Alltagsrelevanz: zur Frage nach dem Sinn in der Seelsorge 9783525624135, 9783647624136, 3525624131

English summary: This study deals with the question in which way meaning resp. significance and coherence is being const

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Alltagsrelevanz: zur Frage nach dem Sinn in der Seelsorge
 9783525624135, 9783647624136, 3525624131

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-62413-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-62413-6

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier

Band 65

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-62413-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-62413-6

Kristin Merle

Alltagsrelevanz Zur Frage nach dem Sinn in der Seelsorge

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-62413-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-62413-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62413-5 ISBN 978-3-647-62413-6 (E-Book) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: P Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Einführung: Das Interesse der Poimenik am Alltag – wissenschaftshistorische Voraussetzungen und gegenwärtige Positionen 1.1 ›Alltag‹ als Gegenstand wissenschaftlichen Interesses . . . . . . . 1.1.1 Zur Vielschichtigkeit des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Alltagsforschung als Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Das Interesse der Praktischen Theologie am Alltag . . . . . . . . . 1.2.1 Entkirchlichung und Hinwendung zur Empirie . . . . . . . 1.2.2 Praktische Theologie als Hermeneutik der Alltagskultur individuell verfasster Religionspraxis . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Der Alltag in der poimenischen Diskussion . . . . . . . . . .

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Teil I: Intersubjektivität als Struktur der seelsorglichen Situation . . . . . . . . . 63 2. Joachim Scharfenberg: Seelsorge als symbolische Interaktion . . . . . 2.1 Die Zirkelstruktur des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Seelsorge als Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Seelsorge als symbolische Interaktion . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Pastoralpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Identität und der Prozess der Bewusstwerdung . . . . . . . . . . . 2.2.1 Anthropologische Basismuster: Grundambivalenzen, Grundstrukturen und Grundkonflikte . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Psychoanalytische Anthropologie und die Rede von der Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Ankerung und Aufbruch als Aufgaben der Seelsorge . . . . 2.3 Religionskritik und Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Religion bei Sigmund Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Das Freudsche Religionsverständnis als »Fremdprophetie« 2.3.3 Religion zwischen Symbol und Substanz . . . . . . . . . . .



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3. Isolde Karle: Seelsorge als religiöse Kommunikation . . . . . . . . . . 93 3.1 Seelsorge zwischen Modernekritik und Inklusionsauftrag . . . . 93

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Inhalt

3.1.1 Seelsorge als Funktion der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Seelsorge als religiöse Kommunikation . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Seelsorge als Konstruktionsgeschehen . . . . . . . . . . . . . 3.2 Individualisierung als Problem der Moderne . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft und das Problem der Individualität . . . . . . . 3.2.2 Inklusion und Exklusion – Aufgabe und Problem der Identitätsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Religion als Vollzug der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Die Bedeutung der Interaktion zwischen Anwesenden für die religiöse Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Zur Physiognomie der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Henning Luther: Seelsorge im Angesicht des Anderen . . . . . . . . . 4.1 Das Verwiesensein der Seelsorge auf die konkrete Alltagswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Seelsorge als diakonische Seelsorge: grundlegende Aufgabe kirchlicher Praxis . . . . . . . . . . . 4.1.2 Kritik am »Defizitmodell des Helfens« und die Sorge um das Selbst-Sein-Können des Einzelnen . . . . . . . . . . 4.1.3 Seelsorge und Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Unabschließbare Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Identität als Fragment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Ethik als prima philosophia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Religion als Modus der Selbsttranszendenz . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Der Alltag als Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Theologie und subjektiver Religiosität . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Weltabstand und Selbsttranszendenz . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Eschatologie als Movens der Theologie . . . . . . . . . . . . 4.4 Sinn: Möglichkeit oder Unmöglichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Die Behauptung von Sinn als Moment der Täuschung . . . 4.4.2 Die Konstitution von Sinn durch den Anderen . . . . . . . . 4.4.3 Jenseits von Sinn und Affirmation: das Problem . . . . . . .



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Teil II: Die sinnhafte Konstitution der alltäglichen Lebenswelt: Alfred Schütz und die phänomenologisch orientierte Soziologie . . . . . . 147 5. Der Lebenswelt-Begriff bei Edmund Husserl und seine Neu-Akzentuierung bei Alfred Schütz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 5.1 Der Begriff der ›Lebenswelt‹ bei Edmund Husserl . . . . . . . . . 152

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Inhalt

5.2 Phänomenologie als sozialwissenschaftliches Instrumentarium: die wissenschaftstheoretischen Eckpfeiler der Theorie Alfred Schütz’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 5.3 ›Lebenswelt‹ bei Alfred Schütz und Thomas Luckmann – ›natürliche Einstellung‹ und Sinnverstehen . . . . . . . . . . . . . 156 5.4 Aufschichtung der alltäglichen Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . 159 6. Die Vorgegebenheit des Anderen: Grenze des Verstehens . . . . . . . . 6.1 Sozialität als überindividuelles Faktum . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Die faktisch vorgegebene Sozialwelt und die Idealisierung der Reziprozität der Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Mitmenschen, Zeitgenossen, Generationen . . . . . . . . . . 6.2 Eigener Sinn und fremder Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Das Problem des Fremdverstehens: subjektiver und objektiver Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Die Erfahrung des Anderen als Ort der Selbsttranszendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Sozialität und Normativität: die ethnomethodologische Studie »Agnes« von Harold Garfinkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Ethnomethodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Die Studie »Agnes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Relevanz und Sinnkonstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die passive Synthesis als Grundlage höherstufiger Akte des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Relevanz und Relevanzgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Die verschiedenen Strukturen der Relevanz . . . . . . . . . 7.2.2 Typisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Handeln in der alltäglichen Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Die Sinnbezogenheit von Erlebnis, Erfahrung und Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Handeln als soziale Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Handeln – vom Entwurf zum Resultat . . . . . . . . . . . . .

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8. Intersubjektivität und Institutionalisierung: Konventionalisierung des Fremdverstehens . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Der Wissensvorrat und sein Erwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Elemente des subjektiven Wissensvorrats . . . . . . . . . . . 8.1.2 Der gesellschaftliche Wissensvorrat . . . . . . . . . . . . . . 8.1.3 Die soziale Verteilung des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Zeichen, Symbol, Sprache: intersubjektive Bedeutungskonstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

8.2.1 Das Zeichen als wesentliches Element intersubjektiver Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Symbolisierung als Appräsentation des Transzendenten . . 8.2.3 Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Institutionalisierung und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Externalisierung, Objektivation, Internalisierung . . . . . . 8.3.2 Intermediäre Institutionen als Vermittlungsinstanzen . . . 9. Religion und Transzendenzweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Der Alltag und seine Transzendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.1 Die phänomenologischen Transzendenzen . . . . . . . . . . 9.1.2 Bereiche geschlossener Sinnstruktur . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Die kommunikative Qualifizierung religiöser Erfahrung . . . . . Exkurs: Die transzendenzoffene Disposition des Menschen (William James) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Die Sinnprovinz der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Die kommunikative Konstitution symbolischer Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Erscheinungsformen des Religiösen: die religiöse Grundierung des Alltags . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.1 Individuelle Verfasstheit von Religion: die Verflüssigung des Institutionellen (Privatisierung) . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2 Religiöse Sozialformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.3 Zivilreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



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Teil III: Poimenische Überlegungen zum Problem des Fremdverstehens . . . . . . 265 10. Seelsorge und Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Der lebensweltliche Zusammenhang der seelsorglichen Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.1 Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.2 Sozialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.3 Seelsorge und Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Religion und alltägliche Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.1 Der Ort der Religion in der alltäglichen Lebenswelt . . . . 10.2.2 Religiöse Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.3 Gestalten der seelsorglichen Praxis in der Lebenswelt des Alltags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Eine theologische Leitvorstellung: Geselligkeit als hermeneutische Praxis des Religiösen . . . . . . .

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Inhalt

10.3.1 Schleiermachers Theorie des geselligen Betragens – Sozialität und Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2 Versuch einer semantischen Verknüpfung: der Gedanke der koinonia bei Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Alltagsrelevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.1 Relevanzerhellung als Reflex auf das Problem des Fremdverstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.2 (Para-) Soziale Faktoren der Relevanzgenese . . . . . . . . . 10.4.3 Mögliche Schritte der Interaktion . . . . . . . . . . . . . . .

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Schluss/Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344

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Jedenfalls ist die Problematik des subjektiven und objektiven Sinns die Eingangspforte zu jeder Theologie und Metaphysik. Alfred Schütz

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Vorwort

Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2009 von der EvangelischTheologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommen und 2010 mit dem Promotionspreis der Fakultät ausgezeichnet. Viele Menschen haben mich auf dem langen Weg der Genese der Arbeit begleitet, unterstützt, ermutigt. Allen danke ich von Herzen. Mein Dank gilt im Besonderen Prof. Dr. Birgit Weyel, die nicht nur stets und unermüdlich fach­lichen Rat wusste, sondern es immer auch verstand, stärkend Potentiale freiheitlichen Handelns zu wecken. Ich danke herzlich auch Prof. Dr. Wilhelm Gräb, der mich an der Humboldt-Universität zu Berlin zu Beginn meiner Arbeit an der Dissertationsschrift in seinen Mitarbeiterkreis aufnahm und mich förderte. Prof. Dr. Volker Drehsen danke ich für inspirierende religionssoziologische Fachgespräche und die Übernahme des Zweitgutachtens in Tübingen. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Prof. Dr. Eberhard Hauschildt und Prof. Dr. Anne Steinmeier danke ich für die Aufnahme der Studie in die Reihe »Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie«. Die Arbeit wäre nicht geworden ohne zahlreiche Gesprächspartner und -­partnerinnen, einen geduldigen Freundeskreis und die Unterstützung durch meine Familie. Dr. Christiane Hümmer danke ich für alle Unterstützung zu jeder Zeit. Meinen Eltern, Hans Peter und Susanne Merle, die stets wohlwollend auf das Theologietreiben ihrer Tochter sahen und sehen, weiß ich mich sehr verbunden. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Für einen Druckkostenzuschuss danke ich schließlich der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) sowie der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Stuttgart, im November 2010

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Kristin Merle

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1. Einführung: Das Interesse der Poimenik am Alltag – wissenschaftshistorische Voraussetzungen und gegenwärtige Positionen Alltagsseelsorge ist zum Begriff geworden: Seit einigen Jahren spielt der Begriff der Alltagsseelsorge eine Rolle in der Praktischen Theologie. Dass er quasi ›zu einem Begriff‹ wurde, ist vor allem der Veröffentlichung Eberhard Hauschildts mit dem gleichnamigen Titel zu verdanken.1 Doch schon, bevor Hauschildts »Alltagsseelsorge« veröffentlicht wurde, gab es einige Stimmen in der praktischtheologischen Landschaft, so vor allem Wolfgang Steck und Henning Luther, die eine Rückbindung der seelsorglichen Theorie und Praxis an deren eigene lebens­weltliche Voraussetzungen anmahnten. Dieses Anliegen, die Seelsorge mit der ganz konkreten, jeweils individuellen Situationswirklichkeit der Seelsorgesuchenden zu vermitteln, ist im Zusammenhang einer allgemeinen Entwicklung in der Praktischen Theologie zu verorten: Das Interesse vieler praktischtheologischer Reflexionen der letzten Jahre wendet sich – weg von kirchlicher Handlungstheorie  – einer kulturhermeneutischen Wahrnehmung lebensweltlicher Phänomene zu.2 Damit rückt verstärkt der thematische Zusammenhang zwischen – expliziter oder impliziter – Religion und Alltag ins Blickfeld.3 Allgemein betrachtet, ist das Interesse an der Wahrnehmung lebenswelt­licher Phänomene als Reflex auf die Moderne und die mit ihr einhergehende Plura­ lisierung von Lebensumständen und Lebenswelten und vor allem dem Bewusstsein von dieser Pluriformität zu interpretieren. Insofern setzt jenes Interesse spätestens mit der Aufklärung und dem Bedürfnis ein, die Verfasstheit menschlichen Lebens in einer ›groß‹ gewordenen Welt, und zwar ohne den bindenden Inter­pretationsrahmen des christlich-metaphysischen Baldachins, zu erforschen und zu interpretieren. Die Tendenzen der Praktischen Theologie, sich etwa durch empirisches Arbeiten der Lebenswelt von Menschen nähern zu wollen, 1 Vgl. Hauschildt, E., Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse. 2 Vgl. u. a.: Heimbrock, H.-G., Interesse, 11 ff; Failing, W.-E./Heimbrock, H.-G., Gelebte Religion wahrnehmen; Steck, W., Praktische Theologie, 33 ff; ders., Praktische Theologie als Topographie, 167 ff; ders., Alltagsdogmatik, 287 ff; Gräb, W., Praktische Theologie als reli­ giöse Kulturhermeneutik. 3 Programmatisch schreibt Henning Luther in seiner »Praktischen Theologie des Subjekts« – so der Untertitel: »Die Zuwendung zu den Subjekten bedeutet zuerst, daß Praktische Theologie sich an den Ort der Subjekte begibt, d. h. also in den Alltag [im Original hervor­ gehoben; KM]. Eine an den Subjekten orientierte Praktische Theologie erfordert die Über­ windung der Lebensweltvergessenheit der Theologie. Darum benennt der Haupttitel dieser Beiträge also den Zusammenhang von ›Religion und Alltag‹.« (Luther, H., Religion und Alltag, 18.)

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Einführung

sind entsprechend nicht eine Neuerung der letzten 35 oder 40 Jahre4, sondern vielmehr ein Anknüpfen an Arbeitsdesiderate, die bereits im 19. und zu Beginn des 20. Jhs. von prominenten Theologen wie Wilhelm Bornemann und Friedrich Niebergall, Paul Drews und Otto Baumgarten angemahnt und angegangen wurden. Die Schrecken der beiden Weltkriege im 20. Jh. führten in weiten Kreisen zu einer theologischen Reaktionsbildung, die anthropologische Bestimmungen nur über eine Verortung im dogmatischen System zuließ – und damit das Interesse an der konkreten Lebenswelt der Menschen in seiner Legitimität an sich zurück stellte. Um 1970 hielt die Adaption sozialwissenschaftlicher Methoden Einzug in die Praktische Theologie: Der Aufsatztitel von Klaus Wegenast »Die empi­rische Wendung in der Religionspädagogik« bezeichnete 1968 programmatisch die erfolgte Wende. Man versuchte verstärkt, die theologische Binnenkultur zu überwinden und beschäftige sich in bisher kaum gekanntem Maße mit den Humanwissenschaften, insbesondere der Soziologie und der Psychologie.5 Besonders durch die Auseinandersetzung mit der Psychologie6, aber auch durch den partiellen Einfluss der Philosophie der Frankfurter Schule7, wuchs das Interesse an Kommunikationsvorgängen und -theorien  – die Reflexion über Kommunikation als zentrales Paradigma etablierte sich für die Folgejahre: Kirchliches Handeln insgesamt, besonders die Verkündigung, wurde an die Frage rück­gebunden, wie Kommunikation stattfindet.8 Die Handlungsorientierung der Praktischen 4 Vgl. für das Wiedererstarken des empirischen Forschungsinteresses exemplarisch die seit vier Jahrzehnten durchgeführte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland: »Wie stabil ist die Kirche?« (1974), »Was wird aus der Kirche?« (1984), »Fremde Heimat Kirche« (1997), »Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge« (2006). 5 Einzelne theologische Stimmen verweisen in den siebziger Jahren darauf, dass die christliche Religion in einen Dialog mit den Sozialwissenschaften treten muss, will sie an Kommunikationsprozessen im Zusammenhang der Aushandlung gesellschaftlichen wie individuellen Sinns teilhaben. (Vgl. Dahm, K.-W., Interesse der Religion, 15.) V. Drehsen und H. J. Helle arbeiten an einer Korrelierung des Begriffs der Religion mit einer Typologie prototypischer Sinnsysteme. Die Theologie sieht sich hier auf die Wissenssoziologie verwiesen. Vgl. Drehsen, V./Helle, H. J., Religiosität und Bewusstsein. 6 Vgl. exemplarisch: Scharfenberg, J., Sigmund Freud und seine Religionskritik (1968); Beachtung findet neben den tiefenpsychologischen Schulen (vor allem der Freud- und der Jung-Schule) etwa auch die Kommunikationstheorie Paul Watzlawicks: vgl. Watzlawick, P./ Beavin, J. H./Jackson, D. D., Menschliche Kommunikation (1969). Zur Aufnahme der kommunikationstheoretischen Axiome Watzlawicks u. a. vgl. Otto, G., Grundlegung der Praktischen Theologie, 204 ff. 7 Vgl. Otto, G., Grundlegung der Praktischen Theologie, 20 ff; 74 ff; 214 ff; vgl. ders., Praktische Theologie als Kritische Theorie, 105 ff; vgl. Lämmermann, G., Praktische Theo­ logie als kritische oder empirisch-funktionale Handlungstheorie?; vgl. auch: Heyl, A. von, Praktische Theologie und Kritische Theorie, 218 ff; 232 ff. 8 Vgl. etwa, bezogen auf Predigt, Religionsunterricht, Seelsorge und Publizistik: Klaus, B. u. a. (Hg.), Kommunikation in der Kirche (1979).

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Theologie (wie der Einfluss des amerikanischen Pragmatismus) fungierte als Katalysator des neuen Wahrnehmungsinteresses. Programmatisch und unter Rückgriff auf die Idee des herrschaftsfreien Diskurses der Frankfurter Schule prägt Ernst Lange für die Homiletik etwa die Formel der »Kommunikation des Evangeliums«.9 Das Kommunikations-Paradigma nahm für die Poimenik Gestalt in der so genannten ›Seelsorgebewegung‹ an: Dadurch, dass man nun der Gestaltung eines partnerschaftlichen Beziehungsgeschehens in der Seelsorge größte Bedeutung beimaß, rückte das Kommunikationsgeschehen (verbal oder non-verbal) in der seelsorglichen Situation in den Mittelpunkt. Mehr und mehr gewannen die Module aus der US-amerikanischen so genannten ›Seelsorgebewegung‹10, wie die Pastoralpsychologie, das Pastoral Counseling und das Clinical Pastoral ­Training, Gewicht innerhalb der seelsorglichen Theoriebildung und der prak­ tischen Ausbildung. Die Themenzentrierte Interaktion11 und Einsichten der klientenzentrierten Gesprächsführung12 finden Einlass in die seelsorgliche Schulung. Die Rezeption der Psychoanalyse prägt bis zur Gegenwart die Arbeiten zur Pastoralpsychologie. Die Reflexion über Kommunikation in der Poimenik führte erstaunlicherweise mitnichten dazu, dass die Forschung sich auch der konkreten, alltagsweltlichen Aushandlung von Wirklichkeit – und das heißt nicht zuletzt: mit ihren jeweiligen Voraussetzungen  – näher zuwandte. Stattdessen ist das Thema der (sprachlichen) Konstruktion von Wirklichkeit zwar stets als vermeintlich selbstverständliches mitgeführt worden, faktisch assimilierte man es dem jeweils eigenen theologischen Verständnis. Man könnte auch sagen: Das Thema wurde um seine eigenständige Bedeutung gebracht. Dass dies eintrat, hängt vor allem damit zusammen, dass die allermeisten poimenischen Arbeiten im Zusammenhang der Seelsorgebewegung sich über die Adaption v. a. psychoanalytischer Theorieelemente den nächsten starken ›metaphysischen Überbau‹ einhandelten. Man war zwar an den lebensgeschichtlichen Problemen der Einzelnen interessiert, doch das konkrete Subjekt in seinen alltagsweltlichen Konstitutionsbedingungen stand in der zweiten Reihe, quasi hinter den symbolischen Abstraktionen. Der Rekurs auf soziologische Theorien gestaltete sich zurückhaltend. 9 Lange, E., Predigen als Beruf, 11. 10 Seit den zwanziger Jahren des 20. Jh. beginnt sich in den USA sowohl eine neue Seelsorgepraxis wie eine Seelsorgedidaktik auszuprägen. Dietrich Stollberg macht diese Entwicklungen in seinem Buch »Therapeutische Seelsorge« (1969) dem deutschsprachigen Raum zugänglich. Vgl. zur Rezeption in den Niederlanden: Faber, H./Schoot, E. van der, Praktikum des seelsorgerlichen Gesprächs (1968) und Zijlstra, W., Seelsorge-Training (1971). 11 Vgl. Cohn, R. C., Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion (1975). 12 Vgl. Rogers, C. R., Die nicht-direktive Beratung (1972; Original: Counseling and Psychotherapy, 1942); vgl. ders., Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie (1973; Original: Client-Centered Therapy, 1951).

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Anfang der neunziger Jahre des 20. Jhs. kommt es zu Diffusionserscheinungen im poimenischen Feld, unter Umständen als Vorboten eines anstehenden – und immer noch ausstehenden – Paradigmenwechsels. Einige Versuche existieren, das alte empirische Paradigma, und wenn nicht dieses in Gänze, dann doch zumindest das für die Seelsorge sehr einflussreiche (tiefen-) psychologische Paradigma zu verabschieden13. Allerdings muss man nach wie vor feststellen, dass die meisten Arbeiten in der Poimenik entweder dem klassischen dogmatischdeduktiven Schema folgen oder sich auf eine psychologische Schule resp. psychotherapeutische Fachrichtung beziehen. Bisher existieren nur wenige explizit poimenische Veröffentlichungen, die sich der Soziologie als Partnerdisziplin zuwenden.14 Diejenigen Veröffentlichungen, die diesem Anliegen nachgehen, intendieren verstärkt eine Überwindung der verengten Reflexionsperspektive auf die psychische Konstellation im Individuum, wie sie vor allem die psychoanalytisch orientierten Ansätze mit sich führen. Die sich in der Poimenik mehr und mehr durchsetzende Erkenntnis, dass für das Verstehen von (individuellen) Lebensäußerungen die soziale Umwelt mit einbezogen werden muss, führte bisher allerdings nicht konsequent genug zur Einholung des Phänomens ›Alltag‹ in die poimenische Theoriebildung. Vier Positionen verbinden sich mit dem Bemühen, das Thema ›Alltag‹ grundlegend in den poimenischen Diskurs einzutragen. Die Positionen seien hier in aller Kürze erwähnt, sie werden an anderer Stelle der Arbeit – je nach Relevanz für dieselbe – ausführlicher besprochen. Sowohl chronologisch wie auch in der Bedeutsamkeit für die vorliegende Arbeit ist zunächst Henning Luther zu nennen. In den achtziger Jahren veröffentlicht Luther drei Aufsätze, die das Thema ›Alltag‹ umkreisten: »Die Zwiespältigkeit des Alltags – Perspektiven der neueren Diskussion zu ›Alltag‹ und ›Lebenswelt‹: ein Literaturbericht« (1986), »Alltagssorge und Seelsorge – Zur Kritik am Defizitmodell des Helfens« (1986) und »Schmerz und Sehnsucht – Praktische Theologie in der Mehrdeutigkeit des Alltags« (1987). Luther arbeitet hier mit einem ambivalenten Alltagsbegriff: Einerseits ist der Alltag mit all seinen kleinen (missachteten) Schwellen und Grenzen Ort potentieller religiöser Erfahrung. Andererseits wird der Alltag von Luther als repressives, entfremdendes Element beschrieben. Diese Spannung kann ­Luther, wie sich noch zeigen wird, nicht integrieren – es bleibt bei dieser Ambivalenz mit Blick auf das Phänomen. Die Nichtintegrierbarkeit der Ambivalenz hat Gründe

13 Programmatisch lautet ein Aufsatztitel Eberhard Hauschildts 1994 »Ist die Seelsorgebewegung am Ende?«; Isolde Karle versucht sich 1996 in »Seelsorge in der Moderne« an der Etablierung eines soziologischen Paradigmas; auch die starke Betonung der Pluralisierung der Arbeiten in den verschiedenen praktisch-theologischen Handlungsfeldern durch Uta PohlPatalong können als Interesse interpretiert werden, ein neues Paradigma auszurufen. 14 Vgl. etwa Karle, I., Seelsorge in der Moderne; Pohl-Patalong, U., Seelsorge zwischen Individuum und Gesellschaft; auch: Grözinger, A., Differenz-Erfahrung.

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in weiteren theoretischen Annahmen, die Luther pflegt, wie etwa der einer repressiv-autoritären Gesellschaftstheorie. Nachfolgende alltagstheoretische Ansätze äußerten bedauerlicherweise wenig Interesse an dem Problem der Intersubjektivität, das Luther letztendlich in eine Aporie führte. Zudem wird man auch sagen können, dass weniger die Aufsätze Henning Luthers als vielmehr der Aufsatz von Wolfgang Steck, »Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt« (1987), den Alltag ins poimenische Bewusstsein rückt. Steck versucht zu zeigen, dass das pastorale Seelsorgegespräch schlicht eine institutionalisierte Form des seelsorglichen Alltagsgesprächs ist. Leider bleibt es für Steck weitgehend bei der Thematisierung der alltäglichen Lebenswelt für die Seelsorge im Rahmen dieses Aufsatzes, wenngleich Steck in der Folgezeit ausführlich um eine Vermittlung zwischen alltäglicher Lebensdeutung und Prak­tischer Theologie im Allgemeinen bemüht ist, etwa im Zusammenhang des Projektes der »Alltagsdogmatik«. An Stecks alltagsseelsorglichem Anliegen arbeitet Eberhard Hauschildt weiter: In seiner »Alltagsseelsorge« (1996) unterzieht ­Hauschildt verschiedene kommunikative Situationen anlässlich pastoraler Geburtstagsbesuche einer eingehenden Betrachtung: Der Ertrag der Hauschildt’schen »Alltagsseelsorge« für die Poimenik mag allerdings vorwiegend in der Anwendung der sozio-linguistischen Analysemethoden denn in der soziologischen Fundierung der Arbeit liegen, welche eher kurz ausfällt. Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch die Monographie des katho­ lischen Theologen Thomas Henke, »Seelsorge und Lebenswelt« (1994), zu nennen. Im Anschluss an Jürgen Habermas entwirft Henke Seelsorge als »kommunikatives Handeln in der alltäglichen Lebenswelt«15. Sehr begrüßenswert ist der interdisziplinäre Dialog, den Henke mit der kritischen Aufnahme des soziologischen resp. sozialphilosophischen Lebenswelt-Begriffs eröffnet. Zu fragen ist, inwieweit es Henke gelingt, die Habermas’sche, stark an der Ratio orientierten, Theorie des kommunikativen Handelns als grundlegendes Reflexionselement für die Poimenik zu plausibilisieren: Ist doch zu überlegen, ob die sehr starke Fokussierung auf das Moment des rationalen kommunikativen Handelns nicht wesentliche Strukturen und Struktureigenschaften seelsorglichen Handelns ausblendet bzw. negiert. Der Rückgang auf den Alltag als Gegenstand wissenschaftlichen Interesses ist unmittelbare Konsequenz aus dem gewandelten Auftreten der Praktischen Theologie als ›Wahrnehmungswissenschaft‹: Der Alltag bzw. die alltägliche Lebenswelt ist Ort konkreter Geschichtlichkeit des Menschen und zugleich soziales Konstrukt, d. h. Deutungshorizont für die verschiedensten Phänomene, an deren Erhellung der Praktischen Theologie gelegen ist. Insofern gilt es, die Spannung zwischen dem Alltag als Ort verschiedener geschichtlicher Phänomene und dem



15 Henke, Th., Seelsorge und Lebenswelt, 420 ff.

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Alltag als Deutungskonstrukt auszuhalten und wach zu halten. Gelingt dies, so können einerseits an die konkreten geschichtlichen Ausformungen des Alltags kritische Maßstäbe angelegt werden. Andererseits folgt daraus, dass der Alltag als ›lebensweltlicher Erscheinungsbereich‹ nicht per se normativ – i. S. einer repressiven und entfremdenden Struktur – belegt werden muss. Dass dem Alltag als Reflexionsgegenstand in der Poimenik nicht die entsprechende Aufmerksamkeit zuteil wird – abgesehen von den wenigen bereits genannten Arbeiten – ist als Forschungsdefizit zu bezeichnen.16 Diesem Forschungsdefizit möchte die vorliegende Studie begegnen und für ein breiteres Verständnis von Alltagsseelsorge eintreten: Seelsorge ist immer schon Alltagsseelsorge  – im Sinne eines integrativen Verständnisses von Seelsorge kann sich Seelsorge genuin als Alltagsseelsorge verstehen. Sie ist All­ tagsseelsorge, unabhängig davon, in welcher charakteristischen Weise sie sich weiterhin ausdifferenzieren mag (interkulturell, feministisch, systemisch usw.). Seelsorge ist immer schon Alltagsseelsorge, weil sie selbst an den Strukturen der alltäglichen Lebenswelt teil hat. Anders formuliert: Seelsorge selbst ist in ihren eigenen Strukturen bedingt durch die Strukturen der alltäglichen Lebenswelt. Zu fragen ist also weiterführend, wie sich das Verhältnis zwischen Seelsorge und Alltag genauer bestimmen lässt. Hier liefert eine ausführliche Beschäftigung mit der phänomenologisch orientierten soziologischen Theorie, vor allem der Alfred Schütz’, wichtige Impulse. Die Auseinandersetzung mit Schütz wird ein Thema vertiefen, welches sich für die Seelsorge in Theorie und Praxis als äußerst relevant erweist, nämlich das der Intersubjektivität. Dieses Problem der Intersubjektivität liegt allem konkreten Tun des Menschen voraus; es ist konstitutiv in die Lebenswelt des Alltags eingebunden, denn in der Lebenswelt des Alltags kommunizieren die Menschen miteinander, sie begegnen einander, sie handeln in diesem Ausschnitt der Lebenswelt. Die Lebenswelt des Alltags ist der Ort, an dem die Frage der Intersubjektivität entsteht – und in Folge die Frage nach den Bedingungen des Subjektseins unter der Strukturvoraussetzung der Intersubjektivität. Denn bevor sich der Mensch ins Selbstverhältnis setzen, also als Subjekt empfinden kann, ist er immer schon hineingeboren und -verwoben in so­ ziale Bezüge. Mit dem Begriff der Intersubjektivität ist also ein wesentliches Element der alltäglichen Lebenswelt im Allgemeinen benannt, wie auch damit die Hauptaufgabe der Seelsorge im Spezielleren anzeigt ist. Denn das Problem der Intersubjektivität, also das des gegenseitigen Verstehens fremder Selbstverhältnisse, ist ein typisches auch für die seelsorgliche Situation, in der es darum geht, das Anliegen der anderen Person in seinem biographischen Zusammenhang zu verstehen und in möglichst vielen Dimensionen wahrnehmen zu können. Die seelsorgliche Situation lebt im Wesentlichen davon, dass Kommunikation – auf welche

16 Vgl. Hauschildt, E., Art. Seelsorgelehre, 69.

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Weise auch immer – gelingt. Damit ist der Horizont der vorliegenden Arbeit benannt. Er manifestiert sich in der Frage: Welche konzeptionellen Konsequenzen ergeben sich für die Seelsorgelehre und -praxis aus dem Problem des gegenseitigen Verstehens fremder Selbstverhältnisse? Diese Frage überspannt die verschiedenen Teile der vorliegenden Arbeit. Dass dem Alltag in der Behandlung dieser Frage eine äußerst gewichtige Bedeutung zukommt, erschließt sich aus den bisherigen Erläuterungen: Die alltägliche Lebenswelt ist just der Ort konkret historischer Gestaltwerdung des skizzierten Problems, der Ort der Intersubjektivität, der Ort der Seelsorge. Sie ist die »ausgezeichnete Wirklichkeit« (Schütz), in welcher Prozesse der Sinnmanifestation auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden – gesellschaftlich wie individuell. Der Begriff des Sinns zeigt sich als Schlüssel zur Reflexion des Problems des Fremdverstehens, er ist Leitbegriff für die Soziologie wie für die Praktische Theologie. Die Einsicht, dass der Sinnbegriff wesentlich als Relationsbegriff gefasst werden muss, liefert die Ausgangsbasis für die Anschlussfähigkeit der Praktischen Theologie an andere (nicht-theologische) Disziplinen wie an die alltägliche Lebenswelt moderner Individuen. Der Gang der Studie hat analytisch-integrativen Charakter. Während der einführende Teil  sich grundlegend, wenn auch notwendig skizzenhaft, mit dem Begriff des Alltags und dem Interesse an ihm aus wissenschaftshistorischer Perspektive beschäftigt, werden in einem ersten großen Teil (I) der Arbeit Analysen und Interpretationen von gegenwärtig relevanten poimenischen Positionen angeschlossen. Diese Arbeiten werden einerseits daraufhin untersucht, welche Antworten sie in Reaktion auf das Problem der Intersubjektivität anbieten, andererseits inwieweit der Alltag überhaupt in die theologische Reflexion einbe­zogen wird. Vorgestellt werden sollen die Arbeiten Joachim Scharfenbergs, Isolde Karles und Henning Luthers. Die Auswahl dieser Positionen folgt dabei der Idee einer Zusammenführung wichtiger Reflexionsmomente auf die zuvor ausgeführte grundlegende Fragestellung der vorliegenden Studie. Mit Blick auf die verschiedenen Kommunikationsstrukturen in der seelsorglichen Situation ist es wichtig, symbolisches Sprechen zu thematisieren. In der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen des Fremdverstehens kommt dem Symbol im Zusammenhang religiöser Kommunikation eine be­sondere Rolle zu, denn »die Sprache des Glaubens ist das Symbol« (Paul ­Tillich). Joachim Scharfenberg hat sich mit seinem Entwurf der Seelsorge als ›symbolische Interaktion‹ um die Bearbeitung dieses Theoriefeldes sehr verdient gemacht. Im Gegensatz zu Scharfenberg tritt bei Karle eine stärkere Reflexion auf die Sozialformen der seelsorglichen Interaktion wie ihrer Voraussetzungen in den Vordergrund. Karle ist es ein Anliegen, von dem individualisierenden (und ­damit auch sozial isolierenden) Blick auf die Seelsorgesuchenden Abstand zu gewinnen, den sehr viele psychoanalytisch orientierte poimenische Arbeiten pflegten und zum Teil immer noch pflegen. Dezidiert setzt sich Karle mit Scharfen-

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berg als Vertreter eben jener Theorietradition auseinander und bezieht verstärkt institutionentheoretische Gedanken zur gesellschaftlichen Leistung des Reli­ gionssystems und die Problematik von Inklusions- und Exklusionsprozessen in ihre Überlegungen mit ein. Zudem ist gerade ihr Buch »Seelsorge in der Moderne« (1995) von Interesse, da sie versucht, Luhmanns Systemtheorie für die Seelsorge fruchtbar zu machen. Es wird zu untersuchen sein, inwieweit das Unterfangen gelingt, eine soziologische Makrotheorie für die Reflexion der poi­ menischen Alltagspraxis fruchtbar zu machen. Als dritte Position zum Thema wird die Henning Luthers behandelt. ­Henning Luther ist zum einen für die vorliegende Arbeit natürlich von Interesse, weil er, wie oben bereits erwähnt, den Alltag als Reflexionsgegenstand seiner Praktischen Theologie explizit macht. Darüber hinaus sind seine Ausführungen von besonderem Interesse, da er sich in der subjekttheoretischen Grundlegung seiner Praktischen Theologie weitreichend mit dem Problem der Intersubjektivität auseinandersetzt. Stark sind die theologischen Gedanken Luthers von der Philo­ sophie Lévinas’, der Philosophie der Begegnung mit dem Anderen, geprägt. Es wird sich zeigen, dass die ethische Vorordnung des Anderen in der Begegnung in der spezifischen Anlage im Lutherschen Konzept Konsequenzen hat, die gerade mit Blick auf die Praxis als aporetisch zu beschreiben sind. An den Problem­ skizzen Henning Luthers bildeten sich die Fragen, denen im Rahmen der vorliegenden Arbeit weiter nachgegangen werden soll. Vorausgeschickt werden kann schon an dieser Stelle, dass die beiden Autoren und die Autorin jeweils unterschiedliche Konsequenzen aus dem Problem der Intersubjektivität ziehen – wobei die erste theoretische Vorentscheidung bereits darin liegt, das Thema offen zu explizieren oder es weitgehend un­t hematisiert mitlaufen zu lassen. So wird sich zeigen, dass sich der Blick auf die Seelsorge­ suchenden resp. die seelsorgliche Situation umso subjektorientierter und mikrologischer gestaltet, die poimenische Theoriebildung umso induktiver erfolgt, je stärker dieses Thema der Intersubjektivität im (poimenischen) Bewusstsein vorhanden ist. Das Desiderat einer alltagstheoretischen Fundierung findet seinen Grund eben in der Einsicht, dass der Alltag der konkrete historische Ort gelebter Intersubjektivität ist. Infolge dessen möchte die vorliegende Arbeit einen grundlegenden Beitrag zur alltagstheoretischen Fundierung der Seelsorge leisten. Die Fruchtbarmachung mikrosoziologischer Theorie in diesem Zusammenhang bietet sich in besonderer Weise an, als sie ihren Fokus auf das soziale Handeln und die Interaktion der Akteure legt und sich damit auf das Problem der Intersubjektivität spezialisiert. Auch heute noch ist ein Soziologiedefizit17 in der Poi­menik virulent: Vonnöten ist, in die Reflexion über die Subjekte seelsorglichen resp. praktisch-theologischen Handelns eine Reflexion der Strukturen sozialen Han

17 Vgl. ebd., 67 f.

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delns und der sozialen Objektivierungen wie der Frage, welchem sozialen Wandel diese unterliegen, mit einzubeziehen. Die vorliegende Studie möchte einen Beitrag zur Beseitigung dieses Soziologiedefizits leisten und wählt von poimenischer Seite die phänomenologisch orientierte Soziologie als Gesprächspartnerin: Im zweiten großen Teil der Studie (II) wird überwiegend der Ansatz Alfred Schütz’, dann aber auch seine Weiterführung durch nachfolgende, von Schütz in ihrer Arbeit inspirierte Soziologen (v. a. Harold Garfinkel, Thomas Luckmann, Hubert Knoblauch), entfaltet. Alfred Schütz steht für den Dialog zwischen Philo­sophie und Soziologie. Zum einen ist er ›mundaner‹ Phänomenologe, der sich im Laufe der Zeit immer stärker von der transzendentalen Phänomenologie ­Edmund Husserls kritisch absetzt. Zum anderen liegt ihm an der Entwicklung einer Theorie der Lebenswelt, die die verstehende Soziologie Max Webers kritisch aufzunehmen versucht. Sowohl in den USA wie auch in der deutschsprachigen Soziologie hat Schütz bedeutenden Einfluss auf das Selbstverständnis der soziologischen Disziplin, indem die Subjekte – und mit ihnen die sie umgebende Lebenswelt, welche sich erst durch das (inter-) subjektive Handeln konstituiert – ins Zentrum der soziologischen Forschung gerückt werden. Die Notwendigkeit der theoretischen Fundierung der Poimenik durch die Schütz’sche ›Alltagssoziologie‹ liegt in folgenden Fragen begründet, denen für die Poimenik bisher kaum systematisch nachgegangen worden ist: 1. Wie baut sich Sinn als Grundelement alltagsweltlicher Erfahrung auf? Welche Strukturen der alltäglichen Lebenswelt lassen sich mehr oder weniger allgemeingültig beschreiben? – 2. Wie lässt sich Religion im Zusammenhang (alltags-) lebensweltlichen Sinnaufbaus verorten? Welcher Ort kommt der religiösen Erfahrung im Aufbau der Alltagswelt zu? – 3. Welche Konsequenzen hat dies für die religiöse Rede wie für denkbare Gestalten der seelsorglichen Praxis, die sich in die alltägliche Lebenswelt eingebettet weiß? – Geht man diesen Fragen nach, zeigt sich ab einem gewissen Punkt, dass Fremdpsychisches – wie im Übrigen auch Eigenpsychisches – nur begrenzt verstehbar ist. Diese Tatsache macht Menschen füreinander in ihrer Individualität uneinholbar. Insofern geht die Arbeit über die alltagstheoretische Fundierung der Seelsorge noch ein Stück hinaus, indem sie auf die Frage zugeht: 4. Was folgt für die Seelsorge methodisch aus dem Problem des Fremdverstehens? – Auf all diese Fragen geht abschließend Teil III ein: Die vorliegende Arbeit findet vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Problem der Intersubjektivität resp. den Konstitutionsbedingungen der alltäg­ lichen Lebenswelt eine theologische Leitvorstellung in der Idee der Geselligkeit als hermeneutischer Praxis des Religiösen. Am Schluss der Überlegungen des letzten Kapitels steht ein Vorschlag zum methodischen Reflex auf das Problem des Fremdverstehens: die Arbeit mit und an individuellen Relevanzsystemen. Konstitutiv ist ein Verständnis von Seelsorge, das die ausschließliche Bezogenheit auf Krisen- und Konfliktlagen zumindest ein Stück weit überwinden will. Zwar ist es eine der grundlegenden Aufgaben der Seelsorge, in der konkreten

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Gesprächssituation mäeutisch zu wirken, den individuellen Erfahrungen mit den sinnhaften Strukturen der alltäglichen Lebenswelt nachzugehen. So kann sie implizite Sinnstrukturen und sinnhafte Erfahrungen wieder aufdecken, die die Individuen bereits gemacht haben und sich um die Wiedereinholung von Sinn bemühen. Abgesehen von dieser grundlegenden Funktion von Seelsorge, auf welche umfänglich eingegangen werden wird, soll in Anlehnung an die Praxis der Tradition Seelsorge auch als cura animarum generalis als Grundfunktion kirchlichen Handelns wieder stärker in den Blick kommen. Das Verhältnis zwischen Seelsorge und Alltag kann darüber hinaus dergestalt beschrieben werden, dass ›Alltagsseelsorge‹ nicht etwa von einer ›anderen‹ oder auch ›hohen‹ Seelsorge zu unterscheiden wäre. Vielmehr umfasst eine Seelsorge, die sich selbst als durch die Strukturen der Lebenswelt konstituiert weiß, jegliche Anlässe intersubjektiver Begegnung, auch das schon fast zum fixen Terminus gewordene ›Gespräch über den Gartenzaun‹. Eine quantifizierende und kriteriengeleitete Bewertung, welche Gespräche oder Begegnungen nun die eigentlich seelsorglichen gewesen seien, scheint einem Verständnis von Seelsorge als Zuwendung zum Anderen, scheint dem Bewusstsein der Fragilität intersubjektiver Begegnung allgemein nicht zu entsprechen. Damit wäre der Bogen der Studie in groben Zügen skizziert. Am Anfang aller weiterführenden Gedankengänge steht zunächst die Frage: Was kann herkömmlich gemeint sein, wenn von ›Alltag‹ die Rede ist? Ein Blick auf die unterschiedlichen Konnotationen des Begriffs ermöglicht eine genauere Klärung für den Fortgang der Arbeit. Wann wurde der Alltag wissenschaftlich interessant? Ist dieser größere Rahmen in wesentlichen Zügen abgesteckt, wendet sich die Arbeit dem Interesse der Praktischen Theologie allgemein am Alltag bzw. der ­Poimenik im Besonderen zu.

