jüngeren Figuren: Während dem Protagonisten die Rolle des Patriarchen sowohl von seiner Tochter als auch von seinem beruflichen Nachfolger verweigert wird, geht von den Briefen seines afrikanisches Pflegekinds Ndugu für den funktions- und beziehungslos gewordenen Rentner Trost aus, obwohl seine Briefe an das Kind dessen Lebenswelt auf groteske Weise verfehlen. Das mediale Spektrum erweitern die letzten beiden Beiträge des Bandes, die szenische Repräsentationen von Alter(n) auf der Bühne fokussieren. Maike Purwin analysiert einen Dokumentarfilm über ein Tanztheaterprojekt mit älteren Amateurtänzerinnen und -tänzern von Pina Bausch und zeigt, wie durch Wechselwirkungen der Medien Tanztheater und Dokumentarfilm Altersrollenbilder in Frage gestellt werden. Indem der Film die Tänzerinnen und Tänzer vor, während und nach der Probenarbeit sowie in Gesprächssituationen zeigt und dabei gesellschaftliche Tabuthemen wie Bewegungseinschränkungen ›alter‹ Körper und Alterssexualität berührt, spricht er dem Alter ein emanzipatives Potenzial zu. Persönliche Erfahrungen liegen Barbara Wachendorffs Bericht über die Entstehung, Regiearbeit und Inszenierung ihres Theaterstücks Ich muss gucken, ob ich da bin (UA 2004, Schlosstheater Moers) zugrunde. Das Stück lebt von der weitgehend improvisierten Interaktion zwischen Schauspielern und Menschen mit Demenz auf der Bühne. Die Autorin und Regisseurin beschreibt die besondere Herausforderung, mit Hilfe von Requisiten und auf die Biographien der Teilnehmer eingehenden Dialogangeboten bei den dementen Mitspielern Erinnerungen zu wecken oder ihr Körpergedächtnis anzuregen. Wie gut das immer wieder gelang, gehört zu den überraschenden Ergebnissen dieses Theaterexperiments.

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Q uellenverzeichnis Filme A View to a Kill (dt. Im Angesicht des Todes, GB 1985, Regie: John Glen). About Schmidt (US 2002, Regie: Alexander Payne). Amour (dt. Liebe, F/D/A 2012, Regie: Michael Haneke). Autumn Spring (CS 2001, Regie: Vladimir Michálek). Away from Her (dt. An ihrer Seite, CDN 2006, Regie: Sarah Polley). Complaints of a Dutiful Daughter (US 1994, Regie: Doris Hoffmann). Die Auslöschung (A 2013, Regie: Nikolaus Leytner). Die Herbstzeitlosen (CH 2006, Regie: Bettina Oberli). Et si on vivait tous ensemble? (dt. Und wenn wir alle zusammenziehen?, F 2011, Regie: Stéphane Robelin). First Cousin Once Removed (dt. Schleichendes Vergessen, US 2012, Regie: Alan Berliner). Honig im Kopf (D 2014, Regie: Til Schweiger). Hope Springs (US 2012, Regie: Mark Herman). Ich will dich (D 2008, Regie: Anna Ditges). Irina Palm (GB/B/LUX/D/F 2007, Regie: Sam Garbarski). Kirschblüten – Hanami (D 2008, Regie: Doris Dörrie). »Kontakthof« von Pina Bausch getanzt von Damen und Herren ab 65 (D 2002, Regie: Lilo Mangelsdorff). Lost in Translation (US/J 2004, Regie: Sofia Coppola). Mein Vater (D 2003, Regie: Andreas Kleinert). Memory: For Max, Claire, Ida and Company (CDN 2005, Regie: Allan King). No Country for Old Men (US 2007, Regie: Ethan und Joel Coen). Octopussy (GB 1983, Regie: John Glen). Pecoross’ Mother and Her Days (J 2013, Regie: Morisaki Azuma). Satte Farben vor Schwarz (D/CH 2010, Regie: Sopie Heldman). Still Alice (dt. Still Alice – Mein Leben ohne Gestern, US/F 2014, Regie: Richard Glatzer und Wash Westmoreland). Tasogare (J 2008, Regie: Shinji Imaoka). The Straight Story (US 1999, Regie: David Lynch). Vergiss mein nicht. Wie meine Mutter das Gedächtnis verlor und meine Eltern die Liebe neu entdeckten (D 2012, Regie: David Sieveking). Wandering Streams (F 2010, Regie: Pascal Rabaté). Wir sind die Neuen (D 2014, Regie: Ralf Westhoff). Wolke 9 (D 2008, Regie: Andreas Dresen).

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Theaterstück Wachendorff, Barbara: Ich muss gucken, ob ich da bin (UA 2004, Schlosstheater Moers).

Sekundärliteratur Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übers. von Karin Wördemann, Frankfurt a.M. 1997 (New York 1993). Chivers, Sally: The Silvering Screen. Old Age and Disability in Cinema, Toronto u.a. 2011. Curtis, Robin: Demenz im Dokumentarfilm. Vergessen – die Materie und das Selbst, in diesem Band, S. 177-192. Eckert, Lena; Martin, Silke: Bilder des Begehrens – doing age/doing desire, in diesem Band, S. 119-135. Elm, Dorothee u.a. (Hg.): Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin/New York 2009. Fangerau, Heiner u.a. (Hg.): Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s, Berlin 2007. Ferring, Dieter u.a. (Hg.): Sozio-kulturelle Konstruktionen des Alters. Transdisziplinäre Perspektiven, Würzburg 2008. Freiburg, Rudolf; Kretzschmar, Dirk (Hg.): Alter(n) in Literatur und Kultur der Gegenwart, Würzburg 2012. Göckenjan, Gerd: Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a.M. 2000. Haller, Miriam; Hautzel, Hartmut (Hg.): Lebenslanges Lesen. Lektüreautobiographien, Reflexionen und Analysen, Nümbrecht 2009. Hartung, Anja: Liebe als Selbstfindungsprozess im Alter, in diesem Band, S. 5571. Hartung, Anja (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011. Herrmann-Otto, Elisabeth; Wöhrle, Georg; Harth, Roland (Hg.): Die Kultur des Alterns von der Antike bis zur Gegenwart, St. Ingbert 2004. Herwig, Henriette: Demenz im Spielfilm. Andreas Kleinerts Mein Vater, Richard Glatzers Still Alice, Til Schweigers Honig im Kopf und Nikolaus Leytners Die Auslöschung, in diesem Band, S. 139-176. Herwig, Henriette: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, in: dies. (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2015, S. 7-33. Herwig, Henriette (Hg.): Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin, Freiburg i.Br. u.a. 2009. Herwig, Henriette (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2015.

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Henriette Her wig, Andrea von Hülsen-Esch, Mara Stuhlfauth-Traber t, Florian Traber t

Hülsen-Esch, Andrea von: Vorwort, in: dies. (Hg.): Alter(n) neu denken. Konzepte für eine neue Alter(n)skultur, Bielefeld 2015, S. 7-15. Hülsen-Esch, Andrea von (Hg.): Alter(n) neu denken. Konzepte für eine neue Alter(n)skultur, Bielefeld 2015. Hülsen-Esch, Andrea von; Seidler, Miriam; Tagsold, Christian: Methoden der Alter(n)sforschung. Disziplinäre Positionen – transdisziplinäre Perspektiven, in: dies. (Hg.): Methoden der Alter(n)sforschung, Bielefeld 2013, S. 7-33. Hülsen-Esch, Andrea von; Seidler, Miriam; Tagsold, Christian (Hg.): Methoden der Alter(n)sforschung. Disziplinäre Positionen und transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2013. Jussen, Bernhard: Vom wissenschaftlichen und vom künstlerischen Arbeiten an der Vergangenheit, in: ders. (Hg.): Von der künstlerischen Produktion der Geschichte I. Jochen Gerz, Göttingen 1997, S. 7-32. Kuchenbuch, Thomas: Filmanalyse. Theorien. Methoden. Kritik, Wien u.a. 2005. Mahr, Christiane: »Alter« und »Altern«. Eine begriff liche Klärung mit Blick auf die gegenwärtige wissenschaftliche Debatte, Bielefeld 2016. Saake, Irmhild: Die Konstruktion des Alters. Eine gesellschaftstheoretische Einführung in die Altersforschung, Wiesbaden 2006. Schäfer, Daniel: Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase, Frankfurt a.M. 2004. Schweinitz, Jörg: ›Genre‹ und lebendiges Genrebewußtsein. Geschichte eines Begriffs und Probleme seiner Konzeptualisierung in der Filmwissenschaft, in: Montage/AV 3 (1994) H. 2, S. 99-118. Thane, Pat (Hg.): Das Alter. Eine Kulturgeschichte, Darmstadt 2005. Vavra, Elisabeth (Hg.): Alterskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Internationaler Kongress; Krems an der Donau 16. bis 18. Oktober 2006, Wien 2008. Wulff, Hans J.: Drei Bemerkungen zur Motiv- und Genreanalyse am Beispiel des Gefängnisfilms, in: 6. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium, Berlin 1994, S. 149-154.

Biographisches und dargestelltes Alter

Doing age auf den Bühnen des Films Von alten Helden und alten Schauspielern Hans J. Wulff

A ltersrollen und doing age Wir sind es gewohnt, von Konzeptionen und Bildern des Alters zu sprechen, als seien sie Objekte der symbolisch-kulturellen Welt. Natürlich hat das Alter eine biologisch-medizinische Seite, aber es hat auch eine psychologische und eine kulturelle. Alterskategorien entstammen allen Bereichen – von der Gebrechlichkeit und dem Rückgang der Spannkraft über die Kategorien der Erinnerung und Erfahrung bis zu solchen der Weisheit oder des Versinkens in Vergangenem. Altersvorstellungen bemessen sich an Gliederungen des Lebenslaufs, die sich historisch wandeln. Und es verändern sich die Attribute, die den verschiedenen Altersstufen zugeordnet werden. Erinnert sei an den Marcus Tullius Cicero zugeschriebenen Aphorismus: »Denn gibt es Schöneres als Greisentum umringt vom Wissensdurst der Jugend?«,1 der die ganze Spanne umfasst und mit der Lernfähigkeit und der Weltzuwendung gleichzeitig kurzschließt. Ich werde mich in den folgenden Überlegungen nicht auf die Herausarbeitung von mehr oder minder feststehenden Altersbildern oder -konzeptionen konzentrieren, sondern ganz auf den Umgang mit Kategorien und Bildern des Alters und des Alterns. Die Annahme ist, dass es kein feststehendes Arsenal von Altersmodellen im kulturellen Gebrauch gibt, sondern dass es sich um pragmatische Gegenstände handelt, mit denen man das eigene Alter ebenso interpretiert wie das von anderen. Zu den Altersmodellen, die so in das symbolische Handeln und in die Interpretationen des Realen wie des Fiktionalen eingehen, gehören die Lebenslaufmodelle (life span models) und deren Phasen, Vorstellungen der Generationalität, des Umgangs mit der eigenen Lebensgeschichte wie mit der von anderen und die Assoziationen von Alter mit moralischen Kategorien. Gerade weil die Altersmodelle so heterogen und kontextsensibel sind, werden sie im semio1 | Marcus Tullius Cicero: Cato der Ältere. Über das Greisenalter, ins Deutsche übertr. v. Rudolf Alexander Schröder, München 1924, S. 21.

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tischen und praktischen Handeln operationalisiert (und manchmal wird sogar vom doing age oder doing ageing gesprochen, durchaus im Sinne der vorliegenden Abhandlung). Es geht nicht zuletzt darum, auf Ordnungen der lebensgeschichtlichen Altersrollen2 und -zustände zurückzugreifen, um diese in alltagspraktisches und zugleich altersangemessenes Handeln umzusetzen.3

R enitenz Wenn wir von Altersbildern in den Medien sprechen, sprechen wir meist über Stereotype – Gegenstände des Wissens, Teile des kulturellen Symboluniversums, komplexe Objekte, die gelernt werden müssen und mit denen man umgeht. Vergessen wird die Tatsache, dass man es in den performativen Künsten mit Schauspielern zu tun hat, die ein eigenes Alter haben und die Rollen spielen, die das gleiche oder aber auch ein anderes Alter haben können. Man spricht oft von Altersrollen (aging roles), weil alte Schauspieler alten Figuren Gesicht verleihen. Doch kommt es manchmal zu Verwirrungen. Der erst 51-jährige Walter Matthau spielte in Kotch (dt. Opa kann’s nicht lassen oder alternativ Opa Kotch – Mit Volldampf aus der Sackgasse, US 1971) von Jack Lemmon einen 72-jährigen pensionierten Geschäftsmann, der sich zwar von seinen Kindern zunächst überreden lässt, in ein Apartment in einer Betreutes-Wohnen-Anlage zu ziehen, sich dann aber auf eine Reise quer durch das Land begibt, an deren Ende er nicht nur wieder unabhängig wohnen wird, sondern auch noch eine Freundin gewonnen hat.4 Ist das Alter des Schauspielers wichtig, um der virilen Renitenz des alten Mannes Kontur zu geben? Die gleiche Frage stellt sich aber auch angesichts der 81-jährigen Lina Carstens in der Titelrolle von Bernhard Sinkels Lina Braake oder Die Interessen der Bank 2 | Der deutsche Begriff der ›Altersrolle‹ ist doppelt belegt: zum einen als Bezeichnung der Rolle im Gefüge der Lebenslaufmodelle (also auch der Pubertierende erfüllt eine Altersrolle); zum anderen als Rolle für alte Darsteller (old age role). Ich werde zwischen beiden Bedeutungen wechseln. 3 | Das Konzept des doing age entstammt der Kulturwissenschaft; vgl. etwa Anna Sofia Lundgren: Doing Age. Methodological Reflections on Interviewing, in: Qualitative Research 13 (2013) H. 6, S. 668‑684. Es wurde inzwischen mehrfach in der sozialen Gerontologie adaptiert; vgl. vor allem die Arbeiten von Klaus R. Schroeter (zuletzt: Altersbilder als Körperbilder. Doing Age by Bodyfication, in: Expertisen zum sechsten Altenbericht der Bundesregierung. 1: Individuelle und kulturelle Altersbilder, Wiesbaden 2012, S. 153‑229, eine Arbeit, in der sich Schroeter zu dem traditionellen Bild des vereinsamten und zurückgelassenen Alten im Kontrast zu den viel jüngeren Leitbildern des ›aktiven‹, ›erfolgreichen‹ und ›produktiven Alterns‹ äußert). 4 | Ein ähnlicher Stoff liegt auch Harry and Tonto (US 1974, Regie: Paul Mazursky) zugrunde, der von einem Mann erzählt, der mit seinem Hund sein Zuhause verlässt und eine Reise durch Amerika antritt.

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können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat (D 1975), der zu den ersten Filmen mit renitenten Alten aus den 1970er Jahren gehört: Ist es der Eigensinn, das Beharrungsvermögen und die Schlitzohrigkeit, die sich hinter der so unschuldig wirkenden Betulichkeit des Verhaltens der alten Frau verbergen, dass die Figur so in Kontrast zu den Stereotypen tritt, die Lina Braake zumindest äußerlich anzeigt und die durchaus an die Rollenbiographie Lina Carstens’ anschließt? Für den Schauspieler stellt sich die Aufgabe, seine Rollen ›von innen her‹ zu durchdringen und zu gestalten – und er muss sich dazu nicht nur mit der Geschichte, die erzählt wird, sondern auch mit der Welt der Stereotypen und musterhaften Vorstellungen auseinandersetzen, die im gesellschaftlichen Verkehr umgehen und die den Rahmen der besonderen Rolle ausmachen. Die Konzeption der Rolle erfolgt auf allen Ebenen der Gestaltung: in der Narration, in dem Gefüge der dramatischen und interpersonalen Konflikte, in dem die Figur steht, und schließlich im Schauspiel selbst, das der Körperlichkeit der Figur Gesicht gibt. Nicht jeder Schauspieler kann jede Rolle spielen (zumal nicht jede Altersrolle); und manchmal schiebt sich die Besonderheit eines individuellen Schauspielstils ›über‹ die Figur, macht die Figur zu einer Kopie anderer Figuren, die der Schauspieler schon einmal dargestellt hatte. Idealerweise korrespondieren die Rollenbeschreibungen auf allen genannten Ebenen. Ein Beispiel einer neueren Versammlung von Altersrollen ist Wolfgang Murnbergers TV-Komödie Die Spätzünder (A/D 2010), die von einem ganzen Heim voller Alter erzählt, das von einer rigorosen Anstaltsleitung unter Kontrolle gehalten wird. Gegen die verborgene Entmündigung regt sich immer wieder individueller Widerstand, der sich aber erst zu einem kollektiven Aufstand formiert, als ein erfolgloser Rockmusiker eine Bewährungsstrafe als sozialen Dienst in einem Seniorenheim abdienen muss. Er wirkt wie ein Katalysator, in dessen Folge sich eine Alten-Rockband formiert (»Rocco und die Herzschrittmacher«), die gegen alle Versuche der Heimleiterin mit einem Auftritt des Liedes Life is Life sogar einen öffentlichen Wettbewerb gewinnen kann. Das Besondere des Films ist, dass nicht nur die Widerständigkeit der Alten bereits in der sozialen Konfrontation im Heim angelegt ist, sondern dass die Riege altgedienter (und dem Publikum oft bekannter) Schauspieler Raum bekommt, ihre jeweils besondere Ausprägung von Alt-Sein in die Lebendigkeit des Musikmachens transformieren darf. Es ist dieser Widerspruch, der das Lachen ermöglicht – die aufgezwungene Passivität des Alters und die strikte Vereinzelung der Alten gegen die überspringende, manchmal mit Verzweiflung gemischte Lebensfreude der Akteure beim gemeinsamen Musizieren. Ein Spiel mit Altersbildern und -stereotypen, das ist der hier wichtige Punkt. Und es manifestiert sich in der Geschichte ebenso wie im Spiel der Akteure. Sie adaptieren die Altersbilder und setzen sie zumindest in Teilen außer Kraft. Es gibt eine ganze Reihe neuerer Ensemblefilme, in denen Altengruppen die Biographien aller Beteiligten reflektieren, neu formieren und vielleicht das Leben der Beteiligten an neuen Orten unter veränderten Vorzeichen forterzählen. Ein

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neueres Beispiel ist John Maddens The Best Exotic Marigold Hotel (GB/IND 2011), in dem eine Gruppe von sieben englischen Pensionären aus ganz unterschiedlichen Gründen sich in das Hotel des Titels in Indien einmietet; sie repräsentieren nicht nur eine Spannbreite dramaturgisch relevanter biographischer Krisen der Figuren, sondern auch eine Art Altersstilistik der verschiedenen britischen Klassen. Alle Figuren stehen an einem biographischen Wendepunkt. Am Ende haben sich alle angesichts der Begegnung mit kultureller Fremdheit gewandelt, einige haben ihre Biographie neu geordnet. Die Schauspieler geben der Veränderung von Selbstbildern und -wahrnehmungen auch im Spiel Ausdruck. Der Film antwortet auf die Ausgrenzung und Marginalisierung der Alten in fast allen Industriegesellschaften, ist einer in einer Reihe anderer Filme zum gleichen Themenkomplex. Erwähnt sei Bernd Böhlichs Bis zum Horizont, dann links! (D 2012), in dem ein Altenheimbewohner während eines Rundflugs seine Mitbewohner, eine Krankenschwester und die beiden Piloten entführt, um mit ihnen das Abenteuer eines Mittelmeerurlaubs anzutreten.5 Besonders interessant ist Stéphane Robelins Et si on vivait tous ensemble? (dt. Und wenn wir alle zusammenziehen?, F/D 2012), ein Film über eine Alters-WG, die von einem jungen Ethnologen teilnehmend beobachtet wird, sodass den Alten eine Instanz zur Seite gestellt ist, die es dem Zuschauer erleichtert, die Wohngemeinschaft, die sich selbst zu verwalten sucht, als eigenständiges Soziotop wahrzunehmen, sodass der sich manchmal einstellende Eindruck der Putzigkeit der Figuren gemindert wird. Alle diese Filme sind alterskonform besetzt – und alle geben den Schauspielern die Möglichkeit, gegen Altersstereotypen anzuspielen und andere Dimensionen des Altenverhaltens und der Altenpersönlichkeit zu artikulieren. Es mag die Nähe von Akteuren und Rollen sein, die den Filmen eine eigene Vitalität und einen eigenen Realismus verleiht, spielen die Schauspieler sich doch zumindest ansatzweise selbst. Manchmal wird die alte Figur semantisch aufgeladen, wenn ihre Geschichte in Rückblenden erzählt wird. Oft spielt ein anderer Schauspieler die Jugend-Rol5 | Der Film greift das Motiv der zeitbefristeten Aufstände unterdrückter Lebensgemeinschaften auf, die sich zumindest kurzfristig der Kontrolle der Aufsichtsinstanzen entziehen und so – auf einer Insel in der Alltagszeit – Selbstbestimmung, Abenteuer und Spaß neu gewinnen. Der Untergrund des Motivs ist politischer Natur: Es geht um die Gegenwehr gegen repressive Institutionen und die dort oft vollzogene Entmündigung der Figuren. Das wohl bekannteste Beispiel ist Miloš Formans One Flew Over the Cuckoo’s Nest (dt. Einer flog übers Kuckucksnest, US 1975). Einen anderen Ansatz verfolgt Wir sind die Neuen (D 2014, Regie: Ralf Westhoff): Hier ziehen drei Alte, die einmal in einer Studenten-WG zusammengelebt hatten, erneut als WG zusammen – aus Gründen der Altersarmut. Das Thema der Alters-WG wurde bereits in dem TV-Spielfilm Ein Tisch zu viert (D 1977, Regie: Maria Fuss) durchdekliniert, wobei ein ähnliches Experiment zur gleichen Zeit vom Berliner Sozialwerk erprobt wurde (vgl. Fernsehprogramm für Dienstag, 9.8.1977, in: Der Spiegel (8. August 1977) H. 33, S. 127).

Doing age auf den Bühnen des Films

len. Ein sehr bekanntes und berührendes Beispiel ist Jon Avnets Fried Green Tomatoes (dt. Grüne Tomaten, US 1991). Die 82-jährige Jessica Tandy spielt hier die im Altersheim lebende Ninny Threadgoode, die im Verlauf des Films die Lebensgeschichte der Idgie Threadgoode aus den 1920ern und 1930ern erzählt – es ist ihre eigene Geschichte, wie sich erst am Ende herausstellt. Idgie wird gespielt von der damals 25-jährigen Mary Stuart Masterson. Ihre Energie, ihr Selbstbewusstsein und ihre immer spürbare Bereitschaft, sich für Opfer zu engagieren, schlagen auf die Wahrnehmung der alten Frau durch, die so immer mehr charakterliche Tiefe bekommt (und schließlich zum Vorbild für andere werden kann). Die Figur wird nicht nur aus dem Doppel von Schauspieler und Rolle synthetisiert, sondern in Gestalt einer zweiten Schauspielerin in lebensgeschichtliche Tiefe erweitert; sie bekommt biographische Kontinuität, die in der Flashback-Architektur das Alters-Bestimmungselement ›Erinnerung‹ (life review) in den Film integriert. Die Rollen beider Frauen sind je für sich dicht und kompakt und werden dazu noch amalgamiert, zu einer Einheit zusammengeführt, die eine allein wohl nicht hätte darstellen können. Und doch sind sie koordiniert, münden ineinander ein – eine schauspielerische Leistung, die eigene Aufmerksamkeit verdiente.

A us jung mach alt, aus alt mach jung ? Man sieht den Akteuren das Alter an. Darum auch können junge Schauspieler so schlecht die Rollen von Alten spielen – man sieht ihnen die Maskerade unwillkürlich an, sodass die Deckungssynthese von Schauspieler und Figur, die der Zuschauer erbringen muss, so schlecht gelingt. Immer muss die körperliche Erscheinung an das Figurenalter angepasst werden. Schon Kinder wissen, wie man die Alten zu spielen hat – mit verlangsamten Bewegungen, gebeugtem Nacken, vielleicht einem Stock in der Hand. Als der damals 65-jährige Walter Huston in dem Film The Treasure of the Sierra Madre (dt. Der Schatz der Sierra Madre, US 1948) von John Huston die Rolle des alten Goldsuchers Howard spielen sollte, musste er sein Gebiss aus dem Mund nehmen und sich einen stoppeligen Bart wachsen lassen, um die Figur auch äußerlich angemessen zu repräsentieren.6 Altersdarstellung ist auch gebunden an ein ganzes Lexikon von Altersindikatoren, von der körperlichen Erscheinung bis zu den Attributen, die mit der Kleidung angezeigt werden. Vor allem wenn junge Schauspieler auch die Figuren im Alter spielen sollen, werden sie maskiert – und dann kommt es unter Umständen zu Irritationen der Figurenwahrnehmung, weil die Maske zwar äußerlich gelingt, aber oft genug übertrieben wirkt und vor allem durch die Bewegungsmuster der Figuren nicht ausreichend unterstützt wird (die wiederum so stereotyp ausgeführt 6 | Vgl. Patrick McKee, Jennifer McLerran: The Old Prospector. The Treasure of the Sierra Madre as Exemplar of Old Age in Popular Film, in: The International Journal of Aging and Human Development 40 (1995) H. 1, S. 1-8.

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werden, dass man das Spielen der Altersfigur ›sehen‹ kann). Ein bis zur Groteske getriebenes Beispiel offeriert der damals 40-jährige Orson Welles, der in seinem Film Mr. Arkadin (dt. Herr Satan persönlich!, US 1955) die Titelrolle spielt – und dabei in einer dämonischen Maske inszeniert wird, die an die Übersignifikanz der Wachsfigurenkabinette erinnert und zudem die Spannkraft seines viel jüngeren Körpers nie verbirgt. Manchmal ist der Effekt der Altersmaske aber in Hinsicht auf die Konstruktion einer Figurenkontinuität über die Altersstufen hinweg verblüffend. In Arthur Penns Little Big Man (US 1970) spielt der damals 33-jährige Dustin Hoffman den Erzähler – es ist der inzwischen 121 Jahre alte Titelheld, bettlägerig, aber bei wachem Verstand. Der Effekt ist schlagend, weil der Zuschauer erst nach und nach erkennt, dass das Ich der Erzählung auf beiden Zeitstufen vom gleichen Schauspieler verkörpert wird. Große Aufmerksamkeit verdient auch die Altersmaske im Film Hundraåringen som klev ut genom fönstret och försvann (dt. Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand, S 2013) von Felix Herngren, in dem der 49-jährige Robert Gustafsson die Titelrolle eines Sprengstoffliebhabers spielt, der aus dem Altersheim flieht und am Ende mit seinen neu gewonnenen Freunden an einem einsamen Strand auf Bali landet; mehrere Rückblenden, in denen Gustafsson in seinem tatsächlichen Alter auftritt, zeigen, dass er mit fast allen wichtigen Figuren der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts zu tun gehabt hat. Zwar nutzt Gustafsson zahlreiche nichtverbale Indikatoren des alten Körpers, um die Titelrolle zu spielen, doch schimmert der viel jüngere Schauspielerkörper auch hier durch die Figuren-Performance durch, verleiht ihr eine Körperspannung, die für das Einfinden der Figur in die abenteuerlichen und auch körperlich anstrengenden Verwicklungen, in die sie unwillentlich gerät, gerade in der Geschichte des Hundertjährigen äußerst wichtig ist. Wie authentisch kann man einen jungen Schauspieler zum alten umschminken? Manchmal misslingt es. In Mike Newells Love in the Time of Cholera (dt. Die Liebe in den Zeiten der Cholera, US 2007) spielen Javier Bardem und Giovanna Mezzogiorno ein Paar, dessen Vereinigung der Vater der Frau verhindert hatte und das erst 51 Jahre später auf einem von Cholera befallenen Schiff zur Vereinigung kommt – auf der Reise in den Tod; vor allem die Maske Giovanna Mezzogiornos kann nie das tatsächliche Alter der 33-jährigen Schauspielerin verbergen; die Illusion wird so gebrochen, die Figur durch eine Maske ersetzt, das Spiel als Spiel erkenntlich. Der junge Schauspieler kann das körperliche Alter der Figur bis zur Perfektion nachahmen (Bardems Spiel in dem gerade genannten Film ist ein lebendiges Beispiel dafür). Der Alte aber kann die körperliche Fitness eines jungen Akteurs dagegen nicht oder nur schwer imitieren. Manchmal machen alte Schauspieler daraus ein Spiel, thematisieren das eigene Alter, vielleicht sogar ihre Rollenbiographien. In Patrice Lecontes Une chance sur deux (dt. Alle meine Väter, F 1997) macht sich eine junge notorische Autodiebin auf die Suche nach ihrem nie gesehenen Vater – und stößt gleich auf zwei Kandidaten, gespielt von Alain Delon

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(damals 62) und Jean-Paul Belmondo (63); beide Väter in spe buhlen um die Gunst der Tochter und geraten in Situationen, die eher dem Action-Genre zugehören. Einmal muss sich der eine vom Hubschrauber in das vom anderen gelenkte Cabrio unter ihm abseilen und wendet sich kurz zur Kamera: »Ich hatte geschworen, das nie wieder zu machen!« (TC: 01:35:44) Von beiden Schauspielern ist bekannt, dass sie ihre Stuntszenen stets selbst gespielt hatten (wie auch in Lecontes Film). Das Spiel und die erwähnte Wendung zum Zuschauer machen deutlich, dass der Film mit dem Wissen der Zusehenden ebenso spielt wie mit dem Alter der Schauspieler. Hier sprechen die Schauspieler. Wenn eine Figur in ihrem Text beklagt, schon so alt zu sein, oder bedauernd resigniert: ›Wenn ich dreißig Jahre jünger wäre...‹, dann spricht die Figur. Schauspieler haben ihr Alter ebenso wie Figuren. Kann man Schauspieler im ›falschen Alter‹ als Figuren eines anderen auftreten lassen? Ist es möglich, dass Romeo und Julia von alten Akteuren gespielt wird? Erinnert sei an die Aufmerksamkeit, als Franco Zeffirelli in seinem Romeo and Juliet (I/GB 1968) die Titelrollen von dem damals 18-jährigen Leonard Whiting und der 15-jährigen Olivia Hussey spielen ließ (damit durchaus der Altersvorstellung des ShakespeareStücks nahekommend). Die Verfilmung des Stoffes von George Cukor (US 1938) mit dem damals 45-jährigen Leslie Howard und der 35-jährigen Norma Shearer funktioniert, muss aber auf ganz andere Affektregister und Figurenkonstruktionen zurückgreifen, die sich weit von dem pubertären Ungestüm der ZeffirelliAdaption entfernen und der musikalisch ausgedrückten Wildheit des Paares in Gucha! (SER/BUL/A/D 2006) von Dusan Milic nicht annähernd nahekommen – die Rollen wurden gespielt von Marko Marković (18) und der famosen Aleksandra Manasijević (16). Die Geschichte von Romeo und Julia ist ungemein stabil, funktioniert in verschiedenen historischen Settings wie auch in verschiedenen kulturellen Kontexten; doch die Figuren müssen an das Lebensalter der Schauspieler adaptiert werden, verändern dabei ihre Charakteristik fundamental. Doch lässt sich eine derartige Transformation von Jugend- in Altersrollen auch umdrehen? Könnte ein Jugendlicher den King Lear spielen? Manchmal werden Altersrollen falsch besetzt, was in der Komödie schon einen Lachanlass in sich selbst bietet. Wenn sich Susan Applegate (gespielt von Ginger Rogers) in Billy Wilders The Major and the Minor (dt. Der Major und das Mädchen, US 1942) als 12-jähriges Kind ausgibt und als Kind-Mädchen in eine Kadettenanstalt aufgenommen wird, obwohl die ausgereifte Weiblichkeit klar erkennbar ist (Rogers war damals 31), dann steht alles – das Kindlichkeitsgetue, die Kleidung, die Blindheit der anderen im Umgang mit dem falschen Kind – auf Kriegsfuß mit dem vorgeblichen Alter. Und dass sich der damals 37-jährige Ray Milland in der Rolle des Majors in eine 25 Jahre jüngere Kindfrau verlieben soll, ist eine Alters-Mésalliance, die durch das erkennbare tatsächliche Alter der Frau gleich wieder konterkariert wird und dem Geschehen einen umso groteskeren Anstrich verleiht. Das Alter der Schauspieler lässt sich nicht verheimlichen, kann höchstens in Konflikt

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mit dem Figurenalter geraten und für den Zuschauer in Lachen oder skeptische Distanz münden. Umkehrbar ist das Verhältnis nicht.7

D ie A t tr ak tivität der A ltersfiguren oder : D as A ltern des K örpers Es ist vielfach festgestellt worden, dass es vor allem in der Hollywood-Industrie um Altersrollen für Schauspielerinnen schlecht bestellt ist. Doris G. Bazzini und ihre Mitarbeiter stellten ein repräsentatives Korpus von 100 Filmen mit Altersrollen zusammen, seit den 1940ern fünf Dekaden übergreifend, jeweils mit 20 Filmen vertreten.8 Sie untersuchten 829 Figuren, die jeweils hinsichtlich Attraktivität, Tugendhaftigkeit und Gutherzigkeit, Intelligenz, Freundlichkeit, Schichtzugehörigkeit und sexuell-romantischer Aktivität beurteilt wurden; außerdem wurden die Filmschlüsse in die Untersuchung einbezogen. Das Ergebnis bestätigt die Annahme, dass weibliche Altersrollen deutlich unterrepräsentiert sind und dass sie deutlich negativer gezeichnet werden als die entsprechenden männlichen Altersrollen. Offensichtlich propagieren die Filme ein verdecktes Schönheitsideal, das nicht nur die Unattraktivität des alternden weiblichen Körpers behauptet, sondern sie auch mit einer negativen Entwicklung der Charaktereigenschaften verbindet. Chris Holmlund zeigte für die Zeit nach 2000, dass nicht nur die weiblichen Rollen über 40 rar gesät, sondern auch Schwarze und Asiaten dramatisch unterrepräsentiert sind.9 7 | Natürlich gibt es Beispiele, dass Altersdifferenzen aufgehen und nicht zum Rezeptionsthema werden: In Carrie (dt. Carrie ‑ Des Satans jüngste Tochter, US 1976, Regie: Brian De Palma) spielte Sissy Spacek (27) die 18-jährige Titelheldin. Die 34-jährige Stockard Channing war in dem Disco-Film Grease (US 1978, Regie: Randal Kleiser) die 17-jährige Rizzo. Steve McQueen (28) wurde in The Blob (dt. Blob –Schrecken ohne Namen, US 1958, Regie: Irvin S. Yeaworth Jr.) zu einem 16-Jährigen. Und Ben Stiller (33) wurde erst mit einer Zahnspange zu einer glaubhaften Verkörperung eines 18-Jährigen (in There’s Something About Mary, dt. Verrückt nach Mary, US 1998, Regie: Bobby und Peter Farrelly). Doch bleiben dies Ausnahmen. Erinnert sei auch an kuriose Altersverwirrungen: In Alfred Hitchcocks North by Northwest (dt. Der unsichtbare Dritte, US 1959) spielte Cary Grant (55) die männliche Hauptrolle; seine Filmmutter wurde von der nur acht Jahre älteren Jessie Royce Landis dargestellt – was nur funktionieren konnte, weil Grant jünger und Landis älter wirkte. 8 | Vgl. Doris G. Bazzini u.a.: The Aging Woman in Popular Film: Underrepresented, Unattractive, Unfriendly, and Unintelligent, in: Sex Roles. A Journal of Research 36 (1997) H. 7-8, S. 531-543. 9 | Vgl. Chris Holmlund: Celebrity, Ageing and Jackie Chan. Middle‑Aged Asian in Transnational Action, in: Celebrity Studies 1 (2010) H. 1, S. 96‑112. Vgl. dazu auch die Analyse von Markson und Taylor, die in der Zeit von 1929-95 mehr als 3.000 Filme identifizierten, in denen Schauspieler auftraten, die mindestens einmal für den Oscar nominiert waren und

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Waren noch die Rollen von Bette Davis (79) und Lillian Gish (94) in Lindsay Andersons Whales in August (dt. Wale im August, US 1987) oder von Katherine Hepburn (74) in Mark Rydells On Golden Pond (dt. Am goldenen See, US 1981) – beide Filme sind melancholische Abschiedsdramen – eher als Hommagen an Schauspielerinnen zu verstehen, die als Ikonen der Weiblichkeit Filmgeschichte geschrieben haben, hat sich die heutige Situation grundlegend gewandelt: Immer wieder treten ältere oder sogar sehr alte Schauspielerinnen in tragenden Rollen auf. Ein neueres Beispiel ist Monika Bleibtreu, die z.B. in Chris Kraus’ Vier Minuten (D 2006) eine ältere Klavierlehrerin spielt (sie selbst war 62), die zusammen mit einer rebellischen jungen Musikerin ihre eigene Geschichte als Frau durcharbeitet. Erni Mangold (87) wurde für ihre Rolle als Alzheimer-Patientin in Der letzte Tanz (A 2014) von Houchang Allahyari mehrfach ausgezeichnet; sie spielt hier eine alte Frau, die durch die auch sexuell artikulierte Beziehung zu einem jungen Pfleger aufzublühen scheint. Neben Jessica Tandy ist Judy Dench der international wohl bekannteste weibliche Altersstar. Sie spielte z.B. im Alter von 79 in Stephen Frears’ Film Philomena (GB 2013) die Rolle der pensionierten Krankenschwester, der in der Jugend von irischen Nonnen der erstgeborene Sohn weggenommen und zur Adoption (in die USA) freigegeben worden war. An seinem 50. Geburtstag beginnt sie als alte Frau die Suche nach ihrem Sohn, der in Amerika Karriere gemacht hat, aber bereits an AIDS gestorben ist, als sie seine Lebensspuren endlich findet. Berührend wirkt hier die Selbstüberwindung und die Alterswürde, mit der Philomena es sich abgewinnt, den Nonnen, die sie beraubt, betrogen und ein Leben lang belogen haben, zu verzeihen. Denchs Rolle

die zum Zeitpunkt der Filme 60 oder älter waren. Die Inhaltsanalyse der Rollen ergab, dass die männlichen Rollen energiegeladener waren, dass sie ihren Beruf ausübten und dass sie in Netzen männlicher Freundschaften lebten (gleichgültig, ob sie Helden oder Schurken waren); Frauen dagegen waren viel weniger in die Handlung einbezogen, waren oft reiche Witwen, Mütter oder einsame Jungfern. Obwohl sich die reale Situation Älterer in der USGesellschaft seit den 1930ern massiv verändert hat, verblieben die Filmrollen in erstaunlichem Maße in den Stereotypen, die bereits zu Beginn der Tonfilmära ausgeprägt waren: Die männlichen Muster verhüllten die zunehmende Inaktivität und die physischen Veränderungen, während die weiblichen deutlich darauf hinwiesen. Vgl. Elizabeth W. Markson, Carol A. Taylor: The mirror has two faces, in: Ageing and Society 20 (März 2000) H. 2, S. 137-160. Natürlich muss man die Aussage der Studie skeptisch kommentieren, weil man die Stabilität der Alters-Rollenbilder über einen so langen Zeitraum hinweg durchaus in Zweifel ziehen kann. Allerdings hat sich die Missachtung der Hollywood-Industrie im Lauf der Jahre verändert. Als 1982 Henry Fonda (76), Katherine Hepburn (72), John Gielgud (77) und Maureen Stapleton (56) mit Oscars ausgezeichnet wurden, setzte die Akademie ein klares Zeichen, das auch auf die zunehmende Anzahl der Altersrollen hindeutete. Vgl. dazu Mildred V. Allyn: The State of the Art. Something Old, Something New, in: The Gerontologist 23 (1983) H. 6, S. 664‑666.

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wird nicht als hässliche und ekelerregende oder unerträglich dominante, sondern als moralisch integre, ja vorbildliche Figur ausgelegt. Dass vor allem ältere Schauspieler in der Filmindustrie nur noch in zweitklassigen Filmen agieren können, dass ihre Rollen als Alterskitsch ausgelegt sind und die Images, die sie in die Besetzung mitbringen, schamlos ausgebeutet werden, ist trotz der erklecklichen Menge von Ausnahmen vielfach beklagt worden. Die oft subjektive, manchmal geschmäcklerische (und dennoch nützliche) Übersicht Dompkes10 zeigt an einer Fülle von Beispielen, insbesondere aus der amerikanischen Filmindustrie seit den 1950er Jahren, wie alte Schauspieler unter der Bedingung des Produktionssystems dazu gezwungen sind, sich dessen inhaltlichen und wirkungsästhetischen Stereotypisierungen zu unterwerfen. Allerdings ist – wie schon gesagt – das System in Bewegung gekommen. Inge Kirsner macht etwa darauf aufmerksam, dass sich die Auftritte älterer Schauspielerinnen dahin gehend verändert hätten, dass sie in den 1990er und 2000er Jahren viel offensiver mit ihrer Körperlichkeit und sexuellen Attraktivität umgehen als noch wenige Jahrzehnte zuvor – sie verweist explizit auf Cathérine Deneuve (geb. 1943) und Susan Sarandon (geb. 1946).11 Themenfelder wie Alzheimer und Demenz taten ein Übriges, höchst komplexe Altersrollen zu konzipieren und filmisch-erzählerisch auszuarbeiten. Die reine Statistik der Altersrollen vermag aber nur einen Hinweis zu geben auf die Personnage der Figuren des Spiels, nicht auf die Umgangsweisen mit dem Altern von Figuren und Schauspielern.12 Und das muss den Blick auf andere Einflüsse, auf die Auswahl und Ausgestaltung von Altersmodellen verstellen. Immerhin hat Cohen-Shalev das Alter des Regisseurs, der eigene Alterungserfahrungen hat oder nicht, als eine weitere zentrale Instanz der Modellierung des Alter(n)s aufzuzeigen versucht: Er zeigte am Beispiel Ingmar Bergmans, dass dessen Film 10 | Vgl. Christoph Dompke: Alte Frauen in schlechten Filmen. Vom Ende großer Filmkarrieren, Hamburg 2012. 11 | Vgl. Inge Kirsner: Im Spiegel ein fremdes Bild. Gedanken zum Alter(n) im Film, in: Carmen Rivuzumwami, Stefanie Schäfer-Bossert (Hg.): Aufbruch ins Alter. Ein Lese-, Denkund Praxisbuch, Stuttgart 2008, S. 26-32, hier S. 29f. 12 | Mit den Befunden der Inhaltsanalysen korrespondieren auch die Selbstwahrnehmungen von Schauspielern. Lincoln und Allen stellten fest, dass insbesondere Darstellerinnen sich über das abnehmende Rollenangebot im Alter beklagten, aber auch über den Schwund an Popularität (star presence). Allerdings habe die Anzahl der Rollen in der Zeit von 1926 bis 1999 zugenommen; das Zurückgehen der öffentlichen Präsenz sei aber weiterhin zu beobachten. Vgl. Anne E. Lincoln, Michael Patrick Allen: Double Jeopardy in Hollywood. Age and Gender in the Careers of Film Actors, 1926-1999, in: Sociological Forum 19 (Dezember 2004) H. 4, S. 611-631, hier S. 626; dazu außerdem auch Apostolos Poulios: Aging Actresses/Actors in Greece: »Let’s (Not) Talk about Age«, in: Aag je Swinnen, John A. Stotesbury (Hg.): Aging, Performance, and Stardom. Doing Age on the Stage of Consumerist Culture, Wien u.a. 2012, S. 131-159.

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Smultronstället (dt. Wilde Erdbeeren, S 1957) nicht etwa eine authentische und allgemein verbreitete Alterskonzeption entfaltet, sondern die Altersphantasie eines 38-jährigen Regisseurs, der es als wichtigste Aufgabe des alten Menschen ansieht, das eigene Leben zu resümieren, um so zu einem integrierten und sinnhaften Tod zu gelangen.13 Ähnlich wie Regisseure wären auch Drehbuchautoren als ›Altersbildner‹ in Betracht zu ziehen.

I n - seinem -K örper -S ein Doch will ich mich hier ganz auf den Schauspieler konzentrieren, der das Figurenalter am Ende mit seinem Spiel realisieren muss. Es sind fast ausschließlich alte Schauspieler, die Altersrollen spielen, eine Tatsache, die rezeptionsästhetisch von größtem Belang ist. Sally Chivers nennt ihre Überlegungen zu den Altersrollen Silvering Screen (Die alternde Leinwand) und hält die Beobachtung fest, dass die Darstellung des Alters nicht etwa mit dem Tod assoziiert wird, sondern mit Modellen eines ›alten Lebens‹, das weitestgehend frei ist von den altersnahen Themen der Krankheit, der Verwirrung und des körperlichen Verfalls; sie bringt das mit der (impliziten und unbewussten) Hoffnung des Zuschauers zusammen, »that one expects an old person to die and ought to merely celebrate a long life well lived along with a ›blessed release‹ from suffering«. Und sie fährt fort: »On the silvering screen, not only are the older characters in danger of being closer to death than the younger ones, but so too are the actors who play the parts.«14 Dem Spiel alter Akteure in Altersrollen ist so eine meta- oder tiefendramaturgische Komponente beigegeben, die bereits das Alter der Schauspieler in ein affektives Gewebe von Hoffnungen einfasst, das letztlich im Lebensentwurf von Zuschauern verankert ist. Tatsächlich steht hier das Doppel von Akteur und Rolle viel mehr im Zentrum, als man es zunächst vermuten würde: Es bildet eine Bühne, auf der das Altern selbst thematisch wird. Wollte man die These weit fassen, ist Altern eine Kategorie der Selbst- und Fremdwahrnehmung, die im Schauspiel außerordentlich oft thematisch wird, ohne den Weg in die Dialoge zu finden, sondern der Figurenwahrnehmung selbst innewohnt. In der Figurentheorie wird oft der Schauspielerkörper (the star’s body) vom Körper der Figur ( filmic body) unterschieden.15 Das 13 | Vgl. Amir Cohen-Shalev: The Effect of Aging in Dramatic Realization of Old Age. The Example of Ingmar Bergman, in: The Gerontologist 32 (Dezember 1992) H. 6, S. 739-744; ders.: Visions of aging. Images of the elderly in film, Brighton 2009, S. 18-20. 14 | Sally Chivers: The Silvering Screen. Old Age and Disability in Cinema, Toronto 2011, S. 140. 15 | Vgl. Ana Salzberg: »The Spirit Never Really Ages«. Materiality and Transcendence in Three Rita Hayworth Films, in: Swinnen, Stotesbury (Hg.): Aging, Performance, and Stardom, S. 77-91, hier S. 78f.

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Schauspiel ist auch eine Vermittlung zwischen den vergangenen filmischen Körperbildern und der tatsächlichen Körperlichkeit des Schauspielers. Salzberg zeigt an drei Rollen, die Rita Hayworth 15 Jahre nach dem Höhepunkt ihrer Karriere in den 1940er Jahren gespielt hat, dass gerade diese Rollen, »directly engage with her legendary filmic past even as they capture her personal transformation from youth to maturity«; Hayworth »continues to incarnate the energy of the film’s body in an immediate and un-self-conscious photogenic impact«16 – sie hält an der inneren Verfassung ihres Schauspiels fest und signalisiert zugleich das Älterwerden des Schauspielerkörpers. In genau dieser Differenz bzw. Doppelung der Darstellung erweist sie sich nicht »as a static object but as a living ideal«.17 Ein Szenario, in dem die Begegnung des Schauspieler- und des Figurenkörpers greif bar wird, ist die Szene vor dem Spiegel, in der die Figuren den eigenen Körper vor dem Spiegel in Augenschein nehmen, sich seiner Attraktivität, aber auch seiner Alterungsanzeichen versichernd. In Terms of Endearment (dt. Zeit der Zärtlichkeit, US 1983) von James L. Brooks sind die beiden Mittfünfziger Aurora Greenway (Shirley MacLaine, 49) und Garrett Breedlove (Jack Nicholson, 46) zum ersten Rendezvous verabredet; beide kontrollieren die Erscheinung des entblößten Körpers vor dem Spiegel, wenden sich zufrieden ab und brechen auf. Sie sind ›in ihrem Körper‹, haben die Veränderungen ebenso wie die Differenz zum idealisierten Jugendbild des Körpers akzeptiert. Die Szene thematisiert eine latente Differenz des Selbstbildes angesichts der voranschreitenden Lebenszeit. Im Spiegel begegnet das Ich sich selbst, sieht es mit eigenen und fremden Augen gleichzeitig. Aber die Szene ist auch an den Zuschauer gerichtet – das Schauspiel bleibt ein acting-to-be-looked-at: Die Selbstbegegnung im Spiegel hat einen Zeugen im Zuschauersessel, der empathisch in die narzisstische Selbstinteraktion eindringt und in diesem Prozess das Altern reflektieren muss. Ein anderes Szenario, das Alterung sinnfällig macht, ist die Begegnung von Schauspieler-Figuren mit älteren Filmen, in denen sie gespielt hatten, oder Fotografien aus der Jugend. Schon in Billy Wilders Sunset Boulevard (dt. Boulevard der Dämmerung, US 1950) betrachtete die inzwischen vergessene Schauspielerin einen Film aus ihrer Glanzzeit – die beiden Körper begegnen einander, weil die filmische Darstellung die vergangene Körperlichkeit auf bewahren kann. Und die alternde Aktrice erneuert ihr Selbstbild des star body, akzeptiert das eigene Alter nicht, sondern wähnt sich weiter in dem so glamourös inszenierten Bild des Stummfilmstars – damit die Tragödie am Ende bereits vorbereitend. Ein viel selbstgenügsameres und narrativ viel weniger eingebundenes Beispiel ist die berühmte Brunnenszene am Fontana di Trevi aus Fellinis La dolce vita (dt. Das süße Leben, I 1961) die in Intervista (dt. Fellinis Intervista, I 1987) erneut aufscheint: Der Film läuft vor den anderen Gästen des Fests auf einer Leinwand, hinter der Anita Ekberg und Marcello Mastroianni zu einem Slowfox Nino Rotas aus La dolce vita 16 | Ebd., S. 79. 17 | Ebd., S. 79; Hervorhebung im Original.

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zunächst den Tanz als Schattenspiel auf der Leinwand wiederholt hatten. Beide hatten in Das süße Leben die Hauptrollen gespielt; die beiden begegnen einander nun in der diegetischen Welt ebenso wieder wie als Figuren auf der Leinwand. Ekberg war 30, als Das süße Leben entstand, Mastroianni 37; beide sind seitdem 26 Jahre älter geworden. Die Szene ist tief melancholisch, weil sie die Altersdifferenz von früheren (jungen) und jetzigen (alten) Figuren ausstellt und in der versunkenen Zärtlichkeit der Begegnung der beiden alten Schauspieler die Kollision der Lebensalter mit einer vergangenen eigenen Körperlichkeit kommentiert. Vertiefend kommt hinzu, dass Intervista als Dokumentarfilm konzipiert ist und Ekberg und Mastroianni sich selbst spielen. Die Ebenen verwirren sich weiter, als dränge sich die Zeit selbst auf die Leinwand. Altersrelevante Implikationen für die Figurenzeichnung eröffnen auch manche Voyeur-Szenarien, weil sie einen Blick auf den resignierten Umgang der Figuren mit eigener sexueller Begierde eröffnen. Ein Beispiel ist Patrice Lecontes Monsieur Hire (dt. Die Verlobung des Monsieur Hire, F 1989), in dem der erst 37-jährige Michel Blanc einen viel älter wirkenden Mann spielt, der zu den sehnsuchtsvollen Klängen eines Klavierquintetts von Brahms heimlich seine Nachbarin beobachtet – am Beginn eines Spiels, bei dem die junge Frau ihn immer tiefer in ein Verbrechen hineinzieht; am Ende wird Hire auf der Flucht umkommen. Ein ähnliches Szenario entwirft bereits Louis Malles Atlantic City, USA (CDN/F 1979): Ein älterer Mann (Burt Lancaster, 67) beobachtet eine junge Fischverkäuferin (Susan Sarandon), die sich abends am Fenster gegenüber mit Zitronensaft vom Fischgeruch zu befreien sucht. Wie in Monsieur Hire ist der Hinweis auf das resignative Verhältnis zur eigenen Sexualität deutlich ausgestellt. »Ausscheiden aus dem Liebesspiel [...] bedeutet Vitalitätsverlust, ist ein Todesurteil«,18 schreibt Nike Wagner einmal – und genau darum geht es in vielen dieser Geschichten: Im Blick der anderen wahrgenommen zu werden als ein Wesen, das die Sexualität hinter sich gelassen hat, das an seinem Körper die Zeichen des Alters, des Verfalls, der Zerstörung trägt, ist für den, der diesen Blick spürt oder imaginiert, ein klarer Hinweis darauf, dass er das Zentrum der Vitalität verloren hat, dass der Lebenslauf in eine neue Phase eingetreten ist, an deren Ende der Tod steht. Konsequenterweise ist das Thema der sexuellen Aktivität älterer Männer manchmal als tragikomische Satire ausgeführt. In Solitary Man (dt. Solitary Man – Herzensbrecher a.D., US 2009) von Brian Koppelman und David Levien spielte Michael Douglas (damals 65) einen Autohändler, der wie ein ›Sexmaniac‹ immer neue junge Frauen zum Beischlaf gewinnt, der allerdings gleich mehrfach aus seiner Rolle als erfolgreicher Mann der Mittelklasse herausgestoßen wird: Bankrott, Arbeitslosigkeit, Herzkrankheit. Er ist nach eigenem Bekunden nicht mit dem Altern einverstanden, will den Rückgang der Fitness nicht akzeptieren, 18 | Nike Wagner: Hofmannsthals Marschallin und Schnitzlers Casanova. Zur Inszenierung des Alterns, in: Josef Früchtl, Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt 2001, S. 276-295, hier S. 277.

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verweigert konsequent die genaue Therapie seiner Herzbeschwerden. Der Film endet auf einer Parkbank, auf der ihm seine erste Frau (Susan Sarandon, damals 63) angeboten hatte, mit ihm zusammen alt werden zu wollen; als aber eine junge Frau vor der Bank herläuft, bleibt der Held stehen – soll er nach links zum Auto mit seiner Ex-Frau gehen oder nach rechts, der Jungen hinterher? Genau mit diesem Bild des unentschiedenen Mannes endet der Film. Eines macht der Film klar: dass sich Altern auch als Transition manifestiert, indem die Wahrnehmung der eigenen sexuellen Attraktivität und Aktivität sich massiv verändert.

H istorische Tiefe von R ollen und S chauspielern Plastische Chirurgie muss heute helfen, körperliche Jugendlichkeit zu bewahren.19 Körperliche Jugendlichkeit im Verhalten und Idealisierung des Jugendkörpers insbesondere von Schauspielerinnen bilden einen eigenen Marktwert und beugen der Armut an Altersrollen in und nach dem Klimakterium vor. Ein Ausweg ist die Transformation der Frauenrolle in eine Mutterrolle oder das Erreichen von Altersweisheit20 – dann steht die Wahrnehmung der Altersfiguren in einem anderen Netz von Interpretationskategorien, dem weiblichen Körper wird seine sexuell-attraktive Komponente entzogen. Die Darstellung von Stoddard zeigt, wie im populären Kino die Standardvorstellung der älteren Frau als Mutter, die noch in den Filmen bis 1945 vorgeherrscht hatte, durch andere dominante Konzeptionen abgelöst wurde – durch die Vorstellung der ›Mom‹, die anderen bei der Lösung von Problemen half, der Frau, die das Älterwerden als Lebenskrise erfährt (primär in den 1950er Jahren), als ›Hexe‹ inmitten eines Spinnengewebes von biographischen Fäden, mit denen sie ihre Umwelt zu kontrollieren sucht. Stoddard geht davon aus, dass populäre Filme den Horizont der Wissenshorizonte von zeitgenössischen Zuschauern reflektieren, dass sich z.B. die Überlegungen aus der Psychologie zu den Mutter-Kind-Beziehungen aus den 1950er Jahren in das kollektive Wissen hinein verlängert haben, sodass die bis dahin geltende Vorstellung der Mutter als weiblicher (Mittel-)Altersrolle als ausschließlich sorgende und liebende Figur durch diejenige der erstickenden und kastrierenden Mutter überlagert wurde21 und aus der Sorge-Beziehung ein parasitäres und neurotisches Beziehungsverhältnis wurde, das die Figur vollständig neu als soziales Wesen konstituierte. 19 | Vgl. Thomas Küpper: Filmreif. Das Alter in Kino und Fernsehen, Berlin 2010, S. 7276; Karen M. Stoddard: Saints and Shrews. Women and Aging in American Popular Film, Westport, Conn. 1983, S. 5. 20 | Vgl. Christine Noll Brinckmann: Was ist fiktionswürdig? Gedanken zum Klimakterium im Hollywoodfilm und zu Yvonne Rainers Privilege, in: Frauen und Film (Juni 1991) H. 5051, S. 72-82, hier S. 73. 21 | Vgl. Stoddard: Saints and Shrews, S. 13.

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Modellhafte Vorstellungen der Altersrollen verändern sich also mit den Zeiten, ohne dass dabei ältere Rollenmodelle ganz verschwänden – es gehört zur Praxis populären Kulturschaffens, dass heterogene und sozusagen ›verschiedenzeitige‹ Rollen gleichermaßen präsent bleiben. Vor allem vermittelt durch die Schauspieler tragen Altersrollen immer auch Historisches an sich – die zurückliegenden Images der Darsteller und der Figurentypen, mit denen sie assoziiert sind, Kleidungsstile, die ihre modische Aktualität verloren haben, sogar die Einrichtungen, die auf vergangenen Chic verweisen können. Jodi Brooks spricht sogar von ›vorübergehenden Tyranneien‹ (transitory tyrants), die ihrerseits auch im Alter der Akteure repräsentiert sind.22 Altersrollen signalisieren die Phasen des Modischen, der Zeitstile und der historischen Bedeutungen von Objekten, Kleidungs- und Einrichtungsstilen. Auch für den Zuschauer ist eine museale Ebene der inszenierten Lebenswelt der Figuren des Spiels gegeben. Manchmal halten alte Figuren an ihrer Selbstinszenierung fest, auch wenn sie dabei offensiv und bewusst eine vergangene Stilistik perpetuieren. Schon die von dem Stummfilmstar Gloria Swanson (ihre Schauspielerlauf bahn ging bereits anfangs der 1930er Jahre zu Ende) gespielte Stummfilmaktrice Norma Desmond in Sunset Boulevard behielt nicht nur das übertreibende Schauspiel der Stummfilmzeit bei, sondern auch die Einrichtung der Star-Villa, eine Überstilisierung von Alltagsverhalten und vor allem das gewaltige Luxusauto mit Chauffeur (verwendet wurde übrigens ein Nachbau des in den 1920er Jahren als überaus luxuriös geltenden Isotta Fraschini 8A des italienischen Herstellers Isotta Fraschini, mit leopardenfellüberzogenen Polstern und vergoldetem Autotelefon). ›Alter‹ lässt sich nicht nur am Körperlichen der Schauspieler oder am behaupteten Alter der Figuren festmachen, sondern auch an ihren Objektumgebungen. Selbst das kommunikative Verhalten kann Aufschluss über das gespielte Lebensalter geben. So geben Hinweise der Figuren darauf, dass die Verhältnisse sich verändert hätten, dass man sich früher anders verhalten hätte und dass es Höflichkeits- und Benimmregeln gegeben habe, die früher gegolten hätten, klare Hinweise auf das Alter. Das eigene Jetzt der Äußerung und der angespielte Erfahrungshorizont des ›Es-ist-gewesen!‹ klaffen auseinander und geben so den Blick auf eine implizit unterstellte Lebensspanne frei. Auch das Selbstbild kann so aufschimmern, als Auseinandersetzung mit der eigenen sozialen Situation wie auch der eigenen Körperlichkeit. Wenn Burt Lancaster (damals 50, im Spiel aber deutlich älter wirkend) in Lucchino Viscontis Il Gattopardo (dt. Der Leopard, I 1963) den alten Don Fabrizio, den Fürsten von Salina, spielt und der schönen jungen Braut seines Neffen (gespielt von Claudia Cardinale, 25) mit »Ich verbeuge mich vor der Schönheit!« (TC: 02:28:30) seine Reverenz erweist, ist die Äußerung viel22 | Vgl. Jodi Brooks: Performing Aging/Performance Crisis (for Norma Desmond, Baby Jane, Margo Channing, Sister George, and Myrtle), in: Senses of Cinema 16 (September 2001), http://sensesofcinema.com/2001/john‑cassavetes/cassavetes_aging/ [Zugriff: 10.03.2015].

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fach interpretierbar: zuallererst als Akzeptanz der Herkunft der jungen Frau aus bürgerlichem Milieu und des Fallens der Ständeklausel im Rahmen der Modernisierungen, die mit den sozialen Bewegungen des Risorgimento einhergingen; vor allem aber als Hinweis auf seine Wahrnehmung der sexuellen Ausstrahlung der jungen Frau ebenso wie auf den alters- und familienbedingten Verzicht, sich ihr als sexuellem Wesen zu nähern.

D ie R efle xivität der A ltersrollen Das Problem der alternden Schauspielerin ist im Hollywoodsystem seit den 1950er Jahren mehrfach als eigener Stoff thematisiert worden. Filme wie der bereits erwähnte Sunset Boulevard, All About Eve (dt. Alles über Eva, US 1950) von Joseph L. Mankiewicz, Whatever Happened to Baby Jane? (dt. Was geschah wirklich mit Baby Jane, US 1962) von Robert Aldrich oder sein The Killing of Sister George (dt. Das Doppelleben der Sister George, US 1968) zeichneten das Bild von alternden Schauspielerinnen, die immer mehr das Realitätsprinzip verlieren, weil sie keine Rollen mehr finden, in denen sie ihr Selbstbild umsetzen können, und die sich in immer phantastischere Privatwelten zurückziehen.23 Sie werden zu Karikaturen ihrer eigenen Geschichte, zu tragisch-monströsen Opfern einer symbolischen Maschine, in der Identität permanent in Rollen und Bilder umgeformt wird, die am Ende nicht mehr erfüllt werden können. Man könnte sogar darüber spekulieren, dass der Rückzug von Schauspielerinnen aus ihrer Karriere damit zusammenhängt, dass sie sich so dem Übermächtig-Werden ihrer Star-Images zu entziehen versuchen. Greta Garbo, zum Beispiel, gab 1942 (mit 37) ihre Filmkarriere auf; auch Norma Shearer spielte nach 1942 (damals war sie 40) keine weiteren Filmrollen.24 Tatsächlich alte Schauspieler können sich über den Zustand körperlicher Gebrechlichkeit gar nicht hinwegsetzen. Belmondo spielt in seinem letzten Film Un homme et son chien (dt. Ein Mann und sein Hund, F 2008) von Francis Huster einen einsamen alten Mann, der nach dem Verlust der Wohnung zum Clochard wird, einzig begleitet von seinem Hund. Die höchst sentimentale Geschichte in­ strumentiert ein Bild des Alters, in dem Armut und Stolz die Figur in die soziale Katastrophe treiben – und koordiniert sie mit dem tatsächlichen Alter des Akteurs 23 | Vgl. Brooks: Performing Aging/Performance Crisis [online]. Die Rollen werden durchweg von Stars gespielt, die in einer vergleichbaren biographischen Situation waren wie die Figuren des Spiels. 24 | Ein männliches Pendant sind Film-im-Film- oder Theater-im-Film-Rollen männlicher Akteure, die manchmal aus verletzter Eitelkeit oder auch wegen des Verlusts von Rollenangeboten zu verrückten Amokläufern werden. Ein Beispiel ist der Film Theatre of Blood (dt. Theater des Grauens, GB 1973, Regie: Douglas Hickox), in dem Vincent Price (62) einen Shakespeare-Darsteller spielt, dem man einen Preis verweigert hatte und der daraufhin beschloss, die Preisrichter umzubringen.

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(75), kontrastiert sie aber zugleich mit den älteren Images der Agilität, der körperlichen Fitness und der überaus ausgestellten Selbstgewissheit der Belmondo-Figuren. Auch Hans Albers’ Rolle in Der Mann im Strom (D 1958) von Eugen York – er spielt einen 60-jährigen Taucher, der sich jünger macht, um weiter arbeiten zu können – ist auf das Alter Albers’ abgestimmt (damals 67) und unterlegt die Wahrnehmung der Rolle mit einer zweiten Stimme, die die Rollen Albers’ als Haudegen und Frauenschwarm, als Münchhausen und als Hannes Kroeger melancholisch reflektiert.25 Wenn Sylvester Stallone in seinem Film Rocky Balboa (US 2006) an die fünfteilige Rocky-Boxerfilmserie (1976-90) anknüpft, so greift er natürlich auf das Image des drahtigen Boxers aus der lower class zurück, der sich vom Nobody zum Weltmeister emporkämpft. Nach 16 Jahren außerhalb des Rings lässt er sich erneut zum Kampf gegen den amtierenden Weltmeister überreden. Er verliert knapp, hat aber alle Sympathien des Publikums auf seiner Seite:26 weil der Schauspieler erkennbar inzwischen 60 Jahre alt ist und die gleichermaßen gealterte Figur sich dennoch in ein mörderisches Gefecht einlässt, weil der Wille zum Erfolg und die Disziplin zu eisenhartem Training ungebrochen sind und weil er auf einer Bühne agiert, die Jüngeren vorbehalten zu sein scheint. Das Doppel von Stallone und Balboa unterminiert die Annahme, dass körperliche Grenzerfahrungen wie im Boxen für Alte nicht mehr möglich sind, es sei denn, als Weg an die Scheide zwischen Leben und Tod. Mickey Rourke (56) spielt in Darren Aronofskys The Wrestler (US 2008) einen heruntergekommenen Catcher, der in den 1980er Jahren noch Starruhm genossen hatte, nun aber nur noch in drittklassigen Wrestling-Shows auftritt. Auch er lässt sich auf einen letzten Kampf gegen einen Gegner ein, mit dem er sich vor 20 Jahren schon einmal einen legendären Finalkampf geleistet hatte. Der Film endet in dem Augenblick, als er zum finishing move ansetzt und zugleich klare Anzeichen für einen Herzinfarkt hat. Anders als in Rocky Balboa präsentiert Rourke einen Körper, der deutlich gealtert ist und der Anstrengung des großen Kampfes sicher nicht gewachsen sein wird – zumal die Figur bereits einen Infarkt hinter sich hat. Sind Altersrollen immer reflexiv? Wenn man Julie Christie in Sarah Polleys Alzheimer-Geschichte Away from Her (dt. An ihrer Seite, CDN/GB/US 2006) als diejenige sieht, die Gedächtnis und Beziehung verloren hat (Christie war zur 25 | Eine rabiate Veränderung seines aus der Rollenbiographie gewonnenen Images des Blödel-Komikers unternahm Dieter Hallervorden (78) in seinem Altersfilm Sein letztes Rennen (D 2013, Regie: Kilian Riedhof), in dem er einen Mann spielt, der nach seiner Abschiebung ins Altersheim beginnt, sein altes Hobby Marathonlauf wieder aufzunehmen und dafür zu trainieren, am Berliner Marathon teilzunehmen. Erinnert sei in dem Zusammenhang an den Dokumentarfilm Herbstgold (D 2010, Regie: Jan Tenhaven) über fünf sportbegeisterte Senioren, die sich auf die Olympischen Spiele für Senioren 2009 im finnischen Lahti vorbereiten. 26 | Vgl. Küpper: Filmreif, S. 42-45.

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Zeit des Films 65), geraten dann die anderen Geschichten, in denen sie zu einer Figur der Kinokultur geworden ist, mit in den Sinn? Und ihre früheren Rollen als selbstbewusste, eigensinnige, sexuell initiative Frau, die einem ganz neuen Typ von Frauenrollen im Kino der 1960er und 1970er Jahre Ausdruck gab? Sind Rollenbiographien und deren innere Typage Teil des kulturellen Gedächtnisses? Dann enthielten viele Altersrollen auch einen Rückverweis auf Geschichte, auf die historische Präsenz von Figurentypen und sozialen Rollen, von klassenspezifischen, männlichen und weiblichen Identitätsentwürfen. Natürlich könnte man einwenden, dass diese zweite verborgene und nicht dem Text selbst zugehörige Bedeutungsschicht eine Konnotation ist, die nur demjenigen zugänglich ist, der Kinogeschichte selbst erlebt hat (sie wäre dann also den älteren Zuschauern vorbehalten). Das würde aber auch heißen, dass Schauspieler Seismographen der Veränderungen der Rollenrealitäten wären und diese Veränderungen in der eigenen Person auf bewahren, als Kette und Ensemble von Bildern, die sie mit der Erinnerung von Zuschauern verbünden. Zuschauer begleiten Rollenbiographien und erkennen sie Schauspieler wieder, werden sie mit der eigenen Erinnerung, ihrer Medienbiographie, konfrontiert. Sie beheimaten sich in der Rezeption eines Films, weil sie in der Kontinuität der Rollen eines Schauspielers selbst enthalten sind.

D as A lter der S chauspieler als M arke tingwert Aber schon das Alter der Schauspieler schafft einen eigenen Schau- und Marketingwert. In vielen Kritiken zu Michael Hanekes Amour (dt. Liebe, F/D/A 2012) war das Schauspiel der beiden Hauptdarsteller Jean-Louis Trintignant (82) und Emmanuelle Riva (85) wichtiger als die Auseinandersetzung mit der Geschichte, die der Film erzählt, als sei die Präsenz so alter Akteure als Schauspieler in sich bereits eine Sensation. Alte Schauspieler bringen Rollenbiographien mit, die Geld wert sein können. Gerade alte Schauspieler knüpfen an die Erfolgsimages oder -rollen ihrer Biographien im Alter an, eröffnen gewissermaßen eine individuelle Vermarktungskette. Wenn Pierre Brice den enormen Erfolg seiner Winnetou-Rollen in den deutschen Karl-May-Filmen (1962-66) mit Auftritten bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg (1988-91) fortzusetzen sucht, dann beutet er die Popularität seiner Winnetou-Images aus. Ähnliches gilt für den DDR-Indianerschauspieler Gojko Mitić, der Brices Nachfolge antrat (1992-2006). So sehr diese Beispiele für die Konsistenz von Figuren und ihren Besetzungen im kulturellen Gedächtnis (oder besser: im populärkulturellen Gedächtnis) sprechen, so kann die Kontinuität von Rollen auch unzeitgemäß werden. Manchmal wird der von Claus Theo Gärtner gespielte Detektiv Josef Matula aus der ZDF-Serie Ein Fall für zwei (1981-2013) als Beispiel einer radikalen Rollen-Kontinuität genannt. Gärtner (Jahrgang 1943) spielte die Rolle 300 Mal, ohne dass am

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Konzept der Figur nennenswerte Änderungen vorgenommen worden wären – sie konfigurierte ein eigenes Modell proletarischer Männlichkeit: »Ein lederbejackter Macho, der Alfa Romeo fährt, mit rauer Stimme markige Sprüche raushaut und immer knapp bei Kasse ist.«27 Die überaus langen Haare deuten auf längst vergangene jugendkulturelle Stilistik zurück; sein Gerechtigkeitsempfinden, allerdings, seine Loyalität und Aufrichtigkeit markieren die Figur bis heute auch als konsequent moralische Figur. Dass Gärtner die Rolle bis zum Schluss gespielt hat, ist auch lesbar als Kontinuität der Schauspieler-Identität; hätte man die Rolle neu besetzt, hätte sie neue Charakterzüge aufnehmen müssen. So kann die Figur im Doppel mit dem immer gleichen Schauspieler auch als Widerstandsfigur gegen die Modernisierungen der Rollenkonzepte und aller ihrer Ingredienzien (Kleidung, Sprachstil, bevorzugte und symbolisch besetzte Objekte etc.) gelesen werden – ein Subtext, der auch ironische Züge trägt. Manchmal auch kann die Altersrolle Teil eines persönlichen Anliegens des Schauspielers sein (oder auf der Chance basieren, diesem Ausdruck zu geben). Mario Adorf war 84, als er die Titelrolle in Pierre-Henry Salfatis Der letzte Mentsch (D/CH/F 2014), einem Film über einen greisen Juden, übernahm, dem die Rabbiner eine Begräbnisstätte verweigern, weil er nicht nachweisen kann, dass er Jude ist; er hatte nach der Emigration sein Leben lang seine Vergangenheit und sein Judentum verleugnet. Adorf bekannte in einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass die Rolle auch eine persönliche Wiedergutmachung gewesen sei, ein Versuch, dem allgemeinen Vergessen der Shoah und der Vertreibung vorzubeugen.28 Eigene Biographie und Rolle wachsen an- und ineinander, könnte man schlussfolgern. Und das Ansehen des Schauspielers kann als Faktor in der Filmbewerbung eingesetzt werden, weshalb die Übernahme einer Rolle auch mit der Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung zusammengehen kann. Wir wissen auch aus anderen Untersuchungen, dass ältere Schauspieler keine Trennung zwischen den Rollenbildern und den eigenen Selbstbildern machen, sondern beide in großer Nähe zueinander sehen.29 Das Biographische beruht auf Essentialisierung. Für Schauspieler ist die Aufgabe, permanent Figuren des Spiels zu konstruieren und als dichte Charaktermasken auszuformen, Teil ihrer Profession – mit Konsequenzen für das Selbstbild, weil die imaginären Identitätsmasken, die sie in ihren Rollen entwerfen und realisieren müssen, mit real Zugestoßenem zusammenfließen, eine unauflösbare Mélange ergeben. Dieses 27 | Anonym: Abschied von Ein Fall für zwei: Matula geht in Rente, in: Spiegel Online (31. Oktober 2011), http://www.spiegel.de/kultur/tv/abschied-von-ein-fall-fuer-zwei-matulageht-in-rente-a-795077.html [Zugriff: 01.03.2015]. 28 | Vgl. Hans Riebsamen: »Eine wunderbare Altersrolle«. Im Gespräch: Schauspieler Mario Adorf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 111, 14. Mai 2014, S. 34. 29 | Vgl. Tova Gamliel: The Final Act. On the Limitations of the »Mask‑of‑Aging« Dramaturgical Metaphor in Representing the Performing Self, in: Research on Aging 34 (September 2012) H. 5, S. 622‑645.

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Modell der Schauspieleridentität ist sogar dramatisches Figurenmotiv geworden – verkörpert in jenen Figuren, die immer wieder in die Texte und Figurenmasken der Stücke verfallen, in denen sie einst agierten, wenn sie sich in realen Situationen verhalten (müssen). Doch sei zu den Marketingeffekten des Alters der Schauspieler zurückgekehrt, der besonders dann augenfällig wird, wenn die Akteure während der Dreharbeiten sterben, wenn sie die tödliche Krankheit der Figuren selbst in sich tragen. Eine ganze Reihe von Filmen bezieht einen Teil ihres wirkungsästhetischen Potenzials aus der Tatsache, dass die sterbenden Figuren von Schauspielern gespielt wurden, die selbst vom Tod gezeichnet waren. Dazu zählen The Shootist (dt. Der Scharfschütze, US 1976) von Don Siegel, in dem der selbst krebskranke John Wayne die Titelrolle spielt – auch der Held des Films ist an Krebs erkrankt und sucht nach einem Weg, möglichst schmerzfrei und ehrenvoll zu sterben; es gelingt ihm in einem finalen Duell. Ingrid Bergman spielt in ihrem letzten Spielfilm A Woman Called Golda (dt. Golda Meir, US 1982) von Alan Gibson die israelische Politikerin Golda Meir, genauso krebskrank wie die Filmfigur; Bergman starb kurz nach Vollendung des Films. Sheila Florance spielte eine 80-jährige, von Trauer gebeugte Frau in Paul Cox’ A Woman’s Tale (dt. Die Geschichte einer Frau, AU 1991), die zudem an Krebs erkrankt; Florance starb zwei Tage, nachdem sie den australischen Filmpreis für ihre Rolle zuerkannt bekommen hatte. Auch der erst 50-jährige Jeroen Williams starb kurz vor der Premiere, nachdem er in dem holländischen Film Boven is het stil (dt. Oben ist es still, NL 2012) von Nanouk Leopold den Sohn eines bettlägerigen Vaters gespielt hatte, der angesichts des Sterbens des Vaters versucht, der jahrelangen Fremdbestimmung durch den Vater in einer langsamen Identitätsfindung einen eigenen Zugang zu sich und der Welt entgegenzusetzen. Dass Williams starb, verdreht das Altersverhältnis der Rollen: Der 83-jährige Belgier Henri Garcin, der den Vater gespielt hatte, überlebte den Film-Sohn. In allen diesen Fällen wird die Todesnähe der Schauspieler zum Element des Marketings der Filme, als Authentifizierung des Schauspielens und als Ausweis der Intensität des Spiels. Es ist der Körper der Schauspieler, die Tatsache ihrer eigenen Todesnähe, die sich hier – zumindest in den Begleittexten der Uraufführung und der Kritik – vor die fiktive Figur schiebt. In die Rezeption schiebt sich hier eine Zuwendung zu den realen Schauspielern, der Illusion des Spiels unterschiebt sich eine weitere Ebene, die die Wahrnehmung der Fiktion um eine reale Seitenebene erweitert.

A lte H elden – A lte als H elden der S tunde Allerdings gibt es auch immer wieder Filme, in denen Alte als Helden der Stunde erscheinen, wie in Dieter Wedels ZDF-Vierteiler Der große Bellheim (D 1992), in dem Mario Adorf (damals 68) einen alten Wirtschaftsboss darstellt, der mit sei-

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nen alten Freunden und Mitarbeitern ein Kaufhaus durch eine Krise führt. Es ist die Wiederkehr der Patriarchen-Figuren des Wirtschaftssystems, die klar gegen die jüngeren Managertypen gestellt werden, denen es nicht um den ›Betrieb‹ als Modell eines auch sozialen Gebildes mit allen Verpflichtungen, die die Leitenden gegenüber den Arbeitnehmern haben, geht, sondern um die ›Firma‹, das Modell einer Produktionsmaschinerie, die zur Erzeugung von Gewinnen dient. Wenn ausgerechnet der Filmdienst dem Film attestierte, er erbringe den Beweis, dass »auch im Alter noch konkurrenzfähige Leistungen erbracht werden können«,30 so sieht er über die eigentlich zentrale Moral von der Geschichte hinweg: weil es im Film eigentlich um die soziale Verbindlichkeit geht, die Firmenleitungen mit ihren Betrieben verbinden. Der Film mag angesichts der zunehmenden Neoliberalisierung der Wirtschaft der 1990er Jahre auch eine – allerdings verdeckte – Kritik an ihr gewesen sein, als Ausdruck einer Sehnsucht nach anderen, eher auf den Bindungskräften der Väterlichkeit beruhenden Beziehungen in der Arbeitswelt. In manchen Genres wie dem Krimi und dem Actionfilm, gelegentlich auch im Western, ist die Figur des ›erfahrenen Alten‹ Teil des Figurenensembles. Ein Beispiel aus der Spätphase des klassischen Western ist Sam Peckinpahs Ride The High Country (dt. Sacramento, US 1962): Randolph Scott (damals 64) spielt den in die Jahre gekommenen Westerner Gil Westrum, der zunächst plant, den Goldtransport zu rauben, zu dessen Schutz ihn sein Freund, ein Ex-Marshal, angeheuert hatte. Doch als sein Freund nach einem Schusswechsel mit Gangstern im Sterben liegt, verspricht er ihm, entgegen seinem ursprünglichen Plan, den Transport nach Sacramento zu bringen. Die mit dem Altern und der Erfolglosigkeit seines Lebens einhergehende Kriminalisierung wird angesichts des Todes des Freundes rückgängig gemacht, der ältere Freundschafts- und Ehrenkodex tritt wieder in Kraft, die Figur findet zu ihren ursprünglichen Wertorientierungen zurück. Das Figurenmotiv wird bis heute immer wieder neu variiert. Ein nicht nur ironisches Beispiel ist Clint Eastwoods Space Cowboys (US 2000), in dem vier alte Kämpen der Weltraumfahrt sich zu einem letzten Weltraumflug aufmachen müssen, um einen Satelliten zu reparieren, dessen Technik nur die Alten kennen und beherrschen. Gerade weil die Anstrengungen der Reise, die enormen Belastungen, denen sich die Weltraumflieger aussetzen müssen, so sehr die Körperlichkeit der Protagonisten herausfordern, wird nicht nur ihr Wille, die Aufgabe auszuführen, zum Kern der Geschichte, sondern vor allem die Gebrechlichkeit ihrer Körper. Clint Eastwood (zur Zeit des Drehs 72), Donald Su­ therland (67), Tommy Lee Jones (56) und James Garner (74) spielen die Rollen. Am Ende kann man den Satelliten auf Handsteuerung umstellen, einer wird mit ihm auf den Mond stürzen; Tommy Lee Jones alias Col. William ›Hawk‹ Hawkins

30 | Anonym: Art. Der große Bellheim, in: Lexikon des Internationalen Films, hg. v. KIM (Katholisches Institut für Medieninformation), der katholischen Filmkommission für Deutschland, Bd. G-H, Reinbek b.H. 1995, S. 2146.

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übernimmt die Aufgabe und entfernt sich, in einer Kreuzigungsgeste an den Satelliten geklammert, von den anderen, die zur Erde zurückkehren werden.31 Wie schon in Der große Bellheim und in Ride the High Country handeln hier Männer, die biographisch so mit den Pflichten und Idealen ihrer Berufe und ihres Lebens verstrickt sind, dass sie ihnen bis ins Alter unterworfen bleiben. Indem sie sich tödlicher Gefahr aussetzen, vielleicht eigene Entwürfe der Altersbiographie über den Haufen werfen, schreiben sie ihre Biographien fort, sind Helden einer ungebrochenen und unabgebrochenen Identität, die sich im Handeln erst erweisen kann. Führen diese Alten das Ideal des ›Lebensthemas‹ vor? Einer tiefen Identifizierung der eigenen Existenz mit dem, was man tut? Ist das Leben also nicht als dauerhafte Anklammerung an Sehnsüchte oder Wünsche, als lebenslange Erfahrung von Entfremdung, sondern vielmehr als fundamentales In-sichRuhen gefasst? Dann wären derartige Todesdarstellungen auf das Engste mit der Darstellung von gewonnener und gelungener Identität verbunden. Der Tod als Finalisierung des Alters stünde nicht für sich, sondern wäre Konsequenz und Vollendung eines geradlinigen Lebens.

F a zit Gerade letztere Beispiele zeigen, dass viele Altersrollen nicht nur die stereotypen Modelle des Alters reflektieren, sondern viel tiefer auf Entwürfe einer das Leben umfassenden Identität ausgerichtet sind. Es sind Tiefenwerte, auf die die Alten zurückgreifen, alle kurzfristigen Ziele bürgerlichen Alltagslebens aussetzend. Und manchmal finden sie auch in ihre alternden Körper zurück, entdecken Kreativität, Bewegungslust und Sexualität neu. Sie sind orientiert auf die Idee einer die Lebensspanne umgreifenden, sich kontinuierlich entfaltenden Einheit des Ichs. Die Darstellung der alternden oder alten Figur ist eine Reflexion der 31 | Erinnert sei auch an die beiden MI6-Mitarbeiter M und Q, die in den James-BondFilmen als Dauerbesetzungen fortgeschrieben wurden. M ist der unmittelbare Vorgesetzte Bonds; die Rolle wurde zunächst von Bernard Lee (1908-81) gespielt (1962-79), danach von Edward Fox und Robert Brown, bevor Judi Dench (geb. 1934) als erste Frau einstieg (1995-2012). Q (von engl.: quartermaster) ist ein Tüftler, der in der Entwicklungsabteilung manchmal obskure Waffen und andere Hilfsmittel des Geheimagenten zusammenbaut; bis ins hohe Alter spielte Desmond Llewelyn (1914-99) die Figur (1963-99). Die beiden Rollen unterscheiden sich scharf – ist M zurückhaltend und abwägend, sich ihrer Macht bewusst, die politische Lage kalkulierend und in großen Zusammenhängen denkend, deutlich der Verantwortungsträger der Abteilung, ist Q bis an die Grenzen von Verschrobenheit und Obsession als Bastler und Techniker angelegt, der sich ausschließlich für das Funktionieren seiner Erfindungen interessiert (und sich für die Machtkonstellationen der Abteilung offensiv nicht interessierend). Die beiden Rollen sind lesbar als Doppelmodell von Altersprofessionalität.

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Altersvorstellungen und eine aktive Auseinandersetzung mit ihnen. Alter ist kein individueller Prozess, sondern gebunden an das Netz sozialer Erwartungen, an den Umgang mit Selbstbildern und eigenen Bedürfnissen – und nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit dem, was der Schauspieler an Erfahrungen, persönlicher Betroffenheit und öffentlichen Images in sein Spiel mit einbringt: doing age auf allen Ebenen jenes komplexen Doppels von Schauspieler und Figur.

Q uellenverzeichnis Filme A Woman Called Golda (dt. Golda Meir, US 1982, Regie: Alan Gibson). A Woman’s Tale (dt. Geschichte einer Frau, AU 1991, Regie: Paul Cox). All About Eve (dt. Alles über Eva, US 1950, Regie: Joseph L. Mankiewicz). Amour (dt. Liebe, F/D/A 2012, Regie: Michael Haneke). Atlantic City, USA (CDN/F 1979, Regie: Louis Malle). Away from Her (dt. An ihrer Seite, CDN/GB/US 2006, Regie: Sarah Polley). Bis zum Horizont, dann links! (D 2012, Regie: Bernd Böhlich). Boven is het stil (dt. Oben ist es still, NL 2012, Regie: Nanouk Leopold). Carrie (dt. Carrie ‑ Des Satans jüngste Tochter, US 1976, Regie: Brian De Palma). Der große Bellheim (D 1992, Regie: Dieter Wedel). Der letzte Mentsch (D/CH/F 2014, Regie: Pierre-Henry Salfati). Der letzte Tanz (A 2014, Regie: Houchang Allahyari). Der Mann im Strom (D 1958, Regie: Eugen York). Die Spätzünder (A/D 2010, Regie: Wolfgang Murnberger). Ein Tisch zu viert (D 1977, Regie: Maria Fuss). Et si on vivait tous ensemble? (dt. Und wenn wir alle zusammenziehen?, F/D 2012, Regie: Stéphane Robelin). Fried Green Tomatoes (dt. Grüne Tomaten, US 1991, Regie: Jon Avnet). Grease (US 1978, Regie: Randal Kleiser). Gucha! (SER/BUL/A/D 2006 2006, Regie: Dusan Milic). Harry and Tonto (US 1974, Regie: Paul Mazursky). Herbstgold (D 2010, Regie: Jan Tenhaven). Hundraåringen som klev ut genom fönstret och försvann (dt. Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand, S 2013, Regie: Felix Herngren). Il Gattopardo (dt. Der Leopard, I 1963, Regie: Lucchino Visconti). Intervista (dt. Fellinis Intervista, I 1987, Regie: Federico Fellini). Kotch (dt. Opa kann’s nicht lassen oder alternativ Kotch. Mit Volldampf aus der Sackgasse, US 1971, Regie: Jack Lemmon). La dolce vita (dt. Das süße Leben, I 1961, Regie: Federico Fellini). Lina Braake oder Die Interessen der Bank können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat (D 1975, Regie: Bernhard Sinkel).

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Little Big Man (US 1970, Regie: Arthur Penn). Love in the Time of Cholera (dt. Die Liebe in den Zeiten der Cholera, US 2007, Regie: Mike Newell). Monsieur Hire (dt. Die Verlobung des Monsieur Hire, F 1989, Regie: Patrice Leconte). Mr. Arkadin (dt. Herr Satan persönlich!, US 1955, Regie: Orson Welles). North by Northwest (dt. Der unsichtbare Dritte, US 1959, Regie: Alfred Hitchcock). One Flew Over the Cuckoo’s Nest (dt. Einer flog übers Kuckucksnest, US 1975, Regie: Miloš Forman). On Golden Pond (dt. Am goldenen See, US 1981, Regie: Mark Rydell). Philomena (GB 2013, Regie: Stephen Frears). Ride The High Country (dt. Sacramento, US 1962, Regie: Sam Peckinpah). Rocky Balboa (US 2006, Regie: Sylvester Stallone). Romeo and Juliet (US 1938, Regie: George Cukor). Romeo and Juilet (I/GB 1968, Regie: Franco Zeffirelli). Sein letztes Rennen (D 2013, Regie: Kilian Riedhof). Smultronstället (dt. Wilde Erdbeeren, S 1957, Regie: Ingmar Bergman). Solitary Man (dt. Solitary Man. Herzensbrecher a.D., US 2009, Regie: Brian Koppelman, David Levien). Space Cowboys (US 2000, Regie: Clint Eastwood). Sunset Boulevard (dt. Boulevard der Dämmerung, US 1950, Regie: Billy Wilder). Terms of Endearment (dt. Zeit der Zärtlichkeit, US 1983, Regie: James L. Brooks). The Best Exotic Marigold Hotel (GB/IND 2011, Regie: John Madden). The Blob (dt. Blob. Schrecken ohne Namen, US 1958, Regie: Irvin S. Yeaworth Jr.). The Killing of Sister George (dt. Das Doppelleben der Sister George, US 1968, Regie: Robert Aldrich). The Major and the Minor (dt. Der Major und das Mädchen, US 1942, Regie: Billy Wilder). The Shootist (dt. Der Scharfschütze, US 1976, Regie: Don Siegel). The Treasure of the Sierra Madre (dt. Der Schatz der Sierra Madre, US 1948, Regie: John Huston). The Wrestler (US 2008, Regie: Darren Aronofsky). Theatre of Blood (dt. Theater des Grauens, GB 1973, Regie: Douglas Hickox). There’s Something About Mary (dt. Verrückt nach Mary, US 1998, Regie: Bobby und Peter Farrelly). Un homme et son chien (dt. Ein Mann und sein Hund, F 2008, Regie: Francis Huster). Une chance sur deux (dt. Alle meine Väter, F 1997, Regie: Patrice Leconte). Vier Minuten (D 2006, Regie: Chris Kraus). Whales in August (dt. Wale im August, US 1987, Regie: Lindsay Anderson). Whatever Happened to Baby Jane? (dt. Was geschah wirklich mit Baby Jane, US 1962, Regie: Robert Aldrich). Wir sind die Neuen (D 2014, Regie: Ralf Westhoff).

Doing age auf den Bühnen des Films

Primärtexte Cicero, Marcus Tullius: Cato der Ältere. Über das Greisenalter, ins Deutsche übertr. v. Rudolf Alexander Schröder, München 1924.

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Altersliebe und Alterssexualität im Spielfilm

Liebe als Selbstfindungsprozess im Alter Variationen und Spielarten der späten Liebe im zeitgenössischen Film Anja Hartung

Nach einem weinseligen Abend mit seiner Großmutter hatte der belgische Regisseur Piet Eekman eine Idee. Er wollte einen Film über das Liebesleben der nahezu 80-Jährigen drehen. Diese war einverstanden, das Drehbuch schnell geschrieben und auch der Fernsehsender, dem er dieses vorlegte, war begeistert. Und schon bald brach er mit einem kleinen Filmteam zu einem erneuten Besuch auf. Die Großmutter erzählte – über ihre Männer und ihre unterschiedlichen Vorlieben, über Masturbation und die sexuelle Sehnsucht nach ihrem Hausarzt. Als Eekman der Fernsehredaktion den Rohschnitt seines Filmes Die Männer meiner Oma präsentierte, war diese geschockt – nicht etwa wegen des Themas, sondern wegen seiner Darstellerin, »eine alte Frau mit einer riesen Zahnlücke ... eine echte Oma« und keine attraktive »Sexsünde«.1 Der Film wurde abgelehnt. Eekman produzierte auf eigene Kosten. Zehn Jahre später steckt das cineastische Werk als Bonus in der Hülle eines anderen Films – Wolke 9 (2008). Sein Regisseur An­ dreas Dresen hat sich von Eekman inspirieren lassen und erntete großen Erfolg. Nach der Premiere in Cannes lobte sein Publikum diesen Film mit standing ovation; die Kritiker versahen ihn mit mehrfachen Auszeichnungen; das Deutsche Hygiene-Museum Dresden ehrt seine Vorlage Die Männer meiner Oma mit einer Präsenz in der Abteilung »SEXUALITÄT. Liebe, Sex und Lebensstile im Zeitalter der Reproduktionsmedizin« seiner Dauerausstellung als selbstverständliche Facette des Alters. Das skizzierte Beispiel verweist auf markante Weise auf einen soziokulturellen Wandel, der mit einer Umdeutung von Liebe und Eros im höheren Lebensalter verbunden ist. In meinen Ausführungen möchte ich Aspekte dieser Neuverhand1 | Piet Eekman: Liebe(n) und Alter(n) filmisch inszenieren. Die Regisseure Katrin Bühlig und Piet Eekman im Gespräch, in: Anja Hartung (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011, S. 129-147, hier S. 138.

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lung am Beispiel zeitgenössischer Inszenierungen von Liebe und Altern im Film aufzeigen. Dabei geht es mir weniger um eine umfassende und detaillierte Analyse filmischer Darstellungsweisen; vielmehr möchte ich zeigen, wie im Kinofilm der Gegenwart kulturelle Liebesvorstellungen und die sich wandelnden Altersbilder unserer Zeit zu neuen filmischen Darstellungen vom späten Lebensalter konvergieren.

A ltersliebe als M ediensuje t Als kulturelle Praxis stehe Liebe immer schon »an der Schwelle, wo das NichtKulturelle in der Kultur verschlüsselt ist, wo Körper, Kognition und Kultur verschmelzen«, so die Soziologin Eva Illouz.2 Liebe sei vor diesem Hintergrund als komplexes Gefühl zu verstehen, bei dem subjektives Erleben eng mit kulturellen Traditionen verbunden ist. In Gesellschaften, in denen von einer weit reichenden Mediatisierung von Lebensräumen ausgegangen werden muss, haben Medien daran einen großen Anteil, insofern sie Symbole, Narrationen und Bilder zur Verfügung stellen, mit deren Hilfe Menschen ihren liebesbezogenen Erfahrungen einen Sinn zuschreiben. In ihrem kultursoziologischen Abriss3 zeigt Illouz am Beispiel des Kinos sehr anschaulich, wie die Entstehung der Massenkultur zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit der Entwicklung kultureller Liebesideale verbunden ist. Das Thema Liebe avancierte in der seinerzeit populärsten Unterhaltungsform zu einem zentralen Motiv und »das Kino sorgte für ein endloses Angebot an Filmen über romantische Zweisamkeit«.4 In einem Artikel der Zeitschrift Photoplay, »der so etwas wie eine Anleitung für Kassenschlager sein wollte«5, hieß es: »Das Wort Liebe im Titel ist eine Garantie dafür, dass Männer, Frauen und Kinder ihr Geld gern dafür ausgeben. Ähnlich wichtig, wie das Wort Liebe sind solch knackige Begriffe wie Leidenschaft, Herz, Küsse, Frau, Skandal, Teufel, Ehe, Fleisch und Sünde [...].«6 In jener noch immer traditionell strukturierten Welt der Moderne waren Liebesangelegenheiten und Beziehungsfragen noch normativ an bestimmte Passagen des Lebenslaufs geknüpft. Die »romantische Formel« 7 dieser Zeit beinhaltete konkrete Leitbilder darüber, welche Liebe2 | Eva Illouz: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2007, S. 28. 3 | Vgl. ebd., S. 26-33. 4 | Ebd., S. 60. 5 | Ebd., S. 61. 6 | Smith, Agnes: Box Office Love: A true Story of a Studio Conference, in: Photoplay 33 (April 1928), S. 37-39, hier S. 37, zit. nach Illouz: Konsum der Romantik, S. 61. 7 | Illouz: Konsum der Romantik, S. 61, mit Bezug auf David Bordwell, Kristin Thompson, Janet Staiger: The Classical Hollywood Cinema: Film Style and Mode of Production to 1960, New York 1985, S. 16.

Liebe als Selbstfindungsprozess im Alter

bedürfnisse und -praxen für welches Alter als angemessen und sozial akzeptiert galten. Liebe im Alter fiel aus dem Rahmen dieser Leitbilder. Sie diente allenfalls als künstlerisches Stilmittel, etwa in der »Ironisierung altersbedingter Unverhältnismäßigkeit«8 in Gestalt komischer oder tragischer Mesalliancen. »Das System Hollywood, das in der Zwischenkriegszeit entstand, kodifizierte und popularisierte diese Formel«.9 Die Botschaft, die seine Filme transportierten, lautete, dass Liebe und vor allem körperliche Liebe im Film untrennbar mit dem Ideal einer attraktiven oder zumindest jung anmutenden Leiblichkeit verbunden ist. Insofern die Stars jener Zeit »Schönheit, Jugend, Glanz, Reichtum, zur Schau gestellten Konsum und hemmungslose Erregung miteinander verbanden, verkörperten sie das Ideal des perfekten Paares«.10 Es mangelt an dieser Stelle an Raum für eine umfassende historische Rekonstruktion charakteristischer Liebesdarstellungen im Film. Es dürfte indes einleuchten, dass die Idee der romantischen Liebe in den filmischen Narrationen bis weit in das zwanzigste Jahrhundert vorrangig mit Jugend und Attraktivität assoziiert war. Zwar erfuhr diese – insbesondere im Zuge der Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen – eine zunehmende Differenzierung und Entgrenzung; das hohe Alter aber blieb davon lange Zeit unbenommen. Erst in den letzten Jahren verlieren diese Bilder an Schärfe. Unter den Bedingungen einer alternden Gesellschaft gerät das Alter in das Zentrum (medien-) ökonomischer Verwertungsinteressen. Wurden die als konservativ, gefestigt und unbeeinflussbar geltenden Alten lange Zeit als außerhalb der relevanten Zielgruppe stehend ignoriert, stellen sich Wirtschaft, Werbung und Medien allmählich auf den wachsenden ›silver‹ oder ›graying market‹ ein, dies nicht zuletzt, da dieser »bei noch steigendem Einkommen der Älteren weitaus größere Kaufkraft als der der Jüngeren verspricht«.11 Das zeitgenössische Narrativ der Selbstverwirklichung gerinnt in diesem Zusammenhang gleichsam zu neuen Altersbildern, mit welchen auch das Motiv der späten Liebe eine deutliche Aufwertung erfährt. Liebe erscheint als Chiffre für Lebensgenuss, Attraktivität und soziale Teilhabe. In Anlehnung an Illouz können wir diesen Wandel auch als Entstehung eines neuen »emotionalen Stil(s)« bezeichnen. Ein solcher Stil werde begründet, wenn eine neue »Vorstellung vom Zwischenmenschlichen« entwickelt werde, »d.h. eine neue Weise, über die Beziehung des Selbst zu anderen nachzudenken, Vor-

8 | Leopold Rosenmayr: Eros und Sexus im Alter, in: Peter Borscheid (Hg.): Alter und Gesellschaft, Stuttgart 1995, S. 87-108, hier S. 92. 9 | Illouz: Konsum der Romantik, S. 62. 10 | Ebd., S. 63. 11 | Hans-Dieter Kübler: Alter und Medien, in: Jürgen Hüther, Bernd Schorb (Hg.): Grundbegriffe Medienpädagogik, 4., vollst. neu konzipierte Aufl., München 2005, S. 17-23 hier S. 17f.

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stellungen über die Chancen und Möglichkeiten dieser Beziehung zu entwickeln und sie in die Praxis umzusetzen«.12 Im Kino der Gegenwart erleben Liebe und Eros im Alter eine bislang kaum denkbare Präsenz.13 Dies nimmt nicht Wunder, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass ältere Menschen (in der Medienstatistik ab 50-Jährige) eine gewichtige Zielgruppe des Kinos sind. »Im Jahr 2011 sahen sich insgesamt 10,8 Millionen Besucher dieser Altersgruppe einen Film im Kino an, im folgenden Jahr waren es bereits 14 Millionen Zuschauer, womit die Besucherzahlen bei den Älteren um 29 Prozent anstiegen«.14 Das kommerzielle Angebot eines »consuming of the romantic utopia«15 – so lässt sich zuspitzen – erreicht nunmehr auch das hohe Lebensalter.

F ilmische Thematisierungsformen von L iebe und A ltern Betrachten wir, auf welche Weise das Thema Altersliebe im Kino der Gegenwart verhandelt wird, so lässt sich einschätzen, dass dieses sich überwiegend als thematischer Rahmen konturiert, innerhalb dessen sich Individuationsprozesse der Selbstsuche und Selbstbegegnung des alternden Subjektes ereignen. Ein zentrales Motiv, das viele Filme eint, ist die mit Liebe verbundene Spannung zwischen individueller Selbstbestimmtheit (Autonomie) und symbiotischer Selbstpreisgabe (Abhängigkeit), die Hegel treffend als dialektisches »Seinselbstsein in einem Fremden«16 beschrieb. Auf der einen Seite wird Liebe als feste, permanente Bindung thematisch, die Verpflichtungen umfasst und mit der Preisgabe von Individualität und Freiheit verbunden ist. Auf der anderen Seite erscheint Liebe als Ausdruck innerer Freiheit und Selbstverwirklichung, als eine sehr persönliche, aber notwendig auch willkürliche Wahl. Wir begegnen den Protagonisten der filmischen Narrationen in diesem Spannungsfeld und begleiten sie auf ihrer Suche nach der Balance des individuellen Selbst- und Weltbezugs. Filmisch verdichtet wird dieses Dilemma überwiegend in der Inszenierung biographischer Schlüsselereignisse, die eine sinnorientierende biographische Selbstreflexion der Protagonisten veranlassen. Diese krisenhaften Ereignisse finden Gestalt in der 12 | Eva Illouz: Die Errettung der modernen Seele, Frankfurt a.M. 2009, S. 32. 13 | Eva Flicker, Nina Formanek, Katja Gerstmann: Mediale Repräsentationen von Alte(r)n in Bild und Text. Anzeichen für einen allmählichen Paradigmenwechsel, in: Clemens Schwender, Dagmar Hoffmann, Wolfgang Reißmann (Hg.): Screening Age. Medienbilder – Stereotype – Altersdiskriminierung, München 2013, S. 23-38, hier S. 33. 14 | Claudia Wegener: Vom Kino zum Social-Cinema? Bewegtbildnutzung im Wandel, in: Anja Hartung u.a. (Hg.): Filmbildung im Wandel, Wien 2015, S. 65-76. 15 | Axel Honneth: Vorwort, in: Illouz: Der Konsum der Romantik, S. 9. 16 | Georg Wilhelm Friedrich Hegel: System der Sittlichkeit, Hamburg 1967 (Original 1802/03), S. 17.

Liebe als Selbstfindungsprozess im Alter

Erfahrung des Verlustes ebenso wie einer neuen Liebesbeziehung. In der Bandbreite der filmischen Inszenierungen von Liebe im Alter lassen sich drei Thematisierungsformen bündeln, die späte Liebe auf verschiedene Weise thematisieren.