1.1 ›Alltag‹ als Gegenstand wissenschaftlichen Interesses Lange Zeit war der Alltag für die wissenschaftliche Forschung nicht von Interesse. Erst im Nachgang zur Erforschung der Lebensformen fremder Kulturen, in einer Art Selbstreflexion des Bürgertums auf die eigene Kultur, gewinnt das tägliche Leben als Untersuchungsgegenstand an Bedeutung. Man könnte auch anders formulieren: Erst, als sich Alltag als Praxis individualisierter Lebensentwürfe darstellte, erhofft man sich von seiner differenzierteren Betrachtung Aufklärung über die Lebensumstände in der eigenen Kultur. Der Begriff ›Alltag‹ wird dabei im Allgemeinen für routinierte und somit (zyklisch) wieder­kehrende Abläufe im Leben von Menschen verwendet. Entscheidend ist, dass die Wertungen, die mit diesem Begriff einher gehen, ganz unterschiedlich sein und dazu führen können, dass das Phänomen Alltag in seinen Charakteristika se­lektiv wahrgenommen wird.

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1.1.1 Zur Vielschichtigkeit des Begriffs Die Gretchenfrage besteht darin, ob man das Phänomen ›Alltag‹ normativ oder deskriptiv fassen will. In jedem Falle gehört zum Phänomen ›Alltag‹ ein wesentliches Charakteristikum: Mit dem Begriff wird das bezeichnet, was jeden Tag (alle Tage) wiederkehrt, auch das, was strukturell vielen Menschen gemein ist. Dem Alltag gehören Deutungs- und Handlungsmuster an, die in den Fällen, in denen der Alltag nicht fraglich wird, zumeist vorreflexiv bzw. nicht mehr re­ flexiv gehandhabt werden, weil sie zur Routine geworden sind. Letztendlich sind es die Wiederkehr des Gleichen und daraus folgend die Routine, die dem Alltag seinen Januskopf verleihen: Denn das, was strukturell immer wiederkehrt, kann potentiell von neuen Erfahrungen abschließen, kann den Menschen von seinen Sehnsüchten und Wünschen entfremden, wenn es mit strukturellem Zwang einhergeht. Gleichwohl: Die Routinen des Alltagslebens bringen Entlastung von dem Zwang zur Dauerreflexion. Wenn alles im Leben fraglich wird, ist es nur noch sehr schwer möglich zu handeln. Norbert Elias verweist auf einen weiteren Umstand, der offenbar an das ­Phänomen des Alltags gebunden ist: die Konstruktion eines Nicht-Alltäglichen. Der populäre Begriff des Alltags fungiert meist als Pedant zu etwas – zu etwas, das ebenfalls nicht eindeutig fixiert ist: ›Alltag‹ wird in oft polemisierter (nega­ tiver wie positiver) Weise dem sog. ›Nicht-Alltag‹ gegenübergestellt. Elias konstatiert, dass ohne ein Verständnis dessen, was mit diesem Gegenbegriff nun gerade gemeint ist, auch ein Verständnis von jeweils kontextualisierten Darstellungen zu ›Alltag‹ oder ›Alltagsbewusstsein‹, aber auch ›Alltagskultur‹ nicht gelingen kann.18 Diesem Muster folgend, wird auch die Sphäre des Religiösen oft als ›das ganz Andere‹ zum Alltag konstelliert.19 In der Diskussion um den Sonntag als Arbeitstag in Deutschland etwa greift die gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz »Menschen brauchen den Sonntag« von 1999 auf eine Aussage der ebenfalls gemeinsamen Erklärung »Den Sonntag feiern« von 1984 zurück und betont die Lebensdienlichkeit der Unterscheidung zwischen Sonntag und Alltag.20 Diese Aussage lebt von der vermeintlichen Gegensätzlichkeit und ist doch im Grunde recht unpräzise: Folgt man der Vorstellung, dass das (zyklisch) Wiederkehrende den Alltag beschreibt, dann ist der Sonntag seit Anbeginn der Schöpfung Teil des alltäglichen Lebens. Natürlich ist hier die symbolische Funktion der Aussage unterschlagen. Doch lebt auch jene aus der Spannung zwischen Alltäglichem und Nicht-Alltäglichem und lässt die Frage entstehen, wozu das Alltagsleben als 18 Elias, N., Zum Begriff des Alltags, 25. 19 Mit Blick auf die Funktion des Gottesdienstes in der Gegenwart vgl. hierzu: Lange, E., Chancen des Alltags, 12 ff; 24 f; 290 ff. 20 http://www.ekd.de/EKD-Texte/menschen_sonntag_1999.html (08.06.2007).

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­ egativfolie appliziert werden muss. Dass das Verfahren ein herkömmliches ist, N plausibilisieren unmittelbar Slogans aus der Touristikbranche: Urlaub vom Alltag ist das Motto. So heißt es bei einem Reiseveranstalter »Einfach mal raus aus der Tretmühle des Alltags und etwas Neues sehen!«21 Den ideologischen Hintergrund bieten Theorien, die mit dem Begriff ›Alltag‹ das beschrieben haben wollen, was den Menschen von sich und – je nach Vorstellung – seiner Bestimmung entfremdet. Eng damit ist verbunden, dass die Tatsache, dass routiniertes Verhalten keine beständige Reflexionsbegleitung benötigt, Theorien entstehen lässt, die Menschen über sich selbst aufklären wollen, über die tatsächliche Verfasstheit ihrer Existenz. In jedem Fall gehört der Alltag zu einer Reihe von Programmbegriffen, die unterschiedliche Denkschulen auf spezifische Weise aufnehmen: Der über den Lebenswelt-Begriff der Phänomenologie populär gewordene Alltagsbegriff wird von marxistischen Theorien oder der Kritischen Theorie einerseits, von funktionalistischen Theorien bzw. der Systemtheorie andererseits adaptiert und charakteristisch gewendet. Während die eine Seite Alltag vorzugsweise mit Blick auf Entfremdung thematisiert (Henri Lefèbvre, Agnes Heller, Roland Barthes) bzw. von der »Kolonialisierung des Alltags« (Jürgen Habermas) spricht, kommt er auf der anderen Seite zur Fundierung der Handlungstheorie (Talcott Parsons) und in Differenz zum modernen sozialen System der Weltgesellschaft (Niklas Luhmann) zum Tragen.22 Von diesem normativ gefärbten Alltags­ verständnis unterscheidet sich der Versuch, das Phänomen ›Alltag‹ deskriptiv zu fassen. Den Versuch dieser deskriptiven Herangehensweise unternimmt Alfred Schütz mit der Theorie der Strukturen der Lebenswelt. Jene ist daran interessiert, Strukturen und Prinzipien nachzuzeichnen, wie sich intersubjektiver Sinn aufbaut, und zwar als Voraussetzung und Resultat subjektiven Sinn­ aufbaus. Schon der kurze Blick auf die unterschiedlichen Facetten soziologischen Alltagsverstehens zeigt, dass es kaum möglich ist, den Begriff über das anfänglich genannte Charakteristikum  – die Wiederkehr bestimmter Strukturmuster in der Lebensführung – zu vereindeutigen. Sehr viel breiter wird das Verständnisspektrum, wenn man sich bemüht, den Alltagsgebrauch des Alltagsbegriffs einzufangen. Eindrücklich ist die Liste, die Norbert Elias zu den herkömm­lichsten Auffassungen des Alltagsbegriffs aufbietet  – jeweils in Gegenüberstellung zu einem konstruierten ›Nicht-Alltäglichen‹23:



21 http://www.tui.com/angebote/ (08.06.2007). 22 Vgl. Buckow, W.-D., Art. Alltag 2., 93. 23 Elias, N., Zum Begriff des Alltags, 26.

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1.

Alltag

Festtag (Feiertag)

2.

Alltag = Routine

außergewöhnliche, nicht routinisierte Gesellschaftsbereiche

3.

Alltag = Arbeitstag (besonders der Arbeiter)

bürgerliche Lebensbereiche, d. h. der Menschen, die von Profiten, die im Luxus, also eigentlich ohne zu arbeiten leben

4.

Alltag = Leben der Masse der Völker

Leben der Hochgestellten und der Völker Mächtigen (Könige, Prinzen und Prinzessinnen, Präsidenten, Mitglieder der Regierung, Parteiführer, Parlamentsmitglieder, Wirtschaftsführer)

5.

Alltag = Ereignisbereich des täglichen Lebens

alles das, was die traditionelle politische Geschichtsschreibung als das einzig Relevante ansieht und als »große« Ereignisse begreift, an der Geschichte also die Haupt- und Staatsaktionen

6.

Alltag = Privatleben (Familie, Liebe, Kinder)

öffentliches oder berufliches Leben

7.

Alltag = Sphäre des natürlichen, spontanen, unreflektierten, wahren Erlebens und Denkens

Sphäre des reflektierten, künstlichen, un­ spontanen, besonders auch des wissenschaft­ lichen Erlebens und Denkens

8.

Alltag (Alltagsbewusstsein) = Inbegriff des ideologischen, naiven und undurchdachten und falschen Erlebens und Denkens

richtiges, echtes, wahres Bewusstsein

Dem Alltag kommen also zwei Probleme zu: Zum einen existieren mitunter sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, was denn nun mit dem Begriff ›Alltag‹ gemeint ist. Zum anderen haftet dem Alltag, je nach ideologischer Nuancierung, ein besserer oder schlechterer Ruf an. Festhalten lässt sich insofern deskriptiv schlicht: Dem Alltag ist die Wiederkehr bestimmter Strukturmuster in Bezug auf die individuelle wie kollektive Lebensführung inhärent. Wann begann man nun, sich wissenschaftlich für den Alltag zu interessieren? Warum gewann das Phänomen ›Alltag‹ an Popularität? Der Durchbruch des Interesses am Alltag vollzieht sich im 18. Jahrhundert.

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1.1.2 Alltagsforschung als Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung Wesentliche Impulse für eine Wende hin zum eher induktiven, an Phänomen der Wirklichkeit orientierten Denken gehen vom Renaissance-Humanismus  – als Bildungs- und Wissenschaftsreform des 14. bis 16. Jh. – aus. Hier werden Weg und Raum für die neuzeitlich-philosophische Beschäftigung naturwissenschaftlicher Provenienz bereitet. Im Nachgang zu ihren italienischen Vorgängern und im dezidierten Rückbezug auf antike philosophische Traditionen denken etwa Humanisten wie Ulrich van Hutten, Philipp Melanchthon oder auch Thomas Morus über Wesen, Bedingung und Würde des menschlichen Lebens nach, über die soziale Verfasstheit der menschlichen Existenz, über Tradierung von Wissen und Bedeutsamkeiten anderer Kulturen.24 Man befindet sich, zumal in den ­Städten, in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und der naturwissenschaftlichen Entdeckungen bzw. technischen Erfindungen. Dies bedeutete auch für die theologische Reflexion eine Abkehr vom deduktiven scholastischen Denken hin zu Bemühungen der Vermittlung zwischen Offenbarung und Vernunft. Der Humanismus ist mit seiner Abkehr von Scholastik und Dogmatismus Wegbereiter der Aufklärung. Der Übergang vom 16.  ins 17.  Jh. ist wissenschafts­ geschichtlich als Anwendung der eher philosophischen Reflexionen auf zeitgenössische Wissenschaftsgebiete zu beschreiben: Regionale Kulturdarstellungen, Staatswissenschaften und Landesbeschreibungen werden interessant, man widmet sich der Schilderung und Charakterisierung von Natur und Geographie. Kleinteilig äußert sich das aufkommende Faible für das bis dato in seinem DaSein als selbstverständlich Hingenommene in Beschreibungen von Lebensweisen: Hausbau, Arbeit und Ernährung in bestimmten Regionen, unterschiedliche Traditionen und Mentalitäten werden sichtbar und damit bedeutsam. Der eigentliche Durchbruch dieses neuen Interesses, man könnte auch ­sagen, des neuen Bewusstseins, ereignet sich im 18.  Jh.: Aufs Engste verbunden mit der Heraufkunft des ›neuen‹ Bürgertums (in Unterscheidung zum mittelalterlichen Stadtbürgertum) im Gefolge der Französischen Revolution, bildet sich eine neue Reflexionskultur aus. Die Kombination von gesellschaftlichen Dekorporierungs- und Segmentierungsprozessen, zunehmender Individualisierung und Einkehr ins Private, von Bildung und Besitz befördert das Interesse an ›Milieustudien‹ und Selbstvergewisserung. Mit der Aufklärung besitzt der Drang zu Detailwissen und seiner Systematisierung für die Erschließung von Welt und Sein großes Gewicht. Die Herauslösung aus überkommenen sozialen Gebilden (wie etwa der nicht hinterfragbaren Zuweisung zu einem Stand), aus Traditionen und schlicht gegebenen Sinn- und Normgefügen führt zu einem verstärkten Individualisie

24 Vgl. Kaschuba, W., Einführung in die Europäische Ethnologie, 23.

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rungsprozess. Eine Konsequenz dieser Entwicklungen ist die Bildung von und Orientierung an neuen Formen der Vergemeinschaftung  – auch in Form von politischen Abstrakta. Zunächst denkt man hier sicherlich an politische Großgruppen und Ideen, welche sich als liberale, nationalistische oder sozialistische materialisieren. Eine wesentliche Rolle im öffentlichen Leben der Gesellschaft kommt – ausgehend vom Ende des 18. Jhs., seine volle Gestalt aber erst im 19. Jh. entwickelnd – allerdings dem Vereinswesen zu.25 Diese Entstehung jener »bürgerlichen Öffentlichkeit« (Habermas), welche sich u. a. auch in der Einrichtung von Museen darstellt, ist als wesentlicher Ausdruck für das Interesse an der Beschäftigung mit alltäglicher Lebenskultur anzusehen: Wissenschaft und Kultur werden allgemeines Interesse einer breiten Bevölkerungsschicht: »›Bürgerlichkeit‹ meint neue Ideen und neue Verhaltensweisen in allen gesellschaft­ lichen Bereichen. Es meint ein Nachdenken über Geschlechterrollen, über die Trennung von privatem und öffentlichem Leben, über Arbeitsethik und Bildung, über Individualität und Kindheit, über Politik und Fortschritt, über Wissenschaft und Technik.«26

Dieses Bildungs- (und Unterhaltungs-) Interesse wird durch Veränderungen hinsichtlich der Produktion wie der Rezeptionsmöglichkeit bestimmter Medien befördert: Seit der zweiten Hälfte des 18.  Jhs. steigt etwa durch billigere Produktionsmethoden einerseits die Anzahl der Rezipierenden, andererseits ist eine signifikante Zunahme von Literaturproduzenten zu verzeichnen.27 Bereits im 18. Jh. hatten sich die Zeitschriften als Foren für die bürgerliche Kultur und Gesellschaft etabliert.28 Außerordentlich populäre Orte dieser neuen bürgerlichen Reflexionskultur sind die Salons des Bürgertums, wie sie in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jhs. entstehen – aber eben auch die zahlreichen Vereine, die zu Beginn des 19. Jh. zu den unterschiedlichsten Geselligkeitszwecken gegründet werden. Das Unterfangen dieser ›praktischen Aufklärung‹ ist vielfältig: Es verknüpft sich mit Expeditionen und Reiseberichten einerseits – als Blick auf fremde Kulturen  – andererseits bezieht sich diese ›praktische Aufklärung‹ auch auf das ­Lokal- und Landeskolorit des eigenen Kulturraums. Das bemerkenswert Neue dieser Wahrnehmungs-, Sammel- und Systematisierungsleidenschaft mit Blick auf unter­schiedlichste Phänomene liegt darin, dass sie nicht etwa nur Interessensgegenstand universitärer Wissenschaftszirkel ist, sondern eben zu einem ganz wesentlichen Teil von Laien aus dem Bürgertum gelebt wird. Das Bedürfnis ist groß, sich einerseits über das Interesse an kulturellen Phänomenen zu

25 Vgl. Nipperdey, Th., Deutsche Geschichte, 266 ff. – Vgl. Kap. 1.2.1. 26 Kaschuba, W., Einführung in die Europäische Ethnologie, 25. 27 Vgl. zur detaillieren Problemskizze: Faulstich, W., Mediengesellschaft, 177 ff. 28 Vgl. ebd., 250.

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ver­gemeinschaften, sich andererseits aber auch – über die Partizipation an bestimmten Formen der Vergemeinschaftung mit einem bestimmten Interesse – zu individualisieren. Schriftliche Literatur und mündlicher Diskurs sind dabei die Medien der Welterkenntnis und des sozialen Bewusstseinswandels: Diese Formen der Öffentlichkeit werden zum Trägerfluidum des Aufklärungsgeistes, welcher sich so in seiner Moral und Vernunft, seinem Handeln und Wissen selbst bestätigt.29 Das Bürgertum erkennt sich zunehmend, nach Maßgabe der Vernunft institutionen-, ideologie- und religionskritisch, als Akteur ge­ sellschaftlicher Prozesse.30 Inwieweit die zunehmende gesellschaftliche Diversifizierung in Kombination mit einer gedeihenden Selbstreflexion des Bürgertums auf die eigene Kultur die Entstehung neuer Wissenschaften begünstigt, welche sich wiederum der Untersuchung von konkreten Phänomenen alltäglichen Lebens zuwenden, soll in aller Kürze ein Blick auf Ethnologie und Soziologie zeigen. Die Ethnologie als Wissenschaft etabliert sich  – nach ersten Anfängen in der zweiten Hälfte des 18.  Jhs.  – in der zweiten Hälfte des 19.  Jhs.31 1858 erscheint die Veröffentlichung von Wilhelm Heinrich Riehl »Volkskunde als Wissenschaft«. Riehl setzt mit seinen Gedanken wichtige Eckpunkte für die sich noch zu konstituierende Wissenschaft. 1869 gründen Rudolf Virchow, Carl Vogt und Adolf Bastian die »Berliner anthropologische Gesellschaft«, in der Folgezeit umbenannt in »Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte«. Bastian erhält 1869 die erste deutsche Dozentur für »Völkerkunde« in Berlin und ist Gründungsdirektor des 1889 eröffneten »Museum[s] für Völkerkunde«32. 1890 gründet v. a. der Germanist Karl Weinhold den »Berliner Verein für Volkskunde« und gibt ein Jahr später die »Zeitschrift für Volkskunde« (seit 1859 »Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft«) heraus. Ihre Entstehungsbedingungen findet die Ethnologie als Wissenschaft 29 Vgl. Drehsen, V., Theologia Popularis, 7 f. 30 Vgl. Drehsen, V., Praktische Theologie als Kunstlehre, 104 ff; 111. 31 Als empirisches Phänomen nimmt die Alltagsforschung bzw. Alltagskulturforschung bereits Gestalt als »Bevölkerungswissenschaft« in der zweiten Hälfte des 18.  Jhs. an. Weg­ weisend sind die Forschungsinteressen etwa des Göttinger Historikers August Ludwig von Schlözer (›Allgemeine Nordische Geschichte‹, 1771) und des Bibliothekssekretärs Friedrich Ekkard (›Der Reisende. Ein Wochenblatt zur Ausbreitung gemeinnütziger Kenntnisse‹, ab 1782) an der Göttinger Universität. In Göttingen werden Themen traktiert wie Beschaffenheit und Charakteristik von Völkern, Nationen und Staaten; hierin liegt der Beginn einer ver­gleichenden Völker- und Volksforschung. Die Begriffe ›Volkskunde‹ und ›Völkerkunde‹ werden hier noch assoziativ und teilweise synonym i. S. einer weitgehend unspezifizierten »Bevölkerungswissenschaft« gebraucht. Die ersten Arbeiten entstehen in einem Kreis von Forschern, die sich untereinander kennen und gemeinsamen Themen nachgehen. Eine Universitätsdisziplin Volkskunde oder Völkerkunde ist damit noch nicht begründet. (Vgl. Kaschuba, W., Einführung in die Europäische Ethnologie, 21 ff.) 32 Seit 1999 zusammengeführt mit der Europäischen Sammlung des Ethnologischen ­Museums zum Museum Europäischer Kulturen.

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letztlich in der veränderten Geisteshaltung, die die Aufklärung und die Romantik mit sich bringen: Man entdeckt andere Völker, Sitten und Bräuche, aber auch das eigene Volk erscheint als ›Eigenes‹ und ›Fremdes‹ zugleich, dessen Unter­ suchung man sich mit wissenschaftlicher Sorgfalt zuwendet. Industrialisierung und Politisierung der Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. schaffen neue regionale und soziale Identitäten und fordern die Hervorbringung hermeneutischer Ordnungsprinzipien. Gewendet auf das Thema des Alltags ließe sich formulieren: Das Alltagsleben wird – aus unterschiedlichen Perspektiven, wie sich beispielsweise an der Soziologie oder der Ethnologie zeigen lässt – dann Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses, wenn er einen Großteil seiner Fraglosigkeit eingebüßt hat. Deutlich wird auch, dass die Zeit der so genannten Spätaufklärung ein neues (bürgerliches) Selbstverständnis freisetzt, dem entsprechende Institutionalisierungen dieses Selbstbewusstseins folgen. Dass der Verlust der Fraglosigkeit mit Blick auf die gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien neue Modelle des Denkens hervorbringt, zeigt etwa der soziologische Ansatz Georg Simmels: Simmel ist zu den ersten großen Denkern der sich um die Jahrhundertwende etablierenden Soziologie zu zählen. Er beschreibt den Prozess der Modernisierung als Prozess zunehmender Individualisierung. Mit dem Interesse, Formen der Vergesellschaftung zu untersuchen, konstelliert Simmel das komplementäre Begriffspaar ›Gesellschaft‹ und ›Individuum‹. Die beiden Begriffe dienen ihm zur Veranschaulichung in der Beschreibung stattfindender sozialer Wechselwirkungen und bezeichnen keine fixen Entitäten bzw. Substantialitäten.33 Den sozialen Wechselwirkungen geht Simmel in einer Phänomenologie des Alltäglichen nach, v. a. mit Blick auf die Wirkungen der Geldwirtschaft auf das alltägliche Leben. Ausgangspunkt für diese Untersuchungen ist die Beobachtung, dass ein problematisches Verhältnis zwischen der zunehmenden Freiheit der Individuen – durch den Rückgang der fraglosen Sozialintegration – und den zunehmenden Formen ihrer Vergesellschaftung – durch das Eintreten in unterschiedliche soziale Bezüge  – besteht. Das Individuum ist damit zweifach bestimmt: zum einen als Resultat von sozialen Zuschreibungen, zum anderen als Abweichung vom Allgemeinen34: »jedes Element einer Gruppe [ist] nicht nur Gesellschaftsteil, sondern außerdem noch etwas«, insofern als »der Einzelne mit gewissen Seiten nicht Element der Gesellschaft 33 Vgl. Drehsen, V., Religion  – der verborgene Zusammenhalt, 76. Drehsen schreibt zum dialektischen Wechselverhältnis von Gesellschaft und Individuum bei Simmel: »Sein [­Simmels; KM] Grundgedanke läßt sich auf die Formel bringen: Seelische Materie ist der Stoff des Lebens, soziale Handlungsmuster sind die Formen, Identität ist die aktiv-gestalterische individuelle Vermischung beider.« (Ebd.) – Simmels Zeitgenosse Durkheim sieht sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert: Im Gegensatz zu Simmel verortet Durkheim in der zur Frage gewordenen Verhältnisbestimmung zwischen Gesellschaft und Individuum Interessenfokus wie Geltungshoheit auf Seiten der Größe ›Gesellschaft‹. (Vgl. ebd., 72 f.) 34 Vgl. Krech, V., Georg Simmel, 63.

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ist.«35 Dieses Spannungsverhältnis ist der Bezugsgegenstand der Religion: »Religion als Form ist das Vermögen des Menschen, sein fragmentarisches Dasein auf Einheit, Sinn und Vollkommenheit hin zu transzendieren.«36  – Die moderne Kultur erhält ihre wesentliche Signatur dadurch, dass ihr der Endzweck ver­loren gegangen ist, dass eine Leerstelle dort entstanden ist, wo in der Vor­ moderne noch die institutionalisierte Religion ihren Platz hatte. Das »Gefühl der Leere und der Werthlosigkeit des Lebens«37 wird im alltäglichen Leben der Individuen erfahrbar, denn mit dem Endzweck ist nicht zugleich das Bedürfnis nach einem solchen weggefallen. Formal ist an die Stelle der institutionalisierten Religion die Geldwirtschaft getreten – weshalb Simmel sich auch mit den Wirkungen der Geldwirtschaft auf das alltägliche Leben auseinandersetzt. Das ›religiöse Problem‹ muss individuell gelöst werden und findet seine Lösung im Werden des Lebens und in der prozessualen Selbstwerdung der Seele.38 Die »Tragödie der Kultur« besteht darin, dass dem Menschen Werke seiner eigenen Kreativität, Objektivationen seiner subjektiven Kultur, als verselbständigte Elemente gegenübertreten, denen er selbst gegenüber ohnmächtig geworden ist.39 Die Formenlehre der Gesellschaft, die Simmel entwirft, ist selbst als Reflex auf die Pluralisierung bzw. zunehmende Unübersichtlichkeit zu interpretieren. Der Ausgangspunkt für seine soziologischen und philosophischen Ausführungen ist eine Phänomenologie alltäglicher Erscheinungen – die Orientierung an der konkreten Gestalt gewinnt an heuristischem Gewicht angesichts des vorherrschenden, für die Moderne typischen Ideenpluralismus. Die kurzen Exkursionen zur Konstitutierung von Ethnologie und Soziologie als Wissenschaften zeigen, dass das Bedürfnis vorhanden ist, ­Reflexionsintegrale 35 Simmel, G., Soziologie, 51. 36 Drehsen, V., ebd., 78. – Etwas ausführlicher heißt es weiterhin zu Simmels ­Religionsbzw. Religiositätsbegriff: »Darin liegt also für Simmel der unbestreitbare Realitätsgehalt der Religiosität, die durch die soziologische Kritik nicht verschreckt werden kann: das selbständige und kontinuierliche Verhalten des Ichs in den zwischenmenschlichen Wechselbeziehungen experimentell zu erproben  – die Suche des halbgelungenen Wesens Mensch nach seiner vollendeten Identität in widersprüchlichen Gesellschaftsprozessen. Die Religion ist nichts anderes als der verborgene, stets antreibende Katalysator dieses Prozesses.« (Ebd., 84.) 37 Vgl. Simmel, G., Einleitung in die Moralwissenschaft, 30. 38 Vgl. Krech, V., ebd., 69. 39 Vgl. Simmel, G., Der Begriff und die Tragödie der Kultur, 134 ff. Dort heißt es: »Es ist der Begriff aller Kultur, daß der Geist ein selbständig Objektives schaffe, durch das hin die Entwicklung des Subjektes von sich selbst zu sich selbst ihren Weg nehme; aber eben damit ist jenes integrierende, kulturbedingende Element zu einer Entwicklung prädeterminiert, die noch immer Kräfte der Subjekte verbraucht, noch immer Subjekte in ihre Bahn reißt, ohne doch diese damit zu der Höhe ihrer selbst zu führen: die Entwicklung der Subjekte kann jetzt nicht mehr den Weg gehen, den die der Objekte nimmt; diesem letzteren dennoch folgend, verläuft sie sich in einer Sackgasse oder in einer Entleertheit von innerstem und eigenstem Leben.« (Ebd., 142 f.)

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mit Blick auf die diversifizierte Alltagskultur zu entwickeln.40 Dieses Anliegen ist auch heute noch aktuell, denn die Pluralisierung ist die wesentliche und bleibende Signatur der Moderne. Die Gedanken Simmels sind Zeitdiagnose wie Bausteine elementarer Modernetheorie zugleich. Besonders Simmels leitende Idee, den Zusammenhang zwischen materialen sozialen Phänomenen und den Verhaltensweisen Einzelner zu erhellen und deren besondere gesellschaftliche Form deskriptiv zu erfassen, war für die Soziologie wegweisend.41 In der Soziologie haben sich im 20.  Jh. im Wesentlichen zwei Richtungsstränge in der Beschäftigung mit dem Alltag etabliert.42 Zum einen handelt es 40 Zur Herausbildung der Soziologie als Wissenschaft im 18. und 19. Jh. im Zusammenhang der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse vgl. auch Drehsen, V., Praktische Theo­ logie als Kunstlehre, 106. 41 Vgl. Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 12. 42 In der Ethnologie resp. Volkskunde (das Fach, ehedem an den meisten Orten unter ›Volkskunde‹ laufend, hat mittlerweile vielerorts eine Umbenennung aufgrund innerer und ­äußerer Impulse erfahren, die auf die Erfahrungen mit der Kriegszeit und Nachkriegszeit zurück gehen: Man wies auf Belastetheit des Begriffs ›Volk‹ hin. Entsprechend benannten sich Fakultäten um in: »Europäische Ethnologie« [Marburg], »Empirische Kulturwissenschaft« [Tübingen], »Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie« [Frankfurt a. M.]) wird der Alltagsbegriff in der Ethnologie erst in den 1970er Jahren systematisch explizit. Im Zuge der Auseinandersetzung mit soziologischer Theorie  – die Volkskunde ist in dieser Hinsicht nur ein Beispiel für einen allgemeinen Trend  – erweist sich für die Identität des Faches definitorisch die sog. »Falkensteiner Formel« von 1970/1 als Meilenstein: »Volkskunde analysiert die Vermittlung (die sie bedingenden Ursachen und die sie begleitenden Prozesse) von kulturalen Werten und Objektivationen (Güter und Normen) und Subjektivationen (­Attitüden und Meinungen). Ziel ist es, an der Lösung sozio-kultureller Probleme mitzuwirken.« (Falkensteiner Protokolle, 303.) – Die verbreitete Tendenz besteht neben einer methodischen Hinwendung zur empirischen Sozialforschung in einer inhaltlichen Hinwendung zu aktuellen Themen der populären Kultur. Diese Blickrichtung vertieft, so könnte man sagen, das Anliegen, welches bereits die Beschäftigung mit alltäglicher Lebenskultur im ausgehenden 18., dann v. a. im 19. Jh. motiviert: Volkskunde wird zur »Ethnologie der eigenen Kultur« (H. Bausinger). C. Lipp bindet die aufkommende Popularität des Alltagsbegriffs in der Volkskunde verstärkt an die Publikationen von I.-M. Greverus in den siebziger Jahren. (Greverus, I.-M., Kultur­a nthropologie und Kulturethnologie [1971]; dies., Über Kultur und Alltagswelt [1976]  – v. a. dies., Kultur und Alltagswelt [1978]. Vgl. Lipp, C., Alltagskulturforschung, 1.) Seither habe der Begriff Eingang gefunden in verschiedene Publikationen und sei zu einem »Dachbegriff des Faches« (ebd.) geworden. Die Volkskunde erhebt das Postulat einer Wende zur Lebenswelt, mit der doppelten Perspektive auf Erfahrbarkeit und Gestaltungsmöglichkeit der Alltagswelt. Das Interesse wendet sich subjektzentrierten Fragestellungen und den individuell handelnden und erfahrenden Menschen im Alltag zu. Die Anthropologie ist durch das Verständnis des Menschen als ›animal symbolicum‹ (Ernst Cassirer) geleitet: Kultur und Geschichte sind Produkt menschlichen Handelns und sozialer Interaktion. In seinem Handeln gestaltet der Mensch die Welt und deutet sie im Rahmen ihm verfügbarer symbolischer Ordnungen aus (Lipp, C., ebd., 10). Diesem Verständnis liegt die Methodik der sog. »dichte[n] Beschreibung« von Clifford Geertz nahe, welche kulturelle Vollzüge aus der Binnenperspektive heraus beschreibt und über die Benennung immer kleinteiligerer Verweisstrukturen dahin kommt, Bedeutungszusammenhänge eines kulturellen Systems in seinen symbolischen Verdichtungen nachzuzeichnen und explizit zu machen.

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sich um den sehr normativ aufgeladenen Diskurs, der sich der marxistischen Tradition verpflichtet weiß. Dieser ist für manche Argumentationsgänge, die diese Arbeit nachzeichnen möchte, nicht unwesentlich, spielt er doch insbesondere in der Theologie und dem Alltagsverständnis Henning Luthers eine nicht unbedeutende Rolle. Dieses alltagskritische Modell fußt auf einer gesellschaftspolitischen Analyse der entfremdeten Lebens- und Arbeitsbedingungen in der spätkapitalistischen Massenkonsumgesellschaft und manifestiert sich in zweierlei Gestalten. Positioniert zwischen Marxismus und Phänomenologie43 erscheint die Theorie der Kritik des Alltags zum einen im Rahmen der Kritischen Theorie (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse), zum anderen in der an Sartre und die Existenzphilosophie anschließende französische Schule, als deren herausragender Vertreter Henri Lefèbvre genannt werden kann. Während die Kritische Theorie eher den Faktor der kulturindustriellen Manipulation und deren Entfremdungskonsequenzen für die Lebenswelt stark macht (in Fortführung Habermas, der von einer »inneren Kolonisierung« der Lebenswelt spricht44), führt Lefèbvre dezidiert die Kategorie des Alltags in die marxistische Diskussion ein, indem er sich für eine Transformation desselben ausspricht, für eine Rückgewinnung der Alltagswelt als Lebenswelt. Die moderne Alltagswelt ist von einem Referenzialitätsverlust (Zeichen beziehen sich auf Zeichen, welche sich wiederum auf Zeichen beziehen, woraus ein Verlust konkreter Wirklichkeitsbezüge resultiert) gekennzeichnet, welcher wiederum als geschlossene Objektivation auftritt: »Das Alltägliche in der modernen Welt hat aufgehört, ›Subjekt‹ (reich an möglicher Subjektivität) zu sein, um ›Objekt‹ (Objekt der gesellschaftlichen Organisation) zu werden.«45

Das Subjektive des Alltäglichen soll im Gegenzug dazu durch das Wieder­ aufleben des Wunsches von dem Zustand der Entfremdung befreit und zurück gewonnen werden: Der Wunsch an sich ist unreduzierbar und widerständig, er wehrt sich gegen bürokratische und konsumistische Überformung. Orientierungen und Handlungen sollen sich wieder auf gemeinsam geteilte Sinnvorstellungen beziehen können. Vor dem Hintergrund spätkapitalistischer Umformungsprozesse geht es um die »kritische Erkenntnis des Alltagslebens« (Lefèbvre), um den dort vorfindlichen entfremdeten Arbeits- und Lebensbedingungen wehren zu können.46

43 Vgl. Grathoff, R., Alltag und Lebenswelt, 72. 44 Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns, 452. 45 Lefèbvre, H., Das Alltagsleben in der modernen Welt, 88. 46 Lefèbvre formuliert im Wesentlichen die Positionen einer Kulturkritik, wie sie auch bei Vertretern der Kritischen Theorie vorzufinden sind.

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Die zweite große Tradition in der Beschäftigung mit dem Thema ›Alltag‹ findet sich in der phänomenologisch orientierten Soziologie47, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit noch ausführlich thematisiert werden wird. An dieser Stelle seien nur einige hinführende Bemerkungen ausgeführt. Wegweisend für die soziologische Theorieentwicklung ist hier die Einführung wesentlicher Gedanken der phänomenologischen Philosophie in die Soziologie durch Alfred Schütz.48 Husserl selbst steht für einen Neueinsatz in der Philosophie, wendet er sich doch Anfang des 20. Jahrhunderts mit seiner Positivismuskritik (1911) bzw. seiner Schrift »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie« (1913), in voller Blüte allerdings erst in seinem Spätwerk »Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomeno­ logie« (1936), gegen einen Orientierungsverlust und ein »Hantieren mit entleerten Begriffen und theoriegeleiteten Vorurteilen«49 seiner Zeit. Anlass ist für Husserl die Ausrichtung auch der Geisteswissenschaften an dem rationalistisch-­ objektivistischen erkenntnistheoretischen Zugriff der Naturwissenschaften auf 47 Die Tatsache, dass in den sechziger bzw. siebziger Jahren des 20. Jh. die phänomeno­ logisch orientierte Soziologie in Form einer ›Soziologie des Alltags‹ eine so große Bedeutsamkeit erhält, ist als Paradigmenwechsel innerhalb der Soziologie und als Neueinsatz gegenüber strukturfunktionaler und positiver Soziologie zu werten. 48 Schütz, von Hause aus eigentlich Jurist und als Rechtsberater in Wien, Paris und New York tätig, ist zunächst durch die Österreichische Schule der Nationalökonomie mit ihrem mikroökonomischen Ansatz geprägt, mit der sich Namen wie Carl Menger, Friedrich Wieser und Ludwig von Mieses verbinden. (Zum interdisziplinären Austausch zwischen Wirtschaftswissenschaften und Soziologie bemerkt Hanke: »Mengers methodologischer Individualismus hatte bereits Max Weber in seiner Analyse des sozialen Handelns auf Grundlage des ›subjektiv gemeinten Sinns‹ nachhaltig beeinflußt, so daß dessen Grundidee eines Individuums, das sich, mit bestimmten Fähigkeiten und Bedürfnissen ausgestattet, in subjektiv mit Bedeutung ausgestatteten Interaktionen mit anderen Individuen befindet, aus denen dann wiederum die komplexeren sozialen Gebilde wie Gruppen, Klassen, Organisationen et cetera aufgebaut sind, sich am Subjektbegriff der klassischen Ökonomie, dem homo oeconomicus, zu orientieren und eine soziologische Interpretation von Mengers Ansatz zu sein scheint.« (Hanke, M., Alfred Schütz, 18.) Menger, Wieser und von Mieses sind neben den Rechtsphilosophen Hans Kelsen und Felix Kaufmann Schütz’ akademische Lehrer, Kaufmann pflegt Kontakte zum Wiener Kreis. Erich Vögelin animiert Schütz zur Lektüre der Schriften von Henri Bergson, Kaufmann bringt ihm Husserl nahe. Schütz führt eine Art Doppelleben, bedingt durch vorherrschenden Antisemitismus, aber auch durch universitären Stellenmangel: »bei Nacht bin ich Phänomenologe, aber bei Tag Beamter« (Schütz, A./Gurwitsch, A., Briefwechsel ­1939–1959, 67). Erst 1952 wird Schütz zum Full Professor an der New School for Social Research in New York berufen. Seine erste (und zu Lebzeiten einzige) Monographie erscheint bereits 1932 unter dem Titel »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt«. Diese Schrift ist gleichsam die Gründungsurkunde für die phänomenologisch orientierte Soziologie. Auch, wenn Schütz im Laufe seiner wissenschaftlicher Tätigkeit verstärkt von der Husserlschen Transzendentalphilosophie ab­rücken wird, so steht der »Sinnhafte Aufbau« doch eindeutig für das Anliegen, die Husserlsche Phänomenologie der Lebenswelt in eine Alltagssoziologie über zu führen und die phänomenologischen Methoden für die sozialwissenschaftliche Forschung fruchtbar zu machen. 49 Slenczka, N., Art. Phänomenologie, 770.

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unterschiedlichste Elemente der Welt. Die Sinnkrise der Moderne bricht in dem Moment auf, in dem die Wissenschaften ihre Relation zur subjektiv anschaulichen Lebenswelt der Einzelnen verloren haben und Begriffe somit ihre Erschließungskraft verlieren. Demgegenüber liegt Husserl an der Unterscheidung zwischen Bewusstseinserlebnissen und den intentionalen Korrelaten der Akte. Wirklichkeit ist immer Korrelat eines intentionalen Bewusstseins und ist nicht ›an sich‹ erfahrbar: Sie ist für ein Bewusstsein wesentlich Erscheinendes.50 Es geht um den Aufweis, dass Wirklichkeitsordnungen durch den Sinn mensch­ licher Erfahrung konstituiert werden, und nicht etwa durch objektiv beweisbare, ontologische Strukturen der Wirklichkeitsordnungen bzw. der in ihr enthaltenen Objekte. Dabei ist es der Begriff der ›Lebenswelt‹, welcher zur Bezeichnung der Summe möglicher Erfahrungshorizonte, innerhalb derer Subjekte intentional auf etwas anderes bezogen sind, populär wird.51 Der Begriff der Lebenswelt unterliegt bei Husserl einer bestimmten Varianz, indem er der Lebenswelt einerseits konkrete geschichtliche Formen zuschreibt und sie andererseits als universales überhistorisches Fundament einführt. Schütz greift in seiner phänomenologischen Fundierung der Soziologie wesentlich auf den Lebensweltbegriff Husserls zurück (freilich findet sich sein problemorientierter Anknüpfungspunkt in der Auseinandersetzung mit der ›verstehenden Soziologie‹ Max Webers)52: Der Alltag erscheint als eine Kulturwelt, die immer wieder neu angeeignet und stets verändert wird. Dabei bewegen sich die Ausführungen Schütz’ zu den Konstitutionsbedingungen des Alltags weniger im Bereich der transzendentalen Egologie als vielmehr auf der Ebene des Problems konkreter Intersubjektivität. Wie Schütz diesen Übertrag in die Sozio­ logie konkret leistet, und welche wichtigen Impulse sich daraus auch für die poimenische Theorie ergeben, darauf gehen ausführlich die Kapitel II und III dieser Studie ein. Was die Bedingungen der wissenschaftlichen Analyse anbelangt, haftet dem Alltagsbegriff grundsätzlich eine große Schwierigkeit in der Beschreibung seines Gegenstandes an: Zum einen bezieht er sich auf Routinen alltäglicher Lebens­ formen, welche weitgehend vorreflexiv sind. Zum anderen ist mit dem Terminus in den verschiedenen Disziplinen eben jenes Deutungsmodell gemeint, welches gerade diese Ebenen des vorreflexiven Alltagbewusstseins erhellen soll. Anders formuliert: Sieht das Alltagsbewusstsein einen Grund, etwa den der Bearbeitung von Überkomplexität, darin, prinzipiell Fragliches im Zustand der Vorreflexivität zu belassen, ist es das Interesse der wissenschaftlichen Alltagsforschung bzw. -analyse, gerade diese Formen der Vorreflexivität mit zu untersuchen, um zu 50 Vgl. ebd., 773. 51 Der Begriff ›Lebenswelt‹ findet sich schon in G. Simmels »Die Religion«, allerdings noch nicht als philosophische Kategorie (vgl. Simmel, G., Die Religion, 13). 52 Vgl. hierzu v. a. Kap. II.5.2.

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ihren Funktionen und Bedeutungen vordringen zu können. Dass hier ein methodisches Problem in der Spannung von Fremdbeobachtungen und Selbstaussagen, Spontaneität und Standardisierung/Typisierung auftreten kann, dürfte auf der Hand liegen. Es hat sich gezeigt, dass das Thema ›Alltag‹ in Form der Betrachtung der eigenen oder einer fremden Alltagskultur im 18. Jh. interessant und traktiert wird und als Ausdruck eines neuen bürgerlichen Selbstbewusstseins gewertet werden kann. Die Entstehung dieser neuen »bürgerlichen Öffentlichkeit« ist im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Diversifizierungs- und Segmentierungsprozessen zu sehen. Beispielhaft wurde die Genese der wissenschaftlichen Disziplinen Ethnologie und Soziologie im gesellschaftlichen Strukturwandel verortet: Als Reflex auf die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse und auf der Basis der wachsenden bürgerlichen Selbstreflexionskultur entstehen sie im Ausgang des 19. Jhs. Die soziologischen und kulturphilosophischen Überlegungen ­Simmels weisen auf ein virulentes Thema im Zusammenhang des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses hin: den Rückgang der fraglosen Sozialintegration, gekoppelt an das Empfinden, den eigentlichen Endzweck mit Blick auf die eigene Lebensführung verloren zu haben  – die Fragwürdigkeit des Alltags wirft die Frage nach dem Sinn auf. Die Soziologie etabliert sich als Wissenschaft, die nach Formen der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung fragt, nach Sinn und Struktur sozialen Handelns und zugrundeliegenden Normen und Werten: Sie ist Reflexionsintegral gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Insofern gehört das Thema ›Alltag‹ genuin zum Interessengebiet soziologischer Forschung. In großer Extensität werden der Alltag und die ihn kennzeichnenden Strukturen in der phänomenologisch orientierten Soziologie behandelt, für die die Aufnahme des Husserlschen Lebensweltbegriffs grundlegend ist. Wann und wie manifestiert sich nun das Interesse der Praktischen Theologie am Alltag? Am Schluss dieses einführenden Kapitels wird zu behandeln sein, in welcher Weise sich die Poimenik bisher des Themas ›Alltag‹ angenommen und es reflektiert hat – hier wird sich die Ausgangssituation materialisieren, von der aus der Entwurf der Studie erfolgt.

1.2 Das Interesse der Praktischen Theologie am Alltag Auch die Entstehung des Interesses der Praktischen Theologie am Alltag ist im Zuge der im voran gegangenen Kapitel geschilderten gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse zu verorten. Es lassen sich verschiedene Phasen der Annäherung an das Thema seit dem 19. Jh. beschreiben – die Kontinuität des Anliegens einer stärkeren Vermittlung zwischen faktisch vorhandener Lebenswirklichkeit und theologischer Reflexion wird dabei stets von Tendenzen des theologischen Rückzugs aus der konkreten Lebenswelt begleitet. Mit dem Erstarken

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der ­Dialektischen Theologie im ersten Drittel des 20.  Jhs. beginnt eine neue Phase, in der die theologische Theoriebildung vorwiegend deduktiv erfolgt. Erst mit der so genannten ›zweiten empirischen Wende‹ Ende der Sechziger wendet man sich wieder den empirischen Phänomenen der alltäglichen Lebenswelt zu. ›Erste‹ wie ›zweite empirische Wende‹ sind Reflex auf die Einsicht, dass sich das religiöse Leben pluralisiert und individualisiert hat, und dass es nicht mehr selbstverständlich an die Institution Kirche gebunden ist.

1.2.1 Entkirchlichung und Hinwendung zur Empirie Der Prozess der Entkirchlichung, mit dem hier schlicht die Distanzierung sozialer Gruppen vom kirchlichen Leben in Form von Gottesdiensten und Begehung von Festen, Prozessionen u. a. sozialen Aktivitäten bezeichnet wird, setzt vor allem im 18. Jh. ein. Allerdings ist zu sehen, dass die so genannten ›Unterschichten‹ in der Stadt wie auf dem Land bereits seit Beginn der Neuzeit zu einem nicht unbeträchtlichen Teil dem kirchlichen Leben fernbleiben. Ähnliches ist für die frühe Neuzeit für Teile des Adels und der akademischen Beamtenschaft zu sagen.53 Die Gesellschaft vor dem 18. Jh. ist normativ integriert: Es besteht kaum ein Unterschied zwischen weltlicher und kirchlicher Ordnung. Mit der Scheidung dieser zwei Sphären wird es möglich, an der einen zu partizipieren und an der anderen nicht, auch: nicht-kirchliche Formen der (privaten) Frömmigkeit zu praktizieren. Die Situation, die sich als Folge der zunehmenden Distanzierung von der Institution Kirche Mitte des 19. Jhs. zeigt, hat, grob gesagt, folgende Gestalt angenommen: Einer kleinen Gruppe traditionsverbundener und kirchengebundener Christen steht die weitaus größere Gruppe derer gegenüber, die als ent­weder unkirchlich oder randkirchlich (nicht gleichbedeutend mit nicht-christlich) zu bezeichnen sind. Insgesamt sind die Kirchenaustrittszahlen bis zu Beginn des 20. Jh. allerdings nicht allzu hoch zu veranschlagen (bis 1905 im Durchschnitt etwa 6.000).54 Dieser soziologische Befund zumindest der kirchlichen Randständigkeit wird nicht grundsätzlich durch das seit Beginn des 19. Jhs. aufblühende Vereinswesen verändert.55 Die gesellschaftlichen Dekorporationsprozesse ziehen allerdings neue Organisationsformen nach sich, die Assoziationen, Vereine, freie Zusammenschschlüsse von Personen, deren Zweck selbst gesetzt und nicht vorgegeben ist. Individualisierung und Zusammenschluss der Individuen bilden so die beiden Seiten einer Medaille. Auch außerhalb und neben den Kirchen­ gemeinden bildet sich eine vielfältige ­k irchliche Vereinskultur heraus (heraus 53 Vgl. Hölscher, L., Die Religion des Bürgers, 596 f. 54 Ein dramatischer Anstieg an Kirchenaustritten ereignete sich erst zu Beginn des 20. Jh., betroffen war v. a. Preußen, vgl. Nowak, K., Geschichte, 186; vgl. auch Wappler, K., Kirchenaustrittsbewegungen, 432 ff. 55 Vgl. Hölscher, L., ebd., 601.

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ragend: »Protestantenverein« und »Evangelischer Bund«, aber auch »C. V. J. M.«, »Evangelische Frauenhilfe«, »Verein für religiöse Kunst in der evangelischen Kirche« etc.).56 – Ab Mitte des 19. Jhs. formiert sich die Arbeiterschaft in Analogie zur bürgerlichen Gruppe; Besitz, Lebensstil und Bildung stellen die neuen Differenzierungskriterien dar – nun jenseits einer Ständezugehörigkeit.57 Nebeneinander lassen sich für das zweite Drittel des 19. Jh. drei Tendenzen mit Blick auf das Vereinswesen beschreiben: Differenzierung des Bürgertums, Integration des ganzen Volkes, Klassenbildung der Arbeiterschaft.58 Deutlich wahrnehmbar entfalten sich außerhalb der Kirche unterschied­liche Formen der Religiosität, die sich nur zum Teil selbst als christlich verstehen. Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielschichtig, sie reichen vom Nachlassen der Kirchenzucht – seit dem Scheitern des Wöllnerschen Religionsedikts spielt die Kirchenzucht keine große Rolle mehr – über scheinbar attraktivere kulturelle Angebote bis hin zur gestiegenen Mobilität großer Teile der Bevölkerung (Urbanisierung/arbeitsbedingte Landflucht, aber auch erhöhte Reisetätigkeit im Bürgertum).59 Hinzu kommt, dass Grabenkämpfe zwischen von der Aufklärung geprägten Liberalen und theologisch Orthodoxen Hochkonjunktur haben. Grundsätzlich weiß sich das moderne Bildungsbürgertum in seinen entkirchlichten Teilen nach wie vor der christlichen Tradition verpflichtet und versteht sich im 19. Jh. en gros durchaus als religiös – unabhängig davon, in welcher Form sich die individualisierte Frömmigkeitspraxis jeweils materialisiert. Diese grobe Skizze deutet für den übergeordneten Zusammenhang die Kluft an, die sich seit Mitte/Ende des 18.  Jhs. zwischen restaurativer Kirchlichkeit und bürgerlicher Individualkultur auftut, und die für viele liberal gesinnte Theologen zur Zerreißprobe wird. Diese Ausdifferenzierung der religiösen Landschaft führt schließlich im Zusammenspiel mit der allgemein verbreiteten »Empirisierung der Geisteswissen­ schaften«60 zur verstärkten Forderung nach einer Bekämpfung des theologischen Wirklichkeitsdefizits. Damit hängt für die Praktische Theologie aufs Engste die Frage der Reform der theologischen Ausbildung zusammen, und zwar hinsichtlich des theologischen Studiums genau so wie bezüglich der Kandidatenzeit und des Pfarramts.61 Wegweisend ist Wilhelm Bornemanns Schrift »Die Unzulänglichkeit des theologischen Studiums der Gegenwart« von 1886 (anonym erschienen), in welcher er in der Frage der Überbrückung der Distanz zwischen Kirche und »breiten Volksschichten«62 der Auseinandersetzung mit dem

56 Vgl. Nowak, K., ebd., 186 ff. 57 Vgl. Nipperdey, Th., ebd., 268. 58 Vgl. ebd., 269. 59 Vgl. Nowak, K., ebd., 185 f. 60 Krech, V., Wissenschaft und Religion, 5.  61 Vgl. Weyel, B., Praktische Bildung zum Pfarrberuf, 191 ff. 62 Bornemann, W., Die Unzulänglichkeit des theologischen Studiums der Gegenwart, 19.

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»Alltagsleben«63 und seiner Erforschung eine tragende Rolle zuweist. Folgerichtig setzt sich Bornemann für eine Sensibilisierung der Pfarrer (und Kandidaten) für die religiöse Gegenwartslage ein, welche eben nicht mehr, wie bereits gezeigt wurde, mit Kirchlichkeit deckungsgleich ist. Eindrücklich schreibt er: »Es ist, als habe sich der Protestantismus an der Zugluft dieser modernen Kultur erkältet und müßte nun auf einige Zeit das Zimmer hüten, weil ein Teil  der sorgenden Geistlichkeit davon die Genesung erwartet. Vielleicht wird die kranke Kirche aber doch eher gesund, wenn sie sich hinausbegibt und frisch an ihre Arbeit draußen geht.«64

Ein ähnliches Anliegen wie Bornemann vertritt Paul Drews: Sein Programm einer religiösen Volkskunde ist als Vermittlung zwischen wissenschaftlicher Praktischer Theologie und pfarramtlicher Praxis gedacht; beide Bereiche sollen dabei voneinander profitieren. Allerdings sieht Drews die Notwendigkeit einer Aufteilung der Praktischen Theologie mit Blick auf die Zielgruppe: Während die Ausbildung für die konkrete Praxis im Predigerseminar, also in einer zweiten Bildungsphase erfolgen soll, haben sich die Studierenden der Erlangung pro­ funder Kenntnisse der religiösen Gegenwartskultur zu widmen. Das ist die religiöse Volkskunde – sie soll mit Blick auf das Gegenwärtige bilden.65 Drews’ Aufsatz »›Religiöse Volkskunde‹, eine Aufgabe der Praktischen Theologie« erscheint im Jahr 1901 und wirbt, wie auch darauf folgende Schriften Drews’, für ein Fruchtbarmachen von Methoden der wissenschaftlichen Volkskunde für die Praktische Theologie. Drews leistet mit seinem Anliegen, welches sich in zahlreichen, an den historischen Phänomenen orientierten Veröffent­ lichungen manifestiert66, Pionierarbeit – ein Dialog zwischen Praktischer Theologie und Volkskunde im Sinne gegenseitiger Bereicherung mit Blick auf Methodik und Forschungsgegenstand kommt allerdings nicht wirklich zustande.67 In 63 Ebd., 12. 64 Ebd., 21. 65 Vgl. Drews, P., Das Problem der Praktischen Theologie, 7; vgl. dazu: Weyel, B., ebd., 200 ff. 66 Vgl. etwa Drews, P., Die freien religiösen Gemeinden der Gegenwart (1901); ders., Das kirchliche Leben (1902); ders., Zur Psychologie des Bauerntums (1906). 67 Ein wesentlicher Grund für das Ausbleiben eines interdisziplinären Dialogs zu Beginn des 20. Jhs. mag auf Seiten der wissenschaftlichen Volkskunde darin liegen, dass diese zwar passioniert Formen von sog. ›Volksfrömmigkeit‹ untersucht, womit allerdings alles außerhalb des institutionalisierten Christentums gemeint ist, als Vorstufe einer Hochreligion angesehen und mit Stichworten wie ›Magie‹, ›Aberglaube‹ etc. verbunden wird. Die Kehrseite dessen liegt auf der Hand: Die Volkskunde hat kein Interesse daran, ihr Augenmerk auf das verfasste Christentum (in welcher Spielart auch immer) zu richten. Vermutlich ist in dieser Forschungsbeschränkung ein Erbe der Aufklärung zu sehen: Distanzierung von Formen der Kirchlichkeit verbürgt (auch protestantischen) bürgerlichen Intellektuellen das Signum der Wissenschaftlichkeit. (Vgl. Brückner, W., Frömmigkeitsforschung, 5 ff.)

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»›Religiöse Volkskunde‹, eine Aufgabe der praktischen Theologie« führt Drews das neue Forschungsinteresse folgendermaßen ein: »Nach unserer Auffassung muss die praktische Theologie mehr descriptiv-induktiv als systematisch-deduktiv betrieben werden. Die Voraussetzung einer besonnenen und wirksamen Beeinflussung des kirchlichen Lebens und der kirchlichen wie nicht kirchlichen Kreise ist eine wirkliche Kenntnis des gegenwärtigen religiösen Lebens innerhalb und außerhalb der Landeskirchen. Das erfordert eine beschreibende Darstellung des religiösen Lebens der Gegenwart im Zusammenhang mit seinem geschichtlichen Werden auf Grund einer eindringlichen psychologischen Analyse des Volkscharakters wie der Gruppen- und individuellen Typen, mit denen der Geistliche zu rechnen hat. Die Wichtigkeit dieses neuen Zweiges der praktischen Theologie, den man kurz ›religiöse Volkskunde‹ nennen kann, wenn man die religionspsychologische Charakteristik mit einschließt, wird immer mehr erkannt werden.«68

Dieses Zitat zeigt mehrere wichtige Neueinsätze: Zum einen wird die reli­giöse Volkskunde als neue Methode eingeführt, als »neuer Zweig«, nicht als Forschungsgegenstand. Des Weiteren geht es der religiösen Volkskunde um eine Wahrnehmung innerkirchlicher wie außerkirchlicher Psychologie des religiösen resp. sittlichen Lebens  – programmatisch wird also die binnenkirchliche Perspektive verlassen. Postuliert werden schließlich für die Disziplin ein quasi mikrosoziologischer Blick und ein Abrücken von der spekulativen Theologie.69 Drews geht es im weiteren Text darum zu plausibilisieren, dass die Praxis des Pfarrberufs unter dem Gesichtspunkt der Vermittlung Kenntnisse bedarf über »den Stand des religiösen Lebens der Kreise, auf die er [der Pfarrer, KM] wirken soll.«70 So heißt es an anderer Stelle: »So redet er [der Pfarrer, KM] vielfach über die Köpfe und über die Herzen hin, und sein seelsorgerliches Wirken bleibt ein äußerer Betrieb.«71 Die Pfarrer über die »Thatsachen« des religiösen Lebens von Menschen zu unterrichten, aber auch den Ursachen und Bedingungen die 68 Drews, P., »Religiöse Volkskunde«, 1. – Im Original hervorgehoben. – Drews zitiert hier selbst Worte des Prospektes, der die MKP in ihrem Profil vorstellen sollte. Insofern kann angenommen werden, dass es sich nicht um eine von Drews alleinig formulierte Äußerung handelt  – allerdings war Drews mit dem Redaktionsgebiet »Religiöse Volkskunde« betraut, so dass dieses Zitat Ausdruck seines Forschungsinteresses gewesen sein dürfte, was sich nicht zuletzt darin erweist, dass Drews dieses Prospekt-Zitat programmatisch an den Anfang seines Artikels setzt. 69 Steck schreibt hierzu: »Die Praktische Theologie wechselt damit die Theorieform. Sie tritt nicht mehr als dogmatisch begründete und an den kirchlichen Traditionen orientierte theologische Lehre auf, sondern verschreibt sich statt dessen der wissenschaftlich-exakten Forschung. Indem die Praktische Theologie insgesamt ›mehr deskriptiv-induktiv als systematisch-deduktiv betrieben‹ wird, schafft sie die notwendigen Voraussetzungen für die Konstruktion einer eigenständigen praktisch-theologischen Kirchentheorie, einer wissenschaftlich rekonstruierten und detailliert ausgearbeiteten Topographie des zeitgenössischen kirchlichen Christentums.« Siehe Steck, W., Praktische Theologie 293. 70 Drews, P., ebd., 2. 71 Ders., Art. Volkskunde, religiöse, 1746.

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ser religiösen Praxis nachzugehen, dies ist nach Drews die Aufgabe der Praktischen Theologie. Bemerkenswert ist der Blick auf die individuelle Verfasstheit reli­giöser Praxis, im Zuge derer Drews eine religiöse Psychologie als Ergänzung zur (soziologisch orientierten) religiösen Volkskunde vorschlägt.72 Zur individuellen Verfasstheit heißt es: »Denn wir Menschen sind, sowohl was die einzelnen Individuen, als auch was die gesonderten Gesellschaftsgruppen anlangt, durchaus nicht in ein- und derselben Weise fromm.«73

Es geht um die Anerkennung von religiöser Vielfalt: Entsprechend soll, so Drews, der orthodoxe Pfarrer sein Bestreben fallen lassen, alle Menschen zur Ortho­ doxie hinführen zu wollen, wie der liberale Pfarrer davon abrücken soll, alle Christen zu Liberalen formen zu wollen.74 Unter Berücksichtigung aller denk­ baren Faktoren, wie geographische Region oder gesellschaftliche Schichtzugehörigkeit, soll der Horizont historischen Gewordenseins der religiösen Praxis von sozialen Gruppen und Individuen erfasst werden. Die Einsicht in diese Faktoren ermöglicht ein zielgerichteteres – und damit effektiveres – kirchliches Handeln.75 Das Anliegen der empirischen Fundierung der Praktischen Theologie führt Friedrich Niebergall in seinem Lehrbuch »Praktische Theologie. Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage« (1918/1919) fort. Im ersten Teil  des Buches geht Niebergall auf Fragen und Aspekte zur »religiösen Seelen- und Volkskunde«76 ein, wobei ein angemessenes Instrumentarium zur Erfassung der Phänomene nicht elaboriert ist. Allein der Umfang der Ausführungen – knapp 200 Seiten – verdeutlicht allerdings den Programmcharakter des neuen Interessenfokus: Ohne die Wahrnehmung der empirischen Gegebenheiten ist ein Verstehen der Individuen und eine Zuwendung zu eben diesen nicht mehr möglich.77 Schließlich ist Otto Baumgarten zu nennen, dem an der empirischen Grundlegung der Praktischen Theologie gelegen ist. Baumgarten weist auf die Notwendigkeit hin, dass die Pfarrer ein Interesse für die spezifische Bedürfnislage derer entwickeln müssen, die sie in ihrer kirchlichen Praxis erreichen wollen. Bereits 72 Vgl. ders., »Religiöse Volkskunde«, 7. 73 Ebd., 2. Im Original hervorgehoben. 74 Vgl. ebd., 7. 75 Zu Drews vgl. auch: Drehsen, V., Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen, 448–497. 76 Niebergall, F., Praktische Theologie. Lehre, 31. 77 Niebergalls Anliegen wird im Vorwort der zweiten Auflage des »Römerbrief[s]« (1922) durch Karl Barth in Misskredit gebracht: Barth beanstandet hier eine Art Kurzschluss zwischen historisch-kritischer Exegese und der Praktischen Theologie im Zuge der Herausgabe der Reihe »Handbuch zum Neuen Testament«, deren fünfter Band in Niebergalls »Prak­ tische[r] Auslegung des Neuen Testaments« besteht.

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in »Der Seelsorger unserer Tage« (1891) heißt es bei Baumgarten mit Blick auf die Industriearbeiter, dass »ein stetes Predigen von Sichschicken in die Zeit zur unerträglichen Phrase« werde, »dann wird der Prediger der passiven Tugenden einfach zum Kapitalpastor in den Augen der Notleidenden.«78 Es ist deutlich geworden, dass die Praktische Theologie des 19. und beginnenden 20. Jhs. in Teilen versucht, auf die Individualisierung der religiösen Lage in der Gesellschaft, auf die Diversifizierung der Gesellschaft insgesamt mit einer Veränderung ihres Programms zu reagieren: Die verschiedenen Lebenssituationen der Individuen einschließlich ihrer religiösen Praxis gilt es zuallererst wahrzunehmen, so die Einsicht, um dann die theologische Praxis mit der veränderten gesellschaftlichen Situation – und der Situation der zunehmend entkirchlichten, religionsproduktiven Individuen  – vermitteln zu können. Dieses Bestreben erfährt in Deutschland mit dem Erstarken der Dialektischen Theologie einen deutlichen Widerstand.79 Angeknüpft an die empirische Tradition wird erst wieder in den sechziger Jahren des 20. Jhs.80 Der Alltag explizit gewinnt für die Praktische Theologie erst in den achtziger Jahren an Interesse.

1.2.2 Praktische Theologie als Hermeneutik der Alltagskultur individuell verfasster Religionspraxis Der Terminus ›Alltag‹ hält in die praktisch-theologische Debatte Mitte der achtziger Jahre Einzug. Neben der Rezeption von vor allem soziologischen Theorien handelt es sich ganz wesentlich um eine Anknüpfung an die so genannte ›erste empirische Wende‹. In relativ kurzen Abständen erscheinen drei Artikel Henning Luthers zum Thema, sowie Wolfgang Stecks Aufsatz »Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt« (1987). Eindrücklich ist es Henning Luther gelungen, den Stand der soziologischen Alltagsforschung in den praktisch-theo­ logischen Diskurs einzubringen.81 Darauf soll hier zunächst nur verwiesen werden.82 78 Baumgarten, O., Der Seelsorger unserer Tage, 29. 79 Vgl. Treiber, A., »Von volkskundlicher Erörterung«, 240. 80 Ausnahmen bilden die Gründungen der »Arbeitsgemeinschaft für religiöse Volkskunde« 1937 in Leipzig und Hamburg. Die Leipziger Gemeinschaft erhielt 1969 den neuen Namen »Theologischer Arbeitskreis für Religionssoziologie und Religiöse Volkskunde« und bestand bis 1989 fort. Vgl. Treiber, A., ebd., 239; 241 ff. 81 Vgl. Luther, H., Religion und Alltag, 184 ff. – Nochmals sei darauf verwiesen, dass es hier explizit um die Thematisierung des ›Alltags‹ geht. Das Anliegen religionstheoretischer Arbeiten, die sich in den siebziger Jahren um einen Dialog zwischen Theologie und Soziologie in Form religionssoziologischer Beiträge, letztendlich um eine Rückbindung der Theologie an die empirische Verfasstheit sozialer Realität bemühten, kehrt erst fünfzehn bis zwanzig Jahre später wieder in die Praktische Theologie zurück. 82 Vgl. Kap. I.3.3.1.

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Da in der soziologischen Theorie das Verständnis von Alltag eng mit der hermeneutischen Frage des Sinnverstehens verknüpft ist, wundert es nicht, dass ebenfalls in den achtziger Jahren der Sinnbegriff auch für die Praktische Theologie von Interesse wird. In diese Zeit fallen ebenfalls auch – symptomatisch für das Interesse an der Reflexion des Konnexes zwischen gesellschaftlicher Entwicklung, Bedingungen und Möglichkeiten sinnhafter Orientierung und der Frage individualisierter Religiosität – verstärkt Arbeiten zur Logotherapie, aber auch Gerhard Sauters systematisch-theologisches Buch »Was heißt: nach Sinn fragen?« (1982). 1992 erscheint, nach seinem frühen Tod, Henning Luthers Buch »Religion und Alltag«, eine Kompilation bisher veröffentlichter, aber auch unveröffentlichter Aufsätze zum Problemdreieck Subjekt  – Alltag  – Religion.83 In Folge wird Luther etwa von Martin Nicol als »wirkkräftigste[r] Vertreter einer ›Praktischen Theologie des Subjekts‹« bezeichnet. Henning Luther beschreibt die Konstitu­ tionsbedingungen von Religion im Zusammenhang mit alltäglichen bzw. lebensweltlichen Phänomenen und Prozessen der Identitätsbildung. Die inter­a ktiven Zusammenhänge von Religion und Individualität, Identität, Subjektivität und Lebensvollzug werden deutlich – ein Problemzusammenhang, auf den die Praktische Theologie in dieser Konkretion nicht in ihrer Mehrheit aufmerksam wird, wenngleich doch in einzelnen Positionen.84 Henning Luther thematisiert in für die Praktische Theologie fruchtbarer Weise die Problematik des Sinnbegriffs, vor allem die Gefahrenquellen in seiner pastoralen Anwendung.85 Mit seinem An­liegen knüpft Luther an die in ihren Ursprüngen ins 19. Jh. zurück reichende Tradition liberaler Theologie an, an Gestalten wie Bornemann und Drews, Baumgarten und Niebergall, nicht zu vergessen freilich Schleiermacher:86 Konkretisiert wird der Blick auf das Individuum, die Reflexion des Lebenskontextes wird wieder wichtig, und damit wird auch der Blick frei, Religion als individuell zu fassende Größe zu explizieren. Entsprechend fordert Henning Luther in »­Religion und Alltag« eine Praktische Theologie, die den einzelnen Menschen als Subjekt und Bezugspunkt ihres Arbeitens versteht.

83 Es ist nur zu vermuten, ob Luther A. D. Müllers gleichnamige, gleichwohl kulturpessimistische Studie aus dem Jahr 1924 (41932) bekannt war. 84 Zu denken ist hier etwa an Rösslers Entwurf der »dreifachen Gestalt des Christentums in der Neuzeit« (der Einzelne – die Kirche – die Gesellschaft) von 1986. Rössler nimmt hier eine religionstheoretische Erweiterung vor, indem er es als Aufgabe der Praktischen Theologie beschreibt, für eine »Verbindung von Grundsätzen der christlichen Überlieferung mit Einsichten der gegenwärtigen Erfahrung« vor dem Phänomen der sich charakteristisch für die Neuzeit herausgebildeten dreifachen Gestalt des Christentums einzutreten. Vgl. Rössler, D., Grundriß, 3. Vgl. hierzu auch schon früher: Drehsen, V., Zum Interesse der sozialwissenschaftlichen Kritik, 299 ff. 85 Vgl. Kap. I.4.4.1. 86 Zu Schleiermacher vgl. ausführlicher Kap. III.10.3.1.

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Von einer stärker religionsphilosophischen Reflexion der Termini ›Subjekt‹ und ›Religion‹ herkommend, sich in die von Friedrich Daniel Ernst Schleier­ macher und Carl Immanuel Nitzsch herkommende Theorieentwicklung von Dietrich Rössler bis Wolfgang Steck einordnend87, bewegt sich Wilhelm Gräb in einer ganz ähnlichen Richtung mit einem ganz ähnlichen Interesse. Auch bei Gräb findet sich das genuine Interesse an den Subjekten der Religion, den sich im Zusammenspiel einer jeweiligen Gegenwartskultur sich entwerfenden Individuen und ihrer Religionspraxis. Die Hinwendung zur empirischen Untersuchung der ›gelebten Religion‹ findet bei Gräb – im Gegensatz zu Luther – seine Materialisierung in der praktischen Analyse gegenwartskultureller Phänomene und ihrer religionsproduktiven Kraft für die Subjekte88: Theologie ist Reflexion über Religion, und insofern ist die Praktische Theologie auf die empirische Erforschung alltagspraktischer Religionsvollzüge innerhalb der Kirche, vor allem aber auch außerhalb der Kirche, verwiesen. Gräb geht es um die Vermittlung zwischen der Gegenwartskultur, die in ihren Codierungen zunächst als etwas ›ganz Anderes‹ erscheinen mag, und tradierten christlich-institu­ tionalisierten Symbolisierungen zum Zwecke einer zeitgemäßen Selbstreflexion kirchlicher Religionspraxis. Praktische Theologie ist insofern Kulturhermeneutik, als Gräb Religion, im Wesentlichen im Anschluss an Ulrich Barth, als »Kultur der Symbolisierung letztinstanzlicher Sinnhorizonte alltagswelt­licher Lebensorientierung«89 versteht. Gräbs Entwurf ist dadurch charakterisiert, dass sich das einzelne Subjekt in seiner Identität und Individualität auf die religiöse Tätigkeit des Bewusstseins – und das bedeutet: auf die Herstellung eigenen Sinns zur Selbstvergewisserung  – zurück verwiesen sieht. Insofern ist die Beschäftigung mit der ›gelebten Religion‹ der Individuen eine unverzichtbare Aufgabe der Praktischen Theologie zur Erhellung ihrer Aufgabe und ihres Gegenstandes. Gräb operiert, im Vergleich zu Luther, mit einem Sinnbegriff, welcher eher unproblematisch erscheint – dies findet seinen Grund darin, dass der Sinnbegriff bei Gräb vorwiegend funktional gefasst ist und weniger emphatisch, wie es bei Henning Luther der Fall ist.90

87 Gräb, W., Praktisch-theologische Wahrnehmung, 246 f. 88 Vgl. etwa zum Phänomen der Medienreligion resp. der individuellen Selbstauslegung im Prozess visueller Kommunikation: Gräb, W./Herrmann, J./Merle, K./Metelmann, J./Nottmeier, Chr., »Irgendwie fühl‹ ich mich wie Frodo …!« 89 Gräb, W., Lebensgeschichten, 51. 90 Vgl. Zitat und Kontext bei Gräb, W., ebd., 59: »Die Theologie zeigt, wie die christliche Religion in die kontingenzverarbeitenden Deutungszuschreibungen zugleich immer auch eine Reflexionskehre einbringt. Sie tut dies, indem sie in der Perspektive der Rechtfertigung bzw. des Reiches Gottes die Symbolisierung eines alles umgreifenden Seins- und Sinnesgrundes aufbietet, der mit seinem Widerspruch gegen die Erfahrung von Endlichkeit, Leid und Ungerechtigkeit in einer zerfallenden Welt die Grundannahme erlaubt bzw. wiederherstellt, dass die sinnwidrigen Züge dieser Welt insgesamt keineswegs eigen sind und in der Durchsetzung

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Das Interesse an phänomenologischer Wahrnehmung und empirischer Erforschung alltäglicher Religionspraxis hat vor dem Hintergrund der Registrierung zahlreicher, sich gegenseitig beeinflussender Faktoren in den neunziger Jahren deutlich zugenommen. Als anfängliche Wegmarken auf dieser immer noch auszubauenden Strecke sind die Veröffentlichung des Marburger Graduiertenkollegs »Religion in der Lebenswelt der Moderne« (1998), sowie die sich eher als Phänomenologie der Praxis verstehende Veröffentlichung von Wolf-Eckart Failing/ Hans-Günter Heimbrock »Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis« (1998) anzusehen. Gegenwärtig ist eine Zunahme des Interesses an empirischer Religionsforschung zu verzeichnen.91 Wie hat nun das Interesse am Alltag konkret in der Poimenik Gestalt angenommen?

1.2.3 Der Alltag in der poimenischen Diskussion Auch für die Poimenik hat der Individualisierungsschub im Zuge von Pietismus und Aufklärung methodische Konsequenzen: Der Einzelne wird in der wissenschaftlichen Reflexion nicht mehr nur einer allgemeinen Ekklesiologie unter­ geordnet, sondern erhält einen eigenen Stellenwert als ›Objekt‹ der ­poimenischen der geglaubten, umfassenden Sinnrealität auch überwunden werden: ›Wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man hoffen auf das, was man sieht?‹ (Röm 8,24)« – mit Luther, H., Die Lügen, 169: »Meine kritische Rückfrage richtet sich nun darauf, ob der Begriff der ›Lebensgewissheit‹ oder Beschreibungen der Wirkung des Glaubens als ›zur Ruhe kommen‹, als Stabilisierung menschlichen Daseins, als ›Summe‹ von ›Sinn, Halt und Hilfe‹ als ›Erfahrung für das Tragende und Verlässliche‹ angemessen und hinreichend die Glaubenserfahrung wiedergeben. Ist Glaube der Garant von Sinn? Ist Glaube eine Beruhigung? Gibt Glaube Geborgenheit und Heimat – inmitten einer trostlosen Welt? Und sind ungekehrt Verzweiflung und die Klage über das anhaltende Leiden und die Sinnlosigkeit dieser Geschichte Ausdruck von fehlendem Glauben oder gar Unglaube?« – Vgl. zu den Ansätzen Gräbs wie H. Luthers auch: Erne, Th., Rhetorik und Religion, 38 ff; 45 ff. 91 Aus feministischer Perspektive schließen sich an: Sommer R., Lebensgeschichte und gelebte Religion von Frauen (1998) und Augst, Chr., Religion in der Lebenswelt junger Frauen (2000). – Vgl. programmatisch: Einführung in die Empirische Theologie, A. Dinter u. a.(Hg.), Göttingen 2007. Th. Erne formuliert im Anschluss an Failing/Heimbrock: »Nimmt man die Einsicht in die Horizonthaftigkeit von Lebenswelten ernst, die sich mit der Differenz von Sinnhorizont und Sinnerfahrung, von Welt-Haben und In-der-Welt-Sein, sowohl der Empirie wie einer transzendentalen Begründung entzieht, dann besteht für die Praktische Theo­ logie die Aufgabe darin, ihr Thema, die gelebte Religion, im Rahmen eines phänomenologisch verstandenen Alltags zu entfalten. Sie kann sich dann nicht mehr auf elementare Grunderfahrungen oder eschatologische Unterbrechungen des Alltags zurückziehen, denn unhintergehbar ist dann nur, dass jede Wahrnehmung und Deutung von Lebenswelt in unabschließbaren Horizonten zu stehen kommt, die keiner abschließenden Ganzheit zugeführt werden ­können.« (Erne, Th., ebd., 72 f.) – Vgl. auch Weyel, B., Gottesdienste in der Stadt.

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Betrachtung. Friedrich Schleiermacher stärkt die Rolle der cura animarum ­specialis neben der cura animarum generalis: Der Einzelne gewinnt in der sozia­ len Großgruppe an Gewicht. Damit verbindet sich die Sorge, dass der Einzelne nicht der Partizipation am Gesamt der Gemeinde verlustig geht.92 Mit diesem Blick auf die individuelle Verfasstheit geht der Bedeutungszuwachs der persönlichen Lebensumstände, des Kasusanlasses einher. Diese Tendenz setzt sich in der »Praktische[n] Theologie« Carl Immanuel Nitzschs fort, welcher in nahezu monumentalen Ausmaßen seine Seelsorgelehre  – in Anlehnung an Schleier­ macher – entwirft. Stärker als Schleiermacher geht es Nitzsch insgesamt um den Erhalt eines ›Gesamtbildes Gemeinde‹, woraufhin sich das seelsorg­liche Wirken ausrichten soll. Gleichzeitig zeichnet sich Nitzschs Ansatz durch den Willen zur methodischen Differenzierung des Umgangs mit den Menschen aus, die die Situation der (speziellen) Seelsorge aufsuchen: »Eigenthümliche Pflege der Seelen oder specielle Seelsorge ist die amtliche Tätigkeit der christlichen Kirche, welche der Erhaltung, Vervollkommnung, Herstellung des geistlichen Lebens wegen auf das einzelne Gemeindeglied gerichtet ist, folglich nach den eigenthümlichsten persönlichen Zuständen und Bedürfnissen bemessen sein und am meisten vom ganz persönlichen Eindruck des Seelsorgers unterstützt werden muss.«93

Im Rahmen seiner »Orthotomie«, welche als Methode die folgerichtige Zu­ weisung des biblischen Wortes zu spezifischen Anlässen bezeichnet, unterscheidet Nitzsch den leidenden Menschen vom sündigen Menschen und wiederum vom irrenden Menschen. Die Methode der Orthotomie, also der »Austheilung und Anwendung des göttlichen Wortes in Bezug auf die Eigenthümlichkeit der Zustände und Anlässe«94 kann also durchaus als »Kasushomiletik zwischen Text und Situation« (Eberhard Hauschildt) angesehen werden und bezeichnet einen wichtigen Schritt hin auf die sich erst allmählich ausbildende Kompetenz der differenzierten Wahrnehmung von Anliegen, Bedürfnissen und Lebensum­ ständen einzelner Menschen und des Menschen als Einzelnem. Ende des 19. Anfang des 20. Jhs. entsteht auch für die Poimenik ein Interesse an empirischer Grundierung: Damit wird die Einsicht in die notwendige Alltagsverankerung von Seelsorge explizit.95 Zu Recht weist Thomas Stahlberg darauf hin, dass die Reformbewegung nicht nur von der Liberalen Theologie getragen wird, dass vielmehr mit Heinrich Adolf Köstlin und Otto Baumgarten die ›Lager‹ positiv/konservativ und modern/liberal in der gemeinsamen Refor 92 Zum dialektischen Verhältnis von Sozialität und Individualität bei Schleiermacher vgl. Kap. III.10.3.1. 93 Nitzsch, C. I., Praktische Theologie III, 70. 94 So bezeichneter umfangreicher Abschnitt im Rahmen der Seelsorgelehre, vgl. ebd., 168–314. 95 Vgl. Stahlberg, Th., Seelsorge im Übergang, 296.