D er V erlust des A nderen als schmerzhaf ter P rozess individueller S elbst verortung In einer ersten Gruppe filmischer Inszenierungen wird der Verlust des (geliebten) Anderen als existenzielle Bedrohung des eigenen Selbst thematisch. Ausgangspunkt der Erzählung ist hier zumeist eine lebensbedrohliche Erkrankung oder der Tod eines Menschen, mit dem der/die Hauptdarsteller/in ein Großteil seines/ ihres Lebens geteilt hat. Exemplarisch für das Motiv der Erinnerungsarbeit sind Filme wie Sarah Polleys Away from Her (dt. An ihrer Seite, CDN 2006) oder Michael Hanekes Amour (dt. Liebe, F/D/A 2012). Im Mittelpunkt des kanadischen Filmdramas Away from Her steht der Entfremdungsprozess des Ehepaares Andersson, der durch die Alzheimer-Erkrankung von Fiona (Julie Christie) ausgelöst wird. Als diese eines Abends nach dem Namen jenes Getränkes sucht, das sie ihren Gästen reichen möchte, stellt sie fest: Verrückt, dass ich die Hälfte der Zeit unterwegs bin auf der Suche nach etwas, von dem ich weiß, dass es sehr wichtig ist. Doch ich kann mich nicht erinnern, was es ist. Und dann habe ich den Gedanken verloren. Dann ist alles weg. Und ich versuche, krampfhaft mir zusammenzureimen, was gerade eben noch so wichtig für mich war. Ich habe das Gefühl, ich fange an zu verschwinden. (TC: 00:09:13-00:09:47)

Das Paar sucht den Beziehungsalltag zunächst mit Gewohnheiten und Ritualen fortzusetzen. Doch die Krankheit lässt sich nicht aufhalten. Nachdem Fiona während eines Ski-Ausfluges orientierungslos in der Gegend umherirrend den Weg nach Hause verloren hat, steht für sie fest, dass die Zeit des Abschieds gekommen ist: »Jetzt ist es soweit, Grant. – – – Jetzt ist es soweit.« (TC: 00:17:51-00:17:59) Entgegen des Wunsches ihres Ehepartners beschließt sie, in ein Pflegeheim für Demenzerkrankte zu ziehen. Grant (Gordon Pinsent) kämpft mit Verlustängsten und sucht Fiona zu halten. Doch diese hat sich entschieden. Zu groß ist der Wunsch, in Würde zu gehen. Die gemeinsame Autofahrt zum Pflegeheim gerät zu einer Beziehungsretrospektive, in der nicht mehr die bedrückende Zukunft als beziehungsgefährdende Kraft erscheint, sondern vielmehr die gemeinsame Vergangenheit ihre Wunden zeigt. Aus dem Fenster blickend erinnert sich Fiona an die Ausflüge des Paares. Grant ist berührt, sieht er mit dieser Erinnerung doch zugleich ein Aufflackern der Beziehungsidentität verbunden. Fiona erinnert sich aber nicht nur daran: »Es ist – – verrückt. Es gibt Dinge, die würde ich gerne vergessen, aber sie sind wie eingebrannt. Ich meine Dinge, über die wir nicht sprechen.« (TC: 00:31:00-00:31:16) Jene Dinge, die Fiona meint, sind die verdrängten

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Gedanken an Grants Verhältnis mit einer Studentin vor 20 Jahren. Als »Inseln des Selbst«17 aktualisieren diese Erinnerungen den Schmerz jener Zeit ebenso wie die Mechanismen seiner Verdrängung: All diese hübschen Mädchen. Offenbar war keine von ihnen gewillt, übergangen zu werden. Ich finde Du hast Dich gut geschlagen – – – verglichen mit einigen Deiner Kollegen, die ihre Frauen verlassen haben. Sie wollten sich einfach nicht damit abfinden. Ich finde, die Menschen erwarten zu viel vom Leben. Am liebsten würden sie sich jeden Tag verlieben. Was für eine Last. Und dieses alberne Ding. Dieses dumme Kind Veronika. Sie war in dem Alter, in dem alle rumrennen und sagen, sie würden sich umbringen. Das nimmt doch niemand ernst. – – Du hattest mir ein neues Leben versprochen. Wir sind hierhergezogen und du hast mir das hier gegeben. Wie lange ist das jetzt her? (TC: 00:31:43-00:32:42)

An dieser Stelle offenbart die Krankheit Fionas gleichsam die Schattenseite von Erinnerungen, insofern sich diese nicht nur als willkürliche Suche koordinieren lassen. Mit der Ankunft im Pflegeheim wird die Verlustangst Grants plastisch. Um den Patientinnen und Patienten die Eingewöhnung zu erleichtern, werden diese für den Zeitraum von drei Wochen von ihren Partnern getrennt. Grant, der dem Ende dieser Zeit heftig entgegen fiebert, putzt und schmückt sich, da die Stunde des Wiedersehens endlich naht, wie zu einem ersten Rendezvous. Doch Fiona erkennt ihn nicht. Er ist für sie ein Fremder geworden, ein Verehrer, der nicht aufgibt und sie täglich besucht. In einem Bewohner des Heimes, der sich in Kurzzeitpflege befindet, hat sie einen neuen Partner gefunden. Mit dem fortschreitenden Verlust an Erinnerung zerfällt gleichsam die Identität des Paares, um die Grant in einer fortwährenden Aktualisierung gemeinsamer Vergangenheit kämpft. Doch alle Versuche der Erinnerungsarbeit scheitern. Auch im Spielfilm Amour von Michael Haneke ist die Erkrankung der Partnerin Ausgangspunkt der Geschichte. Die Erzählung beginnt mit einer Rückblende. In einem Pariser Wohnhaus bricht die Feuerwehr mit Gewalt eine Wohnungstür auf. Die Atemmasken auf ihren Gesichtern lassen Verwesungsgeruch erahnen. Im Schlafzimmer der Wohnung liegt eine alte Frau aufgebettet – festlich gekleidet und mit Blumen geschmückt. In einer Rückblende wird die Geschichte, die zu diesem Ende führt, erzählt. Es ist die Geschichte eines gut situierten Paares, beide Musikprofessoren, etwa im 80. Lebensjahr. Als das Paar eines Abends von einem Konzert nach Hause zurückkehrt, müssen sie feststellen, dass in ihrer Wohnung eingebrochen wurde. Anne (Emmanuelle Riva) erleidet einen Schlaganfall und ist nach einem missglückten chirurgischen Eingriff auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie bittet George (Jean-Louis Trintignant), sie vor einem weiteren Krankenhaus17 | Andreas Kruse: Altern in Balance?! Psychische Gesundheit im Alter – Chancen und Herausforderungen. Vortrag am 20. Juni 2013 in Berlin, http://www.gesundheitsinfoniedersachsen.de/CMS/images/stories/PDFs/Kruse_Lebensqualitaet-Demenz.pdf  [Zugriff: 28.09.2015], S. 3.

Liebe als Selbstfindungsprozess im Alter

aufenthalt zu bewahren. Liebevoll pflegt dieser seine Frau. Durch Routinen und Rituale gelingt es zunächst, den gewohnten Beziehungsalltag fortzusetzen. In ausführlich inszenierten Sequenzen beobachten wir das Paar bei den Mahlzeiten, bei der Abendlektüre oder den Gesprächen. Doch nach einem weiteren Schlaganfall verschlechtert sich der Zustand Annes drastisch. Sie ist an das Bett gebunden und kann sich weder bewegen noch artikulieren. George pflegt seine Frau mit aller Liebe und der Kraft der Erinnerung an die gemeinsame Zeit, während sie sich zunehmend aus der gemeinsamen Welt verabschiedet. Mehrfach unterbrochen wird die Erzählung von den Besuchen der Tochter Eva (Isabelle Huppert), die erschüttert vom Zustand der Mutter auf eine professionelle Pflege drängt. George bleibt konsequent und beginnt Anne zu verstecken. Als Eva sich schließlich dennoch Zugang zur Mutter verschafft und tränenüberströmt nach einer Erklärung verlangt, berichtet er: »Deiner Mutter geht es, wie erwartet, gleichmäßig schlecht. Sie wird mehr und mehr zu einem völlig hilflosen Kind. Das ist traurig und demütigend für uns. Sie möchte so nicht gesehen werden.« (TC: 00:31:45-00:31:56) Mit viel Geduld pflegt George seine Frau, singt und spricht mit ihr und versucht mit Anne, in biographischen Rückblicken in die gemeinsame Beziehungsvergangenheit zu tauchen. Doch dann schwinden auch seine Kräfte. Als eines Tages wieder die quälenden Hilferufe unerbittlich durch die Wohnung hallen, erzählt er ihr zur Beruhigung eine Geschichte aus seiner Kindheit und erstickt sie mit einem Kopfkissen. Dann kauft er einen großen Strauß Blumen, trennt sorgsam Blüte um Blüte von den Stängeln und wählt aus Annes Kleiderschrank ein festliches Kleid. Als er beginnt, einen Abschiedsbrief zu schreiben, vernimmt er eine Taube, die orientierungslos in der Wohnung umherirrt. Mit einer Decke fängt George die Taube ein und nimmt sie liebevoll in den Arm. Dann sehen wir ihn auf einer Liege, die Arme auf dem Bauch verschränkt, regungslos. Geräusche unterbrechen die Ruhe. Es sind die Geräusche von Geschirr und Wasser, die aus der Küche dringen. George richtet sich auf und läuft bedächtig dorthin. Anne steht an der Spüle und sagt, sie sei gleich fertig, er könne schon einmal seine Schuhe anziehen. Beide verlassen die Wohnung. Zurück bleibt ein leerer Flur.

D er V erlust des A nderen als N euanfang eines befreiten S elbst Anders als in vorangegangenen Beispielen thematisiert eine zweite Gruppe von Filmen Verlust weniger aus der Perspektive des Abschiednehmens, sondern stellt den hierdurch ermöglichten Neuanfang in den Mittelpunkt der Erzählung. Der Tod des Partners wird hier in der Regel nicht explizit dargestellt, sondern vielmehr in den Anfangssequenzen des Filmes als die die Gegenwart entscheidend konstituierende Vorgeschichte kenntlich gemacht. Die überwiegend weiblichen Protagonisten dieser Filme waren ihren tonangebenden Ehepartnern meist ein Leben lang treu verbunden und sehen sich nun vor die Aufgabe gestellt, ein Ver-

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hältnis zu sich selbst als Lebensentscheidungen tragende Instanz zu entwickeln. Erst ein Ereignis, das jene unhinterfragte Selbstverständlichkeit der eigenen Seinsbedingungen erschüttert, ermöglicht eine solche Konfrontation und führt überdies dazu, dass die Lücke, die der Tod des Partners hinterlässt, einen neuen Möglichkeitsraum der Selbstverwirklichung eröffnet. So ist etwa der Tod des Partners in der schweizerischen Filmproduktion Die Herbstzeitlosen (CH 2006) von Bettina Oberli mit einer Rückbesinnung der Hauptdarstellerin auf den eigenen Lebensweg verbunden, der sie mit den längst verschütteten, da von den Prioritäten des Ehelebens überlagerten, Lebensträumen konfrontiert. Zunächst reißt der Verlust die 80-jährige Martha (Stephanie Glaser) in eine tiefe Krise. Sie kann sich ein Leben ohne den Partner nicht mehr vorstellen und hofft nichts mehr, als diesem schnell folgen zu können. Als ihre lebenslustige Freundin Lisi (Heidi Maria Glössner) sie dazu ermuntert, sich endlich von der Garderobe ihres Mannes zu trennen, entdeckt diese im Kleiderschrank eine Kiste mit Dessous. Martha eröffnet ihrer Freundin beschämt und stolz zugleich, jene erotischen Kleidungsstücke während ihrer Zeit als Damenschneiderin in Bern gefertigt zu haben. Als Martha kurze Zeit später mit ihren Freundinnen Lisi, Hanni (Monica Gubser) und Frieda (Annemarie Düringer) für einen Einkauf nach Bern reist, lenkt Lisi die Frauen geschickt an einer DessousBoutique vorbei und erklärt den verblüfften Freundinnen: »Übrigens hat unsere Martha früher auch Dessous genäht.« (TC: 00:15:57-00:15:59) Martha erklärt nun, dass sie auch eine »Spezialausbildung für Miederwaren« (TC: 00:16:03-00:16:07) absolviert hat, ihre Berufspläne wegen ihres Mannes aber niemals verwirklichen konnte: »Der Hans wollte nicht, dass ich so etwas mache bei uns im Dorf.« (TC: 00:16:10-00:16:13) Verträumt besinnt sie sich jener Tage: »Damals in Bern hatte ich noch Träume. Nach Paris gehen und eine eigene kleine Boutique aufmachen, an der Champs-Élysées mit Samtbordüren und einem damast-grünen Samtvorhang vor der Umkleidekabine. Tja und dann bin ich halt wieder in Trub gelandet.« (TC: 00:18:18-18:45) Lisi schlägt vor, dass Versäumte nachzuholen, doch die Freundinnen sind skeptisch: »Alles hat seine Zeit und damit muss man sich abfinden.« (TC: 00:19:17-00:19:22) Doch Martha findet sich nicht damit ab. Durch die fortlaufende Ermunterung Lisis ermutigt, verwirklicht sie den Traum ihrer jungen Jahre und eröffnet eine Lingerie-Boutique. Beeindruckt von der Stärke ihrer Freundin unterstützen Hanni und Frieda Marthas Pläne und finden selbst den Mut, neue Wege zu gehen. Hanni erwirbt einen Führerschein, um – entgegen den Plänen des lieblosen Sohnes – den Partner nicht in ein Pflegeheim verabschieden zu müssen, sondern die Arztbesuche nun selbst organisieren zu können. Frieda gibt letztlich den Avancen eines Mannes nach und erlebt eine späte Liebe. Die konservative Dorfgemeinde ist empört und versucht, die Pläne der Frauen mehrfach zu unterwandern. »Jetzt werdet doch wieder normal. Verdammt noch mal. [...] Habt ihr alle den Verstand verloren. Benehmt Euch doch endlich mal wie normale Alte!« (TC: 01:07:45-01:07:54) Während eines Dorffestes kommt es zu einer turbulenten Auseinandersetzung zwischen Martha, ihren

Liebe als Selbstfindungsprozess im Alter

Freundinnen und dem reaktionären Gemeindepräsidenten Fritz. Doch die Frauen überzeugen und können die Gemeinde für sich gewinnen. Ein ähnliches Beispiel ist die Tragikomödie Irina Palm (GB/B/LUX/D/F 2007) von Sam Garbarski. Die Hauptdarstellerin Maggie (Marianne Faithfull) hat immer das Leben einer fürsorglichen und aufopferungsvollen Partnerin, Hausfrau, Mutter und Großmutter geführt. Als ihr Enkelsohn Olly (Corey Burke) schwer erkrankt, gerät sie an ihre Grenzen. Weder die finanziellen Mittel des arbeitslosen Sohnes Tom (Kevin Bishop) und dessen Frau Sarah (Siophán Hewlett) noch ihre eigenen genügen, die kostenintensive medizinische Behandlung zu tragen. Sie sucht Arbeit, doch die fehlende Ausbildung und das fortgeschrittene Alter machen jede Einstellung unmöglich. Als sie zufällig ein Schild mit der Aufschrift »Hostess gesucht – beste Verdienstmöglichkeiten« liest, sieht sie eine neue Chance. Im Vorstellungsgespräch erfährt sie jedoch, dass von der Hostess nicht etwa Reinigungsarbeiten und ähnliche Aufgaben erwartet werden, sondern die sexuelle Befriedigung der Kunden des Clubs »Sexy World«. Entsetzt schlägt Maggie das Angebot zunächst aus. Doch nach intensivem Hadern überwiegt der Wunsch, den Enkel zu retten. Um schnell das nötige Geld für die Operation des Enkels aufzubringen, sucht Maggie die Erwartungen des Clubbesitzers Miki (Miki Manojlović) zu erfüllen und eine gute Arbeit zu machen. In kurzer Zeit wird die fingerfertige Maggi, inzwischen Irina Palm genannt, zu einer gefragten Frau. Die Anerkennung aber auch das konsequente Widersetzen gegen die Widerstände ihrer Umwelt, der sie sich ein Leben lang gebeugt hat, verändern Maggie. In der Ästhetik des Filmes wird dieser Persönlichkeitswandel durch eine Vielzahl von Symbolen offenkundig, die eine Metamorphose der einst unscheinbaren Alten hin zu einer sichtbaren Persönlichkeit versinnbildlichen. So akzentuiert sich die einst durch den schwerfälligen Gang, die herabhängenden Schultern und die triste Kleidung gedrungene Gestalt Maggies zunehmend durch den aufrechten Gang oder die geschminkten Lippen. Ein dramaturgischer Höhepunkt dieser Entwicklung stellt eine Begegnung mit den vermeintlichen Freundinnen dar, deren herablassenden Fragen sie sich selbstbewusst stellt und denen sie stolz von ihrer Arbeit als Irina Palm berichtet. In diesem Prozess der allmählichen Selbstannahme (Selbstliebe), in dem sie zunehmend an Stärke und Selbstvertrauen gewinnt, verändert sich auch das Verhältnis zu Miki (Selbstdistanz). Maggie und Miki, der von der Stärke Maggies fasziniert ist, kommen sich näher.

L iebe als A usdruck von innerer F reiheit und S elbst verwirklichung War in den vorangegangenen Beispielen ein schicksalhaftes Ereignis Ausgangspunkt des Selbstfindungsprozesses, geht eine dritte Gruppe von Filmen einen Schritt darüber hinaus, insofern die Protagonisten und Protagonistinnen ihrem Leben eine selbstinitiierte Wendung geben. Im Mittelpunkt stehen dabei weniger

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die mit der Kontinuität partnerschaftlicher Bindungen einhergehenden (Selbst-) Verlusterfahrungen, sondern vielmehr die durch eine neue Liebesbeziehung erfahrene Bestätigung des eigenen Selbst. In der Dramaturgie einer zufälligen Bekanntschaft oder Wiederbegegnung (einer alten Liebe) wird zugleich eine Facette von Liebe thematisch, die in der filmischen Darstellung von Liebe und Altern meist ausgeblendet bleibt: Liebe als intensives und spontanes Gefühl, als körperliche Erfahrung und sexuelles Vergnügen. Ein erstes Beispiel für diese Inszenierungen, die vor allem im künstlerischen Film anzutreffen sind, ist der japanische Film Tasogare (dt. Liebestoll im Abendrot, J 2008) von Shinji Imaoka. Gedreht wurde dieser im Genre des ›pinku eiga‹ (deutsch: ›rosa Film‹). Dabei handelt es sich um kurze (meist einstündige) Filme, die überwiegend mit einem sehr geringen Budget für das Kino produziert werden. Im Unterschied zu anderen pornographischen Filmen werden erotische Szenen hier nicht nur aneinandergereiht, sondern in eine anspruchsvollere Geschichte eingebunden. Wenngleich sich das pinku eiga in Japan großer Beliebtheit erfreut und inzwischen nahezu die Hälfte der Produktionen ausmacht, bricht Tasogare mit einem Tabu. Erzählt wird die Liebesgeschichte eines 65-Jährigen. Erotik und Sexualität spielen im Leben des Funakichi (Masaru Taga) eine große Rolle. Er pflegt eine Affäre mit einer jungen Bardame, schaut Frauen im Supermarkt unter den Rock und amüsiert sich mit alten Klassenkameraden in Striptease Clubs. Eines Tages begegnet er auf einem Klassentreffen seiner Jugendliebe Kazuko (Yazuko Namikibashi). Wie Funakichi hat auch sie ihren Partner verloren und lebt allein. Die alte Liebe entflammt neu. Als Funakichi ihr auch körperlich näher kommen möchte, wehrt Kazuko zunächst ab. Als Funakichi ihre Ablehnung hinterfragt, antwortet diese: »Warum, wie kannst Du das fragen, wir sind schon 65.« (TC: 00:44:51-00:44:54) Doch dann gibt sie nach und erlebt mit ihm eine intensive Nacht. Funakichi ist fest entschlossen, die alte Liebe endlich zu binden. Doch Kazuko fehlt der Mut. Zu sehr sieht sie sich den gesellschaftlichen Konventionen verpflichtet, die in den Reaktionen ihrer Kinder unmissverständlich gespiegelt werden: »Dass Du Dich gar nicht schämst. Ihr seid doch keine Oberschüler mehr!« (TC: 00:58:45-00:58:55) Das romantische und sexuelle Glück ist am Ende nicht mehr als ein kurzer Ausbruch aus einer Identität, die letztlich eine außenbestimmte bleibt. »Heute und nur heute ist Deine Mutter eine Frau, die glückliste Frau dieser Welt.« (TC: 00:59:17-00:59:30) Ein ähnliches Beispiel ist die deutsche Filmproduktion Wolke 9 (D 2008) von Andreas Dresen. Seit 30 Jahren ist die ungefähr 65-jährige Inge (Ursula Werner) mit Werner (Horst Rehberg) verheiratet. Die Ehe funktioniert, trägt jedoch starke gewohnheitsmäßige Konturen. Der Film beginnt unmittelbar. Inge, die einer Gelegenheitsarbeit als Änderungsschneiderin nachgeht, besucht den an Lebensjahren noch deutlich älteren Karl (Horst Westphal), um diesem eine gekürzte Hose zu bringen. Während dieser das Kleidungsstück ungeniert vor ihren Augen anprobiert, kommen beide sich näher und lieben sich ebenso spontan wie leidenschaftlich auf dem Fußboden des Wohnzimmers. Das unerwartete Erleben eines

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zwar bekannten, aber doch längst vergangenen Gefühls leidenschaftlicher Liebe wirft Inge in eine schwere Krise. Sie wehrt sich gegen das Gefühl, das sie genießt und das doch auch bedrohlich ist. Im Zustand der Zerrissenheit zwischen Vernunft und Gefühl vertraut sich Inge ihrer Tochter Petra (Steffi Kühnert) an, die zwar Verständnis zeigt, jedoch darauf insistiert, die Affäre zu verheimlichen, um Ehe und Familienkonstellation nicht zu gefährden. Es beginnt eine Zeit, die gezeichnet ist vom Kontrast zwischen der nur mehr tristen Beziehung zu Werner und den leidenschaftlichen Begegnungen mit Karl. Illustriert wird der Charakter des Ehealltags etwa in der Darstellung des gemeinsamen Frühstücks, das stets begleitet vom monotonen Geräusch der Kaffeemaschine auf die nur mehr routineförmige Ausgestaltung des Miteinanders verweist. Inge, die sich als Frau längst nur noch in der Rolle einer alternden Ehefrau und Mutter sah, in deren Leben Leidenschaft und Liebe – nicht zuletzt zu sich selbst – nur mehr Teil der Vergangenheit sind, entdeckt sich in der Liebesbeziehung zu Karl auf neue Weise. Die Bilder, die hier gezeichnet werden, greifen selbstverständlich auf filmische Darstellungsformen zurück, die bislang eher Inszenierungen junger Liebe vorbehalten waren. Die Zweisamkeit des Paares bewegt sich in einem Rahmen, der durch temporale und räumliche Grenzziehungen eine »Isolation der Liebenden von ihren gewöhnlichen Tagesidentitäten«18 erleichtert und so eine Transzendenz in einen Modus der Außeralltäglichkeit schafft. Besonders anschaulich wird dies in einer Szene, in der sich Inge und Karl, an einem See badend, näher kommen. Ihre Körper erscheinen unverschleiert; die Freude am Liebesspiel wird unmaskiert zum Ausdruck gebracht. Konfrontiert mit der eigenen Körperlichkeit und der Sehnsucht nach Leidenschaft und Intimität, erlebt Inge eine neue Freiheit, die eine neue Beziehung zu sich selbst ermöglicht. Filmisch symbolisiert wird diese Entwicklung etwa in einer Szene, in der Inge, ihren unbekleideten Körper im Spiegelbild betrachtend und sich dabei liebkosend, sich selbst (wieder-)begegnet. Als sie sich entgegen aller Erwartungen und Konventionen schließlich für die neue Liebe entscheidet, eskaliert die Situation. Ehepartner und Tochter werfen ihr Naivität und Egoismus vor, die das Leben der anderen zerstören würden. Der Film endet mit dem Suizid Werners, dessen Leben, ohne seine Lebensgefährtin wertlos geworden ist.

R esümee Kehren wir zum Ausgangspunkt meiner Ausführungen zurück. Inwiefern deutet sich in den beschriebenen Filmen ein soziokultureller Wandel des Alters an? In der Tat lässt sich einschätzen, dass das Thema der späten Liebe im Film eine zunehmende Normalisierung erfährt. Ältere, so könnte man sagen, werden des Schattendaseins ihrer Nebenrollen enthoben und auf die Bühne des medialen Le18 | Illouz: Konsum der Romantik, S. 143.

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bens gestellt. Liebe erscheint dabei maßgeblich als thematischer Rahmen, indem die Konventionen von Liebesbeziehungen im Alter auf unterschiedliche Weise verhandelt werden. Zwei Variationen sind für diese Auseinandersetzung charakteristisch. In einer ersten Variation deuten sich die sich wandelnden Altersbilder lediglich an, insofern späte Liebe nunmehr auch als cineastisches Hauptsujet thematisch ist. Allerdings treten die alternden Darsteller und Darstellerinnen hier noch wesentlich als »Träger einer kollektiven kulturellen Identität«19 in Erscheinung, für die Liebe auch eine, aber eben eine andere Rolle spielt. Angeknüpft wird dabei überwiegend an tradierte Werte der Beziehungsstabilität und -sicherheit im Sinne eines Ideals der bürgerlichen Ehe. Erzählt wird die Geschichte einer Partnerschaft, »in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer kohärenten und übergreifenden Vision des eigenen Ichs verbunden sind«.20 Zugespitzt wird jene duale Seinsbestimmung in der filmischen Auseinandersetzung mit dem Verlust des Partners. Die Frage, die hier in den Raum gestellt wird, lautet: Was geschieht, wenn mit dem Partner ein Teil des eigenen Selbst verloren geht? Krankheit und Tod stellen zweifelsohne Themen dar, die im höheren Lebensalter eine zunehmende Relevanz erhalten. Das »Akzeptieren des Verlustes der Nächsten« stellt »eine der am schwersten zu vollbringenden existenziellen Leistungen des Menschen« dar.21 Der Verlust provoziert zwangsläufig die Reflexion auf das eigene Selbst und die eigene Biographie, für die das gemeinsam Erlebte konstitutiv ist. Er führt zu einer Neukonfrontation mit diesen Erfahrungen, insofern diese nun nicht mehr Bestandteil eines gestaltbaren und offenen Beziehungsprozesses sind, sondern ein Teil des eigenen Weges seinen Endpunkt erreicht. Und er ist verbunden mit der Notwendigkeit eines neuen Selbstentwurfes. In den skizzierten Filmbeispielen wird dieser Selbstentwurf wesentlich als Rückblick im Modus der Erinnerung an das Gemeinsame inszeniert, hingegen werden Perspektiven eines Neubeginns entweder negiert (durch den eigenen Tod) oder ausgeblendet (durch das Ende des Filmes). Und auch in der Erinnerung werden Zweifel und Brüche im Sinne einer Reflexion der partnerschaftlichen Verbindung nur andeutungsweise verhandelt, so etwa mit Blick auf die Entbehrungen und Verletzungen des Selbst: der Ehmann, der seine Libido in Seitensprüngen befriedigt; die Ehefrau, welche den Betrug zugunsten der Partnerschaft verdrängt. Wesentlich stärker deutet sich eine Neuverhandlung von Altersidentitäten in einer zweiten Variation filmischer Inszenierungen an, insofern die »romantische Formel« des Liebesfilmes nun mehr auch in Bezug auf das Alter in Anschlag ge19 | Krassimir Stojanov: Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzungen von SelbstEntwicklung und Welt-Erschließung, Wiesbaden 2006, S. 167. 20 | Illouz: Konsum der Romantik, S. 191. 21 | Thomas Rentsch: Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Ethik des späten Lebensalters, in: Peter Borscheid (Hg.): Alter und Gesellschaft, Stuttgart 1995, S. 53-62, hier S. 59.

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bracht wird. Der Verlust des Partners markiert in diesem Zusammenhang einen biographischen Wendepunkt, der nicht als Ende problematisch ist, sondern neue Möglichkeiten der Selbsterkundung und -entfaltung eröffnet. Die filmischen Narrationen beschreiben hier eine Art ›Coming of Age‹, wie es bislang für die Inszenierung jugendlicher Liebe charakteristisch war. In Anschluss an Waldenfels können wir diesen Zustand auch als »relative Fremdheit« bezeichnen, insofern diese Fremdheit hier nur »einen vorläufigen oder vorübergehenden Charakter aufweist, also unter günstigen Umständen und auf Dauer überwunden werden kann«.22 Die Protagonistinnen begegnen der Notwendigkeit einer neuen Selbstverortung, da sie im konsequenten Widerstand gegen den Protest ihrer Umwelt den eingetretenen Pfad ihres Lebens verlassen und neue Wege gehen. In diesem Prozess der Selbstbehauptung wachsen sie gleichsam über sich hinaus und treten in ein neues Verhältnis zu sich selbst. In diesem Zusammenhang – und das ist in meiner Sicht entscheidend – erscheinen sie nicht mehr nur als Träger einer kollektiven kulturellen (Alters-)Identität, sondern als eigenständige und einzigartige Persönlichkeiten. Auffällig häufig handelt es sich bei den Hauptdarstellern jener Erzählungen um Frauen, deren Schicksale das Sujet eines anderen, mithin widerständigen Alterns besonders plastisch zu inszenieren vermögen, insofern hier unterschiedliche kulturelle Tradierungen zu einem markanten Gegenhorizont verschmelzen. Das Alter wird dabei nicht selten als Renaissance aufgeführt, als Rückbesinnung und Neuanfang eines in völliger Selbstaufgabe für den Anderen (häufig durch die Subordination der Frau unter den Ehemann) gelebten Lebens. In der Narration der Selbstverwirklichung finden sich jene lebensleitenden Werte in der Regel von sozialen Bezugspersonen verkörpert (z.B. Familienangehörige oder Nachbarn). In der Auseinandersetzung mit diesen als Gegenspieler inszenierten Protagonisten versinnbildlicht sich der emanzipierende Widerstand gegen Fremdbestimmung und die (Wieder-)Entdeckung des eigenen Selbst. In dieser zweiten Variation spielt auch das Thema Eros und Sexualität eine besondere Rolle. In der Dramaturgie der skizzierten Filmbeispiele fungiert Intimität nicht als Begleiterscheinung einer Beziehungsgeschichte, sondern vielmehr als Möglichkeitsraum einer neuen körperlichen Selbsterfahrung. Im gegenseitigen Begehren der Protagonistinnen und Protagonisten, so könnte man sagen, erfährt der alternde Körper eine Wiederbelebung, die eine Verschmelzung von stillem Begehren und gelebter Praxis erlaubt. Indem sie lieben, überlassen sie ihren Körper sich selbst, entkoppeln ihn in einer »rauschartig[en] Ausschaltung des geistigen Personseins«23 von den gesellschaftlichen Erwartungen und erfahren so die Einheit des Körpers und mit ihr eine Selbst-Identifikation in elementarer Weise. 22 | Bernhard Waldenfels: Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 2012, S. 297. 23 | Ludwig Binswanger: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, München 1962, S. 162.

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Vor dem Hintergrund der ästhetischen Konventionen der Medien, denen zu Folge die Intimität alternder Paare auf der Ebene eher einer diskreten Andeutung verbleibt, kommt diese unverschleierte Inszenierung von Sexualität einem Tabubruch gleich. Aber ist dem wirklich so? Es ist naheliegend, dass in diesen Filmbeispielen der Werte- und Erfahrungshorizont und damit die ›Emanzipationsnorm‹ von Vertretern einer Generation thematisch werden, welche die zeitgenössischen Alter(n)sdiskurse wesentlich (mit-)tragen, indem sie, an der Schwelle zum Alter stehend, ihre gegenwärtigen, eigenen Vorstellungen aber auch Ängste und Wünsche auf ein neues Modell von Liebe im Alter projizieren. Burkhard Schäffer, der hierfür den Begriff der »medial vermittelten konjunktiven Information« eingeführt hat,24 argumentiert, dass konjunktive Informationen entstehen, wenn in Erfahrungsräumen präsente Wissensbestände medial codiert werden, d.h., wenn über Aspekte des Handelns innerhalb dieser Erfahrungsräume berichtet wird. Die sich seit den 1960er Jahren herausbildenden Emanzipationsmuster haben nicht nur eine Pluralisierung von Existenzformen möglich gemacht; das von jener Generation ausgebildete kulturelle Ideal der tentativen Selbstverwirklichung ist zumindest in bestimmten Milieus zu einer Lebenshaltung avanciert, die in spezifischen Lebensstilweisen bis in das (gerade auch) höhere Lebensalter aufrechterhalten wird. Zwar lässt sich einschätzen, dass sich ohne jene objektiven Rahmenbedingungen des demographischen Wandels die neuen kulturellen Alter(n)sideale nicht hätten bilden können, für das zeitgenössische Ideal der sich selbst verwirklichenden Alten aber ist jener Generationenaspekt gewiss konstitutiv. »Sexualität«, so konstatiert der Alternswissenschaftler Leopold Rosenmayr schon Mitte der 1990er Jahre, ist »ähnlich wie bei den Jungen und bei den Frauen zum Emanzipationssymbol geworden«.25 Und dennoch, den Status der Selbstverständlichkeit hat das Thema Alterssexualität im Kino der Gegenwart zweifellos noch nicht erreicht. Ungeschminkte und offenkundige Sexualpraktiken finden sich noch selten und vor allem im Bereich des experimentellen-künstlerischen Films. Und auch hier veranschaulichen die Kontrahenten weiblicher Selbstverwirklichung, wie wenig selbstverständlich der späte – weibliche – Eros ist. In den Reaktionen dieser Gegenspieler – verkörpert vor allem von Familienangehörigen, die um das Ansehen der Familie fürchten – werden alte Muster reaktiviert, denen zu Folge Alterswürde eine Selbstbeherrschung und Disziplinierung von Körper und Begehren impliziert. Es sind dies Konventionen, die trotz aller Widerstände am Ende der Filme den Lauf der Dinge dirigieren: In Tasogare beugt sich Kazuko den Erwartungen der Familie und beendet die Beziehung; im Film Wolke 9 wird das neue Liebesglück von Werners Suizid überschattet oder gar sanktioniert? Auch stellt sich die Frage, ob die Betonung des Körperlichen tatsächlich eine neue ›Freiheit‹ des Alters begründet oder ob ihre Inszenierung nicht vielmehr an 24 | Burkhard Schäffer: Generationen – Medien – Bildung, Opladen 2003, S. 117. 25 | Rosenmayr: Eros und Sexus im Alter, S. 104.

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tradierte gesellschaftliche Kategorisierungen geknüpft ist, die alte Stigmata lediglich in neuen Gewändern präsentieren. Vor diesem Hintergrund ist dann auch zu fragen, inwiefern das Gegenwartskino den sexuellen Nuancen und geschlechtlichen Vorlieben der biographischen Erfahrungskomplexität und Diversität im Alter tatsächlich gerecht zu werden vermag. So bleibt etwa das gesellschaftliche Muster der Heteronormativität im Sujet der späten Liebe nach wie vor unhinterfragt. Als komplexes Medium der (Selbst-)Beobachtung von Kultur bietet gerade der Film vielfältige Möglichkeiten, kulturelle Identitätssymbole zu hinterfragen und auf diese Weise neue Perspektiven auf biographische Reflexionsprozesse im höheren Lebensalter zu eröffnen.26 Eine solche Perspektive ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil mit dem Alter(n) zunehmend eine Lebenszeit der Erkundung neuer Möglichkeiten und Lebensweisen verbunden ist, sondern zugleich eine Lebensphase des Aufkommens von Alterssubkulturen entsteht.27

Q uellenverzeichnis Filme Amour (dt. Liebe, F/D/A 2012, Regie: Michael Haneke). Away from Her (dt. An ihrer Seite, CDN 2006, Regie: Sarah Polley). Die Herbstzeitlosen (CH 2006, Regie: Bettina Oberli). Irina Palm (GB/B/LUX/D/F 2007, Regie: Sam Garbarski). Tasogare (dt. Liebestoll im Abendrot, J 2008, Regie: Shinji Imaoka). Wolke 9 (D 2008, Regie: Andreas Dresen).

26 | Vgl. dazu Benjamin Jörissen, Winfried Marotzki: Mediale Inszenierungen des Erinnerns und Vergessens, in: Margret Dörr u.a. (Hg.): Erinnerung – Reflexion – Geschichte, Wiesbaden 2008, S. 93-105; Anja Hartung: Mit den eigenen Augen sehen – zur selbst- und weltkonstitutiven Bedeutung des Fernsehens im höheren Alter. Forschungsstand und Perspektiven, in: Bernd Schorb, Anja Hartung, Wolfgang Reißmann (Hg.): Medien und höheres Lebensalter, Wiesbaden 2009, S. 224-242 sowie dies.: ›Not really a spectator sport‹. Liebende Alte im zeitgenössischen Film in der Wahrnehmung eines älteren Publikums, in: dies. (Hg.): Liebe(n) und Alter(n). Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011, S. 203-228. 27 | Vgl. dazu Harm-Peer Zimmermann: Alters-Ratgeber und Alters-Avantgarden. Populäre Aspekte differentiellen Alterns, in: Thomas Schürmann, Moritz Geuther, Lioba Thaut (Hg.): Alt und Jung. Vom Älterwerden in Geschichte und Zukunft, Rosengarten-Ehestorf 2011, S. 383-390.

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Sekundärliteratur Binswanger, Ludwig: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, München 1962. Bordwell, David; Thompson, Kristin; Staiger, Janet: The Classical Hollywood Cinema: Film Style and Mode of Production to 1960, New York 1985. Dresen, Andreas: Solange unser Herz noch schlägt. Aus der Projektbeschreibung für den Film WOLKE 9, in: Anne Stabrey (Hg.): Wolke 9. Buch zum Film »Wolke 9« von Andreas Dresen, Stuttgart 2008, S. 8-13. Eekman, Piet: Liebe(n) und Alter(n) filmisch inszenieren. Die Regisseure Katrin Bühlig und Piet Eekman im Gespräch, in: Anja Hartung (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011, S. 129-147. Flicker, Eva; Formanek, Nina; Gerstmann, Katja: Mediale Repräsentationen von Alte/r/n in Bild und Text. Anzeichen für einen allmählichen Paradigmenwechsel, in: Clemens Schwender, Dagmar Hoffmann, Wolfgang Reißmann (Hg.): Screening Age. Medienbilder – Stereotype – Altersdiskriminierung, München 2013, S. 23-38. Hartung, Anja: Mit den eigenen Augen sehen – zur selbst- und weltkonstitutiven Bedeutung des Fernsehens im höheren Alter. Forschungsstand und Perspektiven, in: Bernd Schorb, Anja Hartung, Wolfgang Reißmann (Hg.): Medien und höheres Lebensalter, Wiesbaden 2009, S. 224-242. Hartung, Anja: ›Not really a spectator sport‹. Liebende Alte im zeitgenössischen Film in der Wahrnehmung eines älteren Publikums, in: Anja Hartung (Hg.): Liebe(n) und Alter(n). Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011, S. 203-228. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Sittlichkeit, Hamburg 1967 (Original 1802/03). Honneth, Axel: Vorwort, in: Eva Illouz: Der Konsum der Romantik, Frankfurt a.M. 2007, S. 17-22. Illouz, Eva: Die Errettung der modernen Seele, Frankfurt a.M. 2009. Illouz, Eva: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, übers. v. Andreas Wirthensohn, Frankfurt a.M. 2007. Jörissen, Benjamin; Marotzki, Winfried: Mediale Inszenierungen des Erinnerns und Vergessens, in: Margret Dörr, Heide von Felden, Regina Klein, Hildegard Macha, Winfried Marotzki (Hg.): Erinnerung – Reflexion – Geschichte, Wiesbaden 2008, S. 93-105. Kruse, Andreas: Altern in Balance?! Psychische Gesundheit im Alter – Chancen und Herausforderungen. Vortrag am 20. Juni 2013 in Berlin, online: http:// www.gesundheitsinfo-niedersachsen.de/CMS/images/stories/PDFs/Kruse_ Lebensqualitaet-Demenz.pdf [Zugriff: 28.09.2015].

Liebe als Selbstfindungsprozess im Alter

Kübler, Hans-Dieter: Alter und Medien, in: Jürgen Hüther, Bernd Schorb (Hg.): Grundbegriffe Medienpädagogik, 4., vollst. neu konzipierte Aufl., München 2005, S. 17-23. Rentsch, Thomas: Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Ethik des späten Lebensalters, in: Peter Borscheid (Hg.): Alter und Gesellschaft, Stuttgart 1995, S. 53-62. Ricœur, Paul: Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkennen, übers. von Ulrike Bokelmann und Barbara Heber-Scherer, Frankfurt a.M. 2006. Rosenmayr, Leopold: Eros und Sexus im Alter, in: Peter Borscheid (Hg.): Alter und Gesellschaft, Stuttgart 1995, S. 87-108. Schäffer, Burkhard: Generationen – Medien – Bildung. Medienpraxiskulturen im Generationenvergleich, Opladen 2003. Stojanov, Krassimir: Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzungen von SelbstEntwicklung und Welt-Erschließung, Wiesbaden 2006. Waldenfels, Bernhard: Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 2012. Wegener, Claudia: Vom Kino zum Social-Cinema? Bewegtbildnutzung im Wandel, in: Anja Hartung, Thomas Ballhausen, Christine Trüötzsch-Wijnen, Alessandro Barberi, Katharina Kaiser-Müller (Hg.): Filmbildung im Wandel, Wien 2015, S. 65-76. Zimmermann, Harm-Peer: Alters-Ratgeber und Alters-Avantgarden. Populäre Aspekte differentiellen Alterns, in: Thomas Schürmann, Moritz Geuther, Lioba Thaut (Hg.): Alt und Jung. Vom Älterwerden in Geschichte und Zukunft, Rosengarten-Ehestorf 2011, S. 383-390.

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The Spectrum of Desire Late-Life Love and Intimacy in Hope Springs and Autumn Spring Pamela Gravagne

I ntroduction Chin and eyes cast downward, his morose expression looking more like that of an old Bassett hound betrayed by an unwelcome change in routine than that of a mature man, Arnold (Tommy Lee Jones) sits uncomfortably as years of accumulated creases silently undulate across his face. At the other end of the couch, Kay (Meryl Streep), perched bird-like with straight back and pursed lips, nervously buttons and unbuttons her sweater while quietly recounting the history of her sexual pleasures, disappointments, and hopes for the future. Led to couples therapist Dr. Feld’s (Steve Carell) office by Kay’s frustration with the stultifying inertia and lack of intimacy in their 31-year marriage, Arnold and Kay’s sometimes fumbling yet always poignant attempts to reclaim the sexual desire that brought them together in the first place makes for what one reviewer called a minor miracle of a movie: one that treats the complicated desire, love, and intimacy of a long-term marriage with both candor and respect. The above scene is from Hope Springs (Wie beim ersten Mal, US 2012) by director David Frankel, one of the best in a spate of recent movies, such as Autumn Spring (Frühling im Herbst, CS 2001) by Vladimír Michálek, as well as The Mother,1 Beginners,2 Innocence,3 Still Mine,4 The Best Exotic Marigold Hotel,5 Amour,6 Love

1 | The Mother (Die Mutter, GB 2003, direction: Roger Michell). 2 | Beginners (US 2010, direction: Mike Mills). 3 | Innocence (Erste Liebe, zweite Chance, AU/B 2000, direction: Paul Cox). 4 | Still Mine (Für immer dein, CDN 2012, direction: Michael McGowan). 5 | The Best Exotic Marigold Hotel (GB/IND 2011, direction: John Madden). 6 | Amour (Liebe, F/A/D 2012, direction: Michael Haneke).

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is Strange,7 and the documentaries Still Doing It 8 and The Age of Love,9 that signal both the film industry’s growing interest in an aging population’s appetite for richer depictions of relationships encompassing desire, love, and intimacy in later life, and its increasing willingness to disregard attitudes that deem the display of older bodies and their intimate needs and desires unseemly and unwelcome. Among these movies, Hope Springs stands out for the position it occupies at one edge of what might be called a spectrum of desire, and Autumn Spring for its position at the other. As defined in the American Heritage Dictionary, a spectrum is a »broad […] range of related qualities, ideas, or activities«10 some features of which are displayed in comparative form along a straight line. In contrast to an arc, a rising and falling shape reminiscent of the curve generally associated with the stages of life and the narrative of decline, a spectrum gives no necessary connotation of superiority or inferiority to any of the qualities it displays. Thus, a spectrum of desire could display an array of definitions and expressions of desire beginning, for instance, with relationships of affection, fondness, and companionship at one end, such as the relationships portrayed in Autumn Spring or Love is Strange, continuing through relationships mainly characterized by infatuation, ardor, and lust in the middle, like the affair in Innocence or some of the scenes in The Best Exotic Marigold Hotel, and ending with relationships expressing more unadulterated passion, sexual appetites, and even venery at the far end, such as those depicted in Hope Springs, Beginners, and The Mother, without implying that one type of relationship is preferable to another. As Ingrid Connidis argues in Intimate Relationships: Learning from Later Life Experience, relationships that occur in later life, rather than clumping together at any one point along such a spectrum, are embodied in an extraordinary variety of forms, all of which can demonstrate the »commitment, deep feelings and expressions of caring and compassion, thinking about another and sharing values and goals, physical intimacy ranging from close proximity to sexuality, and interdependence«11 that characterize expressions of intimacy and desire. As relationships with the potential for sexual involvement, Connidis further identifies nine varieties of desirous relationships occurring in later life: »marriage, remarriage, same-sex partnership [or marriage], opposite-sex cohabitation with sexual sharing, living apart together, affairs, abandoned relationships, absent relationships, and unrequited relationships«, a list that suggests that a lifetime »of 7 | Love is Strange (US/F 2014, direction: Ira Sachs). 8 | Still Doing It (US 2003, direction: Deirdre Fishel). 9 | The Age of Love (US 2014, direction: Steven Loring). 10 | Anonym: Art. Spectrum, in: The American Heritage Dictionary of the English Language, pub. by Houghton Mifflin Company, Boston 1970, p. 1240. 11 | Ingrid Connidis: Intimate Relationships: Learning From Later Life Experience, in: Toni M. Calastani, Kathleen F. Slevin (eds.): Age Matters. Re-Aligning Feminist Thinking, New York 2006, pp. 123-153, here p. 126.

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experience may make us more rather than less open to change and possibility« in the way we structure our intimate relationships.12 Despite pervasive ageist assumptions that portray old people as undesirable, unattractive, asexual, and often uninterested in amorous relationships, Connidis’ work, like the movies mentioned above, »encourages a view of older persons as romantic and sexual beings and […] as potential life-long intimates [...] [and] broadens our conception and deepens our understanding of intimate relationships at all ages«.13 Looked at in this way, the spectrum of desire refers to all the varieties of affectionate and amorous relationships that may occur across the life course and demonstrates that »old age need not signal either an absence of interest in sex or an inability to change either views or behavior«14 during a relationship. Drawing on the idea of a spectrum of desire, this paper looks at Hope Springs and Autumn Spring as films that are representative of opposite edges of this spectrum and analyzes how each contributes to a more expansive view of desire, love, and intimacy among older people. Although the range of desire depicted in any single movie will seldom fit neatly into one single area of this spectrum, I argue that seeing these two films as portraying contrasting responses to problems that may inhibit the fulfillment of desire as we age can help us understand later-life desire as enabling a diversity of options for the creation, rekindling, or continuation of a loving, intimate relationship. Thus, the spectrum of desire can be a useful tool for judging how well the portrayal of older characters in a film reinforces a stereotypical narrative of decline that asexualizes older people, often portraying them as beyond the reach of desire, or reimagines relationships among older people as capable of expressing as deep and wide a range of desire, love, and intimacy as those of any other age. As Amir Cohen-Shalev writes in Visions of Aging. Images of the Elderly in Film, to the extent that film can be »a creative outlet for exploratory approaches to the phenomena of aging«, it has the potential to challenge our fears and prejudices about growing old and to provide »a meaningful vision of aging«15 that can enrich and enlarge both our concept of desire and our practical life strategies for fulfilling our desire as we age.

H ope S prings E ternal Starring veteran actors Tommy Lee Jones and Meryl Streep who, at 66 and 63 respectively at the time of filming, are secure enough in their character and in their craft to let their wrinkles hang out, and directed by David Frankel whose goal 12 | Ibid., p. 126 and p. 129. 13 | Ibid., p. 125. 14 | Ibid., p. 144. 15 | Amir Cohen-Shalev: Visions of Aging. Images of the Elderly in Film, Portland 2009, p. 2 and p. 1.

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was to make an inspiring film that dealt with grownup problems, Hope Springs stands out for the quietly revolutionary way it manages to normalize and humanize sexual desire in later life. Offering up representations of older adults that expand the age range of our collective sexual imagery, it manages to do so without either romanticizing or sensationalizing carnal desire. By asking us to include older people with whom we may have no trouble identifying in our intimate imaginary, Hope Springs both helps debunk the ageist notion that people »cease to be the same people or become people of a distinct and inferior kind, by virtue of having lived a specified number of years«,16 and helps uncover the »unique difference that the passage of time and accumulation of experience can make to intimate relationships«17 in later life. Set in a comfortable middle-class neighborhood in Omaha, Hope Springs opens with a shot of Kay in a low-cut, flowing nightgown, nervously fluffing her hair while standing in front of a full-length mirror. Breathing deeply, she slowly walks down the hall and tapping lightly on a door, opens it a crack and tentatively steps in. Barely bothering to look up from his golf magazine, Arnold asks her what she wants, assuming it must be a quotidian complaint about something like the temperature of her room. But, rather than complain, Kay hopefully murmurs »I could sleep in here tonight… I just wanted…« (TC: 00:01:29-00:01:45), a suggestion that Arnold gently rebuffs by muttering something about how the pork he ate has upset his stomach. Unwilling to pursue her desire further, Kay says, »That’s OK, I’ll just go back«, (TC: 00:02:10-00:02:13) and retreats to her own room where she stares blankly into the darkness, her disappointment palpable. By the end of the next day, after Arnold, his head buried in the newspaper, has eaten the single slice of bacon and lone egg Kay carefully prepares for him each morning, given her the usual perfunctory peck on the cheek on his way out to work, and fallen asleep to the droning purr of the usual golf tips on the flat-screen TV before Kay wakes him to go upstairs to separate beds, the pain and longing in Kay’s eyes as she pulls up the covers for one more lonely night have already let the audience know that something is about to change. Not content to spend the rest of her days in a relationship that papers over its lack of intimate contact and communication with rituals and routines of avoidance, Kay braves the sex section of a local bookstore to come away with You Can Have the Marriage You Want by Dr. Bernie Feld. After reading the book in her car and quietly investigating the doctor online, Kay uses her own money to arrange a week-long trip for couples counseling at Dr. Feld’s office in Great Hope Springs, ME. When she presents Arnold with his ticket for the flight the next morning at breakfast, he soundly rejects the idea, telling her that she must be out of her mind, and that she should cancel the reservation or go alone. But, instead of backing down, Kay summons the courage to ask him if he remembers the last time he touched or 16 | Alex Comfort: A Good Age, London 1977, p. 35. 17 | Connidis: Intimate Relationships, p. 141.

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kissed her other than for a picture, and to tell him she’s not crazy, she just wants a real marriage again. Quiet determination overriding her accommodating spirit, Kay carries her suitcase out to a waiting taxi early the following day as Arnold, roused by the taxi’s horn, watches, sighing, from his bedroom window. Looked at from the perspective of physician and age-scholar Gene Cohen, author of The Mature Mind,18 Kay’s seemingly sudden assertive behavior simply reflects the increasing ability of older adults to express their true selves and desires in a way that is forceful, yet allows a conflict-charged situation to be resolved without a loss of respect for oneself or for the other person. Possibly experiencing the feeling of ›if not now, when?‹ that Cohen says often accompanies aging, Kay’s actions, in contrast to the deferral and adjustment to others that has most likely characterized her married life to this point, seem to be shaped by a new sense of inner liberation that spurs her to act according to her own needs. Age-studies scholar Margaret Cruikshank argues that this creative attention to the self and its needs is common among older women who »may not have been able earlier to express their full individuality«19 due to cultural sexist constraints that value selfsacrifice and to expectations that women would juggle myriad family duties and responsibilities without complaint. Thus, Kay’s insistence on following through with her plan to restore her marriage and her refusal to back down, even in the face of Arnold’s outdated and clichéd questioning of her sanity, is likely an accurate representation of an older woman’s hard-won decision to do something about an unsatisfactory marriage, and possibly more common than is either continued silence and internalization of her anger and frustration, or a theatrical display of histrionics. In spite of Arnold’s obdurate refusal even to entertain the notion of counseling, he shows up in time for the flight as Kay somehow knew he would and, shoving his bag in the overhead bin, sits beside her and grudgingly mumbles, »I hope you’re happy« (TC: 00:15:23). And she is. Despite a never ending litany of complaints about the expense and the trip, the restaurant and the character of Great Hope Springs, not to mention the fact that Arnold chooses to sleep on the pullout at the EconoLodge motel rather than in the double bed, Kay tells him she’s really glad he came. When they arrive at Dr. Feld’s office for their first visit, although Arnold remains reluctant to engage in anything touchy-feely with a ›charlatan‹, under the doctor’s patient yet insistent coaching, he begins to respond to Kay’s desire for a restoration of sexual intimacy in their marriage. A series of skillfully paced, written, and acted scenes follow, full of the subtle humor, quiet tension, and painful emotion that Dr. Feld brings out in order to gradually lead Kay and Arnold to open up both to him and to each other. When Kay tells the doctor that Arnold doesn’t touch her on the arm or the shoulder the 18 | Cf. Gene Cohen: The Mature Mind. The Positive Power of the Aging Brain, New York 2005. 19 | Margaret Cruikshank: Learning to Be Old, New York 2013, p. 19.

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way he used to and that he prefers she not touch him in that way, that they never tell each other how they feel anymore, or that they sleep in separate rooms and no longer have sex, Dr. Feld responds with a measured patience and sincerity that gives them both the necessary space to consider the implications of such an unbearable lack of intimacy and the time to acquire the means to recapture it. Using their memories of falling in love or of the best sex they ever had, not to engender a sense of irretrievable loss, but to make them consider if they still want each other, if they’ve done all they can to keep their relationship alive, the doctor dares both Kay and Arnold, and us as viewers, to look long and carefully at the complexity and complications of a long-term marriage. Interspersed with sometimes heart wrenching shots of their fumbling and self-conscious attempts to perform the holding and touching exercises the doctor asks them to do, the scenes in Dr. Feld’s office result in the rare cinematic sight of two older adults who are represented as full human beings, flawed yet still desirous of each other and full of future potential. In contrast to movies such as About Schmidt (US 2002) by Alexander Payne, in which an older woman’s sexual advances toward Schmidt are pictured as humorously grotesque, as is her ample body, a strategy that conforms to the all-toocommon practice of cloaking adult sexual desire with ageist humor; or a film like The Mother where, although the awakening sexual longing of a recently widowed older woman who refuses to retreat into invisibility is sincerely addressed, her behavior is presented in such a confrontational manner that the anti-ageist message it bears could get lost in our deep-seated, unconscious biases about age;20 or a hit like Nancy Meyers’ Something’s Gotta Give (Ger. Was das Herz begehrt, US 2003), in which the unexpected, and fervently resisted, romance between two independently-minded older adults is represented as surprising and unusual, and is deliberately contrasted with more youthful romantic liasons, Hope Springs adopts an »age-sensitive perspective [that] encourages a view of […] both women and men as potential life-long intimates«21 who attempt, with varying degrees of success, to satisfy their desires and interests and those of the ones to whom they are committed in surprisingly creative ways. Embedded in this perspective is an unorthodox message that counters the conventional wisdom that both characterizes older people as unattractive, undesirable, asexual, and uninterested in amorous relations, and judges their relationships as stable and therefore stale and impervious to creative change.22 For example, the question of the attractiveness of old age is wonderfully illustrated by two contrasting views of Kay’s face, the first in the shot of her waking up alone in 20 | Cf. E. Ann Kaplan: The Unconscious of Age: Performances in Psychoanalysis, Film, and Popular Culture, in: Aag je Swinnen, John A. Stotesbury (eds.): Aging, Performance, and Stardom. Doing Age on the Stage of Consumerist Culture, Berlin et.al. 2012, pp. 17-37. 21 | Connidis: Intimate Relationships, p. 125. 22 | Cf. Ibid., Connidis: Intimate Relationships, pp. 128.

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the motel where the lighting emphasizes the wrinkles and lines on her face, and the second in the shot of her awakening in Arnold’s arms, a slow smile stealing across her face, lighting it up in a way that can only be described as happy and beautiful. The representation of beauty as a subjective experience rather than a fixed attribute is also addressed in the scene where Arnold and Kay are remembering the best sex they ever had, and Arnold, his tense face suddenly relaxed and almost dreamy, describes a pregnant Kay as happy, beautiful, her apron looking too small for her burgeoning belly. When Kay responds by saying she doesn’t look the way she did then, Arnold sees her remark as irrelevant and tells her she still looks fine. Throughout the movie, whenever Kay expresses doubt about her sex appeal or her appearance, in spite of Arnold’s opposition to the mechanics of couple’s therapy and his often bullying attitude towards Kay’s insistence that they follow through on what Dr. Feld prescribes, he consistently denies that their marital difficulties are in any way related to her outward appearance. Thus, Hope Springs presents a refreshing alternative to movies that, though often unintentionally, further the »taken-for-granted discriminatory discourses and practices«23 that surround women growing older. Furthermore, other than a brief questioning of Arnold as to his experience of erectile dysfunction or his use of Viagra when Dr. Feld is exploring their sexual history, this movie neither promotes the idea that the aging body needs to be pharmaceutically resexed nor links the loss of interest in amorous relations to the notion of natural biological or psychological age-related decline. By refusing either to medicalize or psychologize sexuality, the story of Kay and Arnold’s search for renewed sexual intimacy disconnects the naturalized association between aging and loss of function and desire that pervades our culture. As age critic Margaret Gullette writes,24 this approach discredits the glory/decay binary that, in its attempt to sell sexuality as an unfailingly pleasurable experience that inevitably deteriorates with age and the supposed dysfunction aging brings, ignores the varied problems, such as early dissatisfaction with body image, fear of unwanted pregnancy or disease, and coercive peer pressure to perform and enjoy it, that many young people may experience. The sexual awakening that Kay and Arnold seek is not about an attempt to reach what Gullette calls the »pedophilic standard of desirability« known as »youthsex«,25 in which being sexually active, regardless of desire, pleasure, or devotion is the marker of success. Instead, their story emphasizes continuities over the course of a life that bridge any gaps that social, situational, or medically induced loss of libido may have caused, and appeals to the agency and experience that they have accumulated over a lifetime.

23 | Laura Hurd Clarke: Facing Age, Lanham 2011, p. 3. 24 | Cf. Margaret Morganroth Gullette: Agewise. Fighting the New Ageism in America, Chicago/London 2011. 25 | Ibid., p. 125.

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Kay’s desire for renewed intimacy, and Arnold’s desire, albeit at first reluctant, to please her, is not based on a concomitant desire to be young again, but on a wish for a commitment based on what Anthony Giddens describes as a pure relationship. According to Giddens, a pure relationship is focused more on personal satisfaction, on what can be derived by and given to each person in a long-term relationship, than on the economic and reproductive foundation typical of marriage at a younger age when raising a family may be a priority. Although sexuality is an important part of this commitment, when it is no longer the basis for it, the prominence of the socially structured gender inequality that often accompanies marriage is reduced.26 Thus, the need that Kay feels for a more pure relationship, with the increased equality, autonomy, and happiness that has been found to accompany it, supports the view that successful long-term marriages are not static, but evolve and change over time, creating the space for both independent interests and the mutual dependence that the changes associated with aging may occasion.27 When Dr. Feld asks Kay and Arnold if they ever have sexual fantasies, the fantasies they describe – a renewal of their vows on the beach or a sexual encounter under the desk in Arnold’s office – are less in line with popular cultural expectations than with what they would like to give to and receive from each other. Despite Arnold’s imagined threesome with their neighbor »Carol with the Corgis« and Kay’s comically bungled attempt to please Arnold in a movie theater, their fantasy life is a form of imaginative desire, of looking forward to what could actually be rather than looking for an escape from reality or a reprieve from the process of aging. When Arnold finds Kay packing to leave Great Hope Springs before their sessions are over, and says, »There’s no magic pill or wand, just a guy in an office« (TC: 00:51:36-00:51:39) and concludes it’s a set-up for failure, Kay’s answer does not engage Arnold’s assessment of the situation on his terms, but gets to the heart of the problem. »You know how you think you’re always headed toward something – when we marry, have kids, then it’s just us again? Something to look forward to?« (TC: 00:52:06-00:52:22). Her answer makes visible her rejection of the notion that desire is the province of the young, that older people are unable to create and enjoy relationships that are as »intense, committed, emotional, caring, mutual, and sexual«28 as those of any age. Her answer reflects both an understanding of the unique attributes of later life that, as Cohen suggests, allow older people to create relationships that serve their own needs and desires, and a determination to present an image of older adults as fully sexual human beings. Near the end of the movie, after Arnold’s genuine but ultimately unsuccessful attempt to reintroduce romance into their lives in a way that thoughtfully drew on 26 | Cf. Anthony Giddens: The Transformation of Intimacy. Sexuality, Love and Eroticism in Modern Societies, Stanford 1992, p. 58. 27 | Cf. Connidis: Intimate Relationships, pp. 132. 28 | Ibid., p. 126.

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their memories of falling in love, of music and flowers and champagne, all taking place in a charmingly expensive inn, it seems as if their efforts have failed. Back home and painfully aware of Kay’s continuing unhappiness, Arnold defensively asks, »Is it really all that bad … you look different for a minute, then you go back to yourself, right?« (TC: 01:26:22-01:26:37). When Kay answers, »I don’t know if I can go back,« (TC: 01:26:54) and, leaving Arnold in his chair in front of the TV, goes upstairs to pack a suitcase through her tears, we fear that all may be lost. Despite Arnold’s lurching yet beautiful dance of accommodation and Kay’s brave display of candor and determination, and in spite of Dr. Feld’s assessment of their marriage as worth saving and his quietly probing questions asking if they’ve really done all they could, it appears that climbing out of the rut of years of routine and breaking through what Hilde Lindemann Nelson calls the firewall of inadvertently internalized stereotypes about growing older and the negative effect it has on desire, love and intimacy may be impossible.29 Alone in his room, hearing Kay’s sobs through the walls, Arnold finally goes to her and, kissing her and telling her she’s beautiful, forgets his internalized, and ageist, inhibitions in order to become the husband she’s dreamed of. It is then, while ignoring himself, his age-tinged expectations and inhibitions, that Arnold finally lives in the moment and, trusting himself to fulfill the desire of someone he loves, rediscovers his own. Rather than succumb to the seemingly inevitable decline, despair, and inertia that we are constantly told characterizes growing older, Arnold personifies an older person’s ability to fling himself back into life and connect and share with his partner in a way that makes sex better »because it has richer meanings than it used to have«.30 In the final scene, where, in the presence of their children and their grandchild, with Dr. Feld presiding, Kay and Arnold live out her fantasy of renewing their vows on the beach, they do all that anyone at any stage of life can do for another – declare their love for each other and promise to spend the rest of their lives together. This kind of interaction is what Erik Erikson describes as vital involvement, a construct that encompasses both the actuality of being immersed in a reciprocal action and the mutuality of promoting each other’s ongoing growth through this reciprocal action.31 »Vital involvement […] constitutes the process through which we, at any age, participate in life’s activities, responsibilities, joys, and hardships […] and is the process through which our participation influences our partners in life’s engagements«.32 Just as vital involvement and the growth and change it fosters is essential to early development, it remains crucial to an older person’s 29 | Cf. Hilde Lindemann Nelson: Stories of My Old Age, in: Margaret Urban Walker (ed.): Mother time. Women, aging, and ethics, Lanham 1999, pp. 75-95. 30 | Gullette: Agewise, p. 137. 31 | Cf. Helen Q. Kivnick: Dancing Vital Involvement. A creative Old Age, in: Journal of Aging, Humanities, and the Arts 4 (2010) no. 4, pp. 421-430. 32 | Ibid., p. 424.

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ability to engage with new and different situations and environments, to discover new strengths, and to act on their desire. With stars like Jones and Streep who, in the face of their own aging, dare to remain involved and sincere enough to carry a simple but heartfelt story about sexual desire in a long-term marriage to a sweet and hard-won conclusion, Hope Springs provides a refreshing example of the power of film to model both older people’s enduring need for sex, love, and intimacy, and their ability to overcome the barriers and obstacles constructed by ageist views of the life course to achieve it.

E ven in the A utumn of L ife In contrast to Hope Springs, which concentrates on the sexual aspect of the spectrum of desire, Autumn Spring emphasizes the edge of the spectrum characterized by affection, fondness, and companionship. Although the rearousal of sexual desire between Kay and Arnold in Hope Springs clearly leads to a renewed sense of affection and companionship as well, as we see in their behavior during the party celebrating the reaffirmation of their marriage vows, in Autumn Spring the sexual nature of the couple’s relationship, though it may exist, is neither discussed nor depicted. Instead, this film tells the story of the unusual way Fanda and Emilie, a septuagenarian couple married for 44 years and heading towards divorce, manage to rekindle their desire by restoring mutual feelings of respect, caring, compassion, simple affection, and interdependence to their marriage. Furthermore, unlike Hope Springs, which pays little heed to the influence of social systems or class on late-life marital problems, Autumn Spring also deals with the interplay between internal expectations and the external social structures that may make it difficult for older people to change. Thus, this movie not only normalizes the desire for love and intimacy among older couples, but also deepens our understanding of the context in which they may struggle to fulfill this desire. Like Hope Springs, Autumn Spring features two seasoned actors who lend an authentic presence and bring a rich personal and professional history to their roles. Eighty-two-year-old Vlastimil Brodsky, who has appeared in over 90 films, plays 77-year-old Fanda, and eighty-year-old Stella Zazvorkova enhances a 60-year career by playing Emilie. Directed by 45-year-old Vladimir Michalek, this Czech film is largely a tribute to Brodsky, one of the most beloved stars of the Czech Republic, and a personality who had been part of Michalek’s life from the time he heard Brodsky read fairy tales for children on the radio. Although initially put off by a script that seemed too sentimental, Michalek, when he learned that Brodsky’s life had inspired the story, jumped at the chance to work with his idol. Their subsequent friendship led to what many consider to be one of Brodsky’s richest performances, characterized both by the humor and pathos of the role and that of

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his own aging, and by the deep emotional resonance of his onscreen relationship, no doubt influenced by his 55-year friendship with Zazvorkova. As the film opens, a limousine proceeds down a long, tree-lined drive and pulls up in front of a grand, old-style mansion. We then see a cane slowly emerge shortly followed by two distinguished older gentlemen. Decorously greeted by an estate agent, one gentleman is introduced as a former director of the Czech opera who has made his fortune as a star in the New York Metropolitan Opera, and the other as his secretary. As potential buyers of the estate who are looking for a place to retire in their home country, they are given a tour of the mansion, taken to dinner at an expensive French restaurant, and driven back to the Prague Hilton. Although the retired star has pronounced the house in »very shabby« (TC: 00:00:46) condition, he nevertheless hands his card to the estate agent and says he will let him know his decision within two weeks. Only in the next scene, when we are suddenly transported from the »luxurious Hilton to the lackluster […] underground train station«,33 do we realize that we have witnessed a prank. As the two pranksters, Fanda and Eda, old friends and former actors in the Czech opera choir, happily congratulate each other on a superb performance and take their leave to go home, they also comment with a melancholic note of despair that, »old men should be rich, and respected« (TC: 00:04:57), and board the train, leaving the words, »but they are not«34 unspoken. As Amir Cohen-Shalev argues in Visions of Aging, and as we can already see in the first scene, much of the plot of Autumn Spring depends on the subversion of expectation that occurs when the performative character of age is exposed,35 when the ›what could or should be‹ collides with the ›what is‹. Based on Judith Butler’s theory of gender performativity put forth in Gender Trouble36 which posits that gender identification is congealed through repetition, or doing, into the semblance of being, or an identity, and on Anne Davis Basting’s extension of this theory to age in The Stages of Age,37 this movie makes use of the idea that the difference between acting one’s age in everyday life and acting one’s age in a staged performance is not at all clear. The plot hinges on the fact that one way these embodied performances organize social relations is by age, a master status through which »societies proscribe appropriate behaviors and obligations«38 and, by making these proscriptions seem like common sense, incline an older person to aspire only to what social conditions make available to him. Through playing with 33 | Cohen-Shalev: Visions of Aging, p. 124. 34 | Ibid., p. 124. 35 | Cf. ibid., p. 124. 36 | Cf. Judith Butler: Gender Trouble, New York 21999. 37 | Cf. Anne Davis Basting: The Stages of Age. Performing Age in Contemporary American Culture, Ann Arbor 1998. 38 | Toni M. Calastani, Kathleen F. Slevin: Introduction, in: id. (ed.): Age Matters. ReAligning Feminist Thinking, New York 2006, pp. 1-17, here p. 4.

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both the necessity and the wisdom of accepting or rejecting these proscriptions, the plot of Autumn Spring also brings to light the way social relations exclude as unthinkable and unacceptable acts or practices that fall outside their boundaries. By showing that age is a performance that must be learned and has within it the potential to be relearned or performed differently, Autumn Spring manages to destabilize many of the assumptions we unconsciously carry around about exactly what acting one’s age should entail. Age-studies scholar Aagje Swinnen illustrates the ability of age to be performed differently or »bent«, as she calls it, by exploring the ways in which Benidorm Bastards, a European TV show whose visibly older stars consistently depart from the norms of age-appropriate behavior while the reactions of passersby are surreptitiously recorded on camera, disclose and challenge not only the socially and culturally constructed nature of these norms but our reactions to their bending.39 Whether refusing to act old by adopting the language and behavior of youth culture or by exaggerating reductionist and stereotypical behaviors associated with the old, says Swinnen, these actors risk being laughed at in a way that says they are making a spectacle of themselves, but can also be laughed with when their actions succeed in making clear the fact that age-based ideas of normal behavior are themselves constructions. According to Swinnen, the first situation evokes a kind of comic laughter from the recorded observers that, although it recognizes departures from or amplifications of appropriate age-based behavior, uses them to reinforce the existence of these norms, while the second evokes a more uncomfortable kind of laughter, one that has the potential to disrupt the entire notion of acting your age in a way that minimizes the distance between different age groups instead of maintaining or expanding it. She concludes that, »only by taking this risk can the norms of age-appropriate behavior and the way they are internalized by both the young and the old be challenged«.40 By the time Fanda gets home after his adventure at the mansion with Eda, we as an audience, having already experienced both a ›staged‹ and a ›reallife‹ performance of age, and having laughed both at and with him, begin to understand the age-related risk he is taking. Arriving too late to see his son, who subscribes to the notion of age as identity rather than performance and, thus, believes that his father’s »actions just aren’t normal at his age« (TC: 00:05:57) and his grandchildren, who, following their father’s lead, have left a drawing of a gravestone with their grandfather’s name on it for a present, Fanda is greeted by an irate wife, Emilie, who berates him for having missed his own birthday party. Telling him to »take life seriously« (TC: 00:09:31) and to stop wasting money, she smashes the flowers he brought her in apology, and serves him a piece of cake while informing him exactly how much it cost. By the end of the next scene, a 39 | Cf. Aag je Swinnen: Introduction. Benidorm Bastards, or the Do’s and Don’ts of Aging, in: id., Stotesbury (eds.): Aging, Performance, and Stardom, p. 7-14. 40 | Ibid., p. 10.

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trip to the cemetery to see the second-hand grave their son has bought for them, during which Fanda is more interested in making jokes about how crowded the grave will be and in cheering up a grieving widower than in inspecting the site of the grave, the opposing views of Fanda and Emilie on life and death, and on how to spend the time that remains, have become clear. Like Kay, Fanda is not about to fritter away the rest of his days in a rut, ignoring the life and love that goes on all around him. In contrast to Emilie, who describes herself as a »stick in the mud« (TC: 01:11:56) and passes her days poring over obituaries, arranging their postmortem affairs, and obsessively counting and sorting their money into jars, the heftiest being the one for funeral expenses, Fanda lives his life in defiance of a culturally constructed aging process. Refusing to give up on life and perpetually optimistic about devising ways to fulfill his desires, he wants to continue to engage with and to please people – visiting and bringing flowers and money to a long-forgotten comrade from the opera on her birthday, helping a claustrophobic young woman escape from her abusive husband by screaming with her as they ride up and down on the elevator, pretending to be a ticket taker at the station in order to get a kiss from some girls without tickets, and even calmly agreeing to repay the expenses of the estate agent from the mansion when, having mistakenly handed him the wrong card back at the mansion, the ruse is uncovered. The unfortunate fact that Fanda must now come up with some prank or plot or plan to raise the money to pay the agent barely dulls the pleasure he feels when, on his way out the agent admits that, but for the card, the prank was masterfully played. Although it appears that Fanda and Eda are engaged in »a fully-aware selfdeception« and »are victims of their own pranks, which are destined to fail«,41 when we look at their behavior from the perspective of identity as role or performance, it’s hard to tell who’s acting, who’s just living, and who might be engaged in self-deception – and when. Is Emilie, with her stereotypical yet socially approved preoccupation with planning for a future that includes nothing more than inevitable decline and death, expressing something essential about being old, or playing a role that she believes has been assigned to her? Are Fanda and Eda, who draw on past experience to create a present whose joy in childish pranks and multiple selves manages to move them past the despair and decline Emilie clings to, only playing theatrical roles or demonstrating the potential of the old to create their own roles? According to Cruikshank, Emilie’s behavior, her performance or role, conforms quite closely to a strategy that many older people adopt in order to deal with the fact that they no longer have any clearly designated social role to play. This ›roleless role‹ or lack of social and cultural tasks and responsibilities particular to this time of life, Cruikshank argues, can lead older people to adopt what she calls

41 | Cohen-Shalev: Visions of Aging, p. 125.

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»the sick role«.42 In a culture where the notion of economic productivity defines our usefulness, Cruikshank posits that the only productive role left to many of the old, their only remaining meaningful social function, is to become obsessed with the business of dying. Even if healthy and robust, as is Emilie, they must be »conditioned to believe that aging is a disease«43 requiring serious preoccupation with the details of their impending decline, deterioration, and death, a view that reflects the equally contradictory nineteenth-century idea that »the aged body was […] both normal and pathological«44 at once. Fanda, on the other hand, has adopted a different strategy. His way of dealing with the »roleless role« of the old is clearly visible in the scene in a café where he and Eda, discouraged by their lack of success in raising money to pay off the estate agent, compile a list of their specific physical ailments and conclude that »old age is sad« (TC: 00:54:35). Yet, despite their recognition of the overriding importance of physical decline in defining the meaning of aging, when Eda suggests that »one should die young« (TC: 00:54:45) instead of commiserating further, Fanda reintroduces humor into the situation by responding with: »We missed our chance. We gotta stick it out now.« (TC: 00:54:47) And when Eda subsequently confesses that, if it weren’t for Fanda he’d shoot himself and pulls out a gun, Fanda, only momentarily shocked, recognizes the weapon as an old prop from their days in the theater and defuses another potentially tragic situation by making it comic. Their refusal to take life too seriously, to dwell on their ailments even when the complaints are real, and their insistence on resorting to a kind of childlike behavior that invites us to react with a pathos that encourages identification rather than detachment are also ways of coping with the emptiness that old age can bring. Such behavior reflects an instinctive age consciousness that resists the imposition of a narrative of decline, replacing it with the idea that there can be »a good deal of liveliness left at ›the end of life‹«.45 Although seemingly incompatible, both Emilie and Fanda’s solutions have precedents in social theory and can ›work‹. Reflecting ideas propounded by the post-World War II theory of disengagement that viewed the »mutual withdrawal of the individual and society from each other with advancing age«46 as natural and normal, and judged the preoccupation of an older individual with impending death as socially advantageous because it minimized the social disruption caused by his passing, this theory, although formally discredited, continues to be expressed today in our culture’s overriding concern with the economic and social costs of aging rather than with the potential benefits an aging population might 42 | Margaret Cruikshank: Learning to Be Old, New York 2013, p. 35. 43 | Ibid., p. 36. 44 | Stephen Katz: Disciplining Old Age. The Formation of Gerontological Knowledge, Charlottesville 1996, p. 44. 45 | Gullette: Agewise, p. 164. 46 | Jason L. Powell: Social Theory and Aging, Lanham 2006, p. 48.

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confer. The anxiety surrounding planning and saving for their future health and death care that Emilie exhibits is well illustrated by an article in the AARP Bulletin January-February 2013 bulletin entitled »Have You Saved Enough For Your Health Care?«.47 With a jar full of coins reminiscent of Emilie’s pictured below the title, the article estimates that a 65-year-old American couple on Medicare will need to accumulate $240.000 to cover future medical costs, exclusive of long-term care. Seen in this context, and absent other means of self-definition, Emilie’s behavior can represent an eminently rational, socially acceptable, and strangely life-affirming way to deal with what otherwise might become an existence largely devoid of meaning. Fanda’s behavioral solution to the prospect of a meaningless old age, often understood as a return to the juvenile and irresponsible conduct of one’s youth, can also be traced to the post-war theory of activity, which, although it maintained that old age was »a uniform process and a uniformly problematic and depressing state«48 stressed the development of new roles and activities as an older person’s only opportunity for contentment. Fanda’s strategy, seen as a reincarnation of activity theory in the characterization of age as adventure or performance, or in the concept of ›successful‹ aging, is illustrated by a recent study in which two groups of adults were given a set of problems and instructed to come up with creative solutions. The first group, told to pretend they were seven years old during the exercise, was able to come up with far more solutions. Even though the pretense was brief, the results for the group who thought like children and escaped the ›enculturated‹ view of aging as a progressive and irreversible decline in body and desire, suggest that resistance to the expectations of decline we pick up as we grow older can be an effective problem-solving strategy.49 Seen in this context, Fanda’s behavior is also a completely rational response to his unwilling confinement in the category called old age. By embracing change as an opportunity to experience something new, Fanda’s solution stresses the continuing desire of older people to define themselves and their relationships on their own terms. Yet, the friction caused by their contradictory solutions flares into outright anger when Emilie discovers that Fanda, needing to pay off the estate agent, has withdrawn a large sum of money from the funeral savings account. When Fanda tries to defend his actions by saying that a bogus blind man stole the money, a story that is partially true, she refuses to believe one more tall tale. Calling him a liar and a thief who shortens her life, a comment that exposes her intention to go on living despite her preoccupation with dying, and threatening to kill him, 47 | Martha M. Hamilton: Have You Saved Enough For Your Health Care?, in: AARP bulletin (Jan.-Feb. 2013), pp. 16-20. 48 | Powell: Social Theory and Aging, p. 49. 49 | Cf. Interview by Terry Gross with Jonah Lehrer from 21. March 2012, http://www.npr. org/2012/03/21/148607182/fostering-creativity-and-imagination-in-the-workplace [hit: 15.05.2015].

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Emilie settles for demanding full control of his pension and for the right to treat him like the child he appears to be. Fanda reluctantly agrees, remembering to tie his shoelaces and giving up his cigarettes, until he hears that their son, who wants them to move into a senior citizen’s home so that he can have their apartment, has already bought them a place in the home and replaced the money Fanda »borrowed« from the funeral fund. His timeworn face the embodiment of pathos and betrayal, he walks out, denouncing Emilie for having »sold« (TC: 00:59:52) him. In the next scene, a despondent Fanda is drinking wine with Eda while hatching a plot in which Fanda will pretend to have died so that Emilie will realize what she would lose if he really were gone. But, as with so many of his pranks, this one is also destined to fail. When Emilie arrives in a taxi carrying Fanda’s burial suit, with an expensive funeral van and coffin in tow, only to discover that he is still alive, her patience runs out and she files for divorce. Much like Kay who, despite her love for Arnold, would rather leave than fall back into their pre-therapy routine, Emilie believes she would rather leave Fanda than continue to tolerate what she sees as his irresponsible and incorrigible behavior. Although in court, after enumerating the frivolous adventures on which Fanda has wasted money including the cruel trick of his death, she allows that, though she once »admired him for being so different – for having grand plans« (TC: 01:11:51-01:12:01), it is his present refusal »to admit that our paths don’t really lead anywhere anymore« (TC: 01:12:20-01:12:23) that distresses her the most. Clearly influenced by what Margaret Morganroth Gullette describes as the lack of availability of a progress narrative in old age, Emilie accepts the ageist cultural belief that »there is only one dominant truth of old age, and progress […] cannot be part of it«.50 Yet, when faced with the real prospect of losing her husband, and thanks to a perceptive judge who feels they need another chance, Emilie accepts Fanda’s declaration of abiding love and believes his promises to mend his ways, they agree to remain together. Although the roles of husband and wife are sometimes reversed, the courtroom scene in Autumn Spring serves a purpose similar to that of the scenes in Dr. Feld’s office in Hope Springs. Both films bring out the enduring love and affection a longterm couple may continue to feel for each other even when faced with the conflict that accommodating in radically different ways to the changes brought about by aging may provoke. And both movies celebrate the agency, determination, and ability of older people to restore desire, love, and intimacy to their marriage. Even though the conflict in Hope Springs occurs much earlier in life than the conflict in Autumn Spring and, therefore, neither addresses the sense of loss, both financial and personal, that Fanda experiences after leaving the work force, nor deals with the effects of diminished physical and/or cognitive capacities that may accompany aging and that are so evident in the movements and the demeanor of both Fanda and Emilie and in the failing health of Eda, both films also make visible the fear, 50 | Gullette: Agewise, p. 164.

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both of change and of lack of change, of becoming different and of remaining the same, that goes hand in hand with growing older in modern culture. When Fanda agrees to forego his childish ways, to cease making fun of death and to learn to do something useful, his fear of what he sees as a life devoid of desire, of something to look forward to, as Kay said, causes him to begin to deteriorate and lose the will to live. Even the simplest task, such as grinding poppy seeds in the kitchen, becomes a metaphor for the way he feels his life is being slowly ground into mush. In spite of Emilie’s best efforts to include him in her world of daily preparations for death, he begins to look more and more like the old man they see in the downstairs window each time they leave their apartment – immobile and staring blankly at a world from which he is excluded, a living corpse who sat there dead for three days before anyone noticed. Desperate to recover the laughing, singing, quarrelling man she fell in love with, much as Kay wanted to recapture the Arnold she remembered, Emilie goes to visit Eda, who has fallen ill and is living in the geriatric unit of the hospital, and asks him for advice. Returning home, in front of an astonished Fanda, Emilie takes down and empties the money jars and announces that they’re going on a trip to buy a mansion. I’ve arranged it all, she tells him. She will be the wife of the retired Metropolitan Opera star, and they will report on their success to Eda when they return. Similar to the last scenes of Hope Springs, where the hard work of reconciling the objective effects of a cultural narrative of decline that renders the old as devoid of both desire and the agency to fulfill it with the subjective experience of the continuing desire for love and intimacy is elided in favor of a happy ending, the final scenes of Autumn Spring don’t depict how wrenching the transformation that allows Emilie to fling herself back into a life that expresses the reality of her desire must have been. We only see a changed Fanda and Emilie, drinking wine on a train, driving to an opulent mansion in a limousine, holding hands, smiling and laughing and looking lovingly into each other’s eyes as Fanda orders the driver to turn around while he tells the startled estate agents who are waiting for him that the mansion is »very shabby« (TC: 01:38:29) and that he will not bother to see it. As the credits roll, we see Fanda, happily satisfying another of his desires as he flies up and away in a hot air balloon, leaving a smiling and waving Emilie far below.

C onclusion In spite of endings that appear too pat and that may be interpreted as a means of boosting a film’s commercial appeal by backing away from »the real issue of old age and the topics related to it such as decrepitude, illness, and dying«,51 I believe that the vision of old age that Hope Springs and Autumn Spring present, one 51 | Cohen-Shalev: Visions of Aging, p. 1.

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that allows old people to desire »what they want, not what their subculture or the media say their bodies are supposed to want, or what they wanted in some other phase of life«,52 is just as real. Films in which death and dying play an integral part, such as Beginners and Amour, or in which death appears in an unexplained or preemptory way, as in Innocence and Love is Strange, have no corner on the market in reality. Although they affirm the force of desire throughout all of life, such films may not nurture the birth of a cultural reevaluation in the way we see aging and old age as much as films like Still Mine, a movie that, although it deals with agerelated physical and cognitive changes, ends before the dying takes over. The fact that Hope Springs was nominated for a Golden Globe Award and won a People’s Choice Award, and that Autumn Spring won both a Best Foreign Film Award and three Audience Awards at film festivals attests both to their popular appeal and to the importance of the way in which the »images, representations, and metaphors« they present »are instrumental in forming our desires […] which then inform our thinking about ourselves [and] help us to ›accomplish age‹«.53 These two films also stand out for the way they disregard the »cultural imperialism«54 of youth by rendering Kay and Arnold’s children, and their opinions about the actions of their parents, almost invisible, and by portraying Jara, Emilie and Fanda’s son, in a way that stereotypes and infantilizes him and his wishes rather than his parents and their desires. Furthermore, despite characters whose gendered portrayals may seem sexist and old-fashioned according to contemporary standards, when seen from a »life-course perspective that considers the present in the context of the past«,55 the fact that Kay and Arnold continue to structure their relationship according to more traditional gendered roles, or that Emilie watches while Fanda alone embarks on an adventure in a balloon, simply reveals the importance of context, culture, and custom in setting boundaries over our choice of relationships. By refusing to delegate »older persons to their current statuses«56 a life-course perspective can resist the imposition of an asexual image of old age, apathetic with respect to desire, by making us appreciate the cultural struggle that the characters in Hope Springs and Autumn Spring must undergo to change the way in which they express their desire. Such portrayals also show that, although sexual desire remains important, this kind of desire has always existed on a spectrum that encompasses »flirting and cuddling«,57 »romance, intimate

52 | Gullette: Agewise, p. 143. 53 | Martha B. Holstein: On Being an Aging Woman, in: Calastani, Slevin (ed.): Age Matters, pp. 313-334, here p. 321. 54 | Calastani, Slevin: Introduction, p. 8. 55 | Connidis: Intimate Relationships, p. 127. 56 | Ibid., p. 127. 57 | Gullette: Agewise, p. 142.

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touch, and visual, olfactory and oral pleasures in the context of a relationship«,58 the expression of which is always culturally imbued. Of course, disease and death remain – Brodsky fell ill and committed suicide shortly after Autumn Spring was released and Zazvorkova died of a heart attack two years after filming. Yet the fact that their last roles were in a movie that reflected the passion of their lives outside the studio, which was to live life to the fullest at every age, simply reinforces the notion of age as performance and inspires all of us to find a way to construct a society in which we will have ample opportunity to fulfill our desire to the end, no matter where it falls on the spectrum. The genuineness of this desire is poignantly expressed in 94-year-old essayist Roger Angell’s essay in The New Yorker, »Life in the Nineties«. Although he admits that the thought of death is no stranger, he says he seldom thinks about its approach. Instead, he writes: Getting old is the second-biggest surprise of my life, but the first, by a mile, is our unceasing need for deep attachment and intimate love. We oldies yearn daily and hourly for conversation and a renewed domesticity, for company at the movies […], for someone close by in the car when coming home at night […] but these feelings in old folks are widely treated like a raunchy secret. The invisibility factor – you’ve had your turn – is back at it again. But I believe that everyone in the world wants to be with someone else tonight, together in the dark, with the sweet warmth of a hip or a foot or a bare expanse of shoulder within reach. Those of us who have lost that, whatever our age, never lose the longing: just look at our faces. 59 More venery. More love; more closeness; more sex and romance. Bring it back, no matter what, no matter how old we are.60 If it returns, we seize upon it avidly, stunned and altered again.61

This »fervent cry«,62 the unceasing desire for love and intimacy, also characterizes »The Love of Her Life«, Margaret Gullette’s September 2014 blog at Silver Century Foundation about her mother’s passionate and boundary-breaking late-life love affair. Smitten well into her 70’s by a man who would alternately woo her then withdraw, both with affectionate epistolary and erotic personal entreaties, Gullette writes that her mother’s actions made her understand the strength and depth of desire. »In some ways«, Gullette says, »romance in later life is just like the first 58 | Ibid., p. 142. 59 | Roger Angell: This Old Man. Life in the Nineties, in: The New Yorker (17./24. Feb. 2014), pp. 60-65, here p. 65. 60 | Ibid., p. 65. 61 | Ibid., p. 65. 62 | Ibid., p. 65.

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mysterious and tormenting passion you experienced in high school. For good or ill, it can break every normal habit«.63 Yet, as Gullette notes, to see older lovers as cute or charming or adolescent, is to disregard their lives, to miss the fact, as Angell writes, that we never lose our ability to be »stunned and altered« at every age by the sheer force of our desire. Hope Springs and Autumn Spring – and the above true stories – show that we must »guard against the ageist assumption that old people should not really care about sexual activity«,64 love, or intimacy any more. As with the scenes depicting the old man sitting alone, staring out the window in Autumn Spring or the scene in Hope Springs of Kay lying rebuffed and rejected in her bed, they make clear that nothing hurts us more than »the sense of being forsaken […] on the basis of an ascribed category that […] no one can control«.65 The idea that age should be a basis for rejection, a reason for both the loss of desire and the end of being desirable, can best be fought by providing alternative images of aging and old age, by telling stories in which old people embody desire in every physical and mental variation and at every point along the spectrum. When anxiety and fear, loss and decline, and constant comparison to youth are no longer the principal foci of filmic representations of aging, then the vital involvement in life and the continuing desire for love and intimacy that attend our common human condition, and that are the overarching themes of both Hope Springs and Autumn Spring, can predominate. Then the images presented in movies about old age, the lives of the actors who create these characters, and the reaction of those who are influenced by the characters these movies project and the stories they tell can all work together to influence both the way we imagine and value the lives of those who are already old, and the way we create our own paths to growing older. By helping us discover that the desire for love and intimacy in old age is not an aberration but a norm, these images may also help us recognize and do something about the unnecessary social and cultural constraints imposed on the expression of that desire by an ageist society. Hope Springs and Autumn Spring are films that can help us make such changes, and that can, as Kay and Fanda wished, enable us never to give up the hope of fulfilling our own desire, at any age, no matter where it falls on the spectrum.

63 | Margaret Morganroth Gullette: The Love of Her Life, in: Silver Century Foundation (30. September 2014), http://www.silvercentury.org/new/polBlogs.cfm?doctype_code= Blog&doc_id=874 [hit: 15.05.2015]. 64 | Connidis: Intimate Relationships, p. 143. 65 | Gullette: Agewise, p. 222.

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B ibliogr aphy Films About Schmidt (US 2002, direction: Alexander Payne). Amour (Liebe, F/A/D 2012, direction: Michael Haneke). Autumn Spring (Frühling im Herbst, CS 2001, direction: Vladimír Michálek). Beginners (US 2010, direction: Mike Mills). Hope Springs (Wie beim ersten Mal, US 2012, direction: David Frankel). Innocence (Erste Liebe, zweite Chance, AU/B 2000, direction: Paul Cox). Love is Strange (US/F 2014, direction: Ira Sachs). Something’s Gotta Give (Was das Herz begehrt, US 2003, direction: Nancy Meyers). Still Doing It (US 2003, direction: Deirdre Fishel). Still Mine (Für immer dein, CDN 2012, direction: Michael McGowan). The Age of Love (US 2014, direction: Steven Loring). The Best Exotic Marigold Hotel (GB/IND 2011, direction: John Madden). The Mother (Die Mutter, GB 2003, direction: Roger Michell).

Secondar y Literature Angell, Roger: This Old Man. Life in the Nineties, in: The New Yorker (17./24. Feb. 2014), pp. 60-65. Anonymous: Art. Spectrum, in: The American Heritage Dictionary of the English Language, ed. by Houghton Mifflin Company, Boston 1970, p. 1240. Basting, Anne Davis: The Stages of Age. Performing Age in Contemporary American Culture, Ann Arbor 1998. Butler, Judith: Gender Trouble, New York 21999. Calastani, Toni M.; Slevin, Kathleen F.: Introduction, in: id. (eds.): Age Matters. Re-Aligning Feminist Thinking, New York 2006, pp. 1-17. Clarke, Laura Hurd: Facing Age, Lanham 2011. Cohen, Gene: The Mature Mind. The Positive Power of the Aging Brain, New York 2005. Cohen-Shalev, Amir: Visions of Aging. Images of the Elderly in Film, Portland 2009. Comfort, Alex: A Good Age, London 1977. Connidis, Ingrid: Intimate Relationships: Learning From Later Life Experience, in: Toni M. Calastani, Kathleen F. Slevin (eds.): Age Matters. Re-Aligning Feminist Thinking, New York 2006, pp. 123-153. Cruikshank, Margaret: Learning to Be Old, New York 2013. Giddens, Anthony: The Transformation of Intimacy. Sexuality, Love and Eroticism in Modern Societies, Stanford 1992. Gravagne, Pamela H.: The Becoming of Age. Cinematic Visions of Mind, Body and Identity in Later Life, Jefferson, North Carolina 2013.

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Gross, Terry: Interview with Jonah Lehrer from 21. March 2012, http://www. npr.org/2012/03/21/148607182/fostering-creativity-and-imagination-in-theworkplace [hit: 15.05.2015]. Gullette, Margaret Morganroth: Agewise. Fighting the New Ageism in America, Chicago/London 2011. Gullette, Margaret Morganroth: The Love of Her Life, in: Silver Century Foundation (30. September 2014), http://www.silvercentury.org/new/polBlogs. cfm?doctype_code=Blog&doc_id=874 [hit: 15.05.2015]. Holstein, Martha B.: On Being an Aging Woman, in: Toni M. Calastani, Kathleen F. Slevin (eds.): Age Matters. Re-Aligning Feminist Thinking, New York, pp. 313334. Kaplan, E. Ann: The Unconscious of Age: Performances in Psychoanalysis, Film, and Popular Culture, in: Aagje Swinnen, John A. Stotesbury (eds.): Aging, Performance, and Stardom. Doing Age on the Stage of Consumerist Culture, Berlin et.al. 2012, pp. 17-37. Katz, Stephen: Disciplining Old Age. The Formation of Gerontological Knowledge, Charlottesville 1996. Kivnick, Helen Q.: Dancing Vital Involvement. A creative Old Age, in: Journal of Aging, Humanities, and the Arts 4 (2010) no. 4, pp. 421-430. Nelson, Hilde Lindemann: Stories of My Old Age, in: Margaret Urban Walker (ed.): Mother Time. Women, Aging, and Ethics, Lanham 1999, pp. 75-95. Powell, Jason L.: Social Theory and Aging, Lanham 2006. Swinnen, Aagje: Introduction. Benidorm Bastards, or the Do’s and Don’ts of Aging, in: id., John A. Stotesbury (eds.): Aging, Performance, and Stardom. Doing Age on the Stage of Consumerist Culture, Berlin et.al. 2012, pp. 7-14.

Late-Life Masculinity in Wandering Streams by Pascal Rabaté Aag je Swinnen

I ntroduction : D oing A ge and G ender In 2007, the Journal of Aging Studies published a special issue on late-life masculinity. In her editorial, Van den Hoonaard claimed that the time had come to systematically examine the intersectionality of gender and age.1 For a long time, masculinity studies focused one-sidedly on issues related to younger men while gerontology medicalised men’s ageing bodies without articulating the masculinity of older men.2 Now, scholars from different disciplinary backgrounds are disseminating more and more work that convincingly shows how gender and age mutually inform each other.3 One way of bridging the theorisation of both identity markers is to define them in terms of ›doing‹ rather than ›being‹. As Marshall and Lipscomb write, age can be described »as performative, in that each of us performs the actions associated with a chronological age minute by minute, and that the repetition of these performances creates a so-called reality of age both 1 | Cf. Deborah Kerstin van den Hoonaard: Aging and masculinity: A topic whose time has come, in: Journal of Aging Studies 21 (2007) no. 4, pp. 277-280. 2 | Cf. Toni Calasanti, Neal King: Firming the floppy penis: Age class, and gender relations in the lives of old men, in: Men and Masculinities 8 (2005) no. 1, pp. 3-23; Jeff Hearn: Imaging the aging of men, in: Mike Featherstone, Andrew Wernick (eds.): Images of Aging: Cultural Representations of Later Life, London 1995, pp. 97-115; Gabriela Spector-Mersel: Never-aging stories: Western hegemonic masculinity scripts, in: Journal of Gender Studies 15 (2006) no. 1, pp. 67-82; Edward H. Thompson: Images of old men’s masculinity: Still a man?, in: Sex Roles 55 (2006) no. 9, pp. 633-648. 3 | Cf. e.g. Tammy Duerden Comeau, Candace L. Kemp: Intersections of age and masculinities in the information technology industry, in: Ageing & Society 27 (2007) no. 2, pp. 215-222; Kim Perren, Sara Arber, Kate Davidson: Men’s organisational affiliations in later life: the influence of social class and marital status on informal group membership, in: Ageing & Society 23 (2003) no. 1, pp. 69-82.

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for the subject and for those who interact with the subject«.4 Likewise, Thompson argues, masculinities »are negotiated performances that help maintain the gender scripts that are ›out there‹ in the culture, in institutions, and in relationships«.5 Spector-Mersel pointed out that the idea of different masculinities within a given person – scripts which one can rely on, depending on the self-strategy that a given situation calls for – lacks the dimension of life span time. Hence, she pleads for the integration of a life course perspective in theories of masculinity. Masculinities are then understood to be »bound to social clocks that ascribe different models of manhood to different periods in men’s lives«.6 Like Thompson, SpectorMersel uses the narrative metaphor of the script to refer to different hegemonic masculinities tied to specific phases of men’s lives. In order to get a better understanding of late-life masculinity and the way masculinity scripts operate in later life, scholars have turned to different sets of material such as qualitative interviews,7 surveys,8 and representations in biographical literature,9 advertising,10 and film.11 Although different in framework and method, these studies have consistently asserted that masculinity and old age are hard to reconcile – Spector-Mersel goes as far as to speak of ›incomplete‹ or ›truncated‹ hegemonic masculinity scripts for later life.12 In Western cultures, hegemonic masculinities are connected to attributes such as power, health, physical strength and sexual prowess. Contrarily, ageing and later life are delineated as the 4 | Leni Marshall, Valerie B. Lipscomb: Introduction, in: id. (ed.): Staging Age: The Performance of Age in Theatre, Dance, and Film, New York 2010, pp. 1-7, here p. 2. 5 | Thompson: Images of old men’s masculinity, p. 634. 6 | Spector-Mersel: Never-aging stories, p. 70. 7 | Cf. e.g. Kate M. Bennett: ›No sissy stuff‹: Towards a theory of masculinity and emotional expression in older widowed men, in: Journal of Aging Studies 21 (2007) no. 4, pp. 347356; Robert Meadows, Kate Davidson: Maintaining manliness in later life: Hegemonic masculinities and emphasized femininities, in: Toni M. Calasanti, Kathleen F. Slevin (eds.): Age Matters: Realigning Feminist Thinking, New York 2006, pp. 295-311. 8 | Cf. e.g. Thompson: Images of old men’s masculinity. 9 | Cf. e.g. Hearn: Imaging the aging of men. 10 | Cf. e.g. Toni Calasanti, Neal King: ›Beware of the estrogen assault‹: Ideals of old manhood in anti-aging advertisements, in: Journal of Aging Studies 21 (2007) no. 4, pp. 357-368. 11 | Cf. e.g. Sally Chivers: The Silvering Screen: Old Age and Disability in Cinema, Toronto 2011; Pamela Gravagne: The Becoming of Age: Cinematic Visions of Mind, Body and Identity in Later Life, Jefferson 2013; Neal King: Old cops: Occuptional aging in a film genre, in: Valerie B. Lipscomb, Leni Marshall (eds.): Staging Age. Performance of Age in Theatre, Dance, and Film, New York 2010, pp. 57-81; Benjamin Saxton, Thomas R. Cole: No country for old men: A search for masculinity in later life, in: International Journal of Ageing and Later Life 7 (2012) no. 2, pp. 97-116. 12 | Cf. Spector-Mersel: Never-aging stories, pp. 73.

Late-Life Masculinity in Wandering Streams by Pascal Rabaté

period wherein all these traits are in decline. Hence, older men are ultimately at risk of being ›othered‹13 and need strategies to keep ageing at a distance – an attempt that in the long run can only fail since ageing inevitably manifests itself in and through our bodies. To age well is not to age at all, and to perform younger masculinities as long as possible. This is precisely what constitutes the message of successful ageing that the anti-ageing industry is trying to sell to male ageing baby boomers. Moreover, in the era of Viagra, compulsory youth seems entwined with compulsory heterosexuality. As Marshall and Katz,14 and Calasanti and King15 have shown repeatedly, the maintenance of hegemonic masculinities is nowadays symbolised by the erect penis. As such, positive ageing presupposes sexual activity in terms of penile penetration. The current emphasis on the sexual functionality of older men is remarkable given the fact that hegemonic late-life sexual scripts – just like late-life masculinities – were, until recently, a contradiction in terms. For decades, Western culture has sought to desexualise older people, i.e., denying the fact that sexuality is an important aspect of later life.16 Walz17 came up with three plausible explanations for the origin and persistence of this need. First, he relates the idea that older people have outlived their sexuality to the Dorian factor, referring to the work of Kastenbaum18 on Oscar Wilde’s Dorian Grey who – as early as 1890 – asserted »that youth is the only thing worth having«.19 Youth is paired with beauty which, in turn, is assumed to trigger sexual desire. Hence, old age, constructed as the opposite of youth and beauty, contradicts sexual attractiveness. A true erotics of ageing can only be established through an aesthetics of ageing.20 But how could older bodies that 13 | Cf. Toni Calastani: Feminist gerontology and old men, in: Journal of Gerontology: Social Sciences 598 (2004) no. 6, p. 305-324; Hearn: Imaging the aging of men; Meadows, Davidson: Maintaining manliness in later life. 14 | Cf. Barbara Marshall, Stephen Katz: Forever functional: Sexual fitness and the aging male body, in: id. (eds.): Cultural Aging: Life Course, Lifestyle, and Senior Worlds, Peterborough 2005, pp. 161-187. 15 | Cf. Calasanti, King: Beware of the estrogen assault; Calasanti, King: Firming the floppy penis. 16 | Cf. Calasanti, King: Firming the floppy penis; Thomas Walz: Crones, dirty old men, sexy seniors: Representations of the sexuality of older persons, in: Journal of Aging and Identity 7 (2002) no. 2, pp. 99-112. 17 | Cf. Walz: Crones, dirty old men, sexy seniors, pp. 109-110. 18 | Cf. Robert Kastenbaum: Saints, sages and sons of bitches: Three models for the grand old man, in: Journal of Geriatric Psychiatry 27 (1994) no. 1, pp. 61-78, here p. 6. 19 | Walz: Crones, dirty old men, sexy seniors, p. 109. Walz refers to Robert Kastenbaum: Dorian Graying: Is Youth the Only Thing Worth Having?, New York 1995. 20 | Cf. Daniëlle Bruggeman, Anne Smelik: De esthetiek en erotiek van ouderdom in de beeldcultuur ontrafeld, in: Aag je Swinnen (ed.): Seksualiteit van ouderen: Een multidisciplinaire benadering, Amsterdam 2011, pp. 267-290.

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no longer pretend to look young be rehabilitated in a culture worshipping youth? Second, Walz ascribes the anxiety about late-life sexuality to the ›evolutionary‹ factor.21 In an attempt to reconcile evolution theory with Victorian prudishness, sexuality was supposed to be restricted to reproduction. Older couples not able to procreate but still engaging in sexual activity were regarded to be an example of immorality. The evolutionary factor lies at the heart of the sexual script that it is inappropriate to be sexually active at later stages of life. Even today, this script can prevent the cohort of older people who grew up before the sexual revolution from expressing their sexual needs.22 Third, the denial of late-life sexuality can be explained by the Freudian factor. Walz claims that the refusal to think of one’s parents as sexual beings could be explained as the repression of sexual fantasies about one’s parents.23 Yet, according to Freud, sexual attraction to the parent only applies to the very young child and cannot simply explain why adults are troubled by the idea that their parents have sex. Moreover, Freud did not discard sexuality in later life. He even underwent a surgical procedure to optimize his sexual ability in his final years. So, Walz’s third argument is the least convincing. Despite the persistent tendency to desexualise older people, representations focusing on the romantic and sexual lives of older people are becoming more common24 and late-life masculinity is progressively being expressed in terms of appropriating younger hegemonic masculinity scripts. This article focuses on late-life performances of masculinity in the French comic Les petits ruisseaux25 awarded ›Le Grand Prix de la Critique Bande Dessinée‹, and its film adaptation of the same name by Pascal Rabaté (engl. Wandering Streams, F 2010). These case studies convey the story of the sexual reawakening of a widower in his seventies. Both the comic and the film are made by Pascal Rabaté. In other words, the author of the comic took the role of director when adapting the comic to screen. This has resulted in an adaptation that often literally translates panels and panel transitions of the comic into almost identical film shots and cuts.26 The genre of the comic creates stories through the specific interplay of text and image. Characteristically, readers are able to consider many images at the same time and to let their eye jump 21 | Walz: Crones, dirty old men, sexy seniors, p. 110. 22 | Cf. Jacques van Lankveld: Seksualiteit van ouderen: Enkele casussen en de implicaties voor de kennis- en attitudevorming bij hulpverleners, in: Swinnen (ed.): Seksualiteit van ouderen, pp. 33-53. 23 | Walz: Crones, dirty old men, sexy seniors, p. 110. 24 | Cf. Aag je Swinnen: Ageing in film: An overview, in: Julia Twigg, Wendy Martin (eds.): Routledge Handbook for Cultural Gerontology, London 2015, pp. 69-76. 25 | Cf. Pascal Rabaté: Wandering Streams, Paris 2006; hereafter quoted with the scribal abbreviation WS and the page number. 26 | Cyril Cossardeaux: Review of Les petits ruisseaux, in: Culturopoing 2010, http:// www.culturopoing.com/concours/cinema/pascal-rabate-les-petits-ruisseaux-avantpremiere/20100616 [hit: 11.05.2015].

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from one panel to another.27 Moreover, they happen to see many of the comic’s panels before actually reading them.28 Film, on the other hand, is the art of moving images, and sound and acting are essential to the way the story worlds, that viewers immerse in, are built.29 Why is it then that, despite the genre differences, both the comic and the film Wandering Streams work as individual texts? On the one hand, the comic already heavily relies on techniques that also work in film, such as the suggestion of causality by juxtaposing panels in sequences30 and opting for perspective changes that are reminiscent of a camera zooming in. The film, on the other hand, remains close to the aesthetics of the comic by using almost graphic compositions of shots, bold colour schemes and funny details in the setting that viewers hardly can grasp at first glance. In the following analysis, I will focus on those scenes of the comic and film that explicitly relate to the topic of late-life masculinity while examining the impact of small differences between the comic and film text on the story they convey. In each section, I will start with a discussion of the source text before making the comparison with the film.

S e xual R e awakening of the M ale P rotagonist The first panels (WS 5) of the comic Wandering Streams present the reader with the conventional image31 of retired men spending their time together as fishermen in the countryside. These men turn out to be the protagonist, Emile Garreau, a widower in his seventies, and his best friend, Edmond Bello, a divorcee of about the same age. They go fishing every day. The timid and somewhat boring Emile is played off against the frank and naughty Edmond. Scenes from the everyday lives of both men allude to very different lifestyles and attitudes. A selection of events is arranged over two double-pages (cf. WS 8-11), suggesting that they happen simultaneously. In these pages, Emile cleans the fish that he caught while watching TV. Edmond, on the other hand, irons and folds his best clothes while telling his cat that he is preparing to meet a lady. The moment Edmond secretly leaves the village the day after, Emile resumes angling. At the local pub, Le Penalty, he later finds out that Edmond is seen with a woman and understands that his friend – who told him to stay home to do paper work – deceived him. When confronted during their next angling trip, Edmond immediately confesses 27 | Cf. Jan Baetens: De verleide lezer: woord en beeld in het stripverhaal, in: Lizet Duyvendak, Barend Van Heusden (eds.): Literaire Cultuur: Casusboek, Heerlen 2001, pp. 129-145. 28 | Cf. Benoit Peeters: Case, planche, récit: Lire la bande dessinée, Doornik 1998. 29 | Cf. Peter Verstraten: Film Narratology: Introduction to the Theory of Narrative, Toronto 2009; David Bordwell: Narration in the Fiction Film, Madison 1985. 30 | Cf. Scott McCloud: Understanding Comics: The Invisible Art, New York 1993, p. 9. 31 | Cf. Walz: Crones, dirty old men, sexy seniors, p. 100.