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midee überwunden werden. Angestoßen durch die mit der Moderne auftretende Differenzierung und Dynamisierung der Lebenswelt einerseits und den damit zusammenhängenden Umwälzungen auf dem Sektor der institutionalisierten Religion andererseits, scheint es notwendig, sich den einzelnen Sozialformen religiösen Lebens bzw. individuellen Bedürfnislagen von Menschen zuzuwenden: Die sozialstrukturellen Wandlungsprozesse ziehen neue Gruppenbildungsprozesse nach sich, welche sich an neuen Wertsetzungen und neuen organisierenden Sinnstrukturen orientieren; das moderne Selbstbewusstsein schwankt hin und her zwischen vorcodierten traditionellen Lebensdeutungsmustern, wie es die christlichen Kirchen bieten, und neuen sozialen Plausibilitäten, die sich mitunter nur sehr schwer mit althergebrachten Traditionen vermitteln lassen.96 Das faktische Vorhandensein dezentralisierter Sinnkonstitutiva, die fortschreitende lebensweltliche Pluralisierung und der damit zusammenhängende Verlust alltagspraktischer Selbstverständlichkeiten erwecken das Bemühen um eine Neubestimmung der praktisch-theologischen Handlungsfelder: Empirieorientierung, konzeptgeleitete Praxisreflexion und professionsspezifische Reform des theologischen Studiums sind Ideen97, an die die Poimenik anknüpfen kann. Als Reflexionsdisziplin eignet sich die Poimenik im skizzierten Problemzusammenhang insofern in besonderer Weise, als sie eine exemplarische Schnittstelle zwischen individueller Erfahrung, theologischer Deutungsleistung und kommunikativer Vermittlung darstellt.98 Otto Baumgarten bemerkt scharfsichtig den Verlust lebensweltlicher Anknüpfungspunkte für die kirchliche Praxis (und ihrer Theorie), welche nicht in der Lage scheint, den Individualisierungs- und Privatisierungsprozessen zu begegnen: »[…] unbewusstes Christentum, ein letztes Abendrot eines christlichen Sonnentages, ist die Grundstimmung. Was vorwärts strebt und seines Strebens sich bewusst ist oben wie unten, ist der Kirche, der Hüterin des Bleibenden, der Tradition, entfremdet, begnügt sich höchstens mit religiösen Stimmungen.«99

In den Veröffentlichungen Baumgartens findet die Seelsorgelehre der Moderne denn auch ihren programmatischen Ausdruck in ihrem Bemühen, seelsorg­ liches Handeln unter den Bedingungen der »modernen Religionskrisis« (Ernst ­Troeltsch) neu zu bestimmen. Baumgarten, in Halle, Berlin, Jena und Kiel tätig, 96 Exemplarisch sei nur an die Lebensreformbewegung erinnert, deren verschiedene Reformzweige seit der zweiten Hälfte des 19. Jh entstehen: Vgl. Fritzen, F., Gesünder leben.; vgl. Barlösius, E., Naturgemäße Lebensführung; Linse, U., Das »natürliche Leben«.  – Dass das 19. Jh. zugleich die Wiege wissenschaftlicher Religionsforschung war, veranschaulicht Krech, V., Wissenschaft und Religion, 39 ff; 84 ff. 97 Vgl. Stahlberg, Th., ebd., 285. 98 Vgl. ebd. 99 Baumgarten, O., Kirchliche Chronik, 46.

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hier von 1894–1926 als ordentlicher Professor für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Seelsorge, ist Mitbegründer – und von 1912–1925 Vorsitzender – des Evangelisch-Sozialen Kongresses, seit 1918 Mitglied der Demokratischen Partei und seit 1919 Mitglied der deutschen Friedensdelegation. Als prominenter Vertreter der theologischen Linken mahnt er auch die soziale Verantwortung der Seelsorge an – Seelsorge soll sich nicht mehr der Homiletik, also der Verkündigung, subsumieren, sondern auf die konkreten sozialen und politischen Fragen eingehen. Baumgarten liegt an der Vermittlung zwischen den alltagsweltlichen Bedingungen der Moderne, gerade unter dem Vorzeichen der Industrialisierung, und der praktisch-theologischen Reflexion. Dabei ist er bemüht, traditionellchristliche Symbolgehalte transparent für die neuen alltagsweltlichen Umstände werden zu lassen; beschritten werden soll die »diskursive Ebene der kritischen theologiepolitischen Identitätsbildung«100. Gelebtes Christentum vollzieht sich in der Beziehung eines Christen auf einen anderen, wobei der Mensch immer unter zweifacher Perspektive wahrgenommen werden will: als Teil  der kirchlichen und als Teil  der bürgerlichen Gemeinschaft. Baumgarten geht es also einerseits um die »soziale Auffassung des Einzelnen«101 wie andererseits um ein Bewusstsein für die stets zu unterscheidenden seelsorglichen Anlässe nach Situation und Person, Zeit und Ort. Die Zweipoligkeit der Praktischen Theologie (Reflexion auf gegenwartskulturelle Phänomene unter dem Aspekt der Vermittlungsmöglichkeit zu tradi­ tionell-christlichen Symbolgehalten) kann erst wieder Ende der sechziger Jahre entsprechend aufgenommen und kritisch fortgesetzt werden: Die starke Ausrichtung der Dialektischen Theologie an deduktiver Theoriebildung, der Versuch der strikten Trennung von Theologie und Anthropologie, führte zu einer Abwertung der hermeneutischen Kategorien ›Religion‹ und ›Frömmigkeit‹. Angeknüpft wird in den sechziger Jahren an das empirische Forschungsinteresse v. a. durch die Auseinandersetzung mit poimenischen Konzepten aus Nordarmerika: Von der so genannten ›Seelsorgebewegung‹ war in diesem Kapitel bereits die Rede.102 Die amerikanische Seelsorgebewegung nimmt den theologischen Liberalismus auf, welcher, für die USA typisch, eng mit der Religionspsychologie verflochten ist, und integriert die theologische Erneuerung, die mit Paul ­Tillich und Richard Niebuhr manifest wird und sich an Gesprächen mit den theologischen Positionen Karl Barths und Friedrich Gogartens bildet.103 Das (Wieder-) Erstarken des Interesses an empirisch-hermeneutischer Praxis in Deutschland kann entsprechend differenziert gefasst werden: Neben das Desiderat einer 100 Stahlberg, Th., ebd., 288. 101 Baumgarten, O., Protestantische Seelsorge, 64. 102 Zur Vertiefung vgl. Winkler, K., Seelsorge, 46 ff:, 62 ff; auch: 175 ff; vgl. Hauschildt, E., Art. Seelsorgelehre, 62–66. 103 Vgl. Stollberg., D., Therapeutische Seelsorge, 18 f.

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erfahrungswissenschaftlichen und damit einer empirischen Wende allgemein tritt der explizite Rückbezug auf die Tradition der Liberalen Theologie.104 Blickt man auf die gegenwärtige und im Rahmen dieser Arbeit im besonderen interessierende Lage der Arbeiten zur Alltagsseelsorge, existiert für die ­Poimenik, seit die Frage nach dem Alltag in den achtziger Jahren explizit auftritt, eine (noch) überschaubare Anzahl von Arbeiten, die sich eingehend mit dem Verhältnis zwischen Seelsorge und Alltag auseinander setzen. Diese Arbeiten sollen im Folgenden eingehender betrachtet werden, um im Anschluss daran die Problemskizze der vorliegenden Arbeit anzuschließen: Es werden die Arbeiten Wolfgang Stecks, Eberhard Hauschildts und Thomas Henkes vorgestellt; die Ausführungen Henning Luthers zum Thema ›Seelsorge und Alltag‹ und ihre Implikationen für eine Theologie des mikrologischen Blicks werden unter Kap.  I.4. verhandelt.105 Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Arbeiten Henning Luthers in der Beschäftigung mit dem Thema unumgänglich sind, weil sie – im wörtlichen Sinne – thematisch grundlegend sind (1986 und 1987 er­scheinen drei Aufsätze zum Thema ›Alltag‹ bzw. ›Seelsorge und Alltag‹). Steck, Hauschildt und Henke rekurrieren auf Luther. Darüber hinaus ist die leitende Fragestellung der vorliegenden Arbeit – welche konzeptionellen Konsequenzen ergeben sich für die Seelsorgelehre und -praxis aus dem Problem des gegenseitigen Verstehens fremder Selbstverhältnisse? – vor allem in der Auseinandersetzung mit der Praktischen Theologie Henning Luthers entstanden. Bevor in den folgenden Kapiteln allerdings konkret den Antworten exemplarisch ausgewählter poimenischer Ansätze (Joachim Scharfenberg, Isolde Karle, Henning ­Luther) auf eben jene Frage nachgegangen wird, sollen zunächst Skizzen derjenigen Arbeiten folgen, die im Diskurs über die Verortung des Alltags in der praktisch-theologischen resp. poimenischen Theoriebildung nicht fehlen dürfen: a)  Wolfgang Steck: Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt/Alltags­ dogmatik; b) Eberhard Hauschildt: Alltagsseelsorge; c) Thomas Henke: Seelsorge und Lebenswelt. a) Wolfgang Steck: Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt/ Alltagsdogmatik In seinem Artikel »Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt« (1987) entfaltet Wolfgang Steck, inwiefern die Institutionen des Alltagsgesprächs Voraussetzungen und Bedingungen für die professionelle Seelsorge darstellen. Wesentlich 104 Für den Rückbezug auf die Tradition der Liberalen Theologie vgl. exemplarisch: Steck, W., Grund und Grenze des Amtes (1968); Wintzer, F., Die Homiletik seit Schleiermacher (1969); Gräb, W., Humanität und Christentumsgeschichte (1980); Luther, H., Religion, Subjekt, Erziehung (1984); Steck, W. (Hg.), Otto Baumgarten (1986). 105 Vgl. als Positionskizzen zu Steck, Hauschildt und H.  Luther auch: Erne, Th., ebd., 214 ff.

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für den Ansatz ist der Verweis auf das reformatorische Prinzip des Priestertums aller Glaubenden: Steck unterscheidet zwar zwischen professioneller und allgemeiner Seelsorge, definiert den Kompetenzunterschied allerdings schlicht in der fachspezifischen Bildung und Ausbildung, die Pfarrer und Pfarrerinnen zukommen.106 Stärker als die Differenz zwischen den beiden Formen ist jedoch das Verbindende: Das seelsorgliche Alltagsgespräch wie das berufliche Seelsorgegespräch weisen große Ähnlichkeiten hinsichtlich der Themen, der Form und der institutionellen Beziehungen auf. Oder anders formuliert: Die Strukturen der professionellen Seelsorge ruhen auf den Strukturen des seelsorglichen Alltagsgesprächs auf. Mit Blick auf die Themen etwa stellt Steck fest, dass in der professionell seelsorglichen Situation mitnichten solche jenseits der (mitgebrachten) alltäglichen Lebenserfahrung bearbeitbar sind. Der thematische Bezug zur Alltagswelt ist hingegen sehr konkret: Die Themen, die in die pastorale Seelsorge eingebracht werden, haben ihren Ursprung in der alltäglichen Erfahrung – und im Alltag, in Situationen alltäglicher Seelsorge, hat schon eine Auseinandersetzung mit ihnen stattgefunden.107 Die professionelle Seelsorge wird in der Regel als weitere Kommunikationsform aufgesucht, nachdem andere (Beziehungs-) Institutionen, durchlaufen wurden, wie etwa das Gespräch unter Freunden, mit dem Ehepartner, mit Nachbarn usw. Der Sinngehalt des professionellen Seelsorgegesprächs ergibt sich für die Seelsorgesuchenden nur über das Gesamt bisher gewonnener Lebenserfahrung. Auch in der Form des Gesprächs gibt es viele Ähnlichkeiten. Steck verweist auf die Möglichkeit, das Gesprächsmilieu zu widerrufen – eine notwendige Option, sieht man auf die für ein seelsorgliches Gespräch charakteristische Intensität der persönlichen Teilnahme bzw. der hohen subjektiven Beteiligung in der Bereitschaft zur Rollenübernahme.108 Bezeichnend ist ebenfalls die Dynamik des Gesprächs mit der Unterscheidung zweier Lebensszenen: die Lebensszene, über die kommuniziert wird, und die Lebensszene, in der kommuniziert wird. Schließlich folgt das professionelle Seelsorgegespräch allgemein gültigen ethischen Prinzipien und basiert auf institutionellen Beziehungen, die die Alltagswelt hervorbringt. Dies ergibt sich daraus, dass »[…] [i]n der Alltagswelt […] sich nicht nur institutionelle geordnete Situationen des seelsorgerlichen Gesprächs [finden]. Vielmehr baut die soziale Welt auf Institutionen auf, die ihrerseits selbst sozial verfasste Elemente der alltäglichen Gesprächskultur sind. Der Prozess individueller Lebensführung beruht auf einer Aufschichtung von institutionellen Gesprächsprozessen, innerhalb deren sich das individuelle wie das gemeinsame Leben selbst als kontinuierlicher Gesprächsprozess konstituiert.«109

106 Steck, W., Der Ursprung der Seelsorge, 175. 107 Ebd., 176. 108 Ebd., 178 f. 109 Ebd., 181.

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Als Institutionen benennt Steck vor allem die Ehe und die Lebensgemeinschaft von Kindern und Erwachsenen, dann auch Freundschaften und Kollegenkreise und ähnliche Gestalten der Vergemeinschaftung. Insofern besitzt die For­mulierung: »Die Institutionen des Alltagsgesprächs erstellen […] den Rahmen für die Konstruktion der sozialen Welt wie für die Konstitution der Persönlichkeit«110 Horizontcharakter für die Steck’sche Problemskizze. Der Zusammenhang zwischen dem alltäglichen und dem pastoralen Seelsorgegespräch liegt in den »konstitutiven Institutionen des Gesprächs«111 begründet. Das re­ formatorische Prinzip des Priestertums aller Glaubenden wird von professioneller Seite ernst genommen, wenn die pastorale Seelsorge sich, mit all ihren spe­ ziellen Möglichkeiten, ihrer alltagsweltlichen Bedingtheit bewusst ist und dieses Wissen in ihre Arbeit mit einbezieht. Mit Henning Luther und dessen Aufsätzen zum Alltag und zur Alltags­ seelsorge ist Steck für die Auseinandersetzung der Poimenik mit dem Thema ›Alltag‹ in den achtziger Jahren wegweisend. Beide treffen sich auch in dem Anliegen einer Phänomenologie des Alltäglichen.112 Für Steck ergeben sich daraus Überlegungen zu einer Alltagsdogmatik – einem Unterfangen, welches er selbst im Untertitel seines gleichlautenden Aufsatzes, der für den Druck überarbeiteten Fassung seiner in München gehaltenen Abschiedsvorlesung, als »unvollendetes Projekt«113 bezeichnet. Das Projekt einer Alltagsdogmatik siedelt Steck im Grenzbereich zwischen Praktischer und Systematischer Theologie an: In den Skizzen zur theoretischen Verortung beschreibt Steck einen großen Bogen vom Programm der popularen Dogmatik im Zeitalter der Spätaufklärung bis hin zur konzeptionellen Wiederaufnahme der Unterscheidung von Theologie und gelebter Religion durch Ernst Troeltsch – um sich im gegenwärtigen Diskurs über eine »aus der zeitgenössischen Christentumskultur generierten Dogmatik«114 zu verorten.115 Ent­ sprechend gehört zu den »[…] Aufgaben der alltagspraktisch verbundenen Praktischen Theologie […] die präzise Erfassung der kulturellen Formen, in denen die Christentumspraxis Gestalt gewinnt […] wie die theologische Interpretation der religiösen Vorstellungswelten, […] 110 Ebd., 182. 111 Ebd. 112 Vgl. für Steck exemplarisch: Steck, W., Praktische Theologie als Topographie; ders., En miniature – Alltagswelt im Kleinformat. 113 Steck, W., Alltagsdogmatik, 287. 114 Ebd., 289. 115 Steck nennt hier: Gräb, W., Dogmatik als Stück der Praktischen Theologie; ders., Praktische Theologie als Praxistheorie protestantischer Kultur; ders., Sinn fürs Unendliche, 301 ff; Albrecht, Chr., Wissenschaft fürs Christentum; Weeber, M., Unterscheidungen; Scheliha, A. von, Der Glaube an die göttlicher Vorsehung; ders., Dogmatik; Dierken, J., Selbstbewusstsein endlicher Freiheit; ders., Glaube und Lehre; vgl. Steck, ebd., 288 (Anm. 13).

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die sich im Wechselspiel von zeitgenössischer Lebenskultur und christlicher Glaubenstradition herausbilden und die Lebensdeutungen und Weltanschauungen der Individuen prägen.«116

Stecks Projekt einer »Alltagsdogmatik« unterscheidet sich, nach eigenen An­ gaben, von Positionen wie denen Wilhelm Gräbs, Christian Albrechts, Arnulf von Schelihas oder Jörg Dierkens darin, nicht (ausgewiesenen) Motiven und Umformungen der christlichen Tradition in der gelebten Religion nachzuspüren117, sondern der Genese des dogmatischen Wissens in der religiösen Alltagskultur der Individuen nachzugehen. Die theologisch-hermeneutische Theoriebildung erfolgt induktiv. Die Wahrnehmung der religiösen Erfahrung der Individuen in ihrer unmittelbaren Evidenz hat Vorrang vor dem traditionell-dogmatisch geprägten Zugriff auf die Phänomene. Die wissenssoziologisch orientierte Alltagsdogmatik untersucht zunächst – unabhängig vom Grad der Verflochtenheit mit Motiven der traditionellen christlichen Dogmatik  – die individualisierten Reflexionskonstrukte auf ihre Sinngehalte, um »dazu innovative dogmatische Arbeitsweisen zu erproben.«118 b) Eberhard Hauschildt: Alltagsseelsorge In seinem Buch »Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuchs« knüpft Eberhard Hauschildt an Stecks Thesen zur Verbindung von Seelsorge und Alltag an: Mit seiner Untersuchung will Hauschildt diese, also die von Steck deskriptiv-phänomenologisch ausgewiesenen Strukturen der Beziehung, am empirischen Material erproben.119 Dazu dienen ihm Transkriptionsanalysen von Gesprächen, die anlässlich pastoraler Geburtstagsbesuche entstanden. Ziel ist, die Unanschaulichkeit alltagsnaher Arbeit von Pastoren und Pastorinnen zu vermindern und »die faktischen Realisierungen 116 Steck, W., ebd., 287. 117 Es ist fraglich, ob diese Verallgemeinerung so gültig ist, ist doch die empirische Untersuchung zum Phänomen der Medienreligion, »Irgendwie fühl’ ich mich wie Frodo« (Gräb u. a., 2006), darum bemüht, gerade im zweiten Teil des Buches die Analyse des empirischen Materials nicht an der Frage zu orientieren, welche Motive und Umformungen der christ­ lichen Tradition sich wiederfinden lassen. Vielmehr geht es auch hier darum, Sinnmuster aufzuspüren, die der eigenen inneren, individuellen Logik der Sinnfindung der Probanden folgen – unabhängig von vorgeprägten Mustern der christlichen Tradition. 118 Steck, W., Alltagsdogmatik, 301. – Steck nennt exemplarisch vier Grundtypen zeitgenössischer Populardogmatik: sinnstiftenden Segmente der Alltagskultur (z. B. Bücher, Filme, aber auch Sprichwörter, Redensarten, Todesanzeigen); religiös-kulturelle Reformbewegungen (z. B. Feminismus, Friedensbewegung); alltagsdogmatische Konstrukte christlicher Glaubenstradition (z. B. Natur-, Schicksals-, Todesglaube) und die Dogmatik der Kulturreligion – Steck geht hier auf den Wandel des Kasualienchristentums ein (vgl. Steck, W., Alltagsdogmatik, 302 ff). 119 Hauschildt, E., Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse, 12 f.

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christlicher Glaubensbezeugungen im psychosozialen Zusammenhang verstehend aufzuweisen«120 – »ganz in Fortführung der Intention der sich therapeutisch verstehenden Seelsorge […].«121 Die Untersuchung soll das Handlungswissen über den Alltag von Pfarrerinnen und Pfarrern vermehren.122 Hauschildt fokussiert  – wie Steck  – auf die Form des Gesprächs zwischen zwei Personen und folgt damit der neuzeitlichen protestantischen Etablierung dieser Institution einerseits als Grundform der Seelsorge, andererseits als Objekt poimemischer Reflexion.123 Zur Analyse der Gesprächstranskripte greift Hauschildt vor allem auf Methoden der ethnomethodologischen Konversationsanalyse zurück: Sie erscheint am geeignetsten, da es in der Untersuchung der Besuchsgespräche um die Erhellung konkreter Konstruktionsmuster in der Alltagskommunikation gehen soll.124 Die Herangehensweise liegt nahe, betrachtet man das Gespräch als konstitutives Mittel der Seelsorge. Die Konversationsanalyse geht nun der Frage nach, auf welche Weise die beteiligten Akteure eine Ordnung im Gespräch herstellen. Diese Ordnung vollzieht sich vor dem Hintergrund von Sozialisation einerseits und Kontextspezifizierung andererseits. Allerdings, und das ist der interessierende Punkt in diesem Fall, werden die vorhandenen Konversationsmuster in der konkreten Situation revitalisiert und an die Situation adaptiert. Damit ist der Prozess der Konstruktion sozialer Wirklichkeit auf der Ebene des Gesprächs zwischen zwei (oder mehreren) Akteuren beschrieben. Unter Zuhilfenahme also von Methoden der ethnomethodologischen Konversationsanalyse wendet sich Hauschildt der Untersuchung von neun Gesprächen anlässlich pastoraler Geburtstagsbesuche zu, welche von Seelsorgenden zur Verfügung gestellt wurden. Man wird es eher als Annäherung an das Phänomen ›Geburtstagsbesuch‹ verstehen müssen, sieht man auf die spezifischen Merkmale: Auf acht weibliche Besuchte und einen männlichen Besuchten kommen zwei Pfarrerinnen und vier Pfarrer; die Gespräche stammen aus dem Süden und der Mitte der Bundesrepublik (»alte Länder«125)  – Nord- und Ostdeutschland fehlen ganz. Hier wären die Regionen im Gebiet der ehemaligen DDR im Ver 120 Schmidt-Rost, R., Seelsorge zwischen Amt und Beruf, 121, zit. n. Hauschildt, E., ebd., 13. 121 Hauschildt, E., ebd. 122 Vgl. ebd., 393. 123 Vgl. ebd., 21 ff. 124 Hauschildt stellt neben der ethnomethodologischen Gesprächsanalyse noch die quantitative Gesprächsanalyse, Sprechakttheorie, die pragmatisch orientierte Gesprächsforschung und die Diskursanalyse der Birmingham Language School vor, da auch sie »[…] da und dort hilfreich sein [werden] für die Benennungen von einzelnen Beobachtungen […].« (Ebd., 104.) Als leitend für seine sozio-linguistischen Untersuchungen benennt Hauschildt: Ammon, U./ Dittmar, N./Mattheirer, K. J. (Hg.), Sociolinguistics (HSK 3; 1987/88). – Vgl. zu den einzelnen Verfahren: Hauschildt., E., Alltagsseelsorge, 79 ff. 125 Hauschildt, E., Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse, 127.

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gleich sehr interessant gewesen. Der Geburtstagsbesuch als Institution eignet sich deshalb gut in seiner Form, da er für verschiedene Arten von Gesprächen offen (im Laufe des Gesprächs handeln die Beteiligten erst die Themen aus) und zugleich in seiner Niederschwelligkeit typisch ist für andere Kommunikationsformen der pastoralen Praxis »zwischen Tür und Angel«126. Für den Geburtstagsbesuch arbeitet Hauschildt fünf institutionsspezifische Logiken heraus. Der Geburtstagsbesuch steht in Geltung, die soziale Anerkennung der Besuchten zu signalisieren, persönliche Zuwendung zu zeigen, Gott ins Gespräch bringen zu können, Krisen zu bewältigen, christliche Selbstvergewisserung zu schaffen.127 Hauschildt kommt in den konkreten Analysen zu dem Ergebnis, dass sich die Seelsorgenden bestimmter Mittel bedienen, um dem Gegenüber möglichst viel Raum in der Entfaltung von Themen zu geben. Dazu gehört auf Seiten der Seelsorgenden die Verwendung von Darstellungsinduzierern, Darstellungsreduzierern und Darstellungsqualifizierern. Darstellungsinduzierer stellen etwa Fragen an den Gesprächspartner dar, unter Darstellungsreduzierern werden zum Beispiel kurze und allgemeine Antworten gefasst, Darstellungsqualifizierer sind Elemente, die das Gesagte aufnehmen und weiterführen.128 Dadurch, dass sich die Seelsorgenden im Gespräch zum Teil  mit Blick auf den substantiellen Gehalt desselben bewusst zurück nehmen, ist es für die Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen möglich, eigene Gefühle, eigene Themen und die eigene Biographie einzubringen. Die partielle Aufnahme und Bearbeitung thematisierter Ambivalenzen im Gespräch nennt Hauschildt »Alltagstherapie«: »Episodenhaft ist sie, in ihren psychischen Effekten begrenzt – aber eben in dieser Kleinheit doch beobachtbar und beachtenswert.«129 Stecks Thesen finden sich durch Hauschildts Untersuchung des pastoralen Geburtstagsbesuchs zum größten Teil bestätigt: Die Themen des Alltags kehren im seelsorglichen Gespräch wieder (Hauschildt weist auf ein Thema hin, das Steck nicht nennt, das in der Regel aber auch nicht als Fortführung von Gesprächsgängen im Alltag eingeführt wird, nämlich das der Kirche), das Gesprächsmilieu ist durch Widerrufbarkeit der Situation charakterisiert, die Intensität persönlicher Teilnahme ist sehr hoch, erzählte Szenen verbinden sich in der Regel eng mit der besuchten Person, der Übergang von Alltagskonversation und Seelsorgegespräch ergibt sich nicht von selbst (auf beiden Seiten finden Verhaltensänderungen statt). Nicht verifiziert werden konnte durch die neun analysierten Gespräche Stecks Annahme, dass die Themen, die von den Besuchten ins Gespräch eingebracht wurden, bereits in bearbeiteter Form auftreten, dass also das professionelle seelsorgliche Gespräch chronologisch themenspezifischen Alltagsgesprächen nachfolgt und auf sie auf 126 Hauschildt, E., Alltagsseelsorge, 8. 127 Vgl. Hauschildt, E., ebd., 106–123. 128 Vgl. ebd., 12; vgl. Hauschildt, E., Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse, 216 ff. 129 Hauschildt, E., Alltagsseelsorge, 13.

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baut.130 Das Thema ›Religion‹ nimmt, nach Hauschildt, keine besonders herausragende Position ein. Eingang findet es in drei Gestalten: zum einen in Form von Redewendungen, zum zweiten in der Thematisierung von »nicht-empirischen Wirkfaktoren«131, zum dritten in der Thematisierung konkreter Erfahrung mit der Kirche. Hauschildt kommt zu dem Schluss, dass der Bezug zwischen Alltagswelt und Seelsorge enger zu fassen ist als das, was seiner Meinung nach Steck tut: Steck sei immer noch an der ›hohen‹ Gesprächskultur orientiert. Ergo muss »Alltagsseelsorge […] als eigene Form der Seelsorge von den Hochformen der Seelsorge abgegrenzt, aber in den Begriff der Seelsorge integriert werden. […] Die Gesprächskultur insgesamt, einschließlich in den Gesprächsinstitutionen wie eben auch der pastoralen Seelsorge, ist aber zumeist viel alltäglicher.«132

Das bedeutet, dass die Alltagsseelsorge eine eigene Form der Seelsorge darstellt, die ihre Gestalt durch die Strukturen der Alltagskommunikation gewinnt: Wesentlich ist sie Alltagskommunikation, die jedoch theologisch und therapeutisch in ihren Möglichkeiten geschätzt werden sollte. Wie Steck stellt Hauschildt das reformatorische Programm des Priestertums aller Glaubenden in den Mittelpunkt seiner theologischen Reflexion: Mit der feinoptischen Einstellung des hermeneutischen Instrumentariums auf das, was Hauschildt auch »Laientheologie« nennt, ist ein wichtiger Beitrag zur alltagstheologischen Bildung vor allem der Pfarrer und der Pfarrerinnen unternommen. Die Alltagstheologie findet ihre eigene Berechtigung neben der ›hohen‹ Theologie und muss infolgedessen wahrgenommen und ernst genommen werden  – denn: »Allgemeines Priestertum – das heißt: die Augen offen halten für das, was an Christlichem im Alltag geschieht.«133 Die Positionen Stecks und Hauschildts sind einander sehr nah. Dies verdankt sich bereits der Anlage der Arbeiten: Hauschildt unterzieht die Annahmen Stecks aus dem Aufsatz »Der Ursprung der Seelsorge in der Alltagswelt« einer Überprüfung auf der Grundlage empirischen Datenmaterials. Im Wesentlichen findet sich die These Stecks – Alltagsgespräch wie berufliches Seelsorgegespräch weisen große Ähnlichkeiten hinsichtlich der Themen, der Form und der institutionellen Beziehungen auf – bestätigt. Hauschildts sozio-linguistische Untersuchung verweist auf die Notwendigkeit, von professioneller Seite die »Alltagstheologie« der Menschen zu achten und zu respektieren und Kompetenzen zu bilden, theologisch qualifiziert mit eben jener »Alltagstheologie« umgehen zu können. Die professionell Tätigen sollen ihre alltagstheologischen Fähig­keiten schulen.

130 Vgl. Hauschildt, E., Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse, 380 ff. 131 Hauschildt, E., Alltagsseelsorge, 13. 132 Hauschildt, E., Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse, 385. 133 Ebd., 405.

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Als Komplementärbegriff für die Alltagstheologie dient der Begriff »hohe Theologie«, womit das institutionalisierte dogmatische, orthodoxe Wissen gemeint ist. In seinem Aufsatz »Alltagsdogmatik« skizziert Steck unterschiedliche Wahrnehmungsraster für das pluralisierte Wissen in der religiösen Alltagskultur moderner Individuen. Das Prinzip des Priestertums aller Glaubenden ist dabei für Steck wie für Hauschildt die Leitidee für die Einübung in den mikro­ logischen Blick. Aus poimenischer Perspektive ergeben sich, gerade mit Blick auf Hauschildts »Alltagsseelsorge«, einige Anfragen. Hauschildt rekurriert, so will es zumindest erscheinen, im Gegensatz zu Steck, wieder stärker auf den Amtsträger als Akteur der seelsorglichen Situation.134 Alltagstheologie ist dasjenige, was die Nicht-Professionellen treiben – im Gegensatz zur »hohen Theologie« der Professionellen, die sich allerdings in die »Alltagstheologie« einüben sollen. Diese Unterscheidung und Zuteilung ist nicht unproblematisch, ist doch zu vermuten, dass der Aufbau biographischer Sinnmuster notwendig individualisiert und pluralisiert stattfindet und auch die so genannten Professionellen dem »Zwang zur ­Häresie« (Peter L. Berger) unterliegen. Die symbolische Sprache dogmatischen Wissens führt dazu, dass der semantische Gehalt hochgradig individualisiert ist und sich nicht selten mit passenden Sinnmustern verknüpft, die nicht der christlichen Tradition entspringen. Zu fragen ist eher, ob die Unterscheidung zwischen »hoher Theologie« und »Alltagstheologie« nicht die zwischen Theorie- und Praxiswissen ist. Ein wesentlicher Punkt schließt sich an: Hauschildt bezeichnet Alltagsseelsorge als »eine eigene, zwar in ihren Leistungen begrenzte, aber doch voll gültige Erscheinung menschenzugewandten Christentums.«135 Der Alltagsseelsorge wird also eine eigene Form zugesprochen, die sie von einer anderen Seelsorge unterscheidet. Folgerichtig können in den untersuchten Geburtstagsgesprächen drei Defizittypen herauskristallisiert werden: Defizite an Verkündigung, De­ fizite an Therapie, Defizite an praktischer Hilfe.136 Seelsorge im eigentlichen Sinne hat es also in der Regel mit Krisen, Konflikten und Notlagen zu tun, während der Alltagsseelsorge das Attribut der Trivialität zugesprochen werden kann.137 Wenn man bedenkt, dass jede Form der Seelsorge Anteil an den Strukturen der alltäglichen Lebenswelt hat, ist diese Unterscheidung außerordentlich schwierig. Der Begriff der Alltagsseelsorge wäre dann von Hauschildt – ganz der bisherigen Tradition folgend  – zu eng gefasst. Um diese begriffliche Enge zu überwinden, muss Seelsorge konsequent in einer Theorie der Lebenswelt fundiert werden. Hier zeigt sich, dass die Leistung der Untersuchung des 134 So auch Möller, Chr., Seelsorge im Alltag, Fußnote 1. Möller polemisiert gegen eine Alltagsseelsorge, in der »alles (und nichts) zur Seelsorge wird« (ebd.). 135 Hauschildt, E., Alltagsseelsorge, 16. 136 Vgl. Hauschildt, E., Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse, 141 ff. 137 Vgl. ebd., 135 ff.

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empirischen Materials zu Lasten der theoretischen Auseinandersetzung mit Begriff und Gegenstand der alltäglichen Lebenswelt ausfällt: Die phänomeno­ logisch orientierte Soziologie wird von Hauschildt kurz herangezogen, allerdings nur, um Prozesse der Sinnkonstitution auf die Situation des Gesprächs bezogen auszuführen.138 Schließlich bleibt die Frage offen, wodurch sich Alltagsseelsorge methodisch auszeichnen könnte – über das Desiderat der Bildung von alltagstheologischen Kompetenzen der so genannten Professionellen hinaus. c) Thomas Henke: Seelsorge und Lebenswelt Stärker als Steck und Hauschildt orientiert sich der katholische Theologe ­Thomas Henke in seiner poimenischen Arbeit »Seelsorge und Lebenswelt« (1994) in der Fundierung seines Konzeptes an einer konkreten sozialphilosophischen Lebenswelttheorie: In der Auseinandersetzung mit der Theorie kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas fasst Henke Seelsorge als »[…] am Anspruch der christlichen Botschaft orientiertes kommunikatives Handeln im Kontext von Kirche, das sich im Horizont alltäglicher Lebenswelt ereignet, das als professionelles Handeln auf alltägliche Seelsorgepraxis verwiesen ist, als kommunikatives Handeln zur Entstehung, Erhaltung und Erneuerung der Lebenswelt beiträgt und so gesellschaftlich-politische Bedeutung erlangt.«139

Intendiert ist von Henke die Ergänzung der vorwiegend an Psychologie bzw. Psychotherapie orientierten Poimenik durch das Gespräch mit soziologischen Theorien. Nach dem Durchgang durch verschiedene soziologische Lebenswelttheorien von Husserl bis Waldenfels votiert Henke für Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns als tauglichste: Unterstellt wird vor allem den Zugängen der Phänomenologie bzw. phänomenologisch orientierten Soziologie eine bewusstseinsphilosophische Verengung des Denkens und damit ein hermeneutisches Problem mit Blick auf das Problem der Intersubjektivität.140 Besonders Husserl, aber auch Schütz und seine ›Schüler‹ werden für ihre egologische Perspektive kritisiert, welche letztendlich nur einen strategischen oder instrumentellen Handlungsbegriff begründen könnte.141 Mit Habermas vollzieht Henke einen Paradigmenwechsel von der Bewusstseinsphilosophie zur 138 Vgl. ebd., 71 ff. 139 Henke, Th., Seelsorge und Lebenswelt, 84. Im Original hervorgehoben. Diese Bestimmung von Seelsorge antwortet auf die zuvor benannten, zu bearbeitenden Problembereiche: »[…] die kritische Analyse der kommunikativen Struktur der seelsorglichen Beziehung (1), das Problem der primären Orientierung der Seelsorge an Krisen und kritischen Lebensereignissen und damit der Ausfall der alltäglichen Lebenswelt in Theorie und Praxis der Seelsorge (2), die Frage nach der Kritik und deren Kriterien im seelsorglichen Prozeß (3), das Problem der Professionalisierung der Seelsorge (4) sowie die Gefahr einer Individualisierung und Privatisierung der Seelsorge (5).« (Ebd., 70.) 140 Vgl. ebd., 148 ff; 174 f. 141 Vgl. ebd., 154.

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Kommunikationstheorie, und das bedeutet: »einen Wechsel im Verständnis von Subjektivität«142. Denn »[e]ine so konzipierte Kommunikationstheorie geht unmittelbar von der Intersubjektivität aus und muß sie nicht erst nachträglich aus Bewusstseinsleistungen eines einsamen Subjekts konstruieren.«143 Es ist zu bezweifeln, dass Henke mit dieser Annahme den Arbeiten etwa Alfred Schütz’ gerecht wird, deren genuines Anliegen eine Auseinandersetzung mit dem Problem des Fremdverstehens ist, welches sich aus der unmittelbaren  – und nicht erst als theoretisches Problem konstruierten – Erfahrung der Sozialität ergibt. Fraglich ist, ob mit der polemischen Festschreibung des vermeintlichen Gegensatzes ­zwischen dem bewusstseinsphilosophischen Ursprung des Lebensweltbegriffs und seiner programmatischen Verwendung zur Überwindung des kritisierten Solipsismus der Sache nach gedient ist: »Ob die Beförderung der ›Lebenswelt‹ zum Nachfolger des transzendentalen Subjekts einen Theoriefortschritt darstellt oder nicht vielmehr zentrale Probleme vereinfacht, wird nicht gefragt.«144 Mit der Integration der Theorie kommunikativen Handelns übernimmt Henke den gesellschaftskritischen Impetus und die charakteristische Unterscheidung zwischen Lebenswelt und System. Die Verbindung von Handlungs- und Systemtheorie ermöglicht die Kritik der Systemrationalität sowie den Entwurf einer Intervention: Es gilt, die konkrete Lebenswelt vor der Kolonialisierung durch abgekoppelte Systemrationalitäten zu schützen. Als Komplementärbegriff zu ›Lebenswelt‹ dient der des ›kommunikativen Handelns‹. Die Lebenswelt als Horizont, der den kommunikativ Handelnden schon immer eigen ist145, wird durch kommunikatives Handeln symbolisch reproduziert und damit verändert.146 Henke will mit seiner Arbeit einen Beitrag zur Politischen Theologie leisten. Es ist zu vermuten, dass die Konvergenz in der Gesellschaftskritik zur Auswahl der Habermas’schen sozialphilosophischen Theorie geführt hat – im Unterschied zu rein deskriptiv vorgehenden Theoriemodellen, in denen für Henke eine vermeintlich affirmative Haltung der Gesellschaft gegenüber zum Ausdruck kommt.147 Im Entwurf der »Seelsorge als kommunikatives Handeln in der 142 Ebd. 143 Ebd., 155. An anderer Stelle schreibt Henke zur Begründung des Rekurses auf die Theorie kommunikativen Handelns: »Der wichtigste Vorzug eines kommunikationstheoretischen Lebensweltbegriffs ist die Bewältigung des Intersubjektivitätsproblems [im Original hervorgehoben] – unter Vermeidung bewusstseinsphilosophischer Aporien vor allem phänomeno­ logisch orientierter Ansätze – durch den Ausgang beim Paradigma des kommunikativen Handelns selbst. Damit muss die in allen Ansätzen behauptete Intersubjektivität der Lebenswelt nicht nachträglich durch philosophische Konstruktionen eingeführt werden, sondern bildet den Ausgangspunkt der Theorie selbst.« (Ebd., 294.) 144 Junker-Kenny, M., Review, 169. 145 Vgl. Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns (2), 182. 146 Vgl. Henke, Th., Seelsorge und Lebenswelt, 157; vgl. Habermas, J., ebd., 182 ff. 147 Vgl. Henke, Th., ebd., 296; 199 ff, Henke teilt hier die Sicht der marxistischen Kritik. Vgl. dazu auch: Luther, H., Religion und Alltag, 199 ff.

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Lebenswelt«148 wird Lebenswelt zwar formal bestimmt, aber zugleich immer als eine solche, wie sie als alltägliche Lebenswelt von Bedeutung ist. Besonderes Gewicht in der Rezeption der Theorie kommunikativen Handelns erhält damit die kommunikative Alltagspraxis, weniger die Aspekte der Habermas’schen Diskurs- und Wahrheitstheorie. Leitend ist für Henke die Frage, wie dem Problem der Asymmetrie in der Seelsorgebeziehung begegnet werden kann.149 Dieses Problem haben, mit ihrer jeweilig spezifischen Expertenkultur, weder die Poimenik im Zuge der Dialektischen Theologie noch die Seelsorgebewegung überwinden können.150 Theologisch sieht eine Theorie kommunikativen Handelns die Bedingung der Möglichkeit wie die Voraussetzung der Verwirklichung rückbezogen auf die innertrinitarische communio und den Anteil an seiner Gemeinschaft, den Gott den Menschen schenkt.151 Theologisch lässt sich die der Theorie kommunikativen Handelns inhärente Aufforderung zu universaler Solidarität bzw. unbedingter wechselseitiger Anerkennung reflektieren im Glauben an »[…] Gottes vorgängige Anerkennung und zugleich […] Gottes versöhnendes und rettendes Handeln.«152 Kirche kann so als »[…] kommunikative Handlungs­ gemeinschaft der Glaubenden bestimmt werden.«153 Dabei geht es darum, an einer Entsprechung zwischen der konkreten Sozialgestalt der Kirche und ihrem communio-Charakter zu arbeiten. An dieser Scharnierstelle, quasi zwischen Seelsorge und Lebenswelt, kommt das Konzept der Mystagogie zum Tragen: Mystagogie will die Lebenswelt für die Gegenwart des Absoluten transparent machen und das Verwiesensein der menschlichen alltäglichen Erfahrung auf Gott immer neu erschließen.154 Handlungstheoretisch gefasst, bedeutet das: »Mystik als Erfahrung der Wirklichkeit Gottes und Politik als Engagement für die Veränderung lebensweltlicher bzw. gesellschaftlicher Verhältnisse, die die ›Erfahrung von Gnade‹ verhindern.«155 Das kritische und innovatorische Potential des Glaubens findet Henke in Grundkategorien wie ›Umkehr‹, ›Erinnern‹, ›Erzählen‹ und 148 Henke, Th., Seelsorge und Lebenswelt, 114. 149 Vgl. ebd., 424 ff. 150 Vgl. dazu auch: Luther, H., Religion und Alltag, 224 ff; vgl. auch Kap. I.4.1.3. 151 Vgl. Henke, Th., Seelsorge und Lebenswelt, 319 f; 315. 152 Ebd., 320. 153 Ebd., 322. Im Original hervorgehoben. 154 Vgl. ebd., 339, dort heißt es: »Mystagogie ist der Versuch, dieses zuvorkommende Handeln Gottes gerade auch in der alltäglichen Lebenswirklichkeit transparent zu machen. Es geht dabei darum, das Altbekannte, scheinbar Selbstverständliche aus der Perspektive der christlichen Tradition neu zu interpretieren. Damit ist die hermeneutisch-deutende Dimension des christlichen Glaubens angesprochen, die die (intersubjektiv vermittelten) ›Erscheinungen‹ des Absoluten in der Alltagswelt und der (kommunikativen) Alltagspraxis mit ihren Ansprüchen an die eigene Freiheit erschließt und die unmittelbaren, alltäglichen Erfahrungen (kommunikativ) auf ihr Verwiesensein auf Gott hin durchdringt.« (Im Original hervorgehoben.) – Vgl. ebd., 447 ff. 155 Ebd., 340. Im Original hervorgehoben.

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›Leiden‹, die Leitidee im Begriff der Gerechtigkeit, wie er der Reich-Gottes-Botschaft implizit ist.156 Bezogen wird das kritische Potential auf die Alltagswelt, die Gesellschaft und die Kirche (einschließlich der Ausgestaltung verschiedener Handlungssituationen, wie der der konkreten seelsorglichen Situation): Leitend ist die Ermöglichung von Subjektwerdung als Ziel der Seelsorge. Letztendlicher Bezugspunkt für Henkes Überlegungen zur Seelsorge als kommunikatives Handeln in der alltäglichen Lebenswelt ist die Gemeinde, nicht zuletzt, da Seelsorge »Auftrag aller Getauften und Gefirmten«157 ist und es entsprechend um die Förderung der seelsorglichen Kompetenz bei allen Christen geht. Seelsorge ist wesentlich Gespräch, doch folgt daraus nicht automatisch, dass hiermit Seelsorge situativ auf »das Sprech- bzw. Beratungszimmer der Seelsorgerin und des Seelsorgers«158 beschränkt wird. Vielmehr ist Seelsorge als kommunikatives Handeln wesentlich auf eine kommunikative Gemeindepraxis bezogen.159 Diese kommunikative Gemeindepraxis lässt sich ausdifferenzieren in verschiedene Beziehungen, nämlich des Einzelnen zur Gemeinde, von gemeindlichen Gruppen zur Gemeinde, von Gemeinde zur Gesamtkirche und über Gemeinde und Kirche hinaus. Letztere ist der Ort des gesellschaftspolitischen und diakonischen Engagements, wobei diakonisches Handeln die Konkretion Politischer Theologie darstellt.160 Seelsorge tritt dabei, unabhängig von der jeweiligen Beziehung, als Anwalt für die Verstummten, Sprachlosen und Ausgeschlossenen auf.161 Ihre professionelle Gestalt unterscheidet sich von der gemeindlichen Seelsorge in der gezielten Bildung und Vertiefung kommunikativer Kompetenzen.162 Henke liefert mit seiner Arbeit eine eingehende Auseinandersetzung mit der sozialphilosophischen Theorie kommunikativen Handelns und leistet so einen wesentlichen Beitrag zur Integration soziologischer Fragestellungen in die theologische Reflexion. Eine Kritik seines Entwurfs weist auf Probleme hin, die es im Zusammenhang einer Theorie der Alltagsseelsorge weiterhin zu bearbeiten gilt. 156 Vgl. ebd., 340 ff; 472 ff; 505. 157 Ebd., 531; 522. 158 Ebd., 552. 159 Henke nimmt diese Bestimmung in Anlehnung an die Arbeiten Christof Bäumlers vor, vgl. Bäumler, Chr., Kommunikative Gemeindepraxis (1984). 160 »Politische Seelsorge ist vielmehr zugleich Einzelseelsorge, in dem sie die kommunikativen und politischen Kompetenzen des einzelnen unterstützt, ihn zur sozialen Verantwortungsübernahme und zur Vertretung eigener und fremder Interessen ermutigt; und sie ist gesellschaftspolitisches Handeln, indem sie sozialstrukturelle Probleme als solche wahrnimmt, pathogene gesellschaftliche Tendenzen benennt und gegen ungerechte Bedingungen und Strukturen kämpft. Politische Seelsorge zielt deshalb auf die Überwindung der Trennung zwischen seelsorglichem und sozialem Handeln bzw. der ›Trennung zwischen (individueller) Seelsorge und (struktureller, institutionsbezogener) Diakonie.‹« (Henke, Th., Seelsorge und Lebenswelt, 500.) Henke zitiert hier: Luther, H., Alltagssorge und Seelsorge, 17 (= Religion und Alltag, 238) und verweist auf Luthers Artikel »Diakonische Seelsorge« (1988). 161 Vgl. Henke, Th., Seelsorge und Lebenswelt, 513 ff. 162 Vgl. ebd., 538 ff.

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Problematisch erscheint, dass Henke die Frage nach ›Religion‹ nur in einem Exkurs und unter kurzer Darstellung religionssoziologischer Positionen abhandelt. Eine positive Entfaltung seines eigenen Verständnisses von Religion, das Verhältnis von Religion zur alltäglichen Lebenswelt und ihre Funktion gegenüber der Lebenswelt werden nicht weiter entfaltet. Auch die Religionskritik Habermas’ ist hier theologisch nicht fruchtbar zu machen, wenn »Religion […] weiterhin durch konkrete traditionale Weltbilder und konkrete Lebensformen bestimmt [bleibt], die sich einer Rationalisierung stellen müssen, bis allein ihre formalen und universalen Potentiale übrigbleiben.«163 Problematisiert wird von Henke die Nähe (bzw. Indifferenz) von funktionalen Religionstheorien und der Auffassung, Religion diene der Stabilisierung bzw. Wiederherstellung der Alltagswelt164: »Das kritische Potential«, so Henke »wird so marginalisiert bzw. per definitionem ausgeschlossen.«165 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der ›Bereich‹ der Religion als vom Alltag abgeschlossener, unabhängiger gedacht wird. Henke verweist hier auf die Vorstellungen eines »heiligen Kosmos« (Peter L. Berger) und der »geschlossenen Sinnprovinzen« (Alfred Schütz). Die Schwierigkeit besteht darin, dass Henke die Begriffe ›Glaube‹ und ›Religion‹ quasisynonym verwendet.166 Wie sich Religion beschreiben lässt, und welche substantiellen Implikate sie in ihrer konkreten Theorie und Praxis haben sollte, sind zwei notwendig zu unterscheidende Aspekte: Welche Gestalt Religion annimmt, ist Angelegenheit der zugrundeliegenden Weltanschauung. Die ungenügende Reflexion der Differenz zwischen christlichem Glauben und Religion auf hermeneutischer Ebene führt zu einem verkürzten Blick in einer anderen Hinsicht, nämlich mit Blick auf die Frage der Individualisierung und Privatisierung von Religion. Henke richtet sich gegen eine »Privatisierungstendenz in Religion, Glaube und Theologie […]«167 im Zuge der bürgerlichen Aufklärung – den Glauben möchte er nicht um seine gesellschaftlich-politische Dimension reduziert wissen. Letzteres mag der persönlichen Bewertung unterliegen, faktisch haben jedoch Individualisierung und Privatisierung von Religion stattgefunden. Aufgabe der Praktischen Theologie ist, dieses Phänomen ernst und in seinen Facetten wahrzunehmen. Dass Henke dieser Problemlage nicht genug Aufmerksamkeit zollt, zeigt sich in der mangelnden Vermittlung der theologischen Implikate mit der Theorie kommunikativen Handelns: Fraglich bleibt, inwieweit die »Theologie des Volkes«168 163 Ebd., 293 f. Zur Auswahl der Theorie kommunikativen Handelns als Bezugstheorie vgl.: Junker-Kenny, M., Review, 170. 164 Vgl. Henke, Th., Seelsorge und Lebenswelt, 289; 329. 165 Ebd., 289. Im Original hervorgehoben. 166 Vgl. ebd., 329; 388. 167 Ebd., 372. Im Original hervorgehoben. 168 Im Zusammenhang von Professionalisierung und Spezialisierung von Theologie schreibt Henke: »Das Problem ist nicht die Spezialisierung der akademischen Theologie selber, sondern die Tendenz zur Kontrolle der theologischen Erkenntnis durch akademische ­Spezialisten,

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in einer (in ihren Zügen substantiell vorgegebenen) politischen Gemeinde­praxis aufgehen kann. Kaum im Blick hat Henke das Phänomen von Pluralisierung und Entkirchlichung von Religion. Entsprechend ist die Möglichkeit gelingender Kommunikation recht hoch angesetzt – das Problem von Kommunikationsstörungen, des Nicht-Verstehens, der bleibenden Fremdheit ist gegenüber dem Vertrauen auf das Aufgehen kommunikativer Rationalität kaum ausgeführt und wird in der Vorstellung der vorgängigen, innertrinitarischen communio aufgehoben, an der dem Menschen Anteil gegeben wird. Insofern ist das konkrete Problem der Intersubjektivität auch bei Henke nach wie vor virulent. Schwierig erscheint zudem, dass Henke Kirche als Gegenüber zur Gesellschaft entwirft. Das besitzt Plausibilität vor dem Hintergrund ihrer Korrektivfunktion, die sie nach Henke für die Gesellschaft besitzt, verstellt allerdings den Blick auf die realen Partizipationsmöglichkeiten der Institution(en) im zivilreligiösen Diskurs.169 Insgesamt hat sich in diesem einführenden Kapitel gezeigt, dass der Alltag Thema der Praktischen Theologie – wie auch schon länger Thema in anderen wissenschaftlichen Disziplinen – ist, dass die Reflexion seines Begriffs und seines Gegenstands mit Bezug auf das theologische resp. poimenische Selbstver­ständnis zu vertiefen ist. Grundsätzlich wird sich dem Phänomen ›Alltag‹ auf zweierlei Weise genähert: Zum einen hat man ein Interesse an der empirischen Erforschung konkreter Alltagserscheinungen, zum anderen existiert der Versuch, den Alltag theoretisch einzuholen. Grundlegend für das theologische Interesse am Alltag war zunächst die Unterscheidung zwischen Theologie und Religion und daran anschließend die Wahrnehmung, dass Religion spätestens seit der Zeit der Aufklärung pluralisiert und (wenn auch milieuspezifisch) individualisiert auftritt. Mit der Einsicht, dass Plausibilitäten von Glaubensinhalten mit konkreten Lebensumständen eng zusammenhängen, fängt man an – vor dem Hintergrund der Frage nach der Vermittlungsmöglichkeit christlicher Glaubensinhalte – sich für die konkreten Lebensumstände der Rezipienten zu interessieren. Die Zusammenfassung der gegenwärtig relevanten Konzepte zu einer Seelsorge, die um einen dezidierten Bezug zur Lebenswelt des Alltags bemüht ist, hat mit Blick auf die theoretische Fundierung der Seelsorge in der alltäglichen Lebenswelt erwiesen, dass folgende Theorieimplikationen weiterer Bearbeitung bedürfen: 1.  Wie baut sich Sinn als Grundelement alltagsweltlicher Erfahrung die den ›Laien‹ die Fähigkeit absprechen, Theologie zu treiben, bzw. ihnen für das, was sie tun, die Bezeichnung ›Theologie‹ vorenthalten. Die Subjekte der Theologie werden auf theologische Wissenschaftler (und Kirchenleitung) eingeengt; die sogenannten ›Laien‹ werden zu passiven Rezipienten (vermittelter) theologischer Erkenntnisse.« (Ebd., 408. Im Original hervorgehoben.) 169 Zum Begriff der Zivilreligion und seiner Kritik – als Differenzierung zwischen Poli­ tischer Theologie und politischen Religionen – bei Henke vgl.: ebd., 375.

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auf? Welche Strukturen der alltäglichen Lebenswelt lassen sich mehr oder weniger allgemeingültig beschreiben? – 2. Wie lässt sich Religion im Zusammenhang (alltags-) lebensweltlichen Sinnaufbaus verorten? Welcher Ort kommt der religiösen Erfahrung im Aufbau der Alltagswelt zu? – 3. Welche Konsequenzen hat dies für die religiöse Rede wie für denkbare Gestalten der seelsorglichen Praxis, die sich in die alltägliche Lebenswelt eingebettet weiß? – 4. Was folgt für die Seelsorge methodisch aus dem Problem des Fremdverstehens? Hier ist das Problem der Intersubjektivität als Problem des Verstehens fremder Selbstverhältnisse gemeint, welches nicht von vermeintlichen Vorverständnissen aufgrund normativer Implikate christlicher Theologie für die religiöse Praxis ausgehen kann. In den folgenden Kapiteln werden drei poimenische Ansätze vorgestellt, die einen Beitrag einerseits zur Vertiefung, andererseits zur Klärung der offenen Fragen versprechen: Joachim Scharfenbergs Entwurf der »Seelsorge als sym­ bolische Interaktion«, Isolde Karles Konzept der »Seelsorge als religiöse Kommunikation« und schließlich Henning Luthers Ansatz der »Seelsorge im Angesicht des Anderen«. Für die Arbeiten Henning Luthers ist der Rückbezug der Theologie auf den Alltag konstitutiv. Luthers Problemskizzen, gerade auch bezüglich der Frage nach dem Verhältnis von Sinn und Religion, bieten den Ausgangpunkt für den Dialog mit der phänomenologisch orientierten Soziologie Alfred Schütz’: Der Schütz’sche Ansatz hat, mit dem Versuch der Beschreibung des Sinnaufbaus in der sozialen Lebenswelt, wegweisenden Charakter mit Blick auf eine Seelsorge, die das Problem des Verstehens fremder Selbstverhältnisse als Grundproblem ihrer Praxis fasst und nach den Möglichkeiten ihrer Gestaltwerdung fragt.

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Teil I: Intersubjektivität als Struktur der seelsorglichen Situation

Die poimenischen Positionen Joachim Scharfenbergs, Isolde Karles und ­Henning Luthers beschreiten unterschiedliche Wege in der Auseinandersetzung mit dem Problem der Intersubjektivität, dem Problem des Verstehens fremder Selbstverhältnisse, welches sich grundlegend als hermeneutisches Problem fassen lässt. Das einführende Kapitel hat verdeutlicht, dass es notwendig ist, die Fragen nach der Sinnkonstitution in der alltäglichen Lebenswelt, der Verhältnisbestimmung der Religion zu eben dieser, sowie die Frage, welche Gestalten einer Seelsorge denkbar sind, die sich in die alltägliche Lebenswelt eingebettet weiß, zu klären und ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen. Teil II dieser Arbeit wird den ersten beiden Fragen aus soziologischer Perspektive nachgehen, Teil III bietet einen Antwortvorschlag auf die dritte Frage. Der anstehende Teil I will das Problem der Intersubjektivität – als Horizont der Frage nach den Sinnkonstitutions­prozessen in der sozialen Welt und den Möglichkeiten bzw. Grenzen des hermeneutischen Nachvollzugs – eingehend unter Rekurs auf exemplarisch ausgewählte Seelsorgetheorien skizzieren und die Konsequenzen seiner spezifischen Thematisierung aufzeigen. Die Darstellung folgt einer bestimmten Reihenfolge: Das Seelsorgeverständnis einer jeden Position wird an den Anfang gestellt, um eine Einbettung der nachfolgenden Analyse einzelner Kategorien zu erleichtern. Die erste Kate­gorie, nach deren Stellenwert und Bearbeitung im Gesamtkonzept gefragt wird, ist ›Identität‹ (wenn sie keinen eigenen Stellenwert besitzt, wird nach der Rolle ihrer Voraussetzung, der ›Individualität‹, im Gesamtkonzept gefragt). Die Wahl dieser Kategorie erklärt sich wesentlich mit dem hier vertretenen Religionsbegriff: Mit Ulrich Barth wird Religion verstanden als »Deutung von Erfahrung im Horizont der Idee des Unbedingten«1, konkreter: als »Deutung der Wirklichkeit im Horizont ihrer Unendlichkeits-, Ganzheits-, Ewigkeits- und Notwendigkeitsdimension.«2 Religiöser Sinndeutung ist eigen, dass sie mit Blick auf die äußere Erfahrungswelt operiert, dass sie aber auch auf das Verständnis der eigenen Identität der Subjekte rückwirkt: In den Subjekten wird der Umgang des Selbst mit den religiösen Kategorien mit Bezug auf die eigene Exis

1 Barth, U., Religion in der Moderne, 10. 2 Ebd., 14.

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tenz thematisch. Die Integrationsarbeit, die die Subjekte leisten müssen, liegt auf der Höhe der Frage nach der individuellen Identität. Dieser Befund bestätigt sich im Blick auf die seelsorgliche Praxis: Identitätsarbeit ist ein ausgesprochen wichtiges Feld – von Pubertätskrisen bis hin zur Biographiearbeit mit alten Menschen. In dem Spannungsverhältnis von personaler und sozialer Identität arbeitet Seelsorge mit ihren Gesprächspartnern und -partnerinnen am subjektiven Bewusstsein persönlicher Merkmale, welches Erinnerungen und Erfahrungen ins Verhältnis zu möglichen Handlungsoptionen zu setzen vermag. Welcher Platz der Frage nach Identität in einem poimenischen Konzept eingeräumt wird, gibt Aufschluss über das anthropologische bzw. theologische Verständnis, das zugrunde liegt. Innerhalb der Darstellung der Positionen schließt sich die Untersuchung an, welche Rolle nun der ›Religion‹ im Gesamtaufbau zugewiesen wird, ob sie etwa alltagsweltlich vermittelt oder eher als Abständiges auftritt. Sofern die Kategorien ›Alltag‹ und ›Sinn‹ explizit problematisiert werden, wird auch ihre Funktion im Gesamtkonzept dargestellt. Hinter der Auswahl des Kategoriengefüges ›Identität – Religion – Alltag – Sinn‹ steht die Annahme, dass das Gelingen religiöser Kommunikation erst dann wahrscheinlich wird, wenn die Strukturen individueller Sinnkonstitutionsprozesse in den Blick kommen – und das bedeutet: wenn ersichtlich ist, in welchem Verhältnis eben diese Strukturen individueller Sinnkonstitutionsprozesse zu den Strukturen der alltäglichen Lebenswelt stehen. Denn diese alltägliche Lebenswelt ist diejenige Wirklichkeit, in der der Mensch lebt und handelt, und in der er anderen Menschen begegnet. Sie ist der Ort gelebter Intersubjektivität.

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2. Joachim Scharfenberg: Seelsorge als symbolische Interaktion Eines der zentralen Anliegen Joachim Scharfenbergs ist es, die Bedeutung von Symbolen für die religiöse Kommunikation zu erschließen und sie für die Seelsorgetheorie und -praxis fruchtbar zu machen. Die Notwendigkeit einer theologischen kritischen Theorie des religiösen Symbols ergibt sich dabei aus dem Desiderat, die öffentliche Kommunikation der Kirche, welche in der Verwendung ihres Symbolbestands vorwiegend an der theologischen Dogmatik orientiert ist, und die vorwiegend in der Seelsorge auftretenden Kommunikation in Form ›privatisierter‹ Symbole individueller Konfliktbearbeitung vermitteln zu können. Scharfenberg leistet mit seiner Symboltheorie einen wichtigen Beitrag mit Blick auf das Problem gelingender intersubjektiver Kommunikation. In­sofern soll Scharfenbergs Seelsorgetheorie unter dem Titel »Seelsorge als symbolische Interaktion«1 gefasst werden.

2.1 Die Zirkelstruktur des Verstehens Dem Gespräch als Gestalt der Seelsorge wird bei Joachim Scharfenberg ein besonderer Stellenwert zugewiesen. Vor allem über den Einbezug von Einsichten der Psychoanalyse Sigmund Freuds kann Scharfenberg die Zirkelstruktur des Verstehens konturieren. In seinem pastoralpsychologischen Entwurf wird die Indienstnahme dieser Zirkelstruktur grundlegendes Element poimenischen Arbeitens.

2.1.1 Seelsorge als Gespräch »Seelsorge als Gespräch«, so lautet der programmatische Titel einer der bekanntesten Schriften Joachim Scharfenbergs. Aus diesem Werk werden gerne markante Stellen angeführt, die Scharfenberg als radikalen Exponenten der Seel­ sorgebewegung und Antipoden der Dialektischen Theologie zeichnen möchten.2 In der Tat entsteht die Seelsorgebewegung unter dem Eindruck eines Defizitgefühls hinsichtlich der theologischen Ausbildung und der kirchlichen Praxis: In der Krise scheinen Kommunikation wie Vermittlung von Glaubensgehalten 1 Scharfenberg, J., Die biblische Tradition, 133. 2 Wie etwa der gegen Hans Asmussen gerichtete Satz »Das Gespräch wird einzig zu dem Zweck [den Menschen zu fangen, KM] gewählt, und das Gemeindeglied muss deshalb zu Wort kommen, damit es Angriffsflächen bietet und so in seinen Worten verhaftet werden kann.« (Scharfenberg, J., Seelsorge als Gespräch, 14.)

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und lebensweltlicher Praxis zu sein. In der Poimenik wird etwa der von Eduard Thurneysen eingeforderte methodische ›Bruch‹ im Seelsorgegespräch nachhaltig problematisiert.3 Scharfenberg selbst bleibt in der Suche nach der geeigneten Theorie bzw. geeigneten Theorieelementen flexibel: Während in seinen frühen Arbeiten noch der Einfluss der Dialektischen Theologie spürbar ist, ändert sich die Perspektive deutlich im Zuge der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse in den sechziger Jahren. Profiliert eigenen Charakter – unabhängiger von der Psychoanalyse – gewinnen die Schriften Scharfenbergs durch die eingehende Beschäftigung mit symboltheoretischen Arbeiten wie im Entwurf einer eigenen Pastoralpsychologie. Dabei ist Scharfenbergs gesamtes Werk von dem Bemühen um eine Vermittlung zwischen der Sprache von Seelsorgesuchenden und der Sprache der christlichen Tradition durchzogen. Um einen umfassenderen Eindruck von Scharfenbergs Gesprächsverständnis zu erhalten, soll die Linie etwas weiter ausgezogen und nachgezeichnet werden, wie sich Wort und Gespräch gleich Gefäßen für die Seelsorge über die Jahre hinweg bei Scharfenberg konturieren. Die Bedeutung, die der Seelsorge im gesamten kirchlichen Handeln zugewiesen wird, ist zentral. Dies illustriert das mehrfach von Scharfenberg angeführte, wenngleich von ihm nicht ausgewiesene Zitat: »Die Kirche der Zukunft wird eine Kirche der Seelsorge sein oder sie wird nicht sein.«4 Scharfenbergs Dissertation erscheint 1959 unter dem Titel »Johann Christoph Blumhardt und die kirchliche Seelsorge heute«. Sie widmet sich der seelsorglichen Tätigkeit des württembergischen Pfarrers unter besonderer Berücksichtigung des Falls der Gottliebin Dittus. Die Geschichte von der Gottliebin wird in allen Schaffensperioden Scharfenbergs  – unter dem jeweils interessierenden Aspekt  – neu zur Illustration des Konnexes von Sprachgeschehen und Heilungsvorgängen thematisiert (zuletzt im Jahr 1992 unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung des Fremden).5 Scharfenberg beklagt mit Blick auf die gegen 3 Vgl. Thurneysen, E., Die Lehre von der Seelsorge, 114 ff. – Zur Kritik vgl. Scharfenberg, J., Seelsorge als Gespräch, 17; als notwendiges Element in Gesprächen, die einen Perspektivwechsel erbringen wollen, in moderater Form wieder aufgenommen u. a. bei: Kurz, W., Der Bruch im seelsorgerlichen Gespräch, 436 ff; Grözinger, A., Seelsorge als Rekonstruktion, 178 ff. 4 Scharfenberg, J., Wo steht die evangelische Seelsorgelehre heute?,1; ders., Seelsorge zum Wesentlichen, 72; nach Aussagen Scharfenbergs stammt das Zitat ursprünglich von H. Rendtorff, die Frage der Fundstelle bei Rendtorff ist für Bloth allerdings noch offen; vgl. Bloth, P. C., Praktische Theologie, 105 (Anm. 9). 5 Vgl. Scharfenberg, J., Die Wahrnehmung des ›Fremden‹, 335 f. – Im Wesentlichen besteht die Erzählung über die Gottliebin darin, dass aus ihrem Mund unterschiedliche Stimmen sprachen, sie unter Krämpfen litt und mit der ärztlichen Diagnose »dämonische Besessenheit« zu Blumhardt geschickt wurde. Dieser gab allen Äußerungen und Verhaltensweisen der Gottliebin Platz und begleitete sie mit christlichem Zuspruch und Gebet. Nach zwei Jahren kam es zu dem Ausruf »Jesus ist Sieger« von Seiten der Gottliebin. Die Krämpfe und die unterschiedlichen Stimmen waren im Anschluss verschwunden.

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Joachim Scharfenberg: Seelsorge als symbolische Interaktion

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wärtige Seelsorge den Verlust eines ganzheitlichen Blicks auf den Menschen und zeigt als Grundproblem die Aufspaltung in subjektive und objektive Bestimmung der Disziplin auf: »Der Zerfall der Seelsorge begann in dem Augenblick, da die einzelnen Funktionen der Seelsorge nicht mehr in einer einheitlichen Frontstellung gesehen wurden, als die Schau dafür verloren ging, dass das Phänomen des irrenden, des moralisch versagenden, des geistlich unerweckten und des kranken Menschen nur Symptome für eine dahinterliegende Wirklichkeit sind, nämlich für die Realität der dämonischen Macht. Dieser einheitliche Fluchtpunkt im Blickfeld der Seelsorge ist ihr praktisch entschwunden, obwohl sie theoretisch immer darum gewusst hat. Das ist im Grunde bis heute noch ihre größte Not.«6

Der Zerfallsprozess der Seelsorge wird durch die Separation verschiedener Einzelfunktionen und Wahrheitsmomente weiter voran getrieben. Gemeint ist zum einen die programmatische Trennung von Lehr- bzw. Zuchtverfahren (objektiv bestimmte Zweige)  und von Erweckungs- bzw. Heilverfahren (subjektiv bestimmte Zweige). Zum anderen problematisiert Scharfenberg die absolute Trennung bzw. Identifizierung von Gesetz und Evangelium mit Blick auf die Seelsorge.7 Desiderat für die gegenwärtige Seelsorge ist, die unterschiedlichen Einzelfunktionen und Wahrheitsmomente wieder zusammen zu fügen und aus ihren pola­risierten Positionen zu befreien. In Weiterführung des Blumhardt’schen Seel­sorgeansatzes entwirft Scharfenberg Gedanken zu einer Seelsorge als »Funktion des Heiligen Geistes«8: Seelsorge ist eine Tat des »lebendigen Gottes« und keine menschliche Möglichkeit. Insofern ist sie auch nicht »durch irgendwelche Praktiken herbeizuführen«, sie ist vielmehr als »Wunder Gottes aufzufassen«9. 6 Scharfenberg, J., Johann Christoph Blumhardt, 16. 7 Ebd., 17 f. 8 Ebd., 95. 9 Ebd., 96. Zur Veranschaulichung sei der Gesamtkontext zitiert: »Rechte Seelsorge ist nicht durch irgendwelche Praktiken herbeizuführen, der Mensch kann keine Seelsorge ›­machen‹. Wo sich Seelsorge ereignet, da ist sie nicht als der Erfolg irgendwelcher mensch­ licher Verhaltens- oder Handlungsweisen aufzufassen, sondern da ist sie eine Tat des lebendigen Gottes selber. Insofern trägt die Seelsorge den Charakter eines Wunders. Als solches ist sie unübersehbares Zeichen dafür, dass Gott nicht aufgehört hat, mit seinem Volke zu handeln, dass er heute noch aus der Obrigkeit der ›Mächte‹ zu befreien weiß, und dass er sich heute noch als der Stärkere beweisen will. Als Wunder Gottes hat die Seelsorge die Aufgabe, fortgesetzt Gottes unumstößlichen Heilswillen zu verkündigen und sein Nahekommen in den Menschen zu erweisen. Somit ist sie nur als eine Funktion des heiligen Geistes aufzufassen. Von Gott her geschieht das unbegreifliche Wunder, daß Gott selbst den unendlichen qualitativen und quantitativen Abstand zwischen ihm und den Menschen aufhebt und den Menschen auf den Kopf zu seiner Nähe und Gnade versichert.//Dieses Handeln Gottes ist aber stets freies Handeln, d. h. es geschieht wo und wann es Gott gefällt. Damit ist die Seelsorge niemals an irgendwelche menschlichen Voraussetzungen gebunden. Sie beginnt sich überall da zu er­ eignen, wo in den Kampf wider dämonische Wirklichkeit Gott selbst in seinem heiligen Geist

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S­ charfenberg stellt sich mit dieser Position in die Linie der ­Dialektischen Theologie, indem er ausführt, dass das seelsorgliche Gespräch »etwas toto genere und unabtauschbar Anderes darstellt«10. Doch zeigt sich bereits hier das Interesse, die »objektive Realität der Heilsbotschaft«11 mit den psychischen Strukturen der Seelsorgenden und der Ratsuchenden zu vermitteln. Der traditionell-dogmatische Sprachduktus wird auf der Textebene nicht weiter problematisiert. Dass die Vermittlung zwischen der »Selbstinterpretation des Menschen« (Paul Tillich) und der christlichen Botschaft zum Hauptanliegen Scharfenbergs geriert, zeigt sich in nahezu jeder Veröffentlichung, ganz explizit auch noch einmal in der biographischen Rekapitulation der eigenen Arbeitsintentionen in dem Aufsatz »Seelsorge zum Wesentlichen«12. Neben die Beschäftigung mit dem US-amerikanischen Vorbild des Clinical Pastoral Training (CPT) tritt Ende der fünfziger Jahre die Auseinandersetzung mit Psychotherapie und Psychoanalyse Freud’scher Prägung. Scharfenberg hebt für die Seelsorgenden die Bedeutsamkeit hervor, Grundkenntnisse der Psychotherapie zu erwerben und sich besonders mit dem Phänomen der Übertragung in zwischenmenschlichen Beziehungen im allgemein und im seelsorglichen Gespräch im speziellen vertraut zu machen.13 So sieht er an anderer Stelle das »dialogische Zeitalter« angebrochen, in welches auch die Kirche eingetreten sei, und in völlig unpolemischer Weise diagnostiziert Scharfenberg, dass »uns das Gespräch selbst, seine Verwirklichung und seine Durchführung in steigendem Maße problematisch und fragwürdig zu werden beginnt.«14 Das Gespräch sei krank, und es zeige sich immer mehr, dass es sich bei der Gesprächsführung weniger um eine automatisch ablaufende Lebensfunktion handele als viel mehr um eine Kunst. Zu einem späteren Zeitpunkt wird Scharfenberg die pastoralpsychologische Kompetenz als Entwicklung von Kunstregeln beschreiben.15 Obwohl Scharfenberg in »Das heilende Gespräch« (1959) an dem »Wunder echter Begegnung« als Konstitutivum festhält16, favorisiert er doch die »Not­ durch brüderliche Vermittlung handelnd eingreift. Dieses Handeln Gottes erweist im besonderen damit seine Freiheit, daß es nicht an menschliche Würdigkeit gebunden ist, sondern oft gerade durch Fehler und Mängel hindurch etwas auszurichten vermag. Als freies Handeln läßt es sich niemals einengen auf irgendwelche psychischen oder physischen Gegebenheiten, sondern vermag selbst durch Schwachheit und Unansehnlichkeit hindurch zu wirken. Die Seelsorge muß mit den unbegrenzten Möglichkeiten Gottes rechnen und muß der schrankenlosen Freiheit Gottes etwas zutrauen.« (Scharfenberg, J., Johann Christoph Blumhardt, 95 f.) 10 Scharfenberg, J., Übertragung und Gegenübertragung, 80. 11 Ebd. 12 Vgl. Scharfenberg, J., Seelsorge zum Wesentlichen, 70. 13 Scharfenberg, J., Wo steht die evangelische Seelsorgelehre heute?, 9. 14 Scharfenberg, J., Das heilende Gespräch, 338. 15 Vgl. Scharfenberg, J., Einführung in die Pastoralpsychologie, 221 ff. 16 Scharfenberg, J., Das heilende Gespräch, 344.

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lösung«17 der Einführung bzw. die Überprüfung der Anwendbarkeit von entsprechenden Techniken (freie Assoziation der Klienten bei gleichzeitiger ana­ lytischer Abstinenz des Therapeuten; gleichmäßig schwebende Aufmerksamkeit; Übertragung/Gegenübertragung) aus der Psychotherapie resp. Psychoanalyse.18 Paradoxerweise hat die Einholung der Psychoanalyse in die Seelsorge sicherlich ihren Anteil zur Einengung des poimenischen Blicks auf das Individuum beigetragen, welches aus jeglichen sozialen Bezügen heraus gelöst scheint. Scharfenberg sieht allerdings deutlich den Anspruch der Psychoanalyse, als Kulturtheorie auftreten zu wollen.19 Darüber hinaus zeigt etwa die kleine Schrift »Die Zukunft der Familie und die Kirche« (1970), dass Scharfenberg die Bedeutung des Systems (unmittelbares soziales Umfeld; Gesamtgesellschaft) für die seelsorgliche Situation durchaus im Blick hat – wenn natürlich methodisch auch unter ganz anderen Vorzeichen als dies eine systemisch orientierte Seelsorge 25 Jahre später unternehmen kann.20 Auch die Betonung der Wichtigkeit gruppendynamischen Lernens in der Aus- und Fortbildung kirchlicher Mitarbeiter spricht für die Wahrnehmung, dass die reflexive Einbeziehung des (wenn auch hier unter Umständen ›künstlich‹ hergestellten) sozialen Umfelds neue Perspektiven im Zusammenhang der Identitätskonstitution von Individuen erbringt.21 Grundlegend ist für das Werk Scharfenbergs die enge Verknüpfung von Wort und Heilung. Diese Verknüpfung findet sich freilich schon in der Bibel, sie ist aber im Laufe der Geschichte, so Scharfenberg, in ihrer Bedeutsamkeit aus den Augen verloren worden. Die Wiederentdeckung dieses konstitutiven Sach­ verhalts findet Scharfenberg – abgesehen von Blumhardts Umgang mit der Gottliebin – bei Freud. Dabei konstelliert die Anerkennung der Sprache als Therapeutikum die intersubjektive Situation neu: »Mit der Einführung der Sprache als Therapeutikum hat die Tiefenpsychologie […] ein Paradigma für den nicht-autoritären zwischenmenschlichen Umgang im Gespräch geschaffen.«22

Das bedeutet: Ermöglichung zur Freiheit und Einübung in Freiheit über die Subjekt und Objekt zusammenschließende dialogische Zirkelstruktur des Ge 17 Ebd., 344. 18 Zur Bedeutung der Einbeziehung der von Sigmund Freud entdeckten Übertragungsphänomene in Scharfenbergs poimenische Reflexionen vgl. Dober, H. M., Seelsorge, 196 ff. 19 Vgl. Scharfenberg, J./Kämpfer, H., Mit Symbolen leben, 137. 20 Vgl. Scharfenberg, J., Die Zukunft der Familie und die Kirche, 15 ff. – Zur Kritik Isolde Karles an Scharfenbergs Verhältnisbestimmung zwischen Individuum und Gesellschaft und dessen Einschätzung, dass die eigentliche Gefährdung des Menschen aus dessen Innerem hervorgeht (vgl. Scharfenberg, J., Einführung in die Pastoralpsychologie, 14) vgl. Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 98. 21 Vgl. Scharfenberg, J. (Hg.), Glaube und Gruppe, 7 ff. 22 Scharfenberg, J., Seelsorge als Gespräch, 12.

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sprächs. Dieses kann auch als »Fundstelle der ethischen Entscheidung«23 bezeichnet werden, da Entwicklung und Ausgang des Gesprächs von den jeweiligen Beteiligten möglichst unhierarchisch mitbestimmt bzw. ausgehandelt werden. Grundgelegt ist die tiefenpsychologische Annahme, dass der Prozess der Verbalisierung von Empfindungen und Gefühlen Freiheit gegenüber triebhafter Gebundenheit einträgt. An dieser Sichtweise, das Sprachgeschehen an sich als Heilungsprozess – entgegen einer »starre[n] Verklammerung der beiden Begriffe ›Gespräch‹ und ›Verkündigung‹«24 – zu werten, hält Scharfenberg bis zuletzt fest. Das Wort ist für ihn »Konvergenzpunkt von Theologie und Psychologie«25 (Thomas Bonhoeffer) insofern, als es die objektivierte theologische Rede und die subjektive Anverwandlung in der Sprache der Individuen einschließt und synthetisiert.26 Das Gespräch hat als methodisches Instrumentarium größte Bedeutung für Gestalt und Relevanz der kirchlichen Praxis: »Es dürfte eine Schicksalsfrage für die Lebensäußerung der Kirche sein, ob das Gespräch in ihr zum Strukturelement werden kann. Unser Vorschlag geht dahin, gerade hierin das seelsorgerliche Element kirchlichen Handelns zu sehen.«27

Wie ist also das Gespräch noch kleinteiliger zu beschreiben? Wie lässt sich die Korrelation von objektivierter theologischer Rede und individuell geprägten religiösen Gehalten denken?