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to living a secret life that involves dating women and painting female nudes from magazine centrefolds. Emile is baffled by his friend’s confession: Emile: And, with these women, you had… well, you know… you know what I mean! Edmond: If I had sex? Well, not every time, but it happened. Emile: Really?! You had a roll in the hay?! Edmond: Well, yeah. That I’m passed my prime doesn’t mean I have to settle for no action whatsoever. Emile: I’m really upset by what you’re telling me! (WS 15) 32

When introducing Edmond and Emile to the reader, Rabaté makes use of the wide range of stereotypical representations of older men. Emile accepts the idea that moderation and resignation come with old age, and, as such, incarnates the stereotype of the invisible and redundant old man.33 This stereotype is rather gender neutral and asexual. Edmond, on the other hand, advocates a discourse of pleasure and je m’en foutisme with the device »the present (tense) does not exist, there’s only the future perfect« (WS 18). He personifies the »son of a bitch« type of older man that is »repentant, unadjusting, unmoved by social expectations, conceding little to age and nothing to piety«.34 In addition, Edmond uses a lot of innuendo when talking about his adventures and takes pride in his continued sexual abilities in order to underline his manhood. Yet, Edmond’s lifestyle is potentially dangerous, as page 19 indicates. The first five panels (cf. WS 19) display Emile playing cards and adorning the driveway of his house with scallop shells while Edmond finishes one of his nudes and then dies. The canvas that Edmond is working on functions as ›navel painting‹ in the last panel. The ›navel‹, here the pubis of the nude, is a metaphor for »a detail that triggers textual confusion, variation, and mobility of reading«.35 It catches the viewer’s attention in such a way that it takes over the meaning of the picture as a whole. Similarly, the meaning of Edmond’s last act in life transgresses the frame of the panel and reflects the message of the comic. From the pubis, a vertical brushstroke of red paint is drawn and combined with the capitalised word »bang« (s. fig. 1). The paint seems to refer to blood and the descriptive background noise to a gunshot, as if to suggest that the female sex is a mighty weapon. At this point in the comic, it is unclear what the message behind Edmond’s unusual death really is. Is he punished for his sexual prowess? Is too much sexual excitement bad for the old heart? Or, does the danger particularly lie in the objectifying act of copying female nudes from centrefolds? Is Edmond not only an older man interested in 32 | All translations out of French by A.S. 33 | Cf. Hearn: Imaging the aging of men. 34 | Kastenbaum: Saints, sages and sons of bitches, p. 72. 35 | Mieke Bal: Reading Rembrandt: Beyond the Word-Image Opposition, Amsterdam 2006, p. 23.

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sex but also an incarnation of the negative stereotype of a dirty old man?36 He certainly is in the eyes of his son who burns his father’s nudes before anyone can find out about his peculiar hobby.

Fig. 1: Wandering Streams, S. 19. The death of Edmond has a deep impact on Emile. He is no longer comfortable with the routine of his everyday life, particularly with angling as a worthy substitute for his libido. Emile feels challenged to honour the legacy of his best friend, i.e., by no longer being stuck in the past as a prisoner of his own memories and haunted by the rhetoric of ›if only‹, but by embracing new opportunities and unexpected chances. At Edmond’s funeral he meets Lucie Gaillet, an elegant older woman with whom Edmond had wanted to settle down. She makes a deep impression on Emile as well and he offers to drive her home. At Lucie’s place, Emile gets an erotic vision. In a first panel, Lucie is looking for cupcakes in the kitchen cabinet. Through the eyes of Emile, the reader sees her full body from the back. In the second analogous panel, Lucie is still in the same pose but she wears no clothes and the lines of her bodily contours are blurry. The lines carry the meaning that this image is illusory and only exists in the mind of the protagonist. The third panel in the row consists of a close-up of Emile’s face covered by his hand, so as to suggest the shame and discomfort that he is feeling. From this moment onwards, Emile’s sexual desire cannot be suppressed. He is no longer able of seeing and 36 | Cf. Thompson: Images of old men’s masculinity, p. 637.

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meeting women without imagining them undressed, whether they are his friend’s attractive partner or an obese passer-by. That the unexpected sexual reawakening of Emile is made visible through pictures rather than words is coherent with Emile’s introvert character and solitary life. In general, his conversation is limited to an exchange with the market vendor and the café-goers who babble on about fundamental questions of life and death. At home, Emile talks to himself and occasionally to his television. Emile agonises over his sexual reawakening. On the banks of the river where he used to angle with Edmond, he now sits troubled and deep in thought. The opposition of two touching scenes both sharing a similar light-blue colouring indicate that Emile’s loyalty to his wife is holding him back from moving forward, be it with Lucie or another woman. His sexual daydreams are severely inhibited by the painful memory of his wife’s disease and death. In the first scene (cf. WS 35), the aquamarine colour refers to the water of the local pool where Lucie goes swimming with her girlfriends. Having walked her to the pool, in the quiet isolation of his workshop, Emile daydreams about Lucie in her swimsuit, picturing her graceful movements in the water – a variation on his former erotic visions. In the second, also entirely visual scene (cf. WS 48), the specific blue colour does not refer to the cleanliness of the pool but to the hospital where Emile’s wife died of cancer. In the first six panels, Edmond’s cat passes by the window of Emile’s house and witnesses, together with the reader, how Emile is staring at a picture of his youthful wife. The light falls on the table at which he is sitting, the sepia colours enhancing an atmosphere of nostalgia. From the seventh panel onwards, however, the vantage point is that of the protagonist. First, the picture of his wife is doubleframed by the wooden door frame as well as the frame of the panel. Then it is as if a camera zooms in until there is no distance left between the act of reading and the act of recollecting. The reader looks through Emile’s eyes and is completely absorbed in his thoughts and memories of his wife on her deathbed. In the panel following the scene in the hospital (cf. WS 49), the facial expression of a tearful Emile is completed and reinforced by a text balloon explaining his frustration. Emile no longer remembers what his wife looked like before the cancer treatment started to violate her body. In a series of quasi-similar pictures, he puts his head on the table, wipes his eyes and blows his nose. In combination with the eye-level perspective, this specific panel arrangement – with an almost identical repetition of the second panel – creates a focus on the length and extent of Emile’s feelings of despair, loneliness and sorrow. The reader becomes a privileged witness and true companion as it were. Bennett 37 has written about the balancing act of widowers to reconcile cultural notions of what it means to be a manly man with ideas of proper grief. Hegemonic masculine values such as to be in control and in the public eye contradict the expectation that widowers show emotion, withdraw from society and avoid repartnering. The particular scene in the comic in which Emile 37 | Cf. Bennett: No sissy stuff, pp. 347-356.

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expresses his feelings over the bereavement of his wife is particularly moving because it shows quintessentially to what extent his grief is a private business confined to the walls of his house. When comparing the story of Emile’s sexual reawakening in the comic and the film, both the way he and Edmond are played out against each other and Emile’s encounter with Lucie are slightly different. Similar to the comic, the film character of Edmond is portrayed as stereotypical dirty old man who enjoys watching porn, painting nudes and bragging over the women he dated. Yet, while the comic suggests causality between Edmond’s death and the way he treats women through the visual metaphor of the pubis as weapon, the visuals of the film seem to rather uncritically endorse Edmond’s life style. In the film, Edmond is just the hyperbolic version of the other countrymen who find pleasure in pornographic images in absence of real women. Even the character of Emile loosens up a little in comparison to his more tragic version in the beginning of the comic. When Emile is invited to watch Edmond’s paintings (cf. TC: 00:08:56-00:10:57), for instance, he is more intrigued than shocked. In the film, Edmond has pasted faux fur where one would expect the nudes’ pubic hair. Emile brings his face close to one of the portraits and playfully blows in the make-believe hair – a comic reversal of a ›blow job‹ as well as a witty nod to the viewer who remembers the ›deadly‹ pubis of the comic. In absence of the comic’s more critical stance towards Edmond’s type, the film gets more of the atmosphere of a comedy. Accordingly, Edmond dies in humorous fashion of a heart attack (cf. TC: 00:14:25-00:15:33). He gets unwell while dancing to the song Des bananes by Jean-Pierre Mottier and Léo Misset. The banana – a common phallus symbol – appeared before as a motif in one of the paintings from Edmond’s so-called surrealist period. Regarding the story of Emile and Lucie, their budding romance takes up more story time in the film than in the comic. In the comic, Lucie is a minor character that – even though she clearly demonstrates some agency by inviting Emile to her home – merely serves to help Emile move on to the next stage in his development. She becomes more of a round character in the film by talking about her professional past and current hobbies. The many pictures at the wall of her apartment suggest a past in which she performed as a successful dancer. In a scene (cf. TC: 00:38:0700:40:47) that is exclusive to the film, Lucie takes Emile to a mirrored dance tent where people engage in country line dancing and soul funk disco dance. The company in the tent turns out to be almost exclusively female. Most of the women wear dresses in bold colours and with loud patterns – a stereotypical dress code for post-menopausal women – so that they hardly stand out in the crowd. When the women do a line dance the camera moves from the first row to the last where the viewer discovers Emile as the only male of the group (s. fig. 2). A bird-eye shot of pairs circling on the dance floor emphasizes his unique presence once more. While in the comic the agency of women in terms of initiating encounters with men is never accompanied with a value judgement, one film shot seems to suggest that the

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Fig. 2: Wandering Streams, TC: 00:39:10 single older women are either to be pitied or to be avoided. In this shot, lonely pairs of women are waiting to be asked for a dance. Some women in the background try to rather aggressively force the few men present at the bar to accompany them to the dance floor. Amidst all this, Lucie and Emile only have eyes for each other. The acceleration of both the music’s tempo and the film cuts indicate that they are becoming more and more invested in their potential love story. Back home, there is no visual equivalent of the images of Emile’s late wife in the hospital. After a shot with a long durée in which the protagonist sobs in front of his wife’s portrait, he is shown visiting the cemetery (cf. TC: 00:46:20-00:47:26). Reminiscent of the scene in the dance tent, the camera now moves backwards from Emile seemingly alone in the front row of tombs to the next rows where women are taking care of – presumably – their husbands’ graves. The women all look the same and are posing in similar ways while executing almost identical cleaning tasks. They keep an eye on Emile when he takes a rose from his wife’s grave to put it on Edmond’s. Just like the scene in the mirror dance tent, this scene highlights that there is a surplus38 of single older women in comparison to men. And, these women do not shy away from gazing at widowed men or inviting them to a dance. Analogous to the allmale club Le Penalty, women seem to have their own circuits to meet. It is almost as if male and female worlds in later life are entirely separated once long-lasting relationships ended through divorce or death. Scripts for proper grief prevent the cemetery from becoming the site where singles can meet in the film.

38 | Cf. Osmo Kontula, Elina Haavio-Mannila: The impact of aging on human sexual activity and sexual desire, in: The Journal of Sex Research 46 (2009) no. 1, pp. 46-56.

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J ourne y Towards R ecl aiming M asculinit y in L ater L ife Because Emile is unable to reconcile his grief over his wife with his interest in Lucie in the comic, he leaves on a trip to a place where he stayed as a child with a guest family during the Second World War. He plans to take an overdose of sleeping pills there to join his wife in the afterlife. A sequence of panels (cf. WS 5153, 58) visualise Emile’s travel through the French countryside in a small-engine motor car. For the first time in ages, Emile overcomes the physical and mental boundaries of his everyday life, which makes him feel relaxed and cheerful. He grills some freshly caught fish above an open fire, sleeps deeply in the grass, and sees his lined face mirrored in the lake during shaving. These romantic images of Emile camping are juxtaposed with the images of the highway and the traffic. While nature functions as a haven of harmony and tranquillity, (sub-)urban culture is connected with a busy, hectic, built environment. Twice, the choice of visuals implies that Emile, as an older man, is out of place in modern French society. In a wide panel, the attention of the reader is drawn to a traffic sign with an image of a boy and a girl crossing the street with bold block-lettering stating »Think of our children« (WS 53). A prohibition sign indicates a fifty kilometres’ speed limit. Obviously, the panel does not refer to Emile’s driving style – he is certainly no danger on the road in his small-engine motor car – but rather confronts the reader with the tragic nature of his journey; Emile is on his way to commit suicide. In a later sequence of panels (cf. WS 54), a hitchhiking backpacker literally turns his back at him. One starts wondering who actually thinks of older people in a culture that worships youth. When Emile finally arrives at his destination, the house and surroundings that were his childhood home are exactly the same as he had pictured them in his memories. Then, the nostalgic scenery is twisted in a humorous way because Emile encounters a naked woman on horseback, which prompts him to faint (cf. WS 59). Once he has come to his senses, it turns out that the woman is a member of the hippie community that now occupies the house, and a true incarnation of his former erotic visions. Like Emile, the hippies do not fit the mores of their own time and function as anachronism. They are a vestige of the Sixties and Seventies in their refusal to live like slaves of consumerism. The comic ridicules the lethargy, mischief and typical rhetoric of the community but also illustrates that anachronism has subversive potential39 and, therefore, is dangerous to the hegemonic culture. In a scene in the supermarket (cf. WS 64), the hostility expressed towards the outsiders is explicitly disclosed. Two shop detectives carefully keep an eye on Emile and his hippie friends. From both sides of the panel frame they spy on the odd customers and the reader is almost implicated as a voyeur looking on. 39 | Cf. Mary Russo: Aging and the scandal of anachronism, in: Kathleen Woodward (ed.): Figuring Age: Women, Bodies, Generations, Bloomington 1999, pp. 20-33.

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The hippies welcome Emile in their midst and initiate him into their alternative life style, summarised as ›sex, drugs & rock’n roll‹ – the subtitle of the comic. Soon it becomes clear that the unexpected encounter with the community helps Emile to complete his journey in two ways. First, like his friend Edmond, the hippies subscribe to an attitude of laissez-faire, a policy of allowing events to take their own course. Neither obligations nor regulations rule their existence. They convince Emile to smoke grass and to learn to let go. In terms of outlook on the future, the hippies do not differentiate in chronological age: »Don’t worry, old man, we have a long life ahead of us!« (WS 62) When Emile shows the community members the old water pump in the backyard and teaches them how to fish, one of the hippies laments: »The Indians were right, one should listen to wise old men« (WS 77) – another stereotype of the ageing man40 albeit positive. Regardless of their naïve assumption that more primitive cultures treated their older population better, the hippies give Emile the feeling that he has his own contribution to make, which instantly improves his sense of self-worth. Second, in terms of sexual scripts, the hippies and Emile could not be more different. In the community, sexual needs are openly discussed and satisfied by both men and women. Nudity is connected neither with shame nor guilt. Prudishness and remorse are exactly the feelings that Emile has to rise above since being overcome by his sexual reawakening. The community is the perfect place to achieve this end. In one scene (cf. WS 70), the reader watches Emile waking up amidst six naked bodies in the hippies’ collective bed from a bird eye’s view. He is the only one fully dressed and his posture expresses discomfort. Analogous close-ups of Emile’s face show how he is caught by surprise, gradually gets over the shock and just gets on with the unfamiliar situation. The facial expression of the last panel even hints at emotional bliss. In another scene (cf. WS 72-74) , Emile’s uneasiness with his body is played out against the liberated hippie women that take him skinny-dipping. First, we see the women in the water through Emile’s eyes – a scene reminiscent of the dream about Lucie and her friends in the swimming pool. Then, it becomes clear that Emile is hiding behind a bush while offering the reader a rather revealing sight of his pale and flabby buttock. Once Emile has finally plunged into the water, he becomes sexually aroused by the spectacle of the women and no longer dares to come out of the water. His erection is not explicitly shown but told by the character himself and stressed by means of a bold question and exclamation mark in a text balloon: »Damn, a hard-on! Hahaha, I had forgotten it was still operational.« (WS 74) Sexual arousal is physical evidence of Emile’s sexual reawakening. In the end, Emile throws his sleeping pills in the stream and decides to return home and declare his love to Lucie Gaillet. The encounter with the hippies has enabled him to leave his fear and grief behind. In other words, his journey back has set the future free. The night before his departure, one of the hippie women pays Emile a visit and frankly invites him to have sex with her (cf. WS 79). At first, 40 | Cf. Kastenbaum: Saints, sages and sons of bitches, p. 76.

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Emile is embarrassed and puts up a struggle. When his excuses, such as »I am old«, »I could be your father«, and »I am not single« (WS 79), prove ineffective, he finally – willingly – gives in. The private atmosphere of a camper van secures the intimacy of the unexpected couple. The woman insists on leaving the lights on so that they can see each other during the lovemaking. The love scene itself, however, is left to the reader’s imagination. It is as if he or she is kept at a distance and only allowed to guess what really happens behind the window, an effect strengthened by darkened panels. Emile’s journey to the house of his youth in the film adaptation Wandering Streams is reminiscent of the road movie, an in itself profoundly gendered and aged genre. Laderman41 argues that the road movie focuses on the young male’s conflict between rebellion and conformity. The motif of the journey enables the youth’s transgression and liberation. Ageing, understood as a period of disengagement and decline, opposes the non-conformist logic of the road movie. Accordingly, road movies with ageing protagonists concentrate on the psychological processes gone through when facing up to the fact that one’s life is nearing its end. The road then becomes the site of conflict resolution and a re-evaluation of past events to facilitate a peaceful death. Chivers42 calls this type of narrative the »retrospective plot« of the »silvering screen«, the latter referring to films that feature ageing prominently. The prototype of the retrospective plot is Ingmar Bergman’s film Smultronstället (Wilde Erdbeeren, S 1957) about the unsympathetic physician Isak Borg who is on his way from Stockholm to Lund to accept an honorary degree. Accumulating nightmares and hallucinations, in combination with symbolic encounters on the road, drive Borg to systematically reflect on and reassess his life, which makes him an improved man in the end. Contrary to Laderman, Mueller43 believes the intrinsically subversive character of the road movie genre to be reconcilable with the figure of the ageing protagonist. She is convinced that the road movie offers the newly retired male the opportunity to fight his positioning of weak, redundant and conservative ›other‹ when entering the realm of domestic life, and to reclaim the relationships on which his masculinity was built. By comparing American and European films, such as About Schmidt (US 2002) by Alexander Payne and Michael Schorrs Schultze Gets the Blues (D 2003) respectively, Mueller concludes that the European version of the genre leaves the most room for strategies to bend the emasculation process and, therefore, for the transformation of the ageing protagonist. Accordingly, in the film Wandering Streams, the journey of Emile is less of a reflection on his past in anticipation of his death than a revision of his masculinity. Yet, while older protagonists in the road movie genre generally are, 41 | Cf. David Laderman: Driving Visions: Exploring the Road Movie, Austin 2002, p. 237. 42 | Cf. Chivers: The Silvering Screen, p. xvi. 43 | Cf. Gabriele Mueller: The aged traveler: Cinematic representations of post-retirement masculinity, in: Heike Hartung, Roberta Maierhofer (eds.): Narratives of Life: Mediating Age, Berlin 2009, pp. 149-163.

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according to Mueller, portrayed »as either completely asexual through the absence of any reference to their sexuality or as very awkward about their own bodies and reluctant to acknowledge this part of their identity«,44 the journey of Emile builds on his sexual reawakening. While the comic hints at the planned suicide of the main character and starts off by framing Emile’s journey as a retrospective plot, the film immediately and unambiguously presents the travel as a trip to reinvent himself as a man. The upbeat brass band track by Alain Pewzner (the leitmotif of the film’s sound track) that accompanies Emile in his small motor-engine car sets an atmosphere of optimism and promises adventure. In the film, the commune that lives in the house of Emile’s youth is modified to our time rather than a remnant of the Sixties and Seventies. Its members represent an anarchist subculture that embraces a lifestyle including nudism, free love, soft drugs, dreadlocks, graffiti, tattoos, and heavy metal. While in the comic, Emile and the hippie community share the position of outsider in a youth-worshipping and consumerist culture respectively, the film leaves this element out and focuses more on the young/old dichotomy between the members of the commune and Emile instead. This seems partly the result of the hyperrealist character of film. Lines on paper portraying characters in a story can never evoke all the details of the embodied age of real-life actors and actresses. Shifting from the genre of the comic to film, therefore, makes the difference in chronological age between Emile and the commune members more explicit (s. fig. 3). This affects especially the sexual encounter between Emile and the woman of the commune. Julie-Marie Parmentier (born 1981), who plays this woman character in the film, is 42 years younger than Daniel Prévost (born 1939), who incarnates Emile. In the comic, the age difference could easily be 20 years less. Because the protagonist is paired with a significantly younger woman in the film adaptation, the importance of their encounter in terms of revisiting Emile’s masculinity is striking. To a greater extent than in the comic, the woman’s function in the plot is to affirm Emile’s virility in terms of sexual attractiveness. She does so not only by gazing longingly at him and initiating sexual activity, as is the case in the comic, but also by verbalizing her attraction to him. After the skinny-dipping, the woman tells Emile: »You shouldn’t feel embarrassed over your body. A naked old man can be as beautiful as a younger one« (TC: 01:01:04-01:01:08). Her encouragement prompts Emile to speak freely and it is in this conversation that the viewer for the first time gets a deeper insight in the protagonist’s temperament: Emile: I chose bonsai trees as a hobby because they require little space. I didn’t get a driver’s permit because I don’t like speed. And, I make circles in the water because they don’t leave traces. Woman: But you are happy, aren’t you? Emile: I am learning to be it again. (TC: 01:01:57-01:02:21) 44 | Mueller: The aged traveler, p. 158.

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Fig. 3: Wandering Streams, TC: 00:58:39 Emile confesses that he has always been afraid of living more dangerously. The woman interprets his confession as an invitation to help him overcome his feelings of inadequacy. At the commune’s dance party she insists on dancing with him in a scene (cf. TC: 01:02:40-01:03:57) that is reminiscent of Emile’s outing to the mirror dance tent with Lucie. Yet, the female company is now much younger and the setting less out-dated. When the woman initiates intercourse, it is clear that, through his encounter with her, Emile is now able to reclaim his virility and leave the self-image of redundant old man living in the past – symbolized by a shot of him staring at the wallpaper (cf. TC: 00:56:12-00:56:48) – behind. As the chronological age of the two characters differs greatly, the story of the old man who falls for the pretty shockingly younger woman risks ending up in a more conventional plot, i.e., one of old muck-hills will bloom. Yet, the stay with the commune is not Emile’s final destination. Instead, it serves to prepare him for his return to Lucie, a more age-appropriate woman, to whom he would like to proclaim his love. In contrast to Lucie, the younger woman is without a name so as to underline that her function to advance Emile’s development is more important than the person behind.

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V eiling and U nveiling O lder S e xual B odies In the comic, on his way home to Lucie, Emile sings out Yellow Submarine, the famous Beatles’ song, which indicates his metamorphosis from a suicidal into a high-spirited old man – until a car hits him. Does the protagonist really have to pay with his life for his newly found liberty and optimism? Will the expectation be met that Emile has to follow Edmond’s lead, now that he is sexually active? The answer is no. Despite his advanced age Emile won’t kick the bucket any time soon. The only physical injuries Emile suffers are some bruises and a sprained ankle. In the hospital, Lyse Vallé, the older woman who caused the accident, comes to apologise and expects to be yelled at: »I am prepared to be called the worst woman driver ever, stupid bitch or any other name. Go ahead!« (WS 83) To her surprise, Emile outright compliments her on her beauty and is not in the least infuriated about the accident: »You are very pretty. I am delighted that you ran into me« (WS 83). For the first time since his sexual reawakening, Emile is capable of verbally expressing his interest in a woman. The sharp dialogues between the two older people illustrate how they end up hitting it off. The car crash is the start of their romance and Emile and Lyse do not lose any time in winning each other over. In the hospital garden, Lyse declares her love for Emile and announces that she is not in for »cups of coffee, slippers and evenings in front of the TV« (WS 84) but prefers a more modern relationship. By offering her a joint, Emile takes up the challenge and answers with a provocation of his own. As a result, he gets kicked out of the hospital. Lyse decides to take him home with her. When Lyse guides Emile to the guest bedroom, it takes him a bit of Dutch courage to kiss her on the lips (cf. WS 86). While she is freshening up, he takes his clothes off, before positioning himself in the bed (cf. WS 87). This action is only hinted at by juxtaposed panels with images of Emile’s shoes and carefully arranged clothes on a chair. With high hopes, Emile inspects his erection under the bed linen – an intimate detail only shared with the reader. Lyse enters the room, turns the light out, takes her nightdress off, and approaches the bed where Emile awaits her. The next panels (cf. WS 88) focus on three stages of the sexual response cycle: excitement, orgasm, and resolution. There is nothing extraordinary about this missionary sex scene. Yet, the whole of page 88 is coloured black and reddish-brown, and outshined by a fill effect. A pattern of fine pen strokes makes it hard to distinguish the bodies and facial expressions of the lovers. It is disappointing that a comic clearly contesting the invisibility of love in later life does not show the longed-for sexual experience of its protagonist more explicitly. It is as if physical details of older bodies have to be veiled, lest they offend the reader. Or, more positively interpreted, the scene could simply be meant to create the specific atmosphere of the room where two lovers, who might feel uncomfortable about their nudity, go to bed with each other for the first time. Regardless of which reading one prefers, the fill effect and choice of colour obscure the action and prevent the reader from acting as voyeur.

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Fig. 4: Wandering Streams, S. 89 The evening sex scene featuring Lyse and Emile is matched with a scene depicting the morning after on a double page (cf. WS 88-89) in which the reader is now kept at less of a distance (s. fig. 4). The first large panel of the morning scene is reminiscent of prototypical images of sensuous feminine beauty in modern art history. Like an odalisque, Lyse, seen from the back, stretches out on the bed.

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A pattern of vertical lines serve to put her curvaceous body in the shade and indicate wrinkles and other skin folds but without blocking the view entirely. Two analogous panels selecting a detail of the large panel focus on Emile stroking Lyse’s bottom, which wakes her up. Medium close-ups of her fully illuminated face surround both images. Up to this point, only Lyse’s silver hair reveals her advanced age. In the next panels, other visual and verbal age markers show that we are witnessing a love scene of two older people. Emile tells Lyse that he is feeling her body by counting its lines and caressing its wrinkles with his hands marked by liver spots. His words are visually reinforced by a picture of his false teeth in the glass and crutch leaning to a chest of drawers. In comparison with the attention paid to Lyse’s whole body – seen from the back rather than exposing her breasts and vulva – quite remarkably Emile’s penis is illustrated explicitly. One of the panels consists of a close-up of his morning erection gripped by Lyse’ hand; she is encouraging him to enter her body. This emphasis is in line with the observation by Marshall and Katz that today the erection functions as »a visible index […] of masculinity, emotional health, and physical health«.45 Seen in retrospect, male sex organs are mentioned quite often in Wandering Streams, e.g., Emile’s unexpected erection in the lake. In Calasanti and King’s opinion, older men are subjected to what they call the ›dirty/impotent double bind‹: »They should, so as not to be ›dirty‹, stop becoming erect; but they should also, so as to age successfully, never lose that erection«.46 This discourse of »staying hard«47 is easier to suggest through the metaphor of the erect penis in the genre of the comic than in film. Film comes with restrictions concerning the depiction of sexual activity in erotic scenes.48 In the translation of the evening sex scene between Lyse and Emile into moving images (cf. TC: 01:22:19-01:22:46), the fill effect and choice of dark colours are matched with a specific use of fill light, backlight and mirror images. There are no shots of the three stages of the sexual response cycle. The viewer only witnesses the tangled hands and faces of the couple. The use of a black shot signifies the transition from night to day. If we compare the representation of the morning sex scene in the comic with the film (cf. TC: 01:22:47-01:23:51), sexual intercourse is now hinted at implicitly. After Lyse invites Emile to enter her body, sexual activity is suggested indirectly by moving the camera from the lovers to shadows of their lovemaking on the wall. Earlier in the film, in a similar shadow shot (cf. TC: 00:32:01-00:32:08), Emile is shown sleeping alone in his bedroom with just two of Edmond’s painted nudes and a crucifix on the wall to keep him company. The visual analogy between the shots illustrates that the protagonist has come a long way since the beginning of the narrative. Furthermore, in the film’s morning sex scene, the focus on the 45 | Marshall, Katz: Forever functional, p. 180. 46 | Calasanti, King: Firming the floppy penis, p. 20. 47 | Ibid., p. 13. 48 | Cf. Linda Williams: Screening Sex, Durham 2008.

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erection of Emile is completely left out, probably because of its pornographic nature. The absence of the visual emphasis on the erection is compensated with a more conventional glimpse of one of Lyse’s breasts. Heterosexual intercourse is essential to Emile’s transformation. Yet, the film is unable to show it with the same explicitness as the comic. Film also comes with conventions regarding the choice of bodies that are visually coded as sexually attractive. Just like the comic Wandering Streams includes images of women’s bodies of all ages, sizes and shapes, the film adaptation does not shy away from revealing the bodies of the older women that Emile encounters on his path. Yet, the way the younger and older bodies are veiled and unveiled differs. While the younger women characters in the film are shown full frontal naked at a short camera distance, the older women characters are only exposed in full rear nudity and at greater distance. Is this evidence of the cultural imperative49 that younger bodies are more beautiful and, therefore, attractive than older bodies? When Lyse and Emile take their position at the window after their sexual activity in the morning (cf. TC: 01:23:52-01:24:31), for instance, Lyse covers her breasts with her hands so as to hide the marks of time. Seen from the back, her apparent youthfulness is highlighted by the image of her long strawberry blond hair that she is wearing down like a young girl. This hairstyle opposes the hairdo of the character of Lyse in the comic. Also, in the comic, Lyse does not feel the need to cover her breasts. The hypervisibility of film in combination with a cultural preference for a youthful aesthetic has made it difficult to show visual equivalents of the sexualised images of the older women in the adaptation. Despite these restrictions, the on-screen corporeal visibility of older sexual bodies is innovative. There are only a few art house films that go as far in showing sexual desire and activity in older men and women’s bodies.50

C onclusion : W hat ’s a M an without a W oman The final scene of both the comic (cf. WS 94) and the film Wandering Streams (cf. TC: 01:27:28-01:28:07) starts off, like the beginning, with a wide view on the riverside where Emile used to fish with Edmond. His partner Lyse has now taken the place of his long-time friend and the angling is a smokescreen for a sex game. Clearly, Emile has developed into a different man. His encounters with especially 49 | Cf. Chris Holmlund: Impossible Bodies: Femininity and Masculinity at the Movies, London 2002; Sadie Wearing: Subjects of rejuvenation: Aging in postfeminist culture, in: Yvonne Tasker, Diane Negra (eds.): Interrogating Postfeminism: Gender and the Politics of Popular Culture, Durham 2007, pp. 278-310. 50 | Cf. Aag je Swinnen, Leni Marshall: An intricate ménage à trois: Age, gender, and sexuality, in: C. Lee Harrington, Denise Bielby (eds.): Aging, Media, Culture, Lanham 2014, pp. 157-168.

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the three different women (Lucie, the woman from the commune and Lyse) on his path were crucial to this development. Calasanti and King51 warn that the emphasis on sexual activity in definitions of late-life masculinity is rooted in the experiences of younger men and does not take into account the reality that age comes with a slight decline in sexual functionality and activity. In their view, the dirty/impotent double bind, furthermore, leaves the lack of heterosexual partners for older women un-discussed as well as the option for older women and men to achieve sexual pleasure without penile penetration. Even though sexuality is one-sidedly defined in terms of heterosexual intercourse in Wandering Streams and presented as a prerequisite for the performance of successful masculinity in later life, the women that Emile partners with are far from silenced and passive helpers solely in support of his quest. All three of them give proof of having sexual agency, autonomous voice and desiring gaze. The comparative close reading of the comic and the film shows that the film characters have slightly more personal depth and history than their counterparts in the comic. Also, additions to the plot, such as the scene in the dance tent and at the cemetery, give a better – although one-sided – picture of the destiny of women in comparison to men in later life. The sexual encounter with the younger woman of the commune is only temporary and ultimately prepares Emile to engage in a relationship with an experienced woman whose body is as marked by time as his own. Both older and younger women’s bodies are shown as desirable and women function as objects and subjects of desire. Taking all these elements into account, Wandering Streams has the potential to improve the visibility of sexuality in later life, thereby moving beyond the stereotypes of the dirty and redundant old man and withered menopausal woman. In this sense, both the comic and film adaptation help advancing a new, more diversified aesthetics and erotics of ageing.

B ibliogr aphy Films About Schmidt (US 2002, direction: Alexander Payne). Les petits ruisseaux (Wandering Streams, F 2010, direction: Pascal Rabaté). Schultze Gets the Blues (D 2003, direction: Michael Schorr). Smultronstället (Wilde Erdbeeren, S 1957, direction: Ingmar Bergman).

Primar y Literature Rabaté, Pascal: Les petits ruisseaux (Wandering Streams), Paris 2006.

51 | Calasanti, King: Firming the floppy penis, p. 17.

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Secondar y Literature Baetens, Jan: De verleide lezer: woord en beeld in het stripverhaal, in: Lizet Duyvendak, Barend Van Heusden (eds.): Literaire Cultuur: Casusboek, Heerlen 2001, pp. 129-145. Bal, Mieke: Reading Rembrandt: Beyond the Word-Image Opposition, Amsterdam 2006. Bennett, Kate M.: ›No sissy stuff‹: Towards a theory of masculinity and emotional expression in older widowed men, in: Journal of Aging Studies 21 (2007) no. 4, pp. 347-356. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film, Madison 1985. Bruggeman, Daniëlle; Smelik, Anne: De esthetiek en erotiek van ouderdom in de beeldcultuur ontrafeld, in: Aagje Swinnen (ed.): Seksualiteit van ouderen: Een multidisciplinaire benadering, Amsterdam 2011, pp. 267-290. Calasanti, Toni: Feminist gerontology and old men, in: Journal of Gerontology: Social Sciences 598 (2004) no. 6, pp. 305-324. Calasanti, Toni; King, Neal: Firming the floppy penis: Age class, and gender relations in the lives of old men, in: Men and Masculinities 8 (2005) no. 1, pp. 3-23. Calasanti, Toni; King, Neal: ›Beware of the estrogen assault‹: Ideals of old manhood in anti-aging advertisements, in: Journal of Aging Studies 21 (2007) no. 4, pp. 357-368. Chivers, Sally: The Silvering Screen: Old Age and Disability in Cinema, Toronto 2011. Coleman, Peter G.: Reminiscence: developmental, social and clinical perspectives, in: Malcolm L. Johnson, Vern L. Bengtson, Peter G. Coleman, Thomas B. L. Kirkwood (eds.): The Cambridge Handbook of Age and Ageing, Cambridge 2005, pp. 301-309. Cossardeaux, Cyril: Review of Les petits ruisseaux, in: Culturopoing 2010, http:// www.culturopoing.com/concours/cinema/pascal-rabate-les-petits-ruisseauxavant-premiere/20100616 [hit: 11.05.2015]. Duerden Comeau, Tammy; Kemp, Candace L.: Intersections of age and masculinities in the information technology industry, in: Ageing & Society 27 (2007) no. 2, pp. 215-222. Gravagne, Pamela: The Becoming of Age: Cinematic Visions of Mind, Body and Identity in Later Life, Jefferson 2013. Hearn, Jeff: Imaging the aging of men, in: Mike Featherstone, Andrew Wernick (ed.): Images of Aging: Cultural Representations of Later Life, London 1995, pp. 97-115. Holmlund, Chris: Impossible Bodies: Femininity and Masculinity at the Movies, London 2002. Hoonaard, Deborah Kerstin van den: Aging and masculinity: A topic whose time has come, in: Journal of Aging Studies 21 (2007) no. 4, p. 277-280.

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Bilder des Begehrens – doing age/doing desire Lena Eckert, Silke Martin

E inleitung Der Film verfügt über viele Möglichkeiten, Begehren und Körperlichkeit älterer Menschen nicht nur dar-, sondern auch herzustellen. Anhand ausgewählter Filme wird im Folgenden untersucht, wie filmische Strategien Materialität und Sensualität erzeugen und performativ Altersprozesse hervorbringen und gestalten. Dabei drängen sich folgende Fragen auf: Wie wird Begehren im Alter inszeniert? Wie wird Geschlecht hergestellt und inwiefern kreuzt oder bedingt dies die Darstellung von Alter? Welche filmischen Strategien lassen sich bei der Darstellung älterer Körper ausmachen? Wie kann Begehren im Alter als eigenständige filmische Inszenierung gelingen, ohne Altersstereotype zu reproduzieren? Wie können Filme stereotype Vorstellungen von Sexualität unterlaufen und ein anderes Begehren nicht nur andeuten, sondern als Möglichkeit entwerfen und in den Zuschauenden ein Begehren nach diesem Begehren hervorrufen? Ziel dieses Beitrags ist es, anhand ausgewählter Filme einen Einblick in filmische Altersrepräsentationen im Kontext von Begehren und Körperlichkeit im gegenwärtigen europäischen Film zu geben und dabei das Potenzial des Films herauszuarbeiten, stereotype Entwürfe von Alter und Begehren zu unterlaufen. Für die Analyse von Judi Denchs Inszenierung als ›M‹ in Sam Mendes’ Skyfall (dt. James Bond 007 – Skyfall, GB/US 2012) als hochattraktive und altersschöne Frau, die Macht über (jüngere) Männer hat, bieten sich zunächst zwei wesentliche Begriffe aus den Gender und Ageing Studies an: das doing gender/age und das gender/ageing trouble. Diese Konzepte betonen, dass Alter und Geschlecht nicht etwas ist, das man hat, sondern etwas ist, das man tut. Sie lassen sich ergänzen durch ein doing desire, das jenseits einer Naturalisierung von Alter und Geschlecht liegt und anhand dessen sich zeigen lässt, wie Begehren älterer Menschen im Film dar- und hergestellt wird.1 Ausgehend von der stereotypen, vermeintlich authenti1 | Doing desire wurde bisher von Deborah Tolman in Zusammenhang mit der sich ändernden Sexualität von adoleszenten Frauen verwendet (vgl. D. L. Tolman: Doing desire:

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zitätsnahen Inszenierung der Sexualität eines älteren Paars in Wolke 9 (D 2008) von Andreas Dresen formulieren wir im Durchgang durch das Filmmaterial – es handelt sich um die Filme Vergiss mein nicht (D 2012) von David Sieveking, Michael Hanekes Amour (dt. Liebe, F/D/A 2012), Stéphane Robelins Et si on vivait tous ensemble? (dt. Und wenn wir alle zusammenziehen?, F/D 2011) sowie Irina Palm (B/D/LUX/GB/F 2007) von Sam Garbarski2 – eine Bildtypologie des Begehrens, die von vier Kategorien ausgeht: von Bildern des Entzugs, der Imagination, der Erinnerung und der Unvollständigkeit. Diese stellen potenzielle, bloß mögliche Bilder dar, die nicht aktualisiert werden, die sich jedoch in die Leihkörperschaft der Zuschauenden sensitiv-affektiv einlagern. Es handelt sich dabei um Bilder, die etwas zeigen könnten, es aber nicht zeigen, und die subversiv ein herkömmliches und normatives Bild von Sexualität unterlaufen. Damit wird, so die These, in den (Leihkörpern der) Zuschauenden ein Begehren nach diesem Begehren erzeugt. Wie dieses Begehren ästhetisch hergestellt wird, bildet den Fokus der folgenden Ausführungen.

D ie kinematogr aphische S chönheit und M acht älterer F r auen : S k yfall Die über 80-jährige Schauspielerin Judy Dench wird in Skyfall als langjährige Vorgesetzte und Vertraute von James Bond (Daniel Craig) und dabei als alternde und zugleich hochattraktive Frau inszeniert. Ihre Erhabenheit und Schönheit wird mit der filmischen Mise-en-Scène gleichermaßen herausgearbeitet. So gelangt der Film mit dem Motiv der altersschönen Frau zu gänzlich neuen ästhetischen Möglichkeiten. In der Szene, um die es uns hier geht, fährt die Kamera langsam und im Gegenschnitt zur Verfolgungsjagd auf M zu. Während sich das Geschehen seinem Höhepunkt nähert, wird M’s Gesicht größer und größer, bis das Bild in eine Nahaufnahme mündet. M gibt den Befehl zu schießen. Metallische Rhythmen verweben sich mit Klängen, die an Zuggeräusche erinnern. Sind die Aufnahmen der Verfolgungsjagd in bräunlich-hellen Farben gehalten, so beAdolescent girls’ strugle for/with sexuality, in: Gender & Society 8 (1994) H. 3, S. 324342). Unser Konzept des doing desire lehnt sich hier an das Konzept des doing gender von Candace West und Don Zimmerman (Doing Gender, in: Gender & Society 1 (1987) H. 2, S. 125-151) an sowie an das doing age von Karin Lövgren (Celebrating or Denying Age? On Cultural Studies as an Analytical Approach in Gerontology, in: Ulla Kriebernegg, Roberta Maierhofer (Hg.): The Ages of Life. Living and Aging in Conflict?, Bielefeld 2013, S. 37-59). 2 | In unserer Analyse spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Spielfilm oder einen Dokumentarfilm handelt, da es uns um filmästhetische Strategien geht, die Begehren zeigen und produzieren. Diese filmästhetischen Strategien setzen sich durch Mise-en-Scène, Kadrierung, Montage und Ton zusammen und werden jenseits von Zuschreibungen filmischer Formen eingesetzt.

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stechen die Aufnahmen von M mit grau-silbernen Nuancen und kalt-bläulichem Licht. Indes die Verfolgungsjagd in einem rasanten Tempo geschnitten ist und die Bewegungen der Figuren und Gegenstände in die unterschiedlichsten Richtungen des Bildkaders weisen, ist die Kamerafahrt auf M hingegen langsam und gleichmäßig; sie bildet mit ihrer horizontalen Bewegung auf einen vertikalen Fokus – die stehende Figur – das Zentrum und den Ruhepol der Szene und spiegelt das Fadenkreuz der Verfolgungsjagd wider. Die Inszenierung von M präsentiert nicht nur eine alternde Frau, die hochattraktiv ist, sondern auch eine Frau, die Macht über (jüngere) Männer hat. Macht wird hier nicht mit Männlichkeit und Jugend, sondern mit Weiblichkeit und Alter assoziiert. Man könnte in diesem Kontext von einer filmischen Utopie sprechen, die die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern und den Lebensaltern verkehrt. Interessanterweise bleibt diese Art von Schönheit aber dem Alter und den Frauen vorbehalten; sie basiert auf körperlichen Alterserscheinungen wie Falten, grauen Haaren und körperlicher Gebrechlichkeit. Mit genuin filmischen Mitteln wie Maske und Kostüm sowie Farbreflexen, Lichtverhältnissen und Einstellungsgrößen hervorgehoben, kommen diese Altersmerkmale in einer besonderen Weise zur Geltung und entfalten dabei ihren ganz eigenen kinematographischen Reiz. Insbesondere die Maske und das Kostüm von Judi Dench lassen an Susan Sontags Artikel The Double Standard of Aging denken. Laut Sontag dient Schminken den Frauen als Mittel, jünger auszusehen, um so – im Gegensatz zu den Männern – ihr kalendarisches Alter verbergen zu können. Sontag schlägt deshalb vor, weibliche Gesichter so zu zeigen, wie sie tatsächlich sind – authentisch und voller Lebensspuren: »Woman should tell the truth«.3 Jedoch ist jene vermeintliche Authentizität und Natürlichkeit, von der Sontag spricht, immer schon inszeniert, wie Miriam Haller mit Referenz auf Judith Butler anmerkt, gerade auch dann, wenn es sich um einen Film handelt.4 So geht es in Skyfall nicht darum, durch Schminken das Alter zu verdecken; vielmehr soll das Alter gezeigt werden, in seiner ganzen Schönheit, jenseits von stereotypen Altersdarstellungen, wie sie uns in anderen Filmen begegnen. Was in Skyfall entfaltet wird, ist eine kinematographische Schönheit des Alters. Interessanterweise geht es dabei aber nicht um die Auflösung von Alterszuschreibungen, wie Haller argumentieren würde, sondern vielmehr, ganz im Gegenteil, um eine Verfestigung und zugleich eine Verkehrung dieser Zuschreibungen. Denn Kostüm und Make-up verdecken nicht das Alter, sondern bringen es erst hervor bzw. überhaupt erst zur Geltung. 3 | Susan Sontag: The Double Standard of Aging, in: Lawrence R. Allman, Dennis T. Jaffe (Hg.): Readings in Adult Psychology, New York 1977, S. 285-294, hier S. 294. 4 | Vgl. Miriam Haller: ›Unwürdige Greisinnen‹. ›Ageing trouble‹ im literarischen Text, in: Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 45-63, hier S. 60. Dazu auch: Thomas Küpper: Filmreif. Das Alter in Kino und Fernsehen, Berlin 2010, S. 79.

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Wäre nicht M mit ihrem umwerfend schönen, faltenbesetzten Gesicht und ihrem glitzernden, silbergrauen Haar das optische Zentrum des Films, so wären die Filmbilder auch nicht zu einer solchen Brillanz gelangt. Skyfall dokumentiert nicht das Leben im Alter, wie es alltagsweltlich assoziiert wird, sondern er schreibt es um bzw. neu. Der Raum zwischen Film, Alter und Leben wird hier mit Macht und Schönheit gefüllt. Im Zuge dessen wird nicht nur das Alter, sondern auch Gender und Begehren im Alter neu entworfen. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Frage zu stellen, welche medialen Darstellungsmodi das Alter üblicherweise hat – etwa in der Literatur, im Film oder in anderen Künsten. Wie wird Alter dargestellt, welche Stereotype lassen sich ausmachen und wie können diese in Hinblick auf Gender und Begehren subversiv unterlaufen werden?

Topologie des A lters : A lterslob , A ltersspot t, A lterskl age Miriam Haller differenziert in Folge Gerd Göckenjans die literarische Topologie des Alters in drei Kategorien: »Strukturell lassen sich die Topoi des Alterslobs, der Altersklage und des Altersspotts unterscheiden, innerhalb derer die kulturellen Normierungen von ›altersgemäßen‹ Verhaltensweisen ausagiert werden.«5 Während die »Topoi des Alterslobs und der Altersklage« in der Literatur »weitgehend stereotyp« verhandelt werden, so Haller, erscheint der »Topos des Altersspotts« in der Literatur hingegen »als entwicklungsfähiges Medium, um Alternativen zum herrschenden Altersbild zu entwickeln«.6 Der Film verfährt ganz ähnlich wie die Literatur beim Altersspott, wenn er die Topologie des Alters performativ unterläuft und dabei eine Um- und Neuschreibung von Alterskonstrukten bewirkt. Oft grenzt er sich dabei nicht von der Jugend ab, wie es zum Beispiel der Topos des Alterslobs verlangen würde. Vielmehr gleicht er sich der Jugend an, um Alterskonstrukte zu unterlaufen. Im Gegensatz zur Literatur scheint es dem Film jedoch eher um eine Ausdifferenzierung, oder vielleicht besser: um eine Überholung und Überwindung der drei Topoi zu gehen, um so »Neueinschreibungen eines differenzierteren und vielfältigeren kulturellen Alter(n)skonstrukts« 7 zuzulassen. Dieser filmischen Bewegung möchten wir im Sinne des doing age/doing desire – und somit jenseits einer Naturalisierung von Alter, Körperlichkeit und Begehren – nachgehen.

5 | Haller: ›Unwürdige Greisinnen‹. S. 46. 6 | Ebd., S. 47. 7 | Ebd., S. 47.

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D oing gender /doing age Wie in einer Gender-orientierten Welt auch immer ein doing gender zu identifizieren ist,8 so ist in einer altersstrukturierten Welt auch immer ein doing age zu entdecken.9 ›Doing gender‹ bezeichnet die Art und Weise, wie Gender hergestellt wird. Es wird bei diesem Konzept davon ausgegangen, dass Gender nicht etwas ist, was man natürlicherweise oder biologisch hat, sondern etwas ist, das man konstant tut (bzw. mit einem getan wird). So nehmen wir uns gegenseitig immer als Männer oder Frauen wahr und gehen auch entsprechend dieser Kategorien miteinander um. Wir fügen uns aktiv in die Zweigeschlechtlichkeit ein und (re-) produzieren sie kontinuierlich durch unsere Wahrnehmungen und Handlungen. Übertragen auf das Alter heißt das, dass auch das Alter keine naturgegebene Sache ist, die kulturübergreifend das Gleiche bedeutet, sondern die immer nur im jeweiligen Kontext auf eine spezifische Art und Weise entsteht und zu bestimmten Klassifizierungen führt. ›Doing age‹ bezeichnet demnach Prozesse, anhand derer Alter auf verschiedenen Ebenen als solches hergestellt wird. Das Konzept des doing age betont den aktiven Prozess des Herstellens, der auf der Art und Weise beruht, wie Alter gesehen wird, wie die Umwelt mit Alter umgeht und welche Stereotype damit verbunden werden. Wenn ein doing age stattfindet, kommen all diese Aspekte zusammen und bewirken, dass Menschen sich selbst und andere in die Ordnungen des Alter(n)s einteilen. Dieses doing age macht auch der Film in Bezug auf unterschiedliche Themen. Doch wie funktioniert ein doing age – insbesondere in Hinblick auf ein doing gender – im Film? Wie werden Alter und Gender filmisch hergestellt?

D oing age /doing gender im F ilm The E xpendables Interessanterweise steht das Verhalten der filmischen Figuren oftmals ihrem kalendarischen Alter entgegen. In zeitgenössischen Filmen werden kaum alte, gebrechliche Menschen gezeigt, die krank sind oder sterben; vielmehr ist es gerade deren Jugendlichkeit, Lebenslust und Aktivität, die die filmische Darstellung bestimmen – etwa in Form von alternativen Wohnmodellen wie Alters-WGs oder Altersheimen für Künstlerinnen und Künstler; auch neue Liebschaften oder gemeinsames Kochen mit Freunden steht im Mittelpunkt des Alters. Die kinematographische Vielfalt der Lebensformen älterer Menschen konterkariert dabei altersspezifische Verhaltens- und Erscheinungsweisen, die älteren Menschen alltagsweltlich zugeschrieben werden. Diese spezifische Form des doing age/doing gender findet sich in dem Film The Expendables (US 2010) bei dem der Schauspieler Sylvester Stallone sowohl eine 8 | Vgl. West, Zimmerman: Doing Gender, S. 125-151. 9 | Vgl. Lövgren: Celebrating or Denying Age?, S. 37.

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Rolle übernahm als auch Regie führte. Die Differenzen, die das doing gender produziert, strukturieren auch grundlegend das doing age. Dies haben wir in unserer Einleitung mit der Beschreibung von Judi Dench in Skyfall in Bezug auf Weiblichkeit gezeigt. Ivo Ritzer hingegen kommt bei seiner Analyse des Zukunftsentwurfs alternder männlicher Körper in The Expendables zu dem Schluss, dass hier neue Formen des Alterns entstehen, insbesondere solche, in denen Körper produktiv und nutzbar gemacht werden.10 Mit dem Verweis auf Foucaults Konzept der BioMacht, mit der dieser die kontrollierenden Prozesse über Körper in modernen Gesellschaften beschreibt, folgert Ritzer, dass alternde Körper kaschiert werden müssen und durch »kompensatorische Körpertechniken« beeinflusst werden sollen. Alter wird »unsichtbar« gemacht und gerät aus dem Blick. »Stattdessen« (dif-) fundieren »ehemals mit Jugend konnotierte Kompetenzen wie Mobilität, Spontanität und Expressivität in spätere Lebensphasen«.11 Diese Nutzbarmachung von alternden männlichen Körpern als eine spezifische Wirkungsweise des doing age/ doing gender lässt sich in diesem Film identifizieren.

A ndere I dentitätsk ategorien Neben dem doing age und dem doing gender sind auch andere Aspekte in der filmischen Herstellung von Körperlichkeit präsent. So werden im Film auch sehr spezifische Körperlichkeiten und Identitätskategorien wie Gender, race oder class, sexuelle Orientierung, Nation, Ethnie oder Religion in Bezug zum Alter relevant. Clemens Schwender betont, dass Alter ein ›relatives‹ Merkmal ist. Ähnlich wie die Zugehörigkeit zu anderen Gruppen wie Geschlecht, Nationalität, Glaubensoder Ideologiezugehörigkeit, Ethnie, Regionalität oder der sozial-ökonomische Status ist auch Alter identitätsbildend. Dabei ist es im Vergleich zu den anderen das einzige Konstrukt, das sich in der Zeit ohne unser aktives Eingreifen unabänderlich verändert und uns immer wieder neu klassifiziert.12

Auch der Film klassifiziert. Durch Filme werden Identitätskategorien und -klassifikationen neu geordnet. Der Film verhält sich mit und zu den genannten Grup10 | Ivo Ritzer (Are they expendable? Der alternde Körper im Aktionsbild, in: ders., Marcus Stiglegger (Hg.): Global Bodies. Mediale Repräsentationen des Körpers, Berlin 2012, S. 311- 327, hier S. 319) spricht davon, dass Kino darauf abzielt, Bewegung auch in den Geist zu bringen und die Betrachtenden zu einer kinästhetischen Antwort, d.h. zu »Immersion und affektiv-somatischen Reaktionen«, auffordert. 11 | Ritzer: Are they expendable, S. 319. 12 | Clemens Schwender: Altern als Analysedimension filmwissenschaftlicher Interpretation. (K)ein Thema in der Wissenschaft?, in: Anja Hartung (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011, S. 57-72, hier S. 61.

Bilder des Begehrens – doing age/doing desire

penzugehörigkeiten, er zitiert und repräsentiert sie nicht nur, sondern er trägt sie als solche auch, als ihre eigene Erfahrung und Materialisierung, in die Welt. Allerdings finden wir in den von uns untersuchten Filmen eine sehr homogene Gruppe von Alten vor. Alle Filme, mit Ausnahme von Irina Palm, bewegen sich im bürgerlichen Milieu. Es finden sich nur weiße Europäerinnen und Europäer, die aufgrund ihrer guten Lebenssituation und Berufsbiographie das Alter genießen können. Irina Palm spiegelt zwar die britische Tradition des Arbeiterfilms wider, allerdings tut der Film dies nicht in kritischer Weise, sondern lediglich, um den Plot des sozialen Abstiegs einer älteren Frau und die Beschäftigung in und mit dem Rotlicht-Milieu zu legitimieren. Insofern betreiben die Filme, die wir untersuchen, immer auch ein doing whiteness, ein doing bourgeoisie, ein doing working-class, ein doing heterosexuality etc. Im Folgenden werden wir nicht auf all diese Konzepte eingehen können, dennoch wollen wir ein besonderes Konzept des doing hervorheben: das Potenzial des doing desire, das sich in erster Linie auf stereotype Vorstellungen von (Hetero-)Sexualität im Alter richtet. Auch wenn hier Heteronormativität als solche nicht unterlaufen wird, meinen wir dennoch einen Queer-Aspekt im doing desire der besprochenen Filme ausmachen zu können. Zumindest wird in und durch die Filme ein leiblich-somatisches Erleben möglich, das jenseits einer einfachen und normierten Sexualitätsvorstellung von Alter liegt. Allerdings muss zunächst auch ausgelotet werden, wie die Herstellung von Alter – das doing age – Unbehagen und Irritation erzeugen kann.

A geing trouble Miriam Haller spricht in diesem Zusammenhang auch von ageing trouble – in Anlehnung und Erweiterung von Judith Butlers Begriff des gender trouble –, einer Theoriefigur, die die Zuschreibung von Geschlecht als vermeintlich unhintergehbare Naturgegebenheit kritisiert: »Auch die Kategorien, die das Denken über Alte und Alter bestimmen, können das Unbehagen, die Verstörung und Beunruhigung, aber auch die Rebellion und die Unruhestiftung auslösen, die Judith Butler im Begriff des ›Gender Trouble‹ zusammenfasst.«13 Die Zuschreibung von Alter erzeugt ähnliche Unruhe wie die Zuschreibung von Geschlecht, sie setzt Alter als naturgegeben voraus und bestimmt die Verhaltensmuster älterer Menschen. In der Kategorie des Alters ist somit auch Butlers Theoriefigur der Performativität von Interesse, als Möglichkeit, Zuschreibungen zu dynamisieren und ins Gleiten zu bringen. Durch Altersspott – wie wir ihn in Texten Bertolt Brechts und Thomas Manns finden – kann eine normative Vorstellung altersgerechten Verhaltens »im Grotesken zwar zitiert, aber gleichzeitig subversiv unterlaufen« werden, wie

13 | Haller: ›Unwürdige Greisinnen‹, S. 61. Vgl. auch Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991.

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Haller zu Recht betont.14 Auch im Film werden subversive Bewegungen spürbar, die gängige Altersbilder unterlaufen und infrage stellen – allerdings weniger in Form von Altersspott, Alterslob oder Altersklage als in Form einer filmischen Bewegung, die über eine solche Wertung hinausgeht und mehr eine Möglichkeit als eine Faktizität bezeichnet. Dies kann in unterschiedlicher Weise geschehen, uns interessiert hier vor allem die filmische Bewegung des doing desire, die durch Bilder des Begehrens Potenzialitäten eines ›anderen Alters‹ herstellt. Doch was bedeutet das für das Verhältnis von Alter und Film? Wo findet sich das ageing trouble in Filmen in Bezug auf Begehren und Körperlichkeit? Wie kommt der Film zu einem doing age/doing desire jenseits der Alterstopologie, ohne jedoch in die Falle der Nutzbarmachung älterer Körper oder ihrer Verabschiedung zu treten? Im Folgenden werden wir anhand von fünf Filmen herausarbeiten, wie Altersstereotype dynamisiert werden können. Wichtig ist dabei vor allem die Frage, auf welche Art und Weise ein doing desire mit einem doing age zusammengedacht werden kann.

D oing desire : B egehren und K örperlichkeit Wir verstehen Begehren als eine Bewegung, die sich nur innerhalb von gesellschaftlichen Diskursen und Praxen bilden kann und somit auch nicht dem Individuum innewohnt oder ihm eigen wäre. Begehren lässt sich nach Elspeth Probyn eher fassen als ein Netz von Verbindungen, das den sozialen Raum gestaltet und von ihm gestaltet wird.15 Begehren als Bewegung braucht die Phantasie – das mit Begehren aufgeladene Bild – um überhaupt entstehen zu können. Durch die Phantasie, durch die es entstanden ist, wird das Begehren ein Wünschen, das auf die Zukunft verweist – auf eine Potenzialität, die erfüllt oder nicht erfüllt werden kann. Hier wird auch das Paradoxale des Begehrens deutlich, denn in seiner Erfüllung verschwindet es und existiert nicht mehr, zumindest nicht in der Form, in der es vorher bestand. Daher gibt es Begehren nur in Form seiner Nicht-Erfüllung, in Gestalt einer Potenzialität, die auf Zukünftiges verweist. Potenzialität ist damit für Begehren nicht nur grundlegend, sondern konstituierend. Das heißt, das Begehren, das wir meinen, ist nur so lange ein Begehren, solange es nicht erfüllt wird. Dieses Nicht-erfüllt-Sein macht aus dem Begehren eine Bewegung, einen dynamischen Verlauf, der nicht statisch ist, sondern einen Prozess des Werdens darstellt. Diese Form des Begehrens ist kein Zustand, es kann das Begehrte nie erreichen. Es ist somit eine Potenzialität und keine Faktizität. Darüber hinaus muss Begehren doppelt gefasst werden: erstens als Begehren, das auf der ästhetisch-diegetischen Ebene des Films evoziert wird. Als ein Be14 | Haller: ›Unwürdige Greisinnen‹, S. 61. 15 | Vgl. Elspeth Probyn: Outside Belongings, New York 1996, S. 45.

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gehren, das zwischen den Figuren entsteht, im Sinne einer Bewegung, die sich auf der Erzählebene bewegt, ein Begehren, das den bewegten Bildern innewohnt. Zweitens geht es um das Begehren, das zwischen den Zuschauenden und dem Film entsteht: jenes Begehren, das der Film in uns hervorruft, als Begehren, das wir sehen und erleben wollen, innerhalb und außerhalb des Films, mit dem Film oder nach dem Film. Eine Bewegung, die aus dem Film heraus durch uns und über den Film hinaus ein Begehren wird. Denn wenn es im Film um Begehren geht, dann wird auch die Nicht-Erfüllung unseres Begehrens zur Komplizin des Films. Nach Probyn bewegt sich Begehren in Bildern, da sie immer ein spezifisch sozio-historisches Imaginäres ins Spiel bringen.16 Imaginationen materialisieren sich nach diesem Verständnis in Bildern und werden zu visuellem Material. Dies kann als im Kinofilm anders intensiviert verstanden werden. Nach Christiane Voss werden Zuschauende im Kino zum Leihkörper des Films: Als Zuschauende im Kino leihen wir der zweidimensionalen Leinwand unseren dreidimensionalen spürenden Körper und werden so zum »konstitutive(n)Bestandteil der filmischen Architektur«.17 In diesem »somatischen Bedeutungsraum«, zu dem unser Körper für den Film geworden ist, bewegt sich das Begehren der inner- und außerdiegetischen Ebenen des Filmgeschehens; denn indem wir, wie Voss schreibt, »unsererseits als Instanz einer leihkörperlichen Verräumlichung des Films kooperieren, halten wir das, was wir dergestalt somatisch (mit-)konstituieren und zugleich erleben in dieser Form für unmittelbar wahrhaftig. In der Form der Filmerzählung also erleben wir unsere somatische Erregung im Kino«.18 Durch diesen somatischen Bedeutungsraum herbeigeführt, finden wir in den untersuchten Filmen Bewegungen, die den amtierenden Macht- und Normierungsverhältnissen, die den Kategorisierungen des Alters innewohnen, entgegenwirken. Durch das doing desire wird das doing age gestört und wir erleben ein ageing trouble – im Sinne eines Unbehagens und einer Verstörung, die die filmische Herstellung von Alter und Begehren erzeugt.

16 | Vgl. Antke Engel: Queer/Assemblage. Begehren als Durchquerung multipler Herrschaftsverhältnisse, in: Isabell Lorey, Roberto Nigro, Gerald Raunig (Hg): Inventionen I, Zürich 2011, S. 237-252. 17 | Christiane Voss: Filmerfahrung und Illusionsbildung. Der Zuschauer als Leihkörper des Kinos, in: Koch, Gertrud, dies. (Hg.): ....kraft der Illusion, München 2006, S. 71-86, hier S. 81. 18 | Ebd., S. 85.

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N ormative S e t zungen von B egehren oder die vermeintliche N atürlichkeit alternder K örper : Wolke 9 In einem Schuss-Gegenschuss-Verfahren wohnen wir dem Akt eines Paares (Ursula Werner/Horst Westphal) bei. Sie sitzt auf ihm, er liegt am Boden. »Sex im Alter, auch außerhalb der Ehe, erweist sich« laut Thomas Küpper in Wolke 9 »als kinofähig«.19 Es geht in diesem Film, wie der Regisseur Andreas Dresen sagt, um Schönheit und Wahrhaftigkeit, um natürlich gealterte Körper, die ohne künstliche Eingriffe im Film dargestellt werden, und zwar »so wie sie sind«.20 In dieser Vorgabe sieht Küpper jedoch ein Paradox, das »normative Setzungen, die das Alter betreffen« zugleich zurückweist und andere bestätigt. Anstatt ›künstlich‹ ein solches Bild abzugeben, soll die gealterte Haut mit ihren ›natürlichen‹ Falten und Flecken erscheinen. Insofern könnte der Eindruck entstehen, als dürfte sich das Alter endlich frei von fremden Vorgaben sehen lassen. Andererseits aber stellt sich die Frage, ob nicht auch in diesem Programm normative Setzungen verborgen sind, sodass dem Alter zwar einige Freiheiten zugestanden, zugleich aber andere Freiheiten vorenthalten werden. Ist nicht der ›natürlich gealterte‹ Körper eine solche Setzung? Wie lässt sich die Grenze zwischen ›Natürlichem‹ und ›Unnatürlichem‹ ziehen? Vollzieht sich das Altern nicht von vorneherein innerhalb der Kultur? Und liegt nicht in der Setzung des ›natürlichen‹ Körpers eine Herab-Setzung dessen, der so genannte ›künstliche‹ Mittel [...] in Anspruch nimmt? 21

Insofern müsste auch der Film selbst als künstliches Mittel herabgesetzt werden. Denn auch die filmische Darstellung des Alters greift auf filmästhetische und somit auf vermeintlich ›unnatürliche‹ Mittel zurück. Dresens Annahme, alte Körper im Film so darzustellen, wie sie ›wirklich‹ sind, übersieht die Tatsache, dass Körper immer inszeniert werden, auch vermeintlich natürliche, innerhalb wie außerhalb des Films. Im Film werden alte Körper immer in Szene gesetzt, unabhängig davon, ob dies eher in einem dokumentarisierenden Stil geschieht wie in Wolke 9 oder in einem ästhetisierenden Modus wie in Skyfall.

19 | Küpper: Filmreif, S. 70. 20 | Andreas Borcholte, Wolfgang Höbel: Alten-Liebesdrama in Wolke 9: »Ich hasse dieses Gestöhne«, in: Spiegel Online 2008, http://www.spiegel.de/kultur/kino/alten-liebesdrama-wolke-9-ich-hasse-dieses-gestoehne-a-575840.html [Zugriff: 11.05.2015]. 21 | Küpper: Filmreif, S. 69f.

Bilder des Begehrens – doing age/doing desire

V erkörperung von I magination : ageist S tereot ypen Sharon-Dale Stone beschreibt die Verkörperung von Imagination, insbesondere von ageist Stereotypen, als einen wichtigen Aspekt von Alter in Relation zu Behinderung.22 Je mehr wir davon ausgehen und uns vorstellen, dass wir im Alter weniger mobil, kränker, vergesslicher etc. sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir es werden. Stone fragt in diesem Zusammenhang: »How much of our bodily experience is materialized as a result of our imaginations?«23 Für Stone sind es in erster Linie unsere Vorstellungen davon, wie wir altern, die sich verkörpern. Mit Stone gehen wir davon aus, dass die Erfahrungen, die wir machen – Film ist eine der umfassendsten Erfahrungen –, sich visuell, auditiv und kinästhetisch durch uns verkörpern und in uns materialisieren. Allerdings materialisieren sie sich in unserem Verständnis nicht nur temporär, wie Voss dies für den Leihkörper des Kinos formuliert, sondern dauerhaft. Doing age/gender/desire passiert insofern anhand filmischer Strategien, die sich in unserer Erfahrung materialisieren. Unsere Imagination wird durch bewegte Bilder und Ton stimuliert – ihre Materialisierung schlägt sich als Verkörperung in uns nieder – und erschafft uns immer wieder aufs Neue – als Alte aber auch als Junge, als Männer aber auch als Frauen, als schwarz aber auch als weiß, als homo- aber auch als heterosexuell. So könnte man auch über weitere normative Setzungen in diesem Film nachdenken. Auch die Inszenierung der Sexualität älterer Menschen geschieht hier (hetero-)normativ. Der Sexualakt in Wolke 9 kann nur im (misslungenen) heterosexuellen Koitus oder in der weiblichen Selbstbefriedigung, die hier nur als Ersatzhandlung und nicht als lustvolles Agieren inszeniert wird, enden. Alternativen zum heterosexuellen Verkehr bietet der Film nicht. Daran ändert auch die authentizitätsnahe Kameraführung und Lichtsetzung von Wolke 9 nichts. Zwar zeigt der Film alte Körper, übersät von Altersflecken und Falten, in gleißend hellen Bildern; doch tut er dies in einer fast herkömmlichen filmischen Darstellungsweise mit den für dieses Sujet üblichen Einstellungsfolgen: Bestimmte Körperteile werden ins Zentrum gerückt, andere in Großaufnahme gezeigt, typische Geräusche sind zu hören. Auch Dresens Film unterscheidet sich nicht wesentlich von anderen filmischen Sexszenen – mit dem Unterschied allerdings, dass es sich hier nicht um junge, sondern um alternde Körper handelt. Jedoch verlangt die filmische Inszenierung, die hier beschrieben ist, nach einem Vergleich mit jungen Körpern und kann ihren eigenen Anspruch, eine neue kinematographische Ästhetik zu entfalten, nicht erfüllen. Denn es werden keine neuen oder anderen filmischen Strategien für alternde Körper präsentiert, wie es in der Besprechung des Films oft nachzulesen ist, sondern die alten Körper finden sich in der gleichen 22 | Vgl. Sharon-Dale Stone: Age-Related Disability – Believing is Seeing is Experiencing, in: Ulla Kriebernegg, Roberta Maierhofer (Hg.): The Ages of Life. Living and Aging in Conflict?, Bielefeld 2013, S. 57-70. 23 | Stone: Age-Related Disability, S. 68.

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Stellung, im gleichen Setting und in der gleichen Inszenierung wieder, in der auch junge Körper beim Sex gezeigt werden. Die Faktizität des Gezeigten unterläuft dabei die Absicht, Alter und Begehren zusammen zu denken, indem die Inszenierung sich auf stereotype Darstellungen von Alter und Sexualität verlässt. Im Sinne eines Changierens zwischen Altersutopie und Altersdystopie finden wir hier etwas, das weder mit Alterslob noch mit Altersspott oder Altersklage zu übersetzen ist, sondern eine Leerstelle lässt. Sexualität im Alter filmisch zu denken, scheint in Dresens Film nicht gelungen. Die fehlende Identifikation älterer Menschen mit Dresens Film untermauert unsere These.24

F ilmische B ilder für die P otenzialität von B egehren im A lter Es gibt durchaus filmische Strategien, die Begehren im Alter als Möglichkeit und Zukunft entwerfen und damit auch Verkörperungsmodi von Begehren zeigen, wie im Folgenden exemplifiziert wird.

I. Bilder des Entzugs: Die Potenzialität von Begehren in Vergiss mein nicht Vergiss mein nicht erzählt die Geschichte der an Alzheimer erkrankten Gretel und ihres Mannes Malte, der sie im gemeinsamen Haus pflegt. Die Szene, auf die es uns hier ankommt, zeigt das ältere Ehepaar gemeinsam im Bett. In einer halbnahen Einstellung und leicht von oben gefilmt legt Malte die Hand auf Gretel und streichelt sie. Als die Kamera die beiden von der Seite in den Blick nimmt und etwas näher kommt, wird spürbar, dass sich Begehren zwischen den beiden andeutet. Es könnte etwas anderes bzw. mehr geschehen, als der Film zeigt. Doch der Film hält inne und führt uns diese Möglichkeit nicht vor. Die Szene stellt vielmehr etwas her, das uns das Gefühl gibt, bei etwas dabei zu sein, was nicht für unsere Augen bestimmt ist. Es geht um mehr als um Intimität: Es geht um das Erinnern und Vergessen von Begehren und zugleich um die Möglichkeit von zukünftigem Begehren. Zwar aktualisiert sich die Möglichkeit nicht, doch könnte sie dies jederzeit tun. Jenseits von Alterslob, Altersspott oder Altersklage finden wir hier ein doing age/desire, das durch die filmische Bewegung einen Entwurf von Begehren im Alter zeigt, sich aber zugleich entzieht. Das Begehren als Bewegung bleibt jedoch präsent und verkörpert sich in uns. Wichtig ist nicht die Frage, ob es eine authentische filmische Darstellung von Begehren im Alter gibt oder nicht, sondern die, wie der Film Alter als Möglichkeit 24 | Vgl. Anja Hartung: ›Not really a spectator sport‹. Liebende Alte im zeitgenössischen Film in der Wahrnehmung eines älteren Publikums, in: dies. (Hg.): Lieben und Altern, S. 203-228.

Bilder des Begehrens – doing age/doing desire

entwirft und dabei eine Verschaltung von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart performativ – im Sinne eines doing age/doing desire – herstellt. Denn das Entwerfen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist im Film nicht zu trennen. Alle drei Zeitebenen sind ineinander verschränkt. Das Performative als Konzept hilft uns hier, Zeitlichkeit anders zu denken, nämlich nicht linear, sondern simultan.

II. Bilder der Imagination: Die Potenzialität von Begehren in Amour Die Komplexion von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft findet sich auch in Amour, einem Film von Michael Haneke, der vom zunehmenden Verfall einer älteren Frau (Emmanuelle Riva) und der Pflege durch ihren Mann (Jean-Louis Trintignant) erzählt. Begehren scheint hier – in der Konstellation von Alter, Krankheit und Sterben – nicht mehr möglich. Das Gespräch, in dem die Tochter (Isabelle Huppert) ihrem Vater erzählt, wie beruhigend es für sie als Kind war, den Eltern beim Sex zuzuhören, wird abgelöst von einem harten Schnitt auf das Krankenbett der Mutter. Körperlichkeit findet hier nicht mehr in Form von Begehren, sondern in Form von Fürsorge statt, etwa wenn der Mann seiner kranken Frau die Hand streichelt, ihren Körper wäscht oder ihr beim Toilettengang hilft. Wo ist das Begehren jetzt? Ist es nicht mehr existent oder nicht mehr relevant? Ist es in die Erinnerung verschoben? Oder findet es sich in der imaginären Szene am Schluss des Films, als das ältere Ehepaar aus der Tür geht und den mit Blumen geschmückten Leichnam in der Wohnung zurücklässt? Wo gehen sie hin? In ein neues, zukünftiges Leben, in dem es wieder ein gemeinsames und selbstbestimmtes Leben gibt, ohne Krankheit und Verfall? In ein Leben, in dem Begehren wieder möglich ist? Gehen die beiden in eine Zukunft, die auf die Vergangenheit verweist, auf ihre Vergangenheit als Paar, in dem es Begehren gab und Begehren gelebt wurde? Vielleicht verweisen diese imaginären Bilder aber auch in eine neue Vergangenheit, in der die beiden Begehren anders und neu leben werden. Dies allerdings zeigt der Film nicht, er stellt diese Bilder vielmehr als Möglichkeit dar bzw. her, in einem imaginären Raum, der sich der linearen Zeitlichkeit und dem realen Status der Bilder entzieht. Etwas ganz Ähnliches passiert auch in dem Film Und wenn wir alle zusammenziehen?, in dem Begehren ebenfalls im Modus des Erinnerns hergestellt wird, allerdings nicht in Gestalt imaginärer, sondern realer Bilder.

III. Bilder der Erinnerung: Die Potenzialität von Begehren in Und wenn wir alle zusammenziehen? In diesem Film geht es um fünf ältere Menschen, die in einer Wohngemeinschaft zusammenleben. Eine der beiden Frauen, Jeanne (Jane Fonda), spricht über ihre sexuellen Erlebnisse aus der Vergangenheit und über ihre Phantasien und Wünsche für die Zukunft. Sie erzählt Dirk (Daniel Brühl), einem Promovierenden der

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Anthropologie, der den älteren Menschen bei täglichen Erledigungen hilft und sie im Rahmen seiner Forschungsarbeit beobachtet, von ihren Erfahrungen mit Selbstbefriedigung. Auch wenn dies dem jungen Mann sichtlich peinlich ist, fordert sie ihn auf, sie zu ihrem Sexleben zu interviewen. Er fragt, an wen sie denkt, wenn sie masturbiert, an bekannte oder unbekannte Männer. Bei älteren Männern, so Jeanne, denkt sie an Bekannte, bei jüngeren Männern an Unbekannte. Vor allem aber denkt sie an ihren Liebhaber Claude (Claude Rich), mit dem sie vor über 40 Jahren ein Verhältnis hatte. Begehren deutet sich hier mehrfach an, aktualisiert sich aber nicht, zumindest nicht bei Jeanne. So gibt es zwar mehrere kurze Sexszenen, etwa die zwischen Annie (Geraldine Chaplin) und ihrem Mann Jean (Guy Bedos) auf dem Sofa, die in einer Totalen gefilmt ist und in der die Figuren beim Akt nur schemenhaft von hinten zu sehen sind. Überwiegend aber findet das Begehren retrospektiv in der Erinnerung oder als Zukunftsvision und somit nicht visualisiert statt. In einer längeren Szene zwischen Jeanne und ihrem ehemaligen Liebhaber Claude deutet sich dieses Begehren an. Die beiden sitzen sich im Wohnzimmer auf dem Sofa gegenüber, während Jeannes Mann Albert (Pierre Richard) neben ihnen schläft. Claude fotografiert Jeanne, während sie eindeutige Posen für ihn einnimmt. Schließlich flüstert sie ihm zu: »Ich träume von dir«, und er antwortet: »Und ich von dir.« (TC: 00:45:38-00:45:46) Sie streckt ihm die Zunge heraus, es folgt ein Schnitt in den Garten. In diesen Bildern der Erinnerung erleben wir, wie Begehren zwischen Jeanne und Claude gewesen ist, oder besser: vor 40 Jahren gewesen sein könnte, und spüren, was zwischen ihnen passieren könnte, in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Die Potenzialität, die sich hier materialisiert, wird auch für Annie spürbar, die das Gespräch zufällig hört, sich aber sofort zurückzieht, als sie das Geschehen bemerkt. Dies ist umso interessanter, wenn man bedenkt, dass nicht nur Jeanne, sondern auch Annie ein Verhältnis mit Claude hatte, ebenfalls vor 40 Jahren. Sie traf sich mit ihm im selben Hotel wie Jeanne, allerdings nicht montags, sondern donnerstags. In dieser Szene finden wir nicht nur Bilder der Erinnerung, sondern auch wie in Vergiss mein nicht Bilder des Entzugs, die in die Vergangenheit verweisen. D.h. das Begehren, das sich hier auf baut, wird nicht entladen, es bleibt in seiner Bewegung im Film vorhanden und trägt uns durch das Filmgeschehen hindurch. Jeanne, die von Jane Fonda dargestellt wird, wird uns durch ihren Tod entzogen, wodurch das Begehren bis zum Ende des Films aufrechterhalten wird. Nach ihrer Beerdigung, in der letzten Einstellung des Films, helfen alle gemeinsam dem verwirrten Albert bei der Suche nach Jeanne und rufen nach ihr im Park, während der Abspann über die Bilder läuft. In gewisser Weise suchen auch die Zuschauenden in dieser Einstellung Jeanne bzw. ihr Begehren, über den Film hinaus. Jeanne hat bis zuletzt begehrt und wird – so zeigen es uns die Bilder – begehrt. Der letzte Bildtypus, den wir Bilder der Unvollständigkeit nennen möchten, zeigt in ganz ähnlicher Weise Begehren, allerdings in einer Art und Weise, die – überwiegend – unerfüllbar bleibt.

Bilder des Begehrens – doing age/doing desire

IV. Bilder der Unvollständigkeit: Die Potenzialität von Begehren in Irina Palm Irina Palm erzählt von Maggie (Marianne Faithful), die auf der Suche nach einem Job ist, um eine lebensrettende Operation für ihren Enkel (Corey Burke) zu finanzieren. Maggie findet, da die Zeit drängt, einen unverhältnismäßig gut bezahlten Job in einem Sexclub. Hier avanciert sie zur »besten Hand« der Stadt. In einer Kabine sitzend befriedigt sie Männer durch ein Loch in der Wand. Hier schließt sich in gewissem Sinn der Kreis zu Skyfall. Auch in Irina Palm geht es um eine Frau, um Marianne Faithfull, die als altersschöne Frau inszeniert wird und die Macht über (jüngere) Männer hat. Maggie bewegt sich in diesem Sinne ebenso selbstbewusst wie M in Skyfall in der ungewohnten Umgebung und findet sich auf einer Ebene mit Miki (Predrag Manojlovic), ihrem Zuhälter. Zugleich definiert sie sich aber auch stark über ihre Rolle als Großmutter. Unterlaufen wird hier das Stereotyp junger Frauen, die Männer sexuelle Lust bereiten. Was hier zu sehen – oder besser zu hören – ist, ist nicht das weibliche, sondern das männliche Begehren. Männer begehren, so zeigt es uns der Film, von einer Frau befriedigt zu werden. Interessanterweise ist diese Frau aber weitaus älter, als es die Männer hinter der Wand vermuten würden. Wir haben es hier mit einer Großmutter zu tun, die von jüngeren Männern begehrt wird. Irina Palm unterläuft somit gängige Altersvorstellungen von begehrenswerten weiblichen ›Objekten‹ durch Bilder der Unvollständigkeit. Unvollständig sind diese Begehrensbilder vor allem deshalb, weil sie nur eine Seite des Begehrens, nämlich das männliche Begehren zeigen – bzw. das Begehren der Freundinnen, denen Maggie beim Tee von ihrer Tätigkeit erzählt. Deren Begehren deutet sich hier an. Was aber ist mit Maggie? Was empfindet sie, wenn sie Männern Lust bereitet? Wo ist ihr Begehren? Insofern stellen diese Bilder auch Bilder des Entzugs dar, wobei auch Maggie Begehren verspürt. Allerdings wird auch dieses Begehren lediglich potenziell, nicht aber als Faktizität gezeigt. Sie verliebt sich in ihren Zuhälter Miki und er sich in sie. Außerhalb der sexuell aufgeladenen Umgebung des Etablissements gestehen die beiden sich ihr Begehren ein: Sie mag sein Lächeln und er ihren Gang. Allerdings entlädt sich auch hier das Begehren nicht, es wird nicht aktualisiert. Das Begehren, das sich zwischen den beiden entfaltet, trägt sich aus der Atmosphäre des Sexclubs heraus und wieder hinein, ohne sichtbar zu werden. Als die beiden sich am Ende des Films schließlich auf der Straße küssen, geht das Bild in eine Schwarzblende über, ins Außen jenseits der Geschichte und des Schnitts. In welche Zukunft die beiden gehen, auf welche Weise das Begehren ausgelebt wird, sehen wir nicht. Die Bilder sind unvollständig, deuten das Begehren an und münden ins Schwarzbild des Abspanns. In den beschriebenen Filmen werden keine Tatsächlichkeiten gezeigt, sondern Möglichkeiten – Potenzialitäten dessen, was passieren könnte, was aber nicht passiert, was wir wissen könnten, was wir aber nicht wissen. Filmisches Begehren im Alter dar- und herzustellen bedeutet hier, Bilder zu zeigen, die sich entziehen, die

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imaginär sind, die in der Erinnerung existieren oder die fehlen. In der filmischen Darstellung von Begehren im Alter, im Sinne eines subversiven doing age/desire, das ageing trouble erzeugt, ist immer das Potenzielle, das Mögliche zu finden und nicht das Tatsächliche. Jenseits von stereotypen Darstellungen von Sexualität im Alter lässt sich ein filmisches Begehren ausmachen, das sich filmästhetisch wie narrativ in Bildern des Entzugs, der Imagination, der Erinnerung und der Unvollständigkeit äußert. Doing age/doing gender/doing desire ist in den besprochenen Filmen verschränkt und kann nicht stereotypisiert bzw. mit den gängigen Mitteln filmischer Sexszenen dargestellt werden, wie in Wolke 9, sondern bringt vielmehr Potenzialitäten und Verkörperungen hervor, die uns Begehren als Bewegung und Prozess des Werdens erfassen lassen. Nur in der Bewegung, so unser Schluss, ist Begehren im Alter filmisch erfahrbar, für die Figuren wie für die Zuschauenden.

Q uellenverzeichnis Filme Amour (dt. Liebe, F/D/A 2012, Regie: Michael Haneke). Et si on vivait tous ensemble? (dt. Und wenn wir alle zusammenziehen?, F/D 2011, Regie: Stéphane Robelin). Irina Palm (B/D/LUX/GB/F 2007, Regie: Sam Garbarski). Skyfall (dt. James Bond 007 – Skyfall, GB/US 2012, Regie: Sam Mendes). The Expendables (US 2010, Regie: Sylvester Stallone). Vergiss mein nicht (D 2012, Regie: David Sieveking). Wolke 9 (D 2008, Regie: Andreas Dresen).

Sekundärtexte Borcholte, Andreas; Höbel, Wolfgang: Alten-Liebesdrama in Wolke 9: »Ich hasse dieses Gestöhne«, in: Spiegel Online 2008, http://www.spiegel.de/kultur/ kino/alten-liebesdrama-wolke-9-ich-hasse-dieses-gestoehne-a-575840.html [Zugriff: 11.05.2015]. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991. Engel, Antke: Queer/Assemblage. Begehren als Durchquerung multipler Herrschaftsverhältnisse, in: Isabell Lorey, Roberto Nigro, Gerald Raunig (Hg): Inventionen I, Zürich 2011, S. 237-252. Haller, Miriam: ›Unwürdige Greisinnen‹. ›Ageing trouble‹ im literarischen Text, in: Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 45-63. Hartung, Anja (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München, 2011.

Bilder des Begehrens – doing age/doing desire

Hartung, Anja: ›Not really a spectator sport‹. Liebende Alte im zeitgenössischen Film in der Wahrnehmung eines älteren Publikums, in: dies. (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München, 2011, S. 203-228. Küpper, Thomas: Filmreif. Das Alter in Kino und Fernsehen, Berlin 2010. Lövgren, Karin: Celebrating or Denying Age? On Cultural Studies as an Analytical Approach in Gerontology, in: Ulla Kriebernegg, Roberta Maierhofer (Hg.): The Ages of Life. Living and Aging in Conflict?, Bielefeld 2013, S. 37-56. Probyn, Elspeth: Outside Belongings, New York 1996. Ritzer, Ivo: Are they expendable? Der alternde Körper im Aktionsbild, in: ders., Marcus Stiglegger (Hg.): Global Bodies. Mediale Repräsentationen des Körpers, Berlin 2012, S. 311- 327. Schwender, Clemens: Altern als Analysedimension filmwissenschaftlicher Interpretation. (K)ein Thema in der Wissenschaft?, in: Anja Hartung (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011, S. 57-72. Sontag, Susan: The Double Standard of Aging, in: Lawrence R. Allman, Dennis T. Jaffe (Hg.): Readings in Adult Psychology, New York 1977, S. 285-294. Stone, Sharon-Dale: Age-Related Disability – Believing is Seeing is Experiencing, in: Ulla Kriebernegg, Roberta Maierhofer (Hg.): The Ages of Life. Living and Aging in Conflict?, Bielefeld 2013, S. 57-70. Tolman, D. L.: Doing desire: Adolescent girls’ struggles for/ with sexuality, in: Gender & Society 8 (1994) H. 3, S. 324-342. Voss, Christiane: Filmerfahrung und Illusionsbildung. Der Zuschauer als Leihkörper des Kinos, in: Gertrud Koch, dies. (Hg.): ... kraft der Illusion, München 2006, S. 71-86. West, Candace; Zimmerman, Don: Doing Gender, in: Gender & Society 1 (1987) H. 2, S. 125-151.

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Demenz im Film

Demenz im Spielfilm Andreas Kleinerts Mein Vater, Richard Glatzers Still Alice, Til Schweigers Honig im Kopf und Nikolaus Leytners Die Auslöschung Henriette Herwig

Filme sind die »Tagträume der Gesellschaft«.1 Wie der Film in den Golden Twenties in Ladenmädchen und Stenotypistinnen den Traum vom sozialen Aufstieg, ja vom glanzvollen Leben einer Film-Diva weckte,2 so suggeriert er heute Menschen im dritten, manchmal sogar noch im vierten Lebensalter den Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung auch im Alter. Filmkomödien zeigen uns lebenslustige Alte, die Reisen in fremde Länder unternehmen, Hotels und Pensionen3 bevölkern, Sport treiben, Partys feiern, Freundschaften und Hobbys pflegen, in Niedrig-Lohn-Länder auswandern,4 Alterswohngemeinschaften gründen, sich verlieben und aufregenden Sex genießen bis zum Tod. Was die so konstruierten Filmgeschichten uns vorführen, sind Altersidyllen und Altersutopien, in die Krankheit und Tod allenfalls plötzlich einbrechen wie in 1 | Vgl. Siegfried Kracauer: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino, in: ders.: Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1977, S. 279-294, hier S. 280; Hervorhebung im Original. Dazu auch Clemens Schwender: Alter(n) als Analysedimension filmwissenschaftlicher Interpretation. (K)ein Thema in der Wissenschaft?, in: Anja Hartung (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011, S. 57-71, hier S. 58. 2 | Eine literarische Auseinandersetzung mit diesen Identifikationsmustern leistet 1932 schon Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen (8 Berlin 2007). 3 | In Dustin Hoffmans Quartett (GB 2012) ist das Beecham House das letzte Domizil für erfolgsverwöhnte Profimusiker, die auch im Alter noch gern singen und musizieren. 4 | Der Seniorenexport verschiebt sich »allmählich vom Touristischen ins Pflegerische«. Cosima Lutz: Entsorgen wir unsere Senioren doch in Indien. Best Exotic Marigold Hotel, in: Welt, 15. März 2012, http://www.welt.de/kultur/kino/article13921751/Entsorgen-wirunsere-Senioren-doch-in-Indien.html [Zugriff: 30.09.2015].

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John Maddens Best Magic Marigold Hotel (GB/IND 2011) oder gefasst aufgenommen werden wie in Stéphane Robelins Et si on vivait tous ensemble? (dt. Und wenn wir alle zusamenziehen?, F/D 2011), aber keine schwerwiegenden Schatten auf das Leben im Alter werfen und die Fülle der Entfaltungsmöglichkeiten auch nicht einschränken. In ihnen bietet selbst demenziell verändertes Sprechen und Handeln noch Stoff für komische Effekte – so wenn in Robelins Film der Wunsch des dementen Albert (Pierre Richard), beim Essen die »Nachrichten« (TC 00:44:33) zu sehen, von den Mitbewohnern mit der stillschweigenden Übereinkunft beantwortet wird, eine Fernseh-Sendung über französischen Camembert zu behandeln, als ob es die Nachrichten wären. Altersfilmen wie diesen gelingt es, stereotype Vorstellungen vom Alter aufzubrechen, Normen altersgerechten Verhaltens umzustoßen und Möglichkeiten alternativen Handelns aufzuzeigen. Sie differenzieren unser Bild vom Alter, schulen den Möglichkeitssinn und sind insofern sehr zu begrüßen. Allerdings suggerieren sie einer konsumverliebten Spaßgesellschaft auch: Keine Sorge, der Spaß bleibt erhalten bis zum Tod! Diese Botschaft mag für die heterogene Gruppe der jungen Alten – denen die Anti-Aging-Industry allerdings neue Zwänge auferlegt – noch ihre Berechtigung haben, an der Lebensrealität von Menschen in der Hochalterungsphase, von einsamen Schwerstpflegebedürftigen, mehrfach Behinderten, Moribunden sowie isolierten alten Paaren im Pflegenotstand zielt sie vorbei. Wer je einen sich über Jahre hinziehenden Sterbeprozess begleitet hat, weiß: Irgendwann hört die Freude am vitalen Altern auf, ist dem langsamen Verfall der körperlichen und/oder geistigen Kräfte mit jubelnder Zustimmung zu lebenslangem inneren Wachstum, Sinnenfreude und Veränderung nicht mehr zu begegnen. Dann sind andere Qualitäten gefragt: Humor, Empathie, die Fähigkeit, eine Qual, die nicht zu lindern ist, zu begleiten und auszuhalten, ohne dabei den eigenen Lebensmut zu verlieren, Nähe zum Leidenden aufrechtzuerhalten, statt ihm auszuweichen, auch ein eingeschränktes Leben noch als lebenswert wahrzunehmen, vielleicht Glaubensgewissheit. Ein Film wie Michael Hanekes Amour (dt. Liebe, F/D/A 2012) kommt der Realität dieser letzten Lebensphase näher, da er die Überforderung eines auf sich allein gestellten alten Mannes (Jean-Louis Trintignant) mit der Pflegebedürftigkeit seiner gelähmten Frau (Emmanuelle Riva) bis zur Konsequenz der Tötung auf Verlangen treibt. Die Tochter (Isabelle Huppert), die die Entscheidung des Vaters für häusliche Pflege kritisiert, ohne Hilfe anzubieten oder Alternativen aufzuzeigen, steht hier für das Versagen der mit Doppelberufstätigkeit, Mobilitäts- und Eheproblemen beschäftigten mittleren Generation. In Tamara Jenkins’ Tragikomödie The Savages (dt. Die Geschwister Savage, US 2007) geht es den Geschwistern Jon und Wendy Savage von Anfang an nur darum, frei zu bleiben für ihr eigenes Leben. Der Film fokussiert auf die Veränderung der Beziehung zwischen den Geschwistern bei der gemeinsamen Suche nach einem geeigneten Heimplatz für den an Alzheimer

Demenz im Spielfilm

erkrankten Vater; Wendy beruhigt nur ihr schlechtes Gewissen, indem sie für den besseren plädiert.5

S chwierigkeiten filmischer A l zheimer -N arr ationen Die »Bewältigung des demographischen Wandels« ist »eine der größten kulturellen Herausforderungen unserer Gesellschaft«.6 Sie hat auch in der Filmbranche dazu geführt, dass viel mehr alte Figuren in den Mittelpunkt gestellt, Chancen und Risiken des Alterns thematisiert werden. Eine besonders bedrohliche Form der Einschränkung der Lebensqualität im Alter ist die Demenz. In zwei Dritteln der Fälle wird sie durch die Alzheimer-Krankheit verursacht. Alzheimer ist nach wie vor unheilbar und führt nach sieben bis zwölf Jahren unweigerlich zum Tod. Aufgrund der demographischen Entwicklung steigt die Zahl der Erkrankten weltweit ständig an. Es überrascht daher nicht, dass diese neurodegenerative Erkrankung des Gehirns seit etwa drei Jahrzehnten auch von der Literatur thematisiert wird und inzwischen auch das Medium Film erreicht hat. Alzheimer ist in den westlichen Kulturen geradezu zur Metapher für Alter und Tod7 geworden und hat in der medialen Aufmerksamkeit inzwischen Krebs und AIDS abgelöst. Altern vollzieht sich differenziell und individuell, aber die gesellschaftliche Wahrnehmung ist geprägt von Stereotypen. Aus sozialpsychologischer Sicht sind Stereotype »Zuweisungen von Merkmalen, Eigenschaften und Verhaltenserwartungen an Individuen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe«, also »Fremdbeschreibungen«, die im Fall der Verinnerlichung zu »Selbstbeschreibungen werden können«.8 Filmbilder haben mit Stereotypen gemeinsam, dass sie »schnell und effektiv Informationen über Personen vermitteln, Vorstellungen und Erwartungen aktivieren, bei einem alten Menschen z.B. die Unterstellung körperlicher Schwäche oder altmodischer Ansichten.9 Alzheimer-Filme haben es schon deshalb schwerer als Filmkomödien über das Alter, weil sie meistens Leidensfilme sind, die die Zuschauenden mit der existentiellen Problematik eines Menschen konfrontieren und damit wie andere Filme über Unfallfolgen, Verluste oder schwere Krankheiten an das Mitgefühl appellieren. Wie bei Filmen über psy5 | Vgl. Sally Chivers: The Silvering Screen. Old Age and Disability in Cinema, Toronto/ Buffalo/London 2011, S. 71f. 6 | Thomas Klie: Altersdemenz als Herausforderung für die Gesellschaft, in: Nationaler Ethikrat (Hg.): Altersdemenz und Morbus Alzheimer: medizinische, gesellschaftliche und ethische Herausforderungen, Berlin 2006, S. 65-81, hier S. 80. 7 | Vgl. Pamela H. Gravagne: The Becoming of Age. Cinematic Visions of Mind, Body and Identity in Later Life, Jefferson, NC/London 2013, S. 131. 8 | Schwender: Alter(n) als Analysedimension filmwissenschaftlicher Interpretation, S. 57f. 9 | Vgl. ebd., S. 58.

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chische Erkrankungen besteht allerdings auch hier die Gefahr, dass die Krankheit »vereinfacht, verfremdet, romantisiert, verdammt und stets für ästhetische Zwecke instrumentalisiert« wird.10 Alzheimer-Narrationen zeigen Kranke in ihrem Lebensumfeld und erlauben aufgrund des Wegfalls von deren Selbstkontrolle ein schonungsloses Durchleuchten von »Beziehungsstrukturen, Lebensmustern und Lebensverläufen«,11 die auch für die Rollenmuster einer alternden Gesellschaft stehen.12 Hans J. Wulff unterscheidet fünf die Themenwahl prägende »Funktionsaspekte des Alzheimer-Syndroms in der Filmdramaturgie«: »Zusammenbruch des Alltags«, »Regression und Egoismus«, »Verlust der Erinnerung, Reduktion auf Basis-Erinnerungen«, »Subjekt-Auflösung« und Alterität, also von Alzheimer-Patienten ausgehende Fremdheit und »Bedrohung«.13 An Alzheimer oder einer anderen Form der Demenz Leidende haben Angst, ihre Autonomie und die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren, fürchten, anderen zur Last zu fallen und in die soziale Bedeutungslosigkeit abzusinken, obwohl es in den Frühphasen der Krankheit noch viele Ausdrucks- und Entfaltungsmöglichkeiten gibt – was alle Betroffenen, die sich selbst zu Wort melden, und neuere Beiträge zur Demenz-Forschung einhellig betonen.14 Der Verlust der kognitiven Fähigkeiten, beruflichen Aufgaben und sozialen Rollen ist häufig mit Gefühlen der Scham verbunden. Wenn literarische und filmische Alzheimer-Narrationen nicht nur die Frühphasen, sondern auch die Spätphasen der Krankheit berücksichtigen, konfrontieren sie den im Machbarkeitswahn lebenden modernen Menschen mit der Endlichkeit des Lebens. Angesichts des letztlich unaufhaltsam fortschreitenden Verfalls des Erkrankten können sie nur in gewissen Grenzen eine Erfolgsgeschichte erzählen, beispielsweise eine 10 | Markus Fellner: Psycho-Movie. Zur Konstruktion psychischer Störung im Spielfilm, Bielefeld 2006, S. 19; vgl. auch Miriam Seidler: »Wieso haben Sie Schatz zu mir gesagt?« Liebe und Demenz im Film, in: Anja Hartung (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011, S. 93-112, hier S. 94. 11 | Martina Kumlehn: Vom Vergessen erzählen. Demenz und Narrative Identität als Herausforderung für Seelsorge und theologische Reflexion, in: dies., Thomas Klie (Hg.): Aging – Anti-Aging – Pro-Aging, Stuttgart 2009, S. 201-212, hier S. 207. 12 | Vgl. Seidler: »Wieso haben Sie Schatz zu mir gesagt?«, S. 95. 13 | Hans J. Wulff: Vom Vergessen, vom Verlust, vom Terror: Gerontopsychiatrische Themen im Spielfilm. Am Beispiel der Alzheimer-Demenz, in: Kurt W. Schmidt u.a. (Hg.): Schwierige Entscheidungen. Krankheit, Medizin und Ethik im Film, Frankfurt a.M. 2008, S. 229-259, hier S. 229. 14 | Vgl. u.a.: Thomas de Baggio: Losing My Mind. An Intimate Look at Life with Alzheimer’s, New York 2002; Richard Taylor: Alzheimer und ich. »Leben mit Dr. Alzheimer im Kopf«, übers. v. Elisabeth Brock, Bern 2008; Demenz Support Stuttgart (Hg.): »Ich spreche für mich selbst«, Frankfurt a.M. 22013. Dazu auch Tom Kitwood: Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen, übers. v. Michael Hermann, Bern 6 2013; Andreas Kruse (Hg.): Lebensqualität bei Demenz? Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010.

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konstruktive Form des Umgangs mit der Krankheit durch Fokussierung auf erfüllte Augenblicke15 oder eine Geschichte der Familienzusammenführung durch sie, obwohl das Gegenteil, der Zerfall der Familie aufgrund massiver Belastungen und finanzieller Engpässe bei Durchschnittsbürgern, die sich keine externen Hilfen leisten können, wahrscheinlicher ist. Ob der Film ein Märchen erzählt, das mit der Realität der Alzheimer-Krankheit und ihrer Folgen für Betroffene, Angehörige und Pflegende wenig gemein hat, ein realistisches Bild des Krankheitsverlaufs vermittelt oder ihn spirituell überhöht, hängt von den filmästhetischen Mitteln ab, die er einsetzt. »Das Sujet lässt sich als dramatischer Vorwand missbrauchen für ein tragisches Schauspiel zwischen Abgrund und Rührseligkeit«,16 aber auch nüchtern realistisch behandeln wie in Deborah Hoffmanns Dokumentarfilm Complaints of a Dutiful Daughter (US 1994) und Elisabeth Arledges The Forgetting. A Portrait of Alzheimer’s (US 2003) oder mit reflektierender Distanz wie in David Sievekings Dokumentarfilm Vergiss mein nicht (D 2012). Wenn das filmkritische Urteil aus dem berechtigten politischen Anliegen, keiner Form der Altersdiskriminierung Raum zu geben, dann aber nur solche Alzheimer-Filme gelten lässt, die Wachstum und positive Erlebnisse im Hier und Jetzt zeigen – wie Fionas neue Beziehung zum Mitpatienten Aubrey in Sarah Polleys Away from Her (dt. An deiner Seite, CDN 2006) –, klammert es implizit alle Filme, die sich mit den Spätphasen der Krankheit auch der Vergänglichkeit des Lebens stellen, als minderwertig oder politisch inkorrekt aus.17 Dabei sind die Treue des Mannes zu einer Frau, die aus der Beziehung ausgeschieden ist, und das sentimentalisiert inszenierte Wiedererkennen der Gatten trotz Fionas fortgeschrittener Demenz am Ende von Away from Her doch so nah am bittersüßen Kitsch wie der gemeinsame Liebestod des Paares in Nick Cassavetes’ The Notebook (dt. Wie ein einziger Tag, US 2004), der darüber hinwegtäuscht, dass die Kranke die Deutungshoheit über die Beziehung zu ihrem Mann mit ihrem Notizbuch hier bis zum Ende behauptet. Beide Filme zelebrieren einen »sentimentalischen Heroismus der Liebe […] Nostalgie, Rührung, das Hohelied der Beziehung in der Erinnerung an sie«18 und entschärfen damit die Tragik der Alzheimer-Krankheit. Auch wenn Pamela Gravagne eine filmgeschicht15 | Der neue Fernsehfilm von Gernot Krää Mein vergessenes Leben (D 2015) mit Robert Atzorn in der Rolle des Demenzkranken Alexander zeigt die Glücksgefühle, die mit dem Leben im Jetzt verbunden sind. 16 | Axel Karenberg; Hans Förstl: Die Lichter gehen aus. Alzheimer-Demenz (ICD-10:F00), in: Stephan Doering, Heidi Möller (Hg.): Frankenstein und Belle de Jour. 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen, Heidelberg 2008, S. 3-14, hier S. 14. 17 | Filme wie Arledges The Forgetting, der eine Alzheimer-Patientin nahezu komatös im Bett liegend zeigt, und Richard Eyres Iris (GB/US 2001), der den krankheitsbedingten Persönlichkeitszerfall der anglo-irischen Schriftstellerin Iris Murdoch aus der Sicht ihres Mannes John Bayley schildert, werden von Gravagne (The Becoming of Age, S. 134-144) negativ bewertet, Away from Her hingegen positiv. 18 | Wulff: Vom Vergessen, vom Verlust, vom Terror, S. 241.

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liche Entwicklung von Alzheimer-Tragödien zu Portraits von Alzheimer-Kranken, die noch kommunizieren, emotionale Beziehungen aufnehmen und ein sinnvolles Leben führen können, begrüßt,19 bleibt außer Acht, dass diese Tendenz mit der Wahl der Krankheitsphasen, die filmisch repräsentiert werden, zusammenhängen kann, also mit der Ausblendung der Spätphasen in neueren Film-Produktionen. Während David Sieveking in seinem textuellen Krankheitsbericht Vergiss mein nicht (2012) beispielsweise auch den schwierigen Sterbeprozess seiner Mutter beschreibt, beschränkt er sich in seinem Dokumentarfilm gleichen Titels auf rührende Abschiedsszenen mit Kindern und Enkeln am Bett der Kranken, spart die ethischen Konflikte, mit denen die Angehörigen am Ende von Gretels Leben konfrontiert sind, also aus, erspart der Sterbenden damit aber auch die Überführung in ein Objekt der Filmkunst.20

R e vision kultureller W erte angesichts von D emenz Die Demenz stellt die tragenden Werte unserer Kultur auf den Prüfstand. Sie zwingt zur Revision des neuzeitlichen Menschenbilds und zur Neubestimmung der Begriffe des Selbst, der Person und des Gedächtnisses sowie des instrumentellen Körperbegriffs. Das Gedächtnis ist keine einheitliche Größe. Über die Unterscheidung zwischen dem Kurzzeitgedächtnis, welches Alzheimer-Kranke schon früh verlieren, und dem Langzeitgedächtnis hinaus sind weitere Differenzierungen nötig. Rüdiger Pohl, der zwischen dem »autobiographischen«, dem »deklarativen«, dem »prozeduralen« und dem »semantischen Gedächtnis« unterscheidet, stellt die These auf: »Wir sind, was wir erinnern.«21 Im semantischen Gedächtnis sind »allgemeine, zeitlose Wissensinhalte« abgespeichert, im prozeduralen unbewusst ablaufende Alltagsfähigkeiten, im deklarativen Inhalte, »auf die wir bewusst zugreifen können«, und dazu gehören auch wichtige Erfahrungen und lebensgeschichtliche Ereignisse, die im autobiographischen Gedächtnis auf bewahrt sind.22 Viele Gedächtnisinhalte lagern wir heute auch ins externe Gedächtnis aus, z.B. auf die Festplatte unseres Computers. Das Gedächtnis ist auch 19 | Vgl. Gravagne: The Becoming of Age, S. 133. Auch Anne Davis Basting warnt in Forget Memory (Baltimore 2009, S. 155) vor der paralysierenden Wirkung von »tragic stories that scare us by depicting Alzheimer’s and other dementias as an existential horror«. 20 | Sieveking (Vergiss mein nicht. Wie meine Mutter ihr Gedächtnis verlor und ich meine Eltern neu entdeckte, Freiburg i.Br. 2012, S. 136) selbst sagt dazu: »Es ist seltsam an einem Dokumentarfilm über die eigene Mutter zu arbeiten und dabei ihre Veränderung sozusagen einzufrieren, während sich ihr Zustand in Wirklichkeit laufend weiter verschlechtert. Musste ich die jüngste Entwicklung nicht auch noch berücksichtigen?/ […] Ich will nicht mehr drehen – besonders nicht, wenn es Gretel so schlecht geht.« 21 | Rüdiger Pohl: Das autobiographische Gedächtnis, Stuttgart 2007, S. 8. 22 | Jörn Klare: Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand, Berlin 2012, S. 120.

Demenz im Spielfilm

anfällig für Suggestion, für Beeinflussung durch Bilder, Vorurteile, Geschichten anderer und Stereotypen.23 Manchmal wissen wir nicht, ob wir etwas nur geträumt, gelesen, in einem Film gesehen oder tatsächlich erlebt haben. Was uns zu sehr bedroht, suchen wir zu verdrängen. Aber auch die ins Unbewusste abgedrängten Inhalte wirken weiter. Was aber wird aus uns, wenn unser Gedächtnis versagt und unsere Identität ihre Verankerung in unserem autobiographischen Gedächtnis und den von ihm konstruierten Geschichten verliert?24 Sind wir dann keine Menschen mehr oder Individuen ohne Geschichte? Werden wir dann wieder zu Kleinkindern oder rücken gar in die Nähe von Tieren?25 Pohls Behauptung »Wir sind, was wir erinnern« stellt der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs den Satz entgegen: »Wir sind, was wir vergessen haben« bzw. »Was wir vergessen haben, ist zu dem geworden, was wir sind«.26 Weil das Bewusstsein »alle Prozesse« verlässt, »in denen es nicht länger erforderlich ist«, hält er das Leibgedächtnis für die Identität einer Person für viel wichtiger als das deklarative Gedächtnis; denn das Leibgedächtnis »ist auch dann noch vorhanden, wenn sich das deklarative Gedächtnis mit seinen bewussten Erinnerungen längst verabschiedet hat«.27 Unter Rekurs auf den Habitus-Begriff Pierre Bourdieus betont er: »Unsere Geschichte und unsere sozialen Erfahrungen werden uns in den Leib eingeschrieben«, deshalb geht die Persönlichkeit auch bei fortgeschrittener Demenz nicht »komplett verloren«.28 Demenzielle Erkrankungen wirken in besonderer Weise beunruhigend und bedrohlich, weil sie in Frage stellen, was wir als die Grundlage unseres Selbstseins ansehen: unsere kognitiven Fähigkeiten. Für die westlichen Kulturen ist Personalität entscheidend gebunden an die Intaktheit dieser Funktionen, an Überlegung, Intelligenz, Rationalität und Gedächtnis. Damit werden demenzielle Erkrankungen zur Bedrohung der Person in ihrem Kern […]./ Diese Identifizierung von Selbstsein mit Kognition und Gedächtnis beruht allerdings auf einem 23 | Vgl. Gravagne: The Becoming of Age, S. 146f. 24 | Anne Davis Basting (Looking back from loss: views of the self in Alzheimer’s disease, in: Journal of Aging Studies 17 (2003), S. 87-99, hier S. 88) fragt: »Is a self possible when the ability to construct narrative through memory is broken?« Sie betont, dass Alzheimer-Autobiograpien mit traditionell linearer Struktur wie Robert Davis’ My Journey into Alzheimer’s Disease (1989) und Diana Friel McGovins Living in the Labyrinth (1993) die Krankheit mit Hilfe von Co-Autoren nur beschreiben, während Cary Smith Hendersons Journal Partial View (1998) sie durch Sprache und Erzählform demonstriert. 25 | Zur Kritik populärer Dehumanisations-Narrative vgl. Welf-Gerrit Otto: Zugewinn im Defizit. Sinnfenster in der populären Rezeption von Demenzen, in: Andreas Kruse, Thomas Rentsch, Harm-Peer Zimmermann (Hg.): Gutes Leben im hohen Alter, Heidelberg 2012, S. 109-120, hier S. 101f. 26 | Klare: Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand, S. 172 und S. 176. 27 | Ebd., S. 175. 28 | Ebd., S. 174f.

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Henriette Her wig dualistischen Konzept der Person, in dem der Körper nur als der passive Trägerapparat für den Geist bzw. für das Gehirn als das Organ dieses Geistes gilt. Der Neokortex wird damit zum alleinigen Sitz der menschlichen Personalität […]. 29

Diesem neurophysiologischen Reduktionismus stellt Fuchs eine andere Auffassung von Personalität gegenüber, die auf der Leibphänomenologie MerleauPontys beruht. Sie nimmt den Leib als Grundlage aller Wahrnehmungen und Lebensvollzüge ernst und geht davon aus, dass die Geschichte der leiblichen Erfahrungen eines Menschen sich in seinem Leibgedächtnis sowie in seinem verkörperten Habitus niederschlägt.30 Dadurch entsteht ein implizites, an leibliches Vermögen gebundenes Gedächtnis, das vom deklarativen Gedächtnis zu unterscheiden ist. Zu den Formen des Leibgedächtnisses gehören die sensomotorischen Vermögen des Leibes, also das prozedurale Gedächtnis, das situative Gedächtnis, das auch ein Raumgedächtnis ist, und das in jeder Begegnung wirksame zwischenleibliche Gedächtnis. »Die Kontinuität des Selbst beruht letztlich auf einer leiblichen Selbstvertrautheit«, ohne die die lebensgeschichtlichen Erinnerungen »leere Bilder«31 bleiben. »Das Leibgedächtnis repräsentiert die Vergangenheit nicht, sondern reinszeniert sie. Aber gerade deshalb stellt es einen […] unmittelbaren Zugang zur Vergangenheit her.«32 Die auf Aristoteles zurückgehende Bestimmung des Menschen als animal rationale, die zu der berühmten rationalistischen Zuspitzung von Descartes: ›Ich denke, also bin ich‹ geführt hat, greift also zu kurz. Der Mensch ist nicht nur ein denkendes, sondern auch ein sinnliches und ein fühlendes Lebewesen.33 Er kann sich durch Mimik, Gestik, Laute, Körperbewegungen und Verhaltensweisen auch dann noch verständigen, wenn er die Fähigkeit zu komplexeren Denkleistungen und sprachlicher Mitteilung eingebüßt hat. Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Demenz haben zwar kein Zeitgefühl, kein Selbstbewusstsein, kein biographisches Wissen und keinen Begriff der eigenen Identität mehr, aber ein Sensorium für Atmosphärisches, ein Leibgedächtnis, einen Habitus und ein Sinnen-Ich. Der »Leib und seine Sinne werden zum Träger personaler Kontinuität, einer mehr gefühlten als gewussten Erinnerung«.34 Wir sind also gut beraten, das Gedächtnis nicht mit dem Selbst gleichzusetzen und dieses auch nicht an die Fähigkeit zur Konstruktion einer 29 | Thomas Fuchs: Das Leibgedächtnis in der Demenz, in: Kruse (Hg.): Lebensqualität bei Demenz?, S. 231-242, hier S. 231. 30 | Vgl. ebd., S. 232. 31 | Ebd., S. 238. 32 | Ebd., S. 238. 33 | Vgl. Ekkehard Martens: Angst vor der »ausweglosen Krankheit A.« – Mit AlzheimerDemenz »aufgehoben« weiterleben, in: Thomas Rentsch, Harm-Peer Zimmermann, Andreas Kruse (Hg.): Altern in unserer Zeit. Späte Lebensphasen zwischen Vitalität und Endlichkeit, Frankfurt a.M. 2013, S. 204-211, hier S. 206. 34 | Fuchs: Das Leibgedächtnis, S. 241.

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Lebensgeschichte zu binden. Das Selbst ist umfassender als seine bewussten Erinnerungen. Auch Menschen, die unter der Alzheimer-Krankheit leiden und sich nicht mehr sprachlich ausdrücken können, haben ein Selbst; sie lieben, spielen, umarmen Menschen, finden Beziehungen und verlieren sie wieder, nehmen Inhalte in ihr Gedächtnis auf und vergessen andere.35 In einer von Zuwendung und Anerkennung getragenen Atmosphäre können sie durchaus ein »Existenzgefühl der Geborgenheit«36 entwickeln. Die Kommunikation mit ihnen gelingt umso besser, je weniger normative Erwartungen man an sie heranträgt und je mehr man sich auf ihre Welt einlässt. Die bio-medizinische Sicht auf den Menschen, die ihn auf die Funktionstüchtigkeit seines Gehirns reduziert, muss um eine psycho-soziale und körperbetont-kommunikative ergänzt werden. Andernfalls kann die Diagnose einer Demenz dazu führen, dass den Betroffenen über ihren eigenen sozialen Rückzug hinaus weitere soziale Rollen entzogen werden, wodurch die Bewahrung ihres Selbst und die Möglichkeit der sozialen Teilhabe noch mehr erschwert wird. Allerdings basiert das »Beziehungshandeln« der Kranken nicht mehr auf »Beziehungserinnerungen«; die »Beziehung existiert nur noch als Bindung des einen an den anderen«, wird zur einseitigen Fürsorge-Beziehung.37 Alzheimer-Patienten verlieren nicht nur die Erinnerung an frühere Interaktionen, sondern auch die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, deren Rolle »zu imaginieren und eigenes Verhalten darauf abzustellen«.38 Angehörige haben oft mehr Mühe, die Einseitigkeit der Beziehung zu akzeptieren, als Pflegepersonen, die den Kranken weniger nahe stehen. In der Pflegepraxis führt die Integration des Leibgedächtnisses in die Konzeptualisierung von Demenz seit einigen Jahren zu individuenzentrierter Pflege, zur Einrichtung behaglicher Wohnräume, zur Berücksichtigung gestischer Kommunikation und zum Einsatz der Künste, um die zwischenmenschlichen Beziehungen zu verbessern, emotionales Erleben zu ermöglichen und das Potential des Körpers für Kreativität und Selbstausdruck zu nutzen.39 Denn die Kunst,40 35 | Vgl. Gravagne: The Becoming of Age, S. 148. 36 | Martens: Angst vor der »ausweglosen Krankheit A.«, S. 209. 37 | Wulff: Vom Vergessen, vom Verlust, vom Terror, S. 250f. 38 | Ebd., S. 252. 39 | Vgl. Kitwood: Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen; Marlies Böggemann u.a.: Positive Erlebnisräume für Menschen mit Demenz. Förderung der Lebensqualität im Rahmen individuenzentrierter Pflege, in: Doris Schaeffer, Johann Behrens, Stefan Görres (Hg.): Optimierung und Evidenzbasierung pflegerischen Handelns. Ergebnisse und Herausforderungen der Pflegeforschung, Weinheim 2008, S. 80-104; Pia Kontos, Wendy Martin: Embodiment and dementia: Exploring critical narratives of selfhood, surveillance, and dementia care, in: Dementia 12 (2013) H. 3, S. 288-302. 40 | Vgl. Klaus Bremen, Ulrich Greb (Hg.): Kunststücke Demenz. Ideen – Konzepte – Erfahrungen, Essen 2007; Flavia Nebauer, Kim de Groote: Auf Flügeln der Kunst. Ein Handbuch zur künstlerisch-kulturellen Praxis mit Menschen mit Demenz, München 2012.

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beispielsweise die Musik, kann ein Weg sein, Zugang zur Emotionalität der Erkrankten zu finden; auch Tanz41 und Bewegung, Theaterspiel und clowning42 durchbrechen Monotonie und soziale Isolation, bieten Anregung, ermöglichen Selbstausdruck und erhöhen so die Lebensqualität.43 Das Verständnis des Selbst als embodied self hood 44 muss auch zur Abstandnahme von zeitlichen Normierungen von Pflegeabläufen sowie von allen Formen der Überwachung und Disziplinierung der Körper in Institutionen führen, wie der Einsatz von Überwachungstechnologien, schichtwechselbedingte Störungen des Schlafrhythmus und rigide Essenszeiten sie mit sich bringen.45 Auch das Abschneiden der Haare und der Ersatz persönlicher Kleidung durch zweckmäßige Heimkleidung46 oder die Präsentation gepflegter Körper in der Eingangshalle nach einem lounge-standard 47 für Bewohner sind eine Form der Identitätsberaubung. Dass der lounge-standard auch für Privathäuser gelten kann, die zum »Alzheimertempel« geworden sind, betont die verstörende Darstellung der »vegetierenden Körper«, die einmal den Eltern des Ich-Erzählers gehörten, in Louis Begleys Roman Schiff bruch: Sie waren immer sauber und wohlriechend trotz der unvorstellbaren Demütigung durch Windeln, unkontrolliert abgehende Winde und so weiter, und ihre Kleider waren makellos und passend zur Tages- und Jahreszeit ausgewählt. Mein Vater war so sorgfältig rasiert wie zu seinen Lebzeiten – ja, das war die Formulierung, die ich in Gedanken benutzte, um zwischen seinem früheren und jetzigen Zustand zu unterscheiden. Er wurde von demselben Mann rasiert, der täglich meiner Mutter das Haar frisierte. Ich dachte, sie sähen aus wie immer, aber in Wahrheit waren sie ausgestopft, das Werk eines geschickten Präparators.48

Umgekehrt berichtet David Sieveking, dass seine Eltern nach Gretels Erkrankung u.a. deshalb kaum noch Besuch bekamen, weil sein Vater als Pflegeperson nicht dafür sorgte, »dass seine Frau anständig angezogen« war.49 Katharina Hagenas 41 | Vgl. Sarah Whyte: Life-enhancing dance for elders with dementia, in: Journal of Dementia Care 18 (2010) H. 2, S. 37-39. 42 | Vgl. Ruud Hendriks: Tackling Indifference – Clowning, Dementia, and the Articulation of a Sensitive Body, in: Medical Anthropology: Cross-Cultural Studies in Health and Illness 31 (2012) Nr. 6, S. 459-476. 43 | Vgl. Kontos, Martin: Embodiment and dementia, S. 295. 44 | Vgl. Pia C. Kontos: Embodied selfhood. An ethnographic exploration of Alzheimer’s disease, in: Annette Leibing, Lawrence Cohen (Hg.): Thinking About Dementia, New Jersey 2006, S. 195-217. 45 | Vgl. Kontos, Martin: Embodiment and dementia, S. 292f. 46 | Vgl. ebd., S. 293. 47 | Vgl. Geraldine Lee-Treweek: Bedroom Abuse: the hidden work in a nursing home, in: Generations Review 4 (Juni 1994) H. 2, S. 2-4, hier S. 2. 48 | Louis Begley: Schiffbruch, übers. v. Christa Krüger, Frankfurt a.M. 2005, S. 217. 49 | Sieveking: Vergiss mein nicht, S. 213.

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Protagonistin Iris sagt in Der Geschmack von Apfelkernen (2009) über ihre ins Heim umgezogene Großmutter Bertha: »Je kürzer ihr Gedächtnis wurde, desto kürzer schnitt man ihr die Haare. Berthas Hände jedoch behielten bis zu ihrem Tod die Bewegungen einer Frau mit langem Haar.«50 Letztlich entscheidet über unseren Umgang mit Demenz-Kranken unser Begriff von Menschenwürde. Sind wir wie der Deutsche Ethikrat bereit, Artikel 1 des Grundgesetzes: »Die Würde des Menschen ist unantastbar« auch auf Menschen in der Spätphase der Demenz anzuwenden, wenn sie sich kaum noch von einem Koma-Patienten unterscheiden? Erkennen wir sie auch dann noch »als vollwertige Träger der Menschenwürde« an oder neigen wir wie der Philosoph Michael Quante dazu, mit einem »abgestuften Würdebegriff [zu] argumentieren«, selbst wenn das bedeutet, »im Extremfall auch das Lebensrecht«51 in Frage zu stellen? »Quante will Menschen mit Demenz nicht als vollwertige Träger der Menschenwürde anerkennen.«52 Weil sie im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit kein autonomes Leben mehr führen können, kommt ihnen in seinen Augen kein umfassender Personen-Status mehr zu. Er argumentiert mit der Notwendigkeit von Entscheidungen unter »Knappheitsbedingungen« und veranschaulicht das mit einem »Lifeboat-Szenario«, bei dem fünf Menschen in einem Boot sitzen, von denen nur zwei gerettet werden können: »ein Reagenzglas mit einer befruchteten Eizelle, ein irreversibel Komatöser, ein normal entwickeltes 17-jähriges Mädchen, ein gesunder Junge im selben Alter und ein 88-Jähriger«.53 Es ist klar, dass er mit diesem Szenario Konsens bei der Entscheidung für die Rettung der zwei 17-Jährigen hervorrufen will und damit die Akzeptanz abgestufter Menschenwürde. Müsste man, um seiner Fangfrage ausweichen zu können, nicht eher bei den »Knappheitsbedingungen« ansetzen und fragen, mit welchen Werthaltungen und Prioritätensetzungen sie zusammenhängen? Wo könnten die westlichen Industriegesellschaften zugunsten des Ausbaus der Altenpflege Abstriche machen, ohne zukunftssichernde Aufgaben wie die Förderung der Bildung von Kindern und Jugendlichen und die Integration von Migrantinnen und Migranten zu vernachlässigen? Oder wird würdevolles Alter zu einem ökonomischen Gut, das sich nur die Besserverdienenden leisten können? Im Gegensatz zu Quante betont der Jurist Bernd von Maydell, der das Dritte Reich und seine menschenverachtende Politik der Vernichtung ›unwerten Lebens‹ als Kind noch erlebt hat: »Der Staat soll niemanden als unwert ansehen. […] Wenn wir anfangen,

50 | Katharina Hagena: Der Geschmack von Apfelkernen. Roman, Köln 2008, S. 196. 51 | Klare: Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand, S. 199f. 52 | Ebd., S. 199f. 53 | Ebd., S. 196-198. Vgl. dazu auch Michael Quante: Menschenwürde und personale Autonomie. Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften, Hamburg 2010.

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zwischen Menschen mit mehr und weniger Würde zu unterscheiden, ist das ein Kulturbruch.«54 Und wie steht es um die Selbstbestimmung des Menschen, wenn er an Demenz erkrankt? In welchem Umfang können andere, Pflegende, Betreuende, dann für ihn entscheiden? Dazu hat der Deutsche Ethikrat im April 2012 zwar eine ausführliche Stellungnahme55 abgegeben, allerdings ohne sich zum »Grenzfall einer Wohlbestimmung ohne Selbstbestimmung im späten Stadium der Alzheimer-Demenz« zu äußern.56 Kann die Selbstsorge auch bedeuten, Vorsorge zu treffen für den eigenen Tod? Und sind die Betreuungspersonen dann dazu verpflichtet, den Wunsch des Betroffenen nach einem selbstbestimmten Tod zu erfüllen? Inge Jens und Tilman Jens haben sich im Fall von Walter Jens dagegen entschieden und einen in der Demenz noch genussfähigen, kreatürlichen Menschen entdeckt, der andere Bedürfnisse hatte, als der noch zur Selbstreflexion fähige Walter Jens antizipiert hat.57 Ihre Entscheidung entspricht den Empfehlungen des Deutschen Ethikrats, aktuellen lebensbejahenden Äußerungen eines Patienten, auch den non-verbalen, stets den »Vorrang vor einer anders lautenden Patientenverfügung zu geben«.58 Volker Gerhardt hingegen kritisiert in seinem »Sondervotum« zu dieser Stellungnahme, dass die »vegetative[n] Lebenszeichen eines unheilbar kranken Menschen« mehr wiegen sollen als der vorher »ausdrücklich bei vollem Bewusstsein gefasste Entschluss«.59 Mit den ethischen Fragen nach der Freiheit zum Suizid und der möglicherweise gewünschten oder erforderlichen Beihilfe zu ihm befasst sich auch der Gegenwartsfilm. Die Analyse von Filmbildern und Filmgeschichten ist eine wichtige Aufgabe der Kulturkritik, denn Filme sind Seismographen gesellschaftlicher Tendenzen, produzieren kulturelles Wissen und beeinflussen die öffentliche Meinung.60 Als Beitrag zu einer kultur- und sozialwissenschaftlich fundierten, gender- und körpersensiblen Alter(n)sforschung will ich im Folgenden vier Alzheimer-Spielfilme daraufhin untersuchen, welches Bild demenzieller Erkrankungen, der verän54 | Bernd von Maydell, im Gespräch mit Klare: Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand, S. 208 und S. 216. Vgl. auch Bernd von Maydell: Die Erfassung von Lebensqualität demenzkranker Menschen in ihrer rechtlichen Dimension, in: Kruse (Hg.): Lebensqualität bei Demenz?, S. 339-354. 55 | Vgl. Deutscher Ethikrat (Hg.): Demenz und Selbstbestimmung. Stellungnahme, Berlin 2012. 56 | Martens: Angst vor der »ausweglosen Krankheit A.«, S. 207. 57 | Vgl. Inge Jens: Ein Nach-Wort in eigener Sache (2008), in: Walter Jens, Hans Küng: Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung, München/Zürich 2009, S. 199-211; Tilman Jens: Demenz. Abschied von meinem Vater, München 32009. 58 | Deutscher Ethikrat (Hg.): Demenz und Selbstbestimmung, S. 93. 59 | Volker Gerhardt: Sondervotum, in: Deutscher Ethikrat (Hg.): Demenz und Selbstbestimmung, S. 101-106, hier S. 106. 60 | Vgl. Chivers: The Silvering Screen, S. xviii.

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derten Lebenswelt der Betroffenen und ihrer Beziehungen sie zeichnen, welche Plot-Strukturen sie dabei einsetzen und welche Wirkungsintention sie verfolgen: An­dreas Kleinerts Fernsehfilm Mein Vater (D 2003), Richard Glatzers Filmdrama Still Alice (US/F 2014), Til Schweigers Kinofilm Honig im Kopf (D 2014) und Nikolaus Leytners Fernsehfilm Die Auslöschung (A 2013). Im Einzelnen gehe ich dabei folgenden Fragen nach:61 Wie stellt der jeweilige Film die Kranken und ihre Betreuer dar? Fokussiert er auf den Erkrankten oder auf die von seinem Schicksal mitbetroffenen Gesunden? Werden die an Alzheimer Leidenden stigmatisiert? Wird die Krankheit aus der Perspektive der Betroffenen, der Angehörigen und/ oder der Pflegenden gezeigt? Erfolgt die Darstellung in stereotyper Form oder berücksichtigt sie den individuellen Krankheitsverlauf? Welchen Begriff des Menschen und des Selbst legen die Filme zugrunde? Wird das Selbst einseitig an das Gedächtnis gebunden oder werden auch andere Aspekte der Persönlichkeit berücksichtigt? Werden dabei Vorstellungen ›normalen‹ Alterns aufgerufen und verändert? Wird die Krankheit nur als neuronaler Vorgang oder auch als Ergebnis kultureller Prozesse und sozialer Interaktionen verstanden? Welche Formen der Kommunikation zwischen den Kranken und den Pflegepersonen werden vorgeführt? Welche Veränderungen der familiären Beziehungen werden dabei aufgezeigt? Kommt intergenerationelle Fürsorge62 zum Tragen oder entzieht sich die mittlere Generation der Verantwortung für die ältere? Wird die Demenz dabei als Gefahr für den Familienzusammenhalt durch Überschreitung von Belastungsgrenzen gesehen oder auch als Chance, Menschen einander näher zu bringen? Bietet der Film auch konstruktive Bewältigungsstrategien an? Tut er das in realistischer oder in märchenhaft-utopischer Form? Stärkt er das Bewusstsein dafür, dass die Würde von Menschen mit Demenz in unserer Gesellschaft bedroht ist? Wie löst der Film, der ja auf Bebilderung von inneren Vorgängen angewiesen ist, das Problem der Verarmung des Lebens bei fortgeschrittener Demenz, anders gefragt: Wie erzählt er das Ende des Erzählens?63 Manche Filme umgehen diese Schwierigkeit, indem sie über Rückblenden die Lebensgeschichte des Erkrankten einblenden, insbesondere Szenen aus der Jugend, der Zeit der ersten Liebe, der Familiengründung, und so die gegenwärtige Handlungsarmut mit der damaligen Lebensfülle kompensieren, wobei die mittleren Jahre in der Regel übersprun-

61 | Dabei übertrage ich einige der Fragen von Gravagne (The Becoming of Age, S. 132f.) und Chivers (The Silvering Screen, S. 58-62) auf mein Filmkorpus. 62 | Vgl. Martens: Angst vor der »ausweglosen Krankheit A.«, S. 210. 63 | Dieses Problem stellt sich bei Ich-Erzählungen und Darstellungen fortgeschrittener Demenz aus Innensicht. Vgl. Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Narrating the limits of narration. Alzheimer’s disease in contemporary literary texts, in: Aag je Swinnen, Mark Schweda (Hg.): Popularizing Dementia. Public Expressions and Representations of Forgetfullness, Bielefeld 2015, S. 93-112.

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gen64 werden. Das gilt für Richard Eyres Iris 65 ebenso wie für Nick Cassavetes’ The Notebook. David Sieveking nutzt in seiner filmischen Dokumentation der Krankheit seiner Mutter Vergiss mein nicht zwar auch die Möglichkeit von Rückblenden, sie führen hier aber zur Demontage seines bisherigen Bilds der Elternehe. Altern ist ein differenzieller Prozess.66 Auch im Fall des Lebens mit einer Demenz wird es von sozioökonomischen und kulturellen Faktoren beeinflusst, sind Ressourcen und Risiken je nach Geschlecht, Schichtzugehörigkeit, Finanzkraft, sexueller Orientierung und Ethnizität ungleich verteilt. Je nachdem, in welchem Milieu die Filmhandlung spielt und auf welche Aspekte der Krankheit sie sich konzentriert, wird diese in einem mehr oder weniger düsteren Licht erscheinen.

D emenz als S prengsat z für die F amilie : M ein Vater Der mehrfach preisgekrönte Fernsehfilm Mein Vater von Andreas Kleinert67 stellt die Belastbarkeit einer deutschen Mittelschichtsfamilie durch die Pflege eines dementen Angehörigen auf die Probe. Im Mittelpunkt steht das Schicksal des 62-jährigen Busfahrers Richard Esser (Götz George), der frühpensioniert wurde, weil er wiederholt an Haltestellen vorbeigefahren ist – aufgrund von Alzheimer, wie sich später herausstellt.68 Nicht ahnend, was auf sie zukommt, schlägt die Schwiegertochter Anja (Ulrike Krumbiegel) ihrem Mann Jochen (Klaus J. Behrendt) vor, den Schwiegervater ins Haus zu holen, auch weil er die Familie finanziell unterstützt und damit den Bau eines Hauses ermöglicht hat. Das überzeugt schließlich auch den Sohn, der unter seinem dominanten Vater zeitlebens gelitten hat und sich das Wohnen unter einem Dach mit ihm zunächst nicht vorstellen kann. Intergenerative Solidarität gibt der mittleren Generation hier das Gefühl, der älteren etwas schuldig zu sein. »Und dies soll immer für euch ein offenes Haus sein« (TC: 00:06:22), diese Versicherung des Sohnes gegenüber Vater und Schwiegermutter beim Einweihungsfest wird schon bald auf ihn zurückfallen. Denn Jochen muss sein Haus weiter öffnen, als ihm lieb ist, so weit, dass es beinahe abbrennt und ihm am Ende nichts mehr bleibt. Am Schluss ist die durch Schulden zu Beginn schon belastete Familie so stark zerrüttet, dass der Sohn der gefährlichen Nachtwanderung des dementen Vaters entlang stark befahrener Straßen keinen Widerstand mehr entgegensetzt und ihrem potentiell tödlichen Ausgang damit 64 | Vgl. Chivers: The Silvering Screen, S. xvi. 65 | Nach John Bayleys Elegie für Iris, übers. v. Barbara Rojahn-Deyk, München 2000. 66 | Vgl. Ina Schöllgen, Oliver Huxhold: Differenzielles Altern, in: Informationsdienst Altersfragen, 36 (2009) H. 2, S. 12-16, hier S. 13. 67 | Der Film erhielt u.a. den Adolf Grimme Preis 2003 und den International Emmy Award 2003. 68 | Götz George hatte zum Zeitpunkt der Dreharbeiten schon drei Freunde durch die Krankheit verloren.

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implizit zustimmt. Indem er Richard nicht daran hindert, das Haus zu verlassen, nimmt Jochen die Gefahr eines tödlichen Unfalls billigend in Kauf. Der Film unterstreicht die Gefahr eines Unfalls zunächst durch die Langsamkeit, mit der die Kamera den nächtlichen Gang des alten Mannes in Rückenansicht einfängt und seinen Treppenaufstieg auf eine hochgelegte Schnellstraße aus der Distanz verfolgt, dann durch das verschwommene Lichtermeer vorbeirasender Autos, das der Wahrnehmung des dementen Nachtwanderers entspricht. Durch die filmische Überblendung werden die auf Richard zufahrenden Autos und der Weg des Dementen übereinandergelegt, sodass die Autos durch ihn hindurch zu fahren scheinen. Hier kann nicht einmal vom Recht auf einen selbstbestimmten Tod die Rede sein, da der Vater diesen Wunsch nie geäußert hat; hier handelt es sich eher um die Andeutung der Möglichkeit von ›Vatermord‹, juristisch gesehen fahrlässige Tötung durch Aufhebung der notwendigen Schutzmaßnahmen. Paradoxer Weise ist es die späte Liebe zu seinem Vater, die den Sohn in diese Sackgasse treibt. Durch die Pflege, die mit ihr verbundene Schlaflosigkeit, Berufsprobleme, die Verhaltensstörungen seines Sohnes, den Hausbrand und den Auszug seiner Frau ohnehin an den Rand eines Zusammenbruchs gebracht, erträgt er das Rütteln des nachtaktiven Vaters an der Klinke der Haustür nicht mehr und öffnet dem Ausgehwilligen die Tür. Das verwüstete, leere Haus im Rücken, schaut er dem in die Nacht hinausgehenden Vater lange nach, ohne ihn zurückzurufen. Schon vorher wurden wiederholt Schlüssel und Klinken von Türen und Fenstern eingeblendet und so als Leitmotive etabliert, die auf das Verhängnisvolle der motorischen Unrast und der wiederholten Ausbruchsversuche des Vaters hinweisen. Beim Versuch, durch ein geschlossenes Fenster zu steigen, hatte Richard sich kurz zuvor bereits beide Hände aufgeschnitten. Wie viele Menschen mit Demenz weiß er nicht mehr, wo er ist, will nach Hause oder, unabhängig von der Tageszeit, zur Arbeit gehen und erlebt das Haus, in das Jochen ihn einschließt, um ihn vor sich selbst zu schützen, als Gefängnis. Richard wird schwer aggressiv, verscherzt Anjas Hilfsbereitschaft, indem er ihr vorwirft, ihn zu bestehlen, und die Zuwendung seiner neuen Freundin, indem er sie schlägt – aus Enttäuschung, dass sie nicht seine Frau ist. Mit Verhaltensweisen wie diesen verstört er den Enkel, der ihn eigentlich liebt, und treibt unwillentlich die Schwiegertochter aus dem Haus, die nicht akzeptiert, dass ihr Mann einen Vater, der für die Familie nicht mehr tragbar ist, nicht ins Heim bringt. Jochen muss die Pflege schließlich selbst übernehmen und gerät dadurch in schwere Rollenkonflikte, weil sie nicht mit seinem Beruf, mit den Bedürfnissen seiner Frau und der Fürsorgepflicht für den pubertierenden Sohn zu vereinbaren ist. Dieser schwänzt die Schule und verbringt seine Tage mit Computerspielen, die er mit Geld, das er dem Großvater stiehlt, gekauft hat. Zur Rede gestellt, hält er dem Vater den Spiegel seiner Verfehlungen vor, zum Beispiel das Fälschen von Richards Unterschrift, weil keine Vollmachten vorhanden sind. Die Entfremdung zwischen den beiden kann nur dadurch aufgehalten werden, dass Jochen beginnt, mit dem Sohn über seine Gefühle zu sprechen. So verheerend der Kompetenz-, Identitäts- und Kontrollver-

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lust des Alzheimer-Kranken ist, für die zwischen Beruf, Elternschaft und Pflege eingeklemmte mittlere Generation ist er eine Zerreißprobe, die sie nicht besteht, auch weil ihr die Mittel fehlen, Hilfskräfte einzustellen. Damit legt der Film auch schonungslos offen, dass die Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen Mittelschicht-Familien vor schier unlösbare finanzielle Probleme stellt. Kitsch-Filme zeigen demente Figuren in Einrichtungen, die wie Luxushotels wirken, umgeben von überaus geduldigen Pflegepersonen, deren Bemühungen von liebenden Angehörigen mit schier unendlichen zeitlichen Ressourcen flankiert werden.69 Im Gegensatz dazu legt Andreas Kleinert die Schwachstellen einer von Doppelberufstätigkeit der Eltern geprägten Kleinfamilie bloß, in der Krankheit und Pflege schlichtweg keinen Platz haben. Führen zunächst nur Kleinigkeiten wie die von Richard quer, statt längs, geklebte Tapete oder der Verlust von sozialem Takt zu Beziehungsproblemen – so, wenn er Anjas Mutter älter schätzt, als sie ist, und ihr an den Kopf wirft: »Das hab’ ich mir gedacht, dass Sie keiner mehr haben will« (TC: 00:48:38) –, steigern sich die Fehlleistungen des Demenz-Kranken später bis zum Küchenbrand. Nur die Feminisierung Jochens, der durch die Pflege seine Liebe zum Vater wiederentdeckt und auch dem eigenen Sohn gegenüber sensibler wird, dämpft die Trostlosigkeit der Geschichte. Die letzten Filmszenen legen nahe, dass der Tod des Vaters dem verzweifelten Sohn zum Schluss als einziges Mittel erscheint, den weiteren Zerfall seiner Familie aufzuhalten. Wie konnte es so weit kommen? Eine Heimunterbringung des Vaters wurde zwar erwogen, kommt für Jochen aus Schuldgefühlen aber nicht in Betracht. Eine private Pflegekraft kann die hoch verschuldete Familie sich nicht leisten. Ein Erwachsener allein kann die Pflegelast nicht bewältigen, weil Richard unruhig, nachtaktiv und aggressiv ist und auf den Einsatz beruhigender Psychopharmaka verzichtet wird. Hier wären soziale Stützsysteme nötig, die nicht vorhanden sind. Im Gegensatz zu filmischen Liebesgeschichten wie Iris, die »durch den Rückgriff auf das romantische Liebeskonzept« suggerieren, »dass eine Unterstützung für alte Paare und pflegende Angehörige nicht nötig ist«,70 verfolgt Kleinerts Alzheimer-Film eine sozialpolitische Wirkungsintention. Er lässt keinen Zweifel daran, dass die dargestellte Kleinfamilie auch deshalb in Not gerät, weil die Pflegeversicherung Richards Krankheitsstadium falsch eingeschätzt und den pflegenden Angehörigen die Zuschüsse verweigert hat, die es erlauben würden, Hilfsdienste in Anspruch zu nehmen. Die Alzheimer-Krankheit wird hier nicht verklärend zur Bewährung der Liebe und des Familienzusammenhalts erhoben, es ist im Gegenteil ein Übermaß an Familiensolidarität weit über die Belastungsgrenze der mittleren Generation hinaus, das in Kleinerts Film zur Katastrophe führt und 69 | Ich denke an die bereits erwähnten filmischen Liebesmärchen Away from Her und The Notebook. Auch in Lieven Debrauwers Spielfilm Pauline & Paulette (B/F/NL 2001) wird der Eindruck erweckt, als sei das lichtdurchflutete, wohnliche Pflegeheim, in das Pauline von ihren Schwestern gebracht wird, ein Himmel auf Erden für Behinderte. 70 | Seidler: »Wieso haben Sie Schatz zu mir gesagt?«, S. 109.

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aus dem pflegenden Sohn den potentiellen Täter macht. Jochen gerät in die »Beziehungsfalle« der »heroische[n] Pflege […], die in der subjektiven Bilanz alle Verluste ausgleichen muss«.71 Wird Richard in der Nacht, in der er das Haus verlässt, von einem Auto überfahren, sieht Jochen sich am Tag danach mit polizeilichen Ermittlungen konfrontiert. Der Film bestätigt, dass Alzheimer auch eine »soziale Krankheit« ist, die mit den Betroffenen auch die Angehörigen zu Opfern macht.72 Wo hört die Hilfsbereitschaft auf, wo fängt der notwendige Selbstschutz an? Und was tut die Gesellschaft, um Familienschicksale wie dieses zu verhindern? Mit diesen Fragen entlässt uns Kleinerts Mein Vater.

L ieber K rebs als A l zheimer : S till A lice Alice Howland, die 50-jährige Protagonistin des Filmdramas Still Alice nach dem gleichnamigen Erfolgsroman der US-amerikanischen Neurowissenschaftlerin Lisa Genova,73 eine blendend intelligente Linguistik-Professorin an der Columbia University und Mutter von drei erwachsenen Kindern, ist an einer erblichen Frühform von Alzheimer erkrankt. Immer öfter lässt ihr bisher hervorragendes Gedächtnis sie im Stich, immer öfter muss sie sich auf Erinnerungsstützen ihres Smartphones verlassen. Für die erfolgreiche Wissenschaftlerin, die sich bisher ganz über ihren Verstand definiert hat, ist die mit der Krankheit verbundene Fallhöhe besonders groß.74 »Der Film zeigt, wie Alice’ New Yorker Welt nach und nach zersplittert. Er erzählt vom Leiden am eigenen Verschwinden, vom Selbsthass und der entsetzlichen intellektuellen Kränkung, als die wir Alzheimer auch verstehen müssen.«75 Er fokussiert auf den neurodegenerativen Prozess, dem Alice unterworfen ist, von ersten Wortfindungsstörungen über die raum-zeitliche Desorientierung, zuerst auf dem Campus, später auch in vertrauter Umgebung, die zunehmende Vergesslichkeit, die kognitiven Einbußen, den Verlust von Funktionsrollen, zunächst im Beruf, dann auch in Ehe und Familie, bis zur Inkontinenz und zum nahezu vollständigen Sprachverlust. Eine der ersten Szenen – wie 71 | Wulff: Vom Vergessen, vom Verlust, vom Terror, S. 240. 72 | Ebd., S. 238. Richard Taylor (Ich wünsche mir, dass andere mir zuhören, in: Demenz Support Stuttgart (Hg.): »Ich spreche für mich selbst«, S. 66-77, hier S. 69) betont, dass die Krankheit Beziehungen vergiftet. 73 | Lisa Genova: Mein Leben ohne Gestern. Roman, übers. v. Veronika Dünninger, Bergisch Gladbach 2009. 74 | Das gilt auch für den Komponisten Martin in Bille Augusts En sång för Martin (engl. A Song for Martin, S/DK 2001). 75 | David Hugendick: Ich vergisst sich. Zwei Alzheimer-Filme laufen derzeit im Kino: Still Alice von Richard Glatzer und Honig im Kopf von Til Schweiger. Wie erzählt man von dieser Krankheit?, in: Zeit Online, 25. Februar 2015, http://www.zeit.de/kultur/film/2015-02/ alzheimer-film-still-alice-honig-im-kopf [Zugriff: 30.09.2015].

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alle von der Hauptdarstellerin Julianne Moore berührend gut gespielt – zeigt Alice beim Joggen ohne Orientierung, verloren auf dem ihr sonst vertrauten Campus der Columbia University: »Sie starrt vor sich hin. Sie gefriert. Und in diesem vereisten Zustand entfernt sich die Welt von ihr. Die Dinge werden unscharf, die Perspektiven beginnen zu bröckeln.«76 Beim Vorbereiten des Weihnachtsessens kann Alice sich später an ein ihr sonst geläufiges Kochrezept nicht mehr erinnern, obwohl sie die Gedächtnistests, die sie mit sich selber anstellt, noch gut besteht. Dass sie die neue Freundin ihres Sohnes zweimal begrüßt, lässt eine Situation sozialer Peinlichkeit entstehen. Noch sprachloser steht Alice später vor der Tatsache, dass sie im eigenen Ferienhaus am Atlantik die Toilette nicht mehr gefunden und in ihrer Not in die Hose gemacht hat; »fassungslos und fügsam wie ein Kind« lässt sie sich von ihrem Mann zum Umkleiden ins Schlafzimmer bringen.77 Nach einer Theateraufführung erkennt sie die eigene Tochter Lydia nicht mehr, die in dem Stück eine Mädchen-Rolle gespielt hat. Einige Zeit danach kann Alice die Haustür ihrer Wohnung nicht erreichen, weil ein brauner Teppich im Hausflur ihr als unüberwindbarer Abgrund erscheint. Offenbar nimmt sie die zweidimensionale Fläche dreidimensional wahr. Die Möglichkeit, sich um einen Platz in einem Pflegeheim zu bemühen, wird von ihr zwar frühzeitig erwogen, kaum, dass Alice das Haus besichtigt hat, aber wieder verworfen. So luxuriös es auf den ersten Blick erscheint, die Aussicht, ihre Zeit in ihm mit hochaltrigen Heimbewohnern zu verbringen, schreckt die 50-Jährige ab. Statt sich anzumelden, beschafft sie sich mit Hilfe einer kooperationsbereiten Ärztin eine große Menge Schlaftabletten und installiert auf ihrem Computer unter dem Dateinamen »Butterfly« einen Selbstbefehl, der sie dazu auffordert, die Tabletten zu schlucken, wenn sie einen Zustand erreicht haben sollte, in dem sie sich nicht mehr an die Namen ihrer Kinder und ihr Geburtsdatum erinnern kann. Zu diesem Zeitpunkt glaubt Alice, ihre Würde als autonome Frau noch dadurch retten zu müssen, dass sie den Plan fasst, »der drohenden Abhängigkeit durch einen finalen Akt der Selbstbestimmung«78 entgegenzutreten. Später ist es ausgerechnet ein Skype-Gespräch mit ihrer jüngsten Tochter Lydia (Kristen Stewart), das dazu führt, dass Alice die Datei zufällig öffnet und den Befehl ihres früheren Ichs hört. Allerdings versteht die inzwischen fortgeschritten demente Frau ihre früheren Anweisungen nicht mehr. Es scheint, als könne sie sich das »Leben, das sie nicht mehr hat«, auch nicht mehr nehmen.79 Nach dramaturgisch zugespitzter dreimaliger Wiederholung des Versuchs, ihren Aufforderungen Folge zu leisten, steht Alice dann 76 | Andreas Kilb: Der Schmetterling sagt dir, wenn es Zeit ist zu gehen. Video-Filmkritik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. März 2015, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ kino/video-filmkritiken/video-filmkritik-still-alice-mit-julianne-moore-13461817.html [Zugriff: 30.09.2015]. 77 | Ebd. [online]. 78 | Klie: Altersdemenz, S. 74. 79 | Kilb: Der Schmetterling sagt dir, wenn es Zeit ist zu gehen [online].

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aber doch mit den Tabletten und einem Glas Wasser in der Hand im Badezimmer. Nur durch den Zufall der Rückkehr ihrer Pflegerin wird die verwirrte Frau, die gar nicht weiß, was sie tut, daran gehindert, sich zu töten. Am Ende wird Alice von ihrer jüngsten Tochter Lydia gepflegt, die keine so ambitionierte akademische Karriere anstrebt, wie Alice sie für sich und sie gewollt hat. Die äußerlich wenig erfolgreiche, aber zur Empathie fähige Schauspiel-Schülerin ist es, die nach New York zurückkehrt und Alice vor der Vereinsamung und der Unterbringung in einem Pflegeheim bewahrt. In der Beziehung zu ihr wird Alice nicht auf ihr Gedächtnis und ihre kognitiven Fähigkeiten reduziert. Lydia ist die einzige, die Alice danach fragt, wie es sich anfühlt, mit der Krankheit zu leben, und auf die Bilder, die Alice dafür findet, antwortet: »Das klingt furchtbar« (TC: 00:58:16). Im Verhältnis zu ihr kann Alice sich auch als Demenz-Kranke angenommen fühlen und trotz des schwer erträglichen Bruchs mit der Selbstkontinuität ihren Lebensmut bewahren. Dabei erweist sie sich als unverändert liebesfähig. Lydia spricht mit ihrer Mutter, nicht über sie, sie liest ihrer Mutter Geschichten vor, die Alice, wenn auch nicht textsemantisch, so doch atmosphärisch nach wie vor versteht. Im Gegensatz zu Lydia kann der Ehemann John (Alec Baldwin), eine Koryphäe der medizinischen Forschung, der seine Frau ihrer Intelligenz wegen liebt, ihren geistigen Verfall nicht ertragen. Er kommt immer seltener von der Arbeit nach Hause, vertieft sich sogar in den Ferien in seine Studien, plant die Zukunft in Gesprächen mit den erwachsenen Kindern über den Kopf der kranken Ehefrau hinweg und nimmt schließlich freudig die Gelegenheit zu einem Karrieresprung in eine weit entfernt gelegenen Stadt wahr, statt, wie Alice es wünscht, ein Forschungsjahr zu beantragen, um es mit ihr zu verbringen. John erträgt nicht, dass Alice nicht mehr ist, was sie einmal war. Ihr Leiden passt nicht in seine vom Vertrauen auf Machbarkeit geprägte Welt. Er wehrt sich lange gegen ihre medizinischen Befunde. Es ist auch seine Kontinuitätserwartung, die das Zusammenleben zunehmend erschwert. Als er merkt, dass er Alice keinen Umzug in eine andere Stadt mehr zumuten kann, lässt er sie – in Lydias Obhut – in New York zurück. Wenn Alzheimer auch als Beziehungsgeschehen aufgefasst werden kann, dann lässt die Krankheit hier eine bisher glückliche Intellektuellen-Ehe an einem rationalistisch verkürzten Begriff des Selbst scheitern, den John nicht aufzugeben oder zu erweitern gewillt ist. Alice hingegen, die sofort nach BekanntWerden der Diagnose vom Dekan ihrer Fakultät gezwungen wurde, ihren Beruf aufzugeben, hat keine andere Wahl, als sich neue Ziele zu stecken: Sie will die Geburt der Zwillinge ihrer großen Tochter Anna noch erleben, in der Nähe von Kindern und Enkeln bleiben, Lydias Entwicklung zur Schauspielerin mitverfolgen, ihren Sohn sich dauerhaft binden sehen. Ihre verbleibenden Wünsche richten sich auf die Glücksmöglichkeiten ihrer Kinder und ihre eigenen Chancen, an ihnen teilhaben zu dürfen. Was ihr bleibt, sind die familiären Beziehungen, die auf emotionaler Nähe, nicht auf intellektueller Brillanz und symbolischem Kapital beruhen. Außerhalb der Familie kämpft Alice mit Gefühlen der Scham:

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»Jede Verabredung birgt fortan die Gefahr, sich zu blamieren«,80 weil sie Termine, Namen, Wörter, Wissensinhalte und Argumentationsverläufe vergisst. Ein gesellschaftliches Umfeld wie das einer teuren amerikanischen Elite-Universität ist da gnadenlos. Alice verliert ihren Arbeitsplatz, die Berufsrolle und damit ihre soziale Identität. Nur der Mut, als Betroffene auf einem Kongress der AlzheimerGesellschaft über ihre Krankheit zu sprechen und sich dabei vom vorbereiteten Manuskript zu lösen, verschafft ihr noch einmal einen glänzenden Erfolg.81 Als sie dazu noch in der Lage ist, sagt sie zu ihrem Mann: »Warum konnte ich nicht Krebs kriegen? […] Dann bräuchte ich mich deswegen nicht so zu schämen. […] Wenn jemand Krebs hat, dann tragen die Menschen rosa Schleifen, organisieren Läufe« (TC: 00:36:35). Die Alzheimer-Kranke hingegen sieht sich rasch mit Ausgrenzung konfrontiert,82 was zu weiterem sozialen Rückzug führt – ein Teufelskreis, den auch der Sohn und die pragmatische Tochter Anna, der Alice die Krankheit zu ihrem Leidwesen vererbt hat, nicht durchbrechen. Die Beziehung zu Lydia hingegen vertieft sich durch die Erkrankung von Alice. Lydias Interesse für Kunst, Literatur und Theater, ist ein Interesse an Menschen. Das genau befähigt sie, die behinderte Mutter in ihrem Anderssein wahrzunehmen und zu lieben. Im Maße, wie Alice das spürt, kann sie ihrerseits Lydia in ihrer Eigenart annehmen und auf dem von ihr gewählten Weg unterstützen, obwohl es nicht der ist, den Alice sich für sie gewünscht hat. Beide Frauen wachsen durch die Krankheit über sich hinaus. »Liebe« (TC: 01:34:22), das letzte Wort, das Alice spricht, ist an Lydia gerichtet, ein tröstlicher Schluss. Doch jeder, der die Krankheit kennt, weiß: Sie schreitet auch über dieses Stadium noch hinweg. Selbstverständlich war das auch dem Regisseur bewusst. Richard Glatzer, der den Film mit seinem Lebensgefährten Wash Westmoreland gemeinsam produzierte, litt an Amytropher Lateralsklerose, einer chronischen Erkrankung des motorischen Nervensystems. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten war er bereits schwer krank. Die Schauspieler musste er mit einer Sprach-App leiten.83 Glatzer starb kurz nach Verleihung des Oscars an die Hauptdarstellerin Julianne Moore für die Rolle der Alice am 10. März 2015 in Los Angeles. Man darf davon ausgehen, dass er wusste, was er dreht. 80 | Kaspar Heinrich: Alzheimer-Film Still Alice. Warum nicht einfach Krebs?, in: Spiegel Online, 5. März 2015, http://www.spiegel.de/kultur/kino/julianne-moore-in-still-alicegrossartiger-auftritt-a-1021406.html [Zugriff: 30.09.2015]. 81 | Seit Mia Farows berühmter Performance in Robert Allan Ackermans Forget Me Never (dt. Der Schrecken des Vergessens, CDN/US 1999) sind Wortfindungsstörungen bei einer Universitätsvorlesung ein Topos des amerikanischen Kinos. Alices erfolgreich improvisierte Rede auf dem Alzheimer-Kongress ist eine Kontrafaktur dazu. 82 | Vgl. Jane M. Scholl, Steven R. Sabat: Stereotypes, stereotype threat and ageing: implications for the understanding and treatment of people with Alzheimer’s disease, in: Ageing & Society 28 (2008), S. 103-130. 83 | Vgl. Kilb: Der Schmetterling sagt dir, wenn es Zeit ist zu gehen [online].

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D ie R ichtigkeit des V erkehrten : H onig im K opf Eine private Lösung des Pflegeproblems bietet auch Til Schweigers Kinofilm Honig im Kopf an. Der Film, eine Genre-Mischung aus »Alzheimer-Roadmovie« mit »Comedy-Einlagen«84 und Familienmärchen, hat Andreas Kilb zu dem Generalverriss veranlasst: In Til Schweigers Honig im Kopf sind alle Klischees zusammengeführt, mit denen man einen gesellschaftlichen Notstand zum Familienidyll entstellt: der nette Opa […], bei dem der Rappel im Kopf die Reiselust weckt; die süße Enkelin, die ihn auf seinem Trip begleitet; ihre Eltern, die ihre Ehekrise dabei bewältigen; das Herzversagen, das den Kranken und uns von seiner Krankheit erlöst. 85

Der Film ist aber vielschichtiger, als dieses Urteil suggeriert. Til Schweiger stellt in ihm selbst den Sohn dar, der seinen an Alzheimer erkrankten Vater zu sich nimmt, ohne die Komplikationen vorherzusehen, die das mit sich bringt. Amandus, der demente Alte – von Dieter Hallervorden stur, charmant, verletzlich, schlagfertig gespielt –, erfüllt Normen gegen ihren Sinn, bringt Haus und Garten durcheinander, demoliert versehentlich mehrere Autos, brennt beim Versuch zu kochen fast das Haus ab und sprengt ein Gartenfest seiner Schwiegertochter durch ein zu früh gezündetes Feuerwerk. Als er schließlich sogar in den Kühlschrank uriniert, ist das Maß für die schon durch ihre Ehekrise nervlich strapazierte Sarah (Jeanette Hain) voll: Der Alte soll ins Heim. Das aber verträgt die Tochter, die elfjährige Tilda (Emma Schweiger) nicht. Sie »findet den Opa lustig und anarchisch«.86 Was ihre Eltern, besonders die Mutter, als Normbrüche, Störungen der Routine und Gefahren erleben, bringt Abwechslung in ihr Leben als von berufstätigen Eltern vernachlässigtes Schlüsselkind. Im Gegensatz zu ihnen, die mit beruflichen Terminen und ihrer krisenhaften Beziehung beschäftigt sind, ist der Opa immer für sie da. Zwischen Amandus und Tilda entsteht eine liebevolle Beziehung, weil sie sich in den dementen Alten hineinversetzt, von ihrem Arzt über das Krankheitsbild aufklären lässt und dessen Hinweis, dass auch ein Alzheimer-Patient zum Erhalt der verbliebenen Ressourcen Aufgaben braucht, ernst nimmt. Die Vorschläge ihrer Mutter hingegen gehen über unüberlegte Beschäftigungstherapie wie Heckenschnitt nicht hinaus. Im Gegensatz dazu denkt

84 | Stephan Maus: Dieter Hallervorden und Til Schweiger. Ziemlich beste Feinde, in: Der Stern, 30. Dezember 2014, http://www.stern.de/kultur/film/-honig-im-kopf---til-schweiger-und-dieter-hallervorden---ziemlich-beste-feinde-3475276.html [Zugriff: 30.09.2015]. 85 | Kilb: Der Schmetterling sagt dir, wenn es Zeit ist zu gehen [online]. 86 | Anke Westphal: Opa soll nicht weg. Honig im Kopf, in: Frankfurter Rundschau, 23. Dezember 2014, http://www.fr-online.de/film/-honig-im-kopf--opa-soll-nicht-weg, 1473350,29413886.html [Zugriff: 30.09.2015].

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Tilda ernsthaft über Möglichkeiten sinnvoller »Alterszeitnutzung«87 nach und verschafft ihrem Opa eine neue Aufgabe als ihr Reisebegleiter. Weil sie weiß, dass er seine Hochzeitsreise mit seiner verstorbenen Frau Margarethe nach Venedig gemacht hat, bricht sie heimlich mit ihm zu einer Fahrt in die italienische Lagunenstadt auf. Damit beginnt die Abenteuerreise des rührenden Paares, bei der die Elfjährige, selbst wenn der Opa in die Hose macht, nicht überfordert ist und immer wieder geschickt der Fahndungspolizei ausweicht. Das Paar reist mit diversen Verkehrsmitteln, überquert Alpenpässe, campiert nachts in den Bergen und gelangt dank märchenhaft freundlicher Helfer tatsächlich ans Ziel. Im Maße, wie der Film sich zum Roadmovie entwickelt, steht die übertriebene räumliche Weite im Kontrast zur Enge des Zeitfensters, das Amandus für ein bewusstes Leben noch bleibt. In Venedig angekommen, muss Tilda dann aber die erschütternde Erfahrung machen, dass ihr Opa sie nicht mehr erkennt. Gerade noch rechtzeitig, bevor der lustvolle Autonomiegenuss in tragische Verlorenheit kippt, finden die den Ausreißern nachgeeilten Eltern Tilda und Amandus in Venedig wieder, nachdem sie unwissentlich mit ihnen im selben Hotel übernachtet und beim Wiedergutmachungssex Tildas Bruder gezeugt haben. Die Kooperation aus geteilter Sorge hat nicht nur das zerstrittene Ehepaar, sondern die ganze Familie wieder zusammengeführt und am Schluss sogar um ein zweites Kind bereichert. Tildas Fürsorge für den Opa reicht bis ans Bett des Sterbenden, umgekehrt verliert er bis zum Schluss die Fähigkeit nicht, sie seiner Liebe zu versichern. Am Schluss kann Tilda seiner Beerdigung fern bleiben, weil er in ihr weiterlebt, und sich beim Blick in den Himmel der Begleitung ihres Opas von oben weiterhin sicher sein: ein hoffnungsvolles Bild für intergenerative Liebe über den Tod hinaus. Honig im Kopf ist »eine schöne Tragikomödie, die so allerdings nur funktionieren kann«, weil die Elterngeneration, die im Grunde versagt, »in die zweite Reihe zurücktritt zugunsten der innigen Verbindung zwischen einem Kind und seinem Großvater«.88 Diese Regie-Entscheidung hat zur Folge, dass wir das krankheitsbedingt veränderte Verhalten von Amandus oft mit den Augen der von ihm faszinierten Enkelin sehen, die sich an den kritischen Blicken der Eltern – besonders der Mutter – vorbei mit ihm verbündet und dabei eine Gegenwelt errichtet, von der aus die ›Normalität‹ der Eltern, ihr anspruchsvoller Lebensstil, ihre Seitensprünge und ihr Zeitmanagement, als die wahre Gefahr für die Familie erscheinen, nicht die Fehlleistungen von Amandus, die ihm selbst gar nichts ausmachen. Die Härten der fortgeschrittenen Krankheitsstadien, »Pflegenotstand, Heimrealität, Aggression und Verzweiflung«,89 spart der Film allerdings aus, er gewinnt der Alzheimer-Krankheit im Gegenteil viele komische Effekte ab. Ausgespielt wird vor allem die Frühphase der Demenz, die von Vergesslich87 | Hermann Lübbe: Zeit im Alter, in: Friedrich W. Graf (Hg.): Über Glück und Unglück des Alters, München 2010, S. 19-39, hier S. 29. 88 | Westphal: Opa soll nicht weg [online]. 89 | Hugendick: Ich vergisst sich [online].

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keit, Orientierungslosigkeit, dem Schwinden alltagspraktischer Fähigkeiten und Wortfindungsstörungen gekennzeichnet ist. Letztere geben Anlass zu Missverständnissen, Namensverwechslungen, Sprachwitz und unfreiwilliger Komik. Dass Amandus sich ausgerechnet den Namen seiner Schwiegertochter Sarah nicht merken kann – er nennt sie ständig Sandra – ist Folge davon, dass sie ihn ablehnt. Die anzüglichen Witze, die Amandus noch erzählen kann, und die versuchten Flirts mit weiblichen Fernsehstars setzen eine Alterserotik in Szene, die selbst während der Zugfahrt nach Venedig, als Amandus sich ins Abteil einer schlafenden Dame verirrt, harmlos bleibt – er hat sie ja nur mit seiner Frau verwechselt. Die Aufheiterung des Familiendramas durch komische Szenen wie diese und durch Aspekte der verkehrten Welt – ein Kind wird zum Führer und Beschützer seines Opas – ist nicht nur negativ zu werten. Die Komödie, auch die Filmkomödie, lebt von Figurentypen und der Vorhersehbarkeit ihres Rollenhandelns. Sie ihr als klischeehaft vorzuwerfen, heißt, aus der Komödie ein Problemstück machen zu wollen. Zudem gehen Schweigers Figuren in den Typisierungen nicht ganz auf. Amandus erscheint zuweilen zwar als Lustgreis – so wenn er der Nonne, der er mit Gurken-Witzen schon die Schamröte ins Gesicht getrieben hat, zum Abschied eine Gurke schenken will –, aber als einer, der kein Bewusstsein mehr dafür hat, welche Normen er verletzt. Die Demenz hat aus ihm ein körpernahes Sinnen-Ich gemacht, das Liebe sucht, aber auch Liebe zu verschenken hat. Weil die Enkelin dafür offener ist als die mittlere Generation, entstehen zwischen ihr und ihrem Opa märchenhaft schöne Momente der Nähe, des Verstehens, des natürlichen Umgangs mit dem Körper und der Lebenslust, wie man sie DemenzKranken nur wünschen kann. Sie werfen ein kritisches Licht auf die Normativität der mittleren Generation: Nicht der behinderte Opa ist das Problem, sondern die Erwachsenenwelt, die für Umgang mit Demenz weder Zeit hat noch Raum lässt. Erst als ihnen das bewusst wird, entwickeln Tildas Eltern die Fähigkeit, die Bereicherung wahrzunehmen, die das Leben mit dem skurrilen Opa mit sich bringt.90 Schweigers Filmkomödie plädiert für die Aufrechterhaltung der Beziehungen auch beim Auftreten der Alzheimer-Krankheit, jede Form der Ausgrenzung und Abschiebung der Betroffenen wird verworfen, nicht nur innerhalb der Familie, auch im öffentlichen Raum. Das wird beispielsweise in der nahezu utopischen Szene deutlich, in der der Restaurantbesitzer dem Gast, der sich beschwert, die Tür weist, nicht dem Alten, der die Benimmregeln unserer Zivilisation nicht mehr beherrscht. Die Botschaft lautet: »Behandelt die Alzheimer-Kranken immer auch wie Menschen, die ihr möglicherweise selbst später seid.«91 Das setzt die Bereitschaft voraus, mit Verhaltensnormen und sozialen Codes flexibler umzu90 | Wie Paulette in Pauline & Paulette erst, nachdem sie ihre geistig behinderte Schwester ins Heim gebracht hat, bemerkt, wie sehr das Zusammenleben mit Pauline ihren Alltag bereichert hat. 91 | Westphal: Opa soll nicht weg [online].

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gehen. Dass sie ihrem Opa im Zugabteil die nasse Hose ausziehen muss, bereitet Tilda keine Schwierigkeiten, es ist für die Reisenden, die sie dabei beobachten, ein Problem. »Scham – ein zentrales Thema in Still Alice – existiert hier lediglich in Form wohliger Fremdscham.«92 Bei Szenen wie dieser die heikle Balance zwischen Heiterkeit und Ernst gehalten und die Würde des Kranken nie verletzt zu haben, ist eine Leistung von Schweigers Regie. Das ist sicher auch dem Umstand geschuldet, dass nicht nur er, sondern auch die Co-Drehbuchautorin Hilly Martinek und der Hauptdarsteller Dieter Hallervorden zum Zeitpunkt der Dreharbeiten selbst schon Erfahrungen mit Alzheimer-Kranken im engsten Familienkreis gemacht hatten. Ökonomische Probleme, langsames Sterben und schwierige ethische Fragen wie die nach Recht auf Suizid oder aktiver Sterbehilfe werden uns in Schweigers Filmkomödie allerdings erspart. Dass schließlich doch Amandus’ Überführung in ein Pflegeheim nötig wird, teilt Tildas Off-Stimme nur noch beiläufig mit – wie auch die Spätphase von Amandus’ Krankheit im Zeitraffer erzählt und alles Quälende dabei weggelassen wird. Während Kleinert das Problem der Betreuung eines Dementen durch eine Pflegeperson allein bis zum Todeswunsch steigert, bietet Til Schweiger in Honig im Kopf allerdings eine wertkonservative Lösung an. Der Film suggeriert, dass das Altern, auch eines Demenz-Kranken, zu bewältigen sei, wenn die Familie zusammenhält. Er plädiert für das Drei-Generationen-Haus und häusliche Pflege. Dabei entwickelt er aber kein tragfähiges Modell der Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Pflegeaufgaben, sondern kehrt – und das ist ein stereotypes Rollenmodell – zur alten Verteilung der Geschlechtsrollen zwischen Mann und Frau zurück. Voraussetzung für die Integration des dementen Opas in die Familie ist, dass die Schwiegertochter ihren Beruf aufgibt und ins Heim zurückkehrt, um Zeit für die Kinder und den Opa zu haben. Der Sohn ist fein raus und braucht an seinem strapaziösen Manager-Leben nichts zu ändern. Selbstverständlich führt die Übernahme von Verantwortung und Solidaraufgaben im Generationenverhältnis nicht notwendig zum Verlust des guten Lebens. Familienharmonie wird hier aber in einer Form rekonstruiert, die hinter den Modernisierungsprozess und die mit ihm verbundene Veränderung der innerfamiliären Arbeitsteilung zurückfällt. Die Erweiterung von Spielräumen des Alterns wird mit der Einschränkung der Autonomie und der beruflichen Selbstverwirklichung der Frau bezahlt. Vorhersehbare Konflikte werden dadurch vermieden, dass die bisher hysterisch übererregte, von jedem Fehler des störrischen Schwiegervaters überforderte Sarah das Opfer, ihre Stelle aufzugeben, freiwillig bringt und plötzlich auch Talent zeigt, mit ihm umzugehen. Die Gefahr, dass sie mit ihrer Entscheidung in eine ›Pflegehölle‹ geraten könnte, besteht hier selbstverständlich nicht, da die Familie über schier unerschöpfliche finanzielle Ressourcen verfügt und sich selbstver-

92 | Hugendick: Ich vergisst sich [online].

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ständlich eine Pflegekraft leisten kann.93 Der Film erzählt nicht nur die Geschichte der Integration eines dementen Opas in die Familie des Sohnes, sondern auch die der Heilung einer kranken Ehe durch ein kluges Kind. Er setzt dabei auf die Lernfähigkeit der Erwachsenen und letztlich doch tragende Liebe zwischen den Gatten und den Generationen.

G abe der L iebe oder G if t ? D ie A uslöschung Der österreichisch-deutsche Fernsehfilm Die Auslöschung von Nikolaus Leytner zeigt uns ein altersdifferentes Paar, das in die ›Pflegefalle‹ gerät. Die von unverbindlichen Liebschaften enttäuschte Restauratorin Judith Fuhrmann (Martina Gedeck) ist von der Intelligenz, dem Witz, dem Wissen, der Rhetorik, dem Sozialstatus und dem Lebensstil des berühmten Wiener Kunsthistorikers Ernst Lemden (Klaus-Maria Brandauer) fasziniert und lässt sich trotz des Altersunterschieds von gut zwanzig Jahren auf eine Liebesbeziehung mit ihm ein. Doch schon bald zeigt sich, dass die Bereitschaft des erfolgsverwöhnten Lebemanns, sich an sie zu binden, mit Veränderungen in seinem Körper zusammenhängt, die ihn verunsichern. Erste Anzeichen seiner Verwirrung treten bei der Taufe seines Enkels auf. Ernst verliert schon auf der Fahrt zum Fest die Orientierung, verlegt das Taufgeschenk, sucht bei der Festrede nach Worten, macht seltsam unpassende Witze über die Vorteile der Demenz und wünscht dem Neugeborenen – oder sich selbst? –, bei seinem Tod so sorglos zu sein wie bei seiner Geburt. Was die Gäste für eine makabre Marotte des exzentrischen Kunstkenners halten, weckt beim Zuschauer den Verdacht, dass der Redner mehr mit sich selbst als mit dem Kind beschäftigt ist und darüber den Sinn für situationsadäquates Verhalten zu verlieren beginnt. Sein starrer Blick und das neblig verschwommene Bild der Umgebung signalisieren Störungen seines optischen Wahrnehmungsvermögens. In der Nacht hat Ernst einen Alptraum, der, wie er Judith erzählt, mit der Erinnerung an ein traumatisches Kindheitserlebnis zusammenhängt: Ihm wurde als Kind eine lebende Fliege in ein Nasenloch gesteckt. Seither löst das Summen von Insekten bei ihm Panik aus. Monate später, nachdem das Paar in einer luxuriösen neuen Wohnung zusammengezogen ist, verstärken sich die Symptome. Judith findet seine Brille im Kühlschrank. Während die Wohnräume schon eingerichtet sind, steckt seine Privatbibliothek noch in Kisten. Ernsts Bücher dürfen von Judith nicht angerührt werden, weil sie »die Außenstellen seines Gehirns« (TC: 00:23:00) sind. Er muss sie selbst einsortieren, um genau zu wissen, wo jedes Buch steht, kann sich dazu 93 | Geld spielt auch in der Schweizer Industriellenfamilie des auf Martin Suters Kriminalroman basierenden Films Je n’ai rien oublié (dt. Small World, D/F 2010) von Bruon Chiche keine Rolle. Hier wird für den als Kind vertauschten, jetzt dementen Konrad Lang (Gérard Depardieu), dessen Erinnerungen die Familie fürchtet, kurzerhand eine Privatklinik mit eigenem Pflegepersonal errichtet.

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aber offenbar nicht entschließen. Schon an dieser Stelle geht ein Scherenschnitt seines Profils in ein Röntgenbild seines Gehirns über: ein bildliches Zeichen für den Beginn medizinischer Diagnostik. Bei der Einweihungsparty mit seinen erwachsenen Kindern kommt es zum Streit mit dem Sohn Theo, weil Ernst eine Spieluhr seiner verstorbenen Frau, für Sohn und Tochter ein Erinnerungsstück an die Mutter, weggegeben hat. Wollte er die neue Beziehung nicht mit Erinnerungen an seine Ehe belasten oder hat er kein Gespür für die Gefühle seiner Kinder mehr? Der Uhrentest beim erneuten Arztbesuch bestätigt dann den Verlust des räumlichen Vorstellungsvermögens und damit die Diagnose Alzheimer. Nun tut Ernst, was Intellektuellen naheliegt, er recherchiert: Erscheinungsformen, Therapiechancen und Verlaufsprognosen der Krankheit. Darüber vergisst er selbst so wichtige Termine wie die Sponsionsfeier seines Sohnes. Als er dort schließlich doch noch erscheint, erkennt er einen langjährigen Kollegen nicht mehr, weist aber auch zugeflüsterte Erinnerungshilfen Judiths wutentbrannt zurück: »Ich brauch’ keine Einflüsterfrau!« (TC: 00:45:17) Was von ihrer Seite als Hilfe beim sozialen Rollenspiel gedacht war, wird von ihm als kränkende Bevormundung empfunden. Mehr und mehr führt der Fortschritt der Krankheit zu sozialem Rückzug, Isolation des Paares, depressiver Verstimmung, Verwahrlosung und Aggressivität von Ernst, schließlich zur freiwilligen Abtretung seiner Rechtsfähigkeit an die Partnerin. Aus gegenseitiger Liebe wird eine einseitige Fürsorge-Beziehung, eine Betreuungskonstellation auch im rechtlichen Sinn. Dass sich mit dieser Entwicklung auch Judiths Zukunftsperspektiven verdunkeln, schlägt sich unter anderem in der Wahl der Kleiderfarben nieder: Sie, die durch ein enges dunkelrotes Kleid Ernsts ersten Blick auf sich gezogen hatte, trägt jetzt Schwarz und Blau. Trotzdem verteidigt sie auf den Vorwurf der Freundin hin: »Merkst du das überhaupt, dass du nur noch sein Leben lebst?« (TC: 00:41:12) dieses Leben noch als das ihrige. Judith ist bereit, ihrem kranken Partner auch weiterhin liebevoll beizustehen, und empfindet selbst die Pflegebeziehung als bereichernd. Immerhin kann Ernst sein Erleben der Demenz in dieser Phase noch beschreiben: als Blick durch einen Vorhang mit Lochstickerei. In lichten Momenten kokettiert er sogar »mit der baldigen geistigen Absenz«, indem er vortäuscht, Judith nicht erkannt zu haben.94 Zur Krise kommt es erst, als er die Partnerin in die Vorsorge für seinen Tod einbeziehen will. Schon im Anfangsstadium der Krankheit hatte er im Büchergestell ein Döschen Gift hinter einem Band seiner Seneca-Ausgabe versteckt und auf einem Merkzettel »Seneca bringt Erlösung« (TC: 00:34:07) notiert. Jetzt lässt er seine Gefährtin wissen, dass er die »gnädige Schwelle« (TC: 00:50:06), von der an man »vergisst, dass man vergisst« (TC: 00:50:10), nicht überschreiten möchte, bittet also um Respekt für seinen Wunsch nach einem selbstbestimmten Tod oder um Beihilfe zum Suizid. Diese 94 | Irene Bazinger: Im Fernsehen: Die Auslöschung. Vergiss mein nicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Mai 2013, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/im-fernsehen-die-ausloeschung-vergiss-mein-nicht-12174609.html [Zugriff: 30.09.2015].

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Zumutung weist sie empört zurück: »Mach’ das bitte nicht mit mir!« (TC: 00:50:17) Judith distanziert sich auch räumlich, indem sie die gemeinsame Wohnung verlässt – allerdings nur, um nach einer im Atelier verbrachten Nacht zurückzukehren. In dieser Phase will Ernst sterben, weil er sich nicht als das annehmen kann, was die Krankheit aus ihm macht, weil er an einem Ich-Ideal festhält, das zu seiner jetzigen Lebenslage nicht mehr passt. Ein Leben ohne Selbstbestimmung scheint ihm nicht mehr lebenswert. Zweieinhalb Jahre später – der Film markiert die Zeitsprünge durch Schwarzblenden und genaue Angaben der verstrichenen Zeit – findet Judith den Merkzettel in Ernsts Brieftasche und das Gift im Büchergestell, kann sich aber nicht entschließen, es zu vernichten. Ihr Partner kriecht inzwischen mit seinem Enkel am Boden herum, sieht auf seinem Lieblingsbild Der Maler Hans Burgkmair und seine Frau Anna von Lukas Furtenagel vor allem die Knochenmänner im Spiegel und verlangt nach der Gesellschaft von Tieren, Kälbchen und Hasen. Wieder eineinhalb Jahre später sitzt er im Rollstuhl und wird von Judith offenbar gewohnheitsmäßig zu Tieren auf einen Bauernhof gebracht – eine Form des Umgangs mit fortgeschrittener Demenz, die auch Walter Jens geholfen hat. Statt ihn zu beruhigen, versetzen die Tierlaute um den Hof Ernst jedoch wieder in Panik. Seine Reaktionsweisen werden immer unberechenbarer. Judith findet ihn schließlich vergraben im Stroh. Zurück in der Wohnung bringt sie ihn wie ein Kind ins Bett, wobei sich ein Dialog aus kalauernden Reimspielen wie »Gute Nacht« – »Und ich scheiß’ ins Bett, dass es kracht« (TC: 01:21:12) oder: »Bonna notte« – »liebe Lotte« (TC: 01:21:28) entwickelt. Zu dieser floskelhaften Form verbaler Kommunikation ist Ernst noch auf Deutsch, Italienisch und Englisch fähig. Neben Kinderreimen, die er noch abrufen kann, zeigen sich hier Reste seines einstigen Bildungshorizonts und seines Sinns für Klangfiguren der Sprache. Während Judith durch die Fernseh-Sender zippt und dabei Bilder von Extremsportarten sieht, schläft Ernst im ehemals gemeinsamen Schlafzimmer ruhig ein. Die Kamera zeigt sie später mit offenen Augen auf einer Couch liegend, neben sich ein Baby-Phone. Als das Baby-Phone in dieser Nacht zum ersten Mal Geräusche meldet, findet Judith Ernst dem Irrsinn nahe, in einer Ecke des Wintergartens auf dem Boden kauernd, tierische Laute ausstoßend, unter denen nur »Weg da!« (TC: 01:22:33) zu verstehen ist. Er wird gequält von Halluzinationen und Verfolgungswahn. Das Fliegentrauma seiner Kindheit scheint ihn erneut gepackt zu haben. Sein Tag-Nacht-Rhythmus ist gestört. Dieses Mal gelingt es Judith noch, ihn wieder zu beruhigen. Nachdem sie zum zweiten Mal von Lärm aus dem Baby-Phone aufgeschreckt worden ist, sieht sie, wie Ernst aufgebracht in seiner Bibliothek herumirrt und Bücher aus den Regalen wirft, offenbar auf der Suche nach etwas, das er nicht findet. Dabei verwüstet er sein früher sorgsam gehütetes externes Gedächtnis. Der Dialog, der sich jetzt zwischen den beiden entspinnt, ist für den Beitrag des Films zur ethi-

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schen Diskussion um Sterbehilfe95 entscheidend: »Was machst du da?«, fragt Judith. »Ich suche.« »Was?« »Ich suche.« »Sag mir, was du suchst? Sag’s mir! Was suchst du?« (TC: 01:23:06) Bei der dritten Wiederholung ihrer Frage, steht Ernst vor seiner Seneca-Ausgabe. Durch die Position seines Körpers im Raum weist er sie auf die Stelle hin, auf die es ankommt. Die Großaufnahme seines Gesichts zeigt ihn mit weit aufgerissenen Augen. Mit stärkerem Nachdruck fragt Judith erneut: »Was suchst du?« (TC: 01:23:22), wird dabei sogar handgreiflich, indem sie Ernst an der Schulter rüttelt. Schuss-Gegenschuss-Großaufnahmen der Gesichter betonen den intensiven Blickkontakt. Ernst schaut jetzt nicht mehr ins Leere, sondern fokussiert seine Lebensgefährtin. Sie weicht diesem Blick nicht aus. Das suggeriert eine Verständigung über Blicke. Ernst spricht kein Wort, teilt Judith aber non-verbal mit, dass er das hinter den Seneca-Bänden versteckte Gift sucht, das sie inzwischen anderswo deponiert hat. Damit hat er ihr implizit seinen Todeswunsch mitgeteilt. Verpflichtet sie das dazu, seinen Wunsch nach einem selbstbestimmten Tod zu erfüllen, oder nicht eher dazu, die potentielle Selbstschädigung durch Ablenkung zu verhindern? Die nächste Szene zeigt Judith allein in der Küche beim Kochen eines Grießbreis. Dabei wird – erst unscharf, dann scharf – das leere Gefäß eingeblendet, das das Gift enthielt. Ernst sitzt währenddessen im Zimmer nebenan seitlich am Esstisch, die Kamera zeigt ihn von der Küche abgewendet im Profil. Im Gegensatz zum Zuschauer sieht er nicht, dass Judith das Gift in seinen Grießbrei rührt. Als sie den gefüllten Teller vor ihn auf den Tisch stellt, schaut er zu ihr auf und verfolgt sie mit Blicken. Sie setzt sich schweigend ihm gegenüber an die entfernte andere Schmalseite des Tisches und überlässt ihm die Entscheidung, ob er essen will. Er dreht sich zum Tisch, richtet erneut den Blick auf sie und beginnt zu essen. Nach seinem ersten Löffel senkt sie ihren Blick. Dann fragt sie aufschauend mit unsicherer Stimme: »Gut?« (TC: 01:25:01) Als Antwort sieht er sie lange schweigend an, um die Mundpartie zeigt sich die Spur eines Lächelns. Das kann als Zustimmung zu ihrem non-verbalen Angebot, sein Leben mit dem Brei zu beenden, gedeutet werden, aber auch nur heißen, dass der Brei ihm schmeckt. In der Phase der Demenz, in der Ernst sich befindet, sind normalerweise keine Entscheidungen, »die nicht der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung oder Abwehr negativer Reize dienen«,96 mehr möglich. Entschlossen isst Ernst nun rasch seinen Teller leer. Währenddessen huscht ein Lächeln über Judiths eingeblendetes Gesicht. Nach seiner Mahlzeit sieht man den Schatten seines Kopfes als Silhouette an der Wand, nach dem 95 | Bei der 2014 im Bundestag und im Deutschen Ethikrat geführten Debatte hat sich eine klare Mehrheit für das Verbot organisierter Suizidhilfe abgezeichnet. Selbst Ausnahmeregeln für Ärzte bei Sterbenskranken sind in Deutschland stark umstritten. Vgl. Matthias Kamann: Die Sterbehilfe-Debatte ist faktisch schon vorbei, in: Die Welt online, 21.12.2014, http://www.welt.de/politik/deutschland/article135587695/Die-Sterbehilfe-Debatte-istfaktisch-schon-vorbei.html [Zugriff: 30.09.2015]. 96 | Deutscher Ethikrat (Hg.): Demenz und Selbstbestimmung. Stellungnahme, S. 23.

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Schattenriss und dem Röntgenbild ein erneuter leitmotivischer Hinweis, dass nun er zum Schatten wird. Während der ganzen Sequenz ist leise Musik aus einzelnen Klavierklängen zu hören und im Hintergrund ein sirrendes Geräusch wie von einem Fliegenschwarm. Die nächste Einstellung zeigt das Paar vor dem Fernseher auf dem Sofa beim Anschauen einer Videoaufnahme aus der Anfangsphase der Beziehung, die von Judith weinend kommentiert wird. Sie hat ihren Arm um seine Schultern gelegt, er starrt reglos vor sich hin. Als der Regenbogen vom Abend des Tauffests erscheint und beider Stimmen zu hören sind: »Ich glaube jetzt ist es vorbei« »Aber schön war’s« (TC: 01:26:21), wendet sie sich ab. In dem Moment kippt Ernst zur Seite. Judith kann nur noch den Toten küssen. Anfang und Ende der Beziehung wurden damit leitmotivisch verbunden. Das Nachspiel besteht aus folgenden Teilen: Judith öffnet das Fenster und lässt Licht in das verdunkelte Zimmer, Ernsts schönes Glas-Mobile beginnt sich bei Klaviermusik langsam zu drehen. Diese Bilder ästhetisieren das Gewaltsame seines Todes. Dem Anschein nach stirbt Ernst einen schmerzfreien, ›schönen‹ Tod in den Armen seiner Geliebten. Das Problem ist nur, dass es kein natürlicher Tod ist. Wurde Ernst von seiner Geliebten ›zu Tode geküsst‹? Immerhin ist sie eine Namensschwester jener alttestamentarischen Judith, die dem Feldherrn Holofernes zur Rettung ihrer Heimatstadt mit seinem eigenen Schwert den Kopf abschlägt.97 Oder wird Ernst mit Judiths Hilfe von einem unerträglichen Leiden erlöst? Ist ihre Tat ein Liebesbeweis oder Liebesverrat, Tötung auf Verlangen oder Beihilfe zum Suizid als Gnadenakt,98 für den sie sogar eine Haftstrafe riskiert? In der Frühphase der Krankheit hat Ernst seinen späteren Todeswunsch antizipiert und seinen Willen zu sterben, wenn er den Verstand verlieren sollte, klar zum Ausdruck gebracht.99 Zu diesem Zeitpunkt erlebt er die Demenz nicht nur als Verlust seiner Identität und Autonomie, sondern auch als narzisstische Kränkung. Inzwischen sind aber viele Jahre vergangen. Jetzt scheint Ernst mehr unter Wahnvorstellungen und wiederkehrenden Panikattacken als unter Selbstverachtung und sozialer Scham zu leiden. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist inzwischen stark eingeschränkt. Vom Endstadium der Alzheimer-Krankheit ist er allerdings noch entfernt. Er hat keine körperlichen Schmerzen und wird von seiner Gefährtin liebevoll umsorgt. Verlangt er in der Bibliotheksszene von ihr trotzdem ausdrücklich 97 | Vgl. Buch Judith (1-16). Die Luther-Übersetzung ordnet es den apokryphen Schriften des Alten Testaments zu. Vgl. Emil Kautzsch (Hg.): Die Apokryphen und Pseudoepigraphen des Alten Testaments, Bd. 1: Die Apokryphen des Alten Testaments, Darmstadt 1994, S. 148-164. 98 | Das israelische Regie-Duo Tal Granit und Sharon Maymon steigert das Thema in Am Ende ein Fest (ISR/D 2014) bis zur »Sterbehilfe-Groteske« (Ursula März: Halb totgelacht, in: Die Zeit, Nr. 39, 24. September 2015, S. 48). 99 | Volker Gerhardt verteidigt in seinem »Sondervotum« zur Stellungnahme des Deutschen Ethikrats (Demenz und Selbstbestimmung, S. 101-106) das Recht des Menschen auf einen selbstbestimmten Tod.

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und ernsthaft Beihilfe zum Suizid? Hat sie inzwischen die Bereitschaft entwickelt, diesem Wunsch entgegenzukommen, oder verhilft sie ihm zum Tod, um ihrem Eingesperrt-Sein in der ›Pflegehölle‹ zu entkommen? Eindeutig ist, dass sie seine Gesten und Blicke im Bücherzimmer als Suche nach dem Gift und Absicht, es zu nehmen, versteht und sich daraufhin zur Hilfeleistung entschließt. Sie stellt das todbringende Mittel bereit und überlässt ihm die Entscheidung, es zu nutzen oder nicht. Dabei unterstellt sie aber, dass der demente Mann sich an die vorausgegangene Auseinandersetzung noch erinnern und den Zusammenhang mit ihr auch nach mehr als zehn Minuten noch herstellen kann, obwohl der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses doch zu den ersten Symptomen der Krankheit gehört. Auch die Fähigkeit zum logischen Schließen vom Brei auf dem Tisch auf ihre für ihn verdeckte Handlung in der Küche setzt sie voraus. Sollte Ernst, in einem lichten Moment, zu einer lang andauernden, kohärenten, auf logischen Schlüssen beruhenden Kommunikation wie dieser fähig sein, weiß er, was er isst, hat also »Tatherrschaft«. Dann führt er seinen Tod selbstbestimmt herbei. Judith zwingt ihn zu nichts, wartet nur ab, was er tut. Das ist eine private Exit-Situation. Sollte er die vorangegangene Szene inzwischen aber vergessen haben und sich – was wahrscheinlicher ist – aus Appetit auf den Brei stürzen, war ihre Gabe Gift, das ihn tötet. Dann haben wir es nach deutschem Recht mit der Straftat Tötung auf Verlangen oder Tötung durch Unterlassen notwendigen Schutzes zu tun.100 Vielleicht will Ernst zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr sterben.101 Dann ist Judith als Kehrseite ihrer großen Aufopferungsbereitschaft zur Täterin geworden und damit selbst zum Opfer der vorher idyllisierten Pflegesituation. Denkbar ist auch, dass sie nicht Ernst von einem unwürdigen Dasein erlösen wollte, sondern sich von ihm. Im Gegensatz dazu legt in Hanekes Amour schon der Filmtitel nahe, dass die Tötung der lebensmüden Frau durch den pflegenden Ehemann ein Akt der Erlösung von einem Leiden ist, das die Gelähmte ganz entschieden nicht mehr tragen will. Die immer noch willensstarke Frau drückt ihren Wunsch zu sterben durch Nahrungsverweigerung eindeutig aus, ja sie spuckt ihrem Mann, der sie am Verdursten hindern will, die gewaltsam aufgedrängte Flüssigkeit sogar ins Gesicht. Wenn er sie schließlich – auch aus Überforderung – erstickt, wird er zwar aktiver als Judith, die – wie sie glaubt – nur Hilfe zur Selbsthilfe leistet, kann sich aber sicher sein, dem Todeswunsch seiner Frau zu entsprechen. Im Fall von Ernsts fortgeschrittener Demenz ist die Willensbestimmung sehr viel schwieriger. Ist Ernst im Moment, da er den Grießbrei verspeist, wirklich 100 | Zur juristischen Begriffsdifferenzierung vgl. die Folien von Jochen Taupitz: Beihilfe zur Selbsttötung: Terminologische Grundlagen, in: IMGB (Hg.): Beihilfe zur Selbsttötung: Plenarsitzung 27.11.2014, http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung27-11-2014-taupitz-ppt.pdf [Zugriff: 01.10.2015]. 101 | Inge Jens (Ein Nach-Wort in eigener Sache, S. 203) war sich schließlich sicher, dass ihr fortgeschritten dementer Mann sie nicht »um Hilfe zum Sterben, sondern um Hilfe zum Leben« bat.

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noch selbstbestimmungsfähig? Die Gefahr, dass Judith ihn missverstanden und damit indirekt getötet haben könnte, ist nicht ganz auszuschließen. Denn einerseits akzentuiert der Film das Verstreichen von Zeit seit Beginn der Diagnose und die Progression der Krankheit in ein fortgeschrittenes Stadium der Demenz, andererseits zeigt er am Schluss einen Kranken, der so, wie er sich Judith gegenüber verhält, höchstens in der Frühphase der Demenz sein kann. Das aber heißt, dass der Film mehr die Wunschvorstellung der Erhaltung der Selbstbestimmung bis zur Selbsttötung gestaltet als die Realität fortgeschrittener Demenz. Ausgelöscht ist am Ende jedenfalls nicht nur das Leben des Alzheimer-Kranken, sondern auch die gemeinsame Liebesutopie. Im Unterschied zu beiden Filmen wird Alice Howland durch einen Zufall daran gehindert, dem Video-Befehl ihres früheren Ichs zur Selbsttötung Folge zu leisten. Was die Alice im Frühstadium der Erkrankung für die Alice im Spätstadium antizipiert hat, entspricht nicht dem, was die fortgeschritten kranke Alice wünscht. Diese nämlich empfindet ihr Leben durchaus noch als lebenswert und sei es nur dank des Genusses von ice cream oder einer Tasse Tee. Die Tatsache, dass der Suizid-Plan scheitert, lässt ihr weitere Lebenszeit und damit die Chance, in der liebevollen Zuwendung ihrer Tochter Lydia die Geborgenheit und Sicherheit zu finden, die der Ehemann ihr entzieht.

S ozialpolitische I mplik ationen Mit Ausnahme von Tildas märchenhaft schöner Liebe zu ihrem Opa und Lydias wachsendem Verständnis für Alice bestätigen alle untersuchten Filme die Störanfälligkeit der Beziehungen in Familien mit einem an Alzheimer erkrankten Mitglied. In allen – selbst in Schweigers Idylle – kommt es zu Situationen völliger Überforderung bis hin zur Lebensgefahr für den Erkrankten und/oder seine Angehörigen. Es zeigen sich aber auch Unterschiede: Während der HollywoodFilm – The Notebook, Away from Her – Wunschbilder von der alles überwindenden Kraft der Liebe bestätigt und damit den Eindruck erweckt, es bestehe kein Handlungsbedarf, führen die untersuchten europäischen Filme die Aporien vor Augen, in die Pflege, auch bei sehr viel Liebe, führen kann. Dabei stellen sie Individuallösungen der Betreuung von Demenz-Kranken und pflegebedürftigen Alten radikal in Frage. Während ältere Filme eher Töchter zeigen, die ihr selbständiges Leben über der Pflege der Eltern verlieren – ich denke an Deborah Hoffmanns Complaints of a dutiful daughter oder Jerry Zaks’ Marvin’s Room (dt. Marvins Töchter, US 1996) –, sind es heute auch die männlichen Partner in alten Ehen wie in Iris, Vergiss mein nicht oder Amour oder Söhne wie in Mein Vater, die beim Versuch, »eine neue Form des Heroismus« zu entfalten, in die ›Pflegefalle‹ geraten.102 Nur 102 | Vgl. Seidler: »Wieso haben Sie Schatz zu mir gesagt?«, S. 107; Wulff: Vom Vergessen, vom Verlust, vom Terror, S. 238f.

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Honig im Kopf kehrt zu einer traditionellen Geschlechtsrollenverteilung zurück. Implizit vermitteln die Filme so auch eine sozialpolitische Botschaft. Sowohl die Fernsehfilme Mein Vater und Die Auslöschung als auch die Kinofilme Amour und Still Alice sowie der Dokumentarfilm Vergiss mein nicht bestätigen die Richtigkeit einer Empfehlung, die Thomas Klie dem Nationalen Ethikrat der BRD schon 2006 gegeben hat: dass Pflegeaufgaben nur »in geteilter Verantwortung« bewältigt werden können, nicht von einer Hauptpflegeperson allein, sollen Überforderung, Ausbrennen, Abstumpfen, Isolation, Depression, Aggression und damit die Gefahr von Gewalt in der Pflege vermieden werden. Ob die Pflege von mehreren Angehörigen mit abgestimmtem Stundenplan zuhause übernommen wird, ob der ambulante, der stationäre und der Heim-Sektor zusammenwirken, in jedem Fall sind »Formen auch ökonomisch reflektierter gemischter Pflegearrangements« zu entwickeln und die dafür nötigen infrastrukturellen Voraussetzungen zu schaffen.103 Solche Kombinationsformen der Pflege zu finden, kann nur Familie, Markt, Staat und Zivilgesellschaft gemeinsam gelingen. »Die Familien sind gefragt, ihre interne Verantwortung für Menschen mit Demenz zu pluralisieren und von klassischen Rollenmustern und Rollenzuweisungen eher Abstand zu nehmen.«104 Unternehmen müssen heute nicht nur die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie garantieren, sondern auch die von Beruf und Pflege. Der Staat muss die Infrastruktur verbessern und die Leistungen der Pflegeversicherung flexibilisieren, da Menschen mit Demenz schon im Frühstadium der Erkrankung der Hilfe in allen Belangen des Alltags bedürfen. Pflegeheime sollten ihre Angebote dem Bedarf anpassen und mit Firmen, die haushaltsnahe Dienstleistungen anbieten, zusammenarbeiten, aber auch die Mitwirkung von Angehörigen und engagierten freiwilligen Helfern zulassen. Freie Assoziationen wie die Alzheimer-Gesellschaften sollten sich nicht nur auf Aufklärungsarbeit beschränken, sondern auch in der Pflege engagieren. Die Gesellschaft als ganze muss ein Wertsystem korrigieren, das zu einseitig auf »Rationalität, Autonomie, Jugendlichkeit und Wohlbefinden« setzt und dabei einen falschen Begriff vom Selbst und einen zu engen Begriff von gutem Leben kultiviert.105 Wenn sie alternative Sichtweisen der conditio humana entwickelt, die das Leibgedächtnis ernst nehmen und die Möglichkeit von »Sinnfenstern«, Gegenwärtigkeit, Versenkung, gesteigerte Intensität des Erlebens und Zuwachs an Kreativität auch bei Demenz, einräumen,106 wird das auch zu einem anderen Umgang mit an Demenz leidenden Menschen führen. Als Medium von großer Publikumswirksamkeit kommt dem Film dabei eine wichtige Aufklärungsfunktion zu. Einen Beitrag dazu leisten alle der hier besprochenen Filme.

103 | Klie: Altersdemenz, S. 76 und S. 78. 104 | Ebd., S. 79. 105 | Klie: Altersdemenz, S. 65 und S. 77. 106 | Otto: Zugewinn im Defizit, S. 114f.

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Q uellenverzeichnis Filme Am Ende ein Fest (ISR/D 2014, Regie: Tal Granit und Sharon Maymon). Amour (dt. Liebe, F/D/A 2012, Regie: Michael Haneke). Away from Her (dt. An ihrer Seite, CDN 2006, Regie: Sarah Polley). Best Exotic Marigold Hotel (GB/IND 2011, Regie: John Madden). Complaints of a Dutiful Daughter (US 1994, Regie: Deborah Hoffmann). Die Auslöschung (A 2013, Regie: Nikolaus Leytner). En sång för Martin (engl. A Song for Martin, S/DK 2001, Regie: Bille August). Et si on vivait tous ensemble? (dt. Und wenn wir alle zusammenziehen?, F/D 2011, Regie: Stéphane Robelin). Forget Me Never (dt. Der Schrecken des Vergessens, US/CDN 1999, Regie: Robert Allan Ackerman). Honig im Kopf (D 2014, Regie: Til Schweiger). Iris (GB/US 2001, Regie: Richard Eyre). Je n’ai rien oublié (engl. Small World, D/F 2010, Regie: Bruon Chiche). Marvin’s Room (dt. Marvins Töchter, US 1996, Regie: Jerry Zaks). Mein Vater (D 2002, Regie: Andreas Kleinert). Mein vergessenes Leben (D 2015, Regie: Gernot Krää). Pauline & Paulette (B/F/NL 2001, Regie: Lieven Debrauwer). Quartett (GB 2012, Regie: Dustin Hoffman). Still Alice (dt. Still Alice. Mein Leben ohne Gestern, US/F 2014, Regie: Richard Glatzer und Wash Westmoreland). The Forgetting. A Portrait of Alzheimer’s (US 2003, Regie: Elisabeth Arledge). The Notebook (dt. Wie ein einziger Tag, US 2004, Regie: Nick Cassavetes). The Savages (dt. Die Geschwister Savage US 2007, Regie: Tamara Jenkins). Vergiss mein nicht (D 2012, Regie: David Sieveking).

Primärtexte Bayley, John: Elegie für Iris, übers. v. Barbara Rojahn-Deyk, München 2000. Begley, Louis: Schiff bruch, übers. v. Christa Krüger, Frankfurt a.M. 2005. Baggio, Thomas de: Losing My Mind. An Intimate Look at Life with Alzheimer’s, New York 2002. Demenz Support Stuttgart (Hg.): »Ich spreche für mich selbst«, Frankfurt a.M. 2 2013. Genova, Lisa: Mein Leben ohne gestern. Roman, übers. v. Veronika Dünninger, Bergisch Gladbach 2009. Hagena, Katharina: Der Geschmack von Apfelkernen. Roman, Köln 2008. Jens, Tilman: Demenz. Abschied von meinem Vater, München 32009.

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Demenz im Dokumentarfilm Vergessen – die Materie und das Selbst Robin Curtis

N eukonzep tualisierung von S ubjek tivität bei D emenz Obwohl die Demenz keinesfalls zum normalen Alterungsprozess gehört, hat sie einen Platz im Alltag und in der Kultur des 21. Jahrhunderts eingenommen. Demenz ist ein Syndrom, das durch diverse Krankheiten des Gehirns auftreten kann, wobei die Alzheimer-Erkrankung in 60-70% der auftretenden Fälle als Auslöser gilt.1 Alzheimer und Demenz sind zum Inbegriff der Gesundheitskatastrophe der Gegenwart geworden und haben sowohl Krebs als auch AIDS als medial wirksame Schreckensbilder überholt. In einem über hundertseitigen Bericht mit dem Titel Dementia: A Public Health Priority, der 2012 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlicht wurde, wird die Demenz als eine sogenannte priority condition im »WHO Mental Health Gap Action Programme (mhGAP)« bezeichnet.2 Die Demenz wird dort als demographisch voraussagbare Epidemie betrachtet, die sich weltweit in den nächsten Jahrzehnten rasch verbreiten wird: Zurzeit wird die Zahl der an Demenz Leidenden weltweit auf 35,6 Millionen geschätzt, eine Zahl, die sich laut den in jenem Bericht zitierten Prognosen bis 2030 verdoppeln und bis 2050 verdreifachen wird.3 Mit der Feststellung jener Entwicklung als kultur-, regions- und entwicklungsstandunabhängig widerspricht der Bericht der Annahme, die bisher vor allem durch einen Mangel an Daten vertretbar war, dass Demenz in den sogenannten low-middle income countries wesentlich seltener vorkommt, und hebt vielmehr hervor, dass Vorkehrungen zum Umgang mit Demenz weltweit getroffen werden müssen.

1 | Vgl. World Health Organization und Alzheimer’s Disease International: Dementia: A Public Health Priority, Genf 2012, S. 7, http://www.who.int/mental_health/publications/ dementia_report_2012/en/ [Zugriff: 13.6.2015]. 2 | Vgl. ebd., S. 2. 3 | Vgl. ebd., S. 19.

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Demenz stellt eine radikale Herausforderung für die Transparenz – und somit überhaupt die Konzeptualisierung – der Subjektivität der davon betroffenen Person dar und ruft zugleich eine Vielzahl an ethischen Fragen auf, die sich weitgehend den Fähigkeiten der Beobachtung und des Urteils der (noch) nicht Betroffenen entziehen. Während die Symptome einer Demenz sich von Fall zu Fall unterschiedlich schnell vermehren, ist die graduelle Verwandlung der betroffenen Person bisher immer ein unumkehrbarer, mit Erinnerungsschwächen beginnender Prozess, der mit wachsenden Schwierigkeiten, sich in Raum und Zeit bzw. sozial im Netzwerk von Verwandtschaft und Bekanntschaft zu orientieren, einhergeht. Sie führt letztlich zu einer Aphasie bzw. zur Unmöglichkeit, anderen Informationen über die eigenen Wünsche, Absichten und das eigene Befinden verbal mitzuteilen. Auch in der Forschung zur klinischen Behandlung der Demenz werden stillschweigend Schreckensbilder reproduziert, bis hin zur Vorstellung eines Verfalls bis zur bloßen Dinghaftigkeit. Beard, Knauss und Moyer fassen das wie folgt zusammen: »The dominant story told about people with dementia has historically been one where their talk is deemed meaningless, their memories defective, and their recollections are of little importance in the planning of care.«4 In der neueren Forschung wird deshalb das Desiderat formuliert, dass man von normativen Erwartungen an die Erscheinungsformen von Subjektivität absehen und die spezifischen Wandlungen der Subjektivität bei Demenz mittels einer ›Epistemologie der Demut‹5 erkennen solle, die eine Offenheit für die Alterität der spezifischen Existenzformen, die eine Demenz mit sich bringt, implizieren müsste. Die Rolle der leiblichen bzw. verkörperten Erfahrung im Alltag eines Demenzkranken wurde bisher nur wenig beachtet,6 stattdessen wurden soziale, interpersonale sowie kognitive Perspektiven gewählt, die Demenz ausschließlich im Kontext einer Dysfunktion von mind and brain verorten (und sonstige Organe und Erfahrungsformen vernachlässigen). Es werden zwei Problemfelder durch die Demenz aufgerissen, die im Folgenden genauer untersucht werden: Demenz löscht einerseits zunehmend den Bezug zur eigenen Geschichte und zu der zeitlich geordneten Erinnerung an eine Abfolge von einzelnen Erlebnissen und zu den anderen Protagonisten jener gemeinsam erlebten Handlungen, die das soziale Leben bestimmen. Die Annahme der Kontinuität des Selbst wird auf die Probe gestellt, was unter anderem die Ethik der Projektion von vergangenen Wünschen auf zukünftige Zustände in Fra4 | Renée L. Beard, Jenny Knauss, Don Moyer: Managing disability and enjoying life: How we reframe dementia through personal narratives, in: Journal of Aging Studies (2009) H. 23, S. 227-235, hier S. 228. 5 | Vgl. ebd. 6 | Zu dieser neueren Forschungsperspektive vgl. Pia Kontos, Wendy Martin: Embodiment and dementia: Exploring critical narratives of selfhood, surveillance, and dementia care, in: Dementia 12 (2013) H. 3, S. 288-302.

Demenz im Dokumentar film

ge stellt (z.B. wenn sie in einem sogenannten living will festgehalten werden, der medizinische Maßnahmen vorschreibt oder ausschließt, so etwa beim Auftritt von Kommunikationsproblemen, bzw. bei schriftlichen Äußerungen bezüglich der Euthanasie).7 Andererseits ist durch die zunehmende Aphasie bei Demenzkranken nur wenig bekannt über das Befinden der Betroffenen. Für Außenstehende verwischt die Demenz anscheinend die Trennlinie zwischen Leben und Tod, denn die Intentionalität des Lebendigen wird durch eine vermeintliche bloße Dinglichkeit vor unseren Augen ersetzt. Unklar ist: Was bleibt? So gesehen bietet die Auseinandersetzung mit dem Erlebnis von Demenz eine seltene Gelegenheit, Ahnungen von anderen Formen der Existenz bzw. der Wahrnehmung zu vermitteln. Seit den 1990er Jahren ist ein kleines Korpus an autobiographischen Texten entstanden, die von Demenzkranken im frühen Stadium der Krankheit selbst geschrieben wurden, die dann mit zunehmender Mühe die Erfahrung dieser Wandlung schriftlich mitteilen.8 Diese Texte stellen in unterschiedlichem Grad die abnehmende Fähigkeit unmittelbar zur Schau, sich in der Sprache zu artikulieren, denn manche beharren im Endprodukt auf einer Linearität und sprachlichen Klarheit, die wohl erst in der nachträglichen Korrektur durch einen Zweiten ent7 | Für eine Auseinandersetzung mit der Ethik der Euthanasie (die jeweils in Form einer sogenannten positive advance directive, die eine spezifische Behandlung bzw. Maßnahmen vorschreibt, sowie einer negative advance directive, die eine Unterlassung von spezifizierten Behandlungen vorschreibt, ausfallen kann) im Fall von Demenz vgl. z.B. Cees M.P.M. Hertogh u.a.: Would We Rather Lose Our Life Than Lose Our Self? Lessons From the Dutch Debate on Euthanasia for Patients With Dementia, in: The American Journal of Bioethics 7 (2007) H. 4, S. 48-56. Genau dieses ethische Dilemma wird im Text wie folgt formuliert: »[…] both types of advance directives are supposed to represent the ›true‹ or ›real‹ opinions of the formerly competent patient, so both should in one way or another inform the care process. It is exactly this presupposition that creates serious ethical dilemmas in the caregiving for persons with dementia.« (Ebd., S. 50) 8 | Zu diesem noch wachsenden Korpus gehören Texte wie z.B. Diana Friel McGowins Living in the Labyrinth. A Personal Journey Through the Maze of Alzheimer’s (New York 1993), Robert und Bettie Davis’ My Journey into Alzheimer’s Disease (New York 1989), Thomas DeBaggios Losing my Mind: An Intimate Look at Life with Alzheimer’s (New York 2002) und When it gets Dark: An Enlightened Reflection on Life with Alzheimer’s (New York 2003) oder Just Love Me: My Life Turned upside Down by Alzheimer’s (West Lafayette 2003) von Jeanne L. Lee. Diese Texte stehen in Kontrast zu der weitaus größeren Zahl an Büchern, die von Angehörigen eines Demenzkranken – zum Teil auch von renommierten Autorinnen und Autoren – veröffentlicht wurden. Dazu gehören Texte von Michael Ignatieff, John Bayley oder Jonathan Franzen, die diese Erfahrung als Anlass nehmen, über das Verhältnis zwischen Körper (als Fleisch bzw. neurochemischer Prozess) und Identität zu reflektieren. Für weitere Beobachtungen über diese literarischen Reflexionen vgl. Joe Moran: Aging and identity in dementia narratives, in: Cultural Values 5 (2001) H. 2, S. 245-260.

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standen ist.9 Sie berichten von Angst, Einsamkeit, Verwirrung, aber auch erhöhter Sinnlichkeit, was vermuten lässt, dass die Erfahrung der Krankheit womöglich nicht ausschließlich von Verlust geprägt ist. Diana Friel McGowins Buch Living in the Labyrinth berichtet z.B. von erhöhten sexuellen Bedürfnissen, aber eben auch von ausgeprägt starken sinnlichen Erinnerungen an die spezifischen Qualitäten vergangener Momente. Als Fazit dieser Gewinn- und Verlustrechnung schreibt sie Folgendes: »I feel I am a pebble in a rapid brook. I hope this little pebble can send out ripples upon ripples, in an ever widening circle, until the ripples eventually lap up on a shore where someone like me is stranded and feeling alone.«10 Wie ist es zu verstehen, wenn McGowin schreibt, dass sie sich wie ein Kieselstein im schnell fließenden Bach fühlt? Auf welche Weise sollte die Erfahrung einer an Demenz erkrankten Person konzeptualisiert werden und welche Signifikanz hat diese Frage für das Verständnis vom Begriff des Selbst im Fall von Demenz? In seiner langjährigen Auseinandersetzung mit der literarischen Autobiographie hat Paul John Eakin die vielfältigen Formen, die eine Wahrnehmung des Selbst annehmen kann, betont: Diese Vielfalt ist das Ergebnis von kulturell und historisch spezifischen Praxen, die zu einer entsprechenden Vielfalt beim Prozess der Verschriftlichung einer Autobiographie führen können.11 Dabei spielt jedoch, laut Eakin, die reflexive Kontinuität einer narrativen Strukturierung eine zentrale Rolle für die Wahrnehmung des Selbst und somit ebenfalls für die Autobiographie. Er schreibt: When it comes to autobiography, narrative and identity are so intimately linked that each constantly and properly gravitates into the conceptual field of the other. Thus, narrative is not merely a literary form but a mode of phenomenological and cognitive self-experience, while self – the self of autobiographical discourse – does not necessarily precede its constitution in narrative.12

Die Interdependenz von narrativer Reflexion und der Empfindung eines fortbestehenden Selbst wurde bereits in den klinischen Berichten des Neurologen Oli9 | Zu einer Auseinandersetzung mit dem Bewusstsein vom Verlust des Selbst, das in diesen autobiographischen Texten veranschaulicht wird, vgl. Ann Davis Basting: Looking back from loss: Views of the self in Alzheimer’s disease, in: Journal of Aging Studies 17 (2003) H. 1, S. 87-99. Für einen Überblick der Genres der Alzheimer-Erzählungen siehe Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Narrating the limits of narration: Alzheimer’s disease in contemporary literary texts, in: Aag je Swinnen, Mark Schweda (Hg.): Popularizing Dementia. Public Expressions and Representations of Forgetfulness, Bielefeld 2015, S. 89-108. 10 | McGowin: Living in the Labyrinth, S. 118. 11 | Für eine Auseinandersetzung mit kultureller Variabilität in der Wahrnehmung und auch der Darstellung vom Selbst vgl. insbesondere Paul John Eakin: How our lives become stories: Making selves, Ithaca 1999. 12 | Ebd., S. 100.