2.1.2 Seelsorge als symbolische Interaktion Wesentlich für Scharfenbergs pastoralpsychologischen28 – und damit auch seelsorglichen Ansatz  – ist die Suche nach einem gemeinsamen hermeneutischen Schlüssel für öffentliche (religiöse oder nicht-religiöse) und private bzw. privatisierte Kommunikationsprozesse bzw. Konfliktlösungsstrategien. Mit Blick auf die Identität der christlichen Seelsorge fordert Scharfenberg eine Abkehr von »Eigenbautendenzen«29 und der Anwendung fremder Methodik. Notwendig ist der Entwurf einer der Seelsorgepraxis entsprechenden »eigenständigen Psychologie, die sich als die Theorie der eigenen Praxis zu verstehen vermag.«30 Dies ist

23 Ebd., 42. 24 Ebd., 10. 25 Vgl. Scharfenberg, J., Heilung als Sprachgeschehen, 345. 26 Zur kritischen Würdigung des Klassikers »Seelsorge als Gespräch« vgl. auch: WagnerRau, U., Seelsorge. 27 Scharfenberg, J., Seelsorge als Gespräch, 43. 28 Zur Pastoralpsychologie bei Scharfenberg vgl. Kap. I.2.1.3. 29 Scharfenberg, J., Kommunikation in der Kirche, 42. 30 Ebd.

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die Pastoralpsychologie, welche in Zusammenarbeit mit der Religionspsycho­ logie eine kritische Theorie des religiösen Symbols31 zu entwerfen hat. Die Bedeut­samkeit einer theologischen kritischen Theorie des religiösen Symbols ergibt sich für Scharfenberg aus dem Auseinanderdriften der symbolisch vermittelten Kommunikationsprozesse: Gemeint ist einerseits die öffentliche Kommunikation der Kirche, welche in ihrem Symbolbestand vorwiegend von der Dogmatik bearbeitet wird, andererseits die vorwiegend in der Seelsorge auftretende Kommunikation in Form ›privatisierter‹ Symbole individueller Konfliktbearbeitung, für deren Interpretation die Psychologie herangezogen wird.32 Wichtig ist hingegen, den Zusammenhang von Interaktion, symbolischer Rede und Prozessen der Sinnkonstitution zu erfassen33, da es stets um die Aktualisierung des lebendigen Verhältnisses zwischen Versprachlichung  – und das bedeutet: Bewusstwerdung – und innerpsychischen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Strukturen und Phänomenen geht. Das religiöse Symbol definiert Scharfenberg an verschiedenen Stellen. In der Veröffentlichung »Mit Symbolen leben« (1980) heißt es zur näheren Erläuterung: »In einer bestimmten Konfliktsituation, sei es ein Konflikt äußerer Art – ein sozialer Konflikt – oder ein Konflikt innerer Art – ein innerpsychischer Konflikt – wird eine Erfahrung gemacht, die diesen Konflikt zu bearbeiten vermag. Sie verdichtet sich zu einer Vorstellung, die sowohl den Konflikt wie seine Bearbeitung in sich aufnimmt. Eine solche Vorstellung nennen wir ein religiöses Symbol.«34

Ergänzend dazu führt Scharfenberg in seiner »Einführung in die Pastoralpsycho­ logie« (1985) aus, »[…] dass jedes lebendige Symbol, das die Gefühle von Angehörigen einer Symbol­ gemeinschaft an sich zu binden vermag, und das damit über die private Bedeutung hinaus mit der Ursprungsgeschichte einer solchen Gemeinschaft verbindet, das Unbedingte repräsentiert und eine Identität schafft, als ein religiöses Symbol bezeichnet werden kann.«35

Der Mensch gebraucht nach Scharfenberg im Umgang mit Objektivierungen ­a ller Art, die ihm entgegen treten, Symbole – unabhängig davon, ob es sich bei 31 Vgl. ebd., 33; vgl. Scharfenberg, J./Kämpfer, H., Mit Symbolen leben, 80; 157 ff. 32 Scharfenberg, J./Kämpfer, H., ebd., 165. 33 In »Mit Symbolen leben« wird der Zusammenhang wie folgt beschrieben: »Das Symbol entsteht in Interaktion, so wie Interaktionen ohne Symbole nicht möglich sind. Sinn entsteht in Interaktion und muss aber auch – manchmal kontrafaktisch – jeder Interaktion als Prämisse unterstellt werden. Und schließlich ist das Symbol Resultat sinnvoller Interaktionen wie auch Träger von Sinn.« (Ebd., 114.) 34 Ebd., 144. 35 Scharfenberg, J., Einführung in die Pastoralpsychologie, 87; vgl. weiterhin: ders., Religion, Seelsorge und Beratung, 175 – vgl. Kap. I.2.3.3.

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diesen Objektivierungen um Vorstellungen, Sachen, Personen, Situationen, Prozesse oder Gefühle handelt. Für die Konfliktbearbeitung, die in Scharfenbergs poimenischer Arbeit eine zentrale Stellung einnimmt, ist daher eine Aktualisierung der Anschlussfähigkeit der symbolischen Interaktion resp. Kommunikation vonnöten.36 Mit Alfred Lorenzer platziert Scharfenberg das Symbol mit Blick auf seine seman­tische Potenz zwischen Klischee und Zeichen: Während das Klischee die individualisiert-privatisierte, unbewusste und deshalb an Wiederholungszwang gebundene Form der Bedeutungszuschreibung meint37, ist das Zeichen an den öffentlichen Diskurs angeschlossen, zweidimensional bestimmt (one-toone-­Beziehung) und nicht mehr mit Gefühlen oder Konflikten besetzbar. Das Symbol hingegen ist ein »mehrgliedriger, mehrdeutiger Ausdruck von Konflikt­ erfahrung […], der sich in Gestalt von symbolhaften Vorstellungen, Symbolhandlungen, Symbolgestalten und Symbolgeschichten niederschlagen kann.«38 Es übernimmt eine Vermittlungsfunktion zwischen Subjekt und Objekt, zwischen inneren und äußeren Konflikten, das religiöse Symbol hebt Grundambivalenzen auf, drückt Grundstrukturen aus und bearbeitet Grundkonflikte.39 Scharfenberg geht davon aus, dass Symbole mit ihrer Darstellung Teilhabe ermöglichen und durch den eröffneten mehrdeutigen Freiheitsraum interpreta-

36 Entsprechend schreibt Scharfenberg: »Nicht die Verdrängung ruft die Notwendigkeit zur Symbolisierung hervor, sondern der Verzicht auf den Umgang mit Symbolen schafft die Verdrängung. Das Symbol ist nicht das Symptom einer Menschheitsneurose, sondern gerade dann, wenn man die symbolische Kommunikation einstellt, droht die Neurose.« (Scharfenberg, J., Art. Symbol, 336.) 37 Vgl. Lorenzer, A., Sprachzerstörung und Rekonstruktion, 106 ff. – Als Beispiel für eine solche Klischeebildung sei ein bei Scharfenberg prominentes Fallbeispiel wiederge­geben, nämlich die des Theologiestudenten A., welcher neben dem Auftreten von Zwangsgedanken (»Gott spinnt«/»Gott ist o.k.«) unter dem Handlungszwang leidet, vor dem Schlafen-­ Gehen eine Rolle vorwärts und eine Rolle rückwärts in seinem Bett vollführen zu müssen, nebst Absingen eines geistlichen Liedverses. Nach langer Zeit der Zusammenarbeit erhellte sich erst die Erinnerung an die Ursituation des Rituals: Herr A. turnte als Fünfjähriger im Garten herum, was ihm aber schnell untersagt wurde, da sein Vater sehr krank war und dieser also nicht gestört werden durfte. Eines Tages begab es sich, dass Herr A. verbotener Weise doch mal wieder im Garten herumturne, dabei stolperte, einen »förmlichen Purzelbaum« schlug und mit dem Kopf gegen den Briefkasten schlug. Am Kopf blutend wurde Herr A. von Familienmitgliedern ins Haus getragen. Der Vater starb wenige Tage später. Die Mutter von Herrn A. führte folgende Verknüpfung ein: »Wenn du nicht so getobt hättest, wäre Vati nicht gestorben.« – Vor diesem Hintergrund deutet Scharfenberg die Situation so, dass die Ursprungsszene zwar vergessen wurde, allerdings ein Symptom entwickelt wurde, mit dem Herr A. »symbolisch die Mordtat am Vater rückgängig zu machen und zu sühnen versuchte.« (Scharfenberg, J., Einführung in die Pastoralpsychologie, 66 f; vgl. ders., Art. Symbol, 330 ff.) 38 Scharfenberg, J., Die biblische Tradition, 133. 39 Scharfenberg, J./Kämpfer, H., Mit Symbolen leben, 197.

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tionsfähig wie interpretationsbedürftig sind.40 Für die seelsorgliche Situation ist das religiöse Symbol der formale gemeinsame hermeneutische Schlüssel für die beiden ablaufenden (öffentlichen und privaten) Kommunikationsprozesse insofern, als es durch seinen Anschluss an die narrative Tradition und über die Bearbeitung von Grundambivalenzen zu einer Remotivierung des seman­ tischen – und damit sinnstiftenden – Gehalts der jeweiligen Narrativa für die Seelsorgesuchenden dienen kann. Eine kritische Symbolkunde hat einerseits die Funktion, das Überlieferungsmaterial der Symbole daraufhin zu untersuchen, welche Symbole entweder in veränderter Form als Klischees oder Zeichen weiter existieren oder aber ganz untergegangen sind. Andererseits ist ihre Aufgabe auch eine ›populäre Symbolkunde‹: Während kirchliche Symbole vielerorts ihre Bedeutung für die Bearbeitung von (Grund-) Konflikten verloren haben, treten nach Scharfenberg an ihre Stelle einerseits Ideologien, populäre Mythologien und Symbole der Massenmedien, andererseits aber auch ›privat‹ geprägte Symbolik.41 Kritisch sind all diese Symbole bezüglich ihres Bearbeitungspotentials zu untersuchen. Eine seelsorgliche Hermeneutik des Symbols hat also zwei Blickrichtungen und ein Ziel: Zum einen muss sie sich der Wirkmächtigkeit und des semantischen Gehalts des Symbolbestands der eigenen christlichen Überlieferung erinnern, zum anderen hat sie die Aufgabe, den semantischen Gehalt gegenwartskulturell relevanter, im öffentlichen Diskurs verwendeter bzw. in den Bereich der individualisiert-privatisierten Sphäre integrierter Symbole zu erhellen – um schließlich christliche Bekenntnisse und Symbole in die gegebene Zeitsituation hinein ­sprechen und auf angemessene Weise auslegen zu können. Die Remotivierung christlicher Semantik und Symbolik für jeweilige Generationen ist nach Scharfenberg die dringlichste Aufgabe der kirchlichen resp. poimenischen Theorie und Praxis.

2.1.3 Pastoralpsychologie Erst relativ spät, das heißt Mitte der achtziger Jahre, wird der Begriff der Pastoralpsychologie im Werk Scharfenbergs als Überschrift für ein Verfahren manifest, mit dem und an dem Scharfenberg bereits lange  – als Konsequenz der Auseinandersetzung mit den Schriften Freuds42  – arbeitet. Das Konzept der Pastoralpsychologie bezeichnet also gleichsam die Zusammenführung der ver 40 Vgl. Tillich, P., Das Wesen der religiösen Sprache, 213 ff; vgl. Ricœur, P., Hermeneutik und Psychoanalyse, 162 ff; 215 f; zum präsentativen Symbolismus vgl. auch: Langer, S. K., Philo­sophie auf neuem Wege, 86 ff. 41 Scharfenberg, J., Kommunikation in der Kirche, 45. 42 Vgl. Dober, H. M., Seelsorge, 199.

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schiedenen Theorie- und Praxiselemente aus seiner bisherigen poimenischen Arbeit. Die Einsicht des ›Urvaters‹ der Pastoralpsychologie, Anton T. Boisen, dass die living human documents mit dem gleichen Verstehensschlüssel gelesen werden müssen wie die großen biblischen Dokumente religiöser Glaubenserfahrung, erhebt Scharfenberg zum »Schibboleth der Pastoralpsychologie überhaupt«43. Dabei soll die Pastoralpsychologie weder Anwendungstechnik noch Hilfswissenschaft sein – vielmehr kann ihr Ziel langfristig nur darin bestehen, sich wieder ›überflüssig‹ zu machen, sobald der von Scharfenberg konstatierte Graben zwischen Theorie und Praxis weitgehend geschlossen ist. Scharfenberg entwirft die Pastoralpsychologie also als eine Art Notbehelf mit Blick auf das vorhandene Theorie-Praxis-Problem. Sie soll nicht nur Bestandteil irgendeiner der praktisch-theologischen Disziplinen sein, sondern soll als Reflexionsmodus allen Bereichen zugute kommen, in denen es um die enge Bezogenheit von Theorie und Praxis geht. Obwohl Scharfenberg selbst die Psychoanalyse als Paradigma einführt, besteht er nicht auf ihrer alleinigen Gültigkeit. Viel wichtiger ist, dass »der Pastoral­psychologe […] seine eigene Psychologie schaff[t]«44, allerdings unter Einbeziehung unverzichtbarer Gesichtspunkte. Als Psychologie sollte sich die Pastoralpsychologie an folgenden Kriterien orientieren: 1. sie sollte hermeneutisch sein; 2. sie sollte dynamischen Charakter besitzen – mit Blick auf die sich vollziehende innerpsychische Dynamik im Zuge menschlicher Kommunika­ tionsvorgänge; 3.  sie sollte psychohistorische Elemente im Blick haben  – zur Korrelierung der individuellen Biographie mit geschichtlich-symbolischen Manifestationen. Scharfenberg betont, dass sich die anamnestische Kompetenz der Psychoanalyse auf die beiden Mythen Ödipus und Narziss beschränkt und somit unzureichend ist. Für die Pastoralpsychologie plädiert er für eine Korrelation von biographischen und biblischen Narrativa45; 4.  sie sollte eine Konfliktpsychologie sein – aufgrund bestimmter Einsichten der religiösen Anthro­ pologie.46 Wie schon erwähnt, entwirft Scharfenberg die Pastoralpsychologie als »Theorie und Praxis entwickelter Kunstregeln integrativer Kompetenz«47. Diese inte­ grative Kompetenz entspringt, so Scharfenberg, oft einer »divinatorische[n]

43 Scharfenberg, J., Einführung in die Pastoralpsychologie, 157. 44 Ebd., 48. 45 Ebd., 76; 171. Scharfenberg kritisiert die Beschränkung der psychoanalytischen Theorie auf die beiden Mythen Narziss und Ödipus in der Anamnese. Zur Kritik an Scharfenbergs Übernahme dieser psychoanalytischen Interpretamente vgl. Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 96 f. 46 Vgl. Scharfenberg, J., Einführung in die Pastoralpsychologie, 49. 47 Ebd., 221.

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Erkenntnis«48, welche spontan und durch keine Methode herbeiführbar ist.49 In der Entwicklung und Anwendung einer Pastoralpsychologie sollen Theorie und Praxis auf den unterschiedlichsten Ebenen integriert werden: Wissen und Fühlen, Erfahrung im Umgang mit sich selbst und Empathie im Umgang mit anderen, theologische Bildung und Kenntnis psychologischer Deutungsmuster. Der »pastoralpsychologische Zirkel«50 beschreibt den reziproken hermeneutischen Prozess, den Seelsorger wie Seelsorgesuchender gemeinsam durchschreiten: »In seinem Mittelpunkt [den pastoralpsychologischen Zirkel stellt Scharfenberg bildlich als Kreis dar; KM] muss das Symbol des Kreuzes als das höchste und tiefste Zentralsymbol der christlichen Überlieferung stehen. Die Peripherie des Kreises wird gebildet durch das Gegenüber von pastoralpsychologischem Helfer und leidendem Menschen, das sich in der Gestalt des Hin- und Herschwingens von Übertragung und Gegenübertragung als des Ausdrucks von Grundambivalenzen konstituiert und konkretisiert. Dabei spielen einfühlende Elemente der Identifikation und distanzierende Elemente der Wahrnehmung eine Rolle. Die vertiefte Selbstwahrnehmung des Helfers ist als unmittelbare Selbsterfahrung gegenwärtig sowie als psychologische Begrifflichkeit. Der leidende Mensch wird als Repräsentant von geschichtlichen Entwicklungsprozessen fokussiert, die sich oft auf dem Wege des spontanen Einfalls mit dem Deutungshorizont der religiösen Symbole verbinden, der sowohl assoziativ vergegenwärtigt werden soll, wie er auch kritisch überprüft werden muss.«51

Hier findet sich  – in der Konstellation von »pastoralpsychologischem Helfer und leidendem Menschen«52 – die Revitalisierung eines Strukturelements, das Scharfenberg abgeschafft sehen möchte: das Hierarchiegefälle. Ansatzimmanent ergibt sich dies, weil Scharfenberg bestimmte Grundambivalenzen bzw. Grundkonflikte als konstitutiv für menschliches Verhalten behauptet. Hieraus resultiert paradigmatisch der Konfliktfall als Anlass seelsorglichen Handelns, da es immer um die Bearbeitung der Grundkonflikte und Grundambivalenzen geht. Mit welchen anthropologischen Annahmen arbeitet Scharfenberg also?

48 Ebd. 49 Hier bleibt zu fragen, was für einen heuristischen Wert dieser Ausweis einer »divinatorischen Erkenntnis« für die Leser und Leserinnen hat bzw. inwieweit auch hier immer noch eine theologische Nähe zum Diktum der »objektiven Realität der Heilsbotschaft« (Scharfenberg, J., Übertragung und Gegenübertragung, 80) vorhanden ist. Damit wäre im Grunde erneut die Subjekt-Objekt-Spaltung betont, die Scharfenberg eigentlich überwinden möchte. 50 Scharfenberg, J., Einführung in die Pastoralpsychologie, 223; zum hermeneutischen Zirkel vgl. auch Kap. I.2.2.3. 51 Scharfenberg, J., ebd., 223 f. 52 Ebd., 224.

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2.2 Identität und der Prozess der Bewusstwerdung Scharfenberg schildert in seinen Arbeiten den engen Zusammenhang zwischen den Prozessen der Bewusstwerdung und den Prozessen der Identitätsbildung – strukturell sind all diese Vorgänge in Grundambivalenzen, Grundstrukturen und Grundkonflikte eingespannt, welche überindividuell vorhanden sind und bearbeitet werden müssen. Die Seelsorge partizipiert an der prinzipiell eschatologisch zu denkenden Heilung dadurch, dass sie Sprachgeschehen ist.

2.2.1 Anthropologische Basismuster: Grundambivalenzen, Grundstrukturen und Grundkonflikte Da es Scharfenberg wesentlich um die Erhellung anthropologischer Anknüpfungspunkte für eine Theorie des religiösen Symbols geht, entwirft er drei Horizonte, die Menschen  – zu allen Zeiten  – in ihrem jeweiligen Grunderleben verbinden: erstens die stets vorhandenen Grundambivalenzen, die sich in jedem Menschen abbilden; zweitens die von Mensch zu Mensch unterschiedlichen Grundstrukturen, welche jedoch in ihrem Repertoire umgrenzt sind; drittens die lebens- und weltgeschichtlich wandelbaren Grundkonflikte, für die jedoch in ihrem Umfang das Gleiche gilt wie für die Grundstrukturen. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass der Mensch nie seine innere Er­fahrung einer absoluten Eindeutigkeit zuführen kann, dass vielmehr immer ein prozessuales Austarieren zwischen Ambivalenzpolen stattfindet. Es existieren drei Grundambivalenzen, welche über drei Achsen – Zeit, Raum, Wirklichkeit – aufspannt werden53: Regression versus Progression (Zeitachse), Partizipation versus Autonomie (Raumachse) und Realität versus Phantasie (Wirklichkeitsachse). Sinn dieses Bildes ist es, eine mögliche Grenze zu beschreiben, innerhalb derer sich menschliche Symbolbildungsprozesse stets vollziehen. Scharfenberg geht also davon aus, dass sich alle Symbolbildungen in diese drei Gegensatzpaare einordnen lassen, sowohl auf individueller wie kollektiv-menschheitsgeschicht­ licher Ebene. In der Beschreibung menschlicher Grundstrukturen orientiert sich Scharfenberg an den von Fritz Riemann beschriebenen Persönlichkeitsstrukturen. Die Grundstrukturen lassen sich mit den beiden von Riemann gesetzten Antinomien  – also vier Pole  – ins Verhältnis setzen: schizoid und depressiv, zwanghaft und hysterisch.54 Scharfenberg weist jeder dieser Persönlichkeitsstrukturen 53 Vgl. das Schaubild in: Scharfenberg, J./Kämpfer, H., Mit Symbolen leben, 173. 54 Riemann, F., Grundformen der Angst. Im Grunde übernimmt Scharfenberg, hinsichtlich der Aufstellung der drei Grundambivalenzen, schon die beiden von Riemann beschriebenen Antinomien: Individuation versus Vergemeinschaftung, Dauer versus Wandlung; vgl. Riemann, F., ebd., 15.

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einen bestimmten Phänotyp innerhalb des religiösen Koordinatensystems zu, als da sind: der sich fremd fühlende, der leidende, der gehorchende, der hoffende Mensch. Auch hier zeigt sich erneut das Bemühen, die Übersetzbarkeit anthropologischer Grundverfasstheiten in symbolisch-religiöse Sprache zu er­weisen. Die Grundkonflikte wiederum lassen sich als innerpsychische Konflikte und als Außenweltkonflikte beschreiben. Beispielhaft für lebens- und weltgeschichtlich wandelbare innerpsychische Konflikte nennt Scharfenberg Trennung, Beziehungsaufnahme, Identifikation, Identität und Integration. Unter lebens- und weltgeschichtlich wandelbare Außenweltkonflikte werden Naturkonflikt, Machtkonflikt, Gruppenkonflikte nach innen und außen (Scharfenberg benutzt die Begrifflichkeiten »Familienkonflikt« und »Gruppenkonflikt«) gefasst.55 Mit Rückbezug auf die bereits geschilderten Grundambivalenzen und Grundstrukturen und der Illustration eines jeden Grundkonfliktes durch einen fiktiven inneren Monolog einer exponierten biblischen Figur – wie etwa Adam, Jakob oder auch Paulus – hofft Scharfenberg plausibilisieren zu können, dass religiöse Symbole »1. Grundambivalenzen, wie sie zu allen Zeiten bei allen Menschen be­stehen, »aufheben«, 2.  Grundstrukturen, wie sie von Mensch zu Mensch verschieden sind, ausdrücken und 3. Grundkonflikte, die welt- und lebensgeschichtlich wandelbar sind, bearbeiten.«56

2.2.2 Psychoanalytische Anthropologie und die Rede von der Identität Es ist im wesentlichen Scharfenberg, der auf protestantischer Seite die Psychoanalyse Freuds nach einigen Jahrzehnten aus der Krypta des Vergessens für die seelsorgliche Theoriebildung ans Licht holt. Bereits Oskar Pfister pflegte im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts eine eingehende Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse Freuds. Doch diese Auseinandersetzung, der Dialog, den Pfister über Jahrzehnte mit Freud führte, wurde durch das Erstarken der Dialektischen Theologie an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängt: Die Dialektische Theologie zog eine harsche Grenze zwischen Psychologie und Theologie  – vor allem wegen der von Freud vertretenen Anthropologie und, damit zusammenhängend, der von ihm vorgebrachten Religionskritik.57 Der Psychologie wird hier, im Verhältnis zur Theologie, der Status einer Hilfswissenschaft zugeschrieben. Dieses Beispiel zeigt, dass sich die theologische Reflexion zu allen Zeiten neu die Frage stellen muss, welche anthropologischen Einsichten und Ansichten 55 Scharfenberg, J./Kämpfer, H., Mit Symbolen leben, 187 ff. 56 Ebd., 197. Im Original hervorgehoben. – Vgl. Scharfenberg, J., Einführung in die Pastoralpsychologie, 51 ff. 57 Zu den Bezügen zwischen Pfisters und Scharfenbergs poimenischer Arbeit vgl. auch: Nase, E., Anfänge.

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sie anhand ihrer eigenen Kriterien und Kategorien in ihre Theoriebildung ein­ beziehen will und kann.58 Scharfenbergs Arbeiten sind dabei von der Annahme getragen, dass die Integration psychoanalytischer Elemente wichtige Erkenntnisfortschritte mit Blick auf die seelsorgliche Begegnung erbringt. Die Reli­ gionskritik Freuds kann er sogar als »Fremdprophetie«59 bezeichnen. Doch bevor auf die Religionskritik Freuds näher eingegangen wird, soll zunächst ein Blick auf Freuds Annahmen zur intrapsychischen Dynamik geworfen werden. Denn diese sind grundlegend für die Anthropologie, die Scharfenberg in seinen ­poimenischen Arbeiten vertritt. Sigmund Freud unterscheidet zunächst in seinem ersten topischen Modell Unbewusstes und Vorbewusstes.60 Während das Vorbewusste eher das Bewusstseinsfähige im Sinne dessen bezeichnet, was vom Bewusstsein her leicht erschlossen werden kann, meint Freud mit dem Unbewussten eher psychische Inhalte und Vorgänge, welche keinen leichten Zugang zum Bewussten haben und insofern, nicht an sich bewusstseinsfähig, erschlossen und in einen sprachlich manifesten Zustand gebracht werden müssen; Freuds Psychoanalyse kann als »eine Theorie des deskriptiv unbewussten Seelenlebens«61 gelten. Weiterhin besteht der Unterschied zwischen einer vorbewussten und einer unbewussten Vorstellung darin, dass sich die vorbewusste mit einer Wortvorstellung verbindet, während sich die unbewusste Vorstellung an etwas manifestiert, das unerkannt bleibt.62 Die Konstellierung eines solchen Verhältnisses zwischen Unbewusstem und Vorstellungsinhalten in Form von Wortvorstellungen plausibilisiert die Annahme von der Sprache als Therapeutikum, wie sie auch von Scharfenberg vertreten wird. Seit 1923 arbeitet Freud vorwiegend mit einem zweiten topischen Modell, dem so genannten Strukturmodell, welches auf der Annahme der Instanzen des Es und Ich, späterhin explizit auch des Über-Ich, fußt.63 Die beiden Modelle intrapsychischer Dynamik lassen sich nur bedingt in Analogie beschreiben  – 58 Charakteristisch ist die Formulierung Dietrich Rösslers in dem Artikel zu Sigmund Freud in der Theologischen Realenzyklopädie: »Für die Theologie bleibt dabei zu bedenken, dass psychoanalytische Einsichten und Theorien nicht schon ein zureichendes Gesamtbild des Menschen vermitteln, sondern der kritischen Einzeichnung in eine umfassende Anthropologie bedürfen.« (Rössler, D., Art. Sigmund Freud, 582.) 59 Scharfenberg, J., Religion zwischen Wahn und Wirklichkeit, 80; vgl. Kap. I.2.3.2. 60 Zunächst in: Freud, S., Die Traumdeutung; weiterhin: Ders., Einige Bemerkungen; ders., Die Verdrängung; ders., Das Unbewusste; ders., Vorlesungen. 61 Köhler, Th., Freuds Psychonanalyse, 39. 62 Insofern reguliert sich die Verdrängung von Inhalten, neben einem ›Hemmungsver­ mögen‹ bezüglich der Unlustentwicklung, auch immer über eine ›Erlaubnis‹ resp. ›Nicht-Erlaubnis‹ der Bindung von Vorstellungsinhalten an Wortvorstellungen. 63 Wegweisend ist hier die Schrift Freuds »Das Ich und das Es«, bzw. für die Einführung der Instanz des Über-Ich die Vorlesung »Die Zerlegung der Psychischen Persönlichkeit« (1933). Erste Ansätze finden sich bereits in: Ders., Massenpsychologie und Ich-Analyse.

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am eindeutigsten scheint die Übertragbarkeit der Eigenschaften des Unbewussten auf die Es-Instanz zu sein: Herrschaft des uneingeschränkten Lustprinzips, Nebeneinander gegensätzlicher Triebregungen und Zeitlosigkeit der ablaufenden Vorgänge (Primärprozesse). Die Ich-Instanz hingegen ist nur bedingt deckungsgleich mit dem angenommenen Vorbewussten, da sie teilweise an den Strukturen des Unbewussten partizipiert. Im Gegensatz zu Ich und Es besitzt das Über-Ich keine Entsprechung im ersten topischen Modell. Das Über-Ich, funktional als Gewissen und Selbstbeobachtung anzunehmen64, liegt quasi dem Es und dem Ich auf, besitzt zu Teilen vorbewusste und unbewusste Strukturen. Weder Über-Ich noch Es berücksichtigen in ihren Ansprüchen einen Abgleich mit der Außenwelt; dieser Abgleich, nun zwischen Es, Über-Ich und Außenwelt, ist Aufgabe des Ich: »vom Es getrieben, vom Über-Ich eingeengt, von der Rea­lität zurückgestoßen […].«65 Während die Bezugnahme Scharfenbergs auf die Freudsche Instanzenlehre bruchlos und kongruent erscheint, ist die Einführung des Begriffs der Identität als Ich-Entwicklung im Hinblick auf die psychoanalytische Tradition – vor allem im Hinblick auf die Freudsche Vorannahme – etwas komplizierter: Der Identitätsbegriff an sich kommt bei Freud nicht vor, und in der nachfolgenden psychoanalytischen Theorie wird er erst verwendet, wo jene den Schritt von einer Psychologie des »Es« zu einer Psychologie des »Ich« vollzieht.66 Scharfenberg arbeitet bei Freud Anhaltspunkte heraus, die auf ein Verständnis von Identität als gestaltetem Narzissmus zielen, welcher das Real-Ich – im Gegensatz zum Ideal-Ich – besetzt und verändert.67 Damit könnte die Identitätsbildung als Prozess verstanden werden, »sich später [nach Verlassen der infantil narzisstischen Repräsentanzenwelt; KM] als ein umschriebenes Individuum in Beziehung zu einem voraussagbaren Universum, das Kindheitszustände übersteigt, identifizieren zu lassen.«68 Das heißt, dass es dem Individuum möglich ist, Objekte loszulassen, weil die Verarbeitung ihrer Niederschläge zu Ich-Veränderungen geführt hat. Diese Fähigkeit, Objekte loslassen zu können, ist verschränkt mit einem nicht-pathologischen Narzissmus, welcher der Abhängigkeit von Primärobjekten entgegen arbeitet. Identität ist also ein Prozess. In ihm fällt dem Individuum die Aufgabe zu, neue Erfahrungen und Gleichheit bzw. Kontinuität miteinander zu vermitteln:

64 Freud, S., Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, 65. 65 Ebd., 85. 66 Vgl. Scharfenberg, J., Religiöses Bewusstsein als Narzissmus?, 11. – Scharfenberg meint den Grund darin zu finden, dass sich die klassische Libido-Theorie mit dem Begriff der Identität kaum hätte in Einklang bringen lassen. (Vgl. ebd.) 67 Scharfenberg, J., Narzißmus, Identität und Religion, 958 ff. 68 Ebd., 961; ders., Einführung in die Pastoralpsychologie, 138; vgl. Erikson, E. H., Einsicht und Verantwortung, 81.

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»Identität, so kann zusammenfassend gesagt werden, ist also charakterisiert durch die Dialektik zwischen einem tatsächlich erreichten Wirklichkeitssinn des Selbst und der Notwendigkeit, diesen innerhalb der gesellschaftlichen Realität dauernd zu verändern.«69

Für Scharfenberg ist der Zustand der absoluten Identität des Menschen mit sich selbst kein Ziel, das in dieser Welt erreichbar wäre. Mit Blick auf Verdrängungsprozesse und der Möglichkeit der totalen Bewusstheit als Voraussetzung absoluter Identität heißt es in »Seelsorge als Gespräch«: »Sollte damit zum Ausdruck gebracht sein, dass totale Bewusstheit die ideale Voraussetzung für das Gespräch zu bieten scheint? Dies ist in der Tat die Meinung, die hier vertreten werden soll. Allerdings muss bedacht werden, dass dies keine Möglichkeit der geschichtlichen Existenz des Menschen ist. […] Wenn das Unbewusste seine Energien vollkommen abgegeben hat, ist das Ende der Geschichte da, ist der Mensch völlig mit sich selbst identisch, sieht er von Angesicht zu Angesicht, ist das Eschaton hereingebrochen.«70

Mit dieser Perspektive ist die seelsorgliche Situation von Perfektionsansprüchen in dieser Hinsicht entlastet: Identität ist nicht herstellbar, sie kann nicht abschließend erarbeitet werden. Identität stellt sich vielmehr über den Prozess der Auseinandersetzung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt her und findet die Vision ihrer Erfüllung in einer Theologie der Hoffnung.

2.2.3 Ankerung und Aufbruch als Aufgaben der Seelsorge Es ist deutlich geworden, dass die Frage der Identität für Scharfenberg zwischen ›Mitgebrachtem‹, auch Vorgegebenem (wiederkehrenden Grundstrukturen), und einer prinzipiellen Unabschließbarkeit unter dem Vorzeichen eines Glaubens an eine eschatologische Vollendung aufzuspannen ist. Man kann vermuten, dass Scharfenberg diese eschatologische Vollendung eher unter erkenntnistheoretischem Gesichtspunkt, das heißt im Hinblick auf Bewusstwerdungsprozesse, betrachtet und keine, wie auch immer geartete, Wesenseinheit ontologischer Natur im Sinn hat. Welche Aufgaben fallen nach Scharfenberg also den Seelsorgenden vor diesem Hintergrund zu? Zu nennen sind hier vor allem drei Aspekte: Die Seelsorgenden haben sich erstens bis zu einem gewissen Punkt, als »Ersatz­ spieler«71 aufzustellen: Sie sind Adressaten von Übertragungsprozessen. Zweitens fungieren die Seelsorgenden als Sprachhilfe, und drittens verweisen sie auf



69 Scharfenberg, J., Einführung in die Pastoralpsychologie, 139. 70 Scharfenberg, J., Seelsorge als Gespräch, 49. 71 Zum Terminus »Ersatzspieler« vgl. Dörner, K./Plog, U. u. a., Irren ist menschlich, 49.

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den Horizont einer glaubenden Gewissheit. Die Seelsorgenden haben Stellvertreterfunktion. Ihr Tun bedarf einer stetigen, kritischen Selbstüberprüfung. Wesentlich für die von Scharfenberg beschriebene Praxis ist die Arbeit mit den zuerst von Freud beschriebenen Phänomenen der Übertragung und der Gegenübertragung. Auch hier lassen sich unterschiedliche Nuancierungen bezüglich der Indienstnahme dieses psychoanalytischen Basisinstrumentariums – von Freud wird die Gegenübertragung anfänglich noch als auszuschließender Störfaktor betrachtet  – feststellen. Im Ereignis der Übertragung vollzieht sich die Einbettung des Therapeuten in eine vom Klienten konstruierte und praktizierte psychische Reihe, und in der Gegenübertragung bietet der Therapeut einen so genannten Resonanzboden für den Klienten.72 Um dieses Geschehen jedoch bewusst für den therapeutischen Prozess nutzen zu können, fordert Freud von den Analytikern stetige Selbstanalysen. Hier wird deutlich, dass jene Rolle nicht ohne weiteres auf die Seelsorgenden zu übertragen ist: »Der Seelsorger befindet sich hingegen in einer völlig anderen Situation. Ihm steht keine eindeutige Technik zur Verfügung. Er hat als Hilfsmittel in der Regel keine Analyse seiner eigenen Person hinter sich. Der Weg, den die Psychotherapie geht, ist ihm von der Sache her verwehrt und versperrt.«73

Auf diesen Sachverhalt weist Scharfenberg über die Jahrzehnte seines Schaffens hinweg hin – insofern ist der lange vehement erhobene Vorwurf der quasi ›erzwungenen Qualifikations-Not‹ den Vertretern der Seelsorgebewegung gegenüber mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten. Der Weg der Seelsorge ist viel-

72 Freud beschreibt für die Analyse Vorgänge der Übertragung als »Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewusst gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes.« (Freud, S., Bruchstück einer Hysterie-Analyse, 279; vgl. Scharfenberg, J., Übertragung und Gegenübertragung, 82.) – So spricht Freud von der frühkindlich unbefriedigten Trieblibido, welche in ihrem Mangelempfinden immer wieder – allerdings in pathologischen Strukturkonstellationen – ausagiert wird. (Wörtlich heißt es bei Freud: »Wir haben also Grund, eine Urverdrängung anzunehmen, eine erste Phase der Verdrängung, die darin besteht, daß der psychischen (Vorstellungs-) Repräsentanz des Triebes die Übernahme ins Bewußtsein versagt wird. Mit dieser ist eine Fixierung gegeben; die betreffende Repräsentanz bleibt von da an unveränderlich bestehen und der Trieb an sie gebunden.« – Freud, S., Die Verdrängung, 250.) Entsprechend haben die Ana­ lytiker für sich selbst damit zu rechnen, dass auch in ihnen unbewusste Reaktionen evoziert werden, welche wiederum auf das Übertragungsphänomen reagieren, so dass ein sich poten­tiell immer weiter aufladender Prozess von Übertragung und Gegenübertragung einsetzt. – Alternativ spricht C. G. Jung vom Phänomen der Projektion, welche »ein unbewusster, auto­matischer Vorgang [ist], durch welchen sich ein dem Subjekt unbewusster Inhalt auf ein Objekt überträgt, wodurch ersterer erscheint, als ob er dem Objekt zugehöre.« (Jung, C. G., Von den Wurzeln des Bewusstseins, 67.) 73 Scharfenberg, J., Seelsorge als Gespräch, 76.

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mehr unter den Stichworten »Realität« und »Partnerschaft« zu fassen.74 Statt eines bewussten Verstärkens und Beantwortens der Übertragungsphänomene soll das Ausagieren der Übertragung so weit beschränkt werden, dass die seelsorgliche Situation samt der Kompetenzen aller Beteiligten nicht überbelastet und überschritten wird. Die Seelsorgenden haben, nach Scharfenberg, eben immer auch die Aufgabe, Vertreter der »Realität« zu sein. Insofern können sie realistisch auch nur eine partielle Partnerschaft auf Zeit anbieten, wobei die Aufhebung der Arbeitsbeziehung immer schon mit in den Horizont der jeweiligen Situation einzuzeichnen ist. Bei aller Beschreibung der Unterschiedlichkeit von therapeutischem und seelsorglichem Setting mit Blick auf Möglichkeiten und Grenzen sollten die Seelsorgenden die notwendige Auffassungsgabe besitzen, Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene zu erkennen, um sie – dem partnerschaftlichen Realitätsprinzip entsprechend – für die seelsorgliche Situation produktiv nutzen zu können. Mit der Reflexion der Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse geht das Thema des hermeneutischen Zirkels einher. Damit verbindet sich die bereits erwähnte Aufgabe der Seelsorgenden, Sprachhilfe zu sein. Dem hermeneutischen Zirkel sind, aus psychoanalytischer Sicht, verschiedene Elemente inhärent: Analytiker (1) und Klient (2), die durch Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse notwendig vertiefte Selbstwahrnehmung des Analytikers (3), die zeit­ genössische Fokussierung auf ein Problem (4), sowie die mythische Verankerung (Ödipus-Mythos) (5).75 Die drei Elemente der vertieften Selbstwahrnehmung, der zeitgenössischen Fokussierung und der mythischen Verankerung sind nun, nach Scharfenberg, im Rahmen dieses fünfgliedrigen hermeneutischen Zirkels inhaltlich und methodisch flexibel, also anwendbar auf die seelsorgliche Situation. Verstehen und Auslegen sind auf eine Distanz zur Annahme verwiesen, dass Objektivierungen  – auch sprachlicher Natur  – Allgemeingültigkeit besitzen, oder anders ausgedrückt: Jede Äußerung, jedes Verhalten trägt seinen Sinn in sich. Diesen gilt es zu erhellen. Für Theologie wie Psychoanalyse gilt gleichermaßen, dass Kommunikation im Sinne eines gegenseitigen Verstehens umso besser gelingt, je mehr die subjektiven Voraussetzungen der am Gespräch Be­ teiligten deutlich gemacht werden können, und je eher die unterschiedlichen Ebenen der individuellen Existenz mit ihren spezifischen Sinnstrukturen beleuchtet werden können. Aufgabe des Seelsorgers ist es, das störende Potential eigener subjektiv-biographischer Voraussetzungen möglichst aus dem Gespräch heraus zu halten. Das Eintreten in den hermeneutischen Zirkel ermöglicht es, über das Ausagierte und seine Erhellung zu einer mythischen resp. biblischen, 74 Ebd., 78. Gute zehn Jahre zuvor benennt Scharfenberg den Mittelweg als den zwischen »analytischer Abstinenz einerseits und einem distanzlosen gemeinsamen Agieren von Übertragung und Gegenübertragung, von fremder und eigener seelischer Bedürftigkeit.« – Scharfenberg, J., Übertragung und Gegenübertragung, 87. 75 Vgl. Scharfenberg, J., Einführung in die Pastoralpsychologie, 32.