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ver Sacks postuliert: Eakin bezieht sich auf Sacks’ Darstellung von Patienten, die am Korsakow-Syndrom leiden, um zu argumentieren, dass sich ohne die Fähigkeit, eine Handlung zu konstruieren, um die Erlebnisse der Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden, keine Wahrnehmung vom Selbst ergebe.13 In seiner jüngsten Veröffentlichung, Living Autobiographically: How we Create Identity in Narrative von 2008, geht Eakin von Sacks’ schlichtem Fazit bei diesen beiden Fällen der Amnesie als Grundlage für die eigene Studie aus, nämlich, dass wir eine Erzählung konstruieren und leben und dass diese Erzählung mit der eigenen Identität identisch ist14 bzw. dass Identität jenseits der narrativen Funktion einer Erzählung nicht vorstellbar ist. Um die zentrale Hypothese des Buchs einzuführen, beschreibt Eakin diese Annahme: If Sacks is right, and I am convinced that he is, then talking about ourselves involves a lot more than self-indulgence; when we do it, we perform a work of self-construction. The very phrase »talking about/ourselves« tends to separate selfhood from the act of expressing it, to attribute an independent existence to the »ourselves« we would be »talking about,« whereas the »talking,« I argue, actually calls our narrative identities into being; there is a mutually enhancing interplay between what we are and what we say we are.15

Für diejenigen von uns, die in der Lage sind, zu sprechen oder zu schreiben, ist dies nachvollziehbar. Und für eine Studie von literarischen Autobiographien ist die Funktion der Narrativisierung unverzichtbar. Wie der Einblick in die Erfahrung der Demenz von Diana Friel McGowin ahnen lässt, wenn sie sich mit einem Kieselstein im schnell fließenden Bach vergleicht, sind auch andere Formen der Erfahrung möglich, die bei einer Aphasie bzw. Amnesie womöglich weiterhin zutreffen.

13 | Vgl. Oliver Sacks: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselt, übers. v. Dirk van Gunsteren, Reinbek b.H.,1987. In den Studien »Der verlorene Seemann« und »Eine Frage der Identität« erzählt Sacks jeweils die Geschichten zweier Männer, die am KorsakowSyndrom leiden: Sie haben beide große Teile ihrer eigenen Lebensgeschichte vergessen und sind zudem nicht mehr in der Lage, sich Handlungen aus der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit zu merken. Die Unfähigkeit, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu verknüpfen, führt, laut Sacks, bei beiden zu einem fehlenden Selbstgefühl. Sacks schreibt: »Um wir selbst zu sein, müssen wir uns selbst haben; wir müssen unsere Lebensgeschichte besitzen oder sie, wenn nötig, wieder in Besitz nehmen. Wir müssen uns erinnern – an unsere innere Geschichte, an uns selbst. Der Mensch braucht eine solche fortlaufende innere Geschichte, um sich seine Identität, sein Selbst zu bewahren.« (Ebd., S. 154f.) 14 | »Man könnte sagen, daß jeder von uns eine ›Geschichte‹ konstruiert und lebt. Diese Geschichte sind wir selbst, sie ist unsere Identität.« (Ebd., S. 154) 15 | Paul John Eakin: Living Autobiographically: How we Create Identity in Narrative, Ithaca 2008, S. 2.

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Der kognitive Psychologe Ulric Neisser (der von Paul John Eakin in seinen letzten beiden Büchern ausführlich zitiert wird) postuliert ein Modell für Selbsterfahrung, das fünf verschiedene ontogenetische Ebenen der Erfahrung kategorisiert, die jeweils zu unterschiedlichen Graden für die Sprache zugänglich sind. Um den verschiedenen Aspekten eines Selbst Rechnung zu tragen, die sogar in Widerspruch zueinander stehen können (z.B. »physical and mental, public and private, directly perceived and incorrectly imagined, universal and culturespecific«16), beschreibt Neisser fünf Formen von »self knowledge«: das ökologische Selbst (»ecological self«) wird in Relation zur physischen Umgebung wahrgenommen und in Zusammenhang mit dem Befinden und der Aktivität des Selbst in jener Umgebung erlebt; das zwischenmenschliche Selbst (»interpersonal self«) wird mittels der Fähigkeit definiert, Signale der emotionalen Kommunikation wahrzunehmen, die für die zwischenmenschliche Interaktion wesentlich sind; das erinnerte Selbst (»extended self«) bezieht sich sowohl auf Erinnerungen als auch auf Projektionen in die Zukunft, um auf der Basis von eigenen Angewohnheiten Projektionen über das eigene Handeln und Befinden zu machen; das private Selbst (»private self«) basiert auf Erfahrungen, die nicht unmittelbar mit anderen teilbar sind wie z.B. Schmerzen; und zuletzt das konzeptuelle Selbst (»conceptual self«): Es verortet sich innerhalb von Annahmen und Theorien, die es kulturell und historisch umgeben, die von sozialen Kategorien, wie z.B. ›Ehemann‹ oder ›Amerikaner‹, zu internen Kategorien der körperlichen Funktion, wie ›die Seele‹ oder ›das Gehirn‹, bis hin zu sozial relevanten Kategorien, wie ›Intelligenz‹ oder ›Schönheit‹, reichen.17 Auf der Basis dieser Beschreibung wird deutlich, dass dieses Modell eine Vielfalt an Perspektiven jenseits der Erinnerung oder der primär sprachlichen Vermittlung von Identität bietet, während autobiographische Texte sich in der Regel der Überschneidung von konzeptuellem und erinnertem Selbst widmen. Es hebt Aspekte der Selbstwahrnehmung hervor, die eher verkörpert bzw. leiblich erfahrbar sind und sich von daher möglicherweise weniger für eine sprachliche Vermittlung eignen. Nichtsdestotrotz stellen sie aber integrale Aspekte der menschlichen Existenz dar. Eine solche Erweiterung der Aspekte, die bei der Wahrnehmung des Selbst gezählt werden können, wäre für die Diskussion von Demenz als Lebensphase sicher hilfreich. Im Falle einer Demenz können das erinnerte Selbst sowie das zwischenmenschliche und womöglich auch das konzeptuelle Selbst bei Erinnerungsschwächen und Aphasie stetig an Relevanz verlieren, jedoch müssen das ökologische und das private Selbst davon nicht betroffen sein. In ihrer Auseinandersetzung mit Demenz-Narrativen vertritt Ann Davis Basting die These, dass die autobiographischen Texte von Demenzkranken (die als ›autopathography‹ bezeichnet werden) hervorheben, inwieweit die dominante Rolle, die der Erinnerung gewöhn16 | Ulric Neisser: Five Kinds of Self Knowledge, in: Philosophical Psychology 1 (1988) H. 1, S. 35-59, hier S. 35. 17 | Vgl. ebd., S. 36.

Demenz im Dokumentar film

lich beim Selbstbegriff und dementsprechend bei der Autobiographie zugeordnet wird, irreführend ist, da sie sowohl die spezifische Qualität der leiblichen Erfahrung bei Demenzkranken als auch die Komplexität des Selbst im Allgemeinen verdeckt. Sie schreibt: »This is the hubris that Alzheimer’s narratives expose: we cling to the mistaken notion that personal memory alone constitutes selfhood.«18 Dass die Zwänge der narrativen Form die Vermittlung von Demenz-Erfahrungen verhindern, ist Bastings Fazit: »It is also possible that textual autobiographies are simply limited in the kind of disease experiences they can portray.«19 Ein Medienwechsel könnte von daher für die Auseinandersetzung mit Demenz hilfreich sein.

I dentität, E rinnerung und L eiblichkeit in D okumentarfilmen über D emenz Um das spezifische Befinden von Betroffenen vorstellbar zu machen, das sich bei einer fortschreitenden Demenz zunehmend der Sprache entzieht, wird sich dieser Beitrag näher mit neueren Dokumentarfilmen befassen, die das Leben von an Demenz Leidenden beobachten, um so etwas wie eine ›Gewinn- und Verlustrechnung‹ aufzustellen. Als audiovisuelles Medium kann der Film eine sensible visuelle und akustische Auseinandersetzung mit Demenz ermöglichen, die sich von den Zwängen der narrativen Form freimachen und somit oftmals andere Perspektiven auf die Demenz andeuten kann, als diejenigen, die von der sprachlichen Transparenz abhängen, wie etwa in der Literatur zu Demenz oder Texten von unmittelbar Betroffenen. Dass dies jedoch beim Film qua Medium nicht immer zwangsläufig der Fall sein muss, machen neuere Spielfilme deutlich, die sich – wie es in der narrativen Form des Hollywoodfilms üblich ist – stark durch ihre Figuren und ihre Motivation strukturieren lassen und sich somit auf die vermeintliche Konstanz der Figur verlassen. In Glatzers Film Still Alice (dt. Still Alice – Mein Leben ohne Gestern, US/F 2014) zum Beispiel wird die anfängliche Vitalität und intellektuelle Kraft der Hauptfigur – gespielt von Julianne Moore – in den Vordergrund gestellt. Gekleidet in der Ausrüstung einer urbanen Joggerin, läuft eine energische Frau durch die Straßen einer Großstadt; sie biegt in einen Park ein und hält schließlich bei einem imposanten Bau an, der University Hall, die als Markenzeichen der Columbia University gilt. Hier scheint sie plötzlich räumlich verwirrt und 18 | Basting: Looking back from loss, S. 97. Basting vergleicht sprachlich ›gereinigte‹ Autopathographien wie z.B. diejenige von Diana Friel McGowin mit Cary Smith Hendersons Partial View: An Alzheimer’s Journal (College Station 1998), das sich explizit mit der Erfahrung der Fragmentierung auseinandersetzt, was sich auch in der Form des Buches niederschlägt. 19 | Ebd., S. 98.

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dann auch verstört zu sein. Obwohl wir zu diesem frühen Zeitpunkt im Film bereits wissen, dass diese Frau seit vielen Jahren als Professorin der kognitiven Linguistik an dieser Universität tätig ist, nehmen wir in diesem Moment zum ersten Mal Anzeichen dafür wahr, dass sie die ihr vertraute Umgebung plötzlich nicht erkennt. Alice ist soeben 50 Jahre alt geworden und leidet, wie sie bald erfahren wird, an ›early onset‹ Demenz, ungewöhnlich früh einsetzender Alzheimer-Krankheit. Dieser viel gelobte Film (für die Rolle gewann Moore 2015 einen Oscar) ist das neuste Exemplar in einer seit einigen Jahren zunehmenden Zahl an Spielfilmen zum Thema Demenz (z.B. Cassavetes’ The Notebook [dt. Wie ein einziger Tag, US 2004], Polleys Away from Her [dt. An ihrer Seite, CDN 2007], Jenkins’ The Savages [dt. Die Geschwister Savage, US 2007]). Wie der Titel des Films Still Alice bereits verspricht, vertritt er die These, dass die Hauptfigur Alice bis zuletzt (genauer gesagt: jedenfalls bis zum Ende des Films) irgendwie ›sie selbst‹ bleibt, obwohl die Demenz, unter der die Hauptfigur leidet, zunehmend Kommunikationsschwierigkeiten hervorruft (die Hauptfigur überprüft stets ihren sich schnell verschlechternden kognitiven Zustand mittels Worterkennungsspielen am Handy), die eine Permeabilität zwischen Innen- und Außenwelt erschweren. Dies wird in der letzten Szene des Films, in der die Liebe zwischen Mutter und Tochter (Kristen Stewart) trotz Sprachproblemen bestätigt wird, behauptet. Bei der Gewinn- und Verlustrechnung dieses Films – sowie bei der Mehrzahl der Spielfilme, die sich mit Demenz befassen – bleibt der Glaube an das Fortbestehen der Identität der betroffenen Hauptfigur eine Voraussetzung, die durch die spezifische narrative Konstruktionsform dieses filmischen Erzählmodus20 gegeben ist, aber auch damit zusammenhängt, dass die Spätphase der Erkrankung ausgespart bleibt. Diese tröstliche Ansicht setzt sich über einige Fragen des Verhältnisses zwischen Identität, Erinnerung und Leiblichkeit hinweg, die in Dokumentarfilmen weit schonungsloser behandelt werden. Hoffmanns 1994 gedrehter Dokumentarfilm Complaints of a Dutiful Daughter (US 1994) befasst sich meines Wissens als erster mit der Wandlung, die durch die Krankheit in den Verhältnissen innerhalb einer Familie geschehen. Der damals schon Oscar-nominierte Dokumentarfilm schildert die Krankheit der Mutter der Regisseurin, Doris Hoffmann. Radikal an dem Film war die Tatsache, dass die Regisseurin akzeptierte, dass ihre stets höfliche und freundliche Mutter (jedenfalls soweit man sie onscreen erlebt) sie nicht mehr als ihre Tochter erkennt, sondern eher als eine Studienkommilitonin sieht. Während dies für die Tochter (und die Zuschauer ebenfalls) herzzerreißend ist, weil die Mutter-Tochter Beziehung somit bereits vor dem Tod der Mutter ein Ende nimmt, stellt sie fest, dass das Ver20 | Für eine Auseinandersetzung mit den Eigenschaften der Figuren im filmischen Erzählmodus der sogenannten Classical Narration siehe insbesondere das Kapitel »Classical Narration: The Hollywood Example« in: David Bordwell: Narration in the Fiction Film, London u.a. 1985, S. 156-204.

Demenz im Dokumentar film

gessen für ihre Mutter nicht unbedingt eine Quelle der Verwirrung und Panik sein muss. Anstatt auf die nicht mehr erinnerten Einzelheiten des vergangenen Lebens zu insistieren (was sehr wohl zu Angst führt), passt sich Hoffmann an die jeweiligen Bedürfnisse ihrer Mutter je nach Situation an und spielt (als ›Kommilitonin‹ der Mutter) mit. Das Verlassen des eigenen Hauses und der Einzug ins Pflegeheim stellen somit auch wider Erwarten keine Störung für die Mutter dar, denn die ehemals geliebten Objekte und Fotos, die im Haus stehen, gehören einer bereits vergessenen Welt an und wären somit für die Mutter insgesamt ein besorgniserregendes Andenken an das, was nicht mehr erinnert werden kann. Statt auf dem, was vergangen war und zum größten Teil bereits vergessen wurde, zu beharren, fokussiert der Film vielmehr auf die Gegenwart und somit auch auf die Herausforderung für die Tochter bzw. Regisseurin, sich in der neuen Welt der Mutter zurechtzufinden. Die Teilnahme der Angehörigen des Betroffenen an der fiktionalen bzw. neu empfundenen Identität eines an Demenz Leidenden scheint insofern von Vorteil zu sein. Dieses Konzept, welches in der Behandlungspraxis inzwischen umgesetzt wird, wird z.B. im Fall des niederländischen ›Demenz-Dorfes‹ De Hogeweyk veranschaulicht, das eine Alternative zu einem Aufenthalt im Pflegeheim bietet. Seit 2014 beherbergt das Dorf 152 Demenzkranke in 23 Wohngemeinschaften (mit je sechs oder sieben Bewohnerinnen und Bewohnern) auf einmal. Dort wird der Alltag eines gemeinsamen Lebens ›simuliert‹ – und zwar in einem durchschnittlichen niederländischen Dorf, das fast ausschließlich von Demenzkranken bewohnt wird und von außen hermetisch abgeriegelt ist.21 Das Pflegepersonal trägt Zivil und soll auch im Verhalten sehr unscheinbar bleiben. Obwohl die Einwohner des Dorfs in der Regel sich nicht mehr an die Einzelheiten ihrer jeweiligen Vergangenheit erinnern, schaffen sie es sehr wohl in der Gegenwart, ein Leben mit den Mitbewohnern aufzubauen, denn sie werden in das Funktionieren des Dorfs so weit wie möglich integriert: Einwohner können im Dorfladen ›einkaufen‹ (auch ohne Geld), helfen bei der Vorbereitung von Mahlzeiten usw. mit. Insistiert wird somit in De Hogeweyk nicht auf den Einzelheiten der Wirklichkeit (z.B. wer man war, oder dass man an einer Krankheit leidet und in was für einer Einrichtung man sich nun befindet), sondern auf der Aufrechterhaltung bzw. Simulation eines Alltags. Die Ziele dieses neu eingerichteten Dorfs und die Wirkungen auf die Einwohner, die möglichst lange an einem Alltagsleben festhalten sollen, erinnern an die Effekte einer Studie, die 1981 von der Harvard-Sozialpsychologin Ellen J. Langer durchgeführt wurde.22 Überzeugt von 21 | Zu diesem Konzept vgl. Fritz Habekuss: Im Dorf des Vergessens, in: Die Zeit, Nr. 5, 2. Februar 2013, http://www.zeit.de/2013/05/Demenzdorf-De-Hogeweyk-Alzey [Zugriff: 13.6.2015]. 22 | Zu den Ergebnissen dieser Studie vgl. Ellen J. Langer u.a: Nonsequential Development and Aging, in: Charles N. Alexander, Ellen J. Langer (Hg.): Higher Stages of Human Development: Perspectives on Adult Growth, New York 1990, S. 114-136. Für einen Überblick über

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der Signifikanz von ›priming‹ (bzw. ›Bahnung‹)23 für das Wohlbefinden und die Gesundheit von älteren Menschen, ließ Langer eine Gruppe von acht 70-jährigen Männern fünf Tage in ein gemeinsames Haus einziehen. Sie erhielten die Anweisung, sich so zu verhalten – genauer gesagt zu fühlen – wie sie sich im Jahr 1959 gefühlt haben. Das Haus war komplett eingerichtet wie im Jahr 1959: von der Möblierung über die Zeitschriften und Bücher bis zu TV-Sendungen, die zur Verfügung standen. Die Männer unterhielten sich über Themen der damaligen Zeit, aber im sprachlichen Präsens, was als zentrales Element des priming wirken sollte. Vor und nach diesem Aufenthalt wurden die körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Männer überprüft, und sehr signifikante Verbesserungen – sowohl physischer als auch kognitiver Art – wurden überraschenderweise nach diesen fünf Tagen festgestellt. Diese Studie diente als Basis für ein ähnliches Experiment (von Langer ebenfalls betreut), das 2010 in einen dokumentarischen Dreiteiler der BBC namens The Young Ones (GB 2010, Regie: Kirsty Cunningham) mündete.24 Ähnlich erstaunliche kognitive und physische Verbesserungen wurden bei den sechs Teilnehmerinnen und Teilnehmern von The Young Ones festgestellt. Diese Nachweise machen deutlich, dass das krampfhafte Insistieren auf das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart und die ›korrekte‹ Selbstverortung in der Gegenwart, die etwa die Angehörigen der Demenzkranken bestätigt hören wollen, für die Zufriedenheit und Kompetenz von Alternden sowie Demenzkranken nicht unbedingt zweckdienlich ist. Dies betont umso mehr die bereits oben erwähnte Mahnung von Basting, dass das Insistieren von Außenstehenden auf solche Eckdaten als Hybris zu bezeichnen ist: »we cling to the mistaken notion that personal memory alone constitutes selfhood«.25 Der Zerfall der (z.B. innerhalb einer Familie) geteilten Perspektiven und Identitätsvorstellungen bleibt eine signifikante Quelle der Verstörtheit, die den Grundtenor vieler Dokumentarfilme zum Thema Demenz bestimmt. In dieser Hinsicht zielen solche Filme wesentlich seltener auf die tröstliche Behauptung einer Kontinuität der Identität (und somit eine konsensfähige Übereinstimmung) als Spielfilme es tun. Der 2005 gedrehte Dokumentarfilm Memory: For Max, Claire, Ida and Company (CDN 2005) von Allan King setzt sich mit den Problemen der Kontinuität auseinander und mit den teilweise überwältigenden Gefühlen die Arbeit von Langer zu priming und Alterung vgl. Bruce Grierson: What if Age is Nothing but a Mindset?, in: The New York Times, 22. Oktober 2014, S. MM52. 23 | ›Priming‹ bzw. ›Bahnung‹ ist ein Terminus der Psychologie und bezeichnet die implizite Aktivierung von Gedächtnisinhalten durch ein Stimulus und somit den Verlauf der Kognition. Die Wirkungen von priming können als positiv oder auch als negativ bezeichnet werden. In diesem Fall handelt es sich um einen Fall von positive priming. 24 | Die Serie wurde Dezember 2010 gesendet. Obwohl Informationen zur Sendung immer noch auf der Website der BBC zu finden sind, sind die Sendungen dort leider nicht mehr erhältlich. Vgl. http://www.bbc.co.uk/programmes/b00tq4d3 [Zugriff: 13.6.2015]. 25 | Basting: Looking back from loss, S. 97.

Demenz im Dokumentar film

der Angst, Einsamkeit, Verwirrung und Wut, die abwechselnd bei den Protagonisten des Films deutlich zu spüren sind. Die starken Empfindungen, die mit einer Demenz einhergehen, werden in diesem Film schonungslos gezeigt. Als Nachfolgefilm zu Kings Dying at Grace (CDN 2005), der sich sensibel und geduldig mit den letzten Tagen von fünf Krebskranken in einem Hospiz beschäftigt, setzt sich Memory sowohl mit der Institution des Pflegeheimes Baycrest für jüdische Senioren in Toronto beobachtend auseinander als auch mit den von Demenz Betroffenen, die dort leben. Ohne Interviews oder eine Narration begleitet der Film den Alltag von mehreren Demenzkranken über fünf Monate und betont, wie sehr die gegenwärtigen Persönlichkeiten dieser Individuen nach wie vor zum Vorschein kommen. Während Ida z.B. zwischen Wut und tiefer Trauer oszilliert, weil ihr Sohn sie selten besuchen kommt, kann sie ihre Freude kaum bändigen, wenn er einmal erscheint. Claire und Max sind unzertrennlich: Als Max jedoch plötzlich verstirbt, ist es herzzerreißend, dass Claires Kurzzeitgedächtnis es nicht mehr schafft, sie von Tag zu Tag an diese Tatsache zu erinnern. Sie erfährt jeden Tag wie neu davon und bricht jedes Mal in frische und bodenlose Trauer aus. Während die Interaktion von Patienten und Familienangehörigen nur zum Teil dokumentiert wird, steht die Interaktion zwischen den Patienten über mehrere Monate viel stärker im Mittelpunkt des Films. Das Leben von Demenzkranken im gut funktionierenden Pflegeheim wird mit allen Vor- und Nachteilen dargestellt. Hier liegt die Betonung auf der Existenz in der Gegenwart. Als Dokumentation des unaufhaltsamen Niedergangs und der zunehmenden Erstarrung der Mutter des Regisseurs, Gretel Sieveking, hebt der deutsche Film Vergiss mein nicht (D 2012) dagegen die Verwandlungen der Identität von Gretel Sieveking hervor. Der Film wird aus der Perspektive des Sohns, des Filmemachers David Sieveking, erzählt. In der Form eines klassischen autobiographischen Films, mit dem begleitenden Kommentar der Ich-Stimme des Regisseurs und Sohns aus dem Off, stellt der chronologisch aufgebaute Film einerseits die Fortschritte der Demenz bei Gretel dar und andererseits die damit einhergehenden Veränderungen in der Familie, die die physisch und geistig anstrengende Pflege der kranken Frau verursacht. Der Film setzt sich insgesamt mit den kontrastierenden Perspektiven auf das Leben von Gretel auseinander, die von ihrem Ehemann und ihrem Sohn angeboten werden, und reflektiert über die sich wandelnde Bedeutung von Autonomie für ihr Leben. Ähnlich wie bei Complaints of a Dutiful Daughter hat der Sohn hier mit der Tatsache zu kämpfen, dass Gretel ihn nicht mehr erkennt, wobei die Lösung, in die Welt der Demenzkranken quasi simulierend einzusteigen, die der frühere Film in Erwägung zieht, hier nicht angenommen wird. Vielmehr stellt der Film die vergangene Identität von Gretel mittels Erforschungen dar. Während Gretel immer weniger selbst in der Lage ist, sich und ihr Leben im Film verbal zu vertreten, erfährt ihr Sohn, der Regisseur, erst in der Gegenwart etwas über ihre Aktivitäten und Ansichten und somit ihre Identität jenseits des ›Mutterseins‹: z.B. als politisch Radikale in der Schweiz der 1970er

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Jahre oder als Feministin, die sich mit ihrem Mann schon in den frühen 1960er Jahren auf eine offene Ehe einigt, die beide konsequent ausleben. Dieser Film untersucht die Demenz in der Lebenswelt der Generation der 1968er und stellt nicht minder die übliche Verhüllung der Identität der Frau im Muttersein zur Schau. Das Gesicht der ehemals vitalen, viele Rollenbilder herausfordernden Frau (NDR-Moderatorin mit einer eigenen Sendung, politische Aktivistin, Kinderladengründerin) entleert sich zunehmend in diesem Film. Intentionalität lässt sich immer weniger aus ihrem Geschichtsausdruck lesen; sie scheint vor der Kamera beschleunigt zu ›altern‹ und zu einer anderen Gestalt als der ›eigenen‹, früheren zu werden. Die Angst und Verwirrung, die sie teilweise erlebt, können hier nicht übersehen werden. Wenn in diesem Film die stolze Vertreterin der 1968er-Generation, die – wie wir von dem Vater des Regisseurs erfahren – ihrem Mann noch nie »ich liebe dich« gesagt hat, denn diese Ehe basierte auf einer gemeinsam beschlossenen und respektierten Distanz, dies genau gegen Ende hin auf einmal tut, kann man dann noch annehmen, wie der Film es nahe legt, dass überhaupt dieselbe Frau spricht?26 Gretel Sieveking verbringt zunehmend mehr Zeit im Film mit geschlossenen Augen, die sie mit ihren Händen zuhält, sie weigert sich, spazieren zu gehen, und scheint auch immer weniger durch Bewegung an der Welt teilnehmen zu wollen. Gretel scheint dabei jedoch nicht zu leiden, solange sie in ihrer Entrücktheit nicht gestört wird. Hilfreich wäre es vielleicht anzunehmen, dass Dokumentarfilme, die sich mit der Erfahrung von Demenz befassen und sie ergründen wollen, oft einen Zustand von abandon bei den Dementen vermuten lassen. ›Abandon‹ suggeriert Unbekümmertheit, Ungezwungenheit, aber auch Hemmungslosigkeit und Selbstvergessenheit im wortwörtlichen Sinn. Es handelt sich um eine graduelle Selbstauflösung, die ambivalent gefärbt ist, denn das englische Substantiv ›abandon‹ verweist sowohl auf den Abschied von etwas als auch auf die Hingabe an etwas. Alan Berliners Dokumentarfilm First Cousin Once Removed (dt. Schleichendes Vergessen, US 2012) befasst sich mit dem Alterungsprozess des mit ihm verwandten Lyrikers, Übersetzers und emeritierten Professors der englischen Literatur und vergleichenden Literaturwissenschaft an der Brown University, Edwin Honig, der sowohl Cousin als auch inniger Freund und Mentor von Berliner war. Anders als die anderen hier diskutierten Filme ist First Cousin Once Removed nicht

26 | Frances Hoffmann, die Regisseurin von Complaints of a Dutiful Daughter, erlebt eine ähnliche emotionale Umwandlung bei ihrer Mutter, die von Hoffman im Interview mit der amerikanischen lesbisch/schwulen Aktivistenzeitschrift The Advocate wie folgt beschrieben wird: »›It’s the strange upside of the disease,‹ explains Hoffmann. ›Before Alzheimer’s, she was OK about my being a lesbian but uncomfortable about it. Afterward, she became 100% accepting.‹« Michele Kort: Real life: Three lesbian filmmakers get Oscar nods for documentaries touching on coming out to family, in: The Advocate (1995) H. 678, S. 50.

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chronologisch erzählt, sondern verwendet eine disjunctive Montage,27 um Diskontinuität hervorzuheben und verschiedene Zeiten miteinander zu kontrastieren. Gleich am Anfang des Films z.B. werden verschiedene Besuche zusammenmontiert, um das variierende Befinden von Edwin zu veranschaulichen: Die Ankunft von Berliner zusammen mit dem Kameramann an der Tür von Honigs Wohnung über mehrere Tage und Wochen wird – in die Bewegung schneidend – zusammen montiert, um die unterschiedlichen Zustände und Reaktionen von Honig vergleichend darzustellen. Es handelt sich hier somit weniger darum, Honigs Geschichte als unabänderliche Verschlechterung darzustellen; der Regisseur weigert sich regelrecht, dies als strukturierendes Prinzip anzuwenden. Vielmehr geht es darum, die Spezifizität von Honigs Befinden und seiner Form der Auseinandersetzung mit der Welt zu beobachten. Bemerkenswert an diesem Film ist der Versuch, eine Ahnung der spezifischen Erfahrung eines an Alzheimer Erkrankten, insbesondere durch die Erfahrung des abandon, nämlich der Selbstvergessenheit und zugleich Hemmungslosigkeit, zu vermitteln. Berliner stellt in diesem Film das Fortschreiten der AlzheimerKrankheit über fünf Jahre dar, um den Wandel bei der Hauptfigur hervorzuheben, der von Sprachgewandtheit bis hin zu einem gänzlich anderen, weitgehend sprachlosen Zustand führt. Edwin singt, summt und zwitschert immer häufiger vor sich hin. Durch den Zusammenschnitt von vielen verschiedenen Momenten werden Vergleiche zwischen Honigs Äußerungen zu verschiedenen Zeitpunkten über die wichtigen Momente in seinem Leben ermöglicht. Bis zuletzt werden Honigs Äußerungen von Berliner jedoch ernst genommen, selbst wenn sie Fehlleistungen zu sein scheinen oder fast nur noch in Laute übergehen, was Berliner mit der Aussage »you never stopped being a poet« (TC: 01:14:58) begründet. Während man dies als analoge Aussage zur Identitätsbestätigung des ersten hier diskutierten Films, Still Alice, betrachten könnte, verbirgt sich meines Erachtens eine radikalere Aussage dahinter: die der Schwächung der Grenzen des Subjekts. Denn es geht in First Cousin Once Removed vielmehr um die Möglichkeit einer wachsenden und immer radikaleren Offenheit zur Welt, die sich für Honig bereits in den sprachlichen Verschiebungen, die als Motor seiner Übersetzungen und seiner Lyrik dienten, ankündigten, sich aber in diesem Fall zuletzt auf die gesamte Umgebung ausweiten. In seinem Buch Poetik des Raumes schrieb Gaston Bachelard Folgendes über die »Phänomenologie der Ausdehnung, der Ausweitung, des Außersichseins«,28 die seines Erachtens in der Kontemplationsform der Tagträume zu entdecken ist: 27 | Anders als die sogenannte continuity editing die die Einheit von Raum und Zeit betont und danach strebt, Schnitte im Fluss der Erzählung ›unsichtbar‹ zu machen, hebt eine disjunctive Montage, sowohl die Schnitte als auch die Lücken in Raum und Zeit hervor, die durch die Schnitte verursacht wurden. 28 | Gaston Bachelard: Die Poetik des Raumes, übers. v. Kurt Leonhard, Frankfurt a.M. 1987, S. 225.

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Robin Cur tis Die Unermeßlichkeit ist, könnte man sagen, eine philosophische Kategorie der Träumerei. Zweifellos nährt sich die Träumerei von verschiedenartigen Szenerien, aber sie hat gewissermaßen eine angeborene Neigung für das Betrachten der Größe. Und die Betrachtung der Größe löst eine so besondere Haltung aus, eine so eigentümliche Stimmung, daß die Träumerei den Träumer aus seiner nächsten Umgebung hinaus in eine andere Welt versetzt, die das Merkmal einer Unendlichkeit trägt. 29

Während es vielleicht vermessen zu sein scheint, die Inhalte der Tagträume der Demenzkranken beschreiben zu wollen, wäre die schlichte Annahme einer Tabula rasa bei Demenzkranken in der Abwesenheit der gewöhnlichen Umgangsformen genauso vermessen. Honig scheint nach und nach Teil seiner Umgebung mit den zwitschernden Vögeln und den zitternden Blättern der Bäume vor dem Fenster zu werden. Die letzte Äußerung von Honig im Film kommt plötzlich: Er unterbricht sein Summen und auch eine Zusammenfassung seiner künstlerischen Absichten, die gerade von Berliner aus dem Off vorgetragen werden, und sagt mit großer Klarheit: »Forget me please, for one day, one week, one month, just forget me. I am here and that is all. Goodbye, goodnight, go to sleep.« (TC: 01:15:21-01:15:40) Er beginnt sofort wieder, vor sich hin zu summen. Je mehr Honig sich von der Sprache verabschiedet, umso mehr legt der Film eine Angleichung an die Tier- und Pflanzenwelt in einem posthumanistischen Sinne nahe. Im Sterben löst sich auch diese auf. Was übrig bleibt, ist ein leerer Stuhl.

Q uellenverzeichnis Filme Away from Her (dt. An ihrer Seite, CDN 2007, Regie: Sarah Polley). Complaints of a Dutiful Daughter (US 1994, Regie: Deborah Hoffmann). Dying at Grace (CDN 2005, Regie: Allan King). First Cousin Once Removed (dt. Schleichendes Vergessen, US 2012, Regie: Alan Berliner). Memory: For Max, Claire, Ida and Company (CDN 2005, Regie: Allan King). Still Alice (dt. Still Alice – Mein Leben ohne Gestern, US/F 2014, Regie: Richard Glatzer, Wash Westmoreland). The Notebook (dt. Wie ein einziger Tag, US 2004, Regie: Nick Cassavetes). The Savages (dt. Die Geschwister Savage, US 2007, Regie: Tamara Jenkins). The Young Ones (GB 2010, Regie: Kirsty Cunningham). Vergiss mein nicht (D 2012, Regie: David Sieveking).

29 | Ebd., S. 213.

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Primärtexte Davis, Robert; Davis, Bettie: My Journey into Alzheimer’s Disease, New York 1989. DeBaggio, Thomas: Losing my Mind: An Intimate Look at Life with Alzheimer’s, New York 2002. DeBaggio, Thomas: When it gets Dark: An Enlightened Reflection on Life with Alzheimer’s, New York 2003. Franzen, Jonathan: My Father’s Brain, in: The New Yorker, (September 10, 2001), S. 80-82. Henderson, Cary Smith: Partial View: An Alzheimer’s Journal, College Station 1998. Ignatieff, Michael: Scar Tissue, Toronto 1993. Lee, Jeanne L.: Just Love Me: My Life Turned Upside Down by Alzheimer’s, West Lafayette 2003. McGowin, Diana Friel: Living in the Labyrinth. A Personal Journey Through the Maze of Alzheimer’s, New York 1993. Sacks, Oliver: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselt, übers. v. Dirk van Gunsteren, Reinbek b.H. 1987.

Sekundärtexte Bachelard, Gaston: Die Poetik des Raumes, übers. v. Kurt Leonhard, Frankfurt a.M. 1987 [La poétique de l’espace, Paris, 1957]. Basting, Ann Davis: Looking back from loss: Views of the self in Alzheimer’s disease, in: Journal of Aging Studies 17 (2003) H. 1, S. 87-99. Beard, Renée, L.; Knauss, Jenny; Moyer, Don: Managing disability and enjoying life: How we reframe dementia through personal narratives, in: Journal of Aging Studies 23 (2009) H. 4, S. 227-235. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film, London u.a. 1985. Eakin, Paul John: How our lives become stories: Making selves, Ithaca 1999. Eakin, Paul John: Living Autobiographically: How we Create Identity in Narrative, Ithaca 2008. Grierson, Bruce: What if Age is Nothing but a Mindset?, in: The New York Times, 22. Oktober 2014, S. MM52. Hertogh, Cees M.P.M. u.a.: Would We Rather Lose Our Life Than Lose Our Self? Lessons From the Dutch Debate on Euthanasia for Patients With Dementia, in: The American Journal of Bioethics 7 (2007) H. 4, S. 48-56. Kontos, Pia; Martin, Wendy: Embodiment and dementia: Exploring critical narratives of selfhood, surveillance, and dementia care, in: Dementia 12 (2013) H. 3, S. 288-302. Kort, Michele: Real life: Three lesbian filmmakers get Oscar nods for documentaries touching on coming out to family, in: The Advocate (1995) H. 678, S. 50-52.

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Krüger-Fürhoff, Irmela Marei: Narrating the limits of narration: Alzheimer’s disease in contemporary literary texts, in: Aagje Swinnen, Mark Schweda (Hg.): Popularizing Dementia. Public Expressions and Representations of Forgetfulness, Bielefeld 2015, S. 89-108. Langer, Ellen J. u.a.: Nonsequential Development and Aging, in: Charles Alexander, Ellen J. Langer (Hg.): Higher Stages of Human Development: Perspectives on Adult Growth, New York 1990, S. 114-136. Moran, Joe: Aging and identity in dementia narratives, in: Cultural Values 5 (2001) H. 2, S. 245-260. Neisser, Ulric: Five Kinds of Self Knowledge, in: Philosophical Psychology 1 (1988) H. 1, S. 35-59. World Health Organization und Alzheimer’s Disease International (Hg.): Dementia: A Public Health Priority, Genf 2012.

Die Komik des Vergessens Altersdemenz im japanischen Film am Beispiel von Pecoross’ Mother and her Days Elisabeth Scherer, Christian Tagsold

Die japanische Gesellschaft altert rapide. Durch das Zusammenspiel von einer sehr hohen durchschnittlichen Lebenserwartung und einer äußerst niedrigen Geburtenrate hat Japan inzwischen einen Anteil alter Menschen über 65 Jahre von 25,1 Prozent erreicht.1 Dabei hat es nicht einmal ein halbes Jahrhundert gedauert, dass eine relativ junge Gesellschaft sich radikal wandelte. Das lässt sich besonders deutlich an zwei Kennzahlen festmachen, anhand derer die Vereinten Nationen einen demographischen Übergang bewerten; mehr als 7 Prozent Altenanteil sind typisch für Industriegesellschaften, während mehr als 14 Prozent üblicherweise postindustrielle Gesellschaften charakterisieren. Japan vollzog den Übergang von unter 7 auf über 14 Prozent innerhalb von noch nicht einmal einem Vierteljahrhundert zwischen 1970 und 1994. Andere westliche Gesellschaften alterten dagegen wesentlich langsamer; in Frankreich dauerte dieser Übergang 115, in Großbritannien und Deutschland 45 Jahre.2 2060 werden nach Schätzungen des National Institute of Population and Security Research Japan knapp 40% aller Menschen in Japan über 65 Jahre alt sein.3 1 | Vgl. Statistics Bureau of Japan: Japan Statistical Yearbook 2015, Tokyo 2015, http:// www.stat.go.jp/english/data/nenkan/index.htm [Zugriff 16.06.2015]. 2 | Vgl. Hayato Kaneko: Kōreishakai: Nani ga dō kawaru ka [Die alternde Gesellschaft: Was verändert sich wie?], Tokyo 1995, S. 13. 3 | Wesentliche Unsicherheitsfaktoren, die sich auf die Schätzung auswirken könnten, sind dabei die Entwicklung der Geburtenrate und die der Zuwanderung. Japan bräuchte eigentlich eine hohe Zuwanderung, um die Entwicklung abzudämpfen. Bislang konnte sich jedoch keine Regierung dazu entschließen, das restriktive Zuwanderungsregime aufzulockern; siehe National Institute of Population and Social Security Research: Population Projections for Japan (January 2012): 2011 to 2060, http://www.ipss.go.jp/site-ad/index_english/esuikei/ppfj2012.pdf [Zugriff: 09.03.2015], S. 16.

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Insofern verwundert es nicht, dass Alter(n) schon einige Jahrzehnte im japanischen Film Thema ist. Seit den 1990er Jahren sind jedoch angesichts der sich beschleunigenden demographischen Entwicklung deutlich mehr Filme erschienen, die zudem einen anderen Blickwinkel auf die Frage des Alterns haben. Dazu gehört Pekorosu no haha ni ai ni iku (engl. Pecoross’ Mother and her Days, J 2013) von Regisseur Morisaki Azuma, der im November 2013 in den japanischen Kinos startete und ein großes Echo hervorrief. Der Film behandelt das Thema Demenz aus der Perspektive Okano Yūichis (Iwamatsu Ryō),4 eines Zeichners von Mangas, der japanischen Form von Comics. Okano, von seinen Freunden Pecoross genannt, muss sich um seine Mutter kümmern, die eine immer stärkere Demenz entwickelt. Trotz dieses nicht ganz einfachen Themas ist der Film vor allem eine anrührende Komödie. Von der wichtigsten japanischen Filmzeitschrift zum besten Film des Jahres 2013 gekürt, hat Pecoross’ Mother and her Days inzwischen auch international Anerkennung erfahren. Pecoross’ Mother and her Days bildet den vorläufigen Endpunkt einer Auseinandersetzung mit der Thematik Altern und insbesondere Demenz in der japanischen Gesellschaft und im fiktionalen Film, wie wir im ersten Kapitel zeigen werden. Der Film ist aus einem Manga entstanden und beinhaltet stark autobiographische Elemente. Diese Vorgeschichte und die inhaltliche Analyse sind Thema des zweiten und dritten Kapitels. Schließlich zeigen wir, wie dieser Film über seine zeitliche Struktur Vergangenheit und Gegenwart verbindet und so klassische Phänomene von Demenz gestalterisch aufnimmt und umsetzt.

A ltersdemenz als Thema des japanischen F ilms in der z weiten H älf te des 20. J ahrhunderts Bis in die Nachkriegszeit war Japan noch agrarisch geprägt, was sich auch in der demographischen Struktur widerspiegelte. Zwar hatte das Land seit Ende des 19. Jahrhunderts einen ersten starken Industrialisierungsschub erfahren und sich zunehmend urbanisiert. Trotzdem setzte der für Industriegesellschaften typische demographische Wandel erst mit einer gewissen Verzögerung ein. Auf den Zweiten Weltkrieg folgte zunächst ein Babyboom – ein Phänomen, das viele Gesellschaften betraf, die in den Krieg involviert gewesen waren. Ein Grund dafür war, dass die heimkehrenden Kriegsveteranen vermehrt Familien gründeten, während junge Frauen nach dem Krieg nur schwer Zugang zum Arbeitsmarkt fanden und daher – mangels alternativer Lebenspläne – ebenfalls bereit zur Familiengründung waren.5 Die japanische Regierung versuchte allerdings schnell, 4 | Japanische Namen werden im Aufsatz in der in Japan üblichen Form wiedergegeben. Der Nachname (Okano) steht vor dem Vornamen (Yūichi). 5 | Vgl. Yishav D. Maoz, Matthias Doepke, Moshe Hazan: More babies for Europe: Lessons from the post-war baby boom, http://www.voxeu.org/article/europe-s-fertility-crisis-lessons-post-war-baby-boom [Zugriff: 04.03.2015].

Altersdemenz im japanischen Film

die Geburtenrate zu senken, um die Versorgung der Bevölkerung in der direkten Nachkriegszeit überhaupt gewährleisten zu können. Erst in den 1970er Jahren fiel die Geburtenrate jedoch wirklich drastisch, als Japan endgültig und auch in der Wahrnehmung der Bevölkerung zu einer Industrienation geworden war. Bedingt durch die niedrige Geburtenrate, die gute medizinische Versorgung und die hohe Lebenserwartung begann die bereits angesprochene demographische Entwicklung von einer jungen zu einer alten und bald fast hochalten Gesellschaft. Dementsprechend dauerte es, bis die Frage des Alters breit in gesellschaftlichen Diskursen aufgegriffen wurde. Das spiegelt sich in der Entwicklung der japanischen Filmgeschichte wider. In der Nachkriegszeit wurde das Thema Alter zunächst vor allem über Generationenkonflikte behandelt. Das bekannteste Beispiel ist Ozu Yasujirōs Film Tōkyō Monogatari (dt. Die Reise nach Tokio, J 1953), in dem ein altes Ehepaar (Chishū Ryū/Chieko Higashiyama) seine Kinder besucht, die in Tokyo wohnen. Nach kurzer Zeit stellt sich heraus, dass die vielbeschäftigten Kinder keine Zeit für ihre Eltern haben und der Besuch eher als Last wahrgenommen wird; das Ehepaar wird sogar vorübergehend obdachlos, und als am Ende die Mutter stirbt, stellt dies für die Kinder auch nur eine kleine Unterbrechung ihres hektischen Alltags dar. Ozu reflektiert hier die Auflösung klassischer Familienstrukturen und zeigt Alter am Fall des Paares als eine Phase, in der man beiseitetritt und zum Beobachter wird, in der man damit zurechtkommen muss, nicht mehr gebraucht zu werden. Damit ist der Film im weitesten Sinn eine Metapher für die Verarbeitung des Zweiten Weltkrieges. Die junge Generation reibt sich für den Neuauf bau der Gesellschaft auf und lässt die alte dabei hinter sich. Demenz wird im japanischen Film erst später zu einem größeren Thema. Toyoda Shirō rückte in dem Film Kōkotsu no hito (engl. The Twilight years, J 1973), einer Verfilmung des ein Jahr zuvor erschienenen gleichnamigen Romans von Ariyoshi Sawako, erstmals eine demente Person ins Zentrum der Handlung.6 Ariyoshis Roman, der in Japan zu einem Bestseller wurde, schildert die Situation einer Frau, die sich um ihren schwer dementen Schwiegervater kümmern muss und dabei weitgehend allein gelassen wird. Der Film zeigt, wie die Hauptfigur Akiko (Takamine Hideko) mit zahlreichen Schwierigkeiten kämpft, sowohl mit dem alten Mann (Morishige Hisaya), der nachts nicht schläft und immer wieder fortläuft, als auch mit ihrem Umfeld, von dem keine Unterstützung kommt. Ihr wird erklärt, dass kein Altenheim den Vater in diesem Zustand aufnehmen würde, Demenz sei höchstens ein Fall für die Psychiatrie. Dennoch entwickelt sie eine enge Beziehung zu ihrem Schwiegervater und scheint nach seinem Tod die einzige zu sein, die wirklich um ihn trauert. Tatsächlich setzte eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Altern erst Anfang der 1970er Jahre ein, ohne dass dabei Demenz schon im Vordergrund gestanden hätte. Die Zahl der an Alzheimer oder anderen Formen von Demenz 6 | Vgl. Ariyoshi Sawako: The Twilight Years, Tokio 1984.

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Erkrankten war noch relativ niedrig und die Krankheitsbilder dementsprechend noch nicht gesellschaftlich breit bekannt. Zunächst wurde lange über die Anpassung des Sozialsystems diskutiert, das in Japan schwach ausgebaut war. Insofern schildern der Roman und der Film eine gesellschaftliche Problematik, die in den kommenden Jahrzehnten mit der rapiden Alterung an Dringlichkeit gewann, jedoch politisch lange nicht konsequent angegangen wurde. Eigentlich sollte 1973 das »Jahr 1 der neuen Sozialpolitik« werden; so zumindest hatte der damalige Premierminister Tanaka Kakuei es proklamiert.7 Doch die Ölkrisen führten zu einem Erlahmen der japanischen Wirtschaft und verengten so die Handlungsräume der Politik.8 Die in der Nachkriegszeit fast durchgängig regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) vollzog deshalb einen Schwenk in der Wohlfahrt, der 1977 im Wohlfahrtsprogramm der ›Japanese-style Welfare society‹ manifest wurde.9 Nicht der Staat, sondern vor allem die Familien sollten sich der Hilfsbedürftigen wie z.B. der Alten annehmen. Das stünde im Einklang mit der japanischen Tradition. Die LDP konnte so Traditionsverbundenheit zeigen und gleichzeitig die Kosten für Wohlfahrt auf die Privathaushalte abwälzen, brachte dadurch aber Familienangehörige von pflegebedürftigen (dementen) Alten in eine immer dramatischere Situation, die zunehmend gesellschaftlich thematisiert und problematisiert wurde. Insbesondere die Lage pflegender Töchter und Schwiegertöchter wurde angeprangert.10 Alleine gelassen vom Staat waren sie von der dreifachen Belastung durch Haushalt, Arbeit und Pflege der Alten strukturell völlig überfordert. Ein drastisches Symptom für dieses Problem ist die Anerkennung von kaigo-tsukare (›Erschöpfung durch Pflege‹) als anerkannte Krankheit im Jahr 1991.11 Der Film Ningen no yakusoku (engl. A Promise oder alternativ The Human Promise, J 1986) von Yoshida Yoshishige trägt diese Diskussion um die Erschöpfung pflegender Familienangehöriger in die Kinosäle. Sehr drastisch schildert er das Leben eines alten Ehepaares, das mehr und mehr auf Hilfe angewiesen ist. Vor allem die Frau (Murase Sachiko) verfällt zusehends körperlich und entwickelt eine starke Demenz, was die Schwiegertochter (Satō Orie), die mit der Pflege betraut 7 | Vgl. Shingo Shimada, Christian Tagsold: Alternde Gesellschaften im Vergleich: Solidarität und Pflege in Deutschland und Japan, Bielefeld 2006, S. 84. 8 | Vgl. ebd., S. 85. 9 | Vgl. John Creighton Campbell: How Policies Change: The Japanese Government and the Aging Society, Princeton, New Jersey 1992, S. 211f. 10 | Dem traditionalistischen Familienbild folgend ist es die Ehefrau des ältesten Sohnes, also die Schwiegertochter, die für die Pflege der älteren Generation verantwortlich ist. Entgegen diesem Idealbild nahmen und nehmen aber ungefähr ebenso häufig Töchter oder Ehepartner diese Rolle ein. 11 | Vgl. Richard Young, Fuki Ikeuchi: Religion in »the Hateful Age«, in: Susanne Formanek, Sepp Linhart (Hg.): Aging: Asian Concepts and Experiences, Past and Present, Wien 1997, S. 231.

Altersdemenz im japanischen Film

ist, überfordert. Der Mann (Mikuni Rentarō) ist selbst leicht dement, versucht seiner Ehefrau aber dennoch zu helfen. Alter und Demenz werden hier bis auf wenige Momente als äußerst leidvoll und hoffnungslos dargestellt. Deutlich wird mehrmals gezeigt, wie sich die alten Menschen einnässen; die bettlägerige Frau weint häufig vor sich hin und äußert den Wunsch, sterben zu dürfen. Der Film ist als Rückblick gestaltet: Direkt am Anfang des Films wird vorweggenommen, dass die alte Frau eines unnatürlichen Todes gestorben ist – wie sich dies zugetragen hat ist das Rätsel des Films, das kurz vor Ende gelöst wird. 1990 veröffentlichte die Yomiuri Shinbun, eine der großen Tageszeitungen Japans, eine Serie mit dem Titel An Aging Japan, die genau die Fragen von Ningen no yakusoku noch einmal aufgriff und damit breiteste Aufmerksamkeit erzielte. In elf Folgen wurden jeweils Einzelfälle aus dem japanischen Pflegealltag geschildert und anhand dieser Schicksale die unterschiedlichen Dimensionen der Problematik diskutiert. Die Serie machte deutlich, wie festgefahren die Situation in der Pflege war und welche Verzweiflung dadurch unter Pflegebedürftigen und Angehörigen herrschte. Gleich der erste Artikel schilderte den gemeinsamen Selbstmord eines alternden Ehepaares in auswegloser Lage. Die Serie stellte zwar auch positive und hoffnungsvolle Lösungsansätze vor, doch letztlich war der Grundtenor düster. Seit Mitte der 1990er Jahre war Altern so verstärkt zum Thema in den japanischen Medien geworden, und im Bereich des Films waren es besonders Frauen, die sich dieses Themas annahmen und dabei auch neue Perspektiven fanden.12 Besonders intensiv hat sich die Regisseurin Matsui Hisako mit dem Thema Altersdemenz auseinandergesetzt. In ihrem ersten Film, Yukie (J 1998), geht es um eine japanische Frau (Baishō Mitsuko), die mit ihrem amerikanischen Mann (Bo Svenson) in den USA lebt und von der Familie umsorgt wird, als sie an Alzheimer erkrankt. Hori sieht in diesem Film eine »utopian fantasy of Western culture seen from the point of view of a Japanese audience, as it shows a mutual partnership between a husband and wife that extends to the husband’s caring for his wife«.13 Matsuis zweiter Film Oriume (J 2002), der sich um eine Frau (Harada Mieko) und ihre demente Schwiegermutter (Yoshiyuki Kazuko) dreht, beruht auf dem Vorbild zweier Frauen, die nach einer Vorführung des Films Yukie auf die Regisseurin zugekommen waren und ihr ein Manuskript zu ihren eigenen Erfahrungen überreicht hatten.14 Die Regisseurin Makitsubo Tazuko schildert in ihrem Werk 12 | Vgl. Hori Hikari: Aging, Gender, and Sexuality in Japanese Popular Cultural Discourse: Pornographer Sachi Hamano and Her Rebellious Film Lily Festival (Yurisai), in: Matsumoto Yoshiko (Hg.): Faces of Ageing. The Lived Experiences of the Elderly in Japan, Stanford 2011, S. 115. 13 | Ebd., S. 117. 14 | Vgl. Keiko McDonald: Agony of Eldercare: Two Japanese Women Directors Study an Age-Old Problem, in: Hashimoto Akiko, John W. Traphagan (Hg.): Imagined Families, Lived Families. Culture and Kinship in Contemporary Japan, New York 2008, S. 61.

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Haha no iru basho (engl. The Place Where Mother Lives, J 2005), das auf einem Buch von Hisada Megumi basiert, wie die alte Mutter (Mabuchi Haruko) einer alleinerziehenden Frau (Konno Misako) in einem Pflegeheim ein neues würdevolles Leben beginnen kann: »The film depicts a care system that benefits both the residents and their families […]«.15 Somit mischen sich langsam positive Bilder in die Darstellung der Thematik. Alleine schon durch die breite Aufmerksamkeit, die die Pflege dementer Menschen im vorangegangenen Jahrzehnt in den Medien erfahren hatte, veränderte sich der Zugang zum Thema Demenz. Ein wichtiger Kontext für die Filme von Makitsubo ist zudem die Einführung einer Pflegeversicherung im Jahr 2000, die pflegenden Angehörigen in Japan endlich professionelle Unterstützung versprach.16 Zwar lösten sich durch diese Versicherung nicht alle Fragen der häuslichen Pflege. Doch machte dieser Schritt auf jeden Fall deutlich, dass sich die Gesellschaft und die Politik der Probleme und strukturellen Überforderung von Angehörigen bewusst geworden waren und daraus konkrete Maßnahmen ableiteten. Die Diagnose Demenz ist für die Betroffenen und Familienangehörigen noch immer nicht leicht. Doch das Thema hat viel von dem Schrecken verloren, der es gerade in den 1980er Jahren umgab. Pflege wird für Familienangehörigen nicht mehr zwangsläufig als strukturell nicht zu schulternde Aufgabe wahrgenommen, sondern als Herausforderung, die gemeistert werden kann. Viel dazu beigetragen haben grassroots-Initiativen, die das Alter nicht mehr aus der Gesellschaft ausschließen und durch Abschieben der Betagten in Heime unsichtbar machen wollen.17 Vielmehr sollen Alte in ihren angestammten Stadtvierteln gepflegt werden und dabei in Netzwerke eingebunden bleiben, die so gleichzeitig dazu beitragen, die alternde Gesellschaft als Chance zu selbstbestimmten Handeln und Leben zu begreifen. Indem die Pflege als Verantwortung aller für ihre direkte Umgebung begriffen wird, soll sie so als Weg zur grundlegenden Übernahme von Verantwortung für ein glückliches und würdiges Leben einschließlich des Lebensendes verstanden werden. Diese Ideale sind hoch gesteckt und lassen sich oft genug nicht so einfach einlösen. Außerdem hat die Pflegeversicherung auch bürokratische Hürden, wie z.B. in der Anerkennung von Pflegeleistungen und -institutionen mit sich gebracht, die grassroots-Initiativen vor unlösbare Aufgaben stellen. Trotzdem verbinden sich mit der Alterung Japans nicht mehr nur Ängste und Visionen einer schrecklichen Zukunft, sondern die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft mit einem erneuerten Wertebewusstsein und mehr Handlungsspielräumen für die individuelle Lebensgestaltung. Das spiegelt sich in der filmischen Aufarbeitung der gesellschaftlichen Alterung deutlich wider. Gegenwärtig gibt es einige japanische Filme zum Thema Demenz, die man zwar nicht unbedingt als Kassenschlager bezeichnen kann, die aber doch ein 15 | Hori: Aging, Gender, and Sexuality, S. 118. 16 | Vgl. Shimada, Tagsold: Alternde Gesellschaften, S. 102-105. 17 | Vgl. ebd., S. 138-144.

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breiteres Publikum erreichen konnten.18 Waga haha no ki (engl. Chronicle of my Mother, J 2011) von Harada Masato basiert auf einem Werk des berühmten Schriftstellers Inoue Yasushi (1907–1991) und schildert dessen Erfahrungen mit der Alterung und Demenz seiner Mutter. Dabei steht jedoch weniger die Pflege im Mittelpunkt als das Verhältnis des Sohnes (Yakusho Kōji) zur Mutter (Kiki Kirin), die ihn mit fünf Jahren weggegeben und einer Verwandten zur Erziehung überlassen hat. Der Film, der mit einer Starbesetzung aufwartet, gewann 2011 den großen Preis der Jury beim Montreal Film Festival und erreichte in Japan nach seinem Kinostart im April 2012 am ersten Wochenende über 100.000 Menschen.19 Auch Sakura saku (engl. Blossoms bloom, J 2014) von Tanaka Mitsutoshi wählt einen hoffnungsvollen Ansatz, um den Ausbruch der Demenz beim Großvater (Fuji Tatsuya) zu schildern. Der lebt bei seinem Sohn (Ogata Naoto), dessen Frau (Minami Kaho) und den beiden Kindern. Während die Krankheit anfänglich eher in abschreckenden Szenen thematisiert wird, verhilft sie schließlich der vorher zerrütteten Familie zu einem neuen Blick auf sich selbst und ihre lange verdrängten Probleme. Vor allem der Sohn erkennt, dass er seine Familie zu lange der Karriere untergeordnet hat. Die Familie findet im Film über traditionalistisch anmutende Vorstellungen zu sich – die Wertschätzung des ländlichen, scheinbar wahren Japans, die Achtung der Erinnerung und Werte der Alten, die Rückbesinnung auf eine klassische Rollenverteilung in der Familie. Insofern liefert der Film trotz einer Umwertung von Demenz letztlich eine sozialromantische und konservative Antwort auf die demographische Frage. So lässt sich konstatieren, dass Altern und Demenz insgesamt inzwischen ein Thema geworden ist, das zu einer erneuten Besinnung auf die Familie aufruft – das geschieht manchmal fast im Sinne der zutiefst konservativen Idealisierung der ›Japanese-Style Welfare Society‹ der 1970er, wie im Falle von Sakura saku. In Filmen wie Waga haha no ki oder Pecoross’ Mother and her Days ist der Grundtenor weniger idyllisch verklärend, aber dennoch von einer eher zuversichtlichen Haltung gegenüber dem Altern und der Demenz geprägt.

P ecoross ’ M other and her D ays : D er F ilm und seine M anga -V orl age Der Film Pecoross’ Mother and her Days, der im November 2013 in die japanischen Kinos kam, hat weltweit Kritiker und Zuschauer gleichermaßen begeistert: Er wurde von der wichtigsten japanischen Filmzeitschrift Kinema Junpō zum besten 18 | Von den im Folgenden genannten Filmen landete bei den Jahres-Einspielergebnissen in Japan keiner auf den oberen Rängen (vgl. http://www.eiga-ranking.com [Zugriff: 23.02.2015]). Dennoch können sie aufgrund ihrer kommerziellen Ausrichtung und Medienpräsenz als breitenwirksame Filme eingestuft werden. 19 | Vgl. http://www.cinematoday.jp/page/N0041777 [Zugriff: 23.2.3015].

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Film 2013 gewählt, gewann weitere nationale Filmpreise und wurde beim Filmfestival Nippon Connection 2014 in Frankfurt mit dem Hauptpreis ›Nippon Cinema Award‹ ausgezeichnet. »[D]er Regisseur Morisaki Azuma hat das ernste Thema der Pflege kein bisschen bedrückend dargestellt«,20 stellte die Tageszeitung Yomiuri Shinbun bei Erscheinen des Films fest. Das Thema Alterung lag Morisaki sicher auch deshalb nahe, da er selbst 1927 geboren wurde und damit bei den Dreharbeiten zu Pecoross’ Mother and her Days bereits 86 Jahre alt war. Der Film handelt von Okano Yūichi, genannt Pecoross,21 der mit seiner alten Mutter und seinem Sohn zusammen in einem Haus in Nagasaki wohnt. Der etwas verschrobene glatzköpfige Pecoross (gespielt von Iwamatsu Ryō, einem Schauspieler, Autor und Regisseur, der aus Nagasaki stammt) schwänzt seine Arbeit als Anzeigenverkäufer, tritt in Kneipen als Folk-Sänger auf und zeichnet leidenschaftlich Manga. Seine Mutter Okano Mitsue,22 die in der Kriegszeit in der Nähe von Nagasaki aufgewachsen ist, ist dement und legt zunehmend seltsame Verhaltensweisen an den Tag, bis Pecoross schließlich keine andere Möglichkeit mehr sieht, als sie in ein Pflegeheim zu geben. Pecoross’ Mother and her Days schildert auf humorvolle und zugleich einfühlsame Weise die Symptome von Altersdemenz, macht mit Ansätzen der Pflege vertraut und zeigt Wege für die Familie auf, mit der Demenz von Angehörigen umzugehen. Dabei wird die Pflege im Heim als letzte Konsequenz bezeichnenderweise nicht als familiäres Versagen präsentiert, sondern als zwar schmerzhafter, aber akzeptabler und notwendiger Schritt. Zugleich wird über Rückblenden das Leben von Okano Mitsue als Mädchen, junge Frau und Mutter in der Film-Gegenwart präsent: Sie knüpft eine tiefe Mädchenfreundschaft zu Kriegszeiten, erlebt den Atombombenabwurf auf Nagasaki aus der Ferne und lebt später in einer Ehe, in der sie auch häusliche Gewalt erleben muss. Pecoross’ Mother and her Days ist damit zugleich ein Film über das Vergessen und über das Erinnern. Den großen Erfolg verdankt der Film aber auch seiner Vorlage: Pecoross gibt es wirklich. Er lebt in Nagasaki und hat dort seit etwa 2000 in einem lokalen Nachrichtenblatt Manga veröffentlicht, die das alltägliche Leben mit seiner dementen Mutter Mitsue schildern. Okano Yūichi schreibt selbst über seine Motivation für die Manga: »Zu dieser Zeit waren Begriffe wie Pflege [kaigo] und Demenz [ninchishō] noch nicht so geläufig wie heute; ich habe einfach nur den ›Alltag mit 20 | Vgl. Seiji Fukunaga: Pekorosu no haha ni ai ni iku [Pecoross’ Mutter treffen], in: Yomiuri Shinbun, Abendausgabe 15.11.2013, S. 13. 21 | ›Pecoross‹ bezeichnet eine kleine Zwiebel; Okano Yūichi wird so genannt, weil sein Kopf mit der Glatze einer Zwiebel ähnelt. 22 | Okano Mitsue wird gespielt von Akagi Harue, die zum Drehzeitpunkt 88 Jahre alt war. Damit ist sie im Guinness-Buch der Rekorde als älteste Hauptdarstellerin der Welt verzeichnet worden (vgl. http://eiga.com/news/20131120/3/ [Zugriff: 23.2.2015]). Beim 68. Mainichi Eiga Concours [Mainichi-Filmwettbewerb] gewann sie außerdem den Preis als beste Hauptdarstellerin.

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einer Mutter, die Stück für Stück vergisst‹ auf interessante und lustige Weise zeichnerisch festgehalten.«23 2009 brachte er diese Manga erstmals im Selbstverlag in einem Sammelband heraus, der durch Mundpropaganda und soziale Medien sehr populär wurde.24 Ein Verlag veröffentlichte daraufhin im Jahr 2012 das Werk in großer Auflage, und eine neue Manga-Serie von Okano über seine Mutter startete 2013 in der Wochenzeitschrift Shūkan Asahi unter dem Titel Das Schatzkästchen von Pecoross’ Mutter. Darüber hinaus wurde Okano Yūichi ein beliebter Gesprächspartner für Talkrunden über Pflege und als Redner bei Veranstaltungen für Pflegekräfte. Okano Mitsue ist am 24. August 2014 im Alter von 91 Jahren verstorben.25 In der japanischen Gesellschaft, in der Pflege immer noch eher als Frauensache angesehen wird, wird Okanos intensive Auseinandersetzung mit der Pflege seiner Mutter auch gerade deshalb als ein Novum angesehen, weil er ein Mann ist. Das Thema »pflegende Söhne« wird seit kurzem jedoch vermehrt in den japanischen Medien und in der Wissenschaft aufgegriffen, teilweise auch mit Bezug auf Okano.26 Der Manga-Band setzt sich zusammen aus kürzeren und längeren Episoden aus dem Leben Okano Mitsues, die nicht in chronologischer Reihenfolge präsentiert werden. Am Anfang des Buches stehen einige kleine Anekdoten aus dem Pflegeheim, bevor im ersten Kapitel hauptsächlich die Zeit geschildert wird, in der Mutter, Sohn und Enkel noch unter einem Dach gelebt haben. Ab dem zweiten Kapitel erhält die Vergangenheit eine immer stärkere Präsenz im Manga und es tauchen zunehmend auch Verstorbene, vor allem Mitsues Mann, auf. So wird an einer Stelle über die Gestaltung des Manga deutlich, dass Mitsue zwar in ihrem Pflegebett liegt, sich selbst aber in einer ganz anderen Zeit sieht, in der sie ihre längst verstorbene kleine Schwester auf dem Rücken trägt und mit ihrer ebenfalls 23 | Okano Yūichi: Pekorosu no haha ni ai ni iku [Pecoross’ Mutter treffen], Fukuoka 2014, S. 190. 24 | Vgl. Anonym: Ninchishō ashita e (Nr. 27). Kazoku no omoi; haha no kaigo, musuko ga manga ni [Demenz – Aufbruch ins Morgen (Nr. 27). Die Sicht der Familie; ein Sohn thematisiert die Pflege seiner Mutter im Manga], in: Yomiuri Shinbun, Abendausgabe 26.3.2013, S. 7. 25 | Vgl. Anonym: Kurzmeldung ohne Titel zum Tod Okano Mitsues, in: Yomiuri Shinbun, Abendausgabe 25.8.2014, S. 12. 26 | Neben Okano Yūichi ist Suzuki Hiroyasu ein bekanntes Beispiel für einen pflegenden Sohn. Er hat 2009 ein Buch über die Pflege seiner Mutter veröffentlicht. Hirayama Ryō und Ueno Chizuko gaben 2014 ein Buch mit dem Titel »Das Zeitalter der pflegenden Söhne nähert sich – 28 Erfahrungsberichte« heraus. Einige Beispiele für das Aufgreifen dieses Themas in den Medien: Im Juni 2013 erschien in der Asahi Shinbun ein Artikel von Morohashi Taiki unter dem Titel »Das Zeitalter der pflegenden Söhne« (Morgenausgabe, 9.6.2013, S. 13). Die Wochenzeitschrift Shūkan Asahi veröffentlichte im September 2014 (Ausgabe 5.9.2014, S. 178) die Ergebnisse einer Umfrage unter 500 Männern, deren Eltern pflegebedürftig sind.

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toten Freundin Chieko spricht (s. Abb. 1). Einige Episoden aus dem Leben mit seiner Mutter schildert Okano Yūichi in dem Buch nicht als Manga, sondern in Form von Kurzgeschichten.

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Bei Amazon Japan wurde der Manga von 210 Kunden mit durchschnittlich 4,8 von 5 Sternen bewertet.27 Viele der Amazon-Rezensenten berichten, dass sie selbst mit der Pflege von Angehörigen beschäftigt sind und im Manga Parallelen erkennen können. Darüber hinaus geben Rezensenten an, dass sich ihr Bild von Demenz verändert habe: »[I]ch war überrascht davon, wie reich das Leben mit Demenz sein kann.«28 »Während sie vor sich hindöst, reist sie durch die Jahrzehnte. Bei dieser Szene ist mir der Gedanke gekommen, dass Demenz gar nicht so schlecht ist.«29 Auch Respekt gegen über den Eltern ist ein Thema, das von den Rezensierenden häufig angesprochen wird: »Wenn man dieses Buch liest, fühlt man, denke ich, wie wichtig die Eltern sind und will kindliche Pietät zeigen. Ein wunderbares Buch, das das Band zur Familie stärker werden lässt.«30 Der Manga ist auch im Film präsent, zum einen über Sequenzen, in denen Pecoross beim Zeichnen zu sehen ist, und zum anderen über die Anfangssequenz, in der die Situation des Protagonisten und seiner Mutter mit einer kleinen Zeichentrick-Sequenz, die im Stil des Mangas gehalten ist, eingeführt wird. Pecoross fungiert hier als Erzähler und erwähnt, dass seine Mutter angefangen habe senil zu werden, als der Vater gestorben ist. Er verwendet dabei das Verb ›bokeru‹, ›senil werden‹ bzw. ›verkalken‹, statt des eher medizinischen und eigentlich korrekteren Begriffs ninchishō, ›Demenz‹. Die Situation der Mutter, die beginnt in ihrer eigenen Welt zu leben, wird in dem kleinen Anime metaphorisch dargestellt: Mitsue wird in einer Schachtel gezeigt, über deren Rand sie mühsam – aber mit einem Lächeln – herausschaut und ihren Sohn ruft (s. Abb. 2). Zudem fragt sie nach ihrem Mann, der bereits zehn Jahre zuvor verstorben ist. Damit ist das Thema des Films etabliert, das den gesamten Handlungsverlauf dominiert und über verschiedene narrative Muster präsentiert wird. Zum einen lebt der Film von der Komik, die sich aus der Verschrobenheit des Protagonisten, aber auch aus den Symptomen der Demenz ergibt. Darüber hinaus wird mit filmischen Mitteln wie Parallelmontagen verdeutlicht, wie die Mutter in einen kindlichen Zustand übergeht und sich das Eltern-Kind-Verhältnis zwischen Pecoross und ihr verkehrt. Eine weitere stilistische Besonderheit ist die Präsenz des Vergangenen in der Film-Gegenwart, was vor allem über Rückblenden erreicht wird. Der Film wurde in Nagasaki gedreht und die Figuren sprechen im dortigen Dialekt, wodurch der Film eine starke lokale Nuance erhält und eine zusätzliche Parallele zum Manga entsteht, der ebenfalls im Nagasaki-Dialekt verfasst ist.

27 | Stand: 10.10.2014, http://www.amazon.co.jp/dp/4816708537. 28 | Cilantro am 20.4.2014, http://www.amazon.co.jp/review/R3E7EO4H0T94E7/ [Zugriff: 15.06.2015]. Übersetzung hier und im Folgenden: E.S. 29 | Chakkumōru am 20.2.2013, http://www.amazon.co.jp/review/R2RZKZ2E3U1VC5/ [Zugriff: 15.06.2015]. 30 | haru 7717 am 10.12.2012, http://www.amazon.co.jp/review/RRWIXGC9909KW/ [Zugriff: 15.06.2015].

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Abb. 2: Pecoross’ Mother and Her Days, TC: 00:02:34

S ymp tome von D emenz z wischen K omik und M el ancholie Schon in der ersten Sequenz, in der Okano Mitsue auftaucht (TC: 00:03:50), sorgt ihre Demenz für Situationskomik: Zuerst ist nur das Licht einer Taschenlampe zu sehen, dann das Gesicht der alten Frau, das von ihr beleuchtet wird. »Yūichi, ich bin in eine Fliegenfalle getreten!«, beschwert sich Mitsue laut und tappt im Schlafanzug, die Lampe in der Hand und die große klebrige Falle am Fuß, über den Flur. In Yūichis Zimmer läuft der Fernseher und die Lichter sind an, was Mitsue dazu veranlasst, vorsorglich alle Stecker zu ziehen. Daraufhin wird das Bild schwarz, und man hört nur noch ihre Stimme: »Yūichi, ich sehe nichts!« Wie in dieser Szene werden im Verlauf des Films mehrmals typische Symptome von Demenz geschildert und mit einer komischen Nuance versehen. Mitsue vergisst, dass jemand am Telefon ist, sie vergisst einen Gast im anderen Zimmer, sie will Sake für ihren längst verstorbenen Mann kaufen und sie wartet den ganzen Tag auf dem Parkplatz, bis ihr Sohn von der Arbeit nach Hause kommt. Kurz bevor sich Pecoross entscheidet, dass seine Mutter in einem Heim besser aufgehoben ist, entdeckt er, dass sie in der Schublade einer Kommode eine riesige Menge an schmutziger Unterwäsche versteckt hat. Auch diese Szene arbeitet der Regisseur humoristisch auf: Zunächst entdeckt Pecoross nur einen weißen Zipfel, der aus einer Schublade hängt (TC: 00:33:15). Als er daran zieht, kommt eine große Unterhose zum Vorschein; hektisch zieht er die Schublade auf, aus der sofort eine große Masse an schmutziger Unterwäsche quillt. Pecoross weicht zurück wie vor einem Ungeheuer und fällt zu Boden, worauf sein Sohn Masaki (Owada Kensuke) dazukommt und ebenfalls wie zum Blitz getroffen zu Boden geht und sich die Augen zuhält. Nach dieser Szene folgt ein Zeitsprung, und

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Pecoross ist mit einer Pflege-Beraterin zu sehen, die ihm erklärt, dass das Verstecken von Unterwäsche oder anderen Dingen ein übliches Symptom von Demenz sei. Somit wird die Situation für die Zuschauenden zwar zunächst komisch präsentiert, anschließend aber sofort ins Krankheitsbild eingeordnet.

Abb. 3: Pecoross’ Mother and Her Days, TC: 00:49:05 Als Mitsue im Heim lebt, werden ihre Symptome zunehmend auch mit melancholischen Untertönen präsentiert. Einmal sitzt sie am Gruppentisch und ›näht‹ mit einer imaginären Nadel an einem Sommerkimono (s. Abb. 3). Von der Pflegerin angesprochen erklärt sie, dass sie ihn für Yūichi flicken müsse. Ihren Enkel hält sie für den Briefträger und gibt ihm Post für eine längst verstorbene Freundin mit (TC: 00:54:20). Besonders dramatisch wird ein Moment geschildert, in dem die Mutter ihren Sohn plötzlich nicht mehr wiedererkennt und panisch aufschreit, als er das Zimmer betritt (TC: 01:19:38). Selbst als er ihr seine Glatze zeigt – was normalerweise als untrügliches Erkennungszeichen funktioniert hat – kann er sie nicht beruhigen und eine Pflegerin muss sich um sie kümmern. Als die Pflegerin Pecoross wieder ins Zimmer holt, schläft die Mutter und er schaut sich im Zimmer um. Es werden von ihm gezeichnete Manga an der Pinnwand eingeblendet, auf denen er und seine Mutter zu sehen sind; auf einem steht: »Mutter, vielen Dank für alles! Es ist in Ordnung wenn Du mich vergisst, Hauptsache es geht Dir gut!« Yūichi beginnt seine schlafende Mutter zu zeichnen und kann schließlich die Tränen nicht mehr zurückhalten, was in Großaufnahme und begleitet von einer traurig wirkenden Streicher-Melodie gezeigt wird. Daraufhin wacht die Mutter auf, erkennt Yūichi, sagt ihm er solle nicht weinen und streichelt seine Glatze (s. Abb. 4). Die Sequenz wird damit wie die gesamte zweite Hälfte des Films sehr emotional gestaltet und soll die Bindung zwischen Mutter und Sohn – trotz des Vergessens – verdeutlichen.

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Abb. 4: Pecoross’ Mother and Her Days, TC: 01:23:36

R ückkehr in die K indheit und U mkehr des E ltern -K ind V erhältnisses Ein wichtiges Motiv von Pecoross Mother and her Days ist die Umkehr des ElternKind-Verhältnisses – diejenige, die sich immer gekümmert hat, wird zu derjenigen, um die man sich kümmern muss. Deutlich wird dies zum Beispiel über eine Rückblende, die Pecoross’ Kindheit mit der Gegenwart in Beziehung setzt. Pecoross sitzt im Auto auf dem Weg nach Hause, als er sich erinnert, wie er als kleiner Junge abends nicht schlafen wollte (TC: 00:23:20). In einer Rückblende wird gezeigt, wie seine Mutter ihn ins Bett steckt, zudeckt und ihm von einem Ungeheuer erzählt, das komme, wenn er nicht schlafe. Im Anschluss an diese Rückblende führt er seine Mutter nach Hause, die auf dem Parkplatz auf ihn gewartet hat, und die Zuschauenden sehen, wie er anschließend die Decke seiner Mutter zurechtrückt, nachdem er sie ins Bett gebracht hat. Auch über die anderen Bewohner des Pflegeheims entsteht ein Bild von Demenz als Rückkehr in eine kindliche Phase. Als Pecoross zusammen mit seinem Sohn Mitsue ins Heim bringt, begegnen ihnen eine kleine alte Frau auf der Suche nach Bonbons (TC: 00:39:15), eine Frau, die das Heim für ihre Schule hält (TC: 00:39:57), und eine, die vermeintlich ihre kleine Schwester herumträgt, die beim Atombombenabwurf gestorben ist (TC: 00:40:20). Skurriler Höhepunkt dieser Darstellung von Demenz als Rückentwicklung ist eine Sequenz, in der die Heimbewohner bei einem Ausflug mit Pflegerinnen und Angehörigen zu sehen sind. Hier schließt sich ein Großteil der Dementen versehentlich einer Klasse von Grundschülern an – die alten Männer und Frauen folgen der Trillerpfeife der Lehrerin und trotten hinter den Kindern her.

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Das Titellied des Films, Kazumiji (dt. Ein nebliger Weg, gesungen von Hitoto Yō), greift dieses Thema ebenfalls mit einer Zeile auf: »Allmählich kehre ich in die Kindheit zurück, allmählich kehre ich zu Dir zurück.« Zu keinem Zeitpunkt wird im Film jedoch das kindliche Verhalten der dementen alten Menschen problematisiert oder gar negativ bewertet – für die Pflegerinnen gehört es offensichtlich zum normalen Umgang mit den alten Menschen, auf deren Verhaltensweisen und Bedürfnisse einzugehen. Eher ist es so, dass in dem Film – ebenso wie in dem Manga – die alten Menschen mit ihren teilweise seltsam anmutenden Verhaltensweisen als niedlich (jap. kawaii) präsentiert werden.

P r äsenz des V ergangenen Das Leben der Mutter, ihre Jahre als Kind, junges Mädchen und als junge Mutter, werden in Pecoross’ Mother and her Days über Rückblenden wichtiger Teil der Film-Gegenwart. Mit diesem einfachen filmischen Mittel werden für die Zuschauenden verschiedene Lebensphasen von Mitsue mit den dazugehörigen Rollen vergegenwärtigt – sie wird nicht auf die alte Frau reduziert, die nicht mehr für sich sorgen kann. Es entsteht ein komplexeres Bild, und Mitsues gegenwärtiger Zustand wird im Lichte all der Erlebnisse, Begegnungen und Leistungen ihres Lebens gezeigt. Sie ist nicht nur die verwirrte alte Frau im Rollstuhl, sondern auch das singende Mädchen, die zupackende Ehefrau und die treue Freundin. Die erste dieser Rückblenden folgt direkt auf die bereits erwähnte Szene, in der Mitsue in eine Fliegenfalle tritt: In einer christlichen Kirche des Insel-Ortes Amakusa probt ein Mädchenchor, was durch das Fenster von zwei jüngeren Mädchen beobachtet wird. Dass es sich um eine Szene aus der Vergangenheit handelt, wird über die Einblendung der Jahreszahl (1943) und über die Gestaltung in geringerer Farbsättigung deutlich. Zu diesem Zeitpunkt ist den Zuschauenden noch nicht klar, dass es sich bei einem der Mädchen um die gleiche Person handelt, die sie zuvor in einer eher desolaten Verfassung gesehen haben. Im Verlauf des Films klärt sich dies jedoch auf, und Mitsue wird als Person mit vielen Facetten vorgestellt. Die Rückblenden werden nicht nur als Mittel der Kontrastierung zum Einsatz gebracht, d.h. Vergangenheit und Gegenwart werden im Film nicht einfach unverbunden gegenübergestellt. Die Vergangenheit erhält zusätzlich auch durch verbindende Elemente Präsenz, wie zum Beispiel durch einige Gegenstände, die Pecoross beim Saubermachen in einer Schublade findet (TC: 01:09:46): Flyer von vergangenen Laternenfestivals in Nagasaki und alte Fotos, die Mitsue hier versteckt hat. Mitsue singt außerdem bei einigen Gelegenheiten alte Lieder aus ihrer Kindheit, die teilweise auch die Kriegszeit in Erinnerung rufen. Für Mitsue sind die Menschen und Erlebnisse aus der Vergangenheit jedoch nicht nur nostalgische Erinnerung, sie werden für die demente Frau Teil der Realität, in der sie lebt. »Vorhin war Takayo da und hat vorgeschlagen, dass wir nach

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Amakusa gehen«, erzählt sie zum Beispiel fröhlich ihrem Sohn (TC: 01:08:16). Takayo ist ihre Schwester, die kurz nach dem Krieg gestorben ist. Sie berichtet, dass sowohl Takayo als auch ihr eigener Ehemann seit ihrem Tod häufig zu Besuch kämen. Die Zuschauenden erfahren von dieser eigenen Welt, in der Mitsue lebt, an dieser Stelle ebenso wie Pecoross nur durch ihre Erzählungen – im letzten Teil wechselt der Film jedoch kurz die Perspektive und gewährt einen Einblick in diese Realität. Beim Laternenfest in Nagasaki verliert die Familie Mitsue im Gedränge, und diese läuft alleine auf eine Brücke zu, von der sie eine Mädchenstimme singen hört. Auf der Brücke singt sie selbst das Lied, dem sie einst mit ihrer Freundin vor der Kirche gelauscht hat (Sōshunfu, Früher Frühling). Plötzlich tauchen neben ihr Takayo, ihre Freundin Chieko (Chi-chan, gespielt von Harada Tomoyo) und ihr Ehemann auf – drei Verstorbene, die in ihrem Leben eine zentrale Rolle eingenommen haben. Aus der Ferne wird sie von Sohn und Enkel beobachtet, und die Kamera-Blickachse legt nahe, dass die beiden die ›Geister‹ ebenfalls sehen können. Pecoross’ ist schließlich sogar im gleichen Bildausschnitt zu sehen, und der Sohn macht ein Foto von der seltsamen kleinen Gruppe (s. Abb. 5). Der Film wagt somit an dieser Stelle eine Ablösung vom linearen Zeitverständnis und versetzt sich experimentell für einen Moment in Mitsues Position, für die wichtige Stationen ihres Lebens miteinander verschmelzen.

Abb. 5: Pecoross’ Mother and Her Days, TC: 01:44:34 Wie Lim darlegt, stellen Geister im Film ein lineares Verständnis von Zeit in Frage; sie weisen nicht nur auf Vergangenes hin, sondern lassen die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zweifelhaft erscheinen.31 Für Mitsue, die selbst außerhalb des üblichen Zeitverständnisses lebt, sind die Geister 31 | Vgl. Bliss Cua Lim: Spectral Times: The Ghost Film As Historical Allegory, in: Positions: East Asia Cultures Critique 9 (2001) H. 2, S. 287f.

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nicht beunruhigend, sondern lebendiger Teil ihrer Realität. Pecoross’ Mother and her Days zeigt Demenz damit auch als eine alternative Realität, in der Zeit ihrer Bedeutung enthoben ist.

F a zit Pecoross’ Mother and her Days macht exemplarisch deutlich, wie sich der Umgang mit Demenz in den letzten Jahrzehnten in Japan gewandelt hat. In den 1970er und 1980er Jahren wurde Demenz in den Medien als eine schreckliche und unheimliche Krankheit thematisiert, die für die pflegenden Familien massive Probleme aufwirft. Tatsächlich fühlten sich pflegende Angehörige, zumeist Schwiegertöchter oder Töchter, zu dieser Zeit häufig überfordert und alleine gelassen, da ihnen gesellschaftlich keine adäquaten Lösungswege aufgezeigt wurden. Dementsprechend stellten die Filme dieser Zeit die verzweifelte Situation der Angehörigen und die Belastung der Familie durch Demenz in den Mittelpunkt. Pecoross’ Mother and her Days ist typisch für einen in der Zwischenzeit wesentlich entspannteren und bewussteren Umgang mit Demenz. Die Symptome von Demenzerkrankungen und deren Bedeutung sind besser bekannt, und die Pflege ruht nicht mehr alleine auf den Schultern der Schwiegertöchter und Töchter. Angesichts der rapiden Alterung sind Demenzerkrankungen längst keine Seltenheit mehr, so dass viele Menschen in Japan inzwischen eigene Erfahrungen im Umgang mit Erkrankten gesammelt haben. Zudem gibt es auf dem japanischen Buchmarkt viele Titel, die sich mit Demenz befassen. Bestseller in diesem Bereich sind laut Amazon-Verkaufsrang (Stand: 29.1.2015) Bücher mit Tipps für eine gesunde Ernährung und für Gedächtnisübungen, die das Demenz-Risiko senken sollen. Darüber hinaus gibt es aber auch Erfahrungsberichte von Betroffenen, wie zum Beispiel das Buch Ninchishō ni natta watashi ga tsutaetai koto (Was ich als Dementer [Euch] sagen möchte, 2014), in dem Satō Masahiko, der mit 51 Jahren an Alzheimer erkrankt ist, davon berichtet, wie er mit einer positiven Einstellung sein Leben aktiv gestaltet. Japanische Ratgeber zu Demenz beschäftigen sich nicht ausschließlich mit medizinischen und alltagspraktischen Fragen, sondern auch mit der Perspektive von dementen Menschen und mit den Bedürfnissen der Pflegenden. Obwohl eine entsprechende Diagnose noch immer einschneidend ist, werden Demenzerkrankte nicht mehr nur als Belastung wahrgenommen. Ihnen wird auch im Film ihre Würde zurückgegeben, indem ihre veränderte Lebenssituation und Realität anerkannt und reflektiert wird. Pecoross’ Mother and her Days macht aus der Krankheit geradezu einen Abschluss eines Lebenskreislaufs von der Kindheit über das Erwachsenenalter hinein in eine neue Kindheit. Dabei tritt die ambivalente aber reiche Beziehung zwischen den Generationen in den Mittelpunkt, nicht mehr die Belastung für die jüngere. In einer Gesellschaft, die so rasch altert wie die japanische, muss Demenz letztlich ihren umfassenden Schrecken auf Dauer verlieren.

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Q uellenverzeichnis Filme Haha no iru basho (engl. The Place Where Mother Lives, J 2005, Regie: Makitsubo Tazuko). Kōkotsu no hito (engl. The Twilight Years, J 1973, Regie: Toyoda Shirō). Ningen no yakusoku (engl. A Promise oder alternativ The Human Promise, J 1986, Regie: Yoshida Yoshishige). Oriume (J 2002, Regie: Matsui Hisako). Pekorosu no haha ni ai ni iku (engl. Pecoross’ Mother and Her Days, J 2013, Regie: Morisaki Azuma). Sakura saku (engl. Blossoms bloom, J 2014, Regie: Tanaka Mitsutoshi). Tōkyō Monogatari (dt. Die Reise nach Tokio, J 1953, Regie: Ozu Yasujirō). Waga haha no ki (engl. Chronicle of my Mother, J 2011, Regie: Harada Masato). Yukie (J 1998, Regie: Matsui Hisako).

Primärtexte Ariyoshi, Sawako: The Twilight Years, Tokyo 1984. Okano, Yūichi: Pekorosu no haha ni ai ni iku [Pecoross’ Mutter treffen], Fukuoka 2014.

Sekundärtexte Anonym: Ninchishō ashita e (Nr. 27). Kazoku no omoi; haha no kaigo, musuko ga manga ni [Demenz – Auf bruch ins Morgen (Nr. 27). Die Sicht der Familie; ein Sohn thematisiert die Pflege seiner Mutter im Manga], in: Yomiuri Shinbun, Abendausgabe 26.3.2013, S. 7. Anonym: Hataraki nagara norikireru ka?: Oya o kaigo suru chūkōnen dansei [Können Sie das neben der Arbeit durchstehen?: Mittelalte und alte Männer, die ihre Eltern pflegen], in: Shūkan Asahi, 9.5.2014, S. 178. Anonym: Kurzmeldung ohne Titel zum Tod Okano Mitsues, in: Yomiuri Shinbun, Abendausgabe 25.8.2014, S. 12. Campbell, John Creighton: How Policies Change: The Japanese Government and the Aging Society, Princeton, New Jersey 1992. Fukunaga, Seiji: Pekorosu no haha ni ai ni iku [Pecoross’ Mutter treffen], in: Yomiuri Shinbun, Abendausgabe 15.11.2013, S. 13. Hirayama, Ryō (u.a.): Semari kuru musuko kaigo no jidai. 28 nin no genba kara [Das Zeitalter der pflegenden Söhne nähert sich – 28 Erfahrungsberichte], Tokyo 2014, Kōbunsha. Hori, Hikari: Aging, Gender, and Sexuality in Japanese Popular Cultural Discourse: Pornographer Sachi Hamano and Her Rebellious Film Lily Festival

Altersdemenz im japanischen Film

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Alter und Generationenbeziehungen

Alter(n) erleben. Generationsübergreifende und interkulturelle Erfahrungsräume im Film Sofia Coppolas Lost in Translation und Doris Dörries Kirschblüten – Hanami Anita Wohlmann Wenn Bill Murray als Bob Harris in Coppolas Lost in Translation (dt. Lost in Translation – Zwischen den Welten, US/J 2003) vergeblich versucht, ein Fitnessgerät zu beherrschen, das seinen Körper in Besitz genommen hat und dessen immer schnellere Bewegungen ihn schließlich zwingen, abzuspringen, entsteht ein Gefühl von Verzweiflung, Fremdheit und Verlorenheit, das den alternden ehemaligen Filmstar Bob charakterisiert. Gleichzeitig ist die Situation amüsant, wenn nicht sogar grotesk. Bill Murrays komödiantisches Talent gibt diesem banalen, alltäglichen Moment eine heitere Komplexität. Das Lachen ist eine Erleichterung, ein Aufatmen inmitten eines Films, der von Einsamkeit und Isolation erzählt, von der tiefen Traurigkeit eines Mannes in der Lebenskrise und seinen nagenden Fragen nach dem Sinn des Lebens und seinem Platz in der Welt. Mit ähnlich vielschichtigen Erfahrungen konfrontiert uns Doris Dörrie in Kirschblüten – Hanami (D 2008). Elmar Weppers Figur Rudi erlebt die unendliche Einsamkeit des Einzelnen in der Millionenstadt Tokio, dem Sehnsuchtsort seiner kürzlich verstorbenen Frau Trudi (Hannelore Elsner), die er nie so ganz verstanden hat. Rudis tief empfundene Verlassenheit und Hilflosigkeit, sein Hadern mit der Vergänglichkeit und sein Bedauern, seiner Frau nicht gerecht geworden zu sein, berühren. Wie Lost in Translation ist Kirschblüten – Hanami kein durch und durch schwermütiger Film, obwohl er von Traurigkeit, Verlust und Tod handelt. Doris Dörrie fängt unzählige Momente von zarter Schönheit ein, von kleinen Momenten des Glücks und des Staunens, dem Wundersamen im Fremden. Beide Filme laden uns ein, in die Erfahrungswelten der Figuren einzutauchen, dort mit den Charakteren zu verweilen und über den Tod und das Leben nachzudenken. Die Erfahrungswelten, die ich hier mit einem kollektiven ›Wir‹ beschreibe, sind natürlich geprägt von subjektiven Wahrnehmungen. Als Wissenschaftlerin sehe ich die beiden Filme aus einem anderen Blickwinkel: Ich stelle fest, wie das

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Älterwerden der beiden männlichen Figuren als ›disengagement‹, Einsamkeit, Passivität und Verlust dargestellt wird – stereotype Darstellungen, die von Alterswissenschaftlern- und wissenschaftlerinnen problematisiert worden sind.1 Die Darstellung der Geschlechter, insbesondere die Verbindung des älteren Mannes in der Lebenskrise mit der jungen, schönen und etwas hilflosen Frau, ruft Assoziationen wie Lolita- oder Vaterkomplex hervor. Gleichzeitig ist diese Paarbildung vor einem alterswissenschaftlichen Hintergrund interessant, insbesondere in Bezug auf das Verhältnis der Generationen zueinander. Japan stellt ein spannendes Setting für eine Darstellung von Alter im Film dar, weil es in noch stärkerem Maße als andere Industrienationen mit demographischen Herausforderungen wie der Überalterung der Gesellschaft konfrontiert ist.2 Diese alterswissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Zugänge vermögen jedoch nicht den enormen Erfolg beider Filme zu erklären: Lost in Translation war trotz minimalem Budget ein großer internationaler Kinohit; Kirschblüten – Hanami war der erfolgreichste Arthousefilm 2008 in Deutschland. Warum üben diese beiden Filme, die von Schmerz und Verlust sprechen, vom Älterwerden und von der Einsamkeit, eine solche Anziehungskraft aus? Welche Bedeutung haben die Filme für ein tieferes Verständnis davon, was altern bedeutet? Ich möchte im Folgenden zwei Zugänge zur filmischen Darstellung von Alter(n) nebeneinanderstellen: ein critical oder resistant reading, das auf dem Konzept von Alter als kulturellem Konstrukt basiert, und ein reflective reading, das mit einem phänomenologischen Zugang nach der tieferen Bedeutung des Alter(n)s als Erfahrung fragt. Mit dieser doppelten Lesart greife ich auf den aktuellen Diskurs in der amerikanischen Literaturkritik und den Health oder Medical Humanities zurück, in dem zunehmend nach dem gesellschaftlichen Wert und Nutzen von Literatur (oder Film) gefragt wird. Die amerikanische Literaturtheoretikerin Rita Felski plädiert in ihrem Manifest The Uses of Literature (2008) für eine Literaturwissenschaft, die danach fragt, warum uns bestimmte ästhetische Werke so viel bedeuten: Der distanzierte Blick einer »hermeneutics of suspicion«, einer Methode also, die nach einem »reading against the grain«3 ausgerichtet ist, nach einer Lesart die dekonstruiert und entmythologisiert, so Felski, kann diese Frage nicht oder nur ungenügend beantworten, weil sie statt Begeisterung und Ver1 | Vgl. z.B. Constance Rooke: Old Age in Contemporary Fiction. A New Paradigm of Hope, in: Thomas R. Cole, Robert Kastenbaum, Ruth E. Ray (Hg.): Handbook of the Humanities and Aging, New York 1992, S. 241-257, hier S. 254. 2 | Siehe z.B. Maren Godzik: Altern in Japan. Herausforderungen und Chancen, in: Maren Godzik (Hg.): Altern in Japan, München 2009, S. 15-24; Iza Kavedzija: The Age of Decline? Anxieties about Ageing in Japan, in: Ethnos: Journal of Anthropology (2014), S. 1-24; Michiko Mae: Alter, Pflege und Gender in der japanischen Gegenwartsliteratur, in: Henriette Herwig (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2014, S. 203-228. 3 | Rita Felski: The Uses of Literature, Hoboken, New Jersey 2009, S. 3.

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zauberung Distanz und Entzauberung propagiert.4 Ein Kunstwerk jedoch löst intensive Reaktionen, Gefühle und Leidenschaften aus und dringt so in unsere Gedanken und Körper ein.5 Als Ergänzung, und nicht anstelle, schlägt Felski aus diesem Grund einen neo-phänomenologischen Zugang vor, der neben einem resistant reading ein reflective reading praktiziert: Such an approach pivots on our first-person implication and involvement in what we read, calling on us to clarify how and why particular texts matter to us. Its orientation is toward meaning rather than truth or the demystification of truth, toward examining the intricate play of perception, interpretation, and affective orientation that constitutes aesthetic response. [...] What it borrows from phenomenology is the willingness to be patient rather than impatient, to describe rather than prescribe, to look carefully at rather than through appearances, to respect rather than to reject what is in plain view. It presumes, in other words, the irreducible complexity of everyday structures of experience.6

Der Literaturtheoretiker Terry Eagleton spezifiziert, worauf sich eine phäno­ menologische Kritik konzentriert: »the way an author experiences time or space, on the relation between self and others or his perception of material objects«.7 Besonders die ersten beiden Aspekte sind für eine phänomenologische Betrachtungsweise der ausgewählten Filme von besonderer Bedeutung: die Darstellung eines Gefühls von Vergänglichkeit und Endlichkeit in Verbindung mit dem fernen Land Japan sowie die Beziehung zwischen den Repräsentanten zweier Generationen, die oft als das ›Andere‹ (die Jugend! die Alten!) einander gegenübergestellt werden. Die erste Lesart eines resistant readings, die ich verfolgen möchte,8 hinterfragt die oben genannten stereotypen Vorstellungen von Alter als Einsamkeit und Verlust und sieht diese nicht als ›natürliche‹ Bedingungen des Alters, sondern als kulturelle Konstrukte. Vor diesem Hintergrund zeigt das resistant reading, dass beide Filme kulturelle Vorstellungen vom Alter(n) zwar auf eine gewisse Weise reproduzieren, gleichzeitig aber auch dekonstruieren, indem sie Erfahrungen, die typischerweise dem Alter oder Älterwerden zugeschrieben werden, als existentielle Erfahrungen, unabhängig vom Lebensalter, darstellen. Auf diese Weise 4 | Vgl. Rita Felski: After Suspicion, in: Profession 35 (2009), S. 28-35, hier S. 30. 5 | Vgl. ebd., S. 31. 6 | Ebd., S. 31. 7 | Terry Eagleton: Literary Theory. An Introduction, Malden, Massachusetts 2008, S. 51. 8 | Die Alterswissenschaftlerin Roberta Maierhofer beruft sich in Salty Old Women. Eine anokritische Untersuchung zu Frauen, Altern und Identität in der amerikanischen Literatur (Essen 2003, S. 23) ebenfalls auf diese Tradition, indem sie sich zum einen auf Judith Fetterleys Forderung nach einem resisting reader (vgl. dies.: The Resisting Reader. A Feminist Approach to American Fiction, Bloomington, Indiana 1978) bezieht und zum anderen die Texte in ihrem Korpus als ›Widerstand‹ versteht.

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betonen die Filme das Gemeinsame und nicht das Trennende zwischen den Generationen. Bei dieser Darstellung kommt dem Ort der Handlung, Japan, eine besondere Funktion zu. Die zweite Lesart fragt nach einer tieferen Bedeutung von Alterserfahrung, in der das Entlarven von Stereotypen, ein Dekonstruieren von kulturellen Konstrukten zu kurz greift oder nur einen Teil der Komplexität der dargestellten Geschichten repräsentiert. Es geht den Regisseurinnen um mehr, nämlich um ein komplexes Verständnis davon, was Tod und Endlichkeit, Einsamkeit und Verlust für das Individuum bedeuten, so die These hinter dem reflective reading. Als Beispiel für diese zwei Lesarten steht eine Szene in Lost in Translation, in der Charlotte (Scarlett Johansson) Bob Harris mit leiser Ironie fragt, ob er in einer Midlife-Crisis sei und ob er sich schon einen Porsche gekauft habe. Zum einen ist eine Lebenskrise natürlich nicht an ein bestimmtes Alter gebunden, sondern ein fluides, das Leben umspannende Hinterfragen der eigenen Ziele, ein Moment des Innehaltens und der Neuorientierung.9 Wenn beide Figuren auf Charlottes Frage hin lächeln, dann steht dieses Lächeln für ein gegenseitiges Erkennen. Es ist jedoch nicht ein Erkennen im Sinne einer Diagnose, sondern vielmehr ein Lächeln des Verstehens, das um die Unzulänglichkeit dieses populären Urteils: Midlife-Crisis, dieser Interpretation, die nur bis zu einem gewissen Punkt die existentiellen und komplexen Erfahrungen dieser beiden Charaktere zu beschreiben vermag, weiß. Indem dieser Beitrag zwei readings nebeneinanderstellt, fragt er, welche Bedeutung einer Lesart zukommt, die Erfahrungsräume untersucht und an affektiven Reaktionen und individuellen Bedeutungen interessiert ist.10 Ann Jurecic hat Felskis Literaturkritik auf Geschichten von und über Krankheit übertragen und fordert neue kritische Praktiken, die dem Altern, dem Leiden und dem Tod in seiner Komplexität gerecht werden.11 Jurecic schlägt ein reparative reading vor, das erkennt und wertschätzt, dass Freude und Tod nebeneinander existieren, dass Verzweiflung, Verwunderung und Schönheit nicht ausschließt.12 Ein ähnliches Interesse an der Komplexität von Erfahrungen und dem Nutzen von einem aufmerksamen Lesen und Verstehen von (fiktionalen) Geschichten findet sich im Bereich der narrative medicine, einer im Rahmen der Medical Humanities verorteten, anwendungsorientierten Literaturkritik, die unter anderem auf die Bedeu9 | Für eine Analyse der kulturellen Bedeutung altersspezifischer Lebenskrisen siehe z.B. Anita Wohlmann: Aged Young Adults. Age Readings of Contemporary American Literature and Films, Bielefeld 2014. 10 | In ihrer ethnographischen Studie über Japan nimmt Kavedzija (The Age of Decline?, S. 3) eine ähnliche Doppelperspektive ein, indem sie durch Interviews und teilnehmende Beobachtung das Leben und die gelebte Erfahrung älterer Japaner in Osaka untersucht, gleichzeitig aber auch mit einer Inhaltsanalyse von Zeitungen und populären Texten die kulturellen Konstruktionen von Alter analysiert. 11 | Vgl. Ann Jurecic: Illness as Narrative, Pittsburgh, Pennsylvania 2012, S. 111. 12 | Vgl. ebd., S. 109f.

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tung von Geschichten und close reading-Kompetenzen im Arzt-Patienten-Verhältnis verweist.13 Auf ähnliche Weise argumentiert der Soziologe Arthur W. Frank, wenn er eine kritische und aufmerksame Analyse von Krankheitsgeschichten fordert, die ein Denken mit Geschichten, im Unterschied zu einem Denken über Geschichten, ermöglicht.14 Letzteres reduziere Geschichten auf ihren Inhalt und deren Analyse, wohingegen ein Denken mit Geschichten erlaube, dass Geschichten eine Auswirkung auf unser Leben haben, dass wir in ihnen »a certain truth of one’s life«15 finden. Vor diesem theoretischen Hintergrund wenden Arthur Heiserman und Maura Spiegel diese Herangehensweise auf den filmischen Bereich an und fragen nicht nur, wie ein Film wirkt, sondern auch, wie ein Film auf uns wirkt, welche erfahrungsbasierten und spezifischen Bedeutungen Filme evozieren: »If the dominant movie experience is an affective one, we want to suggest that the enormous emotional power of film does not necessarily overwhelm or banish critical thinking, but that it can in fact advance it.«16 Welchen Mehrwert hat ein Denken mit Geschichten über das Alter(n) für ein Nachdenken über die Darstellung von Alter im Film? Welche Rolle spielt Japan, als die am schnellsten alternde Gesellschaft der Welt,17 in der Darstellung von Figuren aus dem Westen, die nach der Bedeutung des Alter(n)s fragen? Welchen ›Nutzen‹ haben Filme über die Erfahrung des Älterwerdens für alterswissenschaftliche Untersuchungen?

L ost in Translation Sofia Coppola bringt in ihrem zweiten Kinofilm zwei verlorene Seelen aus unterschiedlichen Generationen in einem Tokioter Hotel zusammen: Bob Harris, der Baby-Boomer und alternde Filmstar, soll in Tokio einen Werbespot drehen. Er fühlt sich fremd unter den Japanern, deren Worte und Kultur er nicht versteht. Er leidet unter einem Jetlag und an Schlaflosigkeit. Sein Verhältnis zu seiner Frau Lydia ist geprägt von seiner Passivität und Distanz sowie von ihrer Enttäuschung und ihren passiv-aggressiven Vorwürfen. Seine Lebenskrise, so lässt uns der Film erahnen, ist sowohl privater als auch beruflicher Natur. Seine Frau und seine Kinder, so gesteht Bob Charlotte später, brauchen ihn nicht (mehr). Und anstelle 13 | Vgl. Rita Charon: Narrative Medicine: Honoring the Stories of Illness, Oxford/New York 2006. 14 | Vgl. Arthur Frank: The Wounded Storyteller. Body, Illness and Ethics, Chicago 1995, hier S. 23. 15 | Ebd., 23. 16 | Arthur Heiserman, Maura Spiegel: Narrative Permeability. Crossing the Dissociative Barrier in and out of Films, in: Literature and Medicine 25 (2006) H.2, S. 463-474, hier S. 465. 17 | Vgl. James S. O’Leary: A New Look at Japan’s Honorable Elders, in: Journal of Aging Studies 7 (1993) H. 1, S. 1-24, hier S. 1.

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von lukrativen oder künstlerisch wertvollen Filmaufträgen drängt ihn sein Agent zu Werbespots und Game-Show-Auftritten auf der anderen Seite der Welt. Sein Ruhm und Erfolg sind am Verblassen und Bob ist ratlos und in einer schlafwandlerischen Passivität gefangen. Er scheint in einer Sackgasse zu stecken, ohne eine klare Vision für eine erstrebenswerte Zukunft. Im Hotel trifft Bob auf Charlotte, eine junge Frau Anfang 20. Sie repräsentiert die sogenannten Millennials, jene Generation, die um die Jahrtausendwende erwachsen geworden ist. Charlotte hat kürzlich ihr Philosophiestudium abgeschlossen und begleitet ihren Ehemann (Giovanni Ribisi), einen jungen Fotografen, auf seiner Geschäftsreise. Auch sie ist, wie Bob, verloren und schlaflos. Sie weiß nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll, wo ihre Talente liegen und wer sie sein möchte. Einsamkeit und Ziellosigkeit kennzeichnen ihr Gefühlsleben und ihren Alltag. Sie liest teils lustlos, teils amüsiert in Lebensratgebern, und sie versucht sich an Ikebana und Origami. Bob und Charlotte freunden sich an und verbringen zunehmend mehr Zeit miteinander. Es wird klar, dass diese beiden Figuren ähnliche Erfahrungen verbinden: Ihr aktuelles Leben entspricht nicht ihren Vorstellungen. Sie sind mit den besten Voraussetzungen gestartet und finden sich nun in einer Sackgasse, aus der sie keinen Ausweg finden. Die Verlorenheit und Isolation, das Gefühl von Heimatlosigkeit sowie Trauer und Ziellosigkeit charakterisieren die emotionale Welt dieser beiden Antihelden. Bob und Charlotte könnten Vater und Tochter sein, oder Liebhaber. Es gibt in der Tat kurze Momente, in denen ein erotischer Funke überzuspringen scheint. Doch Coppola verfolgt keine dieser narrativen Möglichkeiten oder Figurenkonstellationen. Bob und Charlotte sind verwandte Seelen. Ihr Interesse aneinander ist freundschaftlich. Sie suchen nach zwischenmenschlicher Nähe und erkennen im anderen sich selbst. Gleichzeitig gehören sie zwei sehr unterschiedlichen Generationen an. Der Baby-Boomer Bob sieht sich an einem Punkt im Leben, an dem sein bisheriger beruflicher Erfolg und sein privates Leben vor Veränderungen stehen. Die Rolle des aufsteigenden Stars, der er früher einmal war, übernimmt nun eine jüngere Generation: Charlottes Ehemann, zum Beispiel, der als Fotograf gefragt ist, sowie das überdrehte Filmstarlet Kelly (Anna Faris), das in Tokio seinen neuen Film promotet. Doch Coppola ist nicht an einem GegeneinanderAusspielen der Generationen interessiert.18 Es geht ihr nicht um Machtverlust, gekränkte Eitelkeiten oder Verdrängung des ›Alten‹ durch das ›Neue‹. Die zwei Generationen, die Bob und Charlotte repräsentieren, so unterschiedlich sie sein mögen, scheint mehr zu verbinden als zu trennen: Die Fragen, die beide Protagonisten an das Leben stellen, sind existenzielle Fragen des Menschseins. Neben der narrativen und thematischen Verknüpfung signalisiert Coppola die Verbundenheit der Figuren durch ihre Filmsprache. Nacheinander werden beide 18 | Für eine Analyse, wie gesellschaftliche und ökonomisch geprägte Diskurse die BabyBoomer-Generation als Gegenspieler und Konkurrenten für jüngere Generationen konstruieren, siehe Margaret Morganroth Gullette: Aged by Culture, Chicago 2004, hier Kapitel 3.

Generationsübergreifende und interkulturelle Er fahrungsräume

Charaktere zum Beispiel vor dem heiligen Berg Fuji gezeigt. Während ihrer gemeinsamen Nacht in Tokio schläft zuerst Bob im Taxi, während Charlotte (wie Bob ganz zu Anfang des Films) aus dem Fenster schaut und das Lichtermeer der Reklameanzeigen bewundert. In der nächsten Szene ist es Charlotte, die in Bobs Armen eingeschlafen ist, während er sie in ihr Zimmer trägt. Beide leiden unter Schlaflosigkeit und verbringen die Nächte wach, im Bett liegend oder sich mit Zeitschriften und Filmen die Zeit vertreibend. Auch die Beziehungen zu ihren Partnern sind von ähnlichen Problemen geprägt: Charlottes Ehemann verfolgt seine Karriere, redet unablässig und nimmt Charlotte mit ihren Bedürfnissen und Fragen kaum wahr. Lydia, Bobs Ehefrau, tritt nur indirekt in Erscheinung, indem sie Bob mit Faxsendungen bombardiert, mit Vorwürfen oder Arbeitsaufträgen quält oder, am Telefon, abgelenkt oder feindlich auf Bobs Kommunikationsversuche reagiert. Bob und Charlotte sind aber nicht nur von ihrem sozialen Umfeld isoliert, auch ihre Situation in einer fremden Kultur, deren Sprache sie nicht sprechen und deren Gesten sie nicht verstehen, verstärkt ihr Gefühl von Einsamkeit und Verlorenheit. Tokio ist und bleibt im Verlauf des Films ein exotischer Ort, mit anstößigen Geschenken (wie zum Beispiel die Premium Fantasy Woman, die Bob als Aufmerksamkeit von seinem Auftraggeber erhält), abstrusen Kommunikationsformen (während des Drehs eines Werbespot beispielsweise) oder als grandiose, blinkende Kulisse von Werbeanzeigen, Straßenschluchten und Hochhäusern. Die dargestellten Japaner und Japanerinnen erscheinen als clowneske Figuren, kein einziger japanischer Charakter erhält den Raum, seine eigene Geschichte zu erzählen. Da Kommunikation nicht möglich ist oder unzuverlässig erscheint,19 bleiben die Japaner und Japanerinnen im Film seltsam flach und reduziert. Für diese oberflächliche, fast schon touristische Darstellung ist Coppola verständlicherweise kritisiert worden.20 Es scheint, als ob Coppola das Potenzial von Japan als kulturell interessantem und vielschichtigem Handlungsort verspielt. Die Themen des Films – das Älterwerden, die Lebenskrise und der Dialog der Generationen – sind auch relevante Themen in der japanischen Gesellschaft, sie sind insbesondere vor dem Hintergrund des demographischen Wandels untersucht worden.21 Doch Coppola bleibt in ihrer filmischen Auseinandersetzung mit Japan distanziert. Die japanische Kultur scheint sie nur schablonenartig zu betrachten. 19 | Die Zuverlässigkeit der Übersetzung erscheint im Film zweifelhaft, wenn die Übersetzerin die langen Ausführungen des japanischen Regisseurs in sehr kurze, sich wiederholende englische Erklärungen überträgt. 20 | Für eine nuancierte Kritik, siehe Homay King: Lost in Translation, in: Film Quarterly 59 (2005) H. 1, S. 45-48. 21 | Kavedzija (The Age of Decline?, S. 1-24) untersucht beispielsweise die Vorstellung von Alter als Verfall und der Suche nach dem Sinn des Lebens. Andere Studien thematisieren u.a. Altersarmut, Pflege, häusliche Gewalt und Genderrollen im Bereich der Pflege, siehe z.B. Godzik: Altern in Japan; Mae: Alter, Pflege und Gender.

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Stattdessen erinnert ihre Darstellung Japans als dem exotischen, fremden Anderen an die Beschreibung der amerikanischen Dichterin und Schriftstellerin May Sarton, die vom Alter sprach als »foreign country with an unknown language to the young and even to the middle-aged«.22 Die Konnotation von Alter als dem ›Anderen‹, und nicht als integralem Bestandteil des Lebens, legt nahe, dass Coppola dieses Stereotyp unreflektiert fortführt. Doch diese Kritik scheint zu kurz zu greifen. Zum einen erklärt sie nicht, warum der Handlungsort einen so tiefgreifenden Effekt auf die filmische Welt von Lost in Translation hat. Zum anderen liegt gerade in dieser scheinbar distanzierten Darstellung der Charme des Films für eine alterswissenschaftliche Betrachtung. Denn indem Coppola eben nicht von einer Kluft zwischen den Generationen erzählt und das Alter(n) nicht als demographisches und soziales Problem darstellt, ermöglicht sie einen Blick auf das Alter(n), der andere Konnotationen in den Vordergrund stellt, wie zum Beispiel zwischenmenschliche, generationsübergreifende Beziehungen jenseits von kulturell normierten Vorstellungen. Statt in Coppolas reduzierter und distanzierter Darstellung Japans also eine ethnozentrische Ignoranz zu sehen, lässt sich Coppolas Perspektive auch als bewusste Entscheidung verstehen, Japan fremd, exotisch und distanziert erscheinen zu lassen, weil so das Unvermögen der Charaktere deutlich wird, sich auf etwas Neues und Unbekanntes einzulassen, sich zu öffnen und mit dem Fremden zu interagieren. Charlotte versucht dies zwar mehrfach, durch Ikebana oder Origami beispielsweise. Sie unternimmt auch mehrere Ausflüge, zum Beispiel in einen Tempel, in dem buddhistische Mönche singen. Doch sie fühlt nichts dabei, wie sie einer Freundin am Telefon weinend erzählt, nachdem sie in ihr Hotelzimmer zurückgekehrt ist und durch das Panoramafenster auf das graue Tokio hinabblickt. Charlotte sucht den Austausch und die Interaktion mit der japanischen Kultur, doch sie scheint in einer Glasglocke gefangen zu sein. Bobs Unvermögen zum Austausch zeigt sich in seinem sarkastischen, distanzierenden Humor, in dem sich seine Verwirrung und tieferliegende Traurigkeit über sein Leben und den Verlauf seiner Karriere und Ehe widerspiegelt. Das Japan, das wir im Film sehen, ist also gefärbt durch die besondere Perspektive und Gefühlswelt der Figuren. Es wird zum Resonanzboden für ihre Isolation. Den Figuren scheint es egal zu sein, in welchem Land sie sich befinden. Sie sind viel zu sehr in ihrer eigenen Welt gefangen. Nichtsdestotrotz spielt der Handlungsort eine große Rolle für die Art und Weise, wie Coppola Raum und Zeit in Verbindung bringt. Nur ist es weniger Japan oder Tokio als das Hotel, an dem sich das Gefühl des Stillstands und der Ratlosigkeit der Figuren angesichts ihrer Zukunft symbolisch verdichtet. Der konkrete Ort, an dem dieses Hotel steht, ist zweitrangig. Auf diese Weise akzentuiert das 22 | May Sarton: As We Are Now, New York 1973, S. 23. Kathleen Woodward (Against Wisdom. The Social Politics of Anger and Aging, in: Cultural Critique (2002) H. 51, S. 186-218, hier S. 213) zufolge ist die Metapher des Alters als fremdem oder neuem Land eine weit verbreitete Metapher.

Generationsübergreifende und interkulturelle Er fahrungsräume

Hotel die Erfahrungen der Figuren. Mikhail Bakhtins Konzept des Chronotopos folgend, repräsentiert das Hotel als »time space« die Verbindung von Ort und Zeit.23 Im Chronotopos materialisiert sich Zeit im Raum und wird sichtbar, und der Raum reagiert auf und verändert sich durch zeitliche Bewegungen.24 Das Hotel, in dem sich Bob und Charlotte begegnen und ihre Zeit verbringen, ist, wie Martina Krebs in Hotel Stories beschreibt, ein Ort, in dem Menschen, die vor einer Krise oder dem Alltag fliehen, Zuflucht finden.25 Hotels sind multifunktionelle Schauplätze; sie verkörpern Mikrokosmen menschlicher Erfahrung, die spielerisch die Außenwelt imitieren.26 Als Chronotopos stellen Hotels Räume des kurzen Verweilens dar. Sie sind Orte des Durchgangs, an dem Reisende Halt machen, bevor sie weiterziehen.27 Ein ständiges Kommen und Gehen, ein konstanter Fluss von Menschen und Geschichten durchdringt die Räume eines Hotels, während auf Seiten des Personals eine sich wiederholende Routine den Alltag kennzeichnet. Für Bob und Charlotte, als Gäste in diesem Hotel-Chronotopos, bietet das Hotel eine Fluchtmöglichkeit, wenn auch nur vermeintlich, denn gerade das Hotel sowie die Isolation und Fremdheit, die sie darin erfahren, verstärken die Krise, vor der sie zu fliehen versuchen. Wie in einer Glasglocke scheinen sie abgeschnitten zu sein von der Welt, die sie umgibt. Dennoch ist der Raum des Hotels nicht hermetisch abgeriegelt. Die Außenwelt dringt immer wieder ein: Telefonanrufe von Zuhause zum Beispiel zwingen Bob, sich mit seiner Ehekrise auseinanderzusetzen; Charlottes Ehemann geht ein und aus, ist mal übertrieben präsent, dann wieder komplett verschwunden. Das Gefühl, in einer Sackgasse zu sein, das Leben als Stillstand zu erfahren, spiegelt sich im Hotel-Chronotopos, in dem Reisende innehalten und verweilen. Doch durch den spezifischen Raum des Hotels ist auch klar: Der vermeintliche Stillstand ist endlich, der Hotelaufenthalt ist nur ein vorrübergehender Moment auf einer längeren Reise. Zum Ende des Films, während eines nächtlichen Feueralarms, katapultiert das Hotel die beiden Figuren sogar nach draußen und mit diesem temporären Exil deutet sich an, dass die Zeit des Stillstands und der Isolation sich dem Ende neigt. Bob und Charlotte verabschieden sich schließlich und gehen ihre eigenen (Lebens-)Wege. Die Krise der beiden Figuren, ihr intensives Gefühl von Stillstand, Vergänglichkeit und Angst vor der Zukunft, ist also in einem spezifischen ›Zeitort‹ markiert, in dem die Erfahrung von Zeitlichkeit widerhallt. Dieser Raum spielt gleich23 | Vgl. Mikhail M. Bakhtin: Forms of Time and of the Chronotope in the Novel. Notes toward a Historical Practice, in: The Dialogical Imagination. Four Essays, hg. v. Michael Holquist und übers. v. Caryl Emerson, Michael Holquist, Austin, Texas 1981, S. 84-258, hier S. 84. 24 | Vgl. ebd., 84. 25 | Vgl. Martina Krebs: Hotel Stories. Representations of Escapes and Encounters in Fiction and Film, Trier 2009, S. 59f. 26 | Vgl. ebd., S. 164f. 27 | Vgl. ebd., S. 59.

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zeitig aber auch sein eigenes Gesetz von Zeitlichkeit an die Charaktere zurück: Der Aufenthalt ist endlich, und somit auch die Krise. Das Leben des Hotels, wie das der Reisenden Bob und Charlotte, besteht in einem ständigen Kommen und Gehen, mit kurzen Momenten des Verweilens. Auf diese Weise knüpft der Chronotopos des Hotels an die Metapher des Lebens als Reise an, in dem das Hotel nur eine von vielen Stationen auf der Reise ist. Coppolas filmische Handlungsräume, Japan und das Hotel, verdichten somit die generationsübergreifende Erfahrung von Fremdheit und Isolation, Stillstand und Vergänglichkeit. Anders als in Filmen wie Maddens Best Exotic Marigold Hotel (US/GB/IND 2011), in dem ein Hotel in Jaipur zum modernen Altersheim umfunktioniert wird, wo gut situierte, britische Rentner vor exotischer Kulisse neue Abenteuer erleben,28 ist Coppolas Tokioter Hotel ein ›Zeitort‹, der nicht vom Ende einer Reise erzählt, sondern von einem Moment im Leben. Die zeitliche Begrenztheit des Aufenthalts reflektiert auf der einen Seite die Themen, mit denen die Charaktere hadern: Vergänglichkeit und Endlichkeit. Auf der anderen Seite ist es gerade diese zeitliche Begrenztheit der Begegnung, die den Film und die dargestellte Freundschaft einzigartig macht.

K irschblüten – H anami Doris Dörries Film über den Tod und die Vergänglichkeit erzählt die Geschichte von Rudi Angermeier (Elmar Wepper), der unerwartet seine Frau Trudi verliert. Als er erfährt, dass die Frau, mit der er Jahrzehnte verheiratet war, eine ausgeprägte, aber geheime Sehnsucht für das Land Japan und den Butoh-Tanz pflegte, fährt er in seiner Trauer nach Tokio zu seinem dort lebenden Sohn Karl. Diese Reise ist für Rudi eine Art Wiedergutmachung, aber auch eine Suche nach Trudi und nach sich selbst. Rudi streift trauernd und verloren (in Trudis Kleidern) durch das fremde Tokio und erfährt von seinem genervten Sohn mehr Abweisung als Unterstützung. Als Rudi eines Tages im Park Yu trifft, eine junge, japanische Butoh-Tänzerin, freundet er sich mit ihr an und zwischen den beiden entstehen zarte Momente des generationsübergreifenden Verstehens: Yu hat ihre Mutter verloren und nutzt die Kunst des Butoh-Tanzes, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Rudi wiederum lernt durch Yu die Schönheit des Tanzes kennen und kommt seiner Frau Trudi auf diese Weise näher. Als Rudi mit Yu den Berg Fuji besucht, verschlechtert sich sein Gesundheitszustand dramatisch (nur Trudi wusste von seiner Krebserkrankung im Endstadium). Rudi stirbt in einem Moment von

28 | Vgl. auch die Fortsetzung: Best Exotic Marigold Hotel 2 (US/GB 2015, Regie: John Madden). Wie Lost in Translation ist auch Best Exotic Marigold Hotel aufgrund seiner unsensiblen, neo-kolonialistischen Darstellung von Indien kritisiert worden, siehe beispielsweise Tim Lindemann: Kolonialrentner, in: Schnitt (2012), http://www.schnitt.de/202,7045,01. html [Zugriff: 23.04.2015].

Generationsübergreifende und interkulturelle Er fahrungsräume

rührender Schönheit: Im Morgengrauen, als sich nach Tagen des Wartens der Nebel um den Fuji endlich gelichtet hat, tanzt Rudi den Butoh und versöhnt sich auf diese Weise, kurz vor seinem eigenen Tod, mit seiner verstorbenen Frau. Dörrie hegte eine langjährige Faszination und Liebe für Japan und seine Kultur, bevor sie sich 2007 entschloss, inspiriert von Ozus Film Tōkyō monogatari (dt. Die Reise nach Tokyo, J 1953), eine Geschichte über den Tod, die Einsamkeit und die Trauer zu drehen.29 Dörries Charaktere, die wie bei Sofia Coppola als zwei verlorene Seelen in Tokio zusammentreffen, scheinen sich intensiver mit Japan auseinanderzusetzen. Japan ist hier kein Resonanzraum für die Gefühlswelt oder für Charaktereigenschaften der Figuren, sondern ein Ort, der selbst eine Geschichte erzählt. Dies liegt zum einen daran, dass die Figur der Yu (Aya Irizuki) Japanerin ist und Rudi auf diese Weise Einblick in die japanische Kultur erhält. Obwohl Rudi und Yu nicht dieselbe Sprache sprechen, können sie sich doch auf Englisch unterhalten. Trotz des großen Altersunterschieds (Yu ist 18, Rudi ist um die 60), werden sie Freunde. Zum anderen schildert Dörrie Japan vielfältig und facettenreich. Yus Butoh-Tanz und die japanischen Bräuche und Orte erzählen eigenständige Geschichten: Das Kirschblütenfest, das Rudi miterleben darf, erzählt von Vergänglichkeit und der Schönheit des Augenblicks, davon wie nah Entzückung und Traurigkeit liegen, und von der Möglichkeit des Neuanfangs;30 der ›schüchterne‹ Berg Fuji (wie Yu ihn beschreibt), hüllt seine Schönheit tagelang in Nebel und spricht von Geduld und Warten und von der latenten Präsenz von Dingen, die nicht fassbar oder sichtbar erscheinen, aber dennoch da sind; der Butoh, eine avantgardistische Tanzform aus den 1960er Jahren, auch »Tanz der Finsternis« oder »Tanz der Dunkelheit« genannt, erzählt von Zerstörung und Schöpfung, Apokalypse und Wiedergeburt.31

29 | Zwei weitere Filme von Dörrie spielen teilweise in Japan: Erleuchtung garantiert (D 2000) und Der Fischer und seine Frau (D 2005). Siehe auch Doris Dörrie: Kirschblüten – Hanami. Ein Filmbuch, Zürich 2008. 30 | Siehe auch Audrey Kobayashi: cherry blossoms, in: Sandra Buckley (Hg.): The Encyclopedia of Contemporary Japanese Culture, London/New York 2002, S. 63. Dörrie beschreibt die Kirschblüte in einem Interview als klassisches Memento mori-Motiv (siehe Ralf Schenk: Die Schönheit des Augenblicks, in: Berliner Zeitung, 9. Februar 2008, http://www. berliner-zeitung.de/archiv/die-regisseurin-doris-doerrie-...eten---hanami--die-schoenheit-des-augenblicks,10810590,10537828.html [Zugriff: 23.04.2015]). Neben das japanische Motiv setzt Dörrie im Übrigen ein europäisches, die Fliege. Trudi hat eine besondere Beziehung zu Fliegen, denn wann immer sie eine fängt, spricht sie ein kurzes Gedicht als Totengeleit. Siehe Marion Troja: Kirschblüten – Hanami: Letztes Blühen vor dem Tod, in: Westdeutsche Zeitung, 5. März 2008, http://www.wz-newsline.de/home/kultur/film/kino/ kirschblueten-hanami-letztes-bluehen-vor-dem-tod-1.222670 [Zugriff: 23.04.2015]. 31 | Anonym: butoh, in: The Columbia Encyclopedia, New York 2015, http://www.encyclopedia.com/doc/1E1-butoh.html [Zugriff: 01.07.2015].

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Trotz der einfühlsamen Darstellung von Trauer und Vergänglichkeit ist Kirschblüten – Hanami nicht frei von Klischees und stereotypen Darstellungen. Der Film beginnt mit einem Todesurteil, einer Diagnose von Krebs im Endstadium, und steckt damit gleich zu Beginn den thematischen Rahmen des Films ab: Mit dem »Tod im Nacken« gehen die beiden Protagonisten auf ihre letzte Reise.32 Dörrie unterstreicht am Anfang des Films, aus welcher Welt die beiden Figuren entrissen werden: Es ist eine Welt der ewigen Routine. »Mein Mann mag keine Abenteuer«, sagt Trudi. »Ihm ist am liebsten, wenn sich nix verändert. Nie. Nix. Gar nix« (TC: 00:02:01-00:02:15), fährt sie resigniert fort, bevor sie den Alltag beschreibt, den ihr Mann wertschätzt. Für Rudi ist der Fuji auch nur ein Berg. Er sieht es nicht ein, in die Ferne zu gehen, wenn er im beschaulichen Allgäu die Alpen direkt vor sich sieht. Rudis unreflektierte Automatismen spiegelt Dörrie auch in seinem ewig wiederkehrenden Spruch wider: »An apple a day keeps the doctor away.« (TC: 00:03:04) (Interessanterweise scheint Rudi jedoch selbst nicht an diesen Spruch zu glauben, denn obwohl er ihn beständig aufsagt, lehnt er es immer ab, den Apfel tatsächlich zu essen.) Mit dieser Darstellung eines festgefahrenen, sturen Mannes kurz vor der Rente und einer resignierten Haus- und Ehefrau, die ihre Träume der Familie untergeordnet hat, scheint Dörrie Stereotype von Alter und Geschlechterrollen zu zementieren. Auch als die beiden nach Berlin auf brechen, um ihre Kinder zu besuchen, erscheinen sie wie ein Klischee der etwas tattrigen, weltfremden Alten: Sie verstehen die Lebenswelt ihrer Kinder nicht, sind entweder zu anhänglich oder zu eigensinnig. Dörrie kopiert hier jedoch nicht ein einseitiges Altersklischee. Die Art, wie sie das Verhalten der Kinder darstellt, die sich abweisend und distanziert verhalten, macht klar, dass die Situation komplexer ist und dass Dörrie auf der Seite von Rudi und Trudi steht. Gleichzeitig verstärkt die Haltung der Kinder die Isolation der Eltern: Sie sind einsam und fremd, sowohl inmitten ihrer Kinder als auch in der Großstadt. Die Situation kulminiert schließlich an einem Fahrscheinautomaten, den die beiden nicht zu bedienen vermögen. In diesem ersten Teil des Films erscheint Rudi als der dickköpfige, weltfremde alte Mann und Trudi als die missverstandene, sich aufopfernde ›sweet old lady‹,33 die ihre Leidenschaft für Japan und die japanische Tanzkunst ihrer Ehe und ihrem Mann untergeordnet hat. Die Ähnlichkeit der Namen, Trudi und Rudi, unterstreicht nicht nur die Verwobenheit dieses langjährigen Ehepaars, die Namen verweisen auch darauf, dass beide Charaktere Variationen ähnlicher Alters- und Geschlechtsstereotype sind. Ironischerweise stirbt jedoch nicht Rudi, sondern seine Ehefrau, und mit dieser überraschenden Wendung kehrt Dörrie auch ihre Darstellung des Alters um und stellt die eben genannten Stereotype auf den Kopf. Rudi wird, wider Willen, 32 | Lars-Olav Beier: Regisseurin Doris Dörrie: »Der Tod kann sehr lebendig machen«, in: Spiegel Online Kultur, 11. Februar 2008, http://www.spiegel.de/kultur/kino/regisseurindoris-doerrie-der-tod-kann-sehr-lebendig-machen-a-534326.html [Zugriff: 23.04.2015]. 33 | Vgl. Maierhofer: Salty Old Women.

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zum Abenteurer. Er bricht nach Japan auf und beginnt sich in der Fremde zu öffnen. Er wagt es, in Frauenkleidern durch die Stadt zu laufen, und lässt sich auf die Schönheit des fremden Japans ein. Er erfährt einen grundlegenden Bewusstseinswandel, wenige Tage und Wochen vor seinem eigenen Tod. Als er auf Yu trifft, lässt er sich von ihr den Butoh-Tanz erklären und schließt mit ihr eine Freundschaft, die auf gemeinsamen Erfahrungen, nämlich dem Verlust eines geliebten Menschen, basiert. Unabhängig von ihrem Alter kennen beide Figuren das Gefühl der Trauer und Isolation. Über den Butoh versuchen sie ihren Verstorbenen näher zu kommen. Wie bei Coppola lassen sich auch in Dörries Darstellung des fremden Japans kulturelle Klischees finden. Insbesondere der Fuji und die Kirschblüte sind konventionelle Symbole der japanischen Kultur, die – so könnte man argumentieren – weniger in ihrem eigenen Recht bestehen als dass sie zur Illustrierung der Gefühlswelt eines weißen Mannes aus dem Westen dienen. Ebenfalls lässt sich die Beziehung zwischen Yu und Rudi in einem anderen Licht betrachten, in dem Yu nicht als gleichwertige Freundin, sondern als mittellose junge Frau erscheint (sie lebt in einem Zelt, scheint keine Freunde oder Familie zu haben). Yu kümmert sich um Rudi kurz vor seinem Tod (und pflegt ihn eines Nachts). Am Ende des Films erfahren wir, dass Rudi ihr nach seinem Tod sein gesamtes Erspartes vermacht hat. Wird Yu von Rudi für ihre Dienste ›bezahlt‹? Rettet Rudi posthum eine junge, heimatlose Frau? Dörrie ist sich dieser Klischees bewusst und gibt ihnen in einem Interview eine andere Note. Nach mehreren Filmen, die sie bereits in Japan gedreht hat, habe sie sich absichtlich »die beiden größten Klischees« vorgeknöpft: Den Fuji und die Kirschblüte. Weil das die beiden Dinge sind, die Trudi und Rudi aus der Entfernung aus Japan kennen. Und ich, die bereits 17 Mal in Japan war, habe es nie geschafft, den Fuji zu sehen, weil er immer in Wolken war. Ich habe auch immer die Kirschblüte verpasst. Deshalb gibt es in meinem Film die Figur von Yu. Er findet jemanden, der auf ihn aufpasst und erkennt, was mit ihm los ist. Das ist eine sehr persönliche Erfahrung, die ich auch immer wieder in Japan gemacht habe. 34

Dörrie verweist hier auf ihre eigenen Erfahrungen mit Japan und gibt damit der klischeebesetzten japanischen Ikonographie und der Beziehung zwischen Yu und Rudi eine weitere, subjektiv geprägte Bedeutungsebene. Die Diskrepanz zwischen Klischee und individueller Erfahrung, kritischer Distanz und zwischenmenschlichem Verständnis, thematisiert Kirschblüten – Hanami auch am Ende, nachdem Rudi verstorben und nach japanischem Ritual eingeäschert worden ist. Karl bedankt sich förmlich bei Yu: »Thank you for everything you did for my father«, sagt er im Taxi, woraufhin Yu diesen Dank zurückweist: »I did not 34 | Belinda Grimm: Die Macht des Dialekts, in: Filmreporter.de, 2. März 2008, http:// filmreporter.de/stars/interview/1157-Die-Macht-des-Dialekts/2 [Zugriff: 22.04.2015].

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do anything« (TC: 01:55:28-01:55:35), sagt sie bestimmt, jedes Wort einzeln betonend. Ob Yus Antwort eine Floskel ist, oder ob sie dezidiert ablehnt, irgendeinen Dienst verrichtet zu haben, bleibt offen. Diese Ambivalenz in den Annahmen, wie die Freundschaft zwischen Yu und Rudi zu interpretieren ist, betont Dörrie auch in der letzten Szene des Films und verleiht der Frage damit eine besondere Bedeutung: Als Rudis Kinder in Deutschland beim Leichenschmaus zusammensitzen, versucht Sohn Robert sein Unverständnis über das Verhalten des Vaters auszudrücken: »Das ist alles so verrückt, was Du erzählst. Ich erkenn’ den Papa nicht wieder. […] In einem Hotel, mit einer 18-jährigen.« Karolin ergänzt: »In Frauenkleidern. […] Furchtbar.« Nur Franzi, die Freundin der Tochter Karolin, hält eine alternative Lesart entgegen: »Vielleicht war er am Ende glücklich?« (TC: 01:57:18-01:57:38) Diese Möglichkeit wird jedoch von Rudis Kindern mit einem abfälligen Schnaufen und Kopfschütteln kommentiert. Die Ahnungslosigkeit und Ignoranz der Kinder, ihr mangelndes Interesse an einem tieferen Verständnis der Eltern, ist für Dörrie hier das eigentlich Furchtbare. Indem sie Außenstehende wie Franzi und Yu in diese Familiengeschichte integriert, eröffnet sie alternative Bedeutungsebenen und Interpretationsmöglichkeiten: Franzi erkennt als Einzige, dass im vermeintlich Abtrünnigen Glück und Hoffnung liegen können, dass Altersunterschiede, Verhaltensweisen und Kleider nur Äußerlichkeiten sind. Sie nimmt auch als Einzige Trudis Leidenschaft für den Butoh wahr und begleitet sie in Berlin auf eine Veranstaltung. Yu wiederum akzeptiert Rudis (Ver-)Kleidung als Ausdruck seiner tief empfundenen Trauer und Wertschätzung seiner Frau. Das Alter(n) erhält durch Dörries komplexe Darstellung Bedeutungsebenen, die jenseits der gängigen Klischees liegen: Die Erkenntnis der Vergänglichkeit, die Trauer um einen geliebten Menschen sind existenzielle, generationsübergreifende Erfahrungen, die für Rudi neue Erfahrungsräume eröffnen. Während die Kinder der Angermeiers keine andere Ausdrucksform für ihre Trauer finden als die Betonung ihrer Bestürzung und Fassungslosigkeit, begibt sich Rudi auf eine äußere und innere Reise. Sein Nichtverstehen, die Unfassbarkeit seines Verlusts,35 wandelt sich durch die Begegnung mit Yu und dem Butoh. Während Rudi zuerst noch die Kleider seiner Frau am Körper trägt, um ihr im übertragenen Sinne Japan zu zeigen, kommt er im Laufe des Films seiner verstorbenen, rätselhaften Trudi immer näher, bis sie schließlich, während der magischen Szene des gemeinsamen Butoh-Tanzes vor dem Fuji, leibhaftig vor ihm steht und mit ihm tanzt. Der Butoh ermöglicht Rudi einen sinnlichen und körperlichen Zugang zu Vergänglichkeit und Tod. Yu erklärt Rudi den Tanz mit den folgenden Worten:

35 | Rudi sagt zu seinem Sohn: »I versteh’ nett wo die Trudi is’. Wo ihr Körper is’. Die Erinnerung an sie ist hier drin [klopft sich auf die Brust]. Aber wenn i amol nimmer bin, wo is denn dann die Trudi?« (TC: 01:05:36-01:05:49).

Generationsübergreifende und interkulturelle Er fahrungsräume Butoh is dance of shadow. Not me dance. Shadow dance […] I don’t know who is the shadow. Hello, hello. Who are you? No answer. […] Everybody can dance Butoh. Everybody has shadow. Young and old. Woman and man. And everybody alive. And everybody dead. At the same time. I dance with the dead. My mother, she is in me. Where is your wife? (TC: 01:18:07-01:19:50)

Damit trifft Yu bei Rudi ins Schwarze, denn genau dieser Frage will er auf den Grund gehen. Doch Yus Angebot, und das ihrer Kunst, ist keine kognitive Erörterung einer Frage über das Leben nach dem Tod oder den Umgang mit dem Verlust eines Menschen. Yus Zugang ist ein anderer: Über den Butoh kommen sich, nach Yus Definition, nicht nur die Menschen näher (wie Yu und Rudi), sondern auch die Lebenden und die Toten. Der Butoh überwindet Raum und Zeit. Auf diese Weise ist der Butoh kein konkreter, materieller Bakhtinscher ›Zeitort‹, wie das Hotel bei Coppola. Dennoch verdichten sich im Butoh-Tanz Raum und Zeit, zum einen weil der Butoh-Tanz im Film an bedeutungsaufgeladenen Orten wie dem Fuji oder inmitten der Kirschblüte gezeigt wird, zum anderen weil der ›Ort‹ des Tanzes, nämlich der Körper der Tanzenden, gleichfalls ein ›Zeitort‹ ist. Im Körper manifestiert sich das Fortschreiten der Zeit. Gleichzeitig erfahren Yu und Rudi durch den Butoh aber auch non-lineare, nicht kausale Zeitlichkeiten: Die tote Mutter lebt in ihrer Tochter fort und Rudi kann seine verstorbene Trudi zu sich rufen und sich im Tanz mit ihr versöhnen. In dieser magischen Szene, vor dem Hintergrund eines auf den Kopf gestellten Fuji (als Reflexion im See), verlässt Dörrie die Maximen von Kausalität und Rationalität und imaginiert einen Moment von Innigkeit und Verstehen, der einer eigenen Logik folgt.

A lter (n) erfahren Ich habe in diesem Beitrag versucht, mich mit Hilfe von zwei Lesarten dem Alter(n) im Film zu nähern. Die eine Lesart fragt nach der Darstellung von Alter, nach Klischees, problematischen Assoziationen und danach, wie die Filme gleichzeitig Klischees unterwandern und Alternativen zu Stereotypen anbieten. Die andere, komplementäre Lesart untersucht Filme als Erfahrungsräume und fragt nach der Art und Weise, wie die beiden Filme Zeit und Raum, die Relation zwischen dem Selbst und dem Anderen untersuchen. Lost in Translation und Kirschblüten – Hanami sind in diesem Zusammenhang komplexe Filme, die sowohl kontroverse Diskussionen anregen als auch berührende Erfahrungswelten eröffnen. Welchen Beitrag jedoch können Filme wie Lost in Translation und Kirschblüten – Hanami für ein tieferes Verständnis von Alter und Altern leisten? Ketzerisch gefragt: Brauchen wir Filme über Japan, um zu verstehen, was Alter, Vergänglichkeit und Verlust bedeuten? Doris Dörrie würde diese Frage sicherlich bejahen. Ihre Liebe zu Japan, so beschreibt sie in ihrem Buch zum Film, speist sich unter

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anderem aus einer Einsicht während ihres zweiten Besuchs in Japan 1994, und sie weist auf eine interessante Parallele zwischen Alter und der Bedeutung des Filmsehens hin: Immer wieder beobachtete ich fasziniert eine große Sorgfalt – ob es das Bettenmachen im Minshuku war, das Baden, […] die Art, wie man etwas einwickelt, oder wie man jemandem eine Visitenkarte überreicht: Immer gab es eine besondere Achtsamkeit und Liebe zu den Dingen und zum Detail, die auch einen Namen hat: Mono no aware. […] Es gibt unzählige Übersetzungen dafür, die drei, die mir am besten gefallen, sind: ›Entzückt und wehmütig berührt sein‹. ›Angerührt sein von den Dingen‹. ›Das Aufgehen des Ichs in den Dingen der Welt‹. Vielleicht ist es einfach ein ausgeprägteres Bewusstsein für Vergänglichkeit und deshalb ein konzentriertes Vergnügen an den einfachen Dingen des Lebens. 36

Dieses genaue Sehen und Wahrnehmen begründet, nach Rita Felski, auch die Bedeutung von Literatur (und Film) und, gleichsam, die Bedeutung der Literaturund Filmkritik. Nicht nur die Autorinnen und Filmemacherinnen beobachten sorgfältig und lenken mit der Kamera den Blick ihres Publikums. Das achtsame, bewusste Sehen von Filmen (oder Lesen von Literatur, wie Felski argumentiert) lehrt uns zu sehen – und zwar genau zu sehen – was direkt vor uns liegt, sodass wir aufmerksamer werden gegenüber den dichten Beschreibungen von Erfahrungszuständen.37 Doch was ist gewonnen, wenn wir genauer hinschauen, wenn wir erkennen, wie vielfältig, dicht und komplex literarische oder filmische Erfahrungen sein können? Für Rita Charon liegt der Mehrwert darin, dass wir durch ein Trainieren von close reading-Praktiken aufmerksamer werden gegenüber unseren Mitmenschen, dass wir genauer hinhören und hinschauen.38 Wir lernen im Alltag die Komplexität wertzuschätzen, die wir in der Literatur oder im Film erfahren haben, und dies kann helfen, rigide Stereotype oder einseitige Narrative zu entlarven und durch alternative Geschichten und Perspektiven zu ergänzen.39 Natürlich lassen Hollywood Filme und kommerzielle Produktionen in ihrer Komplexität zu wünschen übrig, da sie teilweise Stereotype reproduzieren und einfache, geschlossene Geschichten gegenüber komplexen und offenen favorisieren. Doch der Nutzen von Filmen liegt nicht (nur) in ihrem ästhetischen, künstlerischen oder gesellschaftskritischen Wert. Heiserman und Spiegel beschreiben anhand eines Beispiels aus der Psychotherapie, wie eine melodramatische, klischeebe36 | Dörrie: Kirschblüten – Hanami. Ein Filmbuch, S. 199. 37 | Vgl. Felski: The Uses of Literature, S. 17 und S. 19. 38 | Vgl. Charon: Narrative Medicine, S. 107 und S. 113. 39 | Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie erläutert in ihrem TED-Talk aus dem Jahr 2009 eindrucksvoll die Gefahr der einseitigen Geschichte, vgl. »The danger of a single story« (2009), http://www.ted.com/talks/chimamanda_adichie_the_danger_ of_a_single_story?language=en#t-764343 [Zugriff: 23.04.2015].

Generationsübergreifende und interkulturelle Er fahrungsräume

setzte Filmszene für eine Patientin bedeutsam wurde, weil diese Szene als Katalysator funktionierte: The patient gained, through interrogating her responses to the film, a different under­ standing of her own story. […] For this particular viewer, this film played out an alternate narrative of a familiar set of emotional postures. What we can recognize as a conventional melodramatic maternal deathbed scene designed to draw tears accrues a nonclichéd significance for this viewer, whose identifications are fluid, vacillating between mother and son.40

Filme über das Alter erlauben uns, unsere persönlichen Geschichten und Vorstellungen neu zu denken und alternative Narrative zu entwickeln. Die im Film dargestellten Perspektiven und Erfahrungswelten werden auf diese Weise für uns persönlich bedeutsam. Die Interpretationen dieses Beitrags sind in diesem Sinne nur eine Möglichkeit unter vielen, mit Filmen über das Alter nachzudenken und mit Filmen unsere Erfahrungen vom Alter(n) zu verstehen.

Q uellenverzeichnis Filme Best Exotic Marigold Hotel (US/GB/IND 2011, Regie: John Madden). Best Exotic Marigold Hotel 2 (US/GB 2015, Regie: John Madden). Der Fischer und seine Frau (D 2005, Regie: Doris Dörrie). Erleuchtung garantiert (D 2000, Regie: Doris Dörrie). Kirschblüten – Hanami (D 2008, Regie: Doris Dörrie). Lost in Translation (dt. Lost in Translation – Zwischen den Welten, US/J 2003, Regie: Sofia Coppola).

Sekundärtexte Anonym: butoh, in: The Columbia Encyclopedia, New York 2015, http://www.encyclopedia.com/doc/1E1-butoh.html [Zugriff: 01.07.2015]. Bakhtin, Mikhail M: Forms of Time and of the Chronotope in the Novel. Notes toward a Historical Practice, in: The Dialogical Imagination: Four Essays, hg. v. Michael Holquist und übers. v. Caryl Emerson, Michael Holquist, Austin, Texas 1981, S. 84-258. Beier, Lars-Olav: Regisseurin Doris Dörrie: »Der Tod kann sehr lebendig machen«, in: Spiegel Online Kultur, 11. Februar 2008, http://www.spiegel.de/kultur/kino/

40 | Heiserman, Spiegel: Narrative Permeability, S. 471f.

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regisseurin-doris-doerrie-der-tod-kann-sehr-lebendig-machen-a-534326.html [Zugriff: 23.04.2015]. Charon, Rita: Narrative Medicine: Honoring the Stories of Illness, New York 2006. Dörrie, Doris: Kirschblüten – Hanami. Ein Filmbuch, Zürich 2008. Eagleton, Terry: Literary Theory. An Introduction, Malden, Massachusetts 2008. Felski, Rita: After Suspicion, in: Profession 35 (2009), S. 28-35. Felski, Rita: The Uses of Literature, Hoboken, New Jersey 2009. Fetterley, Judith: The Resisting Reader. A Feminist Approach to American Fiction, Bloomington, Indiana 1978. Frank, Arthur W.: The Wounded Storyteller. Body, Illness and Ethics, Chicago 1995. Godzik, Maren: Altern in Japan. Herausforderungen und Chancen, in: Maren Godzik (Hg.): Altern in Japan, München 2009, S. 15-24. Grimm, Belinda: Die Macht des Dialekts, in: Filmreporter.de, 2. März 2008, http://filmreporter.de/stars/interview/1157-Die-Macht-des-Dialekts [Zugriff: 23.04.2015]. Heiserman, Arthur; Spiegel, Maura: Narrative Permeability. Crossing the Dissociative Barrier in and out of Films, in: Literature and Medicine 25 (2006) H. 2, S. 463-474. Jurecic, Ann: Illness as Narrative, Pittsburgh, Pennsylvania 2012. Kavedzija, Iza: The Age of Decline? Anxieties about Ageing in Japan, in: Ethnos: Journal of Anthropology (2014), S. 1-24. King, Homay: Lost in Translation, in: Film Quarterly 59 (2005) H. 1, S. 45-48. Kobayashi, Audrey: cherry blossoms, in: Sandra Buckley (Hg.): The Encyclopedia of Contemporary Japanese Culture, London/New York 2002, S. 63. Krebs, Martina: Hotel Stories. Representations of Escapes and Encounters in Fiction and Film, Trier 2009. Lindemann, Tim: Kolonialrentner, in: Schnitt (2012), http://www.schnitt.de/202, 7045,01.html [Zugriff: 23.04.2015]. Mae, Michiko: Alter, Pflege und Gender in der japanischen Gegenwartsliteratur, in: Henriette Herwig (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2014, S. 203-228. Maierhofer, Roberta: Salty Old Women. Eine anokritische Untersuchung zu Frauen, Altern und Identität in der amerikanischen Literatur, Essen 2003. O’Leary, James S.: A New Look at Japan’s Honorable Elders, in: Journal of Aging Studies 7 (1993) H. 1, S. 1-24. Rooke, Constance: Old Age in Contemporary Fiction. A New Paradigm of Hope, in: Thomas R. Cole, Robert Kastenbaum, Ruth E. Ray (Hg.): Handbook of the Humanities and Aging, New York 1992, S. 241-257. Sarton, May: As We Are Now, New York 1973. Schenk, Ralf: Die Schönheit des Augenblicks, in: Berliner Zeitung, 9. Februar 2008, http://www.berliner-zeitung.de/archiv/die-regisseurin-doris-doerrie-... eten---hanami--die-schoenheit-des-augenblicks,10810590,10537828.html [Zugriff: 23.04.2015].

Generationsübergreifende und interkulturelle Er fahrungsräume

Troja, Marion: Kirschblüten – Hanami: Letztes Blühen vor dem Tod, in: Westdeutsche Zeitung, 5. März 2008, http://www.wz-newsline.de/home/kultur/film/ kino/kirschblueten-hanami-letztes-bluehen-vor-dem-tod-1.222670 [Zugriff: 23.04.2015]. Woodward, Kathleen: Against Wisdom. The Social Politics of Anger and Aging, in: Cultural Critique (2002) H. 51, S. 186-218.

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Alters-WGs im Film Stéphane Robelins Et si on vivait tous ensemble? und Ralf Westhoffs Wir sind die Neuen Alina Gierke, Maike Rettmann

E inleitung Laut einer forsa-Umfrage zum Thema »Altern in Deutschland« aus dem Jahre 2012 mit 1.273 Teilnehmern zwischen 14 und 75 Jahren können sich sechs Prozent aller Befragten vorstellen, im Alter in einer selbstorganisierten Wohngemeinschaft zu leben. Diese Möglichkeit liegt zwar (noch) deutlich hinter der mehrheitlich favorisierten Vorstellung vom späteren Leben in einem Haus oder in einer Wohnung, allein oder mit einem Partner – das wünschen sich 74 Prozent der Befragten – zurück, wird jedoch gegenüber dem bislang standardisierten Wohnmodell des Seniorenheims bevorzugt. Lediglich zwei Prozent der Befragten wählten als möglichen Wohnort das Altersheim, für ebenso wenige ist das Leben mit den bereits erwachsenen Kindern eine Option.1 Das in Deutschland noch relativ junge Modell der Alters-WG2 erfreut sich gegenüber diesen beiden Möglichkeiten offen-

1 | Vgl. Körber-Stiftung (Hg.): Alter neu erfinden. Ergebnisse der forsa-Umfrage »Altern in Deutschland«, Hamburg 2012, S. 6, http://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/user_ upload/allgemein/schwerpunkte/2012/gesellschaft/kampagne_alter-neu-erfinden/Studie_Alter-neu-erfinden_Ergebnisse_forsa-Umfrage.pdf [Zugriff: 26.3.2015], die einen repräsentativen Querschnitt der deutschen Bevölkerung befragt hat. 2 | Dänemark hat schon in den 1970er Jahren Seniorenwohngemeinschaften, die sogenannten ›Seniorbofællesskaber‹, als Alternative zum Altenheim zu etablieren begonnen. Vgl. Sabrina Stula: Wohnen im Alter in Europa – Aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen. Arbeitspapier Nr. 7 der Beobachtungsstelle für gesellschaftspolitische Entwicklungen in Europa, hg. v. dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., Berlin 2012, S. 15.

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bar steigender Beliebtheit.3 Als Grund für diesen Trend stellt forsa vor allem den Wunsch nach einem selbstbestimmten und -verwalteten Leben im Alter heraus. Die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Studie Wohnen im Alter in Europa – Aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen aus demselben Jahr wie die forsa-Umfrage betont: »Insgesamt machen die Konsequenzen des demografischen und sozialen Wandels europaweit die Entwicklung neuer Wohnformen nötig, die dem Wunsch älterer Menschen nach Leben in vertrauter Umgebung im Alter Rechnung tragen.«4 Die Herausforderung liegt dabei in der »Prävention von sozialer Isolation und Einsamkeit im Alter bei einer steigenden Anzahl von älteren Alleinstehenden und Ein-Personen-Haushalten.«5 Im Vordergrund neuer Wohnformen, wie der Alters-WG, steht nicht die vorwiegend ökonomisch ausgerichtete Verwaltung alter Menschen, sondern ihre selbstgewählte sozial-gesellschaftliche Einbindung. Dabei wird auch dem Umstand Rechnung getragen, dass »ältere Menschen keine homogene Gruppe sind, sondern sich in Bezug auf ihre Bedürfnisse, Interessen, Lebensstile, aber auch ihre finanziellen Möglichkeiten unterscheiden«.6 Neben der Würdigung individueller Bedürfnisse alter Menschen wurde in der Feldforschung bereits auch die Korrelation zwischen psychischer Gesundheit und eigenständiger Lebensraumgestaltung hervorgehoben. So hat das Projekt Enabling Autonomy, Participation, and Well-Being in Old Age: The Home Environment as a Determinant for Healthy Ageing schon 2004 nachgewiesen, dass alte Menschen, die sowohl ihren Wohnort selbständig wählen als auch ihren Alltag eigenverantwortlich gestalten können, weniger anfällig für depressive Erkrankungen sind.7 Verbunden mit dem neuen Lebensmodell der Alters-WG ist der Versuch, die Missstände aktueller Alterswohnkonzepte, die nicht genug auf individuelle Bedürfnisse eingehen, zu beheben.8 An der derzeit hochaktuellen Diskussion um Wohnformen und Lebensgestaltung im Alter beteiligen sich nicht nur gesellschaftswissenschaftliche Studien und Umfragen sowie massenmediale Formate,9 sie werden auch in besonderer 3 | Mit sechs Prozent entschieden sich dreimal mehr Menschen für den Aufenthalt in der WG als für den Aufenthalt im Heim. Dagegen favorisieren immerhin sieben Prozent aller Befragten das Leben in einem außerfamiliären Mehrgenerationenhaushalt (vgl. KörberStiftung (Hg.): Alter neu erfinden, S. 6). 4 | Ebd., S. 24. 5 | Ebd., S. 24; Hervorhebung im Original. 6 | Ebd., S. 24. 7 | Vgl. ebd., S. 9. Die Studie erstreckte sich auf die Länder Schweden, Vereinigtes Königreich, Ungarn, Lettland und Deutschland. Vgl. auch die Internetpräsenz des Projektes: http://www.enableage.arb.lu.se/ [Zugriff: 26.3.2015]. 8 | Vgl. Stula: Wohnen im Alter, S. 12. 9 | Vgl. etwa die von Sandra Maischberger geleitete Diskussionsrunde zu diesem Thema (Menschen bei Maischberger, Folge 192, 22.04.2008, ARD) oder die Planet Wissen-Folge »Ich gehe nicht ins Altenheim – Anders leben im Alter« (04.09.2014, ARD-alpha/WDR).

Alters-WGs im Film

Weise künstlerisch reflektiert, etwa in Literatur und Film. Die künstlerischen Medien bringen dabei ganz spezifische Vorteile im Zugriff auf das Thema Alter mit sich: Wenn die Kultur- und Sozialwissenschaften primär von Konzepten, Strukturen und Ordnungen eines lebensweltlichen Abschnitts ausgehen und die leibhaftigen alten Leute nur als Beispiel sehen, so analysiert und deutet die Literaturwissenschaft von der Dichtung aus und mit ihr die einzelnen, in diesem Fall alten, Menschen, und erst von diesen aus konstruiert sie den Ordnungszusammenhang eines größeren Ganzen. […] [Die] Dichtung […] [hat] im Menschlich-Individuellen ihren Ausgangs- und Fluchtpunkt.10

In der vorliegenden Untersuchung sollen zwei aktuelle Filmproduktionen aus Deutschland und Frankreich, die WG-Gründungen im Dritten Alter11 inszenieren, beispielhaft in den Blick genommen werden: Stéphane Robelins Et si on vivait tous ensemble? (dt. Und wenn wir alle zusammenziehen?, F/D 2011) und Ralf Westhoffs Wir sind die Neuen (D 2014). Die Filme zeigen Figuren in unterschiedlichen Beziehungskonstellationen. Während die Figuren in Robelins Film eine lebenslange Freundschaft verbindet, beleben die drei Protagonisten aus Westhoffs Produktion nach 35 Jahren ihre frühere Studenten-WG wieder. Im Fokus der Auseinandersetzung mit den Filmen sollen die Darstellungen und diskutierten Problembereiche des Alter(n)s stehen, die Verhältnisse zur jüngeren Generation sowie die Funktionen, Potenziale und Defizite der Alters-WG in diesen Kontexten.

10 | Hans-Georg Pott: Alter als kulturelle Konstruktion. Diskursanalytische und philosophisch-kritische Beobachtungen, in: Heiner Fangerau u.a. (Hg.): Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s, Berlin 2007, S. 153-163, hier S. 155. 11 | Das ›Dritte Alter‹ bezeichnet innerhalb des Lebensabschnitts Alter den »aktiven und produktiven« Teil im Gegensatz zum ›Vierten Alter‹, das als »Phase der Hochaltrigkeit« mit den negativen Aspekten des Alters assoziiert wird (Henriette Herwig: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, in: dies. (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2014, S. 7-33, hier S. 12). Während Laslett in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts den Begriff des ›Dritten Alters‹ für die Menschen geprägt hat, die als »zu alt für die Erwerbstätigkeit [gelten], sich gleichzeitig aber nach wie vor guter Gesundheit erfreuen« (Barbara Pichler: Aktuelle Altersbilder: »junge Alte« und »alte Alte«, in: Kirsten Aner, Ute Karl (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010, S. 415-425, hier S. 416), stammt der dazu synonym verwendete Begriff »neue Alte« aus den 80er Jahren (vgl. ebd.). Vgl. auch Peter Laslett: Das Dritte Alter. Historische Soziologie des Alterns, Weinheim/München 1995.

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S téphane R obelin : E t si on vivait tous ensemble ? In Stéphane Robelins französisch-deutscher Produktion Et si on vivait tous ensemble? gründen fünf alte Freunde eine Wohngemeinschaft. Vergleicht man die zwei ausgewählten Filme, dann ist es Robelins Film, der die WG als alternative Wohnform im Dritten Alter besonders explizit diskutiert und gleichermaßen das Altenheim radikal negiert. Realitätsnah führt der Film ein Spektrum von Figuren mit verschiedenem Familienstatus vor: Den Ehepaaren Jeanne (Jane Fonda) und Albert (Pierre Richard) sowie Jean (Guy Bedos) und Annie (Geraldine Chaplin) steht der Witwer Claude (Claude Rich) gegenüber.12 Neben dem Problem potentieller Einsamkeit im Alter, das in der Figur Claude gespiegelt wird, findet auch das Thema Krankheit auf mehrfache Weise Eingang in die Konzeption der Figuren: Albert ist von einer demenziellen Erkrankung betroffen, die rapide fortschreitet. Claude ist herzkrank und nach einer akuten Attacke vorübergehend an den Rollstuhl gefesselt. Jeanne schließlich leidet an einem bösartigen Tumor und sieht ihrem bevorstehenden Tod entgegen. Alle diese Umstände wirken an der Entscheidung für die Wohnform der Alters-WG mit, für die Annie ihr Erbe und Eigentum, ein großes Haus, zur Verfügung stellt. Als der alleinlebende, aber sexuell sehr aktive Claude bei einem Treffen mit seiner Stammprostituierten einen Herzinfarkt erleidet und ins Krankenhaus eingeliefert wird, sieht er sich mit der Frage nach seiner zukünftigen Existenz und Lebensweise konfrontiert. Dass er weiterhin allein in seiner Wohnung leben wird, wie es sich Claude wünscht, ist für seinen Sohn Bernard indiskutabel. Eigenmächtig entscheidet der Sohn über die Bedürfnisse seines Vaters hinweg, dass Claude in ein Altersheim einziehen wird. Im Gespräch zwischen Vater und Sohn zeigt sich deutlich eine Verschiebung der Autoritätsverhältnisse und damit ein Rollentausch von Eltern und Kind: »Weißt du, wer die Frau war, die dich gefunden hat?« – »Nein. Das weiß ich nicht.« – »Ich finde, du solltest dich bei ihr bedanken. Du kennst sie nicht?« – »Nein.« – »Was hast du denn in diesem Haus gemacht?« [Claude schweigt] »Ich hab den Arzt gefragt. Wir müssen dein Herz beobachten.« »Ha, mein Herz? Ja, das kann ich mir denken.« – »Er sagt, du kannst nicht mehr allein leben.« – »Was?« – »Du riskierst einen weiteren Infarkt, Papa. Also habe ich eine Lösung gesucht.« – »Ohhh! Jetzt fang’ doch nicht schon wieder damit an!« – »Jetzt bleib’ realistisch, Papa. Ich mach’s mir ja auch nicht leicht.« – »›Bleib’ realistisch‹, natürlich! Bald wird dein Papa krepieren. Aber bis es soweit ist, lass’ ich mich doch nicht einsperren. Da zerfall’ ich doch lieber in meinen eigenen vier Wänden.« – »Es gibt auch sehr gute Heime. Du siehst das alles zu negativ. […] Nicht gerade billig, aber wenn wir die Wohnung verkaufen…« 12 | Schon die an eine Alliteration angenäherte Namensgebung der Eheleute verweist auf ihre Zusammengehörigkeit und markiert dadurch Claudes Außenseiterposition innerhalb der Gruppe. Diese Zusammengehörigkeit wird aber im Filmverlauf als formal entlarvt, da sich herausstellt, dass Claude sowohl mit Annie als auch mit Jeanne eine Affäre hatte.

Alters-WGs im Film – » Du verlangst, dass ich meine Wohnung aufgebe, mein Viertel, meine Freunde, mein Fotolabor und das mit 75!« – »Wir haben keine andere Wahl, Papa.« (TC: 00:30:18-00:31:57)

Die Umkehrung der Rollenverhältnisse äußert sich zunächst in der Sprechsituation. Der größte Redeanteil fällt Claudes Sohn zu, was inhaltlich damit korrespondiert, dass er die Entscheidung über die Zukunft seines Vaters bereits getroffen hat und ihn im Gespräch vor vollendete Tatsachen stellt. Zu Beginn der Szene versucht Bernard seinen Vater einem Kreuzverhör zu unterziehen. Er will wissen, in welchem Verhältnis dieser zu der Prostituierten steht, die den Krankenwagen informiert hat. Der belehrende Unterton des Sohnes, der vor allem in der Intonation des Schauspielers zum Ausdruck kommt, zielt auf zweierlei: einerseits auf die Bevormundung des Vaters und damit auf die Legitimierung der Einweisung in ein Altersheim, andererseits auf die subtile Kritik am noch vitalen Sexualtrieb des Vaters, die unausgesprochen bleibt. Der Sohn partizipiert damit an der Vorstellung über das Alter als asexueller Lebensphase. Der Vater seinerseits verweigert sich der Diskussion, zunächst durch vorgetäuschte Naivität und Unwissenheit, schließlich durch Schweigen. Letztlich rechtfertigt der Sohn die Notwendigkeit einer Einweisung in ein Heim unter Berufung auf die Autorität des Arztes und entzieht sich damit partiell der Verantwortung für die Entscheidung, die für seinen Vater eine lebensverändernde ist. Innerhalb dieser Legitimierungsstrategie des Sohnes ist auch das konsequente Sprechen im kollektivierenden ›Wir‹ zu werten. Mit der die Sequenz beschließenden Aussage »Wir haben keine andere Wahl, Papa!« unterstellt der Sohn implizit, dass der Vater seinen Lösungsvorschlag ›Altenheim‹ akzeptiert, den der Vater zuvor aber schon einige Male abgelehnt hat. Gleichwohl macht der Sohn deutlich, dass es aus seiner Perspektive keine andere Möglichkeit als das Altenheim für den Vater gibt – der Film indes zeigt eine Alternative auf. Die vom Sohn unterstellte Akzeptanz Claudes besteht, wie sich im Dialog zeigt, de facto nicht, denn für ihn bedeutet die Übersiedlung in ein Altenheim primär Verlust: seines vertrauten Wohnumfelds, seiner Sozialbeziehungen, seiner Freizeitgestaltung, seiner sexuellen Freiräume. Mit der Figur Claude werden somit jene Sorgen zitiert, die auch in zeitaktuellen Umfragen und Studien zum Thema ›Wohnen im Alter‹ zu Tage treten. Der Sequenz, die diesen Vater-Sohn-Konflikt zeigt, wird eine zweite, ähnliche Sequenz beiseite gestellt: Nachdem Albert beim Spazierengehen von seinem Hund umgerissen worden und gestürzt ist, wird er ins Krankenhaus eingewiesen.13 Für seine Tochter, Sabine, ist die Konsequenz dieser Begebenheit, dass der Hund abgegeben werden muss, weil sie es für ihre Eltern als »zu gefährlich« (TC: 00:20:26) einschätzt, den Hund zu behalten. Allerdings liegt hier eine andere Ge13 | Der Film erzählt hier aus der Perspektive des orientierungslosen Demenz-Kranken. Der Unfall bleibt eine filmische Leerstelle. Gezeigt wird, wie Albert im Krankenwagen zu Bewusstsein kommt, außer Stande, sich an die vorangegangenen Ereignisse zu erinnern. Genau wie Albert muss sich der Zuschauer erschließen, was zuvor geschehen ist.

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sprächssituation vor: Die Tochter unterhält sich nicht mit dem Betroffenen selbst, sondern über ihn mit ihrer Mutter. Während die Tochter einen durch und durch pragmatisch-rationalen Umgang mit Alberts Situation pflegt,14 erkennt seine Ehefrau Jeanne die existentielle Bindung Alberts an seinen Hund: »Wenn du ihm seinen Hund wegnimmst, kannst du ihn auch gleich umbringen.« (TC: 00:20:10) Der Kompromissvorschlag Sabines, den geliebten Hund einfach durch einen kleineren zu ersetzen, zielt genauso an Alberts individuellen Bedürfnissen vorbei wie die Idee von Bernard, die Wohnung seines Vaters zu verkaufen, um einen Platz im Altenheim finanzieren zu können. Die Kinder verkennen die emotionale Bedeutung des tierischen Gefährten wie der vertrauten Umgebung für ihre Väter. Durch die gedoppelte Darstellung dieses Problems wird die Bevormundung der Eltern durch ihre Kinder von einem individualisierten zu einem grundsätzlichen Generationenkonflikt erweitert. Der Entscheidungskompetenz der Kindergeneration für die Angelegenheiten ihrer vermeintlich nicht mehr entscheidungsfähigen Eltern wird in dieser filmischen Inszenierung misstraut, was darin zum Ausdruck kommt, dass die Perspektive der Alten eingenommen wird. Zwar lassen sie sich kurzfristig auf die Lösungsvorschläge der Jungen ein, verwerfen sie jedoch letztlich zugunsten eigener Konzepte – und dies auf äußerst subversive Weise. So findet sich Claude unvermittelt im Altenheim wieder, einer Umgebung, in die er sich nicht einmal versuchsweise integrieren möchte. Der passionierte Hobby-Fotograf entfremdet seinen Blick auf die Zustände des Altenheims durch das Objektiv seiner Kamera.15 Damit ermöglicht er sich eine distanzierte Beobachterposition, die die Missstände dokumentiert. Beim Besuch seiner Freunde 14 | Eine pragmatisch-rationale Argumentation wie die von Alberts Tochter führt sich bei einem Demenz-Kranken, der weniger rational als emotional ansprechbar ist, selbst ad absurdum. (Vgl.: Henriette Herwig: Alte und junge Paare im Pflegeheimroman der Gegenwart. Annette Pehnts Haus der Schildkröten und Jürg Schubigers Haller und Helen, in: dies. (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2014, S. 229-250, hier S. 232: »[D]ie emotionale Ansprechbarkeit von Demenz-Patienten bleibt erhalten bis zum Tod.«) Auf den Einwand Jeannes, dass der Entzug des Hundes für Albert dem Tod gleichkommt, antwortet die Tochter: »Ach nein, ganz bestimmt versteht er das.« (TC: 00:20:15) 15 | Insgesamt nutzt der Film das Medium Fotografie auf vielfältige Weise. Nicht nur beginnt der Film mit einer Sequenz, in der Annie Fotos von ihren Enkeln einklebt, um so ihre Sehnsucht nach ihnen zu illustrieren, sondern auch Jeannes Krankheit wird zu Beginn des Films nur bildlich – als Tomographie – thematisiert. Ebenso wird Claudes Liebe zum jungen nackten Frauenkörper anhand seiner selbstentwickelten Bilder eingeführt. Hier ersetzt das Medium einen Dialog oder Monolog der Figuren, der dem Zuschauer die nötigen Informationen zu den Figuren liefern würde. Darüber hinaus symbolisiert das Dekorieren der Familienfotos aller WG-Mitbewohner den Zusammenschluss der Wohngemeinschaft. Dass Jeanne, auf dem Sofa sitzend, für den fotografierenden Claude posiert, während Albert

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im Altenheim spiegelt sich deren verbal uneingestandenes Entsetzen über das auf Claudes Fotografien Dargestellte nonverbal in ihrer Mimik, und das fängt die Kamera in Nahaufnahmen ein. Die Fotos zeigen Szenen aus dem Pflege- und Lebensalltag. Zwei portraitieren ganzfigürlich alte Frauen in ihren Zimmern in ihrer Einsamkeit, eines stellt drei vor dem Fernseher in Liegesesseln aufgestellte Schlafende dar, ein weiteres zeigt eine sich gegen das Pflegepersonal zur Wehr setzende Frau.16 Ein Teil dieser fotografischen Szenen wird zuvor auch im bewegten Bild dargestellt. Das in der Fotografie eingefrorene Bild aus der jeweiligen Szene zeigt Claudes Blick auf das Altenheim, insofern er entscheidet, wann er den Auslöser der Kamera betätigt. Stellen die bewegten Szenen neutrale Situationen des Heimalltags dar, ist den Fotografien der negativ wertende Blick von Claude eingeschrieben, der sich im Altenheim wie ein Gefangener fühlt. Trotzdem ist nicht der Anblick der Fotografien das auslösende Moment für die vom aktivistischen Jean17 initiierte Flucht Claudes aus dem Altenheim. Vielmehr ist es die plötzlich hereinbrechende Realität des auf den Bildern Dargestellten: Eine geistig verwirrte Bewohnerin des Altenheims dringt, auf der Suche nach ihrem Gebiss, in Claudes Zimmer und seine Privatsphäre ein. In dieser Sequenz negiert der Film auf radikale Weise das Altenheim als menschenwürdigen Alterswohnsitz: erstens auf der Handlungsebene, zweitens verbal durch Jeans emotionale Reaktion: »Glaubst du etwa, ich lasse meinen alten Kumpel in diesem Dreckloch verrecken?« (TC: 00:40:32), drittens durch die Engführung mit einer Spiegel-Sequenz. Wie Jean, mithilfe seiner Freunde, Claude aus dem Altenheim befreit, so befreit er zuvor schon gemeinsam mit Claude Alberts Hund Oskar aus dem Tierheim. Alten- und Tierheim werden in eine Analogie gesetzt, deren Vergleichsmoment auf der institutionellen Verwahrung beruht. Damit formuliert der Film implizit eine gewagte Abrechnung mit der Institution Altenheim: Sie erscheint wie das Tierheim als Auf bewahrungsort für ungeliebte Kreaturen, die – wie an Oskar und Claude beispielhaft vorgeführt – aus einer Gefangenschaft gerettet werden müssen. Die Auf bruchsstimmung, die sich mit Claudes Rettung verbindet, wird durch vermehrte Figurenbewegung und den Einsatz von beschwingter Musik inszeniert. Auf filmästhetischer Ebene spiegelt sich die Aktivität der Figuren im beschleunigten Schnitt. So wie die fünf Freunde in dieser Sequenz beim Verlassen des Heims in raschem Tempo frontal auf die Kamera in Parallelfahrt zulaufen, bewegen sich auch zuvor Albert und Claude mit dem aus im Sessel eingeschlafen ist und Annie heimlich zusieht, bereitet szenisch den Konflikt der WG-Bewohner untereinander vor. 16 | Bemerkenswert ist auch, dass den Portraitfotografien der alten Frauen aus dem Heim die von Claude angefertigten Aktbilder junger Frauen in derselben Sequenz gegenübergestellt werden. Der alte Körper wird dem jungen, schönen, nackten Körper gegenüber als different ausgewiesen. 17 | Jean wird schon in der ihn einführenden Szene als politisch engagierter Aktivist dargestellt, der sich für die Rechte anderer einsetzt.

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dem Tierheim befreiten Oskar – von dem Hund gezogen – auf die Kamera zu. Die Kameraposition und -führung macht die Bezugnahme beider Szene aufeinander notwendig (s. Abb. 1 und 2). Was kann nun die Alten-WG als Gegenpol zum verworfenen Alterswohnmodell des Heims leisten? Topographisch ist sie als autarker Lebensraum mit paradiesischen Qualitäten konzipiert, zu dem nur ein ausgewählter Personenkreis Zutritt hat.18 Anders als im Altenheim ist die Privatsphäre der Figuren hier durch einen großen Zaun geschützt. Die Alten entscheiden, wer im Haus willkommen ist. Ungebetene Gäste schlagen sie mit notwendiger Radikalität in die Flucht, so etwa Claudes Sohn, der den Vater ins Heim zurückholen will und von Annie mit dem Gartenschlauch angegriffen wird.19 Wie die AltersWG in dem großen Haus mit seinem großen Garten ihren Bewohnern Schutz vor dem Eindringen unerwünschter Gäste bietet, gewährt sie ihnen auch die Freiheit, das Grundstück jederzeit zu verlassen. Kein Pflegepersonal mit Aufsichtspflicht entscheidet darüber, wer sich wohin bewegen darf. Gerade für Claude bedeutet diese Freiheit einen enormen Zugewinn an Lebensqualität, die ihm das Altenheim nicht bieten kann. Darüber hinaus eignet dem WG-Konzept im Umgang mit den kranken Freunden ein entlastendes Moment. Jeanne, die durch die alleinige Betreuung ihres dementen Ehemanns zunehmend emotional an ihre Grenzen stößt, eröffnet sich im Zusammenleben mit den Freunden die Möglichkeit, die Verantwortung zeitweise abzugeben und sich um ihre eigenen Bedürfnisse und Probleme zu kümmern. Zudem weiß sie Albert nach ihrem bevorstehenden Ableben in einer verständnisvollen Umgebung.20 Ganz ohne fremde Hilfe kommt die WG allerdings nicht aus. Zunächst lediglich zur Beaufsichtigung von Hund Oskar wird der junge deutsche EthnologieDoktorand Dirk (Daniel Brühl) eingestellt. Dieser beschäftigt sich in seiner Dissertation mit dem Thema Alter, beobachtet zu diesem Zweck die alten Freunde und zieht schließlich in deren Dachkammer ein. Zunehmend wird er von den Alten jedoch durch Ansprüche auf pflegerische Tätigkeiten vereinnahmt. Die Alten suchen in dem jungen Mann, der ihr Enkel sein könnte, jedoch nicht nur jemanden, der ihnen bei den alltäglichen Dingen helfend beiseite steht, sondern auch einen Gesprächspartner außerhalb des Freundeskreises und einen Verbündeten.

18 | Es handelt sich hier insofern um ein utopisches Konzept, als die Alten-WG auf dem Erbe der finanziell gut aufgestellten Annie gründet. In weniger gut situierten Verhältnissen würde dieses Konzept an Ermanglung des notwendigen Wohnraums scheitern. 19 | Genauso entschieden weißt Albert Jeannes Arzt an der Gartenpforte ab und verteidigt damit ihr Recht auf die Entscheidung, auf eine weitere Behandlung zu verzichten. 20 | Beispielhaft für den liebevollen Umgang der Freunde mit der Demenz-Erkrankung Alberts ist die Sequenz, in der Albert glaubt, es sei Abend und die Nachrichten kämen im Fernsehen. Stattdessen schauen die Freunde gemeinsam um 11:22 eine Sendung über die Herstellung von Käse, ohne Albert auf seinen Irrtum hinzuweisen.

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Abb. 1: Et si on vivait tous ensemble?, TC: 00:25:22

Abb. 2: Et si on vivait tous ensemble?, TC: 00:41:14 Sowohl Jeanne als auch Claude überschreiten dabei Dirks Schamgrenzen, wenn sie ihn mit dem Tabuthema Alterssexualität konfrontieren.21 Claude beispielsweise bittet Dirk nicht nur, ihm potenzsteigernde Medikamente zu besorgen, die er selbst aufgrund seines Herzleidens nicht verschrieben bekommt, sondern überredet ihn auch dazu, ihn in ein Café in der Nähe eines Straßenstrichs zu begleiten. In dieser Sequenz fällt Dirk die Aufgabe zu, Bernard, den sie zufällig in diesem Café treffen, abzulenken, damit Claude sich mit einer Prostituierten treffen kann. Zwischen Dirk und Claude entsteht ein generationenübergreifendes Bündnis, wie 21 | Mit der Thematisierung von Alterssexualität durchbrechen Claude und Jeanne die an sie von der jüngeren Generation herangetragenen »Alterserwartungscodes«, in denen »Alter immer wieder konstruiert [wird], Verpflichtungen erinnert, Erwartungen modifiziert […] werden« (Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a.M. 2000, S. 25). Als Jeanne Dirk auffordert, auch die Alterssexualität innerhalb seiner Forschungen in den Blick zu nehmen, sagt sie: »Glauben Sie, ich habe noch Geschlechtsverkehr mit meinem Mann, zum Beispiel?« – »Ich weiß es nicht.« – »Ha! Dann müssen Sie wohl noch Feldforschung betreiben.« – »Ja, das stimmt. Aber das ist doch peinlich, oder?« (TC: 00:35:55-00:36:13)

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es mit den eigenen Kindern unmöglich ist. Der Konflikt mit den Kindern wird in dieser Sequenz gerade dadurch verstärkt zum Ausdruck gebracht, dass Dirk sich mit Claude gegen dessen eigenen Sohn verbündet. Dirks Freundschaft zu den Alten verdrängt dabei zunehmend seine Forschung. Das tabuisierte Thema der Alterssexualität wird in Robelins Film nicht allein an der Figur des sexuell begehrenden alten Mannes durchexerziert,22 sondern auch aus der weiblichen Perspektive beleuchtet. Jeanne gelingt es, bei den gemeinsamen Spaziergängen mit Dirk und dem Hund nach und nach eine vertraute Atmosphäre herzustellen. Während ihrer Wanderungen, die bezeichnenderweise immer auf den Friedhof führen, werden Jeanne und Dirk zu Freunden. Mit Dirk kann Jeanne über ihre Krankheit und ihren bevorstehenden Tod sprechen, Themen, mit denen sie die Freunde und den Ehemann nicht belasten möchte. Die Entwicklung der Beziehung zwischen den beiden Figuren zeichnet der Film in fünf Sequenzen nach. Während in den ersten beiden Dirks Forschungsthema Inhalt ihrer Gespräche ist, konfrontiert Jeanne Dirk im dritten Gespräch unaufgefordert mit ihrem Sexualleben. Die beiden Dialoge, die darauf folgen, lassen noch intimere Themen zu: Dirk spricht von seinem Liebesleben und Jeanne von ihrem Tod. Filmästhetisch wird die zwischen Jeanne und Dirk entstehende Nähe durch Einstellungsgrößen vermittelt, die den Zuschauer näher an die Gesichter und damit an die Emotionen der Figuren heranführen. Während Jeanne und Dirk vorerst laufend und in der Halbtotalen oder Amerikanischen gezeigt werden, sieht man sie ab dem dritten Gespräch fast unbeweglich sitzend, ihre Gesichter in Nahaufnahme dargestellt. Das Gespräch über Jeannes Sexualleben ist nicht nur zentral in diesen Sequenzen angeordnet, es ist auch das letzte Gespräch, in dem sie sich siezen. Jeanne bestärkt und lenkt Dirk in seinem Forschungsinteresse. Sie ist es, die ihm, als er sich gezwungen sieht, ein neues Forschungsprojekt zu suchen, nahelegt, nicht das Alter in Australien zu erforschen, sondern das Alter in Europa re­spektive in Frankreich in den Blick zu nehmen. Es ist die alte Figur, die der Jugend die Aufgabe überträgt, sich mit dem Alter auseinanderzusetzen. Das Alter und die alten Menschen manifestieren sich selbst als das Fremde in der Gesellschaft, das es zu erkunden gilt. Jeanne selbst stilisiert sich dabei zu Dirks Forschungsobjekt und fordert von ihm den distanzierten Blick auf sich selbst: »Wird es in Ihrer Arbeit auch ein Kapitel über Sexualität im Alter geben? [...] Interviewen Sie mich! Haben Sie keine Angst. [...] Die Leute glauben doch, wir Alten seien asexuell. Wir sind aber keine Engel, verdammt.« (TC: 00:35:39-00:36:46) Sie fokussiert in diesem Einzelgespräch mit Dirk thematisch auf die Sexualität, was – wie vermutet werden darf – dazu dient, Dirks Interesse zu wecken. Der jun22 | Anhand der Figur Claude wird der Alterstopos des verliebten Alten (senex amans) bedient, aber positiv umgedeutet. Claude ist keine Figur, die der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Vgl. zum verliebten Alten auch Elisabeth Frenzel: Art. ›der verliebte Alte‹, in: dies.: Motive der Weltliteratur, 6., überarb. und erg. Aufl., Stuttgart 2008, S. 1-11.

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ge Mann reagiert jedoch vor allem schockiert, als die in seinen Augen alte Frau ihm sachlich erzählt, dass sie einen Liebhaber hatte, mit ihrem Mann nur noch selten schläft, dafür aber umso häufiger masturbiert und dabei vor allem an ihren ehemaligen Liebhaber denkt. Dirks Reaktion bedient dann auch die Zuschauererwartungen, wenn er versucht, sich der Situation und damit dem von Jeanne begangenen Tabubruch zu entziehen: Als sich Oskar losreißt, entflieht Dirk nur zu gern dem Gespräch und läuft dem Hund hinterher. Insgesamt ist die Sexualität im Alter ein relevantes Thema in Robelins Film, nicht nur in Form von Jeannes Provokation und der Figurenzeichnung Claudes. Claude entlarvt sich als der ehemalige Liebhaber Jeannes und Annies – das erkennen nicht nur die Zuschauer, sondern auch die Ehemänner der Frauen. Das vergangene Geschlechtsleben, das nur das enge Zusammenleben innerhalb der WG ans Licht bringt, avanciert zum zentralen Konflikt der Freunde untereinander. Dabei wird deutlich, dass die Sexualität im Alter maßgeblich vom vergangenen Sexualleben der Jugend zehrt: Jeanne und Claude gestehen sich genauso wie Claude und Annie, dass sie noch aneinander denken, obwohl sie schon lange nicht mehr miteinander schlafen. Nicht zuletzt bietet die Alters-WG als autarker Lebensraum potentiell auch den Raum, Sexualität auszuleben. So subversiv der Film auf der Handlungsebene mit dem Tabu der Alterssexualität aufräumt, so sehr unterläuft er diesen progressiven Zugriff filmästhetisch. Der Film zeigt drei Sexszenen: Zu Beginn der Handlung hält Annie ihren Ehemann Jean davon ab auszuziehen, indem sie ihn verführt, Claude wird beim Sex mit seiner Stammprostituierten gezeigt und am Schluss schläft Dirk mit einer Frau in seinem Alter. Auffällig ist in diesen Darstellungen, dass nur die jungen Frauenkörper nackt in Szene gesetzt werden. Alte Haut und alte Körper werden mithilfe von Unschärfe, Low Key und Kleidung verdeckt. Während Sorajas Dekolleté und ihre vollen Brüste in der Bildmitte positioniert und mithilfe des Lichteinfalls zum Eyecatcher der Bildkomposition werden, ist der eheliche Geschlechtsverkehr der alten Figuren ins Gegenlicht getaucht, sodass die beiden Körper sich nur als schwarze Silhouetten absetzen. Der Schärfepunkt in dieser Szene liegt zudem auf den im Bildvordergrund positionierten Koffern Jeans. Ebenso wird Claudes alter Körper durch seine Kleidung verhüllt, während in dieser Sexszene der nackte Körper der jungen Prostituierten im Profil ostentativ ausgestellt wird. Auch den Kameraeinstellungen kommt besondere Bedeutung zu. Als Claude sich von der Prostituierten verführen lässt, lenkt die amerikanische Einstellung den Blick des Zuschauers nah an den nackten jungen Körper heran. Ganz im Gegensatz dazu wird für die Sexszene der Alten die Halbtotale als Einstellung gewählt, und damit eine distanzierte Perspektive eingenommen. Ihre Körper füllen gerade einmal ein Viertel der Bildfläche. Auch das sexuelle Erlebnis zwischen Dirk und Soraja wird in der Halbtotalen eingefangen, hier jedoch, weil es Claudes voyeuristischer Blick ist, den die Kamera wiedergibt. Um dies zu verdeutlichen, nimmt Claude auch einen Teil des Bildes ein. Sein interessierter Blick auf die Liebenden, die er zufällig entdeckt hat, spiegelt sich in der mise en scène: Fast wie ein Gemälde, ge-

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rahmt durch die Türe des Zimmers, wirken Dirk und Soraja bei diesem Blick auf sie. Wenn der Film auch bemüht ist, mit dem Tabu der Alterssexualität zu brechen, so wird doch deutlich, dass sein Regisseur diesem Tabu noch verhaftet ist. Die Verweigerung des Films, alte Körper beim Liebesspiel zu zeigen, korrespondiert mit der Besetzung der Rollen. Gerade die weiblichen Rollen sind mit Jane Fonda und Geraldine Chaplin mit Schauspielerinnen besetzt, die trotz ihres fortgeschrittenen chronologischen Alters23 weitgehend den Schönheitsidealen der Jugend entsprechen24 (s. Abb. 3, 4 und 5). Wenngleich der Film die AltersWG als Alternative zum Altenheim feiert, so deutet sich doch an, dass sie nur eine Lösung für das Dritte Alter sein kann. Die Probleme der Unterbringung der Menschen im defizitären Vierten Alter können nicht durch eine selbstverwaltete WG, wie sie Et si on vivait tous ensemble? vorführt, gelöst werden. Gerade für die kranken Figuren Claude und Albert ist dieses Wohnkonzept eine gelungene Übergangslösung vor der Spätphase ihrer Erkrankungen. Und auch aus Jeannes Perspektive kommt die Alters-WG zu ihrem Recht. Jeanne stirbt nicht im anonymen Krankenhaus, sondern geborgen in Anwesenheit ihrer Freunde, die auch ihre Beerdigung in ihrem Sinne gestalten. Die letzte Sequenz des Filmes zeigt Albert, der vergessen hat, dass Jeanne gestorben ist, wie er sie sucht und nach ihr ruft. Seine Freunde und Mitbewohner klären ihn nicht über ihren Tod auf, wie es der Zuschauererwartung entspräche, sondern stimmen in seine Such- und Klagerufe ein. Gerade weil sie – im Gegensatz zu Albert – wissen, dass dieses Rufen aussichtslos bleiben muss, gibt es ihrem existentiellen Schmerz über den Tod ihrer Freundin, vielleicht auch über die Sterblichkeit und Vergänglichkeit des Menschen an sich, Ausdruck.

23 | Jane Fonda war zum Zeitpunkt der Filmpremiere auf den Filmfestspielen in Locarno 2011 73 Jahre alt, Geraldine Chaplin 67 Jahre. 24 | Die Amerikanerin Jane Fonda partizipiert am Typus der ›jungen Alten‹ und posiert beispielsweise als Model für die Anti-Aging-Produkte der Kosmetikfirma L’oréal Paris. (Vgl. http://www.lorealparis.com.au/spokespersons/jane-fonda.aspx [Zugriff: 09.04.2015]) Ganz allgemein spiegelt das vermehrte Auftreten von Jugend erhaltenden Pflegeprodukten den von der Gesellschaft an die Frau herangetragenen Anspruch, sich möglichst lange jung zu halten. »Die Gesundheitsprodukte sind dazu da, das Alter aktiv zu bekämpfen. […] Das zentrale Thema ist die Hautalterung, wobei es gilt, die Schönheit zu bewahren sowie das Alter zu bekämpfen. Die Darsteller/-innen sind schlank und gesund und bestätigen in ihrem der Jugend entlehntem Schönheitsideal das ›aktive‹ und ›erfolgreiche‹ Altern.« (Pichler: Aktuelle Altersbilder, S. 420.) Jane Fonda erfüllt diesen gesellschaftlichen Anspruch. Die Besetzung der Jeanne-Rolle mit ihr unterläuft somit den scheinbar so emanzipierten Blick Robelins auf das Alter.

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Abb. 3 Stéphane Robelin: Et si on vivait tous ensemble? (F/D 2011), TC: 00:11:04

Abb. 4 Stéphane Robelin: Et si on vivait tous ensemble? (F/D 2011), TC: 01:24:53

Abb. 5 Stéphane Robelin: Et si on vivait tous ensemble? (F/D 2011), TC: 00:14:37

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R alf W esthoff : W ir sind die N euen (D 2014) Anders als Stéphane Robelin handelt Ralf Westhoff in seinem 2014 erschienenen Film Wir sind die Neuen das Thema Alters-WG an Figuren ab, die gerade erst am Beginn des Dritten Alters stehen. Ist die Gründung der Alters-WG in Robelins Film-Beitrag vorwiegend durch den Wunsch motiviert, den kranken Freunden mit vereinten Kräften ein sozial integriertes Leben in einer liebevoll-vertrauten Umgebung zu ermöglichen, stattet Westhoff seine Figuren mit anderen Motivationen aus, sich auf ein WG-Experiment im Alter einzulassen. Mit 60 Jahren steht die weibliche Hauptfigur Anne (Gisela Schneeberger) vor einem handfesten Problem: Sie muss ihre langjährige Wohnung in München räumen, da die Vermieterin – so war es von langer Hand abgesprochen – die Wohnung nun an ihre inzwischen volljährige Enkelin übergeben wird, die in München studieren will. Als ehemalige Langzeitstudentin und Biologin blickt Anne allerdings auf eine Berufsbiographie zurück, die es ihr unmöglich macht, die teuren Mieten in der Stadt zu bezahlen. Zunächst allein aus ihrer finanziell prekären Lage heraus beginnt Anne, Kontakt zu ihren ehemaligen Mitbewohnern aus Studentenzeiten aufzunehmen. Eddi (Heiner Lauterbach) und Johannes (Michael Wittenborn), die sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat, kann Anne schließlich davon überzeugen, die alte Studenten-WG neu zu gründen. Alle drei sind ledig und haben wenig Geld zur Verfügung, obwohl sie Akademiker sind und ein Leben lang gearbeitet haben. Ihre berufliche Lauf bahn haben sie als Angehörige der 68er-Generation an ideellen Werten ausgerichtet: Anne hat sich dem Schutz der Schleiereule verschrieben, während Johannes sich als Anwalt für diejenigen einsetzt, die sich rechtlichen Beistand finanziell nicht leisten können. Sowohl Anne als auch Eddi blicken zudem auf gescheiterte Ehen zurück, Johannes dagegen ist Junggeselle geblieben. Zeigt Robelin das WG-Konzept gerade als Chance, altersassoziierte Probleme wie Krankheit und eine damit verbundene Pflegebedürftigkeit aufzufangen, will in Westhoffs Film insbesondere die Figur Eddi das erneute Zusammenleben nicht im Sinne solcher Möglichkeiten verstanden wissen. Seine Lust an spontanen Entscheidungen, nicht rationale Argumente bringen ihn dazu, sich auf das Alters-WG-Experiment einzulassen: Johannes: »Guck mal, die Frage ist doch, wie lange können wir uns selbst versorgen, ja? Also allein.« – Eddi: »Stopp, stopp, Leute, stopp, ihr brecht mir das Herz. Hört ihr mal auf mit eurem Pflegefallgelaber? […] Also, hört mir gut zu. Ich mach’ das nur, wenn dieses Altersheimgejammer aufhört.« – Anne: »Das heißt, du wärst dabei?« – Eddi: »Na klar! Ist doch ’ne Hammer Idee!« (TC: 00:10:26-00:10:55)

Auch wenn Eddis ostentative Abwertung und Verdrängung potentieller Problembereiche des Alter(n)s der Tatsache geschuldet ist, dass er, wie im Verlauf des Films deutlich wird, an einer lebensgefährlichen, aber nicht näher spezifizierten

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Krankheit leidet,25 legt Westhoff seine alten Figuren insgesamt so an, dass ihr gefühltes bzw. subjektives Alter deutlich von ihrem chronologischen abweicht. Dies tritt auch darin zu Tage, dass die Wiederbelebung der WG mit dem Wunsch der Figuren verknüpft wird, eine unbeschwerte Episode ihrer Jugend, die »vergangenen glorreichen Zeiten« (TC: 00:11:27), durch eine entsprechende Lebensführung zurückzugewinnen. So überzeugt Anne Johannes von ihrem Vorhaben mit den Worten: »Johannes, wir waren ein gutes Team, wir müssen dahin, wo wir mal waren.« (TC: 00:03:40) Doch sowohl die Zeiten als auch die Freunde haben sich geändert. Zwar feiern sie noch Partys bis tief in die Nacht, trinken exzessiv Alkohol und hören laut Musik, doch damit imitieren sie nur ein Verhalten aus einer längst vergangenen Entwicklungsphase ihres Lebens, das sie jetzt nicht mehr zufriedenstellt. Das Symptom dieser Unzufriedenheit ist der Streit: Eddi und Johannes vermissen gemeinsame Aktivitäten, tiefgründige Gespräche, Pläne, die die Welt verändern, sie beklagen den Umgang miteinander. Anne dagegen bedauert, dass niemand Freunde einlädt, weil sie als Alleinstehende ihrer Einsamkeit entfliehen möchte und über ihre zwei WG-Mitbewohner hinaus Kontakt zu anderen Menschen sucht. Noch nicht ganz eingezogen, drängt Anne etwa darauf, den Nachbarn einen Besuch abzustatten. Zudem schwankt sie zwischen dem Wunsch nach Veränderungen – gerade in Bezug auf die innerhalb ihrer WG entstehenden Konflikte – und der Angst vor Neuem, dem Wandel der sie umgebenden Welt. Als das WG-Experiment zu scheitern droht, erkennt Anne aber, dass Veränderungen notwendig sind: Auf dem Höhepunkt des Konflikts26 mit ihren Mitbewohnern – in der Filmmitte – reflektiert sie in einem aus dem Off erzählten Eingeständnis die illusorischen Vorstellungen und Hoffnungen, die sie und ihre Mitbewohner an ihre Wohngemeinschaft geknüpft haben: Wir waren nicht ehrlich mit uns. Wir wollten keine Alten-WG, pfui Teufel. Wir wollten unsere Studenten-WG zurück. Wir wollten die Zeit zurück, die Freiheit, die Gesundheit, den Sex ohne Angst, oder überhaupt den Sex, den Spaß. Wir wollten zurück in die Zeit vor den verpassten Chancen, den verpatzten Versuchen, den gescheiterten Entwürfen. Wir wollten zurück ins Paradies – wir drei, die Erfinder der Zeitmaschine. […] Wie arrogant von uns zu denken, dass sich die Zeit für uns interessiert. Dass sie auch nur eine Sekunde von dem zurückgibt, was sie sich mit ihrem beständigen Mahlwerk abgekratzt hat von unserem Leben. (TC: 00:45:57-00:46:43)

25 | Dass Eddi dem Tode nahe ist, wird nur durch eine einzige Dialogpartie angedeutet. Eddi lehnt Johannes’ Aufforderung zum Frisbee-Spielen ab, woraufhin Johannes fragt: »Warum, was ist? Termine, Fristen, ’ne Deadline? « – »Letzteres.« (TC: 00:28:58) 26 | Johannes pointiert seine Frustration und die seiner Mitbewohner in Bezug auf das WG-Leben: »Es ist wie allein zu leben, nur mit mehr Ärger und beschissenen Nachbarn.« (TC: 00:42:35)

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Zwar nutzen Anne und Johannes eingangs die Potenziale einer WG im Alter als Argumente, Eddi zu überzeugen, mit ihnen zusammenzuziehen, doch korrespondiert die Ablehnung Eddis gegenüber einer Alters-WG auch mit der uneingestandenen Motivation der anderen beiden: Alle drei wollen zurück in das »Paradies« ihrer Jugend und hoffen, mithilfe der »Zeitmaschine« Wohngemeinschaft dorthin zurück zu gelangen.27 In anaphorischer Reihung werden dabei detailliert die gescheiterten Hoffnungen zur Sprache gebracht, die in ihrer konzentrierten Sammlung das Ausmaß der Resignation verdeutlichen. Das WG-Experiment, das zu scheitern droht, betrachtet Anne aus der Retrospektive als Konsequenz des kollektiven Selbstbetrugs der drei Freunde. Das Paradies – so die metaphorische Analogie zur Jugend – ist den vertriebenen Alten nicht mehr zugänglich, die Zeitmaschine eine Utopie. Anne definiert hier, mit der Metapher der Zeit als Mahlwerk, Altern als Subtraktions- und Zersetzungsprozess: Die Zeit trägt fortwährend und gewaltsam Teile des Lebens ab und dabei schreibt sich die erlebte Zeit – wie die Verbmetapher ›abkratzen‹ verdeutlicht – als Kratzer und Falten in den alternden Körper ein. Darüber hinaus muss ›abkratzen‹ hier auch in seiner umgangssprachlichen Verwendung verstanden werden: Der Zersetzungsprozess führt zwangsläufig zum Tod. Das Eingeständnis, sich selbst betrogen zu haben, führt allerdings nicht in die Verzweiflung, sondern wird schließlich zur Voraussetzung für einen neuen Umgang mit der aktuellen Lebensphase und dem eigenen Alter(n)skonzept. Angestoßen wird die Auseinandersetzung mit der Einstellung zum eigenen Alter in Westhoffs Film durch das zentral gesetzte Thema des Generationenkonflikts. Dieses wird bereits in der allerersten Sequenz eingeführt, in der die Vermieterin Anne ihrer Wohnung verweist. Im Streitgespräch konfrontieren sich Anne und die Enkelin der Vermieterin mit ihren Vorstellungen von einer altersadäquaten Lebensführung der jeweils anderen: Die Enkelin erwartet von Anne, dass sie sich mit ihren 60 Jahren vorausschauend nach einer barrierefreien Wohnung umsieht, Anne wiederum, dass für junge Menschen die Studenten-WG die bevorzugte Wohnform sei.28 Die Enttäuschung von Erwartungshaltungen an altersspezifisches Verhalten ist auch der Kern des Konflikts bei der Begegnung der Alten-WG mit einer Wohngemeinschaft dreier junger Studenten kurz vor ihrem Examen im neuen Wohnhaus von Anne, Eddi und Johannes. Thorsten (Patrick Güldenberg), Katharina 27 | Vor allem Johannes versucht sich auch sprachlich in der Jugend zu positionieren, indem er ihren ›transitorischen Soziolekt‹ (Vgl. Heinrich Löffler: Germanistische Soziolinguis­ tik, 3., überarb. Aufl., Berlin 2005, S.118) antizipiert. Vgl. etwa: »Na Anne, wie läuft’s denn? Oder heute sagt man ja: was geht, ne?« (TC: 00:03:12) oder: »Das waren vielleicht abgefahrene Zeiten! Alter!« (TC: 00:19:11) 28 | »Wieso ziehst du nicht in eine WG wie andere Studenten auch?« – »Was willst du denn? Dritter Stock ohne Aufzug, das kannst du doch eh nicht mehr lange machen!« (TC: 00:01:40)

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(Claudia Eisinger) und Barbara (Karoline Schuch) repräsentieren eine neue Generation von Studenten: ehrgeizig, abgeklärt und distanziert. Ihre Wertevorstellungen sind angelehnt an jene Normen, gegen die Eddi, Johannes und Anne in ihrer Jugend ausschweifend rebelliert haben. Sie legen Wert auf Ruhe, Ordnung, Fleiß und Regeln, pochen auf die Einhaltung der Putzordnung, denken an Heirat – nicht an freie Liebe –, glauben an die Versprechungen und Prinzipien des Kapitalismus und der Leistungsgesellschaft. Dies schlägt sich auch in ihrer Wortwahl nieder. Dem freundlichen Besuch ihrer neuen Nachbarn entgegnen sie lakonisch: »Wir haben keine Kapazitäten.« (TC: 00:19:46) Dem Typus der »jungen Alten«, wie ihn Anne, Johannes und Eddi verkörpern, steht hier die Idee der – zumindest in den Augen der Alten – vorzeitig gereiften ›alten Jungen‹ gegenüber.29 Der Film spielt mit der Konstruktion von Altersstereotypen. Alter als »Differenzkategorie«30 greift hier vor allem in Abgrenzung von einer verfrüht gealterten jungen Generation, wie es Johannes pointiert ausdrückt: »Man fühlt sich so jung, wenn man diese lädierten jungen Leute sieht.« (TC: 00:49:26) Der Generationenkonflikt stellt in Wir sind die Neuen nicht nur das zentrale Thema, sondern auch das Strukturprinzip des Films dar. Bis auf wenige Ausnahmen verlagert Westhoff diesen in die Sphäre des Mietshauses,31 dem raumsemantische Bedeutung im Sinne Lotmans zukommt.32 Die WG der jungen Studenten befindet sich im zweiten Obergeschoss, während die Alters-WG im ersten Obergeschoss Quartier bezogen hat. Die Wohngemeinschaften fungieren als »komplementäre Teilräume«33 der fiktiven Welt des Films. Der topologischen Aufteilung von ›oben‹ und ›unten‹ wird das semantische Gegensatzpaar ›fremd‹ und ›vertraut‹ beigeordnet. Aus der wertenden Perspektive der Alten – die der Film konsequent einnimmt – ist die WG im zweiten Obergeschoss der fremde Raum: Sie wundern sich über die Neigung der Jungen, ihre Schuhe zur besseren Haushaltsorganisation in mit Fotografien beklebten Kartons zu verstauen, über den Mangel an Schlafsäcken und Sportsachen in der Wohnung, über das die Küchentür zierende Schild mit der Aufschrift »Mahlzeit«. Demgegenüber steht der 29 | Zum Begriff der ›jungen Alten‹ vgl. Pichler: Aktuelle Altersbilder. Der oben verwendete Kontrastbegriff ›alte Junge‹ ist kein Terminus der Alternsforschung. 30 | Pichler: Aktuelle Altersbilder, S. 415. 31 | Durch die fast ausschließliche Verlagerung der Geschehnisse in ein eng umrissenes Set von Innenräumen erhält der Film, wie Oliver Kaever (Die wilden Alten, in: Die Zeit Online, 16. Juli 2014, http://www.zeit.de/kultur/film/2014-07/wir-sind-die-neuen-film [Zugriff: 16.04.2015]) bemerkt, »kammerspielartige« Züge. Damit einher geht auch die starke Fokussierung des Films auf seine Dialogpartien. 32 | Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, übers. v. Rolf-Dietrich Keil, München 41993. 33 | Matías Martínez, Michael Scheffel: Jurij M. Lotmans Raumsemantik, in: dies.: Einführung in die Erzähltheorie, München 8 2008, S. 140-144, hier S. 140. Vgl. zur Definition von ›topologisch‹, ›semantisch‹ und ›topographisch‹ ebd., S. 140f.

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vertraute Raum der eigenen WG. Die Wohnsituation wird im Film schließlich auch topographisch aufgeladen, indem den beiden WGs die Attribute ›alt‹ und ›jung‹ bzw. ›vergangen‹ und ›zukünftig‹ zugewiesen werden. Die symbolische Trennungslinie zwischen diesen topographischen Orten ist im Film die jeweilige Türschwelle zu den Wohnungen. Die meisten Auseinandersetzungen zwischen Alt und Jung werden genau dort ausgetragen. In insgesamt neun Sequenzen, davon vier an der Türschwelle, spitzt sich der Konflikt zwischen den Parteien zu. Nach der Peripetie, die durch die plötzliche Hilfsbedürftigkeit der Jungen markiert wird, verlagert sich die Handlung wechselweise in den Innenraum der Wohnungen auf beiden Etagen.34 Die neuen Begegnungsorte der beiden Generationen im zweiten Teil des Films – nicht im Treppenhaus, auf dem Hof, vor der Türe, sondern in den Wohnungen – spiegeln die schrittweise Annäherung der Parteien, die schließlich, in der letzten Sequenz, in einer großen Party und der Lösung des Konflikts kulminiert. Die alten Figuren bemühen sich anfangs stets, die Grenze hin zur Jugend zu überschreiten: einerseits, wie beschrieben, durch ihre jugendliche Lebensweise, anderseits durch den Versuch, Kontakt zu den jungen Nachbarn aufzunehmen. Symbolisch wird dies durch den ständigen Versuch illustriert, die Türschwelle zur Wohnung im zweiten Obergeschoss zu überschreiten. Dass diese Grenze zwischen dem Raum der Jungen und dem Raum der Alten jedoch topographisch eine impermeable Grenze ist, müssen die alten Figuren erst anzuerkennen lernen. Bei der ersten Begegnung mit den jungen Nachbarn scheint die topographische Grenzüberschreitung noch möglich, stellt sich aber, aus der Perspektive des Zuschauers, als Eindringen in den autarken Raum der Jugend dar. Dies entspricht jedoch nicht der selbstreflexiven Wahrnehmung der alten Figuren: Enthusiastisch drängt sich Johannes, kaum dass er sich vorgestellt und zugleich Thorsten das Du aufgedrängt hat, ins Wohnungsinnere. Auf die Ablehnung, die ihnen die Jungen entgegenbringen, reagieren Anne, Eddi und Johannes mit Verstörung, in der ihre verschobene Selbstwahrnehmung zu Tage tritt: »Haben wir die irgendwie erschreckt?« (Johannes, TC: 00:20:48) […] »Mensch, wir sind doch keine Aliens, die auf eurem Planeten gelandet sind.« (Johannes, TC: 00:44:38) […] »Wir wollten nett sein. Das muss euch nicht erschrecken, das hat man früher öfter gemacht.« (Eddi, TC: 00:44:47)

Die Jungen verteidigen von Anfang an ihre Grenze und ihre Wohnung. Filmästhetisch zeigt sich dies am deutlichsten schon in der ersten Konfrontationssequenz: Thorsten, Katharina und Barbara stellen sich Anne, Eddi und Johannes gegenüber auf. Die Positionierung der zwei Parteien in der Küche der Jungen sowie die Distanz zwischen ihnen erinnern in dieser Inszenierung an eine Du34 | Zehn von den 17 folgenden Sequenzen zeigen mindestens ein WG-Mitglied in der Wohnung der anderen.

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ellsituation. Das Schuss-Gegenschuss-Verfahren in der Amerikanischen verbildlicht auf der Metaebene den verbalen Schusswechsel zwischen den Generationen. Dass fast ausschließlich bei jenen Einstellungen, die die jungen Figuren zeigen, die nicht fokussierte Schultersilhouette einer der alten Figuren mit im Bild zu sehen ist, drängt den Zuschauer in die Wahrnehmungsperspektive der Alten. Beim Gegenschuss wird auf dieses Mittel weitgehend verzichtet (s. Abb. 6 und 7). Auch verbal geht die junge Wohngemeinschaft auf Distanz. Dabei konfrontieren die Jungen Anne, Eddi und Johannes mit der Fremdperspektive auf sie. Die Jungen nehmen an den gefühlt Junggebliebenen ausschließlich deren chronologisches Alter wahr. Erzähltechnisch ist dies eine Fremdcharakterisierung, die nicht mit der Eigenwahrnehmung der alten Figuren korrespondiert.

Abb. 6: Ralf Westhoff: Wir sind die Neuen (D 2014), TC: 00:20:26

Abb. 7: Ralf Westhoff: Wir sind die Neuen (D 2014), TC: 00:20:02

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Alina Gierke, Maike Rettmann Katharina: »Ja, also, ähm. Wir stehen ja hier kurz vor unseren Examen. […] Es ist halt einfach eine total sensible Zeit grad. Wir haben keine Kapazitäten.« – Eddi: »Ja, macht doch eure Prüfung, ist doch gut! Oder?« […] – Katharina: »Ja, also wir haben uns einfach vorgenommen, dass wir die wichtigen Dinge gleich direkt ansprechen. Wir können euch nicht helfen. Und das sagen wir ganz deutlich, einfach damit keine falschen Erwartungen entstehen. Wir sind einfach nur Nachbarn. Nachbarn, die man nett im Treppenhaus grüßt und ansonsten in Ruhe lässt.« – Anne: »Was meinst du denn?« – Thorsten: »Ja, mal was Schweres tragen, mal zur Apotheke, mal was im Handymenü erklären, all diese Sachen. In der jetzigen Situation können wir das einfach nicht leisten.« – Eddi: »Äh, sehen wir irgendwie klapprig aus?« – Thorsten: »Nein, nein! Und wir wünschen euch natürlich auch, dass das noch möglichst lange so bleibt.« (TC: 00:19:31-00:20:31)

Gegen diese durchaus verletzende Korrektur der eigenen Perspektive auf sich selbst lehnen sich Anne, Eddi und Johannes zunächst auf, indem sie die jungen Nachbarn immer wieder aufsuchen und an Johannes’ bereits vor dem ersten Besuch proklamiertem Vorhaben festhalten: »Die müssen ganz schnell merken, dass wir keine langweiligen Rentner sind!« (TC: 00:17:21) Einmal fordert Johannes die jungen Studenten beispielsweise zum Frisbee-Spiel auf, ein anderes Mal wollen die alten Figuren zur gemeinsamen WG-Party im ersten Obergeschoss einladen. Beide Male werden sie schon an der Türschwelle abgewiesen. Thorsten, Katharina und Barbara werden dabei in ihrer Wortwahl und ihrem Verhalten immer drastischer. Die entscheidende Äußerung, die dazu dient, den Alten deutlich zu machen, dass die Jungen mit ihnen keinen Kontakt haben wollen, fällt, als Eddi, Anne und Johannes die drei zu sich einladen.35 Barbara nutzt dabei ihre Biomacht als Mittel der Abgrenzung: Wir sind keine Gleichgesinnten, wir sind die Ablösung. Die Ablösung ist da und sie wohnt über euch, als kleines Sinnbild dafür, dass das Festhalten an der Jugend nicht in die Jugend, sondern in die Lächerlichkeit führt. (TC: 00:45:05-00:45:13)

Die Wortwahl bezieht sich explizit auf die topographische Symbolkraft, mit der der Film arbeitet, und zielt auf eine Hierarchisierung von Jung und Alt. Die Jugend rekurriert auf den Topos des Alterspotts,36 um das Alter herab- und sich heraufzusetzen. Diese Sequenz ist insofern der Höhepunkt der Filmhandlung, als die alten Figuren durch den Anstoß von außen zu einer Korrektur ihres Selbstbildes finden. 35 | Deutlich wird im vorangehenden Dialog darüber, wer alles zur Party eingeladen werden soll, durch die Leerstelle gekennzeichnet, dass die Alten die Jungen aus Verlegenheit einladen, weil ihnen niemand anderes einfällt, den sie einladen wollen. 36 | Vgl. zum Topos des Altersspotts Miriam Haller: ›Unwürdige Greisinnen‹. ›Ageing Trouble‹ im literarischen Text, in: Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 45-63, hier S. 46.