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symbolisch vermittelten Verankerung von Biographiemerk­malen der Seelsorgesuchenden voran zu schreiten. Damit geht die Versprachlichung ehedem vorsprachlicher Sachverhalte einher. Die dritte Aufgabe der Seelsorgenden, weiter oben »Verweis auf den Horizont einer glaubenden Gewissheit« genannt, besteht darin, dass sie als Christen erkennbar sind und als solche die seelsorgliche Situation christlich profilieren – auch, wenn dies ›nur‹ in der Gestalt geschieht, die die Situation annimmt. Scharfenberg geht es, zumal in seinen Arbeiten seit den sechziger Jahren, weniger um den Erweis der Evidenz dogmatischer Wahrheiten. Gelegen ist ihm an der Er­ öffnung eines Möglichkeitsraumes, an der Entfaltung von Freiheit. Diese Freiheit gilt ihm als Realisierung der Rechtfertigungsbotschaft. Wichtig ist der dialogische Charakter des Gesprächs, welcher dieses zur »Fundstelle der ethischen Entscheidung«76 werden lässt. Aufgabe der Seelsorgenden ist es, für den Prozess der Selbsterkenntnis den rechten kommunikativen Modus zu finden. In der Selbsterkenntnis liegt die Freiheit von vorreflexiven Gehalten des Unbewussten, die geradezu als ›fremde Mächte‹ empfunden werden können. Völlige Bewusstheit ist, wie bereits erwähnt, keine Möglichkeit der geschichtlichen Existenz des Menschen. Allerdings trägt Scharfenbergs Vorstellung synergetischen Charakter: Der Mensch in seiner konkreten geschichtlichen Existenz wirkt mit und hat Anteil an der Entwicklung auf das Eschaton zu. Die Seelsorgenden befördern über namengebende und nichtobjektivierende Auslegungsvorschläge eine subjektive Anverwandlung eben dieser Deutungen bei den Seelsorgesuchenden. Der Angebotscharakter eröffnet so konkrete zwischenmenschliche Freiheit sowie, durch die sprachliche Manifestation, die Möglichkeit zu größerer Freiheit gegenüber triebhafter Gebundenheit auf intra-psychischer Ebene. Insofern kann diese Freiheit Voraussetzung verantwortlichen Handelns sein. Welch große Bedeutung das Gespräch als Methode hat, zeigt noch einmal das folgende Zitat: »Damit kann das Gespräch als Fundstelle der ethischen Entscheidung bezeichnet werden. In ihm erschließen sich Möglichkeiten, an die keiner der beiden Partner vorher gedacht hatte. Es ist dies jedoch eine Erfahrung, die in jedem Beratungsgespräch gemacht werden kann. Es dürfte eine Schicksalsfrage für die Lebensäußerungen der Kirche sein, ob das Gespräch in ihr zum Strukturelement werden kann. Unser Vorschlag geht dahin, gerade hierin das seelsorgerliche Element kirchlichen Handelns zu sehen.«77

Deutlich ist, dass Scharfenberg die seelsorgliche Aufgabe mit einer doppelten Perspektive versieht: Zum einen geht es darum, die Seelsorgesuchenden in der

76 Scharfenberg, J., Seelsorge als Gespräch, 42. 77 Ebd., 43.

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seelsorglichen Situation zu ›ankern‹, für die Seelsorgesuchenden als Person zur Verfügung zu stehen, um ungelöste Konflikte und Problemlagen gemeinsam anzugehen. Zum anderen wird die konkrete seelsorgliche Situation intentional auf eröffnete Freiheitsräume und die Hoffnung auf uneingeschränkte Heilung am Ende der Zeit hin überschritten. Die Seelsorge partizipiert am Heilungsprozess dadurch, dass sie Sprachgeschehen ist.78

2.3 Religionskritik und Handlungsfreiheit In einem letzten Kapitel soll nun der Frage nachgegangen werden, welches Religionsverständnis den Arbeiten Scharfenbergs zugrunde liegt. Da sich Scharfenberg in der Entfaltung seines Verständnisses von Religion wesentlich an Freud orientiert, wird in einem ersten Schritt das Religionsverständnis Freuds skizziert, um in einem zweiten und dritten Schritt zu fragen, in welcher Gestalt Scharfenberg dieses Verständnis rezipiert, und was schließlich seine eigene Auffassung von Religion charakterisiert.

2.3.1 Religion bei Sigmund Freud Sigmund Freud äußert sich wesentlich in vier Schriften zum Thema Religion: in »Zwangshandlungen und Religionsübungen« (1907), »Totem und Tabu« (1913), »Die Zukunft einer Illusion« (1927) und »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« (1939). Der Blick Freuds auf die Religion verfolgt wesentlich ein pathogenes Interesse: Breiten Raum nimmt die Betrachtung von Äquivalenzen zwischen der (kollektiv gelebten) ›sichtbaren Religion‹ (Rituale, Symbolisierungen jeglicher Art) und Phänomenen (individueller) psychischer Erkrankung ein. Mit seinen anthropologischen, stammesgeschichtlichen und ontogenetischen Argumenten in der Auseinandersetzung mit dem Thema ›Religion‹ schließt sich Freud an die Religionskritik Ludwig Feuerbachs und Karl Marx’ an. In seiner ersten religionskritischen Schrift »Zwangshandlungen und Religionsübungen« beschreibt Freud Parallelen zwischen Praktiken der Religionsausübung und Handlungen von Zwangsneurotikern. Die Parallelität findet ihre Grenze darin, dass dem Zwangsneurotiker die Symbolik seiner individuell gelebten, einförmigen Wiederholungstat in ihrem Sinngehalt verschlossen ist. Religiöse Handlungen hingegen sind zunächst, so Freud, als Manifestationen mit Öffentlichkeitscharakter explizit symbolisch sinnträchtig. Dem religiösen 78 Vgl. Scharfenberg, J., Heilung als Sprachgeschehen, 344 ff; ders., Seelsorge als Gespräch, 35 ff. – Den Gedanken des heilenden Sprachgeschehens greift in neuerer Zeit wieder auf: Erne, Th., Rhetorik und Religion, 202; 209 f.

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Praktikanten eignet erst ein pathologischer Zug, wenn ihm der Sinngehalt seiner konkreten Religionsausübung uneinsichtig ist beziehungsweise verborgen bleibt. Entsprechend kann Freud einerseits die Zwangsneurose als »halb komisches, halb trauriges Zerrbild einer Privatreligion«79 und andererseits Religion als »universelle Zwangsneurose«80 bezeichnen. Sinn und Zweck aller religiösen Praxis ist es, dass der Mensch sich befreien will »von der Herrschaft böser, sozial schädlicher Triebe«81, sowie der ihm zugewachsenen historisch-phylogenetischen Schuld (s. u.). Freud stellt fest, dass die Anzahl der an Neurosen erkrankten Menschen proportional zum Rückgang des Einflusses von Religion steigt. Daraus zieht er den Schluss, dass die Leistungen der Religion defizitär sind, weil Menschen sonst nicht das Bedürfnis hätten, sich in eben jenes »Zerrbild einer Privatreligion« zurück zu ziehen. Freud geht davon aus, dass die Ontogenese ein Abbild der Phylogenese ist und umgekehrt – Individualgeschichte und Menschheitsgeschichte durchlaufen die gleichen Entwicklungsprozesse. Insofern gilt auch für den Entwicklungsprozess der Menschheitshistorie, dass die Kräfte des Unbewussten die Gegenwart maßgeblich mitbestimmen, und dass so Denkstrukturen der Vergangenheit und Erscheinungen des gegenwärtig aktiven Unbewussten in hermeneutischen Verfahren in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit sichtbar gemacht werden können. So ist Freud unter Rekurs auf die Darwinsche Urhorden-Vorstellung in »Totem und Tabu« in der Lage, die prähistorische Ermordung des Urvaters durch seine Söhne als Grunddatum für zwei Grundgegebenheiten menschlicher Existenz anzunehmen: zum einen die Normativität ethischer Vorschriften, zum anderen das Vorhandensein eines tiefen Schuldgefühls.82 Totemismus und Exogamie gehören so unwiderruflich zum phylogenetischen wie onto­ genetischen Prozess der Aus­prägung des Ödipuskomplexes. Der Ödipuskomplex ist das Grundmuster des Vorgangs, in dem der Mensch sich ins Verhältnis zur Welt setzt: »[I]m Ödipus-Komplex [treffen] die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst zusammen […], in voller Übereinstimmung mit der Feststellung der Psychoanalyse, daß dieser Komplex den Kern aller Neurosen bildet, so weit sie bis jetzt unserem Verständnis nachgegeben haben.«83 79 Freud, S., Zwangshandlungen, 132. 80 Ebd., 139. 81 Ebd. 82 Freud, S., Totem und Tabu, 85; 173. – Inwieweit Freud tatsächlich von dieser Urhorden-Theorie in ihrer Historizität überzeugt war, ist unklar. Es schließt sich die Frage an, ob es überhaupt in seinem Interesse lag, Historisches zu schildern, oder ob es Freud erneut vorwiegend um den Vergleich von neurotischen Handlungen und Bräuchen und Glaubenshaltungen primitiver Religionspraxis geht. (Vgl. Albrecht, Chr., Sigmund Freud, 55; vgl. zur Zwangsneurose als Tabukrankheit auch: Haas, E. T., Opferritual, 410 ff.) 83 Freud, S., Totem und Tabu, 188; vgl. Jones, E., Leben und Werk, 385; 413.

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Aufgrund der prozessualen Äquivalenz in Menschheits- und Individualgeschichte geht Freud davon aus, dass die Religion kulturgeschichtlich ein zu überwindendes ist, ein Zustand, der von dem Ausagieren infantiler Wünsche geprägt ist. Dies führt Freud nun in »Die Zukunft einer Illusion« aus. Der illusionäre Charakter leitet sich aus dem Ursprung religiöser Vorstellungen, den »ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche[n] der Menschheit«84, ab. Die »Erziehung zur Realität«85 erfordert die Überführung der Religionspraxis als regressive Kulturpraxis in die Erkenntnis, dass der Mensch Verantwortung jenseits infantiler Weltvorstellungen übernehmen muss. Der Vorteil der kollektiven Religionspraxis liegt allein darin, dass die Form der kollektiven Regression den Einzelnen vor der Ausprägung einer individuellen Neurose verschont. Allerdings versagt die Religion auch in dieser Funktion zunehmend.86 Das Religionsverständnis Freuds konnte hier nur grob skizziert werden.87 Wie kann Joachim Scharfenberg die Religionskritik Freuds für die Seelsorgelehre nun fruchtbar machen?

2.3.2 Das Freudsche Religionsverständnis als »Fremdprophetie« Die ausgiebige Beschäftigung Scharfenbergs mit dem Werk Freuds hat, neben der Durchdringung psychoanalytischer Theoreme, nicht zuletzt das Ziel, die Religionskritik Freuds für die Praktische Theologie fruchtbar zu machen.88 Scharfenberg versteht die Religionskritik Freuds als »Fremdprophetie«: »[W]ir [­sollten] uns als Christen durch die Fremdprophetie eines Sigmund Freud nach vorn rufen, ›provozieren‹ lassen!«89 heißt es in »Religion zwischen Wahn und Wirklichkeit«. Scharfenberg will in der Auseinandersetzung mit Freud Tendenzen der Selbstabschließung in christlicher Theologie und Praxis wehren:

84 Freud, S., Die Zukunft einer Illusion, 352. 85 Freud, S., ebd., 373. Im Original hervorgehoben. 86 Vgl. auch: Freud, S., Das Unbehagen.  – In »Der Mann Moses und die monotheis­ tische Religion« fügt Freud schließlich psychogenetische und historiogenetische Aspekte im Hinblick auf die Entstehung des jüdischen Monotheismus zusammen. Die Idee eines einzigen, übermächtigen Gottes wertet Freud als Replik auf den ursprünglichen Mord des Ägypters Moses, der semitischen Stämmen in Ägypten den Gott Echnaton näher brachte und infolge dafür sorgte, dass die Eigenschaften Echnatons auf JHWH übergehen konnten. Die Religionspraxis speist sich so aus der stetigen Wiederkehr der verdrängten Tat und der schuldhaften Fixierung; dies findet seine Analogie in Phasen und Entwicklungen der Individualneurose. 87 Vgl. zum Religionsverständnis Freuds auch: Dober, H. M., Seelsorge, 161 ff. 88 Vgl. Scharfenberg, J., Sigmund Freud und seine Religionskritik, 11 f. 89 Scharfenberg, J., Religion zwischen Wahn und Wirklichkeit, 80.

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»Die Christenheit sollte es sich auf jeden Fall nicht mehr leisten, sich im Gehäuse ihrer mehr oder weniger neurotischen Religiosität apologetisch einzunisten, sondern sie sollte die große Chance, die in einem offenen Gespräch mit Freud liegt, erkennen.«90

Die Bezeichnung »Fremdprophetie« für die Freudsche Religionskritik hält Scharfenberg im Wesentlichen aus drei Gründen für angebracht: a) Die Auseinandersetzungen Freuds mit der Religion haben die Gefahr der Regression deutlich gemacht. Scharfenberg lehnt eine Glaubenspraxis ab, welche nicht mehr »um die Wahrheitsfrage oder um die Entscheidung des Menschen«91 weiß und auf regressiver Abwehr basiert. Selbstkritisch äußert er die Frage, ob die Ausgestaltung der christlichen Theologie zudem in ihrer Abstraktion und Komplexität es nicht befördert, dass Nicht-Professionelle aufgrund von Überforderung mit der Regression einer infantilen Religiosität reagieren. b) Ein wesentliches Desiderat Scharfenbergs ist die Vermittlung von theolo­ gischer Metaphysik und subjektiven Sinndeutungsleistungen: Die Aufgabe für die Theologie besteht darin, den Charakter des geschichtlichen Jesus-­ Ereignisses für die Gegenwart neu fassen zu können. Warum Scharfenberg dafür plädiert, dieses historische Ereignis wiederum im Lichte der Freudschen Geschichtsmetaphysik zu deuten, bleibt angesichts des Anliegens, den metaphysischen Deutehorizont zu überwinden, fraglich.92 c) Für Freud wie für Scharfenberg ist der Gedanke der Freiheit leitend: Ein selbstverantwortetes Ethos ist Weg und Ziel der subjektiven Entwicklung. Während allerdings für Freud der Weg zur aktiven und verantwortlichen Weltgestaltung über die Überwindung der Religion führt, schränkt Scharfenberg das zu Überwindende auf den regressiven Anteil der Religion ein. Freud geht es darum, »dass der Freiheitsraum, den sich der Mensch gegenüber der Bevormundung durch Religion und Tradition geschaffen hat, auch tatsächlich betreten werden kann.«93 Dieser Weg ist nicht der Weg der Religion, allein aus dem einfachen Grund, weil diese, nach Freud, ein verzerrtes Bild von der Realität liefert und den Menschen nicht mündig werden lässt.94 90 Scharfenberg, J., Beiträge zu einem neuen Freud-Bild, 461. 91 Scharfenberg, J., Religion zwischen Wahn und Wirklichkeit, 94. 92 Scharfenbergs Interesse, den grundlegenden christlichen Topos des Jesus-Ereignisses samt seiner Wirkungsgeschichte unter dem Vorzeichen der ›Wiederkehr des Verdrängten‹ bzw. des Ins-Verhältnis-Setzen von Vergangenheit und Zukunft zu durchdenken, lässt sich wiederum nur verstehen, wenn man die beiden Manifestationen von Religion im Blick hat: Regression und Utopie. Dieser Punkt verbindet sich mit einem letzten Aspekt der »Fremdprophetie«. 93 Scharfenberg, J., Sigmund Freud und seine Religionskritik, 158 f. 94 In »Die Zukunft einer Illusion« schreibt Freud: »Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er muss endlich hinaus, ins ›feindliche Leben‹. Man darf das ›die Erziehung zur Rea­ lität‹ [im Original hervorgehoben; KM] heißen, brauche ich Ihnen noch zu verraten, dass es die einzige Absicht meiner Schrift ist, auf die Notwendigkeit dieses Fortschrittes aufmerksam zu machen?« (Freud, S., Die Zukunft einer Illusion, 373.)

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Scharfenberg sieht in Freud eine Stimme, die zur Macht der Liebe zurückruft, denn allein die Liebe, der Eros, kann dem Aggressionstrieb wehren und das Fortbestehen der Kultur samt ihrer Entwicklung befördern.95 Mit Dietrich Rössler ließe sich festhalten, dass die Bedeutung der Psycho­ analytischen Theorie Freuds weniger in ihren religionskritischen Leistungen liegt – denn zu Recht merkt Rössler an, dass Freud in der Substanz seiner Theorie nicht an die Religionskritik der philosophischen Tradition anschließen kann – sondern vielmehr in ihrer Anthropologie.96 Hier wäre in der Tat vom fremdprophetischen Charakter der Freudschen Psychoanalyse zu sprechen: Die unbedingte ›Unterstellung‹ von Sinn jeglicher psychischen Manifestation gegenüber kann in ihrem annehmenden und bejahenden Charakter als funktionales Äquivalent zur christlichen Rechtfertigungsbotschaft gelesen werden.97 Das kritische Moment käme, ganz wie Scharfenberg es versteht, darin zum Tragen, dass religiöse Praxis daraufhin befragt werden kann, ob sie Ausdruck von Verantwortungsübernahme und Mündigkeit ist, oder ob sie weltabgewandte, regressive Selbstabschließungsprozesse spiegelt. Nachdem der Blick auf der Rezeption von Freuds Religionskritik lag, wird im Folgenden zu fragen sein, wie sich das Religionsverständnis Scharfenbergs weiterhin konturiert.

2.3.3 Religion zwischen Symbol und Substanz Scharfenbergs Religionsverständnis ist nicht in Eindeutigkeit zu überführen. Grundsätzlich begegnen in seinen Arbeiten zwei Anliegen: a)  Freuds produk­ tives Interesse an dem Phänomen Religion zu erweisen; b)  einen Ort für die eigene Theorie im Rahmen der jüdisch-christlichen Tradition zu finden. Letzteres geschieht mit der Konzeption seiner Pastoralpsychologie als Konsequenz der Pastoraltheologie und Derivat der Religionspsychologie.98

95 Vgl. Freud, S., Das Unbehagen in der Kultur, 506. 96 Rössler, D., Art. Sigmund Freud, 582. 97 Vgl. zum Topos der »Annahme« in Theologie und Tiefenpsychologie: Tillich, P., Der Einfluss der Pastoralpsychologie, 132; und: Scharfenberg, J., Paul Tillich und der geistige ­Horizont, 125. Tillich spricht sogar von der Rechtfertigungsäquivalenz im Hinblick auf die Umgestaltung des »intellektuellen Klimas« (ebd.) durch die Psychoanalytische Theorie. 98 Zum Verhältnis von Religionspsychologie und Pastoralpsychologie schreibt Scharfenberg: »Zu einem Funktionieren dieser symbolischen Kommunikation kann es deshalb nur kommen, wenn die Religionspsychologie als Pastoralpsychologie und die Pastoralpsycho­ logie als Religionspsychologie betrieben wird, und beide zu einer kritischen Theorie der reli­ giösen Symbole zusammengeschlossen sind.« – Scharfenberg, J./Kämpfer, H., Mit Symbolen leben, 158.

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Joachim Scharfenberg: Seelsorge als symbolische Interaktion

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Die Religionskritik hat, als verbindendes Element zwischen Psychoanalyse und Theologie, auf den ambivalenten Charakter von Religion hinzuweisen: Religion ist regressiv und progressiv, (ursprungs-) mythisch und messianisch, priesterlich-magisch und prophetisch-personal.99 Das Anliegen, einen positiv ge­f üllten Religionsbegriff aus der Religionskritik Freuds zu gewinnen, funktioniert nur auf der Ebene einer (formalen) Strukturparallelität. Scharfenberg selbst merkt dabei die Fraglichkeit an, am Individuum gewonnene Konzepte auf soziale Phänomene übertragen zu wollen.100 So bleibt schließlich, die (Er-) Kenntnis des Unbewussten mit seinen regressiven und zwanghaften Wirkweisen als hermeneutisches Prinzip für Theologie und Kirche fruchtbar zu machen.101 An dieser Stelle soll noch einmal die Bedeutsamkeit des reflexiven Symbolgebrauchs in den Blick kommen. Das Symbol fungiert als Konflikt- und Ambivalenzbearbeitungsinstrumentarium an sich. Mit dieser Fähigkeit ist es religiös qualifiziert. Der hermeneutische Schlüssel ist formal das Symbol und inhaltlich die Erkenntnis der stetigen Wiederkehr einer gewissen Anzahl von ProblemGrundkonstellationen. Scharfenberg geht dabei ganz klar über Freud hinaus, wenn er die Zweiheit der symbolisch verfassten griechischen Mythen von Ödipus und Narziss aufweitet zugunsten einer Vielzahl von Symbolkonstellationen, die sich etwa in der Bibel finden. Anlass dafür ist die Erkenntnis, dass die Erzählungen von Ödipus und Narziss nicht allein in der Lage sind, die vorhandenen menschlichen Grundambivalenzen, Grundstrukturen und Grundkonflikte auszudrücken und zu bearbeiten. Die eingeforderte kritische Symbolkunde102 kann als Gestalt der Religionskritik verstanden werden: Symbole können Freiheitsräume erschließen, sie können aber auch »Mittel der Entfremdung und der Unterdrückung sein.«103 Kritisch anzufragen wäre, inwieweit die biblischen Symbole in den Dienst der psychoanalytischen Anthropologie gestellt werden.104 Die Frage, ob Scharfenberg eher ein funktionales oder ein substantielles Religionsverständnis vertritt, ist nicht einfach zu beantworten: Mitunter schwie 99 Scharfenberg, J./Nase, E. (Hg.), Psychoanalyse und Religion, 19 f; zur Konturierung der Religionskritik vgl. auch: Raguse, H., Scharfenbergs Religionskritik. 100 Scharfenberg, J./Nase, E., ebd., 16. 101 Dazu Scharfenberg: »Freuds Religionsbegriff sollte vorwiegend unter herme­neutischem Aspekt gesehen werden als der Versuch, die menschlichen Verstehensbedingungen um die Dimen­sion des Unbewussten zu erweitern. Ein zentrales Element christlicher Verkündigung, nämlich dem Menschen die Freiheit zu ermöglichen und zuzustellen, erscheint deshalb bei ihm in einer Art ›Fremdprophetie‹ aufgenommen, indem er den Freiheitsraum des Menschen gegenüber den unbewussten und damit zwanghaft wirkenden Strukturen der menschlichen Seelentätigkeit ausweitet. Diese kritische Bewusstmachung sollte deshalb als ein wesentlich neues Element in die christliche und die kirchliche Praxis aufgenommen werden.« (Scharfenberg, J., Zum Religionsbegriff Sigmund Freuds, 377.) 102 Vgl. Kap. I.2.1.2. 103 Scharfenberg, J./Kämpfer, H., Mit Symbolen leben, 16. 104 Vgl. Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 96 f.

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rig zu vermitteln sind bei Scharfenberg Textstellen, die die unbedingte Gültigkeit biblischer Texte beschreiben, und diejenigen Passagen, die das Religiöse doch vorwiegend funktional beschreiben. Nach grundlegender Beschäftigung mit dem Material scheint es legitim, davon auszugehen, dass Scharfenbergs Reli­ gionsverständnis vorwiegend über den Aspekt der Funktionalität zu erhellen ist. Allein die Symbol-Definitionen105 weisen auf den Vollzugscharakter des Reli­ giösen hin. Gleichzeitig fordern religiöse Symbole eine eigene Hermeneutik ein, wenn Scharfenberg diese im Kontext »einer geschichtlich gewordenen Glaubensüberzeugung« verortet, »die zentriert sind um eine bestimmte Sinnmitte und von dieser her verstanden werden wollen, um so wieder zur Sinnmitte von Lebensentwürfen werden zu können.«106 Nur vermuten lässt sich, dass der Verweis auf die unbedingte Gültigkeit des jüdisch-christlichen Symbolbestands profes­ sionstheoretische Gründe hat. In diese Richtung deutet Scharfenbergs Forderung, dass der Pastoralpsychologe erstens für die Ratsuchenden als religiöse Figur erkennbar sein muss107 und sich zweitens dem Bestand der Symbole der christlich-jüdischen Überlieferung zuzuwenden hat. Deutlich ist das Interesse Scharfenbergs, über das Modell einer triadischen Zeichenkonstellation Symbol, Referenz und Referenten im hermeneutischen Verfahren zusammenzubringen – dem religiösen Symbol traut Scharfenberg dabei zu, dass es immer neue Sinn­einheiten aus sich heraussetzt.108 Zusammenfassend lässt sich für Scharfenbergs poimenisches Konzept Folgendes formulieren: Wesentliche Aufgabe der Seelsorge ist die Ermöglichung eines Freiheitsgrundes für die Seelsorgesuchenden. Erst dieser Freiheitsgrund ist für Scharfenberg die Voraussetzung für die verantwortete ethische Entscheidung. Theologisch gesprochen bedeutet dies die Vorordnung des Evangeliums vor das Gesetz. Basierend auf dem Gespräch als seelsorglichem Grundmodell und dem psychoanalytischen Credo der Sprache als Therapeutikum expliziert Scharfenberg in einem weiteren Schritt den Zusammenhang zwischen Wort und Heilung für den Gebrauch biblischen Materials. Schließlich schärft sich dieser Blick an seiner Beschäftigung mit der Symboltheorie Alfred Lorenzers wie der Religionskritik Sigmund Freuds, so dass Scharfenberg zu einer kritischen Theorie des religiösen Symbols unter Annahme der Korrelation von anthropologischen Grunddaten und symbolisch-religiöser Sprache voranschreiten kann. Unter bewusstem Eintritt in den hermeneutischen Zirkel haben die Seelsorgenden »Ersatzspieler« und Sprachhilfe zu sein. Pastoralpsychologie wird dabei als »Theorie und Praxis entwickelter Kunstregeln integrativer Kompetenz«109 verstanden. Konstitutiv

105 Vgl. Kap. I.2.1.2. 106 Scharfenberg, J., Religion, Seelsorge und Beratung, 175. 107 Vgl. etwa: Ders., Einführung in die Pastoralpsychologie, 114 ff. 108 Apodiktisch formuliert in: Ebd., 87. 109 Ebd., 221.

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Joachim Scharfenberg: Seelsorge als symbolische Interaktion

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wichtig ist die Zirkelstruktur aller Verstehensvorgänge. Grundlegend ist dabei die  – aus der Freudschen Psychoanalyse übernommene  – unbedingte Unter­ stellung von Sinn in allen Äußerungen und Verhaltensweisen. Aufgabe der Seelsorgenden, die als religiöse Figuren erkennbar sein sollen, ist die Vermittlung zwischen symbolischen Gehalten der christlichen Tradition und der Bedürfnislage der Seelsorgesuchenden. Grundsätzlich sind in der Theorie Scharfenbergs drei Schwierigkeiten zu verzeichnen: Zum einen irritiert, dass Scharfenberg zwar aufwendig das Freudsche Religionsverständnis untersucht und eine kritische Theorie des religiösen Symbols einfordert. Letztere bleibt allerdings relativ abstrakt, weil Scharfenberg sein eigenes theologisches Religionsverständnis nicht ausreichend expliziert. So könnte man fragen, ob weitere Kriterien für eine kritische Symbolkunde außer der Überwindung von Repression und Regression theologisch ableitbar sind. Scharfenbergs Arbeiten stehen, wie viele theologische Entwürfe dieser Zeit, mit der Unklarheit ihrer theologischen Religionsbegriffsbestimmung sicherlich noch im Schatten der Dialektischen Theologie, welche das Verständnis von Religion als eigenständiges und übergreifendes, positiv bestimmbares Phänomen aushebelte. Demgegenüber ist es als Verdienst zu werten, dass Scharfenberg das Thema Religion in der oben beschriebenen Breite überhaupt beleuchtet. Man kann wohl sagen, dass Scharfenberg mit dem symbolischen Verständnis theologischer Grundannahmen (personales Gegenüber von Gott und Mensch als Grundsymbol) hinsichtlich der Verabschiedung objektiv bestimmbarer theologischer Wahrheiten sehr weit gegangen ist  – allerdings wäre eine eindeutige Bestimmung des im Hintergrund mitlaufenden Religionsbegriffs im Sinne der Transparenz wünschenswert gewesen. Weiterhin spielt zwar die Alltagsrelevanz von poimenischer Theorie und Praxis für Scharfenberg eine große Rolle: Scharfenberg fokussiert und analysiert den Beratungsalltag akribisch, dem Alltag als strukturelle Größe, die die seelsorgliche Situation wie die anderen Bereiche menschlichen Lebens durchwirkt, kommt keine weitere systematische Reflexion zu. Eingeholt wird dieses De­fizit partiell durch die schon mehrfach benannte Unterstellung von Sinn, welche so keinen Bereich des Lebens einer angenommenen Banalität ausliefert und zugleich einen metaphy­ sischen Sinn postuliert. Wie sich allerdings dieser Sinn aufbaut, und wodurch die Alltagsrelevanz – nicht zuletzt in Unterscheidung zur ›Transzendenzrelevanz‹ – ihre Berechtigung erhält, darüber bleiben die Leser und Leserinnen im Unklaren. Vermutet werden kann, dass ein metaphysischer Sinnbegriff auf Kosten eines unterbelichteten Begriffs von Alltagssinn expliziert wird. Auch bleibt Scharfen­ berg durch die enge konzeptionelle Anbindung an die Psychoanalyse Freuds einem metaphysischen Geschichtsmodell verhaftet. Dieses verstellt ihm den Blick für die Pragmatik im sinnhaften Aufbau der alltäg­lichen Lebenswelt ebenfalls. Wichtig und weiterführend ist der Gedanke der ›symbolischen Teilhabe‹ als gelingende Form symbolischer Interaktion und den daraus entwickelten Über­

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legungen zu einer seelsorglichen Hermeneutik des Symbols. Die Wichtigkeit dieses Anliegens wird noch einmal in der Beschäftigung mit dem Ansatz Alfred Schütz’ zu Tage treten. Anzufragen ist jedoch, ob die Privatisierung von Sym­ bolen im Grunde per se zu pathologisieren ist – kann doch die Privatisierung von Symbolen auch als Konsequenz der historischen Prozesse der Individualisierung und Privatisierung von Religion verstanden werden. Hier müsste sicherlich graduell unterschieden werden.

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3. Isolde Karle: Seelsorge als religiöse Kommunikation Isolde Karle entwirft ihr Seelsorgekonzept vor dem Hintergrund der Kritik an der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre, ausgewiesen an der Position Joachim Scharfenbergs, und auf der Basis systemtheoretischer Überlegungen. Poimenisch anschlussfähig sind Karles Ausführungen zur Professionstheorie, so dass diese im Folgenden zur vertieften Explikation des poimenischen Verständnisses herangezogen werden. Grundlegend für den Entwurf der poimenischen wie pastoraltheologischen Perspektive Karles ist der Rekurs auf die System­t heorie Niklas Luhmanns1: Karle liegt an der »soziologischen Aufklärung« (Luhmann) der Seelsorgelehre.2

3.1 Seelsorge zwischen Modernekritik und Inklusionsauftrag Grundsätzlich lässt sich Seelsorge  – wie auch die anderen Handlungsfelder kirchlicher Praxis – als ›religiöse Kommunikation‹ bestimmen. Dies ergibt sich in Karles Argumentation aus der Zugehörigkeit der Seelsorge zum Funktionssystem Religion: Seelsorge hat damit eine teilsystemspezifische Leistung zu erfüllen. Als Handlungsgebiet des Organisationssystems Kirche tritt sie für die Kommunikation des Evangeliums ein. Als spezifisches Handlungsfeld kirch­ licher Praxis eignen ihr besondere Chancen in der Realisierung dieser Kommunikation des Evangeliums. Dieser Zusammenhang wird im Folgenden in den Abschnitten zur Seelsorge als Funktion der Kirche, Seelsorge als religiöse Kommunikation und zur Seelsorge als Konstruktionsgeschehen weiter entfaltet.

3.1.1 Seelsorge als Funktion der Kirche Seelsorge ist, systemtheoretisch betrachtet, eine Leistung des Funktionssystems Religion bzw. des Organisationssystems Kirche. Welche Implikationen hat für Isolde Karle dieser makrosoziologische Zugriff auf das Phänomen ›Seelsorge‹? Der Wandel der Gesellschaft, ihre funktionale Ausdifferenzierung, hat, so Karle, nicht nur negative Konsequenzen für die Institution Kirche, sondern birgt einen spezifischen Chancengewinn  – sofern die Zuordnung der Leistung des 1 Vgl. Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 2; vgl. dies., Der Pfarrberuf als Profession, 32 f. 2 Vgl. Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 1 f; dies., Seelsorge in der modernen Gesellschaft, 211 ff.

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Funktionssystems Religion und gesellschaftlichen Desideraten adäquat erfolgt. Grundsätzlich problematisch erscheinen die für die moderne Gesellschaft in charakteristischer Weise stattfindenden Inklusions- und Exklusionsprozesse: Die Herausbildung der Spezifität einzelner gesellschaftlicher Bereiche sowie der Exklusivität ihrer jeweiligen Leitdifferenzen, mit denen zugleich ein spezifisches Problem universell für die ganze Gesellschaft bearbeitet wird, ruft als Kon­ sequenz die verstärkte Frage nach Inklusion und Exklusion hervor. Zwar können theoretisch alle Individuen prinzipiell an allen Funktionssystemen partizipieren und über die Assoziation von jeweils spezifischen Leitkategorien integriert werden, wie etwa unter Berücksichtigung des Mediums Geld in das Funktionssystem Wirtschaft. Real problematisch sind die Prozesse der Exklusion, welche leicht aus dem Blick geraten, zumal der Ausschluss aus einem Funktionssystem leicht zum Ausschluss aus anderen Funktionssystemen führt.3 Die totalitäre ­Logik der Inklusion führt dazu, dass das Problem der Exklusion nicht als sozialstrukturelles wahrgenommen wird – Nicht-Teilnahme an einem Funktionssystem wird individuell zugerechnet. Religion wird nun als ein Funktionssystem neben anderen verstanden, und mit ihm Kirche als entsprechendes Organisationssystem und Ort des gesellschaftlichen Vollzugs. Kirche ist ebenso Gesellschaft wie Politik, Wirtschaft etc.: »Die Kirche, der Gottesdienst, die Seelsorge sind mithin genauso Teil der Gesellschaft wie die Kunstausstellung, der Schulunterricht oder die Rechtsprechung im Gerichts­ saal.«4

Hier kommen dem Organisationssystem Kirche vor allem drei verschiedene Möglichkeiten zu, Personen zu inkludieren, die von anderen Funktionssystemen ausgeschlossen sind. Eine erste allgemeine und dabei ganz zentrale Form ist die der religiösen Kommunikation, die der Interaktion, also der Kommunikation unter Anwesenden. Eine zweite Möglichkeit sieht Karle im diakonischen und seelsorglichen Engagement der Kirche, vor allem in der Möglichkeit, bereits marginalisierte bzw. an den Rand gedrängte Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren (als Beispiele nennt sie Krankenhaus- und Gefängnisseelsorge). Drittens sieht Karle die Funktion der Kirche im Gesamtsystem in der »soziologischen Aufklärung im Sinne ihres prophetischen Amtes«5, indem die 3 Karle nennt hier als Bespiel illegalisierte Menschen, die beispielsweise keine Sozialhilfe beantragen und damit auch keine Wohnung beziehen können, ihre Kinder nicht zur Schule schicken und nicht wählen können. Vgl. Karle, I., Funktionale Differenzierung, 108. 4 Ebd., 111. 5 Ebd., 113. Karle bezieht sich explizit auf die systemtheoretische Professionstheorie Rudolf Stichwehs, welche für sie in adäquater Weise den Zusammenhang zwischen Professionsberuf und Struktur der modernen Gesellschaft beschreibt: vgl. Stichweh, R., Wissenschaft – Universität – Professionen; vgl. ders., Professionen in einer funktional differenzierten Gesellschaft.

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Isolde Karle: Seelsorge als religiöse Kommunikation

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Kirche durch eine »Kultur des Erbarmens«6 von Exklusion Betroffene gegenüber anderen Sozialsystemen stärkt und vertritt. Über die Einführung des Professionsbegriffs stellt Karle den Pfarrberuf als spezifische Leistungsrolle in dem bestimmten Funktionssystem Religion resp. Organisationssystem Kirche vor.7 Mit der Herausbildung funktional spezia­ lisierter Sachthemen ist auch für das Funktionssystem Religion eine unmittelbare Strukturabhängigkeit zur Entwicklung der funktional sich ausdifferen­zierenden Gesellschaft gegeben. Da Professionen sich im allgemeinen durch zwei Bezugsgrößen auszeichnen, nämlich einerseits durch Interaktion, Kommuni­kation unter Anwesenden, und andererseits durch Vermittlung einer Sach­t hematik8, kann Karle über die funktionale Beschreibung des Pfarramts die unbedingte Wichtigkeit der Vermittlung christlicher Inhalte, die Vermittlung des Evange­ liums von Jesus Christus, betonen.9 Die Pfarrerin kann als »soziales ­Medium der Verkündigung«10 bezeichnen werden, und zugleich betont Karle immer wieder die Formierung der professionellen Rolle, die das Funktionssystem erfordert: »Denn die Reduktion des Pfarramts auf die Selbstdarstellung der individuellen Persönlichkeit geht in erstaunlicher Naivität davon aus, dass individuelle Spontaneität, Subjektivität oder Authentizität genügt, um sich in der Heterogenität und Komplexität der vielfältigen Situationen und Anforderungen des pastoralen Berufsalltags zurechtzufinden und zu orientieren. Auf dem Hintergrund der subjektiven und zum Teil willkürlich anmutenden Selbstauslegung pastoraler Pflichten weiß so manche Gemeinde nicht mehr, was sie von ihrem Pfarrer oder ihrer Pfarrerin verlässlich erwarten kann und was nicht.«11

Formal lässt sich die Aufgabe der Professionsträger darin beschreiben, das Inklusionsproblem für das jeweilige Funktionssystem zu verwalten.12 In die Betonung der strukturellen Profilierung der pfarramtlichen Rolle ist die Kritik an der Pastoralpsychologie eingeschrieben: Hier bildet die Authentizität der Person des Seelsorgers im Gespräch eine wesentliche Grundlage für die Annahme des Gelingens der Begegnung und der Eröffnung neuer Freiheitsräume. Stattdessen, so Karle, haben Amtsinhaber und -inhaberinnen überindividuelle Verhaltens­ erwartungen zu parieren, welche zugleich – als spezifische Postulate an die Pro 6 Vgl. Karle, I., ebd. 7 Mit einem Zitat von Rudolf Stichweh (Stichweh, R., Wissenschaft, 384) führt Karle zum Professionsbegriff aus: »[V]on einer Profession [kann] nur dann die Rede sein, wenn Leistungsrollen in einem Funktionssystem verberuflicht werden und darüber hinaus ›eine bestimmte Berufsgruppe ein Monopol für die Übernahme der Leistungsrollen eines ganzen Funktionssystems erlangt.‹« (Karle, I., Der Pfarrberuf als Profession, 33.) 8 Karle, I., ebd., 41 f. 9 Vgl. ebd., 209. 10 Ebd., 236. Im Original hervorgehoben. 11 Ebd., 13. 12 Karle, I., Der Pfarrberuf als Profession, 42.