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Auf sie folgt die Sequenz, in der Anne den Selbstbetrug der Freunde reflektiert. Erkannt wird, dass die topographische Grenze zwischen Jugend und Alter nicht überschritten werden kann. Die alten Figuren werden hier gezwungen, sich mit ihrem chronologischen Alter und den daran geknüpften Erwartungen auseinanderzusetzen, was einen Entwicklungsschritt darstellt. Es ist dem komödiantischen Konzept des Films geschuldet, dass gerade in dem Moment, in dem die Alten beginnen, sich mit ihrem Alter auseinanderzusetzen, die biologisch scheinbar überlegene Jugend drastisch abbaut. Eingeleitet wird der geistige, emotionale und physische Verfall der Jungen durch eine Szene, die mit der Zuschauer- und Figurenerwartung spielt. Als Anne nach Hause zurückkehrt, sieht sie vor dem Haus einen Krankenwagen stehen, woraufhin sie panisch in ihre Wohnung rennt. Doch nicht eine der alten Figuren benötigt medizinische Versorgung, sondern Thorsten, der sich einen Bandscheibenvorfall am Schreibtisch zugezogen hat. Wie Anne so reagieren auch Johannes und Eddi auf die Entdeckung des Krankenwagens. Alle drei sind in Sorge um ihre eigenen Mitbewohner und bedenken den auf einer Trage fixierten Thorsten ohne Mitleid mit einem erleichterten »Gott sei Dank!« (TC: 00:47:30; 00:47:36; 00:47:48), als sie ihn als den Versehrten erkennen. Die Hilfe, die Thorsten, Katharina und Barbara ihren Nachbarn aufgrund mangelnder »Kapazitäten« verwehrt haben, benötigen sie nun selbst. Katharina hat kurz vor dem Juraexamen eine Lernblockade, Barbara wurde von ihrem Verlobten verlassen und weint den ganzen Tag, Thorsten kann sich kaum bewegen und leidet an Zwangshandlungen. Nachdem Katharina, dem Zusammenbruch nahe, die eigentlich ironisch geäußerte Aussage von Johannes – »Und wenn irgendwas ist, sagt Bescheid, ja? Jederzeit!« (TC: 00:49:32-00:49:34) – wörtlich nimmt und diesen mit der Bitte um Geld und Lernunterstützung in seiner Wohnung aufsucht, beruft Johannes in seiner WG eine »Zentralversammlung« ein: Johannes: » Die sind im Arsch, völlig im Eimer sind die!« – Anne: » Mal langsam, wer ist im Arsch?« – Johannes: » Die von oben. Die gehen nicht einkaufen, die gehen nicht arbeiten, die gehen nicht in die Uni!« – Eddi: » Haben wir das damals gemacht?« – Johannes: »Ja, dann geh’ mal hoch, dann siehst du, wo der Unterschied liegt.« – Anne: »Johannes, was genau willst du uns sagen?« – Johannes: »Sie trinken, heulen und fotografieren den Herd.« (TC: 00:55:18-00:55:39)

Die alten Figuren verweigern die Hilfe nach anfänglicher Skepsis nicht. Eddi gibt Barbara Beziehungsratschläge, Anne kocht für Thorsten, macht mit ihm gymnastische Übungen und stellt ihm schließlich auch ihr eigenes Bett als Ruheort zur Verfügung, Johannes lernt mit Katharina fürs Examen. Sobald Anne, Eddi und Johannes zu ihren jungen Nachbarn nicht mehr als Gleichgesinnte, sondern als hierarchisch übergeordnete Helfer in Bezug treten, entspannt sich die Situation zwischen den Parteien.

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Die Komödie spielt mit dem Motiv der verkehrten Welt, wenn sich der biologisch-physische Vorteil der Jungen durch Selbstausbeutung aufhebt. Der Film entlarvt den körperlichen Vorteil der jungen Organismen als einen nur scheinbaren. Die Alten haben den Jungen nicht nur Lebenserfahrung und -kompetenz voraus, sie können sogar – insbesondere Johannes und Anne – durch körperliche Fitness mit den Jungen konkurrieren.37 Thorsten, Barbara und Katharina wirken zwar vordergründig organisiert und selbständig – wie Anne es ausdrückt, »seltsam erwachsen« (TC: 00:39:02) –, erweisen sich aber ohne die Hilfe der Alten als nicht lebenstüchtig. Mit Barbara, Katharina und Thorsten wird die junge Generation als unsozial und karrierefixiert exponiert. Aus Verfallenheit an die Gesetze der kapitalistischen Wirtschaft treibt sie ihre Selbstausbeutung so weit, dass sie letztlich keinen Nutzen mehr für die Gesellschaft hat.38 Westhoff legt Johannes sogar die Worte in den Mund: »Wenn die alle so sind, krieg’ ich Angst um meine Rente« (TC: 01:11:11) und inszeniert so das Scheitern jener Generation, auf der als zukünftige Stütze der Gesellschaft die Verantwortung für das gesellschaftliche Miteinander lastet. Gleichzeitig spricht er auch die Überforderung der jungen Generation durch die an sie von der leistungsorientierten kapitalistischen Gesellschaft gestellten Ansprüche an. Das ist die gesellschaftskritische Dimension des Films. Die alarmierende Entwicklung der Studenten von ehrgeizigen, egoistischen, organisierten, vitalen jungen Menschen hin zu kranken, psychisch instabilen und vorzeitig gealtert erscheinenden Hilfsbedürftigen verbildlicht der Film, indem er für beide Zustände in verschiedenen Sequenzen ähnliche Kameraeinstellungen verwendet. (s. Abb. 8 und 9) Die psycho-physische Degeneration der Jugend wird hier in ihrem lädierten Äußeren gespiegelt. Katharinas sonst akkurat frisierter Haarknoten ist aufgelöst, Thorstens Kleidung ist unrein und besudelt. Während die Alten für die Jungen anfangs all das vereinen, was sie nicht werden wollen, verkörpern die Jungen für die Alten all das, was sie verloren haben. Die Jungen fürchten eine Zukunft, in der sie im Alter aus finanziellen Gründen 37 | Vgl. die Sequenzen, in denen Thorsten mit der Diagnose Bandscheibenvorfall aus dem Krankenhaus kommt. Eddi und Johannes laufen in Sportbekleidung um den Kranken herum, um ihre körperliche Fitness der Schwäche Thorstens gegenüberzustellen, während Anne ihre physische Kraft beweist, indem sie vor Thorstens Augen einen schweren Blumenkübel anhebt. (TC: 00:48:20-00:50:21) 38 | Die drei jungen Studenten leben in der WG völlig für sich. Lösungsansätze für die Probleme der Mitbewohner finden sie untereinander nicht. So schreit Katharina die in ihrem Liebeskummer völlig aufgelöste und weinende Barbara an, weil sie sich beim Lernen gestört fühlt: »Hallo! Hallo! Hör’ mal auf zu heulen endlich, Mann!« (TC: 00:53:20). Das einzige Moment, das Gemeinsamkeit stiftet, ist die Auseinandersetzung mit den alten Nachbarn. 39 | »Ich werd’ die Prüfung nicht schaffen. Meine letzte Chance. Und dann hab’ ich kein Exa­m en. Und dann werd’ ich so enden wie ihr!« (00:51:58-00:52:02) Deutlich wird in diesem Satz Katharinas, dass sie die drei Alten als gescheiterte Existenzen wahrnimmt.

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darauf angewiesen sind, zusammen in einer Wohngemeinschaft zu leben.39 Im Verlauf des Films gelangen die jungen Leute zu einer neuen Einstellung zum Alter: Der angstbesetzte Blick in eine negativ konnotierte Zukunft wandelt sich in einen versöhnlichen. Sie erkennen den sozialen Wert der drei älteren Menschen – ihre Lebens- und Berufserfahrung, ihre Problemlösungskompetenz und ihre Hilfsbereitschaft –, der nicht an deren wirtschaftlich-materiellem Wohlstand gemessen werden kann.

Abb. 8: Ralf Westhoff: Wir sind die Neuen (D 2014), TC: 00:30:25

Abb. 9: Ralf Westhoff: Wir sind die Neuen (D 2014), TC: 00:45:20 Als konträrer Lebensentwurf zu dem der Alt-68er Anne, Eddi und Johannes fungiert innerhalb des Wohnhauses der »Rollkoffermann« (TC: 00:23:18). Der wirtschaftlich erfolgreiche Geschäftsmann ist mittleren Alters40 und steht damit lebenschronologisch zwischen der Alt-Jung-Opposition der WGs. Negiert wird die Vorbildfunktion dieses Lebensmodells für die Jungen, indem der Geschäftsmann als völlig vereinsamt, gestresst und sozial orientierungslos dargestellt wird. Ob-

40 | Vgl. Pichler: Aktuelle Altersbilder, S. 417.

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wohl er schon drei Monate länger als die Alten-WG im Haus wohnt, hat er weder seine Wohnung eingerichtet noch sich den Nachbarn vorgestellt.41 Nicht nur die Perspektive der Jungen auf die Alten korrigiert sich im Verlauf des Films, sondern auch der Blick der Alten auf sich selbst. Als Helfer der Jugend, an die Lebens- und Berufserfahrung weitergegeben werden kann, finden sich die alten Figuren in neue – und für sie sehr zufriedenstellende – Rollenmodelle des Alter(n)s ein. Das Bild des hier aufgerufenen Typus der »neuen Alten«, die produktiv daran arbeiten, die labile Jugend wieder aufzupäppeln, kommt in diesem Film zu seinem Recht. Auf originelle Weise knüpft Westhoff an zeitgenössische Konstruktionen von jungem, produktivem Alter(n) an, dem gesellschaftlicher Nutzen zukommt.42 Die Tatsache, dass Anne, Eddi und Johannes sozial gebraucht werden, führt dazu, dass die drei zu ihrem Status als Alte ein positives Verhältnis entwickeln. In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Existenzberechtigung und das Selbstbewusstsein von Individuen stark von ihrer Leistungsfähigkeit abhängig. Mit dem Wegfall der Berufstätigkeit wird es daher wichtig, aus anderen Quellen Selbstwert zu schöpfen und erneut ein anerkannter Bestandteil der Gesellschaft zu werden. Anne, Eddi und Johannes haben ihr Berufsleben nicht an materiellen, sondern ideellen Werten ausgerichtet. Soziales Engagement ist ihnen wichtig, sodass es nahe liegt, dass die Hilfe, die sie den jungen Leuten entgegenbringen, sie sinnstiftend erfüllt. Nicht umsonst endet der Film mit einem Schulterschluss der Generationen – der Versöhnungsparty der zuvor verfeindeten WGs – und Annes aus dem Off gesprochenen Worten: Eine seltsame Zeit. Aufregend, aber bestimmt nicht einfach. Ich weiß nicht, worin der Sinn von all dem liegt. Ich weiß nur, es gibt Tage, da bin ich von so etwas wie einem Sinn unendlich weit weg und es gibt Tage, da bin ich ein kleines Stück näher dran. Heute ist so ein Tag. (TC: 01:24:40-01:25:03)

41 | Auf das Gesuch der Alten, einen gemeinsamen Abend zu verbringen, zückt er seinen Terminkalender und bietet einen Termin in der zweiten Juliwoche an. 42 | Vgl. zu diesen Konzepten aus der sozialgerontologischen Forschung Pichler: Aktuelle Altersbilder, S. 417f. Die politisch-gesellschaftliche Vereinnahmung der ›jungen Alten‹ als nützliche ›Ressource‹ ist in diesem Zusammenhang aber kritisch zu sehen, da dem Menschen so rein funktionale Bedeutung zukommt. Vgl. Pott: Alter als kulturelle Konstruktion, S. 156.

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F a zit Stéphane Robelin und Ralf Westhoff greifen das aktuelle Thema der Alters-WG mit höchst unterschiedlicher Schwerpunktsetzung auf. Darauf deuten schon die Titel der Filme hin. Robelin überschreibt sein Filmwerk mit einer Frage und ergründet diese im Verlauf der Handlung. Im Unterschied zu Westhoff sind die Alters-WG und ihre Potenziale für ein zufriedenstellendes Leben im Alter hier zentrales Thema, nicht vorwiegend ein Motiv, an dem andere Problemstellungen behandelt werden. Westhoffs Film verweist im Titel doppeldeutig auf die Neuartigkeit seiner Figuren: Zum einen sind seine Protagonisten diejenigen, die neu ins Haus einziehen, zum anderen verkörpern sie das aktuell diskutierte Konzept der Junggebliebenen, der »neuen Alten«. Während Westhoff mit der Darstellung der alten Figuren in Kontrast zu den jungen arbeitet und so auf einer eher abstrakten Ebene einen überindividuellen Blick auf das Alter wirft, fokussiert Robelin auf die persönliche Lebensgestaltung seiner stärker individualisierten Figuren. Mit der eher abstrahierten Darstellung Westhoffs geht ein deutlich gesellschaftskritischerer Impetus einher, wenn auch Robelin nicht gänzlich auf Gesellschaftskritik verzichtet. Insbesondere seine inhaltlich und filmästhetisch produzierte radikale Ablehnung des Altersheims ist dafür ein Beispiel. Westhoffs Kritik verknüpft sich mit dem zentralen Thema des Generationenkonflikts, reicht darüber aber hinaus. Die verschiedene Schwerpunktsetzung der Filme äußert sich auch in ihrer filmästhetischen Vermittlung. Während die alten Figuren bei Westhoff häufig in der Gruppe und der amerikanischen Einstellung gezeigt werden, finden sich bei Robelin vermehrt Einstellungen, in denen Figuren einzeln ins Bild genommen werden. Die Filme unterscheiden sich zudem im Grad ihrer Realitätsnähe, insbesondere was die finanziellen Voraussetzungen der Figuren anbelangt. Die Gründung der Alters-WG in Et si on vivait tous ensemble? basiert auf märchenhaftem Reichtum einer Figur und hat damit beinah utopische Qualität, während Westhoff gerade prekäre finanzielle Verhältnisse im Alter thematisiert. Bemerkenswert an beiden Filmen ist auch die Wahl der Gattung Komödie für die Auseinandersetzung mit dem Thema Alters-WG. Schon Mitte der 1980er Jahre setzte die US-amerikanische Sit-Com Golden Girls auf die fruchtbare Verbindung von Alter, WG und Komik. Die Form der Komödie macht das eigentlich komplexe und komplizierte Thema des Alter(n)s und den damit verbundenen Lebensformen in leichtem Erzählton für ein breites Publikum zugänglich. Eine weitere Komödie, die ein WG-ähnliches Leben im Alter thematisiert, ist John Maddens The Best Exotic Marigold Hotel von 2011, deren Erfolg sich in der Produktion einer Fortsetzung mit internationaler Star-Besetzung bemessen lassen kann. Maddens Film parallelisiert den Lebensabschnitt Alter als gleichermaßen angstbesetzten wie auch vitalisierend-exotisch erfahrenen Auf bruch von sechs betagten Reisenden in eine neue fremde Welt: Indien. Die Aktualität des Themas ›Wohnformen im Alter‹, speziell der Alters-WG, spiegelt sich in der Häufigkeit, in der dieses Thema derzeit in Politik und Gesellschaft, vor allem aber

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auch filmisch diskutiert wird. Die Kunst – sei es Literatur oder Film – hat dabei den besonderen Vorzug, »Freiheitsgrade«, »Spielräume des Möglichen jenseits der herrschenden Diskurse und der Diskurse der Herrschenden«43, eröffnen zu können.

Q uellenverzeichnis Filme Et si on vivait tous ensemble? (dt.: Und wenn wir alle zusammenziehen?, F/D 2011, Regie: Stéphane Robelin). Wir sind die Neuen (D 2014, Regie: Ralf Westhoff).

Primärtexte Körber-Stiftung (Hg.): Alter neu erfinden. Ergebnisse der forsa-Umfrage »Altern in Deutschland«, Hamburg 2012, http://www.koerber-stiftung.de/fileadmin/ user_upload/allgemein/schwerpunkte/2012/gesellschaft/kampagne_alterneu-erfinden/Studie_Alter-neu-erfinden_Ergebnisse_forsa-Umfrage.pdf [Zugriff: 26.3.2015]. Stula, Sabrina: Wohnen im Alter in Europa – Aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen. Arbeitspapier Nr. 7 der Beobachtungsstelle für gesellschaftspolitische Entwicklungen in Europa, hg. v. dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., Berlin 2012.

Sekundärtexte Frenzel, Elisabeth: Art. ›der verliebte Alte‹, in: dies.: Motive der Weltliteratur, 6. überarb. und erg. Aufl., Stuttgart 2008, S. 1-11. Göckenjan, Gerd: Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a.M. 2000. Haller, Miriam: ›Unwürdige Greisinnen‹. ›Ageing Trouble‹ im literarischen Text, in: Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 45-63. Herwig, Henriette: Alte und junge Paare im Pflegeheimroman der Gegenwart. Annette Pehnts Haus der Schildkröten und Jürg Schubigers Haller und Helen, in: dies. (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2014, S. 229-250.

43 | Pott: Alter als kulturelle Konstruktion, S. 156.

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Herwig, Henriette: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, in: dies. (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2014, S. 7-33. Laslett, Peter: Das Dritte Alter. Historische Soziologie des Alterns, Weinheim/München 1995. Löffler, Heinrich: Germanistische Soziolinguistik, 3., überarb. Aufl., Berlin 2005. Pichler, Barbara: Aktuelle Altersbilder: »junge Alte« und »alte Alte«, in: Kirsten Aner, Ute Karl (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010, S. 415-425. Pott, Hans-Georg: Alter als kulturelle Konstruktion. Diskursanalytische und philosophisch-kritische Beobachtungen, in: Heiner Fangerau u.a. (Hg.): Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s, Berlin 2007, S. 153-163.

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»Hand in Hand mit der Sprache / bis zuletzt« Anna Ditges’ Dokumentarfilm Ich will dich über die letzten Lebensjahre von Hilde Domin Mara Stuhlfauth-Trabert, Florian Trabert

L iter atur und F ilm Der Dokumentarfilm Ich will dich (D 2008) über Hilde Domin wird vor allem durch den großen Altersunterschied zwischen der portraitierten Dichterin und der Filmemacherin Anna Ditges zu einem außergewöhnlichen Projekt. Knapp 70 Jahre und damit drei Generationen liegen zwischen der Geburt Domins und Ditges’, sodass die Dichterin nicht nur die Großmutter, sondern sogar die Urgroßmutter der Filmemacherin sein könnte. Während die 1909 geborene Hilde Domin ihre ersten Gedichte mit 40 Jahren schrieb,1 legte die 1978 geborene Anna Ditges mit Ich will dich bereits im Alter von 30 Jahren ihren »erste[n] abendfüllende[n] Dokumentarfilm für Kino und Fernsehen« vor, »für den sie nicht nur die Regie führte, sondern auch Kamera und Schnitt umsetzte sowie die Produktion leitete«.2 Ditges hat somit Funktionen auf sich vereint, die im eigentlich hochgradig arbeitsteiligen Prozess der Filmproduktion im Regelfall auf viele verschiedene Schultern verteilt sind. Die Dreharbeiten fanden während der letzten beiden Lebensjahre Domins statt, die zu diesem Zeitpunkt in der Mitte ihres zehnten Lebensjahrzehnts stand; nachdem Domin im Jahr 2006 gestorben war, benötigte Ditges noch ein weiteres Jahr, um aus dem zur Verfügung stehenden Material von 130 Stunden3 den 95-minütigen Dokumentarfilm zu erstellen. Der Film feierte im Juni 2007 seine Weltpremiere auf dem Filmfest München und war im fol-

1 | Vgl. Marion Tauschwitz: Hilde Domin. Dass ich sein kann, wie ich bin. Biografie, Mainz 2010, S. 226. 2 | Booklet zu dem Film Ich will dich, Köln 2008, ohne Paginierung, [S. 6]. 3 | Vgl. Booklet zu dem Film Ich will dich, [S. 8].

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genden Jahr auf zahlreichen nationalen und internationalen Filmfestivals sowie in deutschen Kinos zu sehen,4 bevor er 2008 auch als DVD erschien (s. Abb. 1).

Abb. 1: Booklet zu dem Film Ich will dich, [S. 1] Der Filmtheoretiker Knut Hickethier unterscheidet zwischen zwei gegensätzlichen Grundhaltungen des Dokumentarischen: So kann der Dokumentarist bewusst auf jegliche Eingriffe in das zu filmende Geschehen verzichten, um die Realität nicht zu verfälschen, oder er kann im Gegenteil das Material organisieren, indem er in die Realität eingreift und das zu Zeigende durch Montage hervorhebt.5 Ich will dich ist, wie im Folgenden noch genauer gezeigt werden soll, eindeutig der zweiten Konzeption des Dokumentarischen verpflichtet, da Ditges motivische Bezüge zwischen verschiedenen Stellen des Films herstellt, vor allem aber nicht nur hinter, sondern auch vor der Kamera in Erscheinung tritt und somit die Subjektivität ihres Filmportraits betont. Auch wenn Ich will dich in erster Linie ein Film über die Dichterin Hilde Domin und erst in zweiter Linie ein Film über die 95-jährige Frau Hilde Domin ist, bietet sich das Filmportrait aus mehreren Gründen an, um die Konstruktion von Alter und Altern im Film zu analysieren. Dies hat zunächst gattungsspezifische 4 | Ebd., [S. 5]. 5 | Vgl. Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, 4., akt. und erw. Aufl., Stuttgart/Weimar 2007, S. 182f. Es lässt sich natürlich fragen, inwiefern nicht bereits die bloße Präsenz der Kamera einen Eingriff in das zu filmende Geschehen darstellt, sodass die erstgenannte Konzeption des Dokumentarischen auf einer kaum aufzulösenden Aporie basiert.

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Gründe: So unterliegt der Dokumentarfilm nur in geringem Maße bestimmten Genregesetzen, die in fiktionalen Filmen eine wichtige Voraussetzung für die Darstellung des Alters bilden;6 als von »intertextuellen und intermedialen Bezügen geprägte Artefakte« zeigen aber auch Dokumentarfilme Alter immer schon als ein »inszeniertes, kontextualisiertes und interpretiertes«7 Phänomen. Zudem wird Ich will dich aufgrund der besonderen Umstände, unter denen der Film entstanden ist, zu einem interessanten Gegenstand der Alter(n)sforschung: Wenngleich es Domin vergönnt war, bis zu ihrem Tod ein selbstbestimmtes Leben im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte zu führen, war das hohe Alter der Dichterin ein Faktor, der den Film in inhaltlicher wie produktionstechnischer Hinsicht vielfach geprägt hat. Das Filmprojekt ließ sich nur aufgrund der sehr engen Beziehung realisieren, die sich im Laufe der Dreharbeiten zwischen Hilde Domin und Anna Ditges entwickelte, trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – der großen Altersdifferenz. Dieser Altersunterschied ist für die folgende Analyse des Dokumentarfilms Ich will dich auch insofern von besonderer Bedeutung, als ihm in vielfacher Hinsicht die mediale Differenz zwischen Literatur und Film entspricht. Das im ganzen Film spürbare Spannungsverhältnis resultiert nicht nur aus dem Umstand, dass eine 25-jährige Frau einen Film über eine 95-jährige Frau dreht, sondern auch aus dem Zusammentreffen der beiden Medien Literatur und Film.

G egenwart und V ergangenheit Die filmische Repräsentation des Alters variiert sehr stark in den verschiedenen Abschnitten des Films, da es Domin in unterschiedlichem Maße möglich ist, das von ihr vermittelte Bild mitzubestimmen. Für eine differenzierte Analyse erscheint es deshalb sinnvoll, zwischen drei verschiedenen Bestandteilen zu unterscheiden, die das Material des Films konstituieren. Der größte Teil des Films besteht aus Sequenzen, die einen Einblick in das Leben Domins gewähren. Die Dichterin ist dabei überwiegend als Privatperson in ihrer Heidelberger Wohnung oder auf Ausflügen zu sehen. Sie tritt in einigen Sequenzen aber auch als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in Erscheinung, etwa wenn sie eine Dichterlesung hält oder einem Künstler Portrait steht, der eine Skulptur ihres Kopfes erstellt. Diesen auf die Gegenwart gerichteten Sequenzen stehen Abschnitte gegenüber, in denen die bewegte Vergangenheit der Dichterin den Mittelpunkt bilden. Immer wieder präsentiert der Film historisches Material über Hilde Domin in Gestalt von zahlreichen Fotografien sowie einem in den 1980er Jahren gedrehten Film, sodass die Zuschauer Informationen über die früheren Lebensabschnitte 6 | Vgl. Thomas Küpper: Filmreif. Das Alter in Kino und Fernsehen, Berlin 2010, S. 11. 7 | Vgl. Henriette Herwig: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, in: dies. (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2014, S. 7-33, hier S. 24.

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Domins erhalten. Dabei stehen ihre Kindheit in Köln, ihre Jugend und ihre Studienzeit in der Weimarer Republik, ihr langjähriger Aufenthalt im faschistischen Rom der 1930er Jahre sowie ihr zwölf Jahre währendes Exil auf der Karibikinsel Santo Domingo im Mittelpunkt. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart sind als dritter Bestandteil des Films die Interviewsequenzen zu verorten, in denen Ditges der Schriftstellerin Fragen zu ihrem Leben und ihren Texten stellt. Im Folgenden soll bei den genannten drei Strukturelementen des Films jeweils das Rollenspiel vor und hinter der Kamera analysiert werden, insofern es für die Darstellung und Inszenierung des Alters relevant ist. Die Alltagssequenzen zeigen dem Zuschauer, wie die weit über 90 Jahre alte Dichterin ihr Leben mit allen zum Altern gehörenden Gebrechen bestreitet. Dabei erscheint Domin als gepflegte Frau in vollem Besitz ihrer geistigen Kräfte, die ihre physischen Altersgebrechen – beispielsweise ihre Schwerhörigkeit – nie von sich aus thematisiert. Ditges jedoch nimmt in ihrem Film die Spuren von Domins Alter sehr bewusst in den Blick, indem sie durch gezielte Kameraführung die Aufmerksamkeit des Zuschauers gerade auf die physischen Zeichen des Alters lenkt. Dass zu Domins Alltag die regelmäßige Einnahme von Tabletten gehört, bekommt für den Zuschauer erst durch die Kameraführung besonderes Gewicht: Ditges zoomt so nah an Domins Gesicht heran, dass das gesamte Bild von ihrem Mund und der Hand, welche die Tabletten zum Mund führt, ausgefüllt ist (vgl. TC: 00:36:54). Die Darstellung der über 90-jährigen Frau erreicht dadurch ein hohes Maß an Authentizität, zumal auch in Szenen, in denen Domins laut schlurfender Gang oder ihr Schmatzen – vermutlich wegen des schlecht sitzenden Gebisses – akustisch dominieren, keine beschönigende ›Zensur‹ vorgenommen wurde. Den psychischen Aspekt des Alterns, vor allem die zunehmende Alterseinsamkeit, artikuliert die Dichterin hingegen von sich aus: »Dadurch dass ich immer alleine bin … ja, das ist schlecht. Herrlich ist zu zweit zu sein … oder zu dritt« (TC: 00:49:40-00:49:47). Für Domin stellte der Verlust der Zweisamkeit mit ihrem Ehemann Erwin Walter Palm eine der größten Katastrophen ihres Lebens dar.8 Das von Domin mehr als 15 Jahre lang unberührt gelassene Arbeitszimmer ihres Ehemanns zeugt von ihrem Gefühl der Verlassenheit. Die Einsamkeit der Dichterin in ihrer großen Wohnung betonen die Kameraeinstellungen, die Domin durch mehrere dunkle Zimmer hinweg am anderen Ende des Flurs bei schwachem Licht lesend oder aufräumend zeigen. Zusätzlich verstärken diesen Eindruck die zahlreichen Erinnerungsplätze, die sich in fast jedem Zimmer ihrer Wohnung finden und die mit den Fotografien von verstorbenen geliebten Menschen und den mit frischen Rosen gefüllten Vasen an Altare erinnern. Die Rosen, die in Domins Poetik metaphorisch für die Sprache stehen,9 erscheinen im Film zunächst als Konkre8 | Eine eindringliche Schilderung der Umstände von Palms Tod und der Reaktion Domins findet sich bei Tauschwitz: Hilde Domin, S. 496-501. 9 | Dieter Sevin (Trotzdem schreiben. Beiträge zur deutschsprachigen Literatur der Moderne, Hildesheim u.a. 2010, S. 129) führt hierzu aus: »Walter Jens schrieb […] beim

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tum: Immer wieder ist Domin im Bild zu sehen, wie sie Rosen kürzt und auf Vasen verteilt. Doch indem der Film die Rosen leitmotivisch einsetzt, erhalten diese eine neue metaphorische Aufladung. Die Rosen fungieren im Film als Motiv für die zunehmend intime Beziehung zwischen der Dichterin und der Filmemacherin; sie lassen sich aber auch ganz im Sinne barocker Topik als Vergänglichkeitsmotiv deuten, vor allem in einer der letzten Sequenzen des Films, in der Domin welk gewordene Rosen aussortiert (vgl. TC: 01:03:39-01:04:27). Die auf konkreter wie metaphorischer Ebene sehr direkte Darstellung von Domins Alter in dem Dokumentarfilm steht in einem aufschlussreichen Gegensatz zur Thematisierung des Alter(n)s in ihren Gedichten. Exemplarisch zeigt dies das späte Gedicht Älter werden10, wobei der zufällige Umstand, dass der Text 1978 und damit im Geburtsjahr von Anna Ditges entstanden ist, einmal mehr den Altersunterschied zwischen den beiden Frauen verdeutlicht. Älter werden kann als ein Altersgedicht fast nur aufgrund seines Titels bezeichnet werden, und dieser stellt den Prozess des Älterwerdens und nicht den Zustand des Alt-Seins in den Vordergrund. Altern erscheint in dem Gedicht, das Domin mit 69 Jahren verfasste, nicht als ein lebenspraktisches, sondern als ein intellektuelles Problem; dies unterstreichen insbesondere die intertextuellen Verweise auf Christa Wolf und Spinoza.11 Phänomene wie körperlicher Verfall oder Alterseinsamkeit, die durchaus in Ditges’ filmischem Portrait von Hilde Domin präsent sind, spielen für die in Älter werden entfaltete poetische Argumentation keine Rolle; in den Blick geraten stattdessen Grunderfahrungen wie Sehnsucht, Hoffnung und Liebe, die nicht an bestimmte Entwicklungsphasen der menschlichen Existenz gebunden sind, wie bereits die erste Versgruppe verdeutlicht: Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit nimmt nicht ab Aber die Hoffnung12

Erscheinen des Bandes [Nur eine Rose als Stütze] in einer Rezension in der Zeit, mit dieser ›Rose‹ habe Domin die deutsche Sprache gemeint. Die Lyrikerin hat dies später dann als richtig bestätigt, gleichzeitig aber auch betont, dass sie sich dieser Bedeutung beim Schreiben des Gedichts nicht bewusst gewesen sei.« 10 | Hilde Domin: Gesammelte Gedichte, Frankfurt a.M. 1987, S. 360-363. 11 | Vgl. zu einer ausführlichen Interpretation dieses Gedichts Ulrike Pohl-Braun: »Hand in Hand mit der Sprache«. Zu Hilde Domins Gedicht Älter werden, in: Michael Braun (Hg.): »Hinauf und zurück, in die herzhelle Zukunft«. Deutsch-jüdische Literatur im 20. Jahrhundert, Bonn 2000, S. 457-469. 12 | Domin: Gesammelte Gedichte, S. 360.

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In den biographischen Sequenzen wird Domins Alter weniger auf der Ebene der unmittelbaren filmischen Repräsentation als vielmehr durch die Geschichte der Dokumentationsmedien sowie Domins Umgang mit den Medien greif bar. Ich will dich inszeniert das lange Leben der Dichterin auch als eine kleine Mediengeschichte. Da es kein Filmmaterial über die Kindheit und die Exilaufenthalte Domins gibt, ist Anna Ditges zur Veranschaulichung dieser Lebensabschnitte auf alte Schwarzweißfotografien angewiesen. Damit das Bild nicht zu statisch wirkt, wenn die einzelnen Fotos eingeblendet werden, bedient sich Ditges verschiedener Kunstgriffe. Bei den biographischen Rückblenden in Domins Kindheit ergibt sich ein Wechsel von Dynamik und Statik dadurch, dass Ditges historische Fotos von Domins Geburtsstadt Köln einblendet und mit Filmaufnahmen der alten Domin in Köln aus annähernd gleicher Perspektive kontrastiert (vgl. TC: 00:15:37-01:16:46). An dieser Stelle sind es auch die durch den Zweiten Weltkrieg bedingten Veränderungen im Kölner Stadtbild, die das lange Leben Domins veranschaulichen, sodass die bildliche Ebene ein visuelles Äquivalent zu ihrem im Film zitierten Köln-Gedicht darstellt: Die versunkene Stadt für mich allein versunken.13

Zudem erzeugt Ditges Dynamik, indem sie die Fotos erst stark vergrößert und den Blickwinkel der Kamera dann langsam wieder erweitert. Dieses Verfahren bietet sich insbesondere für das Foto von Domins erstem Kuss mit Erwin Walter Palm an: Durch das Zoomen wird auf visueller Ebene eine intensive Nähe zur Filmprotagonistin erzeugt, welche durch die Tonspur zusätzlich unterstützt wird, da nicht die 95-jährige Domin die entsprechenden Gedichte und Passagen aus ihren autobiographischen Essays liest, sondern die Schauspielerin Anna Thalbach. Durch die junge Stimme wird dem Zuschauer suggeriert, es spräche die junge Domin der Fotografien zu ihm. Ein Medienwechsel erfolgt in der Dokumentation, wenn diese gewissermaßen als ›Film im Film‹ eine Aufnahme von Domin und ihrem Mann zeigt, die anlässlich des 80. Geburtstags der Dichterin entstanden ist. Der Änderung des Mediums entspricht, dass Domin nun auch als Mediennutzerin in Erscheinung tritt. Als Ditges die Dichterin mit dieser ungefähr 15 Jahre zurückliegenden Filmaufnahme konfrontiert, ist diese tief erschüttert, Erwin Walter Palm in Bewegung zu sehen: »Wir sind ja nur Schatten, wir sind ja nur Puppen, wir sind ja nicht wir.« (TC: 01:10:00-01:11:20) Obwohl die Art eines Menschen sich zu bewegen, viele Erinnerungen in den Hinterbliebenen wachruft, zeigt Domins Aussage auch, dass der im Film konservierte Ehemann ihr entfremdet erscheint und dass es erschüt13 | Ebd., S. 243.

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ternd ist, wenn das eigene Leben mit zunehmendem Alter zum Museum und Archiv wird. Zudem erweckt Domin an vielen Stellen den Eindruck, als wäre sie medientechnisch im Zeitalter der Fotografie stehen geblieben, da sie während der gemeinsamen Dreharbeiten von Ditges’ Filmkamera immer von einem ›Apparat‹ spricht und den Vorgang des Filmens mit dem Verb ›knipsen‹ bezeichnet (vgl. TC: 01:04:22 ). An diesen Stellen wird deutlich, dass sich Domin der technischen Möglichkeiten des Filmens nicht gänzlich bewusst ist, ein Umstand, welcher der Filmemacherin Anna Ditges hin und wieder auch die Gelegenheit bietet, sich über Domins Filmverbote hinwegzusetzen.14 Die Interviews als dritter Bestandteil des Films finden überwiegend in Domins Wohnung statt. Bei diesen Sequenzen nimmt sich Ditges als Regisseurin und Kamerafrau sehr stark zurück; so gibt es insbesondere keine für Interviews typischen Schnitt-Gegenschnitt-Sequenzen, die gleichermaßen Fragestellerin und Befragte zeigen. Die Kamera ist einzig auf Domin gerichtet, und der Zuschauer spürt, dass die Dichterin sich in diesen Filmsequenzen weitaus wohler fühlt, als wenn sie bei ihren alltäglichen Handlungen gefilmt wird. Sie ist es gewohnt, Fragen zur ihrem Schreiben und Denken zu beantworten, sodass sie in diesen Sequenzen sogar mit der Kamera kokettieren kann. Ihre Selbstinszenierung wird beispielsweise deutlich, wenn sie auf Ditges Frage: »Was braucht man, um ein Gedicht zu schreiben?« nur antwortet: »einen Stift« (TC: 01:02:4501:03:04) und dabei mit schiefgelegtem Kopf spitzbübisch in die Kamera lächelt. Um Domins Interviewroutine aufzubrechen und authentische Reaktionen mit der Kamera einzufangen, versucht Ditges gelegentlich, die Dichterin in ein spontanes Gespräch zu verwickeln, während sie diese bei einer ihrer Alltagsbeschäftigungen filmt. So überrascht Ditges sie beispielsweise bei ihren Neujahrstelefonaten mit der Frage: »Wie gehst Du mit dem Tod um?« Das darauf folgende, verzagte Schulterzucken der Dichterin und die Gegenfrage nach einem längeren Schweigen: »Was kann ich machen? Weißt Du leider, leider habe ich … ich habe leider keinen festen Glauben« (TC: 01:27:44-01:29:34) gehören zu den authentischen und bewegenden Momenten des Films.15 14 | Dass sich Domin über die Funktionsweise der Filmapparatur nicht immer im Klaren war, bedeutet natürlich nicht, dass man der Dichterin jegliche Kompetenz im Umgang mit modernen Medien absprechen sollte; so zeugen insbesondere ihre beiden als ›Fernsehgedichte‹ bezeichneten Texte Napalm-Lazarett und Brennende Stadt. (Beirut) (Domin: Gesammelte Gedichte, S. 352f.) von einem hochgradig reflektierten Umgang der Dichterin mit dem Medium des Films. Vgl. zu einer Interpretation dieser beiden Gedichte Michael Braun: Fernsehgedichte, in: Birgit Lermen, ders. (Hg.): Hilde Domin. »Hand in Hand mit der Sprache«, Bonn 1997, S. 94-99, und Vera Viehöver: Hilde Domin, Hannover 2010, S. 112f. 15 | Wie der Dokumentarfilmer Thomas Schadt (Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms, Bergisch-Gladbach 2002, S. 108f.) ausführt, ist es eine Mischung aus Instinkt des Filmemachers und Zufall, die es einem ermöglicht, einmalige

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N ähe und D istanz Die einzige Filmsequenz, die sich den drei zuvor analysierten Strukturelementen des Films nicht eindeutig zuordnen lässt, ist der aus zwei Teilen bestehende Beginn (vgl. TC: 00:00:11-00:02:12). Diese ersten beiden Minuten des Films vor dem Vorspann stellen eine Art Prolog dar, der die Protagonistin einführt, den Zuschauer über die Motivation des Filmprojektes aufklärt, und den ersten Kontakt zwischen der Dichterin und der Filmemacherin inszeniert. In dieser Eröffnungssequenz besteht noch ein großes Gefälle zwischen der berühmten deutschen Gegenwartslyrikerin und der gänzlich unbekannten Filmemacherin, die von der Lyrik bewegt, spontan und unbefangen auf die 95-Jährige zugeht. Der erste Teil dieses Prologs ist der Einführung der Dichterin Hilde Domin gewidmet. Das Bild bleibt zunächst schwarz, während lautes Klatschen zu hören ist. Rasch kann der Zuschauer erschließen, dass es sich um den Schlussapplaus auf einer Dichterlesung Domins handelt, womit der Film selbst zugleich seinen Hommage-Charakter kenntlich macht. Beim ersten schwachen Lichtschimmer lässt sich die Gestalt der Dichterin erahnen: Die Kamera blickt ihr über die Schulter und fokussiert auf die alten Hände, die eines ihrer Werke signieren. Obwohl die Kamera Domin hier bereits sehr nah kommt – ihr grau und dünn gewordenes Haar ragt seitlich ins Bild –, ist die Distanz zu dem Menschen sehr groß, denn im Zentrum steht die Dichterin, metonymisch dargestellt durch ihr Werk und ihre Hände. Die ›Hand‹ stellt zugleich einen Schlüsselbegriff der Poetik Domins dar, denn der deutschen Sprache war die Dichterin, wie sie es in dem Gedicht Älter werden dargelegt hat, »Hand in Hand / bis zuletzt«16 verbunden. Während Hildes Schreibhand langsam unten rechts aus dem Bild gleitet, ist die Arie Höre, Israel aus Elias von Felix Mendelssohn-Bartholdy zu hören. Das Oratorium bildet einerseits eine soundbridge zur nächsten Szene, in der nun statt der Dichterin die Filmemacherin zu sehen ist, und andererseits eine Klammer um den gesamten Film, da die beiden Frauen bei ihrem letzten Treffen vor dem Tod Domins diese Arie zusammen hören. Die zweite Szene des Prologs führt Anna Ditges ein, die auf das Wohnhaus Domins zufährt. Auch das Gesicht der Filmemacherin ist nicht zu sehen, stattdessen ein Strauß Rosen, den sie mit sich führt – womit die zweite wichtige Sprachmetapher aus Hilde Domins Lyrik und das zentrale Leitmotiv des Films exponiert Augenblicke mit der Kamera festzuhalten: »Es verwundert nicht, dass vor allem in der Ausbildung sehr häufig gefragt wird, wie es gelingen kann, diese scheinbar zufälligen, nicht vorhersehbaren ›Perlen‹ der Realität mit Kamera und Ton einzufangen. […] An den reinen Zufall glaube ich bei dieser Jagd genauso wenig wie daran, die Poesie des Augenblicks zu planen, nachstellen oder gar inszenieren zu können. Aber wovon ich fest überzeugt bin, ist, dass diese Art Zufall in gewisser Weise provoziert werden kann.« Die von Ditges während Domins Neujahrstelefonaten gestellten Fragen sind eine solche Provokation des Zufalls. 16 | Domin: Gesammelte Gedichte, S. 363.

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wird. Domins Lyrik ist es auch, die Ditges auf die Dichterin aufmerksam gemacht hat. Ihre Motivation für das Filmprojekt begründet Ditges, indem sie sich die Frage stellt: »Wie kann es sein, dass diese Frau so klar und deutlich formuliert, was mich bewegt« (TC: 00:01:30). Deshalb beschließt sie, die berühmte Frau kennenzulernen. Für den Zuschauer wird in der zweiten Szene durch die langsame Annäherung an Domins Haus und die wackeligen Bilder der Handkamera inszeniert, dass es sich um die erste Begegnung der beiden Frauen handelt. Dabei machen Aussagen von Freunden der Dichterin deutlich, dass sich Anna Ditges in zahlreichen Telefonaten und vorherigen Besuchen erst Domins Vertrauen erwerben musste, bevor sie an deren 95. Geburtstag die Dreherlaubnis erhielt.17 Im Laufe der zwei Jahre währenden Drehzeit hat sich das Verhältnis von Anna Ditges und Hilde Domin zunehmend intensiviert. Mit Ich will Dich ist ein Film entstanden, bei dem auch der Zuschauer das wachsende Vertrauen zwischen den beiden Frauen nachvollziehen kann, das sich allmählich einem (Ur)Großmutter(Ur)Enkelin-Verhältnis annähert. In zunehmendem Maße wird Ditges dabei zur zweiten Hauptperson des Films, dessen Untertitel bezeichnenderweise Begegnungen mit Hilde Domin lautet, sodass auch die subjektive Sicht der Filmemacherin eingeschlossen ist. Dies entspricht grundsätzlichen Überlegungen, die der Dokumentarfilmer Thomas Schadt angestellt hat: Für den Dokumentarfilm als Autorenfilm ist Schadt zufolge zentral, dass »zwei Formen von Subjektivität« zueinander gestellt werden, sodass die Herausforderung darin besteht, »das richtige Verhältnis« zu finden.18 Für den glaubwürdigen Dokumentarfilm ist es sogar wichtig, dass sich der Regisseur über die Subjektivität seines Zugriffs im Klaren ist: »Doch darf«, wie Schadt einschränkt, »diese Form der Subjektivität nicht die Subjektivität des Gegenübers überlagern oder gar dominieren.«19 Dabei ist das Rollenverständnis des Dokumentarfilmers entscheidend: Er darf sich weder überheblich noch arrogant geben; im Gegenteil sei es Schadt zufolge von Vorteil, »sich klein oder wenigstens kleiner als sein Gegenüber zu machen. Die Rolle des Naiven, Unschuldigen, Nichtwissenden, Bescheidenen, manchmal sogar Hilfsbedürftigen wird von vielen erfahrenen Dokumentaristen mit Erfolg praktiziert.«20 Der große Altersunterschied erleichtert es Ditges, genau diese Position scheinbarer Naivität einzunehmen. Dass Ditges im Nachhinein selbst diese Naivität reflektiert hat, zeigt, dass es sich um eine zumindest partiell bewusst eingenommene Rolle handelt, die zwar naiv wirkt, aber nicht naiv ist: »Ich hatte vorher keine feste Vorstellung davon, wer ›die Domin‹ ist und wie ich sie zeigen möchte, ich war einfach neugierig auf sie und fasziniert von ihr. Vielleicht ist der Film deshalb unbefangener, direkter – man könnte sagen: naiver – als konventionelle Künstlerportraits.«21 Mit Neugier 17 | Vgl. Tauschwitz: Hilde Domin, S. 518f. 18 | Schadt: Das Gefühl des Augenblicks, S. 41. 19 | Ebd., S. 41. 20 | Ebd., S. 60. 21 | Booklet zu dem Film Ich will dich, [S. 7].

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nähert sie sich der als medienfeindlich geltenden Dichterin: »Vielleicht, dachte ich, ist sie auf mich ja neugierig, weil ich fast 70 Jahre jünger bin« (TC: 00:02:25). Immer wieder stellt Ditges Domin ganz einfache, naiv anmutende Fragen, beispielsweise: »Was ist ein Gedicht?« (TC: 00:25:40) oder: »Würdest Du sagen, dass Erwin heute immer noch Deine große Liebe ist?« (TC: 00:46:20), Fragen, auf die die Dichterin oft überraschend offen antwortet, denen sie sich gelegentlich aber auch verweigert – wobei gerade diese Verweigerung sehr ›sprechend‹ ist. Für das gesamte Filmprojekt ist eine eigentümliche Dialektik bestimmend: Ist die inniger werdende Beziehung zwischen den beiden Frauen einerseits Bedingung für das Vertrauen und die emotionale Offenheit der Dichterin und somit für die Realisierung des Films, erschwert diese Nähe andererseits zunehmend die Aufnahmen. Zum einen wehrt sich Domin bei wachsender persönlicher Nähe zu der Filmemacherin gegen die Dreharbeiten, da ihr der unmittelbare Umgang mit der jungen Frau wichtiger ist, zum anderen muss Ditges selbst filmen und auf Hilfe durch einen Kameramann verzichten, um die Intimität der Begegnungen nicht durch die Anwesenheit einer dritten Person zu stören. Auf die Konsequenzen, die sich aus diesen Einschränkungen ergeben, hat Ditges selbst hingewiesen: Zunächst hatte ich überlegt eine Kamerafrau zu engagieren. Aber erstens hatte ich kein Geld und zweitens wurde mir schnell klar, dass die Nähe zwischen Hilde Domin und mir, die ich mir auch für den Film erhoffte, dann gar nicht hätte entstehen können. Manchmal musste ich den ganzen Tag auf eine Szene warten, also habe ich Hilde und ihren Lebensrhythmus ziemlich genau kennengelernt, mich an sie angepasst. 22

Anna Ditges dreht die gesamten zwei Jahre immer allein und befindet sich dadurch in zunehmendem Maße in einer Doppelrolle: unterstützende Freundin auf der einen, Regisseurin und Kamerafrau auf der anderen Seite. Diese Doppelrolle bedingt in vielen Szenen eine unruhige Kameraführung und für Domin wenig schmeichelhafte Perspektiven. Besonders deutlich lässt sich dies bei der Sequenz beobachten, in der die beiden Frauen bei einem Friedhofsbesuch das Grab Erwin Walter Palms suchen (vgl. TC: 01:16:01-01:22:07). Ditges stützt die Dichterin mit ihrem rechten Arm und filmt sie gleichzeitig mit der linken Hand, wodurch ihr Gesicht von schräg unten aufgenommen wird. Durch diese wenig schmeichelhafte Perspektive liegen Domins Augen im Schatten und bilden schwarze Höhlen.23 Somit steht diese Sequenz in einem markanten Gegensatz zum Beginn des

22 | Ebd., [S. 7]. 23 | Anna Ditges war bewusst, dass ihre Entscheidung, zu Gunsten der Intimität der Zweierbeziehung mit Hilde Domin auf ein Kamerateam zu verzichten, auch filmästhetische Konsequenzen mit sich bringt: »Da ich alleine gedreht habe, musste ich ohnehin viel improvisieren […]. So sind Aufnahmen entstanden, die sicherlich rauh [sic] und unorthodox sind, aber eben auch sehr authentisch und nah.« Ebd., [S. 7].

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Films, als Ditges noch als weitgehend unbeteiligte Kamerafrau agieren konnte und vorrangig die berühmte Schriftstellerin Domin inszenierte. Der Film zeigt, dass Domin ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Kamera hat. Einerseits freut sie sich über das Interesse der jungen Frau an ihrer Person und ihrem Werk, andererseits fühlt sie sich immer wieder von der Kamera belästigt und versucht, ihr Alter vor dieser zu verbergen. So wendet sie sich in einer Sequenz des Films an Ditges: »Und jetzt willst Du mich dauernd so von Nahem aufnehmen? Nein«, um dann mit einem Schal ihr Gesicht vor der Kamera zu verbergen. Der nun folgende Dialog ist geradezu symptomatisch für das ambivalente Verhältnis zwischen der Dichterin und der Filmemacherin: »Nein jetzt machst Du aus, das ist verrückt. Mach aus! Man kann nicht einen Menschen der über 90 ist, behandeln als wäre er 40 oder als sei er 20. Das geht nicht, verstehst Du. Also kommt gar nicht in Frage, da macht man alles mit kaputt« […] – »Man guckt Dein Gesicht so gerne an« – »Ja, weil wir uns mögen.« (TC: 00:20:53-01:22:11)24

Anna Ditges bewundert die Vitalität und Lebensneugier der älteren Frau und möchte diese Eigenschaften in ihrem Film vermitteln; dabei stellt sie auch konventionelle Vorstellungen von der Schönheit alter Menschen in Frage. Domin hingegen ist gerne bereit, Aussagen über ihre Gedichte zu machen, möchte aber aufgrund ihres hohen Alters nicht von nah aufgenommen werden. Sie fühlt sich von der Kamera zum Objekt degradiert: »Ich will nicht die ganze Zeit geknipst werden, sonst habe ich keine Freude an Dir. Also ich bin nicht hier um … um Objekt zu sein, weißt Du?« (TC: 01:04:22) Diese Verweigerung bekommt ein besonderes Gewicht angesichts von Domins Sprachpoetik, der zufolge der Mensch seinen Subjektstatus in Grenzerfahrungen wie Verfolgung und Exil nur durch die Sprache zu wahren vermag: Sprache [hilft] dem Betroffenen, er selber zu sein, die Identität mit sich zu wahren. […] Die Rettung durch Sprache, das Gnadengeschenk des kreativen Worts, ist ein Sonderfall der Begnadigung überhaupt, den als die Rettung anzusprechen ich mich getrauen will. Sprache befreit von der Erniedrigung des Objektseins und hat dies selbst unter den fürchterlichsten Umständen, selbst in KZ und Todesgefahr getan. 25

Im Gegensatz etwa zu Ingeborg Bachmann, für deren Texte ein kritisches Verhältnis zum Sprachmaterial geradezu konstitutiv ist, wird das Werk Domins von einem Sprachvertrauen getragen, das sich – paradoxerweise – gerade durch die 24 | Gegen eine zu große Aufdringlichkeit der Kamera wehrt sich Domin zudem an den folgenden Stellen: TC: 00:14:36; 00:17:15; 00:20:53; 00:29:31; 00:40:47; 01:03:16; 01:05:30; 00:31:28. 25 | Hilde Domin: »… und doch sein wie ein Baum«. Die Paradoxien des Exils, in: dies.: Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache, München 1992, S. 202-218, hier S. 214.

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biographische Erfahrung des Exils erklären lässt.26 Die deutsche Sprache ist in dem an Brüchen so reichen Leben Domins eine der wenigen Konstanten gewesen. Stellten für die exilierten Juden, einer vielzitierten Bemerkung Heinrich Heines zufolge, die heiligen Schriften ein »portatives Vaterland«27 dar, so nimmt für Hilde Domin die deutsche Sprache diese Funktion ein. Denn die deutsche Sprache hat Domin überall hin begleitet, sogar in das Exil auf der Karibikinsel Santo Domingo. Durch die Kamera hingegen sieht sich Domin des durch die Sprache errungenen Subjektstatus beraubt, sodass sie gewissermaßen zur Statistin ihres eigenen Lebens wird. Ihre Abwehrhaltung gegenüber der Kamera weist somit eine deutliche Nähe zu den medienkritischen Überlegungen Susan Sontags auf, die in ihrem Essay zur Fotografie genau diesen Moment der Objektwerdung sehr eindrücklich beschreibt: »Menschen fotografieren heißt ihnen Gewalt antun, indem man sie so sieht, wie sie selbst sich niemals sehen, indem man etwas von ihnen erfährt, was sie selbst niemals erfahren; es verwandelt Menschen in Objekte, die man symbolisch besitzen kann.«28 Domin entwickelt während der Entstehung des Films drei Strategien, dem Kontrollverlust über ihr Selbstbild durch die Kamera zu entgehen. Erstens ist ihr Authentizität sehr wichtig und daher weigert sie sich, Aussagen vor der Kamera zu wiederholen, wenn Anna Ditges die Technik nicht rechtzeitig eingeschaltet hatte: »Kannst Du nochmal anfangen, Hilde?« – »Aber das kann ich jetzt nicht sagen. Das kann ich nicht. Ich bin kein Schauspieler.« (TC: 00:33:34-00:33:54) Zweitens entzieht sie sich dem ›Blick‹ der Kamera, wenn ein Thema sie emotional zu sehr aufwühlt und sie in ihrer psychischen Erregung nicht gefilmt werden möchte. Dann steht sie einfach auf und verlässt den Raum, wobei Ditges stets so taktvoll ist, ihr nicht zu folgen (vgl. TC: 01:10:49). Verweigert sie sich der Kamera 26 | Auf diese Sonderstellung Domins hat auch Dieter Sevin (Trotzdem schreiben, S. 130) aufmerksam gemacht: »[A]uf die Erfahrungen des Exils zurückgehend ist die Tatsache, dass bei Domin kaum jene für die Moderne so bezeichnende Sprachskepsis zu entdecken ist. Sie selbst erklärt ihre positive Einstellung zur Sprache damit, dass sie das Land früh genug verlassen hat und so den Sprachmissbrauch […] nicht nur während der Hitler-Diktatur, sondern auch nach dem Krieg nicht persönlich erlebt hat.« 27 | Heinrich Heine: Geständnisse, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 6.1., hg. v. Klaus Briegleb, München 2005, S. 443-501, hier S. 483. Ausdruck von Hilde Domins Affinität zu Heine, mit dem sie die Exilerfahrung verbindet, ist auch ihr Essay Hilde Domin interviewt Heinrich Heine 1972 in Heidelberg (Gesammelte autobiographische Schriften. Fast ein Lebenslauf, Frankfurt a.M. 1993, S. 233-242). 28 | Susan Sontag: Über Fotografie, München 2002, S. 20. Auch Ralf Vollbrecht (Ich will dich. Begegnungen mit Hilde Domin. Filmbesprechung, in: Anja Hartung (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011, S. 153-156, hier S. 155) hat in seiner Rezension des Films diesen Aspekt hervorgehoben: »Genau um diese Frage geht es: Wie kann ich in einem Film, in dessen Mittelpunkt ich stehe und der mich deshalb notwendig auch zum Objekt des Interesses macht, Subjekt bleiben?«

Anna Ditges’ Dokumentar film über Hilde Domin

im ersten Fall aufgrund der fehlenden Authentizität, lehnt sie diese im zweiten wegen eines Übermaßes an Authentizität ab. Drittens nehmen Domins Wünsche nach einer Filmpause, die sie verbal und häufiger noch gestisch durch Abwinken artikuliert, im Verlauf des Films zu. Domins ambivalente Haltung gegenüber der Kamera wird besonders deutlich während der Zugfahrt mit Ditges, als ihre abwehrenden Handbewegungen allmählich in ein freundliches, aber auch hilflos wirkendes Winken übergehen (s. Abb. 2). Domins immer wieder artikulierte Proteste gegen die Zudringlichkeit der Kamera mögen ein Grund dafür sein, dass ihre Freunde »im Nachhinein das Versäumnis [bedauerten], nicht auf einen rechtlichen Vertrag über die Autorisationsrechte gedrängt zu haben«.29

Abb. 2: Ich will Dich, TC: 00:42:14 Ditges’ subjektive Sicht auf die Dichterin ist aufgrund des Dialogs, den sie die Kamera mit Domin führen lässt, für den Zuschauer ständig präsent. In der Szene, in der Ditges die Dichterin bei einem Treffen mit einer Freundin filmt, ärgert Domin sich über die Aufdringlichkeit der Kamera besonders stark: »Ich will nicht so nah. Wenn ich nicht will, will ich nicht, verdammt nochmal, ich will nicht.« (TC: 00:29:31-00:31:00) Daraufhin tritt Ditges einen Schritt zurück, zoomt aber gleichzeitig nah an Domin heran, sodass diese aus unverändert geringer Distanz im Bild zu sehen ist. Hier nutzt die Filmemacherin aus, dass die Dichterin sich mit der Filmtechnik nicht auskennt, um ohne deren Zustimmung weiterdrehen zu können. In diesem Fall lässt sich durchaus von einem Vertrauensbruch sprechen, zumal für die Zuschauer der Trick mit dem Zoom und die fehlende technische Kompetenz der Dichterin offenkundig sind. Vor dem Hintergrund dieser Szene scheint die folgende Einschätzung der Regisseurin etwas einseitig zu sein: 29 | Tauschwitz: Hilde Domin, S. 519.

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Mara Stuhlfauth-Traber t, Florian Traber t Im Laufe der zwei Jahre wurde die Kamera zu einem immer selbstverständlicheren Verbindungsglied zwischen uns, zu einem Spiegel unserer immer näheren Freundschaft und zu einer Art gemeinsamem Sprachrohr, in das mal sie, mal ich etwas hineinrief. Hilde begann mehr und mehr mit der Kamera und mir zu flirten. 30

Obwohl sich die Regisseurin wiederholt über die ausdrücklichen Wünsche der Dichterin hinwegsetzt, lässt sich jedoch nicht sagen, dass der Film insgesamt von Respektlosigkeit gegenüber der Persönlichkeit Domins bestimmt wird. Die Eigenwilligkeit der Kameraführung ist auch ein Moment jugendlicher Rebellion und somit einer anderen Sicht auf das Alter der Dichterin. Ditges hat Domins Abwehr gegen die Kamera nicht herausgeschnitten, sondern sich entschieden, die Vitalität der Dichterin und die von ihr gesetzten Grenzen für den Zuschauer sichtbar zu machen, indem sie diese Grenzen überschreitet. Ich will Dich endet mit dem Tod Hilde Domins, sodass der Film eine Geschlossenheit erhält, die Ditges ursprünglich nicht intendiert haben kann. Die letzten Bilder sind bei der Beerdigung Domins entstanden, und Ditges betont, wie schwer ihr diese Aufnahmen gefallen sind.31 Andererseits hat Domins Tod die Filmemacherin der Notwendigkeit enthoben, der Dichterin den fertigen Film zu zeigen und sich mit ihrer Reaktion auseinanderzusetzen.32 Es kann durchaus vermutet werden, dass der Film in vielerlei Hinsicht eine andere Gestalt bekommen hätte, wenn die Dreharbeiten durch den Tod Domins nicht ein gewissermaßen ›natürliches‹ Ende gefunden hätten.

V or und hinter der K amer a Der Dokumentarfilm Ich will Dich gehört zusammen mit den beiden Domin-Biographien von Ilka Scheidgen und Marion Tauschwitz zu den Portraits der Dichterin, die in zeitlicher Nähe zu ihrem Tod erschienen sind. Ganz ähnlich wie Ditges waren auch die beiden Biographinnen durch eine enge persönliche Beziehung mit der Dichterin verbunden.33 In allen drei Fällen lässt sich von einem geradezu 30 | Anna Ditges: Laudatio von Anna Ditges zum 100. Geburtstag von Hilde Domin. Jubiläumsfeier in der Stadtbibliothek Heidelberg am 27.07.2009, S. 2f., http://punktfilm. com/de/filme/detail/ich-will-dich-begegnungen-mit-hilde-domin [Zugriff: 03.01.15]. 31 | Booklet zu dem Film Ich will dich, [S. 8]. 32 | »Warum möchtest Du, dass ich diesen Film über Dich mache?« – »Das weiß ich gar nicht, ob ich möchte, Du möchtest ihn doch machen. Ich hab’ zunächst mal nichts dagegen, fragt sich, wie er wird« (TC: 00:31:42-00:33:25). 33 | Ilka Scheidgen (Hilde Domin. Dichterin des Dennoch, Lahr 2006, S. 5) schreibt über die Entstehung ihrer Biographie: »Über Gedichte sind wir uns begegnet und haben miteinander korrespondiert, bevor mich Hilde Domin zu sich nach Heidelberg einlud. Für meine eigene Lyrik gab sie mir wertvolle Ratschläge. So entstand im Laufe der Jahre eine

Anna Ditges’ Dokumentar film über Hilde Domin

symbiotischen Verhältnis sprechen, wobei sich emotionale und sachliche Motive vermutlich nicht voneinander trennen lassen. Während die nach dem Tod ihres Ehemanns unter Alterseinsamkeit leidende Dichterin sich über den persönlichen Umgang mit den jüngeren Frauen freute und durch diesen einen gewissen Einfluss auf das von ihr gezeichnete Bild ausüben konnte,34 ermöglichte der enge Kontakt zu der charismatischen Persönlichkeit Domins der Filmemacherin und den Biographinnen einen unmittelbaren Zugang zu vielen Information und Quellen. Gleichwohl unterscheidet sich der Film in einigen Aspekten ganz wesentlich von den beiden Biographien: So breitet der Dokumentarfilm – aufgrund medial bedingter Einschränkungen – weitaus weniger biographisches Material aus, vermag aber zugleich ein sehr authentisches Portrait der Dichterin in ihren letzten Lebensjahren zu zeichnen. Auch wenn Authentizität und Inszenierung in Ich will Dich wie in jedem Dokumentarfilm ineinander übergehen, zeigt er in einem Prozess, der sich weder von der Dichterin noch der Filmemacherin gänzlich kontrollieren ließ, immer wieder spontane und unverstellte Reaktionen Domins. Zudem erhebt der Dokumentarfilm einen gewissen künstlerischen Anspruch, indem er der Lyrik Domins entnommene Motive – wie insbesondere das Hand- und das Rosenmotiv – in den filmischen Zusammenhang integriert und ihnen damit auch eine neue Bedeutung gibt. Diesen künstlerischen Anspruch hat Ditges auch unterstrichen, indem sie sich selbst an vier Stellen des Films ins Bild gesetzt hat. Das Problem, das Ditges nur schwer sich selbst filmen kann, hat sie dabei an den betreffenden Stellen auf jeweils unterschiedliche Weise gelöst: Das erste Mal ist Ditges kurz im Bild zu sehen, als es während einer gemeinsamen Autofahrt zu einem Rollentausch kommt, bei dem Domin die Kamera übernimmt (vgl. TC: 00:19:56-00:20:26). Bei einem Spaziergang im Brühler Schlosspark filmt Ditges dann den Schatten, den sie, Domin und eine alte Freundin der Dichterin werfen (vgl. TC: 00:33:09). Gemeinsam mit Domin erscheint die Filmemacherin während eines Spaziergangs am Heidelberger Neckarufer im Bild, als sie einen Passanten bittet, eine Aufnahme von ihnen zu machen (vgl. TC: 00:48:34). Die größte Bedeutung kommt jedoch der vierten und letzten dieser Szenen zu, bei der Ditges ihre Kamera in Domins Wohnung auf einem Stativ befestigt und sich dabei filmt, wie sie Domin freundschaftliche Beziehung, die durch viele gemeinsame Gespräche über Dichtung, über Politik, über das Leben, durch ihre immer interessierte persönliche Teilnahme an meinem Leben und Schreiben, intensiviert und lebendig gehalten wurde.« Marion Tauschwitz (vgl. Hilde Domin, S. 13-16) schildet im Prolog ihrer Biographie den letzten Lebenstag Domins, wobei sich die Dichterin und die Biographin mit ›Liebe‹ und ›Liebste‹ anreden. 34 | Wie Vera Viehöver (Hilde Domin, S. 132) betont hat, ist diese Strategie der Rezeptionssteuerung durchaus erfolgreich gewesen: »Domin hat die Rezeption ihres Schreibens als eines Werks der Versöhnung selbst gesteuert und dazu beigetragen, dass auch ihre frühen Texte oft vor dem Hintergrund viel später geäußerter Selbstkommentierungen interpretiert werden.«

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eine Tasse heißer Milch bringt und ihr das Gedicht Herbst von Rainer Maria Rilke vorliest (TC: 01:25:10-01:26:10). An keiner Stelle im Film kommt das Verhältnis zwischen den beiden Frauen einem (Ur)Großmutter-(Ur)Enkelin-Verhältnis so nahe wie hier; partiell nimmt Ditges sogar die Rolle von Domins verstorbenem Ehemann ein, da die Dichterin immer wieder betont hat, welche große Bedeutung der gemeinsamen Lektüre in ihrer Ehe zukam. Insgesamt lassen sich diese Stellen mit der Signatur vergleichen, die ein Künstler an seinem Gemälde anbringt: In beiden Fällen wird die Urheberschaft in der Materialität des Kunstwerks sichtbar gemacht. Als Künstlerportrait mit künstlerischem Anspruch hat Ich will Dich zudem historische Vorbilder, für die gleichfalls ein großer Altersunterschied signifikant ist: So ist etwa Bettine von Arnims Roman Goethes Briefwechsel mit einem Kinde das Denkmal des alten und berühmten Dichters Goethe, als dessen selbstbewusste Schöpferin sich jedoch die weitaus jüngere Autorin zu erkennen gibt. Auch dieser Aspekt der Beziehung zwischen der jungen Filmemacherin und der alten Dichterin gehört zu der Dialektik von Jugend und Alter, die der Film insgesamt inszeniert.

Q uellenverzeichnis Filme Ich will Dich. Begegnungen mit Hilde Domin (D 2008, Regie: Anna Ditges).

Primärtexte Domin, Hilde: Gesammelte autobiographische Schriften. Fast ein Lebenslauf, Frankfurt a.M. 1993. Domin, Hilde: Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache, München 1992. Domin, Hilde: Gesammelte Gedichte, Frankfurt a.M. 1987. Heine, Heinrich: Geständnisse, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 6.1., hg. v. Klaus Briegleb, München 2005, S. 443-501. Sontag, Susan: Über Fotografie, München 2002.

Sekundärtexte Booklet zu dem Film Ich will dich. Begegnungen mit Hilde Domin (D 2008, Regie: Anna Ditges). Braun, Michael: Fernsehgedichte, in: Birgit Lermen, ders.: Hilde Domin. »Hand in Hand mit der Sprache«, Bonn 1997, S. 94-99. Ditges, Anna: Laudatio von Anna Ditges zum 100. Geburtstag von Hilde Domin. Jubiläumsfeier in der Stadtbibliothek Heidelberg am 27.07.2009, http://

Anna Ditges’ Dokumentar film über Hilde Domin

punktfilm.com/de/filme/detail/ich-will-dich-begegnungen-mit-hilde-domin [Zugriff: 03.01.15]. Herwig, Henriette: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, in: dies. (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2014, S. 7-33. Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse, 4., akt. und erw. Aufl., Stuttgart/Weimar 2007. Küpper, Thomas: Filmreif. Das Alter in Kino und Fernsehen, Berlin 2010. Pohl-Braun, Ulrike: »Hand in Hand mit der Sprache«. Zu Hilde Domins Gedicht Älter werden, in: Michael Braun (Hg.): »Hinauf und zurück, in die herzhelle Zukunft«. Deutsch-jüdische Literatur im 20. Jahrhundert. Festschrift für Birgit Lermen, Bonn 2000, S. 457-469. Schadt, Thomas: Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms, Bergisch-Gladbach 2002. Scheidgen, Ilka: Hilde Domin. Dichterin des Dennoch, Lahr 2006. Sevin, Dieter: Trotzdem schreiben. Beiträge zur deutschsprachigen Literatur der Moderne, Hildesheim u.a. 2010. Tauschwitz, Marion: Hilde Domin. Dass ich sein kann, wie ich bin. Biografie, Mainz 2010. Viehöver, Vera: Hilde Domin, Hannover 2010. Vollbrecht, Ralf: Ich will dich. Begegnungen mit Hilde Domin. Filmbesprechung, in: Anja Hartung (Hg.): Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film, München 2011, S. 153-156.

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Krise und Ambivalenz Zur Altersdarstellung in Alexander Paynes Film About Schmidt Thomas Küpper

Als Thema von Alexander Paynes Film About Schmidt (US 2002) wird oft die Suche nach Sinn, nach etwas Bedeutsamem im Leben ausgemacht, die als typisch für die Zeit des Rückzugs aus dem Berufsleben gilt. James Vanden Bosch zum Beispiel erklärt: »About Schmidt is about a common man whose life at age 66 is going through the transitions that often bring out a renewed thirst for meaning in one’s life.«1 Ähnlich beschreibt Andrea D. Lobel den Film und seine Hauptfigur: »Warren Schmidt is an ordinary man newly retired after having worked at an ordinary job for decades. [...] A man obsessed with wresting meaning from absurdity [...].«2 Mit solchen Aspekten lässt sich der Film zu laufenden Debatten über das Alter in Bezug setzen. Matthias Ruoss zeichnet nach, dass seit der Nachkriegszeit, in der sich die Gerontologie formierte, die Annahme viel diskutiert wird, in den Ruhestand gegangene Menschen litten unter der vermeintlichen »Sinnleere der nachberuflichen Lebensphase«; den belastenden Zustand führt man insbesondere auf Einkommenseinbußen, auf den Verlust von Statussymbolen, auf das Wegfallen von Erfolgserlebnissen und nicht zuletzt auf den Abbruch kollegialer Beziehungen zurück.3 Die plagenden Zweifel, die sich bei Rentnerinnen und Rentnern damit einstellen sollen, können mit der Logik kapitalistischer Gesellschaften in

1 | James Vanden Bosch: About Schmidt, in: The Gerontologist 43 (2003) H. 3, S. 430431, hier S. 430. 2 | Andrea D. Lobel: About Schmidt, in: Journal of Religion and Film 7 (2003) H. 1, http:// www.unomaha.edu/jrf/Vol7No1/aboutschmidtrev.htm [Zugriff: 01.10.2014]. Vgl. auch Axel Degenhardt: Hauptrolle Alte(r) – die Darstellung des Alters im fiktionalen Film, Norderstedt 2004, S. 24. 3 | Matthias Ruoss: ›Aktives Altern‹ in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft. Ein Beitrag zur Wissensgeschichte der Gerontologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Max Bolze, Cordula Endter, Marie Gunreben, Sven Schwabe, Eva Styn (Hg.): Prozesse des Alterns. Konzepte – Narrative – Praktiken, Bielefeld 2015, S. 159-174, hier S. 164.

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Verbindung gebracht werden, »die bezahlte Arbeit und Produktivität traditionell als Inbegriff der Sinnstiftung betrachten«.4 Gerade Männer gelten als anfällig für solche Zweifel. Gabriele Mueller weist darauf hin, dass Konstruktionen der Identität von Rentnerinnen und Rentnern geschlechtsspezifisch sind und oft überkommene Geschlechterrollen fortschreiben: Während der Übergang von Frauen ins Rentenalter häufig nicht als bedeutsame Veränderung gesehen wird, da ihnen weiterbestehende häusliche Aufgaben traditionell zugeordnet werden, betrachtet man das In-Rente-Gehen von Männern vielmals als gravierenden Einschnitt, als Verlassen des ihnen eigenen Wirkungsund Machtbereichs. Der Film About Schmidt ist nach Mueller entsprechend auf die Art zu beziehen, in der Männer in der Industriegesellschaft sozialisiert werden, »where their value is determined mainly or even exclusively through the degree of their involvement in paid employment«.5 Warren Schmidt (Jack Nicholson) wird nach seinem letzten Arbeitstag in der erzählten Wirklichkeit des Films scharf getrennt von der Gruppe derer, die als produktiv tätig angesehen sind; der Protagonist wird nun sozial einer anderen Altersgruppe zugeordnet. Lobel bemerkt: »The film [...] heavily underscores the fact that Schmidt has reached the social age of old age in America – the age of retirement. In American corporate culture, Schmidt is deemed old and therefore unproductive, and vice versa.«6 In der Versicherungsgesellschaft, in der er gearbeitet hat, gelten seine Kenntnisse und Leistungen rasch als überholt – sein jüngerer Nachfolger (Matt Winston) respektiert den Rentner nur noch vorgeblich und nimmt keinen Rat von ihm an. Insofern als Schmidts Sinnfragen dadurch veranlasst werden, dass er aus dem Berufsleben ausscheidet und an Gelegenheiten einbüßt, sich als produktiv tätig, aktiv und leistungsfähig zu erweisen, erscheint der Film anschließbar an gängige Positionen der Debatten um den gesellschaftlichen Rückzug alter Männer. Was genau aber trägt der Film zu diesen Debatten bei? Wie stellt er die Sinnsuche des Protagonisten näherhin dar und welche Erzählmuster kommen in diesem Zusammenhang zum Tragen? Ein in den genannten Debatten häufig verwendetes und mithin naheliegendes Erzählmuster ist das der Krise: Der Wechsel vom Beruf zum Rentnerdasein gilt als krisenhaft. Das Wort ›Krise‹ ist in diesem 4 | Ebd., S. 162. Vgl. auch Stephan Lessenich: Produktives Altern. Auf dem Weg zum Alterskraftunternehmer? In: Manfred Füllsack (Hg.): Verwerfungen moderner Arbeit. Zum Formwandel des Produktiven, Bielefeld 2008, S. 45-62; Silke van Dyk, Stephan Lessenich, Tina Denninger, Anna Richter: Die »Aufwertung« des Alters. Eine gesellschaftliche Farce, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 19 (2010) H. 5, S. 15-33. 5 | Gabriele Mueller: The Aged Traveler: Cinematic Representations of Post-Retirement Masculinity, in: Heike Hartung, Roberta Maierhofer (Hg.): Narratives of Life: Mediating Age, Münster 2009, S. 149-165, hier S. 150-154. Vgl. Aag je Swinnen: Seksualiteit en de crisis van het mannelijke subject op leeftijd in Een tweede jeugd, in: dies. (Hg.): Seksualiteit van ouderen. Een multidisciplinaire benadering, Amsterdam 2011, S. 291-313, insbes. S. 301. 6 | Lobel: About Schmidt, S. 163.

Zur Altersdarstellung im Film About Schmidt

Kontext wörtlich zu verstehen, im Rückgriff auf das altgriechische ›krínein‹, das ›unterscheiden‹, ›urteilen‹, ›richten‹ bedeutet. Bei einer Krise also sind zwei Zustände, etwa ein positiv und ein negativ beurteilter, klar voneinander getrennt; in der Situation kommt es zu einer Entscheidung entweder für die eine oder für die andere Seite.7 Schmidts Ausscheiden aus dem Berufsleben als eine Krise zu betrachten, hieße somit, in der filmischen Erzählung eine Zuspitzung auf die folgende Frage zu sehen: Wird der Protagonist neuen Sinn in seinem Leben finden, nachdem der Beruf als scheinbarer Sinngarant weggebrochen ist – ja oder nein? In den laufenden Debatten wird den in den Ruhestand Gegangenen als Ausweg aus der angeblichen Sinnkrise häufig empfohlen, eine Art von Engagement und Produktivität – sei sie auch unbezahlt – aufrechtzuerhalten. So kann man sich zu den aktiven, den ›jungen Alten‹ zählen8 – und sich von den ›alten Alten‹ abheben, die im selben Zug herabgesetzt werden.9 Handelt der Film als Krisenerzählung von der Frage, ob Schmidt dieser Weg offensteht oder versperrt ist? Im Folgenden soll gezeigt werden, dass es zu einseitig wäre, Schmidts Übergang in den Ruhestand, zum drohenden Geltungsverlust, zur Inaktivität, nur als Krise zu beschreiben – der Film hält durchaus auch andere Sinnmuster zur Einordnung des Geschehens bereit. Eines dieser weiteren Muster lässt sich unter den Begriff der Ambivalenz fassen, der seit den letzten Jahren besondere Aufmerksamkeit in Alter(n)sstudien findet.10 Miriam Haller erklärt, dass das Konzept der Ambivalenz in 7 | Karl Jaspers führt aus: »Im Gange der Entwicklung heißt Krisis der Augenblick, in dem das Ganze einem Umschlag unterliegt, aus dem der Mensch als ein Verwandelter hervorgeht, sei es mit neuem Ursprung eines Entschlusses, sei es im Verfallensein. Die Lebensgeschichte geht nicht zeitlich ihren gleichmäßigen Gang, sondern gliedert ihre Zeit qualitativ, treibt die Entwicklung des Erlebens auf die Spitze, an der entschieden werden muß.« Ders.: Allgemeine Psychopathologie, 5. unveränderte Aufl. Berlin/Heidelberg 1948, S. 586. 8 | Zu fragen bleibt, ob die Aktivitäts- und Produktivitätsanforderungen nur bestätigt werden, wenn die ›jungen Alten‹ sich auf diese Weise profilieren, oder ob nicht auch Spielräume für das Umdeuten, Verschieben, Aushöhlen und Unterlaufen der Vorgaben bestehen. Vgl. Silke van Dyk, Stephan Lessenich: Die »jungen Alten« zwischen Aktivität und Widerstand, in: dies. (Hg.): Die jungen Alten, S. 405-408; Silke van Dyk: The appraisal of difference: Critical gerontology and the active-ageing-paradigm, in: Journal of Aging Studies 31 (2014), S. 93-103, hier S. 101. 9 | Vgl. auch Barbara Pichler: Autonomes Alter(n). Zwischen widerständigem Potential, neoliberaler Verführung und illusionärer Notwendigkeit, in: Kirsten Aner, Fred Karl, Leopold Rosenmayr (Hg.): Die neuen Alten – Retter des Sozialen?, Wiesbaden 2007, S. 67-84. Nicht zuletzt im Kino sind Darstellungen von betont aktiven, engagierten Alten üblich geworden. Vgl. dazu Barbara Schweizerhof: Der Zwang zur Rüstigkeit. Über das Alter im Kino, in: epd Film (2009) H. 5, S. 20-25. 10 | Eine Grundlagendiskussion dazu wurde etwa auf dem Symposion »Alter(n) und Ambivalenz« unter der Leitung von Miriam Haller und Kirsten Aner im Rahmen des Kongresses »Stress und Altern – Chancen und Risiken« (Halle, 24.-29. September 2014) geführt.

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poststrukturalistischen Ansätzen »aus der zweiwertigen Logik des Entweder-Oder herausgelöst und in eine andere Logik eingeschrieben« wird, »die man als Logik einer dynamischen Doppelwertigkeit bezeichnen könnte«.11 In der Doppelwertigkeit beanspruchen »beide Pole einer Opposition gleichzeitig Gültigkeit«; so dienen Ambivalenzen dazu, »die Entscheidung zwischen den beiden Polen immer aufs Neue aufzuschieben« und ein »Dazwischen« zu formulieren, das »ein Sowohl-als-auch einbringt«.12 Mit diesem Konzept ist es möglich, über binäre Einordnungsschemata hinauszugehen, wie ›positives‹ oder ›negatives Altersbild‹, ›sinnvoll beschäftigt sein‹ oder ›nicht sinnvoll beschäftigt sein‹. Die ambivalente Altersdarstellung bewegt sich zwischen beiden Wertungspolen und stellt diese in Frage. In seine Überlegungen zum »homo ambivalens«13 bezieht Kurt Lüscher ein, dass Ambivalenzen unter anderem in Kunstwerken hergestellt werden können, etwa »in der Anlage der Werke« und »in den Details des z.B. sprachlichen, malerischen und musikalischen Materials«.14 Solche Elemente der Ambivalenz-Erzeugung finden sich gerade in About Schmidt und sind für die Darstellung der Sinnsuche des Protagonisten wesentlich. Um diese Aspekte des Films herauszuarbeiten, ist es notwendig, auch auf seinen Kunstcharakter einzugehen. So nahe es liegt, About Schmidt auf die skizzierten Debatten um angenommene Sinnkrisen, Aktivität und Produktivität von Rentnerinnen und insbesondere von Rentnern zu beziehen und die Altersbilder des Spielfilms als realistisch15 einzustufen 11 | Miriam Haller: Dekonstruktion der »Ambivalenz«. Poststrukturalistische Neueinschreibungen des Konzepts der Ambivalenz aus bildungstheoretischer Perspektive, in: Forum der Psychoanalyse 27 (2011) H. 4, S. 359-371, hier S. 361. 12 | Ebd., S. 361. Das unentschieden Bleibende stellen auch Hans Rudi Fischer und Kurt Lüscher heraus: »Ganz allgemein formuliert wird von Ambivalenz gesprochen, wenn von Gegensätzen die Rede ist, deren wechselseitiges Verhältnis als unbestimmt, schwebend, offen oder, kurz gesagt: dynamisch, als im Fluss erlebt, gesehen und beschrieben wird. [...] Das ›Entweder-Oder‹ wird zu einem ›Sowohl-als-Auch‹.« Dies.: Ambivalenz ergründen. Philosophische und anthropologische Ursprünge eines Begriffs, in: Familiendynamik 39 (2014) H. 2, S. 122-133, hier S. 123. Vgl. auch Thomas Küpper: Alter(n), Ambivalenz und Mimikry, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 49 (2016) H. 1, S. 20-23. 13 | Lüscher setzt den »homo ambivalens« nicht mit dem Menschen schlechthin gleich – ein möglicher Ansatz dieser Art wäre aus Lüschers Sicht zu normativ. Stattdessen ist gemeint, dass einige Menschen Ambivalenzerfahrungen machen können. Kurt Lüscher: Menschen als »homines ambivalentes«, in: Dieter Korczak (Hg.): Ambivalenzerfahrungen, Kröning 2012, S. 11-32, insbes. S. 11 u. S. 29. 14 | Vgl. ebd., S. 16. 15 | Vgl. zur Unterscheidung von ›realistisch‹ und ›unrealistisch‹ bezogen auf Altersbilder: Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Altersbilder in der Gesellschaft. Bericht der Sachverständigenkommission an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin 2010, insbes. Kapitel 2.4, S. 45-51.

Zur Altersdarstellung im Film About Schmidt

– das filmisch Erzählte lässt sich dennoch nicht mit irgendwelchen Realitäten außerhalb des Kinos verwechseln, da die filmische Inszenierung als solche erkennbar ist. Die Bilder des Films stellen zur Schau, dass sie Bilder sind: Beispielsweise zeigt eine Einstellung Schmidt sitzend in einer Badewanne, eingeschlafen beim Schreiben eines Briefes (TC: 00:44:22-00:44:27) so, dass der Gesamtaufbau dieses Bildes an Jacques-Louis Davids Gemälde La Mort de Marat (1793) erinnert.16 Unabhängig von der Frage, wie der Bezug auf David eingeordnet werden kann,17 ist festzustellen, dass die Bilder von About Schmidt nicht als bloße Abbilder einer Realität dargeboten werden, sondern spielerisch einen Eigenwert als Bilder für sich beanspruchen. Daher lassen sich diese Bilder nicht in erster Linie so behandeln, als wäre gleichsam durch sie hindurch – unter Vernachlässigung ihres Bildstatus’ – eine Realität zu schauen, die der außerfilmischen Realität unmittelbar entsprechen könnte. Vielmehr muss die Bildlichkeit des Spielfilms – oder allgemeiner: sein Formenspiel, seine Ästhetik – bei der Diskussion seiner Alterskonzepte mitberücksichtigt werden.18 Ästhetisch kommen die Ambivalenzen der Altersdarstellung vor allem dadurch zustande, dass der Film in seiner Farbigkeit auf den Registern des Grau spielt und dass er Elemente der Genres Roadmovie und Tragikomödie aufgreift. Das Grau lässt sich als Farbton der Unentschiedenheit zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Hell und Dunkel betrachten. Das Genre Tragikomödie schließt bereits nach seiner Bezeichnung ein Sowohl-als-Auch der Gegensätze Tragik und Komik ein und legt Weinen und Lachen gleichzeitig nahe. Nicht zuletzt bietet auch das Roadmovie Spielräume für Ambivalenzen, indem sein typischer Held einerseits als Außenseiter erscheint, als jemand, der in die gesellschaftliche Ordnung nicht eingelassen ist, andererseits aber als frei und als jemand, der jene Ordnung in Frage stellt. Um nun der Frage nachzugehen, inwiefern die in About Schmidt erzählte Geschichte vom Alter(n) dem Schema der Krise oder dem Prinzip der Ambivalenz

16 | Die Anspielung auf das Gemälde wird in der Rezeption des Films gelegentlich hervorgehoben, wie etwa folgender Post zeigt: Alison [Headley]: dear ndugu. In: bluishorange [Weblog], 8.7.2003, http://www.bluishorange.com/2003/07/08/dear-ndugu/ [Zugriff: 26.5.2015]. 17 | Eine Verbindungslinie zwischen Davids Gemälde und dem Film könnte etwa darin gesehen werden, dass das Gemälde unter anderem einen Brief zeigt, in dem bestimmt wird, ein beigelegter Geldschein sei einer Kriegswitwe zu übergeben. Marat, als Wohltäter vorgestellt, wird ironisch zum Vor-Bild für die Inszenierung von Schmidt genommen, der ebenfalls mit finanziellen Mitteln zum Wohltäter wird. 18 | Sabine Kampmann weist darauf hin, dass Altersbilder nicht zuletzt als Bilder betrachtet werden müssen. Vgl. dies.: Images of Ageing. Perspektiven einer bildwissenschaftlichen Altersforschung, in: Ines Breinbauer, Dieter Ferring, Miriam Haller, Hartmut MeyerWolters (Hg.): Transdisziplinäre Alternsstudien. Gegenstände und Methoden, Würzburg 2010, S. 267-285.

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entspricht, gilt es zunächst genauer zu sehen, wie die Farbe Grau und die GenreBezüge in dem Film eingeführt werden.

A bout S chmidt als gr aues R oadmovie und Tr agikomödie

Abb. 1: Plakat zu dem Film About Schmidt (2002)19

19 | Copyright für alle Abbildungen in diesem Beitrag: New Line Cinema, Warner Bros.

Zur Altersdarstellung im Film About Schmidt

Bereits auf dem verbreiteten Kinoplakat zu About Schmidt ist die Farbe Grau tonangebend: Sie verbindet die abgebildete Titelfigur mit der Straße und dem bedeckten Himmel. Dadurch wird ein Zusammenhang zwischen der Altersdarstellung und dem Genre Roadmovie hergestellt: Schmidt ist mit grauem zerzausten und ungepflegten Haupthaar, runzeliger Haut und grauem Dreitagebart zu sehen, hinter dem Mann die ähnlich getönte Straße, die zum Horizont führt, einem ebenso grauen Himmel entgegen. Somit steht das Grau nicht zuletzt für das Freiheitsversprechen, das für Roadmovies wesentlich ist: Sowohl die ungepflegten Haare als auch die scheinbar endlos weiterführende Straße und der Himmel lassen sich mit der genrespezifischen Verheißung von Freiheit in Zusammenhang bringen. Freilich erscheint das Grau eintönig und nicht als etwas Abwechslungsreiches, Buntes, Grell-Farbiges, das zu erfahren oft mit Freiheit assoziiert wird. Die Freiheit in diesem Roadmovie ist nicht ausschließlich positiv bewertet wie eine Freiheit zum Glück; eher handelt es sich bei der Freiheit des Grau um ein Entlassen-Sein aus der Ordnung, das nicht eindeutig positiv oder negativ bewertbar ist. Indem das Grau keinen farblichen Akzent darstellt, verleiht es der Hauptfigur Schmidt Unauffälligkeit – entsprechend der eingangs zitierten Feststellung, dass Schmidt als Allerweltsmann erscheint; in diesem Zusammenhang wäre auch an gängige Redeweisen wie die von der ›grauen Maus‹ zu denken. Zudem wird Grau oft mit Tristesse sowie nicht zuletzt mit Alt-Sein und – besonders die Farbe Aschgrau – mit Nähe zum Tod in Verbindung gebracht. Welche Vorstellungen in einigen Kontexten mit dem Farbton Grau verknüpft sind, zeigt sich etwa in der »Klassischen Walpurgisnacht« von Goethes Faust, in der ein Greif sich schnarrend dagegen verwahrt, mit einem Greis verwechselt zu werden, und das Wort »Grau« in einer Reihe mit »grämlich, griesgram, gräulich, Gräber, grimmig« nennt.20 Betrachtet man solche überkommenen Laut-, Wort- und Vorstellungsketten, liegt die Frage nahe, wie ein Roadmovie als Hollywood-Farbfilm seine Reize gerade aus dem Spiel mit dem Grau gewinnen kann. Der mit Grau assoziierte Griesgram aber kommt durchaus als Hauptfigur eines Roadmovies in Betracht – schließlich kann ein solcher Charakter sich dadurch auszeichnen, dass er, wie vom Genre gefordert, mit der bestehenden Ordnung nicht übereinstimmt. Überdies passt die Farbe Grau dazu, dass das Genre Roadmovie eine Kinoeigene Nische für Figuren bildet, die sich mit Sinn- und Identitätsfragen auf den Weg machen, ohne dass sie ein eigentliches Ziel erreichen könnten. Wenn Schmidt als ergrauter Sinn-Suchender durch eine graue Welt fährt, eröffnet sich keine strahlende, leuchtende Perspektive; jegliche Sicht scheint eingetrübt, geradezu durch den sprichwörtlichen Grauschleier verhängt zu sein. Das Suchen wird 20 | Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil (2. Akt, V. 7093-7097), in: ders.: Faust. Texte, hg. von Albrecht Schöne, Frankfurt a.M. u. Leipzig 2003, S. 288. Vgl. Hannelore Schlaffer: Die Dauer der Vergänglichkeit. Eine kleine Betrachtung über die »Nicht-Farbe« Grau, in: Neue Zürcher Zeitung vom 19.06.2003, http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/article8W5YP-1.266676 [Zugriff: 20.03.2015].

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auf diese Weise visualisiert. Dieses Suchen aber kann eine Krise oder auch Ambivalenz bedeuten: eine Krise insofern, als es letztlich erfolgreich oder erfolglos sein kann, und Ambivalenz insofern, als es sich unablässig zwischen den Polen von Erfolg und Misserfolg, Erfüllung und Mangel bewegen kann.21 Das Kinoplakat als eine Art von Aushängeschild des Films ordnet diesen jedoch nicht nur dem Genre Roadmovie zu, sondern auch der Tragikomödie. Die auf dem Poster vorgestellte Titelfigur ermöglicht ein Vaszillieren22 zwischen dem Komischen und dem Tragischen: Mit dem Schlafanzug, den er unter dem Mantel trägt, und dem ungepflegten Haar erscheint Schmidt, einem Altersstereotyp entsprechend, ›over the hill‹ – an dieser Figur lassen sich sowohl karikaturhafte23 Züge ausmachen, die zum Spott anreizen, als auch ernste Züge; Schmidts Blick etwa kann als Ausdruck von Leid und Verzweiflung aufgefasst werden. Mithin kommen auch durch die Art, wie Schmidt auf dem Plakat als Hauptcharakter einer Tragikomödie präsentiert wird, bereits Ambivalenzen zustande. Entsprechende Genre-Bezüge finden sich auch in der Eingangssequenz des Films, die bis ins Detail durchkomponiert ist. Zu Anfang von About Schmidt werden Panoramaansichten und Totalen des Stadtzentrums von Omaha in Nebraska gegeben. Auf jeder von ihnen ist der Woodmen Tower zu sehen, der Hauptsitz der »Woodmen of the World«-Versicherungsgesellschaft (TC: 00:00:19-00:00:59). Der Himmel ist bedeckt und die von Beton geprägte Stadtlandschaft erscheint in einem tristen Grau in Grau – damit wird die Leitfarbe des Films eingeführt. Von Einstellung zu Einstellung ist der Woodmen Tower näher sichtbar, bis er von einem unmittelbar vor ihm liegenden Standpunkt aus aufgenommen, in extremer Untersicht gezeigt wird (s. Abb. 2). Der Film wirkt so, als würde er schneller, weil die Einstellungen kürzer werden; zudem sind allmählich lautere Geräusche vom Straßenverkehr zu hören, die Vorstellungen von Betriebsamkeit und Geschäftigkeit hervorrufen.

21 | Eine entsprechende Ambivalenz des dauerhaften Suchens wird in der Diotima-Rede von Platons Symposion vor Augen geführt: Eros als Suchender, als Mittelwesen zwischen Unsterblichen und Sterblichen, ist das Kind von Poros und Penia, dem Reichtum und der Armut, dem Quellenzugang und der Bedürftigkeit. Gerade diese Zwischenposition macht das Wesen des Eros als eines Daimons aus, der zugleich findig (pórimos) und unbeschuht ist (Plato: The Symposium, hg. v. Robert Gregg Bury, 2. Aufl. Oxford 1932, S. 97-103, Stephanus-Paginierung 202d-203e). 22 | Vgl. zu dem im Deutschen wenig gebräuchlichen Begriff des ›Vaszillierens‹ Kurt Lüscher, Hans Rudi Fischer: Ambivalenzen bedenken und nutzen, in: Familiendynamik 39 (2014) H. 2, S. 84-95, hier S. 86. 23 | Kathleen Woodward weist darauf hin, dass die Figur Schmidt bereits in der Zeit, in der der Film anläuft, anachronistisch und karikaturhaft erscheint. Dies.: Performing Age, Performing Gender, in: The National Women’s Studies Associaton (NWSA) Journal 18 (2006) H. 1, S. 162-189, hier S. 165.

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Abb. 2: About Schmidt, TC: 00:00:58

Abb. 3: About Schmidt, TC: 00:00:59 Die darauf folgende Einstellung zeigt in Vogelperspektive einen Mann im Anzug, Schmidt, allein im Büro sitzend (s. Abb. 3). Diese extreme Aufsicht korrespondiert mit der vorigen extremen Untersicht. Vor allem dadurch, dass die Außenaufnahmen das Gebäude in immer geringerer Entfernung zeigten, ist der Wechsel zur Innenaufnahme vorbereitet. Dennoch setzt sich die Einstellung, in der Schmidt im Büro zu sehen ist, erheblich von den vorausgegangenen ab. Unter anderem ist das Licht nun ein anderes: An die Stelle des trüben Tageslichts ist ein künstliches Licht getreten, das größtenteils durch den dunkelblauen Teppichboden im Raum absorbiert wird. Der Eindruck reger Betriebsamkeit, der zuvor durch die kürzer gewordene Einstellungslänge und durch das verstärkte Motorengeräusch

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zustande kam, gelangt zu einem abrupten Ende: Die Einstellung, die Schmidt zeigt, ist weitaus länger als die letzten; überdies sitzt Schmidt ganz unbeweglich und still an einem Schreibtisch. Diese Ruhe kontrastiert mit dem Straßenlärm und der mit ihm assoziierten Schnelligkeit, Hektik und Geschäftigkeit. Das Büro erscheint fast leer, im Hintergrund sind ganz geordnet Umzugskisten gestapelt, mitten auf der Schreibtischplatte liegt griff bereit ein verschlossener Aktenkoffer. Mit dem Büro, das aufgelöst wird, steht Schmidt sichtlich in einer besonderen Beziehung – das Blau des Teppichbodens und der Wände korrespondiert mit dem leicht silbrigen Blau von Schmidts Anzug. Der Protagonist ist mit keiner Arbeit beschäftigt und starrt zur Seite hin. Die extreme Aufsicht verstärkt den Eindruck von Einsamkeit und Leere, indem diese Perspektive den Mann klein und separiert erscheinen lässt. Die Kargheit des Zimmers und Schmidts Untätigkeit verhalten sich geradezu ironisch zur vorigen Aufnahme vom Gebäude in extremer Untersicht (s. Abb. 2): Der Tower erweckte, auch durch die Perspektive, den Eindruck von nüchtern-geometrischer Konstruktion und somit von Modernität und Effizienz. Von einer ähnlichen Nüchternheit ist Schmidts Büro gekennzeichnet, vor allem dadurch, dass es perfekt aufgeräumt beziehungsweise ausgeräumt ist; allerdings ist diese Nüchternheit bei Schmidt keineswegs mit Produktivität verknüpft, wenn er regungslos dasitzt und unablässig starrt. Den Gegenstand, den sein Blick fixiert, zeigen die nächsten Einstellungen: eine Wanduhr mit Sekundenzeiger, auf der es fünf Uhr wird. Wie sehr Schmidt seinen Blick allein und unbeweglich auf die Zeigeruhr heftet, wird in dem Moment deutlich, als eine Nahaufnahme des Gegenstands von einer korrespondierenden Nahaufnahme von Schmidts Gesicht abgelöst wird. Darauf folgt eine Detailaufnahme von den Uhrzeigern, die die Position fünf Uhr erreichen – die Detailaufnahme hebt die Bedeutung dieses Ereignisses hervor (s. Abb. 4). Das Publikum kann vermuten, dass das derart inszenierte Ereignis für Schmidt einschneidend ist: dass für ihn die Zeit des Berufslebens abläuft, dass er also nun die durch die Uhr symbolisierte zeitliche Ordnung des Beschäftigt-Seins verlässt.24 Während die Kamera dieses Ereignis einerseits durch die Einstellungsgröße hervorhebt, wird es andererseits herabgesetzt: Indem der Film das Ende von Schmidts Berufstätigkeit durch die vorrückenden Zeiger markiert, banalisiert er es.25 Die zeitliche Ordnung, aus der Schmidt ausscheidet, erscheint leer; er verfolgt die Bewegungen der Uhrzeiger nicht, um in der Zeit eine Arbeit abzuschlie24 | Vgl. Thomas Wolman: Psychological Aspects of Retirement: About Schmidt (2002), and Everybody’s Fine (2009), in: American Journal of Psychoanalysis 71 (2011) H. 2, S. 134-145, hier S. 136f. 25 | Girish Shambu (About Schmidt: Is That All There Is?, in: Senses of Cinema: An Online Film Journal Devoted to the Serious and Eclectic Discussion of Cinema 25 (2003), http:// sensesofcinema.com/2003/feature-articles/about_schmidt/ [Zugriff: 1.10.2014]) führt an diesem Beispiel vor Augen, durch welche Ökonomie der Sparsamkeit sich der Stil des Films auszeichnet, und zugleich: durch welche Eloquenz.

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ßen, sondern nur, um sich von ihnen vorgeben zu lassen, wann er seine Tätigkeit offiziell beendet. Somit wird fraglich, wie sinnerfüllt Schmidts Tätigkeit war. Das Aufhören wird auf den (Zeit-)Punkt zugespitzt, insofern dramatisiert, zugleich aber auch entdramatisiert dadurch, dass es kaum als Handlung (insbesondere nicht als bedeutungsvolle oder einzigartige Tat) betrachtet werden kann. Bereits darin ist etwas Tragikomisches angelegt.

Abb. 4: About Schmidt, TC: 00:01:24 In den nächsten Einstellungen des Films ist zu sehen, wie Schmidt den Koffer nimmt, aufsteht, noch einmal einen Blick in das Büro wirft, das Licht ausmacht, das Zimmer verlässt und die Tür schließt. Über die Filmbilder des von Schmidt verlassenen und dunkel gewordenen Raums werden weiße Buchstaben gelegt: der Filmtitel About Schmidt (TC: 00:01:59). Zudem hebt eine ruhige extradiegetische Filmmusik an. Der Titel und die einsetzende Musik machen deutlich, dass sozusagen die Geschichte, die der Film erzählt, just damit beginnt, dass Schmidts Berufsleben endet. Der Schauplatz des folgenden Geschehens ist dem Büro entgegengestellt: Schmidt erscheint vom Innenraum in einen Außenraum versetzt – auf die Straße. Der Außenraum tut sich auf durch eine Kamerafahrt im wörtlichen Sinne: Man sieht durch die Frontscheibe eines bei Nacht durch Regen fahrenden Autos (s. Abb. 5). Diese Einstellung ist mit dem Schluss der Büroszene eng verknüpft, da nicht nur die weiter gespielte extradiegetische Musik einen Übergang bildet, sondern auch Geräusche von der Fahrt und vom Wetter laut werden, die bereits während der letzten Bilder vom Büro zu hören waren. Insbesondere auch die Dunkelheit am Ende der Büroszene bereitete die Dunkelheit der Nacht vor, durch die sich das Auto fortbewegt. Da nun die Sicht aus dem fahrenden Auto unmittelbar mit dem Filmtitel verbunden ist, kommt ihr zentrale Bedeutung für den Film zu. Diese Einstellung kennzeichnet About Schmidt als Roadmo-

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vie; darin liegt ein Bezug des Films auf sich selbst. Mehrere Elemente, die in dieser Einstellung gezeigt werden, können nämlich als Anspielungen auf das Kino betrachtet werden: Zunächst korrespondiert das nächtliche Schwarz mit dem Kinosaal als dunklem Raum. Auch indem er Straßenlaternen und bunte Leuchtwerbungen sowie ihre Reflexe auf dem nassen Asphalt zeigt, erinnert der Film an das Kino als Lichtspieltheater. Nicht zuletzt gehört die gestrichelte Linie, an der das Auto entlangfährt, zu diesen Bezügen auf das Kino: In Roadmovies verweist das Asphaltband »mit der gestrichelten Linie, die am Horizont verschwindet, [...] auf den Film, und zwar auf seine Materialität, auf die sich abspulende perforierte Filmrolle – beide scheinbar endlos«.26 In der nächsten Einstellung wird ersichtlich, dass Schmidt am Steuer sitzt: Aus der Arbeitswelt ausgeschieden, von seinen Aufgaben entbunden, befindet er sich mit seinem Auto auf dem offenen Asphalt.

Abb. 5: About Schmidt, TC: 00:02:03 Die Zeit, der er beim Fahren angehört, ist sichtlich eine andere als die der Büroszene: Nicht mehr der Sekundenzeiger einer Uhr im Innenraum gibt den Takt an; vielmehr sind es nun die Scheibenwischer außen am Auto sowie die Striche auf dem Asphalt, von denen die Wahrnehmung der Fahrgeschwindigkeit und -zeit geprägt wird. Der Kreislauf der Zeiger auf der Uhr stand für die Ordnung der in der jeweiligen Stunde beziehungsweise am jeweiligen Arbeitstag zu erfüllenden Pflichten; hingegen verheißen die auf den Horizont zulaufenden gestrichelten Linien Freiheit. Somit korrespondiert der Rentner, der auf der Straße durch die Nacht fährt, mit der Freizeitwelt des Kinos. In dem ständigen Hin-und-Zurück der Scheibenwischer liegt freilich etwas Immergleiches, das nicht allmählich zu 26 | Amelie Soyka: Raum und Geschlecht. Frauen im Roadmovie der 90er Jahre, Frankfurt a.M. 1992, S. 29.

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einem Ziel führt, nicht fortlaufend zu etwas hinstrebt, sondern jede Bewegung wieder rückgängig macht und alles Erreichte zerschlägt. Schmidts Gefühl, dass sein Leben sinn- oder bedeutungslos sein könnte, wird somit bereits durch die Scheibenwischer als Motiv des Roadmovies symbolisiert. Dem Bild der Ziellosigkeit entspricht, dass er und seine Frau (June Squibb) als Beifahrerin starr, wie ins Leere, aus dem Auto schauen. Auf diese Weise wird in den ersten Einstellungen des Films ein Zusammenhang zwischen den Altersfiguren und dem Genre hergestellt. Untypisch für ein Roadmovie ist die besagte Autofahrt insofern, als sie ein Ziel hat: Schmidt ist auf dem Weg zu seiner Verabschiedungsfeier, während das Ziel des Fahrens in dem Genre üblicherweise offen, unbekannt oder unbestimmt bleibt. Indessen verweist die Bildsprache der beschriebenen Einstellungen deutlich auf das Genre – vor allem durch den herausgestellten Gegensatz von geschlossenem Büro-Raum und offenem Asphalt. Schmidts späteres Umherfahren mit einem Wohnmobil ist durch die Vielheit der bereisten Orte weniger auf ein einziges Ziel festgelegt und entspricht somit noch stärker den gängigen Strukturen des Genres. Besonders prägnant wird der Bezug auf das Genre, als die Route 66 zum Schauplatz des Geschehens wird (TC: 00:50:20), die aus Roadmovies wie Easy Rider bekannt ist, bei dem Jack Nicholson bereits mitspielte.27 Durch den Schauplatz aber wird nicht nur die Geschichte des Genres zitathaft aufgerufen; vielmehr verweist die in den Filmbildern sichtbare Zahl 66 auch auf Schmidts Alter – damit wird abermals ein enger Zusammenhang zwischen dem Rentenalter und dem Asphalt hergestellt. Auch die Farbe Grau als ein den alten Mann, die Straße und den Himmel verbindendes Element ist in dieser Sequenz zentral. Durch das fortwährende Grau wird die Tristesse und Erfolglosigkeit von Schmidts Reise visualisiert. Schmidt kann als Variation der typischen Hauptfiguren von Roadmovies betrachtet werden. Wie Norbert Grob und Thomas Klein erklären, sind diese Figuren »keine über sich hinauswachsenden Helden [...]. Sie sind eher Suchende, die ihr Leben nicht in den Griff kriegen. Also ziehen sie los, von Stadt zu Stadt, um herauszufinden, was noch geschieht, irgendwie hoffend, dass so auch etwas mit ihnen geschieht.«28 Weiter führen die Autoren aus, dass sich die Protagonisten zwar auf den Weg machen, doch »ohne Hoffnung darauf, irgendwo wirklich anzukommen«.29 Auf seiner Fahrt ins Graue zählt Schmidt zu solchen Umherschweifenden.

27 | Vgl. zum Zusammenhang der Filme About Schmidt und Easy Rider auch Katie Mills: The Road Story and the Rebel. Moving Through Film, Fiction, and Television, Carbondale 2006, S. 201. 28 | Norbert Grob, Thomas Klein: Das wahre Leben ist anderswo ... Road Movies als Genre des Aufbruchs, in: dies. (Hg.): Road Movies, Mainz 2006, S. 8-20, hier S. 9. 29 | Ebd., S. 10.

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Gabriele Mueller macht indes auf einen Unterschied dieses Protagonisten zu vielen anderen Helden von Roadmovies aufmerksam: Im Gegensatz zu den Letzteren sei Schmidt nicht unwillig, die Regeln der Gesellschaft zu befolgen; er versuche innerhalb der Gesellschaft eine Position zu erlangen, die ihm allerdings verweigert werde – weder sein Nachfolger im Versicherungsunternehmen (Matt Winston) noch seine Tochter (Hope Davis) erlaubten Schmidt, die von diesem beanspruchte Rolle eines Patriarchen einzunehmen.30 In dieser Hinsicht erfährt Schmidt den Generationswechsel als Verlust. Zugleich aber erkundet der Protagonist die Freiheit, die sich ihm als Einsamem eröffnet, und weiß einige ihrer Seiten offensichtlich zu schätzen: Nachdem seine Frau gestorben ist und er bemerkt hat, dass sie ihm einst untreu war, uriniert er ostentativ erstmals zu Hause im Stehen (TC 00:48:20-00:49:15).31 Die bisherigen Beobachtungen lassen vermuten, dass die Altersdarstellung des Films vor allem von Ambivalenzen geprägt ist: Schmidt, unterwegs, ohne eigentliche Ziele zu erreichen, sich durch ein Grau in Grau fortbewegend, nimmt Zwischenstellungen von der Art ein, die für Ambivalenzen kennzeichnend sind. Nachdem er sein Büro als feststehenden Arbeitsplatz aufgeben musste, wechselt er über zum Wohnmobil als einem Ort, der buchstäblich nicht verankert ist. Im Sinne von Michel Foucault 32 könnte man bei diesem Ort des Frei(gestellt)seins von einer Heterotopie sprechen: von einem ›anderen Ort‹, der sich jenseits der vorherrschenden Ordnung befindet. An ihm stellen sich keine Aufgaben, keine Produktivitätsanforderungen, er bietet keine dauerhafte Anbindung.33 Dadurch aber erscheint dieser Ort keineswegs bloß abgewertet gegenüber der Ordnung der sogenannten Leistungsgesellschaft; vielmehr hält er ein Irritationspotenzial bereit, mit dem er ihre Prinzipien selbst in Frage stellt. Bei Heterotopien handelt es sich um »Orte, an denen die zu einer Zeit vorgegebenen Normen nicht völlig durchgesetzt sind und die somit die Möglichkeit der Reflexion und Problematisierung gegebener Normen« eröffnen.34 Indem Schmidts Wohnmobil als Heterotopie betrachtet werden kann und nicht einseitig als Ort fehlender Integration in die 30 | Mueller: The Aged Traveler, S. 155. 31 | Vgl. Wolman: Psychological Aspects of Retirement, S. 140. 32 | Vgl. Michel Foucault: Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 317-327. Foucault zählt nicht zuletzt das Alter zu den Heterotopien, unter anderem zu den Abweichungsheterotopien: Die dem Alter in der Gesellschaft zugeschriebene Untätigkeit gelte als Abweichung (ebd., S. 322). 33 | Zu Schmidts Wohnmobil als ›anderem Ort‹ vgl. Thomas Küpper: Filmreif. Das Alter in Kino und Fernsehen, Berlin 2010, S. 15f. 34 | Miriam Haller: Altersbilder und Bildung. Bildungstheoretische Überlegungen im Anschluss an Michel Foucaults Konzept des Alters als Heterotopie, in: Vera von Achenbach, Barbara Eifert (Hg.): Werkbuch: Junge Bilder vom Alter, Essen 2011, S. 208-226, hier S. 217.

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Welt der Arbeit und der Verbindlichkeiten zu sehen ist, sondern zugleich auch als Ort der Freiheit, werden Ambivalenzen des in dem Roadmovie aufscheinenden Altersbildes deutlich. Auch das Tragikomische des Films trägt erheblich zu diesen Ambivalenzen bei. Es kommt insbesondere durch die Art der Briefe zustande, die Schmidt seinem über eine Spendenorganisation vermittelten Patenkind schreibt, dem sechsjährigen, in Tansania lebenden Ndugu. Der Rentner aus der US-amerikanischen Mittelschicht berücksichtigt weder das Alter noch die Lage des Adressaten hinreichend, wenn er eigene Erfahrungen und Einstellungen in den Briefen beschreibt: Schmidt erzählt Ndugu etwa von Eheproblemen sowie von Ärgernissen und Enttäuschungen im Berufsleben, die der Letztere kaum begreifen kann. Durch den unpassenden Adressatenbezug erlangen auch bittere Schilderungen eine belustigende Seite. Zudem kann der Umstand, dass Schmidt dem Patenkind so viel Unangemessenes mitteilt, als solcher bereits tragisch und komisch zugleich wirken; schließlich verweist er auf Schmidts Einsamkeit, die möglicherweise Mitleid erweckt, aber auch auf eine Weltfremdheit, die vom Publikum belächelt werden kann. Überdies werden Schmidts Briefe an Ndugu im Film konterkariert und ins Komische gerückt durch die Art der Bild-Ton-Montage: Während Schmidts Stimme zu hören ist mit den Formulierungen, die er an Ndugu richtet, sieht man Aufnahmen, die das von Schmidt Gesagte zum Teil hintertreiben. Beispielsweise erklärt dieser mit Blick auf die eigene begrenzte Lebenserwartung nach dem Tod seiner Frau dem Patenkind: »Life is short, Ndugu, and I can’t afford to waste another minute« (TC: 00:42:08-00:42:13). Komisch erscheint diese Mitteilung nicht nur insofern, als man annehmen muss, dass Ndugu als von Hunger bedrohtes Kind in Tansania die Kürze des Lebens anders erfährt als Schmidt, sondern auch insofern, als die Formulierung von Aufnahmen begleitet wird, die zeigen, wie Schmidt verwahrlosend bei laufendem Fernsehgerät vor sich hindämmert. Im Weiteren versichert der Protagonist dem Kind, es wäre stolz auf ihn, wenn es sähe, wie er nun als Witwer den Haushalt manage; dabei aber ist zu sehen, dass die Küche sehr verkommen und verdreckt ist (TC: 00:42:55). Dass solche Ambivalenzen, solche unauflöslichen Verbindungen von Tragik und Komik, in der modernen Gattung der Tragikomödie verankert sind, betont auch Karl S. Guthke. Für ihn bietet die Gattung die Möglichkeit einer Erfahrung, bei der das »vertraute Denkschema des Entweder-Oder«35 versagt. Es handle sich dabei um »die Erfahrung der Gleichzeitigkeit und Identität des Schmerzlich-Ernsten und des Lächerlichen«.36 Schon Jean Paul reflektiert derartige Ambivalenzen in seiner Vorschule der Ästhetik: Humor verknüpfe mit der »kleinen«, irdischen Welt die unendliche, sodass »jenes Lachen« entstehe, in dem »noch ein

35 | Karl S. Guthke: Die moderne Tragikomödie. Theorie und Gestalt, aus dem Amerikanischen übers. v. Gerhard Raabe unter Mitarbeit des Verfassers, Göttingen 1968, S. 64. 36 | Ebd., S. 64.

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Schmerz und eine Größe« sei.37 Für den Humor gebe es »keine einzelne Thorheit, keine Thoren, sondern nur Thorheit und eine tolle Welt«; er hebe – »ungleich dem gemeinen Spaßmacher mit seinen Seitenhieben – keine einzelne Narrheit heraus«, vielmehr erniedrige der Humor »das Große, [...] um ihm das Kleine«, und erhöhe »das Kleine, [...] um ihm das Große an die Seite zu setzen und so beide zu vernichten«, denn »vor der Unendlichkeit« sei »alles gleich [...] und Nichts«.38 Mit vergleichbaren Begriffen von Humor könnten Schmidts tragikomische Briefe an Ndugu in Verbindung gebracht werden: Das schmerzlich zum Lachen Anreizende dieser Briefe machte aus dieser Sicht nicht Schmidt als einzelne Figur zur Zielscheibe von Spott; vielmehr stünden die von Schmidt aufgegriffenen Maßstäbe der Gesellschaft, in der er lebt, auf dem Spiel – vor dem notleidenden tansanischen Kind erwiesen sich alle diese Maßstäbe, etwa die des Erfolgs im Beruf, im Aktiv-Sein, im Management, oder allgemein die für die Nicht-Verschwendung des ›kurzen Lebens‹, als relativ und fraglich. Durch die Ambivalenzen der Altersdarstellung würde demnach eine humorvolle Sicht auf die gesamte Gesellschaft eröffnet. Zu fragen bleibt indessen, ob die filmisch erzählte Geschichte vom Alter(n) nicht in anderer Hinsicht dem Schema der Krise folgt. Diese ebenfalls denkbare Perspektivierung des Geschehens soll im Folgenden diskutiert werden.

A bout S chmidt – eine G eschichte vom E rfolg im A lter ? Das Grau, das für die Ästhetik von About Schmidt wesentlich ist, lässt sich nicht nur als Farbton der Ambivalenz betrachten, sondern auch als solcher der Krise. Es weckt die Frage, ob es sich noch in etwas Bunteres auflöst oder nicht. Allgemein ruft die Wahrnehmung der Farbe Grau oft die Vorstellung von Farbigkeit als Gegensatz auf. Diese Dynamik wird in der Kunst reflektiert. Joseph Beuys etwa erklärt programmatisch: »Grau könnte man als eine Neutralisierung oder als ein Bild der Neutralisierung im Bereich der Farbigkeit nehmen. Ich nehme dieses Grau, um etwas zu provozieren im Menschen, so etwas wie ein Gegenbild, man könnte fast sagen: den Regenbogen im Menschen zu erzeugen ...«39 Ein filmisches Beispiel für einen Wechsel vom Grau zur Farbigkeit, zum Regenbogen, ist etwa The Wizard of Oz (US 1939) von Victor Fleming, Richard Thorpe und King 37 | Jean Paul: Vorschule der Aesthetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit. Erste Abtheilung, 2., verb. u. vermehrte Aufl., Stuttgart/Tübingen 1813, S. 248 (§ 33: »Die vernichtende oder unendliche Idee des Humors«). 38 | Ebd., S. 237f. (§ 32: »Humorische Totalität«). 39 | Wenn sich keiner meldet, zeichne ich nicht. Gespräch zwischen Joseph Beuys, Heiner Bastian, Jeannot Simmen. Düsseldorf, 8. August 1979, in: Joseph Beuys: Zeichnungen. Tekeningen. Drawings. Ausst.-Kat. Museum Boymans-van Beuningen Rotterdam; Nationalgalerie Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz; Kunsthalle Bielefeld, München 1979, S. 29-40, hier S. 33.

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Vidor.40 Es liegt auf einer ähnlichen Linie, wenn in About Schmidt das vorherrschende Einheitsgrau zum Schluss durchbrochen wird, als der Protagonist eine bunte Kinderzeichnung betrachtet: In einem Brief erhält Schmidt diese Zeichnung von Ndugu, die beide Hand in Hand zusammenstehend unter strahlend blauem Himmel zeigt (TC: 01:54:13). Durch das farbige Bild scheint nicht nur das Grau überwunden, sondern auch Schmidts Isolation. Insofern könnte der Eindruck entstehen, als erzählte der Film in erster Linie eine Geschichte vom Erfolg im Alter: So wenig adressatengerecht Schmidts Briefe an Ndugu auch immer sein mögen, letztlich kommt eine Verbindung zwischen beiden zustande, die Schmidt so viel bedeutet, dass er beim Anblick des Bildes weint. Die Übernahme der Patenschaft erwiese sich aus dieser Sicht als entscheidend: als habe der Rentner durch sein soziales Engagement seine Krise bewältigt. Obwohl solche Erzählmuster gegenwärtig sehr verbreitet sind, kann bezweifelt werden, dass sie den Film About Schmidt grundlegend prägen. Insbesondere läge eine zu einseitige Sicht darin, den Film primär von seinem Ende her zu deuten – durch sie würde der zwischenzeitliche Reiz unterschätzt, der von dem Grau als einem dem Alter sowie der Straße und ihrem Freiheitsversprechen zugeordneten Farbton bei aller Tristesse ausgeht, als Kolorit eines ›anderen Ortes‹, der zwischen Befreiung und Ausschluss sowie zwischen Tragik und Komik schwebt. Während heute oft von Krisen und Erfolgen des Alters die Rede ist, kann das Besondere dieses Films gerade darin gesehen werden, dass er Perspektiven auf Ambivalenzen im Alter eröffnet – kommen doch mit diesen Ambivalenzen Möglichkeiten in Betracht, übliche Schemata der Bewertung des Alters zu unterlaufen.

Q uellenverzeichnis Filme About Schmidt (US 2002, Regie: Alexander Payne). Easy Rider (US 1969, Regie: Dennis Hopper). The Wizard of Oz (dt. Der Zauberer von Oz oder Das zauberhafte Land, US 1939, Regie: Victor Fleming, Richard Thorpe, King Vidor).

Primärtexte Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Texte, hg. von Albrecht Schöne, Frankfurt a.M./ Leipzig 2003. Jean Paul: Vorschule der Aesthetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit. Erste Abtheilung, 2., verb. u. verm. Aufl. Stuttgart/Tübingen 1813. 40 | Vgl. auch Susanne Marschall: Farbe im Kino, Marburg 2005, S. 35.

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[Headley,] Alison: dear ndugu, in: bluishorange [Weblog], 8.7.2003. http://www. bluishorange.com/2003/07/08/dear-ndugu/ [Zugriff: 26.5.2015]. Plato: The Symposium, hg. v. Robert Gregg Bury, 2. Aufl., Oxford 1932. Wenn sich keiner meldet, zeichne ich nicht. Gespräch zwischen Joseph Beuys, Heiner Bastian, Jeannot Simmen. Düsseldorf, 8. August 1979, in: Joseph Beuys: Zeichnungen. Tekeningen. Drawings, Ausst.-Kat. Museum Boymans-van Beuningen Rotterdam; Nationalgalerie Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz; Kunsthalle Bielefeld, München 1979, S. 29-40.

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Zur Altersdarstellung im Film About Schmidt

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Demenz auf der Bühne

»Es sind eben sehr unterschiedliche Menschen« Altersrollen, Rollenspiele und Körperlichkeit in Lilo Mangelsdorffs »Kontakthof« von Pina Bausch getanzt von Damen und Herren ab 65 Maike Purwin »Ich halte mich nicht für eine ältere Dame« (TC: 00:52:59-00:53:02), bringt eine der über 20 Damen und Herren in Lilo Mangelsdorffs dokumentarischem Film1 »Kontakthof« von Pina Bausch getanzt von Damen und Herren ab 65 (D 2002) ihre Selbstwahrnehmung zum Ausdruck. Sie richtet sich damit gegen eine Fremdkategorisierung, die aus gesellschaftlichen Vorstellungen vom Alter resultiert. Im Tanztheaterstück Kontakthof 2 probieren die betagten Laiendarsteller verschiedene Rollen aus und können so spielerisch mit (Alters-)Rollenbildern und -erwartungen umgehen. Der Film blickt hinter die Kulissen des Stückes und beobachtet die Darsteller mit zurückgenommener Kamera bei den Proben. In den parallel geschnittenen Interviewszenen wird der Fokus auf die einzelnen Darsteller gelenkt: Dadurch dass sie selbst zu Wort kommen und die Rollenspiele öffentlich reflektieren können, wird ihnen im Film die Möglichkeit gegeben, sich selbst zu erzählen. Indem sie ihre Empfindungen nach außen tragen, stellen sie Altersbilder und damit verbundene Rollenvorstellungen in Frage. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem alternden Körper zu. Das immer noch existierende Tabu der Körperlichkeit im Alter wird im Stück wie im Film gebrochen. Alte Körper werden weder pathologisiert noch als mangelhaft bewertet, vielmehr werden sie im Tanz zu einem Medium des Ausdrucks von Emotionen in all ihrer Bandbreite von Leichtigkeit und Ausgelassenheit über sexuelle Lust bis hin zu Aggressionen und Gewaltbereitschaft, ohne dabei die biologischen Erscheinungen des Alters zu leugnen. Durch 1 | Zu einer begrifflichen Bestimmung und Ausdifferenzierung dokumentarischer Filme vgl. einführend Thorolf Lipp: Spielarten des Dokumentarischen. Einführung in Geschichte und Theorie des Nonfiktionen Films, Marburg 2012. 2 | Uraufführung des Originals am 9. Dezember 1978 im Opernhaus Wuppertal. Uraufführung von Damen und Herren ab 65 am 25. Februar 2000.

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den Blick hinter die Bühne, die zusätzliche Ebene der Interviews und nicht zuletzt durch die größere Verfügbarkeit des Mediums eröffnet der Film mehr noch als das Stück neue Wahrnehmungsmöglichkeiten individuellen Alterns.

A ltersbilder , R ollenerwartungen und R ollenspiele Das hohe Alter war die Voraussetzung für eine Teilnahme an Pina Bauschs Projekt einer Inszenierung des Stückes Kontakthof mit Senioren.3 Damit wird das Alter zum verbindenden Moment der im Film gezeigten Laiendarsteller. Es überrascht nicht, dass Alter und Altern im Film wiederholt explizit angesprochen werden. »Nach manchen Proben spürt man die Blessuren und die kleinen Defizite des Körpers, der ja, nun leider unumgänglich, altert. Es ist sicherlich nicht mehr so leicht, wie vor 20, 30 Jahren, wo man noch rumgesprungen ist« (TC: 00:32:09-00:32:36), sagt einer der Darsteller im Einzelinterview in die Kamera. Das unumgängliche Altern, nicht nur des Körpers, »gehört zu den biologischen Grundbedingungen des menschlichen Lebens«.4 Diese biologische Tatsache ist jedoch, ähnlich wie das Geschlecht, überlagert von gesellschaftlich geprägten Rollenvorstellungen, wie ein Mensch ab einem bestimmten Lebensalter ist beziehungsweise zu sein habe – unabhängig vom individuellen Menschen selbst. ›Alt‹ ist keine neutrale Bezeichnung, es ist ein wertendes Label. Der Begriff ›Altersbild‹ bezeichnet entsprechend »Vorstellungen von der Rolle, den Eigenschaften und dem Wert alter Menschen in der Gesellschaft«.5 Altersbilder sind nicht bloß deskriptiv, sie entfalten eine normative Wirkung: »Altersbilder stellen Wirklichkeit her, indem sie die Selbst- und Fremdwahrnehmung prägen und die Handlungen der Menschen beeinflussen […].«6 Die Normativität erzeugende Kraft des öffent3 | Hier scheint es zu einer Verkehrung zu kommen: Wird das hohe Alter im öffentlichen Diskurs häufig als Makel angesehen, ist es hier die Voraussetzung dafür, an einem spannenden (und erfolgreichen) Projekt teilzunehmen. »Schade, dass du zu jung bist dazu«, dachte dementsprechend eine Tänzerin unter 65 Jahren, die dann aber doch zugelassen wurde (TC: 00:04:18-00:04:20). Es handelt sich bei dem Projekt streng genommen nicht ausschließlich um Damen und Herren ab 65, es sind auch wenige Tänzer in den 50er Jahren dabei. 4 | Christina Thurner: »Wirklich eines meiner Lieblingsstücke«. Fokus auf Pina Bauschs Kontakthof mit Senioren und mit Teenagern, in: Stefanie Diekmann (Hg.): Die andere Szene. Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm, Berlin 2014, S. 100-113, hier S. 106. 5 | Barbara Pichler: Aktuelle Altersbilder: »junge Alte« und »alte Alte«, in: Kirsten Aner, Ute Karl (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010, S. 415-425, hier S. 415. 6 | Henriette Herwig: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, in: dies. (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2014, S. 7-33, hier S. 8.

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lichen Diskurses wirkt dabei häufig unbewusst. So schreibt Gerd Göckenjan in Das Alter würdigen: Nach der Vorstellung etlicher Diskursteilnehmer handeln sie unter dem Titel Alter viel mehr über Wirklichkeit und nicht über Ideen, Deutungsmuster, Verfahren. Alter sei Realität und eben nicht eine soziale Konstruktion, die erst in diesem Diskurs hergestellt oder bestärkt wird.7

Dass es sich bei Altersbildern um soziale Konstruktionen handelt und nicht um etwas ›natürlich Gegebenes‹, ist vielen Menschen nicht bewusst – Altersbilder werden neutralisiert und als Wirklichkeit angesehen. Eine Darstellerin äußert sich im Film: Mit den rosa Kleidern reinkommen und dann diese Drehungen, dieses Ausgelassensein, das find ich schon ganz toll. Nur das umzusetzen in unserem Alter, das ist natürlich ziemlich schwierig, und dann noch vor Publikum. (TC: 00:56:53-00:57:06)

Eine Schwierigkeit ergibt sich sicher aus der konkreten körperlichen Herausforderung, die jedoch offensichtlich von den Darstellern gemeistert wird. Das größere Problem scheint in den spezifischen Rollenerwartungen zu liegen, die aus den (verinnerlichten) Altersbildern resultieren. Zu diesen »Alterserwartungscodes«8 gehören üblicherweise weder rosa Kleider noch erhöhte körperliche Aktivität oder spielerische Ausgelassenheit. Hier offenbart sich ein Widerspruch zwischen dem persönlichen Empfinden und der Angst vor der öffentlichen Wahrnehmung. Pina Bausch setzt sich in ihren Stücken mit genau diesem »Problem der Verinnerlichung« von Normen auseinander, damit, »wie und auf welchem Weg die äußerlichen Zwänge zu Selbstzwängen werden«.9 Im Stück Kontakthof mit seiner Darstellung einer Tanzstunde geht es in besonderem Maße um diesen Konflikt: Die hohle Förmlichkeit der Tanzstunden wird als Einübung in kleinbürgerliche Verkehrsformen demaskiert, als Abrichtung auf die Konventionen der Annährung, an denen die Suche nach einer angst- und zwangfreien Sinnlichkeit scheitert. Stattdessen dominiert die Lebenslüge, der Zwang, alle Ängste, Verlegenheit, Einsamkeit in die Maske gespielten Glücks zu kleiden. Das Versteckspiel bestimmt auch die private Sphäre. Der Gesellschaftstanz, der einmal den vorweggenommenen Geschlechtsakt symbolisierte, repräsentiert den Zwang der Konventionen.10 7 | Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen, Frankfurt a.M. 2000, S. 15. 8 | Ebd., S. 25. 9 | Hedwig Müller, Norbert Servos: Pina Bausch. Wuppertaler Tanztheater. Kapitel: Die Emanzipation des Tanzes zu seinen eigenen Mitteln. Einige Überlegungen zum Tanztheater aus theoretischer Sicht, Köln 1979, o.S. 10 | Müller, Servos: Pina Bausch. Kapitel: Die Stücke. Kontakthof, o.S.

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Der Film zeigt im Anschluss, dass die Rollenerwartungen als bloße Konstruktionen enttarnt und erfolgreich überwunden werden können: Die Darstellerinnen sind im nächsten Schnitt im rosa Kleid ausgelassen tanzend auf der Bühne zu sehen, während das Publikum dazu applaudiert. Eine weitere Rollenvorstellung, die im Film thematisiert und dekonstruiert wird, betrifft eine »zentrale Grunddisposition des konventionellen Altersdiskurses«: die tendenziell positive Vorstellung, »Alter soll, Alter muss Autorität sein«.11 Damit das gemeinsame Projekt gelingt, müssen die Darsteller während der Proben dazu bereit sein, sich unterzuordnen, Kritik anzunehmen und umzusetzen. Diese Problematik wird von einem Darsteller so formuliert: Mit der Kritik umzugehen, das ist schon so’n Problem für manch einen. Denn viele haben ja ihr Berufsleben hinter sich und haben auch ’ne bestimmte Position […] erreicht und waren Vorgesetzte und auf einmal fangen sie wieder von vorn an, wie’n Lehrling – wir sind ja alles Lehrlinge – und müssen dann die Kritik schlucken. Das ist ’ne Lebenserfahrung, die man machen muss, nämlich dass man jede Menge Dinge verkehrt macht und dass einem das auch vorgehalten wird. (TC: 00:28:31-00:28:58)

Indem gezeigt wird, wie die Teilnehmer sich für diese neuen Lebenserfahrungen öffnen, wird gleichzeitig die »negative Vorstellung vom Alter als Verfall und Stagnation im Fall des Festhaltens von Funktionen, Macht und Besitz«12 unterlaufen. Es werden also sowohl positive als auch negative Altersbilder und Rollenvorstellungen zitiert, reflektiert und demontiert. Da es sich bei Damen und Herren ab 65 um einen Film über ein Tanztheaterprojekt handelt, ist der Umgang mit »Rollenkonzepten und Rollenkonflikten«13 ein zentrales Thema. Bei der (Tanz-)Theaterarbeit geht es schließlich genau darum, in neue, unterschiedliche und zum Teil durchaus klischeehafte Rollen wie die des ›rosa Mädchens‹ zu schlüpfen, kurz: um ein Spiel mit Rollen. Diekmann sieht im Theater daher den Ort für ein »Sozialexperiment«: »Das Theater ist jene politische Kunst, in der Rollen verteilt, Positionen zugewiesen, Aufteilungen zwischen Akteuren und Zuschauern vorgenommen und Handlungsräume markiert werden.«14 Im Film wird in den Probenszenen gezeigt, wie die unterschiedlichen Rollen eingeübt werden. In den Interviewszenen reflektieren die Darsteller auf sehr heterogene Weise ihren Umgang mit diesen Rollen. So können sie sich zum Teil mit den zunächst fremd wirkenden Rollen identifizieren: »Und auf einmal 11 | Gerd Göckenjan: Diskursgeschichte des Alters: Von der Macht der Alten zur ›alternden Gesellschaft‹, in: Heiner Fangerau u.a. (Hg.): Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s, Berlin 2007, S. 125-140, hier S. 129. 12 | Herwig: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, S. 11. 13 | Stefanie Diekmann: Die andere Szene – Zur Einführung, in: dies. (Hg.): Die andere Szene, S. 7-14, hier S. 9. 14 | Ebd., S. 11.

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dann fällt mir auf: Ja, ich hab ja auch Aggressionen, ich bin ja auch ängstlich. Oder: Ich möchte auch Nähe haben, ich hab auch Sehnsucht.« (TC: 00:46:2100:46:32) Andere Darsteller distanzieren sich hingegen bewusst von den gespielten Rollen. So bemerkt eine Darstellerin über die Reaktion ihrer Schwester: »Also das kriegt sie nicht geregelt, dass das nicht ich bin, sondern dass ich das da spiele, so kennt sie mich gar nicht.« (TC: 00:51:40-00:51:47) Durch das Theaterstück erhalten die Darsteller die Möglichkeit, sich im geschützten Raum hinter der Bühne zu verwandeln, um dann diese Verwandlung nach außen auf die Bühne zu tragen: Das hab ich mir immer vorgestellt, dass ich mal so verwandelt werde. Aber im täglichen Leben lauf’ ich ja nicht so rum und ich seh’ das auch nicht ein, warum ich so rumlaufen soll. Aber mal so irgendwie ’ne Verwandlung find ich toll. (TC: 00:52:13-00:52:28)

Im Film wird dem Zuschauer der Prozess der Verwandlung durch den Blick hinter die Kulissen sichtbar gemacht. Eine Darstellerin stellt nach anfänglichen Schwierigkeiten mit ihrer Rolle fest: »Aber heute weiß ich, dass das ein Spiel ist.« (TC: 00:52:02-00:52:04) Der Aspekt des Spiels verweist auf den berühmten Satz aus Friedrich Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen: »der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«15 Und wo der Mensch, als homo ludens,16 »in voller Bedeutung des Worts Mensch ist«, durchbricht er notwendigerweise starre konstruierte Altersbilder und Rollenerwartungen.

A b -B ild oder K onstruk tion ? Als dokumentarischer Film erhebt Damen und Herren ab 65, anders als ein fiktionaler Film, den Anspruch, eine bestimmte Realität abzubilden. Mangelsdorff arbeitet vor allem in den Probenszenen überwiegend mit den Mitteln des Direct Cinema. Diese Variante des dokumentarischen Films hat als »erklärtes Postulat […], die Realität, so ›wie sie wirklich ist‹, abbilden zu wollen«. Das Gefilmte soll so objektiv und »so unverfälscht wie möglich«17 wiedergegeben werden. Die Filmemacher treten hier nicht vor die Kamera, sondern agieren als stille Beobachter, für das Publikum unsichtbar, im Hintergrund. Es werden keine expliziten visuellen oder auditiven Kommentare außerhalb der diegetischen Ebene, wie etwa erklärende Voice-Over, verwendet. Extradiegetische Musik oder Sound-Effekte sucht 15 | Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Kommentar von Stefan Matuschek, Frankfurt a.M. 2009, S. 64. 16 | Vgl. Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek b.H. 23 2013. 17 | Lipp: Spielarten des Dokumentarischen, S. 87.

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man vergebens – das Auditive lässt sich stets »dem visuellen Raum zuordnen«.18 Damit verzichtet der Film auf auditive Gestaltungsmittel, wie sie »zur gezielten Wahrnehmungssteuerung des Publikums eingesetzt werden«.19 Auch blicken die Gefilmten in den Probenszenen so gut wie nie direkt in die Kamera. Die ›unsichtbare‹, beobachtende Kamera, die einer unpersönlichen Erzählperspektive entspricht, scheint hier angemessen, um dem Zuschauer einen Überblick über das Geschehen hinter der Bühne und die Arbeit am Stück zu geben, scheinbar ohne es zu beeinflussen. Es lässt sich jedoch davon ausgehen, dass alleine das Bewusstsein der Anwesenheit der Kamera das Verhalten der Gefilmten manipuliert. So bemerkt ein Darsteller während der Proben: »Jetzt ist Fernsehen dabei.« (TC: 00:39:43-00:39:45) Dass es sich auch beim scheinbar ungefilterten, nonfiktionalen Film immer um eine Konstruktion und »Irrealisierung der Realität«,20 also eben nicht um ein Abbild der Wirklichkeit handelt, wird besonders deutlich in den Interviewszenen, die eher der Tradition des Cinéma Vérité 21 zuzuordnen sind. Anders als in den Probenszenen beobachtet die Kamera das Geschehen hier nicht einfach, vielmehr lässt sie es durch ihre »Katalysatorwirkung«22 überhaupt erst entstehen. Die Darsteller werden meist einzeln in der Nahaufnahme bei ihren Reflexionen über die Arbeit am Stück gezeigt. Dadurch dass sie den Zuschauer scheinbar direkt anschauen und ansprechen, entsteht schon durch die gestalterischen Mittel des Films Intimität und Verbindlichkeit. So werden »die Aufmerksamkeit und Identifikationsbereitschaft des Publikums«23 positiv beeinflusst. Die Interviewer sind weder zu sehen noch sind ihre Fragen zu hören, sodass diese Szenen einen ausgeprägten monologischen Charakter erhalten und der Film ganz auf die individuellen Darsteller konzentriert bleibt. Es findet sich dem Inhalt entsprechend eine weitaus persönlichere Erzählperspektive als in den Probenszenen – die Darsteller erhalten die Möglichkeit zum Selbstausdruck. Dadurch dass Einblicke in das Empfinden der Darsteller des Stückes gegeben werden, wird der medienspezifische »Mehrwert« des Dokumentarfilms »gegenüber dem Theater«,24 welches ›nur‹ das fertige Endprodukt auf der Bühne zeigt, voll ausgeschöpft. Der Film führt Pina Bauschs Ansatz und Erkenntnisinteresse mit anderen Mitteln weiter, 18 | Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung, Göttingen 2007, S. 95. Ausnahmen bilden die Ausführungen der Darsteller in den Einzelinterviews aus dem Off, während Probenszenen gezeigt und auch hörbar gemacht werden. Hier vermischen sich die unterschiedlichen Ebenen des Films. 19 | Werner Faulstich: Grundkurs Filmanalyse, Paderborn 22002, S. 139. 20 | Lipp: Spielarten des Dokumentarischen, S. 96. 21 | Vgl. ebd., S. 101-111. 22 | Ebd., S. 106. 23 | Helmut Korte: Einführung in die Systematische Filmanalyse. Ein Arbeitsbuch, Berlin 2010, S. 34. 24 | Diekmann: Die andere Szene, S. 9.

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denn »im Grunde interessiere es sie wenig, wie sich die Menschen bewegten oder wie sie gingen. Sie wolle vielmehr wissen, was sie bewege und was in ihnen vorgehe«.25 Das Stück Kontakthof beschäftigt sich mit dem Menschen »mit all seinen Schwächen und Stärken, seinen Ängsten und Sorgen, aber auch seinen Träumen und Wünschen, der Mensch in seiner Kleinmütigkeit und seiner Großsprecherei steht im Mittelpunkt«.26 Der Film bewegt sich also, wie das Stück, auf komplexe Weise zwischen den Ebenen des Privaten und des Öffentlichen: Der Interviewte sitzt hier also nicht nur als Teilnehmer eines in der Aufführung öffentlichen Kunstprojekts, sondern offenbar auch als Privatperson, die diskursiv private Erfahrungen mit der Darstellung verknüpft, wobei diese Verknüpfung in der filmischen Dokumentation wiederum öffentlich gemacht wird. 27

Andererseits kehren Filme, die den Fokus auf die Darsteller legen, »die Bühnenwirklichkeit ein Stück weit wieder um, indem sie das Allgemeine, zu dem das Persönliche im Choreografie- und Probenprozess transformiert worden ist, wieder personalisieren«.28 Christina Thurner spielt hier darauf an, dass auch Pina Bausch in ihren Stücken mit den Spannungen zwischen dem individuellen Empfinden und der öffentlichen Inszenierung arbeitet. Denn Pina Bausch entwickelt ihre Stücke »unter Einbeziehung der Tänzerpersönlichkeit«29 gemeinsam mit den Darstellern. Die Erfahrungen und Empfindungen der Tänzer werden verfremdet und öffentlich inszeniert, um für das Publikum bestenfalls wieder zu einer privaten Erfahrung und Bereicherung zu werden. »Somit konsumiert der Zuschauer nicht nur, sondern er profitiert; denn das Tanztheater erschließt ihm die Realität, macht die Begegnung mit der Wirklichkeit transparent.«30 Indem der Film Einblicke in das Geschehen hinter der Bühne vermittelt, macht er »die Begegnungen mit der Wirklichkeit« für die Zuschauer noch transparenter. Die Konstruiertheit des Films offenbart sich über die Art des Filmens hinaus in der Selektion und Montage der einzelnen Szenen. Die Probenszenen und späteren Auftritte sowie die Interviewszenen sind so geschnitten, dass sie sich wechselseitig aufeinander zu beziehen scheinen. Insgesamt ist der Film als ein 25 | Müller, Servos: Pina Bausch. Kapitel: Pina Bausch: Das permanente Ärgernis, o.S.; Kursivierung im Original. 26 | Susanne Schlicher: TanzTheater. Traditionen und Freiheiten. Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Johann Kresnik, Susanne Linke, Reinbek b.H. 1987, S. 124. 27 | Thurner: »Wirklich eines meiner Lieblingsstücke«, S. 103. 28 | Ebd., S. 110. Thurner bezieht sich hier noch auf den Film Tanzträume. Jugendliche tanzen »Kontakthof« von Pina Bausch (D 2010, Regie: Anne Linsel). 29 | Rika Schulze-Reuber: Das Tanztheater Pina Bausch: Spiegel der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 22008, S. 117. 30 | Ebd., S. 54.

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»Entwicklungsnarrativ«31 konstruiert. Nur indem sich die Darsteller persönlich weiterentwickeln, kann sich auch das Stück weiterentwickeln und umgekehrt. Es wird also verdeutlicht, wie einerseits die jeweilige Lebenserfahrung das Spiel auf der Bühne beeinflusst und wie andererseits die Erarbeitung des Stücks Kontakthof – das heißt: die Beteiligung an diesem Kunstprojekt – den Blick auf die eigene Lebensgeschichte oder -situation verändert. 32

Diese Wechselwirkung zwischen Kunst und Leben ist auch für Pina Bauschs Arbeit zentral: »Kunst und Alltag bilden nicht weiter einen unvermittelten Gegensatz«.33 Ein drastisches Beispiel dafür liefert eine Darstellerin, bei der nach der ersten Aufführung Brustkrebs diagnostiziert wurde und die nach der Operation direkt aus dem Krankenhaus zur nächsten Aufführung gefahren ist. Die Arbeit am Stück, sagt sie, habe »sehr, sehr dazu beigetragen, dass [sie] schneller gesund geworden« sei (TC: 00:24:45-00:24:50). Ihre Krankheitserfahrung kann wiederum in ihre Darstellung im Stück hineinreichen und es so um eine existenzielle Erfahrung bereichern. Ein weiteres Beispiel bietet die Reflexion eines Darstellers: Na ja, unsereiner hat ja auch ein Stück Leben hinter sich (lacht) und Beziehungssituationen hat man ja auch schon reichlich hinter sich und da kommen einem doch schon Situationen vor von Nähe zulassen und Nähe gern haben und das Gegenteil natürlich auch. Das hat schon mit dem Leben was zu tun, was hier so dargestellt wird. (TC: 00:43:06-00:43:33)

Die früheren Lebens- und Beziehungserfahrungen der Darsteller können in das Stück eingearbeitet werden. Der Film zeigt aber auch, wie sich die Darsteller privat näher kommen, wie die Erarbeitung des Stücks auch gegenwärtig Beziehungsarbeit bedeutet, die wichtig für das Gelingen der Aufführung ist: »Durch diese Jahre, die wir jetzt schon miteinander arbeiten, sind wir uns alle eigentlich sehr nahe gekommen.« (TC: 00:39:05-00:39:12)34

31 | Thurner: »Wirklich eines meiner Lieblingsstücke«, S. 107. 32 | Ebd., S. 105. 33 | Müller, Servos: Pina Bausch. Kapitel: Die Produktivität des Unfertigen. Work in Progress, Montage, Verfremdung, o.S. 34 | Es werden herzliche Begrüßungs- und Abschiedsszenen gezeigt (vgl. etwa TC: 00:22:39-00:22:54) und zwei der Darsteller stellen lachend fest: »Die allgemeine Küsserei, die ist dann auch bei uns ausgebrochen.« (TC: 00:14:52-00:14:55) Allerdings werden die Konflikte, die zwangsläufig mit einer intensiven Teamarbeit wie dieser einhergehen, nicht verschwiegen: »Es geht in so ’nem Team nicht immer alles glatt über die Bühne.« (TC: 00:18:10-00:18:15) Ein Konflikt zwischen zwei Darstellerinnen vor der Aufführung kann von den Zuschauern sogar direkt mitverfolgt werden: »Jutta macht nur die Männer von sich abhängig!« (TC: 00:54:15-00:54:17)

Altersrollen in Lilo Mangelsdor ffs »Kontakthof« von Pina Bausch

Die im Film inszenierte Entwicklung hat jedoch keinen festen Anfangs- oder Endpunkt. Der Film beginnt in medias res, die Darsteller haben zu Beginn des Films schon einige Zeit zusammen geprobt und sind mehrfach erfolgreich gemeinsam aufgetreten. Ebenso wenig zeigt der Film einen endgültigen Abschluss. Er ist zwar insofern ›rund‹, als er mit einer Aufführung beginnt und gegen Ende eine Aufführung (hinter und auf der Bühne) mit begeisterter Publikumsreaktion zeigt. Doch gibt es auch einen Ausblick auf die weiteren Pläne des Ensembles: »Und im nächsten Jahr geht’s weiter […].« (TC: 01:04:41-01:04:44) So wird der Fokus analog zu Pina Bauschs Arbeitsweise auf die Offenheit und Prozesshaftigkeit des Stückes Kontakthof gelenkt: »Pina Bauschs Arbeiten sind in einem positiven Sinn ›unfertig‹, insofern sie in ihrem Ablauf nicht festgeschrieben sind.«35 Auch die Darsteller sind »immer noch dabei« das Stück zu verstehen (TC: 00:15:2700:15:40), sie befinden sich also in einem offenen Prozess. Dies ist wiederum auf Altersbilder übertragbar, die eben nicht festgeschrieben, sondern offen und dynamisch sein sollten. Indem Pina Bauschs »Tanztheater [...] der ›Erstarrung‹ entgegen[arbeitet] und [...] lebendiger Ort der Erfahrung«36 ist, eröffnet es das Potenzial, starren Vorstellungen vom Alter entgegenzuwirken. Filmisch wird dies durch die scheinbar nur beobachtende Kamera unterstützt, die den Fokus besonders in den Interviewszenen auf die Darsteller lenkt. Indem die Darsteller die Möglichkeit erhalten, ihre Gedanken und Gefühle auszudrücken und ihre Innenperspektive beinahe direkt mit dem Publikum zu teilen, entwickelt der Film ein emanzipatives Potenzial, das über das Stück hinausgeht. Die Wechselwirkung von Kunst und Leben, die in der Erarbeitung des Stückes eine große Rolle spielt, lässt sich auf den Film Damen und Herren ab 65 übertragen, der als Kunstprodukt »Wirklichkeit de facto überhaupt erst her[stellt]«37 und so zum öffentlichen (Alters-)Diskurs beiträgt.

»I ch gl aube , ich fühle mich besser , wenn ich die U nterhose anl asse .« T anz , K örperlichkeit und S e xualität im A lter Nicht nur bestimmte Verhaltensweisen werden durch Altersbilder normiert, auch »der Körper ist nicht einfach gegeben, sondern jenseits seiner biologischen Alterung ›etwas von Menschen Gemachtes‹, durch Repräsentationssysteme und Diskurse Geformtes«.38 Pina Bauschs Tanztheater setzt sich kritisch mit Körpernormen auseinander: »Ihr Thema ist der Körper in seiner Einengung durch Konventionen, seine Begrenzung durch untaugliche Verhaltensnormen.«39 Auch 35 | Müller, Servos: Pina Bausch. Kapitel: Die Produktivität des Unfertigen, o.S. 36 | Schulze-Reuber: Das Tanztheater Pina Bausch, S. 54. 37 | Lippe: Spielarten des Dokumentarischen, S. 18. 38 | Herwig: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, S. 9. 39 | Müller, Servos: Pina Bausch. Kapitel: Die Emanzipation des Tanzes, o.S.

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wenn sich im öffentlichen Diskurs Tendenzen einer »größeren Akzeptanz des gealterten Körpers«40 beobachten lassen, werden doch nach wie vor die »normalen körperlichen Veränderungen im Alter [...] als krankhaft angesehen«.41 Alte Körper werden immer noch vorwiegend mit Verfall und Krankheit assoziiert und als defizitär wahrgenommen. »Zeichen des alternden Körpers«, wie faltige Haut, Altersflecken, graue Haare oder Haarausfall, können »zum Stigma werden, das verleugnet, überschminkt, medikamentös behandelt oder operativ entfernt werden muß«.42 Statt einen offenen Diskurs über diese körperlichen Veränderungen des Körpers anzuregen, »werden Vermeidungsstrategien entwickelt«.43 Im Film Damen und Herren ab 65 wird der alternde Körper fast zwangsläufig zum Thema, schließlich beschäftigt er sich mit einem Tanztheaterprojekt, also einer »bodybased domain«.44 So beschreibt ein Darsteller, dass er wiederholt an seine körperlichen (und geistigen) Grenzen gestoßen sei: »Mein Gott nochmal, du kriegst das nicht hin. Bist du eigentlich so alt geworden?« (TC: 00:09:00-00:09:04) Auch die zuvor erwähnte Brustkrebserkrankung einer Darstellerin, »Arzttermine« sowie »ein kleiner Hirnschlag« (TC: 00:23:02-00:23:24) eines Darstellers werden offen angesprochen. Hier wird ein Topos aufgegriffen, der Tanz im Alter vor allem mit präventiven und therapeutischen Motiven assoziiert.45 Die ›therapeutischen‹ Wirkungen des Tanzes werden im Film durchaus thematisiert. Tanz wird als »Medium der Selbsterfahrung und -ertüchtigung« dargestellt, als »ein Beitrag zur seelischen Gesundheit und Steigerung der Lebensqualität«.46 Die Darsteller erzählen, wie sie körperlich von dem Projekt profitieren. Vor allem aber werden positive psychische Veränderungen angeführt. Sie geben an, dass sie »geistig wesentlich beweglicher« (TC: 00:30:45-00:30:47) und »viel selbstbewusster geworden« (TC: 01:00:14-01:00:16) seien, dass sich der »Alltag [...] einfach lebendiger« (TC: 00:36:46-00:36:50) anfühle. Diese Veränderungen sind allerdings nicht altersspezifisch, wie Anne Linsels Film Tanzträume. Jugendliche tanzen »Kontakthof« von Pina Bausch zeigt. Hier werden statt Senioren Schüler bei den Proben zum gleichen Stück dokumentarisch begleitet. Dabei handelt es sich weniger um einen Gegen- als um einen Komplementärfilm. Auch hier wird betont, dass die 40 | Herwig: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, S. 10. 41 | Miriam Seidler: Silver Sex?! Liebe und Sexualität in Altersrepräsentationen der Gegenwart, in: Herwig (Hg.): Merkwürdige Alte, S. 128-150, hier S. 129. 42 | Henriette Herwig: Vorwort, in: dies. (Hg.): Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin, Freiburg i.Br. u.a. 2009, S. 7-12, hier S. 7. 43 | Seidler: Silver Sex, S. 129. 44 | Elisabeth Schwaiger: Ageing, Gender, Embodiment and Dance. Finding a Balance, London 2012, S. 1. Schwaiger setzt sich im Folgenden damit auseinander, dass Tanz oft an die Vorstellung eines idealisierten jungen Körpers gekoppelt ist. 45 | Vgl. Elisabeth Exner-Grave: TanzMedizin. Die medizinische Versorgung professioneller Tänzer, Stuttgart 2008, insbes. S. 13-16. 46 | Schulze-Reuber: Das Tanztheater Pina Bausch, S. 119.

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Arbeit am Tanztheaterstück das Leben und die Persönlichkeiten der jungen Tänzer positiv beeinflusst habe.47 Darüber hinaus entspricht die Art des Tanzens im Stück Kontakthof kaum gängigen Vorstellungen eines medizinisch ausgerichteten Alterstanzes. Zwar wurde das Stück für die Laientänzer transformiert, die Bewegungsabläufe entsprechen aber häufig denen des Originalstückes. Die Darsteller verbiegen ihre Körper, hüpfen und laufen über die Bühne. Der alte Körper wird nicht per se pathologisiert, er wird vielmehr im Tanz zum Medium, um etwa Sexualität, Verlangen und Gewalt zu verkörpern. So gibt es im Film eine Szene, die gleich zwei gängige Vorstellungen vom Alter unterläuft, indem sie die körperliche Agilität und sexuelle Aktivität eines alten Mannes anspricht. Ein Darsteller wird während der Proben dabei gezeigt, wie er von Frau zu Frau läuft, sie an sich zieht und sich dabei körperlich völlig verausgabt (TC: 00:39:18-00:41:40). Dass die körperliche Aktivität hier bis zur Erschöpfung getrieben wird, soll und darf vom Publikum wahrgenommen werden. Werden im öffentlichen Diskurs »[a]lte Menschen [...] immer noch als asexuelle Wesen behandelt«,48 evoziert das atemlose Laufen von Frau zu Frau im Gegenteil deutlich sexuelles Verlangen und sexuelle Aktivität. So ruft ein Darsteller: »Brutaler Liebhaber musst du sein.« (TC: 00:40:00-00:40:02) Im Einzelinterview verbindet der ›brutale Liebhaber‹ private Erfahrungen mit seinem Spiel: Diese Sehnsucht nach Beziehungen, das haben wollen und irgendwie emotional rennt man ja auch im Leben danach und darauf zu und das wird in dieser Szene dargestellt, nicht? Ich laufe von einer Frau und begehre eine Frau nach der andern. Wie das im Leben so ist, die meisten lehnen einen ab, und irgendwann findet man doch was (lacht). (TC: 00:43:34-00:44:04)

Nicht nur männliche, auch weibliche Sexualität wird im Stück wie im Film thematisiert. So wird eine völlig passive Darstellerin von verschiedenen Männern zunächst mit Bewegungen geliebkost und umgarnt, die in der Wiederholung fast mechanisch wirken. Die Männer werden dabei immer fordernder und aggressiver (vgl. TC: 00:46:55-00:49:00). Der weibliche Körper wird hier reduziert »auf den Warenwert für den Mann«.49 Zwar bietet sich eine feministische Lesart an, nicht zuletzt, weil die Stigmatisierung des alternden Körpers »besonders für Frauen, die traditionell über ihren Körper definiert worden sind«,50 von Bedeutung ist. 47 | Für eine Gegenüberstellung der beiden Filme vgl. Thurner: »Wirklich eins meiner Lieblingsstücke«. 48 | Seidler: Silver Sex, S. 127. 49 | Müller, Servos: Pina Bausch. Kapitel: Die Emanzipation des Tanzes, o.S. 50 | Herwig: Vorwort, S. 7. Vgl. zur Beziehung von Altersforschung und Feminismus: Rüdiger Kunow: »Ins Graue«. Zur kulturellen Konstruktion von Altern und Alter, in: Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 21-43: »Hier wie dort ging und geht es um den sozialen und kulturellen

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Maike Pur win Pina Bausch bezieht dabei jedoch keine eindeutig feministischen Positionen. Im Zentrum steht eine eher allgemeine Unterdrückung, die zwar ihre spezifisch männliche und weibliche Ausprägung hat, unter der aber beide Geschlechter letztendlich gleichermaßen zu leiden haben. 51

Bausch selbst formuliert dies so: »Eigentlich sind es immer Mann-und-Frau-Themen oder Beziehungen, also unser Verhalten oder unsere Sehnsucht oder unsere Unfähigkeit, unsere Ohnmacht […].«52 Dass die Darstellerin die männlichen Annährungen (und Gewalttätigkeiten) zu genießen scheint, mag verwundern, trägt aber zu einer Ausdifferenzierung der heterogenen Alterssexualität bei. Sie äußert sich folgendermaßen: Es ist mir nicht unangenehm, kann ich nicht sagen, diese Zärtlichkeiten, die sie mit mir machen. Und das sind ja am Anfang Zärtlichkeiten, also das durchaus, aber die dann doch wieder umschlagen in Aggressivität. Und dann sehen sie irgend’ne andere Nette und schon sind sie wieder weg (lacht). Bin ich wieder alleine (lacht). (TC: 00:47:22-00:47:45)

Die Darstellerinnen sind im Stück aber nicht nur passiv. Eine Tänzerin berichtet von ihren Schwierigkeiten, eine deutlich sexuell gefärbte Handlung auszuführen: Sie soll einen Mittänzer in den Oberschenkel kneifen. Im Einzelinterview erzählt sie: »Ich musste immer wieder über meinen Schatten springen. […] Ich hab erst nur gejammert zu Hause: Ich kann das nicht, ich will das nicht.« (TC: 00:35:2700:35:44) Im folgenden Schnitt sieht man, wie sie in einer Probenszene die Handlung schließlich doch und anscheinend problemlos ausführt. Internalisierte Vorstellungen vom asexuellen alten Körper und damit einhergehende Verhaltensnormen werden nicht nur von den Darstellern persönlich überwunden, durch die Aufführung vor Publikum werden sie zudem in die Öffentlichkeit getragen. Im Film kommt noch die bereichernde Dimension der Darstellerreflexion hinzu. In einer Ausziehszene wird dies noch deutlicher. Ein Darsteller entkleidet sich auf der Bühne fast vollständig: »Ich glaube, ich fühle mich wohler, wenn ich die Unterhose anlasse. Und einen Socken hab ich noch an.« (TC: 00:34:38-00:34:44) Auch dieser Darsteller musste persönliche Grenzen überschreiten: »Wenn man mir das vorher gesagt hätte, ich hätte mich auch nicht da auf den Stuhl gesetzt und hätte diese Ausziehszene gemacht.« (TC: 00:34:50-00:34:57) Dem medial verbreiteten, idealisierten jungen Körper wird hier ein ›echter‹, alter Körper entKonstruktcharakter scheinbar biologischer Tatsachen, um Fragen der Diskriminierung auf der Basis dieser Konstrukte (sexism bzw. ageism) und um (Gegen-)Entwürfe emanzipatorischer Identitäten, etwa für das Konzept der ›alternden Frau‹ in androzentrischen Diskursen.« Ebd., S. 34. 51 | Müller, Servos: Pina Bausch. Kapitel: Kontakthof, o.S. 52 | Ebd., Kapitel: Ein Interview. Jochen Schmidt im Gespräch mit Pina Bausch am 9. November 1978, o.S.

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gegengesetzt, der sich nicht zu verstecken braucht, sondern offen auf der Bühne gezeigt wird.53 Es handelt sich um eine »Entfesselung des Körpers«.54 Auch hier zeigt sich Pina Bauschs Arbeitsweise. Es handelt sich um »eine Tanzform, die auf ästhetische [normierte; M.P.] Schönheit und technische Perfektion verzichtet«.55 Im Film wird auch der weibliche Körper mit seinen Veränderungen zum Thema. So sagt eine Darstellerin während einer Probenszene: »Ich habe hier Busen. An der Seite sogar.« (TC: 00:11:01-00:11:04) Hängebrüste gehören in unserer Kultur nicht zum Schönheitsideal. Die kulturell stark sexualisierte weibliche Brust ist mittlerweile medial weit verbreitet – allerdings in einer idealisierten, jungen und straffen Form. Hier wird hingegen die alte Brust offen thematisiert. Damit wird Menschen und Körpern abseits von »allgemein gültigen Vorstellungen von Körpernormen und Schönheitsidealen«56 ein öffentlicher Raum gegeben. Auch die anfänglichen Zweifel der Darsteller (»Was soll das mit uns? Und: Das kann doch nie was werden. Und: Wir sind [doch] in jedem Fall schlechter als die Profis.« [TC: 00:13:36-00:13:42]) werden schließlich zerstreut. Es geht nicht um ein Besser oder Schlechter gemessen an normativen Kriterien, es geht um den »eigenen Wert« der »Darstellungsform« (TC: 00:13:55-00:13:58). Das Theater und die Arbeit am Stück werden im Film nicht als Utopie dargestellt, sondern als realer Ort mit realen Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Konflikten. Damit rücken Stück und Film in die Nähe einer Heterotopie im Sinne Michel Foucaults, denn es handelt sich hier um wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen [sic] oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. 57

Pina Bausch »hat den Älteren in der Gesellschaft eine Chance gegeben, durch die Mitwirkung und thematische wie künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Stück in einen Dialog mit sich und der Gesellschaft zu treten«.58 Durch den spielerischen Umgang mit verschiedenen Rollen, durch die Darstellung des tan53 | Müller, Servos: Pina Bausch. Kapitel: Die Emanzipation des Tanzes, o.S. 54 | Dass die »Unterhose« nicht ausgezogen wird, kann als eine Kapitulation vor dem Tabu des alten Körpers gesehen werden. Allerdings ist ein Entblößen der primären Sexualorgane für den angestrebten Effekt gar nicht nötig. 55 | Schulze-Reuber: Das Tanztheater Pina Bausch, S. 117. 56 | Ebd., S. 114f. 57 | Michel Foucault: Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 51993, S. 34-46, hier S. 39. 58 | Schulze-Reuber: Das Tanztheater Pina Bausch, S. 119.

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zenden alten Körpers werden starre Vorstellungen von altersgerechtem Verhalten dekonstruiert. Der Film steigert durch seine formale Gestaltung und inhaltliche Ausrichtung das emanzipative Potenzial des Stückes noch. Damit leistet Damen und Herren ab 65 einen Beitrag zu einer Öffnung des Altersdiskurses: ›Den‹ alten Körper gibt es genauso wenig wie ›den‹ alten Menschen, oder um es mit den Worten eines Darstellers zusammenzufassen: »Es sind eben sehr unterschiedliche Menschen« (TC: 00:32:52-00:32:56).

Q uellenverzeichnis Filme »Kontakthof« von Pina Bausch getanzt von Damen und Herren ab 65 (D 2002, Regie: Lilo Mangelsdorff). Tanzträume. Jugendliche tanzen »Kontakthof« von Pina Bausch (D 2010, Regie: Anne Linsel).

Primärtext Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Kommentar von Stefan Matuschek, Frankfurt a.M. 2009.

Sekundärtexte Diekmann, Stefanie: Die andere Szene – Zur Einführung, in: dies. (Hg.): Die andere Szene. Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm, Berlin 2014, S. 7-14. Exner-Grave, Elisabeth: TanzMedizin. Die medizinische Versorgung professioneller Tänzer. Mit einem Geleitwort von Wildor Hollmann, Stuttgart 2008. Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse, Paderborn 22002. Foucault, Michel: Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 5 1993, S. 34-46. Göckenjan, Gerd: Das Alter würdigen, Frankfurt a.M. 2000. Göckenjan, Gerd: Diskursgeschichte des Alters: Von der Macht der Alten zur ›alternden Gesellschaft‹, in: Heiner Fangerau u.a. (Hg.): Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s, Berlin 2007, S. 125-140. Herwig, Henriette: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, in: dies. (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2014, S. 7-33. Herwig, Henriette: Vorwort, in: dies. (Hg.): Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin, Freiburg i.Br./Berlin/Wien 2009, S. 7-12.

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Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek b.H. 23 2013. Korte, Helmut: Einführung in die Systematische Filmanalyse. Ein Arbeitsbuch, Berlin 2010. Kunow, Rüdiger: »Ins Graue«. Zur kulturellen Konstruktion von Altern und Alter, in: Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 21-43. Lipp, Thorolf: Spielarten des Dokumentarischen. Einführung in Geschichte und Theorie des Nonfiktionen Films, Marburg 2012. Mahne, Nicole: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung, Göttingen 2007. Müller, Hedwig; Servos, Norbert: Pina Bausch. Wuppertaler Tanztheater, Köln 1979. Pichler, Barbara: Aktuelle Altersbilder: »junge Alte« und »alte Alte«, in: Kirsten Aner, Ute Karl (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit und Alter, Wiesbaden 2010, S. 415-425. Schlicher, Susanne: TanzTheater. Traditionen und Freiheiten. Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Johann Kresnik, Susanne Linke, Reinbek b.H. 1987. Schulze-Reuber, Rika: Das Tanztheater Pina Bausch: Spiegel der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 22008. Schwaiger, Elisabeth: Ageing, Gender, Embodiment and Dance. Finding a Balance, London 2012. Seidler, Miriam: Silver Sex?! Liebe und Sexualität in Altersrepräsentationen der Gegenwart, in: Henriette Herwig (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2014, S. 128-150. Thurner, Christina: »Wirklich eines meiner Lieblingsstücke«. Fokus auf Pina Bauschs Kontakthof mit Senioren und mit Teenagern, in: Stefanie Diekmann (Hg.): Die andere Szene. Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm, Berlin 2014, S. 100-113.

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»Dein Bett steht im Laub« Theatrale Begegnungen mit Menschen mit Demenz Barbara Wachendorff

Artikel 14 Jeder Mensch hat das Recht, manchmal nicht zu wissen, ob er Verpflichtungen hat.1 Ich bin angemeldet. Trotzdem ist hier weit und breit niemand zu sehen, keine Person am Empfang, die Flure liegen still da. Sind an diesem Sommermorgen alle an den naheliegenden Rheinwiesen? Ich gehe suchend einen der Flure entlang, er führt schnurgerade auf Fenster mit Blick in den penibel gestalteten Garten. Plötzlich ertönt lautes Schimpfen aus einem der anliegenden Zimmer. »Du alte Kuh! Scher dich weg, raus jetzt. Was willst du hier, Schlampe!«2 Ich stutze und nähere mich der Tür. Doch schon öffnet sich diese leise und eine kleine, weißhaarige Frau, die mir offen und neugierig ins Gesicht blickt, zwängt sich zwischen Rahmen und Tür auf den Flur, so als wolle sie, dass niemand anderes dieses Zimmer verlässt, scheinbar unberührt von den rüden Worten, deren Empfängerin sie wohl sein sollte. »Ja, wen haben wir denn da?«, fragt sie mich. Ich stottere, bin zu verblüfft, um zu antworten. Wie selbstverständlich nimmt sie meinen Arm. Wir schlendern den langen Flur entlang. Als wir am Aufzug vorbei kommen, bleibt 1 | Dieser und die folgenden ›Artikel‹ stammen aus der ›Verfassung‹ der Republik Užupis, Vilnius, Litauen, zitiert nach der offiziellen Postkarte zur Unabhängigkeit 2006: Užupio Respublika Už, Republic of Užupis: VIII Nepriklausomybés Metines Užupis [übers. Jährliche Unabhängigkeit von Užupis], April 2006. Die Künstlerrepublik Užupis wurde 1997 ausgerufen. Sie hat einen Präsidenten, einen Außenminister und 80 Botschafter. Die zwölfköpfige Armee wurde kurz nach der Gründung abgeschafft, da niemand Angst vor der Republik hatte. Jedes Jahr am 1. April wird die Unabhängigkeit erneuert. An diesem Tag kann jeder Bürger der Welt Mitglied der Republik Užupis werden.  2 | Die Zitate in diesem Aufsatz entstammen dem Theaterstück Ich muss gucken, ob ich da bin der Verfasserin, entstanden im Rahmen des Projektes »Erinnern-Vergessen, Kunststücke Demenz«.

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sie stehen: »Ich möchte zum Rhein gehen.« Ich habe wenig Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Demenz und frage mich verunsichert, ob diese Frau das Haus verlassen darf. Und im selben Moment ärgere ich mich schon: Zu selbstverständlich habe ich die Regeln dieser neuen Welt bereits übernommen. Meine Gesprächspartnerin löst den Konflikt, indem sie das Thema wechselt: »Ich habe Hunger«, sagt sie und löst sich von mir, um ihren Pullover hochzuziehen, vermutlich um zu demonstrieren, wie ein Bauch aussieht, der kaum gefüllt ist. Es entblößt sich mit dieser Geste ein gleichzeitig faltiger und mädchenhafter Bauch sowie ein sehr eleganter, champagnerfarbener Spitzenbüstenhalter. So steht sie da in einer Art freeze mit hochgezogenem Pulli, und plötzlich müssen wir beide lachen. Wir durchqueren den Speisesaal. Dort sitzen alte Menschen, starren vor sich auf einen weißen Resopaltisch, die Stille wird nur unterbrochen von immer wiederkehrenden, lauten, beängstigend tiefen Schreien einer Frau, die eher nach einem Löwen als nach einer eher zierlichen Person klingen. Aufgebracht schiebt sie den Rollator durch den Raum. In der Küche durchsuche ich zielstrebig wie eine Diebin den Kühlschrank. Ich belege zwei Brötchenhälften, die meine Begleiterin mit großem Appetit vor Ort verspeist. Frau Franziska Pia wurde mir bereits für das ›Casting‹, zu dem ich hier ins Haus gekommen bin, empfohlen. Aber nicht ich hatte sie gefunden, sondern sie mich. Selten habe ich so schnell entschieden, dass eine Darstellerin unbedingt am Projekt teilnehmen sollte. Als wir Frau Pia fragen, ob sie Lust hat, mit uns Theater zu spielen, wir würden etwa drei Monate proben und dann Aufführungen zeigen, sieht sie uns nachdenklich an und wiegt dabei den Kopf hin und her, wie ein Schiff, das im Sturm schaukelt: »Ich muss gucken, ob ich da bin«, lautet die Antwort. Die Theaterproduktion, die wir gemeinsam entwickelt haben, heißt nach diesem Satz von ihr Ich muss gucken, ob ich da bin.   Artikel 32 Jeder Mensch ist für seine Freiheit verantwortlich.   Das Schlosstheater Moers erhielt in der Spielzeit 2004/05 die Möglichkeit, eine Kampagne zum Thema Demenz zu gestalten, in Kooperation mit Klaus Bremen und der Gesellschaft für soziale Projekte in Essen. Die ganze Spielzeit widmete sich dem Thema »Erinnern-Vergessen, Kunststücke Demenz«. Insgesamt fanden 90 Veranstaltungen statt, allein vier Theaterinszenierungen zum Thema Demenz waren zu sehen. Die erste, Zitrone, Schlüssel, Ball (Text und Regie von Ulrich Greb, dem Intendanten des Schlosstheaters Moers und Mitinitiator der Kampagne), war ein Stück mit vier Schauspielern, das aus Interviews mit Angehörigen von Menschen mit Demenz entwickelt wurde. Die zweite, die experimentelle Arbeit von Anette Kuß, nannte sich eiaskurre, eiaskurre und war eine Tanzperformance mit älteren Tänzerinnen, Schauspielern und Menschen mit Demenz. Die dritte, die Performance Ich schau in meinen Garten, fand in einer Installation des Südtiroler Künstlers und Regisseurs Guido Moser aus Pappe und Farbe statt. Er selbst be-

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fragte in einem offenen Prozess seine demente Mutter nach ihren Erinnerungen. Die vierte Produktion wurde als Auftrag an mich vergeben. In ihr sollten Menschen mit Demenz im Zentrum des Bühnengeschehens zu sehen sein. Daraus entstand mit drei Schauspielern und sieben Menschen mit Demenz die Arbeit Ich muss gucken, ob ich da bin. Begleitend zur Kampagne wurden zwei Dokumentarfilme produziert, die beide auf 3Sat und Arte gezeigt wurden: Eigentlich habe ich schon alles bei mir von Filmemacher Andrzej Klamt und Was vom Tage übrig bleibt von Ralph Goertz. Beide Filme dokumentieren die vier Theaterproduktionen und portraitieren die Darsteller der Produktion Ich muss gucken, ob ich da bin bei den Proben und in ihrem privaten Alltag.   Artikel 28 Jeder Mensch darf mit anderen teilen, was er hat.   Wie ist es möglich, mit Menschen mit Demenz Theater zu spielen? Sie als Pro­ tagonisten auf der Bühne zu inszenieren, in Aktionen, Dialoge einzubinden, mit ihnen spannende Unterhaltung zu erarbeiten und zu erleben? Dies hatte noch niemand vor uns versucht. Heute leben in Deutschland etwa 1,4 Millionen Menschen mit Demenz, davon werden etwa 70 Prozent zu Hause versorgt und 30 Prozent in einer Einrichtung. In der Vorbereitung auf die Kampagne mit sehr vielfältigen, weiteren, künstlerischen Bausteinen verordnete sich das Leitungsteam des Schlosstheaters Moers eine lange Recherchephase inklusive Praktika auf Demenzstationen in Pflegeeinrichtungen. Zuschauen, Essen reichen, begleiten, Lieder singen, Geduld von einer neuen Seite kennen lernen und dem Elend ins Auge blicken: eine harte Schule, die klar machte, warum es dringend nötig ist, das Thema der Demenz aus einem anderen Blickwinkel zu befragen. Verzweifelte Angehörige am Rande des Zusammenbruchs, überforderte Pflegekräfte, existenzielle Versorgungsengpässe in Einrichtungen, Fachkräftemangel, rigide administrative Anforderungen in der Pflege, auf Gewinnmaximierung orientierte Heime, dies alles schien wenig dazu angetan, den Menschen, die dabei waren, sich in eine ›Ver-rücktheit‹ hinein zu entwickeln, unterstützend, liebevoll und wertschätzend zu begegnen. In der ›Casting‹-Phase, die den Vorbereitungen folgte, haben wir (der Psychotherapeut Andreas Wahlster, der Dramaturg Joachim Henn, der Dramaturg Erpho Bell, Ulrike Czermak und ich) etwa 50 Menschen mit Demenz getroffen und dabei rund 25 Einrichtungen kennengelernt, wenn auch nur oberflächlich. Schon die Erinnerung daran verursacht mir Unbehagen. Auch beim ausführlichen ›Casting‹ in Köln, sechs Jahre später für eine weitere theatrale Auseinandersetzung mit dem Thema, erhielt ich Einblicke in die Lebenswelt der Versorgung von Menschen mit Demenz. Aus Erlebnissen dieser Zeit rührt meine grundsätzliche Ablehnung dieser Art von Versorgung. Da mag es Unterschiede geben, die Grundidee von derart entseelter Auf bewahrung von zum Teil sehr schutzbedürf-

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tigen Menschen halte ich für gewalttätig, menschenrechtsverletzend und nicht annähernd akzeptabel. Die künstlerischen Fragen, die wir im Team immer beantworten müssen, lauten zum Beispiel: Warum ist es interessant, ein Stück zum spezifischen Thema zu produzieren? Was genau wollen wir erzählen? Welche ästhetisch-theatralen Mittel erzeugen gesellschaftlich eine Reibung? Daneben bildeten folgende spezielle Aufgabenstellungen den Rahmen unserer gemeinsamen theatralen Suche: Auf welche Weise können Begegnungen mit Menschen mit Demenz unser Leben erweitern, bereichern? Wie können wir die oft unverständlichen, scheinbar wirren Zeichen der Kommunikation von ihnen deuten und in eine Verständigung überführen? Wie können wir eine Arbeitsatmosphäre schaffen, in der die emotionale Fragilität von Menschen lebendig sein kann, auch wenn wir dem Druck einer Theaterproduktion samt Premierendatum standhalten müssen? Nach und nach entwickelten sich auch künstlerische Ziele: ein anderes Bild von Menschen mit Demenz zu vermitteln, sie nicht als hilflose, zu betreuende Wesen auf der Bühne zu zeigen, sondern ihrer Selbstbestimmtheit und Würde, ihrem Witz und ihrer Souveränität Raum zu geben, um überraschende Seiten demenzieller Veränderung von Menschen aufscheinen zu lassen und somit für einen anderen Blick und Umgang mit ihnen zu werben.   Artikel 34 Jeder Mensch hat das Recht, unverstanden zu bleiben.   Menschen mit Demenz, was ist mit ihnen? Menschen mit Demenz erinnern sich nicht. Menschen mit Demenz erinnern sehr viel. Sie leben manchmal geradezu in ihrer Erinnerung. Sie erleben sich im Moment als das kleine Mädchen, das in einem Waisenhaus von Nonnen geschlagen wird, als das kleine Mädchen, das hinter vorgehaltener Hand ein Spottlied auf Soldaten singt; sie wiederholen dieses Lied immer wieder tagelang, wochenlang, monatelang; sie erleben sich als das Mädchen, das mit dem Planwagen den Fluss überqueren muss auf der Flucht vor Soldaten, als die junge Frau, die versucht, als Schaffnerin zu fliehen, deren Flucht aber nicht gelingt und die eingesperrt wird; sie erleben die Vorfreude eines sportlichen jungen Mannes, der mit Freunden die Alpen durchwandern will. Ein merkwürdiger Widerspruch? Professor Dr. Nehen, Leiter der Memory Clinic in Essen, der uns begleitete und beriet, erklärte das etwa so: Den Verlust des Gedächtnisses kann man sich vorstellen wie eine Büroablage. Das, was als Letztes oben auf die Ablage kommt, wird als Erstes vergessen. Erinnerungen, die schon lange im Gedächtnis vorhanden sind, bleiben auch lange erhalten. Im frühen und mittleren Stadium der Demenz ist deshalb noch sehr viel Erinnerungsleistung möglich. Am längsten bleibt der eigene Vorname, aber auch er wird schließlich im Verlauf der demenziellen Veränderung vergessen werden. So kommt es, dass vielleicht nicht erinnert wird, wozu ein Schlüssel da ist oder wie man einen Kugelschreiber führt, wie das komische, ovale Ding heißt, das eine gelbe Mitte hat

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und ob man das essen kann, dass man vielleicht den Weg nach Hause nicht findet, aber Erlebnisse von früher sehr präsent und lebendig sein können. Eine weitere Besonderheit des Erinnerungsvermögens konnten wir für unsere Theaterarbeit nutzen: Gedächtnis ist an Gefühle geknüpft. Damit eine Erinnerung im Langzeitgedächtnis gespeichert wird, muss zunächst zwischen wichtigen und weniger bedeutsamen Eindrücken und Erfahrungen unterschieden werden. Nur die wichtigen finden Eingang ins Langzeitgedächtnis. Der zentrale Aspekt, der dem Gehirn diese Unterscheidung ermöglicht, ist das emotionale Aufgeladen-Sein einer Situation. Schauspielschüler lernen über Jahre hinweg Method Acting, ein Programm, das Lee Strasberg, inspiriert von Konstantin Stanislawski, 1923 im neu gegründeten Lab Theatre in New York zu entwickeln begann und das noch heute vor allem für die amerikanischen (Film-)Schauspieler maßgeblich ist. Spezielle Trainingsformen üben die Darsteller darin, die emotionale Tiefe eines erzählten Momentes individuell mitzuempfinden. Die Technik bietet an, die emotionale Situation der Rolle mittels der Erinnerung eines privaten Momentes mit dem Schauspieler zu verknüpfen. So ist der Schauspieler in der Lage, die oft extremen Gefühlslagen der Rollen nicht nur zitiert oder klischeehaft, sondern ganz persönlich darzustellen. Als Hindernis für die persönliche Äußerung von Gefühlen auf der Bühne betrachtete Strasberg das Bewusstsein, vor einem Publikum zu stehen, beobachtet zu werden und sich sozial verhalten zu müssen oder zu wollen. Menschen mit Demenz brauchen keine Schauspielschule. Der Moment des Erinnerns und des Kommunizierens des Geschehenen spült alte und neue Emotionen ungehemmt an die Oberfläche. Ich habe niemals einen unserer Expertendarsteller mit Angst oder Unsicherheit auf die Bühne treten sehen. Man könnte dies als authentisch bezeichnen. Aber was ist das? Der Begriff ist irreführend in diesem Zusammenhang. Die Äußerungen der beteiligten Darsteller mit Demenz waren frei von der Angst, etwas Falsches zu tun, peinlich zu sein, überhaupt: sich auf der Bühne zu zeigen. Dieses Selbstbewusstsein spornte auch die professionellen Darsteller an, sich auf die stets improvisierten Spielsituationen einzulassen, ohne die sonst parallel mitlaufende Sorge, ob das alles richtig und interessant und gut genug ist, was sie gerade auf der Bühne darstellen. Das heißt aber nicht, dass die Darsteller mit Demenz nicht wussten, dass sie vor einem Publikum stehen. Sie teilten ihre Szenen mit dem Publikum, in vollem (Selbst-)Vertrauen. Artikel 8 Jeder Mensch hat das Recht, weder berühmt noch bekannt zu sein.   Nie hätten wir zu Beginn der Produktion geglaubt, dass die speziellen Darsteller ein Bewusstsein dafür entwickeln würden, dass sie Theater spielen. Es scheint etwas ganz Archetypisches zu sein, in eine Rollenspielsituation einzusteigen und sie wieder zu verlassen. Obwohl man vermutlich für diesen Vorgang das Bewusstsein einer Metaebene benötigt und damit auch abstraktes Denkvermögen,

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schienen Lebensrealität und Bühnenrealität für die Expertendarsteller klar voneinander unterschieden zu sein. Im Gegensatz zu dem vielleicht kindlich erinnerten Rollenspiel konnten die Spezialschauspieler ja auch nicht in eine andere Rolle schlüpfen, sondern spielten sich selbst. Von außen gesehen schien dies eher ein Impuls als ein intellektueller Vorgang zu sein. In der instinktiven Wiederentdeckung des Spielimpulses und der Lust, theatral zu agieren, lag die größte Überraschung dieser Zusammenarbeit, denn die Lebendigkeit und den Spaß, die die dementen Spieler auf der Probe entwickelten, hatten selbst ihre Angehörigen lange Zeit nicht mehr an ihnen gesehen.   Artikel 29 Kein Mensch kann mit anderen teilen, was er nicht hat. Natürlich haben wir uns auch mit der medizinischen Entstehung und den Versorgungsmöglichkeiten von Menschen mit Demenz beschäftigt. Da ich aber am Theater arbeite und keine Medizinerin bin, möchte ich nur zum besseren Verständnis der Begleitumstände dieser Produktion konstatieren, dass seit vielen Jahren intensiv zu der Erscheinung geforscht wird, die wir demenzielle Veränderung nennen, dass Demenz im Moment nicht heilbar und auch kaum medikamentös behandelbar ist. Zudem scheint es unter Wissenschaftlern einen Streit darüber zu geben, ob man eine demenzielle Veränderung eine Erkrankung nennen kann oder eher eine degenerative Entwicklung. Uns interessierten die sozialen Wirkungen dieser Veränderung bei alten Menschen, das Stigma, dem sie unterliegen, und der angstvolle und hilflose Umgang, dem sie ausgesetzt sind.   Artikel 19 Jeder Mensch hat das Recht zu glauben.   Theaterarbeit mit Menschen mit Demenz, ist das möglich? In meinen bisherigen Erfahrungen als Regisseurin bestand Theaterarbeit in ihrer Basis aus der Erfindung von Sprach- und Körperhandlungen der Schauspieler innerhalb eines Raums bezogen auf einen Theatertext in all seinen Dimensionen, der wiederum gespiegelt wird an der gegenwärtigen Lage der Gesellschaft, aus der Verdichtung und Intensivierung dieser Handlungen. Aber Zeit und Raum geraten den Demenzerkrankten ähnlich aus den Fugen wie Wort und Sinn. Zeit und Raum sind jedoch konstituierende Elemente jeglicher Theaterarbeit: Wie ließe sich ohne timing und setting wirksam und wiederholbar Theater spielen? Theater und Demenz beinhalten scheinbar widerstreitende Prinzipien: Theater, also die Kunst des Augenblicks, braucht Gedächtnisleistung und Reproduzierbarkeit. Die Demenzerkrankung bedeutet aber Gefangen-Sein im Augenblick, das Gedächtnis verweigert seine Leistung, die Reflexion des Vergangenen und die Entwicklung von Handlungsstrategien für Zukünftiges funktionieren nicht mehr, auf Wiederholbarkeit kann man sich schon gar nicht verlassen.

Theatrale Begegnungen mit Menschen mit Demenz

Die ersten Proben verliefen total chaotisch. Einfache Körperübungen, die wir als sogenannte ›Schleuse‹ zwischen Alltag und Probenarbeit anboten, wurden nicht verstanden, Ballspiele eher als Bedrohung erlebt, zudem konnten die Beteiligten räumlich den Bühnenraum nicht vom Aufenthaltsraum oder dem Regietisch unterscheiden. Wir waren so mit Nebenthemen beschäftigt, mit denen wir zudem sehr schnell an unsere Grenzen stießen, dass wir gar nicht zur eigentlichen Theaterarbeit vordrangen.

Abb. 1: Ich muss gucken, ob ich da bin Also beschlossen wir, ganz von vorne anzufangen. Wir setzten uns zusammen an den Tisch: die professionellen Schauspieler, die neuen Kollegen, einzeln oder zu zweit, das Leitungsteam. Wir redeten. Wir sangen Lieder. Dazwischen stellten wir Fragen, versuchten, die neuen Kollegen in Gespräche und Erinnerungen zu verwickeln, sie kennenzulernen, oder wir schwiegen zusammen oder berührten unsere Hände (s. Abb. 1). Manchmal brach unvermittelt einer der neuen Kollegen in den Raum auf, wie zu einer Art Erkundungsspaziergang, und der Schauspieler Roland Silbernagl ging einfach hinterher. Benutze die Probendekoration – ein Pflegebett, Stühle, einen Kleiderständer –, um eine Spielsituation anzuregen. Selten habe ich mich gleichzeitig so hilflos und so fröhlich bei der Arbeit gefühlt. Wir gaben alles auf, was wir geplant hatten, und aus dieser Leere entstand etwas

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anderes. Die neuen Kollegen fühlten sich bei uns wohl. Eine der neuen Kolleginnen, Frau Schneider, fragte jedes Mal bei ihrer Ankunft: »Wo sind wir hier, was haben Sie mit mir vor?« Wir antworteten dann, dass wir Theater spielen und dass sie bereits bei der letzten Probe dabei war und auch bereits Theater gespielt hat, und jedes Mal glaubte sie das nicht: »Was? Ich? Theater spielen, das kann nicht sein!« Und jedes Mal ging sie danach einfach mit den anderen Darstellern auf die Bühne und fand ihren Weg in die Probe. Wir bemerkten, dass es leichter ist, uns szenischen Momenten zu nähern, wenn wir einiges über die Biographie der neuen Kollegen wissen. Herr Breitbach war zuletzt Lagerleiter in einem Baumarkt. Wir erfanden mit ihm eine Szene, in der er ein defektes Krankenbett repariert. Roland Silbernagl, ein junger Schauspieler, spielte dabei seinen Azubi, der bei dieser Reparatur assistiert, dauernd die falschen Werkzeuge herüberreicht und auch sonst zu nichts zu gebrauchen ist. Herr Breitbach war eine große Ressource für unsere Produktion, denn als Einziger der Expertendarsteller war er sich bewusst, dass ihm die Funktionen mancher Dinge und Vorgänge abhandengekommen waren. So konnte ihn Roland Silbernagl auf der Bühne danach fragen und auch erkunden, auf welche Weise er sich hilft, seinen Alltag zu meistern.   Artikel 23 Jeder Mensch hat das Recht zu verstehen.   Wir lernten ein weiteres Phänomen kennen: die Magie der Objekte. Wenn die Funktion von Objekten nicht mehr erinnert wird, kann das für einen Menschen mit Demenz beunruhigend sein. Gleichzeitig können Objekte aber den Zugang zu einem unbewussten Körpergedächtnis eröffnen. Wenn wir Frau Schneider fragten, ob sie Klavier spielen kann, verneinte sie dies stets. Wenn sie dann aber am Klavier saß, spielten ihre Hände souverän wie von selbst, und auch das Lesen der Notenblätter verlief reibungslos. Herr Lohausen hatte im Stück eine kleine Sequenz, in der ihm Roland Silbernagl einen großen Fellhandschuh gab, denn die beiden hatten in einer anderen Szene eine Wanderung geplant und bereiteten sich nun darauf vor. Herr Lohausen saß also alleine auf der Bühne und untersuchte diesen Handschuh, neugierig, irritiert, auch etwas unruhig. Er drehte und wendete ihn, verstand seinen Sinn nicht. Plötzlich schlüpfte seine Hand wie von selbst in das Fellknäuel hinein, und die Erleichterung und Befriedigung darüber war ihm deutlich anzumerken. Alltagsgegenstände, die im Leben eine Rolle gespielt hatten, konnten von den Expertendarstellern wie selbstverständlich benutzt werden. Während der Entdeckung der alten Tätigkeiten (die leider Menschen mit Demenz oft nicht mehr ›erlaubt‹ sind) konnte man sie in Dialoge verwickeln, die an ihr vergangenes Leben anknüpften. Unsere Probenarbeit wurde so um eine Menge Requisiten bereichert, die wir wie Köder auswarfen. Folgendes Beispiel demonstriert, wie hilfreich es für uns war, biographische Kenntnisse szenisch nutzen zu können.

Theatrale Begegnungen mit Menschen mit Demenz

Über Frau Pia hatten wir vom sozialen Dienst des Heimes erfahren, dass sie in einem Kindergarten für behinderte Kinder gearbeitet habe. Wir boten also Puppen, Teddybären, Bälle, Luftballons, Kindermusikinstrumente zur Improvisation an. Mit leicht schief gezogenem Mund betrachtete sie diese Gegenstände, und die Dialoge zwischen ihr und Roland Silbernagl zogen sich wie Gummi. Was wir nicht wussten: Die Information war falsch. Frau Pia war viele Jahre sehr erfolgreich Fachverkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft gewesen. Kein Wunder, dass wir mit den angebotenen Requisiten nicht weiterkamen! Wir besorgten Herrenanzüge aus dem Fundus und hängten sie auf den Kleiderständer der Probe. Nun überraschte uns Frau Pia mit der Darstellung einer eloquenten, eleganten Verkäuferin, die mit ihrem Kunden flirtet. Erleichtert atmeten wir auf. Das hörte sich dann so an: R. Silbernagl: Guten Tag, bin ich hier richtig in der Männerabteilung? F. Pia:  Ja, wenn das ist, dann ja. R. Silbernagl: Ich hätte gerne einen Anzug. F. Pia:  Anzug, ja. Krieg ich den? R. Silbernagl: Leider nicht. F. Pia:  Oh. Ja, dann gehen wir mal durch. R. Silbernagl: Ja, wenn Sie mir den mal zeigen würden, vielleicht? F. Pia:  Ja. Haben wir denn viele? R. Silbernagl: Ja, alle die da hängen. (Er zeigt auf den Kleiderständer, an dem vier Anzüge hängen). F. Pia:  Die? Ja? Wie alt ist der Herr denn? R. Silbernagl: 34. F. Pia:  34. Das kann man nehmen, meine ich. R. Silbernagl: Soll ich den mal probieren? F. Pia:  Ja. Das ist alles ... das ist zu schwarz. R. Silbernagl: Zu schwarz? F. Pia:  Diese Sachen sind zu schwarz. Ja sicher! R. Silbernagl: Bisschen was Helleres. F. Pia:  Ja, nicht?  (Sie nimmt einen anderen Anzug) Sehen Sie, das ist schon ganz anders, nicht? Jetzt gehen Sie mal erst und schauen sich das an, wie es bei Ihnen wirkt. Ja, den müssten wir eigentlich ... äh knäulen, nicht? (Sie lacht, er lacht mit.) Der ist zu kurz! R. Silbernagl: Ja, der ist zu kurz. Glauben Sie, den soll ich nehmen? Ist ein bisschen zu kurz, oder? F. Pia: Ja. Nee, nee, ist zu kurz, so ist das ganz schön, nur das ist eben zu dumm. Am Popo sind sie auch schon dran. R. Silbernagl: Am Popo bin ich auch schon dran? (Frau Pia lacht, er lacht mit.)

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Abb. 2: Ich muss gucken, ob ich da bin   Artikel 5 Jeder Mensch hat das Recht, einzigartig zu sein.   Ausgehend von der Hypothese, dass sich zu jedem Menschen ein Weg finden lässt, mit ihm in Kontakt zu treten, bestand unsere erste Aufgabe darin, auf spielerisch-improvisatorische Weise die verschiedensten Möglichkeiten der Kommunikation anzubieten, unsere jeweiligen Interaktionen zu befragen und weiterzuentwickeln. Herr Lohausen, beispielsweise, hatte seit einiger Zeit aufgehört zu sprechen, wie seine Lebensgefährtin bedauerte. Im ›Casting‹ gab es einen für mich sehr rührenden Moment: Wir saßen eine Weile zu zweit zusammen im Wohnzimmer eines Vorstadthauses am Rande von Moers. Ich war müde nach einem langen Tag der Begegnungen mit Menschen mit Demenz und saß einfach da, ohne Erwartung und ohne Kontakt mit Herrn Lohausen aufzunehmen. Nach einer Weile begann er zu pfeifen und richtete diesen Klang an mich. Eine Zeit lang hörte ich zu und stimmte dann ein. Er pfiff vorneweg, und ich folgte, so gut ich konnte. Er hatte eine raffinierte Art, von einer Melodie, mit einer Art musikalischen Pirouette, in die nächste überzuleiten. Auch auf Theaterproben kommunizierten wir zunächst pfeifend. Wir erweiterten unser Repertoire, mischten in die Melodien Pfeifgeräusche, zum Beispiel Befehle, Kommentare und Emotionen wie Ärger, Freude oder Begeisterung. Herr Lohausen hatte sichtbares Interesse an dieser Form der Verständigung und benutzte zunehmend auch wieder Worte. Im Verlauf der Proben sprach er so gut, dass wir mit ihm eine Szene rein sprachlich erarbeiten konnten, ohne das Pfeifen einzusetzen.

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Kommunikation besteht aus Impulsen und deren Intensität, also deren Energie. Es können optische, verbale, olfaktorische, sinnliche Reize und auch intrinsische Motivationen sein wie eigene Gedanken oder Gefühle. Ein Bühnenraum ist ständig randvoll mit Impulsen, die wechselseitig, komplex und mehrdimensional zwischen allen Anwesenden hin und her springen. Menschen mit Demenz verstehen Impulse, die sich an sie wenden, oft nicht oder anders, als sie gemeint waren. Sie erfassen Sprache und Handlungen anders, sie steigen aus unseren Verabredungen von Interpretationen der Zeichen aus, Bedeutungen verschieben sich. Sie erlauben sich, Impulse individuell und emotional auszuwerten. Häufig haben sie eher den Subtext, also die Art und Weise, in der ein Text oder eine Geste angeboten wird, im Fokus. Wir fanden heraus, dass die spezifische Art, dies zu tun, bei jedem Einzelnen von ihnen erlernbar war. Wenn es gelingt, sich an die Erfahrungs-, Erinnerungs- und Bewertungswelt eines Menschen mit Demenz anzukoppeln, die gerade im Moment besteht, dann kann Verständigung stattfinden.

Abb. 3: Ich muss gucken, ob ich da bin   Artikel 24 Jeder Mensch hat das Recht, nichts zu verstehen. Die Premiere fand statt. Wir hatten eine Collage produziert, mit einer ganz losen Rahmenhandlung, die das szenische Sicherheitsnetz des Abends bildete. 29 Mal spielten wir, in drei Städten, vor insgesamt etwa 8.000 Zuschauern. Geprobt im klassischen Sinne hatten lediglich die professionellen Schauspieler. Nach und nach hatten wir herausgefunden, welche Impulse ein szenisches Angebot dar-

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stellten, welche Gesten oder Worte Erinnerungen weckten, den neuen Kollegen Freude bereiteten oder ihr Körpergedächtnis anregen konnten. Wir lockten sie auf Pfade, die sie kannten, und gingen dann mit ihnen. So schufen wir szenische Inseln, auf denen sie sich zeigen, souverän agieren, von sich erzählen konnten. Man hatte uns erklärt, dass Menschen mit Demenz nicht mehr in der Lage sind, Neues zu lernen. Das können wir nicht bestätigen. Die Szenen wurden den Darstellern zunehmend bekannt, auf eine Weise, wie man etwa einen Wintermantel anzieht, den man schon lange besitzt. Die Szenen sahen zwar immer etwas anders aus, wiesen aber weniger Abweichungen auf, als man vermuten würde.   Artikel 7 Jeder Mensch hat das Recht, nicht geliebt zu werden, jedoch nicht unbedingt.   Viele Zuschauer und Teilnehmer an Diskussionen im Rahmen der Kampagne »Erinnern-Vergessen, Kunststücke Demenz« fragten uns immer wieder, ob wir nicht die Sorge gehabt hätten, unsere speziellen Darsteller auszustellen, sie vorzuführen wie Tiere im Zoo. Gleichzeitig drückten sie ihr Erstaunen darüber aus, dass dieses Vorführen nicht stattgefunden hatte. Im Gegenteil, Zuschauer und Kritiker waren erleichtert darüber, dass sie an einem Theaterabend teilhaben konnten, sich amüsieren und berührt sein konnten, ohne sich einer peinlichen Situation ausgesetzt zu sehen. Diese Angst sagt mehr über den Fragesteller aus als über das in Frage Gestellte. Wen stört, wenn jemand sich peinlich verhält, ohne zu merken, dass er peinlich ist? Hier sind wir bei einem Kernthema der Versorgungsproblematik von Menschen mit Demenz. ›Sauber, satt und sicher‹ wünschen wir sie uns und übersehen, dass sie selbst ganz andere Prioritäten setzen würden. Die Darsteller von Ich muss gucken, ob ich da bin waren sich der Tatsache in jedem Moment bewusst, dass sie auf der Bühne standen. Dies haben wir immer wieder überprüft, allerdings aus Sorge um sie selbst, denn wir wollten nicht, dass sie in eine Situation kämen, die sie überrascht oder überfordert hätte. In unserem Erleben hatten sie durchaus ein feines Gespür für peinliche Situationen. Zudem hatten die Darsteller in jedem Moment die Freiheit, nicht aufzutreten oder abzugehen, was auch geschah. Unsere Zusammenarbeit basierte auf Freiwilligkeit in jedem Moment.  Sie konnten uns zwar intellektuell nicht ihr Einverständnis geben, in unserer Produktion mitzuwirken, aber die Freude, mit der sie auftraten, übernahm das für sie. Wenn auf der Bühne Peinlichkeiten passieren, ist dafür immer die künstlerische Leitung verantwortlich, in jeder Theaterproduktion. Auch professionelle Schauspieler können peinlich sein oder Peinliches tun. Zu gewährleisten, dass das nicht passiert, ist Aufgabe der Regie, aber schlussendlich interessiert nur, ob es gelungen ist.  

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Artikel 15 Jeder Mensch hat das Recht zu zweifeln, ist jedoch hierzu nicht verpflichtet.   Ich muss gucken, ob ich da bin war in meiner Lauf bahn als Regisseurin von zentraler Bedeutung. Nicht nur, weil wir Preise gewannen und die biographische Expertentheaterarbeit dieser Kampagne plötzlich eine unerwartete Resonanz in der öffentlichen Aufmerksamkeit erfuhr, sondern weil ich Theaterarbeit erlebt habe, die einzigartig war und meinen Blick auf künstlerische Auseinandersetzungen nachhaltig verändert hat. Dazu gibt es viele Beispiele, ein Letztes möchte ich erzählen. Für die Produktion Ich muss gucken, ob ich da bin erfanden wir eine lose Rahmenhandlung, die es ermöglichte, dass Szenen auch einmal ausfielen oder anders verliefen. Sie waren wie Säulen in das Stück gesetzt. Die Story handelte von einem jungen Mann, der seinen Vater im Altenheim besucht und dem dort andere Menschen mit Demenz wie zufällig begegnen. Diese Begegnungen fanden häufig in merkwürdig verschobenen Traumsequenzen statt (s. Abb. 4). Gegen Ende des Stückes zeigt sich der Vater zunehmend verwirrt, in der letzten Szene stirbt er. Den Tod des Vaters erzählten wir so: Der Schauspieler Wilhelm von Hoegen lag in einem Bett in der Tiefe der Bühne. Die Schauspielerin Helga Henkel fegte in einer Art Meditation die Bühne, die ganz mit Laub bedeckt war. Im Hintergrund lief auf einer großen Leinwand eine zeitlupenlangsame Fahrt der Kamera entlang einer von blühenden Kirschbäumen gesäumten Straße vor einem dunklen Abendhimmel.

Abb. 4: Ich muss gucken, ob ich da bin

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In dieser Situation baten wir Frau Pia, an das Bett des Sterbenden zu treten. Wir ließen sie einfach dort verweilen, bis wir ganz langsam das blaue Licht eingezogen hatten bis zum Black. Ruhig stand sie dort. Sie hatte keinerlei Instruktionen. Sie nahm einfach nur die Situation auf. In jeder Probe, in fast jeder Vorstellung fand sie Abschiedsworte. Einmal sagte sie: »Nun, jetzt hast du dich entschieden, dann müssen wir uns trennen«, und wiederholte ähnliche Sätze bis zur Dunkelheit auf der Bühne. Ein anderes Mal weinte sie leise und ergriff seine Hand. Dann wieder fragte sie: »Willst du gehen, ja willst du weggehen, willst du gehen, ja?« Oder sie sagte: »Du musst erst mal leben, damit du weiter sterben kannst.« Einmal sagte sie: »Dein Bett steht im Laub, dann sag ich jetzt adieu.« Dieses intuitive Erfassen einer Situation, die Möglichkeit, sich emotional auf sie einzulassen und trotzdem ganz bei sich zu sein, diese Souveränität, diese Klarheit, so schlicht, einfach berührend zu sein im Augenblick auf der Bühne, jedes Mal und immer ganz anders, ich kenne keinen Schauspieler, der das so spielen könnte wie Frau Pia.

Q uellenverzeichnis Užupio Respublika Už, Republic of Užupis: VIII Nepriklausomybés Metines Užupis [übers. Jährliche Unabhängigkeit von Užupis], April 2006, Offizielle Postkarte zur Unabhängigkeit 2006.

Autorinnen und Autoren

Robin Curtis, geb. 1964, Prof. Dr., Promotion 2003 an der Freien Universität Berlin, Habilitation 2015 über filmische Immersion, Professorin für Theorie und Praxis Audiovisueller Medien an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf; Forschungsschwerpunkte: Bildwissenschaft, Immersion, Abstraktion, Imagination, mediale Erinnerung, Synästhesie und multimodale Wahrnehmung, Affekt und das bewegte Bild, die Geschichte der filmischen Avantgarde und die moderne Ausstellungspraxis; außerdem Filmemacherin (Nachlass, 1992). Lena Eckert, geb. 1978, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar und Post-doc Stipendiatin der Bauhaus Research School; Forschungsschwerpunkte: Gender Studies, Ageing Studies, Queer Theory, Medien-, Film- und Bildungsphilosophie. Alina Gierke, geb. 1986, MA, Promotionsprojekt über »Leibhaftige Lyrik – Körperkonzepte und Poetik in der klassischen Moderne«, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf; Forschungsschwerpunkte: Goethe-Forschung, Literatur der Moderne, Kinder- und Jugendliteratur, Filmwissenschaft. Pamela Gravagne, born 1946, Doctor of Philosophy, currently at the University of New Mexico, Albuquerque, NM, USA; research topics: aging, gender, film, and philosophical and theoretical aspects of aging and old age, cinematic visions of mind, body identity in later life. Anja Hartung, geb. 1976, Prof. Dr., Habilitation 2012 über »Die Konstitution des alternden Selbst als biografisches Narrativ und intersubjektives Ich unter den Bedingungen mediatisierter Lebenswelten«, Professorin für Kultur- und Medienbildung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Leiterin des Instituts Medien und Gesellschaftlicher Wandel; Forschungsschwerpunkte: Lernen, Sozialisation und Bildung in mediatisierten Lebenswelten, Biografische Medienforschung, Methodologie und Methoden der qualitativen Medienforschung.

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Alte im Film und auf der Bühne

Henriette Herwig, geb. 1956, Prof. Dr., Habilitation 1996 über Goethes Altersroman Wilhelm Meisters Wanderjahre, Lehrstuhlinhaberin im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Forschungsschwerpunkte: Goethe und Goethezeit, historische Anthropologie, Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts, Schweizer Literatur, Literaturtheorie, Gender Studies und Cultural Gerontology. Andrea von Hülsen-Esch, geb. 1961, Professorin für Kunstgeschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit dem Schwerpunkt Mittelalter; Forschungsschwerpunkte: transdisziplinäre Forschungen zu Alter(s)darstellungen sowie zu Materialität und Produktion in der Kunst des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bühnenbilder, Geschichte des Kunsthandels sowie Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte. Thomas Küpper, geb. 1970, Dr., Promotion 2001 über literarische Darstellungen des Alters, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Forschungsschwerpunkte: Ageing Studies, Diskursgeschichte der Kritik am ›Kitsch‹, Editionsprojekte zu Walter Benjamin und Wilhelm Speyer. Silke Martin, geb. 1972, Dr., seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Forschungsschwerpunkte: Gender/Ageing Studies, Sound Studies, Geschichte, Theorie und Ästhetik des Films, Medien- und Filmphilosophie, Landschaftsästhetik des Films. Maike Purwin, geb. 1987, BA, studentische Hilfskraft im Bereich für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Forschungsschwerpunkte: Der Künstlerinnenroman um 1900, Gender Studies und Machtmechanismen. Maike Rettmann, geb. 1987, MA, Promotion über Metaphern im Werk von Herta Müller, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Forschungsschwerpunkte: Alter in der Literatur, Thomas Bernhard, Herta Müller, Lagerliteratur und Metapherntheorie. Elisabeth Scherer, geb. 1980, Dr., Promotion 2010 über weibliche Geister im japanischen Film, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Modernes Japan der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Forschungsschwerpunkte: japanische Populärkultur (Film, TV-Serien), Inter- und Transmedialität, Gender Studies, Japan-Bilder und Japan-Rezeption im Westen, Religiosität und Ritual.

Autorinnen und Autoren

Mara Stuhlfauth-Trabert, M.A., geb. 1982, Promotion über ökologisches Bewusstsein in der deutschsprachigen Literatur, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich für Neuere Deutsche Literatur der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsschwerpunkte: Ökologie und Literatur, Naturethik, Robinsonaden, Literatur und visuelle Medien, Literatur um 1900 und Gegenwartsliteratur. Aagje Swinnen, born 1976, Assistant Professor at the Center for Gender and Diversity/Department of Literature and Art of Maastricht University, the Netherlands; research topics: cultural studies of aging, age ideologies and the intersection of age and other markers of social difference in a wide variety of cultural texts such as photography, film and television. Christian Tagsold, geb. 1971, Prof. Dr., Habilitation 2011 über »Spaces of Translation: Japanese Gardens in the West«, am Institut für Modernes Japan der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Forschungsschwerpunkte: Alternde Gesellschaft in Japan; sport’s mega-events; japanische Gärten im Westen; japanische Diaspora. Florian Trabert, geb. 1978, Dr., Promotion 2011 über Neue Musik in der deutschsprachigen Literatur, Akademischer Rat am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Forschungsschwerpunkte: Intermedialität, Geschichtsphilosophie und Literatur, Österreichische und Schweizer Literatur, Transfers zwischen der deutschsprachigen, französischen und italienischen Literatur. Barbara Wachendorff, geb. 1961, Dipl. Schauspielerin, Regisseurin, inszeniert seit 1996 professionelle, biographische Expertentheaterprojekte mit Jugendlichen, Flüchtlingen, alten Menschen, Analphabeten, Obdachlosen, Menschen mit psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung. Regelmäßige Projektpartner waren dabei das Schlosstheater Moers, die Städtischen Bühnen Münster, das Festival Akzente Duisburg und das Sommerblut Kulturfestival Köln. Anita Wohlmann, geb. 1979, Dr. phil., Promotion 2012 über »Aged Young Adults: Age Readings of Contemporary American Novels and Films«, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department of English and Linguistics (American Studies) sowie Postdoc im DFG-Graduiertenkolleg Life Sciences – Life Writing der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Forschungsschwerpunkte: Ageing Studies, Medical Humanities, Alter in TV-Serien, Life Writing, zeitgenössische amerikanische Kultur und Film. Hans Jürgen Wulff, geb. 1951, Prof. Dr., Promotion 1983 über konzeptuelle Modelle, semantische Analyse und Wissen; Habilitation 1997 über »Darstellen und Mitteilen. Untersuchungen zu einer Semiotik des Films«. Seit 1997 Professor

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Alte im Film und auf der Bühne

für Medienwissenschaft am Institut für Literaturwissenschaft der Christian-Albrechts Universität zu Kiel; Forschungsschwerpunkte: Film und Musik, Bild- und Filmtheorie, rezeptionsästhetische Perspektiven der Film- und Fernsehanalyse, Psychologie und Morphologie des Films, Dramaturgie, Drehbuchtheorie, Kinderfilm, medizinische Themen des Films, Dokumentationstheorie und -praxis.

Alter(n)skulturen Sven Schwabe Alter in Verantwortung? Politisches Engagement im Ruhestand November 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3306-1

Nicolas Haverkamp, Georg Rudinger Mobilität 2030 Zukunftsszenarien für eine alternde Gesellschaft Oktober 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3305-4

Shingo Shimada (Hg.) Altersdemenz und lokale Fürsorge Ein deutsch-japanischer Vergleich August 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3270-5

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Alter(n)skulturen Andrea von Hülsen-Esch (Hg.) Alter(n) neu denken Konzepte für eine neue Alter(n)skultur 2015, 160 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3215-6

Henriette Herwig (Hg.) Merkwürdige Alte Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s 2014, 350 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2669-8

Andrea von Hülsen-Esch, Miriam Seidler, Christian Tagsold (Hg.) Methoden der Alter(n)sforschung Disziplinäre Positionen und transdisziplinäre Perspektiven 2013, 274 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2520-2

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Alter(n)skulturen Nils Dahl Kodokushi – Lokale Netzwerke gegen Japans einsame Tode April 2016, 266 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3307-8

Christiane Mahr »Alter« und »Altern« – eine begriffliche Klärung mit Blick auf die gegenwärtige wissenschaftliche Debatte Januar 2016, 248 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3308-5

Max Bolze, Cordula Endter, Marie Gunreben, Sven Schwabe, Eva Styn (Hg.) Prozesse des Alterns Konzepte – Narrative – Praktiken 2015, 322 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2941-5

Celia Spoden Über den Tod verfügen Individuelle Bedeutungen und gesellschaftliche Wirklichkeiten von Patientenverfügungen in Japan 2015, 324 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3055-8

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