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fession – Überkomplexität reduzieren und Verantwortungsübernahme wie Auto­ nomie ermöglichen. Für die Seelsorge bedeutet dies zum einen, dass auch sie zuallererst als Funktion verstanden werden muss, welche sich an der für das gesamte Funktionssystem Religion gültigen Leitunterscheidung ›Transzendenz/Immanenz‹ orientiert. Der Orientierung an dieser spezifischen Leitunterscheidung entspricht die Vermittlung einer eigenen Sachthematik. Mit der Übernahme dieser Aufgabe, der Bearbeitung der Leitunterscheidung ›Transzendenz/Immanenz‹, erfüllt das Funktionssystem Religion bzw. die Organisationssysteme, die es ausgeprägt hat, seine spezifische Leistung für die funktional differenzierte Gesamtgesellschaft – innerhalb derer sich kein anderes Funktionssystem der Bearbeitung der dem Funktionssystem Religion eigenen Leitdifferenz primär widmet. Weiterhin liegt eine wesentliche Aufgabe der Seelsorge darin, die gesellschaftlichen Prozesse funktionaler Differenzierung und die damit einhergehenden Exklusionsvorgänge kritisch auf das Individualitätsparadigma der Moderne zu beziehen.13 Die Seelsorgenden müssen zwischen sozialen und psychischen Elementen in der Konstitution eines Seelsorgeanlasses unterscheiden können. Karle geht es vor allem um die Wahrnehmung des sozialen Kontextes resp. den Kommunikationssystemen, an denen Individuen teilhaben. Statt Konflikte und Problemlagen zu individualisieren, soll der Blick auf Strukturprobleme gelenkt werden.14 Erst diese differenzierte Wahrnehmung, dass bestimmte Phänomene sozialstrukturell bedingt sind, ermöglicht es, die Problemlage adäquat zu erfassen. Aufgabe der Seelsorge ist dann, diese über die dem Organisations­system Kirche eigenen, christlich-religiösen Sinnformen und Ressourcen zu be­arbeiten.15

3.1.2 Seelsorge als religiöse Kommunikation Seelsorge findet ihre Gestalt vor allem in religiöser Kommunikation. Mit dieser Setzung lehnt sich Karle an Niklas Luhmann an, schließt allerdings auch zu Joachim Scharfenberg auf, welcher Seelsorge als Vorgang symbolischer Kommunikation – und damit auch potentiell religiöser Kommunikation – versteht. Karle selbst möchte allerdings von der Reduktion der Sprachkraft religiöser Symbole auf die Thematisierung und Bearbeitung frühkindlicher Konflikte absehen und verweist vielmehr auf das allgemeine Störungspotential religiöser Texte und Symbole.16 Gerade die Wirkkraft biblisch-religiöser Sprache in ihrer oft un 13 Vgl. dazu ausführlicher: Kap. I.3.2. 14 Vgl. Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 223. 15 Vgl. Karle, I., Der Pfarrberuf als Profession, 221; vgl. Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 216 ff. 16 Vgl. Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 214. Es ist zu fragen, ob Karle hier nicht den Ansatz Scharfenbergs zu einseitig interpretiert. Wie in Kap. I.2. deutlich wurde, geht es Scharfen­

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Isolde Karle: Seelsorge als religiöse Kommunikation

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gewohnten Zuordnung von Signifikant und Signifikat, von Zeichenträger und Bezeichnetem, gilt es freizusetzen.17 Diese semantischen Irritationen biblischer Metaphern oder Bilder können in systemimmanenter Perspektive auch als ›Störungen‹ bezeichnet werden: Über das Spiel mit Bedeutungszuschreibungen, über verschobene Zuordnungen und Verfremdungen wird der Effekt einer neuen Perspektivierung erzeugt; alt Eingespieltes, Überkommenes wird plötzlich in Frage gestellt, Sichtweisen auf Wirklichkeitszusammenhänge neu konstelliert. Die Inhalte der christlich-religiösen Überlieferung bieten sich zur Etablierung neuer Spielregeln jenseits überkommener Verhaltensweisen und Sinnzuschreibungen an.18 Das christliche Profil nach außen zu vertreten, ist für die Seelsorge, gerade in der Situation weltanschaulichen Pluralismus’, notwendig, um sich selbst zu qualifizieren und um von außen qualifiziert werden zu können. Möglich ist dies, »[…] wenn sie sich als aktiv intervenierend versteht und weiß, dass sie in einer pluralistischen Kultur ein ganz bestimmtes Wirklichkeitsverständnis, eine ganz bestimmte ›Grammatik‹ unter vielen anzubieten hat. Sie kann und darf sich nicht weltanschaulich neutral verhalten, denn sie ist immer schon inhaltlich qualifiziert. Als explizit religiöse Kommunikation könnte sie ›störend‹ in die Selbstorganisation moderner Individuen eingreifen, in der Erwartung, damit neue Sinnhorizonte, Wahrnehmungsformen und Erwartungsstrukturen, mithin eine Distanzierung von gesellschaftlich gängigen und unhinterfragten Deutungsmustern, die als Letzthorizonte fungieren, zu ermöglichen.«19 berg gerade darum, das narrative Spektrum zur Bearbeitung von Konflikten aufzuweiten – weg von der übermächtigen Aktualität frühkindlicher Konflikte und äquivalent in Anspruch genommener Mythen (Ödipus und Narziss) hin zu einer Fülle von (auch biblischen) Geschichten und Symbolen, die sich mit anthropologischen Grundstrukturen auseinandersetzen. 17 Karle rekurriert hier vor allem auf Gerd Theißen und Wolfgang Harnisch; vgl. Karle, I. Seelsorge in der Moderne; vgl. Theißen, G., Zeichensprache des Glaubens; Harnisch, W., Die Gleichniserzählungen Jesu. 18 Sehr plausibel wird dieses Potential biblischen Materials in den gendertheoretischen Ausführungen Karles zu Gal 3,28, dem Gedanken der Neuschöpfung in Christus: Gegen eine reduktionistische Geschlechter-Dualisierung kann eine Kultur der Vielfalt, ein Leben im Geiste der Freiheit und Liebe stark gemacht werden. Karle schreibt: »Es geht […] um eine befreiende Erschließung von Erfahrungen jenseits kulturell auferlegter Zwänge, die Menschen beschädigen und deformieren, die sie nötigen, sich und die Gestalt ihres Körpers ständig der ihnen zugewiesenen Männlichkeit oder Weiblichkeit anzupassen und entsprechende Geschlechtsmerkmale, Habitus und Verhaltensformen zu kultivieren. Es geht um nichts anderes als um die Überwindung von Ausgrenzung und Repression und damit um eine Befreiungstheologie im Geist Jesu Christi.« (Karle, I., »Da ist nicht mehr Mann noch Frau …«, 233.) 19 Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 216. Im Original hervorgehoben.  – Unmittelbar vorher heißt es in Abgrenzung zur psychoanalytisch orientierten Poimenik: »Ich meine, Seelsorge wäre gut beraten, ihre Modernität und Anschlußfähigkeit nicht länger dadurch sichern zu wollen, sich inhaltlich möglichst neutral zu verhalten und sich auf das Einfühlen in individuelle Bedürfnislagen und auf das Stärken und Bestätigen von ›Ich-Stärke‹ unter Absehung sozialer Kontexte und Umwelten zu beschränken. Modern und anschlußfähig kann Seelsorge meines Erachtens heute nur sein, wenn sie religiöse Kommunikation ist […].« (Ebd. Im Ori­ ginal hervorgehoben.)

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Seelsorge hat für Karle also eine explizit religiöse deshalb zu sein, weil Seelsorge ihres eigenen inhaltlichen Potentials beraubt ist, wenn sie sich an einer Anthropologie orientiert, welche wiederum Ausfluss der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in der Moderne ist. Karle plädiert für eine grundsätzliche Selbstbescheidung der Seelsorge und Konzentration auf das ihr Eigene, das heißt dasjenige, das die christliche Seelsorge von anderen beratenden und begleitenden Institutionalisierungen unterscheidet. Karle tritt für eine Seelsorge in Gestalt explizit religiöser Kommunikation ein: Es gilt, »Konturen christlichen Lebens und christlicher Weltwahrnehmung in der modernen Gesellschaft«20 sichtbar werden zu lassen. Seelsorge als religiöse Kommunikation versteht sich als eine der vielfältigen Formen der Kommunikation des Evangeliums: Durch die Konzen­ tration auf eben diese spezifische Funktion gewinnt sie Kontur im Gegenüber zu anderen Beratungsangeboten, kann sie, so Karle, als anspruchsvolle Sinn­ anbieterin auftreten.21 Seelsorge ist, als Funktion des Organisationssystems Kirche, Adressatin bestimmter Erwartungen: Sie hat sich  – per Leistungszuweisung innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtsystems – in ihrem Vollzug an der Leit­differenz des Funktionssystems Religion – ›Transzendenz/Immanenz‹ – zu orientieren. Anders ausgedrückt: Seelsorge hat es mit bestimmten Themen zu tun, auf welche sie von Berufs wegen ansprechbar sein muss, zum Beispiel auf die Frage nach Tod und Sterben oder die Frage nach Gott. Die religiöse Kommunikation ist ihr systemisch aufgegeben. Als Material dienen ihr traditionell christliche Sinnformen wie Psalmen, Lieder, Gebete, biblische Texte. Diese Sinnformen verbinden individuelle Erfahrungen mit überindividuellen Sinnzusammenhängen, transzendieren erstere, stellen sie in einen größeren Zusammenhang. Karle sieht in der Nutzung dieser eigenen christlichen Sinnformen und Ressourcen die Möglichkeit, »Angebote der Störung und Relativierung der gesellschaftlich quasi vorgegebenen Egozentrik zur Verfügung zu stellen und nicht mit Verstärkung und Betonung von Innerlichkeit und Selbstbezüglichkeit zu reagieren.«22 Der christliche Glaube bietet die Möglichkeit, dass der Mensch sich von außerhalb seiner selbst bejaht und gewollt weiß. So kann der Mensch Distanz zu Formen der Selbstdeutung einnehmen, die die Moderne hervorbringt: Der Glaube an die Unzerstörbarkeit individueller Identität vor Gott23 kann divergierende gesellschaftliche Ansprüche umfangen und transformieren, so dass Kontingenz und Fragmentarität des menschlichen Lebens nicht als ›Defekt‹ bzw. Bedrohung angesehen werden müssen, sondern angenommen werden können.24 20 Karle, I., Seelsorge in der modernen Gesellschaft, 218; vgl. Schmidt-Rost, R., Seelsorge zwischen Amt und Beruf, 121. 21 Karle, I., Chancen der Seelsorge, 62. 22 Ebd., 64. 23 Karle, I., Seelsorge in der modernen Gesellschaft, 215. 24 Zur kritischen Auseinandersetzung mit Henning Luthers Identitätsverständnis vgl. Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 224 ff.

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3.1.3 Seelsorge als Konstruktionsgeschehen Für das Verständnis von Seelsorge als Konstruktionsgeschehen ist bei Karle die Annahme der Autopoiesis25 sozialer und psychischer Systeme grundlegend. Sie erklärt, so Karle, inwiefern Kommunikation als hochkomplexer Vorgang auf­ gefasst werden muss, an welchen nicht notwendigerweise gegenseitiges Ver­ stehen gekoppelt sein muss: Im Wesentlichen wird die Begegnung zweier Menschen, eben auch in der Seelsorgesituation, als Aufeinandertreffen zweier zwar umweltoffener, aber selbstreferentiell-geschlossener Systeme – black boxes26 – betrachtet. Daraus ergibt sich eine charakteristische Perspektive auf die Beschreibung von Wirklichkeit. Der in der Systemtheorie gebrauchte allgemeine bzw. formale Beobachtungsbegriff (»Bezeichnung anhand einer Unterscheidung«27) beschreibt nämlich immer auch eine systeminterne Operation bzw. eine operativ hergestellte Konstruktion eines Systems – anhand einer für das jeweilige System spezifischen Unterscheidung, die das System von der Umwelt unterscheidet. Das bedeutet für das Verständnis von Wirklichkeit, dass Beobachtungen immer voraussetzungs- und kategoriegebunden sind, unabhängig davon, ob es sich um Beobachtungen erster Ordnung (Beobachtungen) oder zweiter Ordnung (Beobachtungen von Beobachtungen) handelt. Wahrnehmung ist also als systeminterne Konstruktion einer systemexternen Welt aufzufassen. Insofern existiert Wirklichkeit nur als relationale Beobachtung, nicht als ontisches Gefüge, welches ›nur noch‹ erkannt werden müsste. Diese fehlende Wahrheitspräferenz in Bezug auf letztgültiges Erkennen und Verstehen von Operationen betrifft nun einerseits den Blick von außen auf ein externes anderes System. Andererseits kommt sie auch systemimmanenten Vorgängen zu und wird durch die Differenz zwischen psychischer und sozialer Autopoiesis, also zwischen Kommunikation und Bewusstsein, sowie den grundsätzlichen Intransparenzen des Bewusstseins erzeugt.28 Für die Seelsorge, bei welcher also (mindestens) zwei psychische Systeme aufeinander treffen, bedeutet dies, dass sie nicht von der Möglichkeit einer jeweiligen Einsichtnahme in die Interna der Systeme ausgehen kann. Die Annahme einer solchen Möglichkeit kritisiert Karle an der psychoanalytisch orientierten Seelsorge. Weiterhin begreift Karle unter Rekurs auf die Systemtheorie Kommunikation, also den Operationsmodus sozialer Systeme, als emergentes Geschehen. Als dreistufiger Selektionsprozess – bestehend aus Information, Mitteilung und Verstehen – kann Kommunikation nicht auf die beteiligten Einzelbewusstseine 25 Karle übernimmt den Begriff der Autopoiesis aus Luhmanns Systemtheorie, den dieser der Neuobiologie entlehnte. 26 Vgl. Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 134. 27 Luhmann unter Rekurs auf George Spencer-Browns Differenz-Logik, vgl. Kneer, G./ Nassehi, A., Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, 96. 28 Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 134 ff.

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zurück geführt werden und ist insofern selbst als geschlossen und selbstreferen­ tiell zu betrachten. Kommunikationsvorgänge – somit auch die, die im Rahmen einer seelsorglichen Situation stattfinden – sind also hochkomplexe, qualitativ neue und unableitbare Gebilde und unterliegen gerade nicht den Gesetzmäßigkeiten der Rekonstruktion.29 Mit diesen Überlegungen widmet sich Karle aus der Perspektive der Systemtheorie dem Problem des Verstehens fremder Selbstverhältnisse. Dies führt über die Beschreibung der Situation hinaus zu einem grundsätzlichen Phänomen, welches Karle im Anschluss an Luhmann »doppelte Kontin­ genz«30 nennt: Trotz einer vorhandenen Konstanz von erwartbaren Verhaltensund Kommunikationsregeln bleibt das Problem der grundsätzlichen Unbestimmbarkeit von sozialen Situationen bestehen, welche wiederum auf die bereits beschriebene Intransparenz der an einer Interaktion beteiligten psychischen Systeme zurückzuführen ist. Seelsorgende können sich also des Vorteils komplexitätsreduzierenden Verhaltens bewusst sein, allerdings nicht wissend, ob die jeweilige Handlung aufgenommen wird, und wenn sie aufgenommen wird, wie sie aufgenommen wird. Jede Form der Interaktion ist dabei als komplexitätsund unsicherhheitsreduzierend im Sinne einer Konturierung des psychischen Systems im Gegenüber zu seiner Umwelt zu denken – trotzdem: Ob Kommu­ nikation ›gelingt‹, ist nicht vorher bestimmbar oder planbar.31 Orientierend können hier gesellschaftlich vorgegebener Sinn, bewährte Muster, etablierte Rollen, Verhaltenserwartungen und Formalisierungen wirken. Das Problem der Konstruktion bzw. Rekonstruktion betrifft im Zusammenhang der Seelsorge exemplarisch die Frage von Biographie und Lebenslauf. Die Seelsorge hat mit dieser Unterscheidung vorrangig dann zu tun, wenn es um das Thema Identität und den Gesichtspunkt geht, welche Geschichte Menschen über ihr Leben erzählen.32 Karle versteht ›Lebenslauf‹ als »eine Gesamtheit von Ereignissen, Erfahrungen, Empfindungen usw. mit unendlicher Zahl von Elementen«33, ›Biographie‹ hingegen als Gestalt der Aneignung der verschiedenen Elemente des Lebenslaufs. Über Thematisierung von Lebensgeschichte, über 29 Die Einschätzung möglicher Verständigungen muss hier kritisch betrachtet werden. Gerade die an der systemischen Therapie orientierte Seelsorge – als eine Theorie, die nicht nur auf das Individuum fokussiert – betont die soziale Bedingtheit von Konstruktionen jeglicher Art und den damit möglichen Vorgang der Re-Konstruktion von Begründungen. Kommunikation ist zwangsläufig immer auch ableitbar – unabhängig von ihrem Konstruktionspotential. 30 Karle, I., Der Pfarrberuf als Profession, 108 f. 31 Karle verdeutlicht dies am Beispiel der Entstehung von Vertrauen bzw. Misstrauen als eine der wichtigsten Folgen doppelter Kontingenz, vgl. ebd., 110 f. 32 Zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Problem der Identität bei Karle vgl. Kap. I.3.2. 33 Karle, I., Seelsorge als Thematisierung von Lebensgeschichte, 205. – Das Zitat stammt von Alois Hahn, auf welchen sich Karle in der Unterscheidung von Biographie und Lebenslauf im Wesentlichen bezieht. Vgl. Hahn, A., Identität und Selbstthematisierung, 12; vgl. ders., Identität und Biographie, 140 ff.

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Prozesse selektiver Vergegenwärtigung versucht das Individuum, die biographischen Elemente in einen Sinn- und Ordnungszusammenhang zu bringen und auch hier wieder komplexitäts- und unsicherheitsreduzierend zu handeln. Der Lebenslauf bleibt, auch für das Individuum selbst, bloße Materie, welche bearbeitet werden muss, eine Form bzw. Gestalt bekommen muss, um überhaupt greifbar zu werden. Die Biographie entsteht als (eigene) Meta-Erzählung, die einem gewissen Pool von bestimmten und unbestimmten Kriterien der Konstruktion unterworfen ist. Die Kritik Karles an der Psychoanalyse und damit auch an der psychoana­ lytisch orientierten Seelsorge liegt auf der Hand: Seelsorge kann nach Karle nicht darauf aus sein kann, über eine angenommene authentische Erinnerung von Lebensgeschichte und unter Bearbeitung anthropologisch allgemeiner Grundkonflikte, Triebkonstellationen usw. ein frühkindliches Thema zu rekonstruieren, welches sich in der weiteren Lebenszeit in Variationen fortgesponnen hat. Es geht nicht um Rekonstruktion von Lebensgeschichte im Sinne einer Annäherung an eine Ich-Identität. Karle weist auch in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Individualität, und mit der Individualität die Identität des Individuums, zu erfüllende Anforderungen sind, die die gesellschaftlichen Transformationsprozesse an die Menschen der Moderne stellen. Insofern befinden sich psychoanalytische Ansätze dergestalt in einem hermeneutischen Zirkel, dass sie ihre eigenen Theorievoraussetzungen nicht reflektieren und zum Ziel erheben, was gesellschaftliches Postulat ist: die Individualisierung von Menschen voran zu treiben. Damit unterliegt die Perspektive auch der psychoanalytisch orientierten Seelsorge und der an sie anschließenden Pastoralpsychologie einer Verengung: »Es gelingt der Pastoralpsychologie nicht, die sozialen Konstituentien moderner Selbstbeschreibung zu erfassen.«34 Gerade darum geht es Karle jedoch, um die Reflexion der sozialen Bedingtheit religiöser Kommunikation. 34 Karle, I., Seelsorge in der Moderne. 148. Im Original hervorgehoben. Karle schärft ihr Verständnis von Seelsorge in direkter Auseinandersetzung mit dem pastoralpsycholo­ gischen Ansatz Joachim Scharfenbergs. Und so lautet ihre Ausgangsfrage, was seelsorglichpsychoanalytische Ansätze in Bezug auf die Individualitäts- und Identitätsproblematik zur Er­hellung der Situation austragen, in welcher sich die Menschen der Moderne angesichts der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft vorfinden. Die eigentliche Kritik Karles besteht darin, dass die Psychoanalyse, und mit ihr eben auch die psychoanalytisch orientierte Seelsorge resp. die Pastoralpsychologie, ihre eigenen Theorievoraussetzungen nicht dahingehend reflektieren, dass sie auf die Moderne selbst als Erkenntnisobjekt fokussieren. Statt dessen verbleiben sie, so Karle, unreflektiert im Horizont der Moderne. (Karle, I., Seelsorge als Thematisierung von Lebensgeschichte, 213.) Karles Kritik richtet sich im Wesentlichen auf zwei Gesichtspunkte, wie nämlich der Blick auf das Individuum und die soziale Verfasstheit geartet ist. Zum einen wirft sie Scharfenberg eine Ontologisierung anthropologischer Erfahrung vor (Karle, I. Seelsorge in der Moderne, 116.), indem ödipaler und narzisstischer Konflikt, also die psychoanalytisch angenommenen Grundkonflikte, unter Zuhilfenahme ver-

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3.2 Individualisierung als Problem der Moderne Karle konstatiert in der Einleitung zu »Seelsorge in der Moderne«, dass sich kaum poimenische Arbeiten finden, die die strukturelle Kopplung zwischen gesellschaftlichen Transformationsprozessen und Seelsorgetheorie präzise fassen bzw. überhaupt an der Zuordnung von Seelsorge und Gesellschaft interessiert sind.35 Dem möchte sie mit ihrem systemtheoretischen Zugriff entgegen treten und beschreibt als Konsequenz der gesellschaftlichen Veränderungen in der Moderne für die Menschen den Zwang zur Individualisierung. Dieser Gedankengang, welcher für Karle zur Aufgabenbestimmung der Seelsorge grundlegend ist, soll hier kurz skizziert werden.

3.2.1 Die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft und das Problem der Individualität Um die gesellschaftlichen Charakteristika der Moderne schärfer konturieren zu können, greift Karle auf Beschreibungen der Vormoderne aus: Durch eine weitgehende Kongruenz von personalen und sozialen Perspektiven wusste der alteter Rollen­k lischees verallgemeinert und zu Grunddaten folgender lebensgeschichtlicher Konflikte werden. Insofern sieht Karle hier lebensgeschichtlich auch eine determinierende Einengung der Blickrichtung, welche eben durch die bewusst vorgenommene Entdifferenzierung (»Narziss und Ödipus als die beiden psychoanalytischen ›Gucklöcher‹« [Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 115.]) eine Reflexivitätsverlust mit sich bringt. So sei schließlich überhaupt nicht mehr auszumachen, ob bei Scharfenberg von den antiken Mythen Narziss und Ödipus die Rede sei oder von den psychoanalytisch eruierten Grundkonflikten. (Um un­ nötige Dopplungen in der Ausführung zu vermeiden soll hier nur angemerkt werden, dass sich diese von Karle monierte Unklarheit bei genauerer Lektüre Scharfenbergs vereindeutigt. Die Annahme eines allgemeinen hermeneutischen Schlüssels für individuell wie sozial verfasste Konflikte impliziere darüber hinaus, neben der Auffassung, eben alle Phänomene analysieren zu können, gesellschaftliche Probleme auf innerpsychische Konflikte zurückführen zu können. Hier werde das Bewusstsein als Urheber des Sozialen gesehen, aber, so Karle: »[d]ie Gesellschaft hat keine Psyche.« (Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 120. Im Original hervorgehoben.) Und hier liegt Karles Hauptaugenmerk: auf der Beobachtung, dass Scharfenberg, in der Linie der psychoanalytischen Tradition, Lebensgeschichte v. a. individualpsychologisch, nicht sozial thematisiert und damit die sozial verfassten Problemlagen und deren Rückkopplung an das Leben individualisierter Menschen in der Moderne nicht mehr in den Blick bekommt. Insofern kann Karle auch unter Zuhilfenahme systemtheoretischer Grundannahmen kritisieren, dass Scharfenberg nicht die Relativität der eigenen Beobachtung sieht: »Die psychoanalytisch orientierte Seelsorge reagiert auf eine soziale Entwicklung, ohne sich von ihr distanzieren zu können. Sie verdeckt gleichsam ihre eigene Selektivität und übernimmt ›blindlings‹ die Selbstbeschreibungen der Moderne, von Individualität, Authentizität und Ich-Autonomie.« (Karle, I., Seelsorge als Thematisierung von Lebens­ geschichte, 212.) 35 Vgl. Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 1.

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Einzelne sich – nicht zuletzt durch das Religionssystem – in einen für ihn vorgesehenen Stand gesetzt; die Zugehörigkeit zu einem Teilsystem (und eben keinem anderen) war klar geregelt. Die stratifikatorisch differenzierte Gesellschaft war Teil eines eindeutigen kosmologischen Ganzen, welches letztlich eine umfassende Sinn-Sicherheit für die Einzelnen bedeutete und identitätsstiftenden Charakter besaß: »Die Sinnhaftigkeit der Welt als Gottes Schöpfung vermochte dem System im ganzen, über alle innergesellschaftlichen Systemgrenzen hinweg, einen Sinn zu geben.«36 Zeichen und Garantin des Erhalts dieser Ordnung war die Religion. Diese Rolle des gesamtgesellschaftlich integrierenden Moments verliert die Religion allerdings durch die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in der Moderne. Als gesellschaftliches Teilsystem neben anderen hat sich Religion nun zu etablieren und die Deutungshoheit für die Belange des gesamten Lebens aufzugeben. Zugewiesen wird dem Teilsystem Religion nur noch die Bearbeitung der Leitdifferenz ›Transzendenz/Immanenz‹. Das Problem des Individualitätsdrucks ergibt sich nun darüber, dass alle Teilsysteme mit jeweils eigenen beobachtungsleitenden Unterscheidungen (binären Codes, so genannten godterms) arbeiten: Die Beschreibung von Umwelt und Welt differiert notwendigerweise von Teilsystem zu Teilsystem, so dass keine übergreifende gesellschaftliche Semantik mehr existiert. Die ehedem einheit­ liche religiöse Selbstbeschreibung der Gesellschaft, und mit ihr der (weitgehend) einheitliche Bezugspunkt der einzelnen Menschen in ihr, weichen einer Multiperspektivität und einer Multizentrizität, welche wiederum konkurrierende Selbstbeschreibungen und pluralisierte Lebensformen mit sich bringen.37 Der Zwang zur Individualität erwächst daraus, dass die moderne Gesellschaft über ihre funktionale Differenzierung die einzelnen Menschen vor die Notwendigkeit stellt, an den verschiedenen Teilsystemen zu partizipieren, also z. B. am Wirtschafts-, Politik-, Bildungssystem. Psychische Systeme zeigen sich in dieser Perspektive als Umwelt der Gesellschaft. Die funktionale gesellschaftliche Differenzierung verlängert sich quasi in die in dieser Gesellschaft Lebenden hinein. Dividuierung bzw. Pluralisierung und der existentielle Anspruch an die Einzelnen, diese Pluralisierung für sich selbst zu integrieren, erzeugen das Phänomen moderner Individualität.38 Individualität zeigt sich vor diesem Hintergrund nicht mehr als Ergebnis eines sich autonom zu seiner Umwelt ins Verhältnis setzenden Menschen  – Individualität erscheint vielmehr als Resultat eines gesellschaftlichen Integrationsanspruchs, den es zu bewältigen gilt. Die Frage des multiplen Selbst nach dem Integrativum ist die Frage nach Identität. 36 Ebd., 8. 37 Vgl. Ebd., 11 ff; vgl. Nassehi, A., Differenz als Signum, 82. 38 Dieses Problem verschärft sich in Großstädten durch die hier vorherrschende hohe Inter­a ktionsdichte und den größeren Individualisierungsdruck: vgl. Karle, I., Seelsorge en passant, 219 ff.

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3.2.2 Inklusion und Exklusion – Aufgabe und Problem der Identitätsbildung Das Problem von Inklusion und Exklusion beschreibt das geschilderte Phänomen der modernen Gesellschaft kleinteiliger, da es sich auf den Prozess bezieht, über den sich moderne Individuen und deren Identitäten konstituieren. Karle widmet sich dem Thema vorwiegend im Rahmen ihrer professionstheoretischen Überlegungen. Insofern geht es ihr in der Beschreibung von Inklusion und Exklusion vor allem um die systemtheoretische Verhandlung des Gegenstands der Individualität, weniger um die Frage nach den Konsequenzen dieser Vollzüge für die Identitätsbildung. Dies ist aber nicht ganz unproblematisch, wie ein Blick auf Karles ›Gewährstheorie‹ zeigt. Die Systemtheorie sieht Menschen nicht als jeweils integrierte autopoietische Systeme, sondern vielmehr als Schnittstellen verschiedenster Adressanfragen und zugleich mehrerer autopoietischer Systeme (Bewusstsein, organisches System, Immunsystem, Nervensystem/Gehirn). Der Begriff der ›Person‹ konturiert sich bei Luhmann über das Bild der Schnittstelle, die Person ist Adresse sozialer Kommunikation. Individualität als Form der Selbstbeschreibung und als Be­ obachtungsphänomen im Rahmen der Autopoiesis der Gesellschaft regelt sich so über Exklusionsprozesse.39 Mit dem Begriff der Person thematisiert Luhmann also nicht die Frage einer Einheitsvorstellung vom Menschen als Ganzheit. Zudem handelt es sich bei dem Terminus Individualität auch eher um einen Beschreibungsmodus als um einen ontologischen Sachverhalt. Für Luhmann regelt sich das Phänomen Individualität nun über Exklusionsprozesse insofern, als der moderne Mensch über die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft dazu gezwungen ist, zwar einerseits das gesellschaftsstrukturell vorgegebene Muster ›Individualität‹ zu kopieren, andererseits jedoch, um sich der je eigenen Identität zu vergewissern, sich selbst Autonomie und Einzigartigkeit zuzusprechen. Individualität erscheint hier als paradoxes Phänomen: Die Selbstbeschreibung des modernen Menschen als Individualitäts-Selbstbeschreibung läuft über vorgegebene Muster – und zugleich steht der Mensch vor der existenziellen Frage, wie er sich im Unterschied zu anderen, und das unter Ausschlussverfahren, definieren kann.40 An diesem Punkt sind die Phänomene Individualität und Identität nicht 39 Vgl. Luhmann, N., Gesellschaftsstruktur und Semantik (3), 190. 40 Diesen Spannungszustand beschreibt neuerlich I. Charim im Zusammenhang der Funktion von ›Frauenzeitschriften‹ für Fragen der Selbstdeutung und -vergewisserung: »Das Besondere an diesem intendierten Endzustand [›ein bestimmte[r] Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft‹ – zitiert wird von der Autorin hier Foucault; KM] ist die Verbindung von absoluter Individualität und vorgegebener Norm. Finden Sie Ihren Typus! Die Suche nach der eigenen Individualität ist dann erfolgreich, wenn es gelingt, sich einem bestehenden Typus zuzuordnen – ihn zu repräsentieren. Beziehen solche Zeitschriften daraus ihre explizite Legitimität, so bedarf diese implizit des permanenten Scheiterns. Das

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mehr unterscheidbar. Luhmann beschreibt die Suche nach Selbstvergewisserung als Versuch des Defizitausgleichs: »Ohne ein solches Defizit bestünde überhaupt kein Anlass, die eigene Identität zu reflektieren, so wie auch umgekehrt die Reflexion das Defizit als Differenz ­zwischen dem, was man ist, und dem, was man nicht ist, produziert. Individualität ist Unzu­ friedenheit.«41

Als hochgradig problematisch erweist sich, das bemerkt auch Karle ganz deutlich, eine individuelle Zurechnung von Schwierigkeiten, die sich im Zusammenhang mit sich vollziehenden Exklusionsprozessen der einzelnen Funktionssysteme und der Mehrfachabhängigkeit dieser Funktionssysteme für die Einzelnen ergeben.42 Karle möchte nun über die Thematisierung der Konsequenzen der gesamtgesellschaftlich sich vollziehenden Exklusionsprozesse, die die einzelnen Funktionssysteme evozieren, die Inklusionsmöglichkeiten des Organisationssystems Kirche stark machen. Es zeigt sich, dass Karle den Begriff der Exklusion auf einem anderen Niveau fasst und im Grunde kaum zwischen makrosoziologisch wertfrei beschreibbaren Umständen (Exklusionsprozesse der Funktionssysteme) und den sich auf der mikrosoziologisch beobachtbaren Ebene voll­ ziehenden Prozessen der Differenzierung (Exklusion als notwendige Bedingung von Selbstvergewisserung resp. Identitätsstiftung) unterscheidet. Karle verleiht in diesem Zusammenhang ihrem Inklusionsprogramm den Titel »Kultur des Erbarmens«43: Gerade der Funktionsbereich der Religion, so Karle, ist von diesen negativen Interdependenzen ausgenommen, so dass sie hier spezifische Chancen sieht, den Exklusionszirkel zu unterbrechen, indem die Kirche etwa Exkludierte gegenüber anderen Sozialsystemen vertritt. Hierin wird der prophetische Auftrag wirksam, den die Kirche wahrnehmen kann, sofern sie Interesse an »sozioständig erneuerte Versprechen eines Zustands, der nie vollständig erreichbar ist, bedarf der immer erneuerten Informationen über Schönheit, Wohlbefinden und Gesundheit.« (Charim, I., Die Prinzessin in dir, in: die tageszeitung, 20.07.2006, 15.) 41 Luhmann, N., Gesellschaftsstruktur und Semantik (3), 243. 42 Luhmann, N., Die Gesellschaft der Gesellschaft, 625 ff. – Karle führt aus: »Ist jemand beispielsweise hoch verschuldet, ist er nicht kreditwürdig. Er darf kein Bankkonto mit eigenem Verfügungsrecht mehr führen, kann nur noch sehr eingeschränkt konsumieren und bekommt keinen Zugang zu Verträgen mehr. Er hat es darüber hinaus schwer, Arbeit zu bekommen, weil sein Lohn gepfändet wird und das für den Arbeitgeber unangenehm ist. In der Folge hat der Betroffene in aller Regel keine stabilen Intimbeziehungen mehr. Er ist sowohl medizinisch als auch im Hinblick auf seine Ernährung unterversorgt. Verliert er überdies seine Wohnung, wird er schließlich für die Gesellschaft gänzlich unsichtbar: Er ist aus allen Funktionssystemen exkludiert.« (Vgl. Karle, I., Der Pfarrberuf als Profession, 34 f.) – Zum Problem der stattfindenden Exklusionsprozesse in der modernen Gesellschaft vgl. weiterhin: Karle, I./ Degen, J., Die Diakonie und die Exklusionsprobleme, 187 ff. – Vgl. dazu auch: Dabrock, P., Inklu­sion und soziale Gerechtigkeit. 43 Karle, I., Funktionale Differenzierung, 113.

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logischer Aufklärung« hat.44 Dabei existieren zwei Möglichkeiten der Inklusion: Die eine Möglichkeit ergibt sich allgemein über (religiöse) Kommunikation, welche als Kommunikation und als Interaktion (Kommunikation unter Anwesenden) Gesellschaft ist. Das Inklusionsproblem verwalten für das Organisationssystem Kirche die Träger der Profession, also die Pfarrerinnen und Pfarrer.45 Die andere Möglichkeit der Inklusion besteht in diakonischem und seelsorg­ lichem Engagement. Die funktionssystembezogene und institutionelle Inklusion der christlichen Kirche kann dabei auf das semantische Störungspotential der christlichen Tradition zurück greifen: »In der Moderne gilt grundsätzlich, dass wir […] den Menschen helfen können, den ständigen und trivialen Bezug auf sich selbst heilsam zu unterbrechen, von der unmittel­baren Fixierung auf sich selbst zu entlasten und mit ›Jenseitigem‹ und Überindividuellem zu verbinden. Gerade die moderne Gesellschaftssituation legt es nahe, Möglichkeiten und Angebote der Störung und Relativierung der gesellschaftlich quasi vorgeschriebenen Egozentrik zur Verfügung zu stellen und nicht mit Verstärkung und Betonung von Innerlichkeit und Selbstbezüglichkeit zu reagieren.«46

Bezogen auf die Seelsorge bedeutet dies, dass sie auf die spezifischen Funktionen des Christentums Bezug nehmen muss: Mit Blick auf die Frage der menschlichen Identität kann sie darauf verweisen, dass der Mensch von außerhalb seiner selbst Zuspruch erfährt und das Kontinuum individuellen Lebens als in Gott verankert sehen kann.47 Gegen die Vorstellung von einer zu (re-) konstruierenden einheitlichen Identität plädiert Karle dafür, Differenzen wahrzunehmen und in produktivem Sinne zu erhalten. Zu dieser Kompetenz gehört die Einsicht in die Eigenselektivität der eigenen Beobachtung: »Eine selbstreflexive Seel­sorgelehre könnte mithin dafür sensibel werden, daß sie die Personen und ›Identitäten‹, die sie sieht, miterzeugt.«48 Mit Dietrich Rössler bestimmt Karle Seelsorge als »Hilfe zur Lebensgewissheit«49. Funktionssystemspezifisch kann Seelsorge dies nur sein, wenn sie die Leitdifferenz ›Transzendenz/Immanenz‹ bearbeitet und das Potential für die zu leistenden Inklusionsvollzüge der psy­ chischen wie sozialen Systeme aus dem Begriff der Transzendenz ableitet.



44 Vgl. ebd. 45 Vgl. Karle, I., Der Pfarrberuf als Profession, 42. 46 Karle, I., Seelsorge in der modernen Gesellschaft, 216 f. 47 Vgl. Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 230. 48 Ebd. 49 Rössler, D., Grundriß, 210; vgl. Karle, I., Seelsorge in der Moderne, 230.

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3.3 Religion als Vollzug der Gesellschaft Über die teilsystemspezifische Leistung der Bearbeitung der Leitdifferenz ›Transzendenz/Immanenz‹ etabliert sich das Funktionssystem Religion als notwendiger Teil  der Gesamtgesellschaft. Kein anderes Teilsystem übernimmt diese Leistung. In Abgrenzung zur These von der »unsichtbaren Religion« (Thomas Luckmann) bestimmt Karle Religion als wesenhaft sichtbar, Religion kann also nicht im Präreflexiven oder Vorsprachlichen verbleiben: Versteht man unter Gesellschaft das Gesamt aller Kommunikationen, so muss auch Religion in Kommunikation überführt werden, soll sie gesellschaftliche Relevanz besitzen. Für die religiöse Kommunikation präferiert Karle die Form der Kommunikation unter physisch Anwesenden.

3.3.1 Die Bedeutung der Interaktion zwischen Anwesenden für die religiöse Kommunikation Wie die Beschreibung der Inklusions- und Exklusionsprozesse stellt Karle auch ihre Überlegungen zur Interaktionsabhängigkeit von Religion in den Horizont ihrer professionstheoretischen Überlegungen: Der Pfarrberuf als Profession ist wesentlich durch zwei Bezugsgrößen bestimmt, einerseits durch Interaktion, andererseits durch die Sachthematik – die Verkündigung des Evangeliums.50 Interaktion wird hierbei explizit gefasst als »Kommunikation unter Anwesenden«51, und das heißt: körperlich Anwesenden. Diese Beschränkung gründet Karle auf die reformatorische Aussage, dass sich der Glaube vor allem durch das münd­ liche Wort mitteilt sowie auf den Gedanken des mutuum colloquium et consolationem fratrorum, also des Gesprächs und der Tröstung unter Brüdern, i. e. Geschwistern.52 Zum anderen erinnert Karle in diesem Zusammenhang an die unabdingbaren sozialen Voraussetzungen der Zirkulation des religiösen Bewusstseins in der Gemeinde bei Friedrich Schleiermacher.53 Dieses bezeichnet gerade die »Duplicität des Gebens und Empfangens« (Schleiermacher) im Zusammenhang jeglichen religiösen Affiziertseins – etwa im Rahmen des Gottes-

50 Karle, I., Der Pfarrberuf als Profession, 59. 51 Ebd.; vgl. dies., Volkskirche, 626. 52 Karle korreliert hier das Luther-Zitat, dass es »im Gottesdienst einzig darauf ankommt, dass »das das Wort ym Schwange gehe« (Luther, M., Ordnung Gottesdiensts, 37) mit der systemtheoretischen Einsicht »dass [das] Wort Gottes eine emergente Einheit jenseits der Bewusstseinssysteme bildet, die den Bewusstseinssystemen gegenübertritt und gerade so, als fremdes Wort, für die Bewusstseinssysteme relevant wird«. (Dinkel, Chr., Was nützt der Gottes­dienst?, 55.) 53 Vgl. Schleiermacher, F. D. E., Die praktische Theologie, 50; 65.

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dienstes, in welchem gerade innergemeindlich der Doppelprozess von Kommunikation und Wahrnehmung eine große Rolle spielt.54 Den medial vermittelten Möglichkeiten religiöser Kommunikation, wie etwa der Telefonseelsorge oder der Chat-Seelsorge stellt Karle die Begegnung leibhafter Personen gegenüber, welche verstärkt in dieser Kommunikationsform für die Glaubwürdigkeit der kommunizierten Inhalte einstehen können: »Pfarrer und Pfarrerinnen symbolisieren das christliche Programm und Wirklichkeitsverständnis konkret an ihrem Leib. Sie stellen körperlich und wahrnehmbar Religion und Kirche dar und inszenieren das Evangelium.«55 Über die einmalige Informationsressource ›Beobachtung‹ erschließen sich Räume wie Erscheinungsbild, Gestik, Mimik, Umwelt. Diese Ressource gilt gegenseitig für alle an der Interaktion Beteiligten.56 Darüber hinaus entlasten sich Wahrnehmung und explizite Kommunikation über die in der interaktiven Situation bestehende Intensivierung von Kommunikation gegenseitig, so dass feinere Differenzierungen möglich sind. Nicht zuletzt ist die Kommunikation unter Anwesenden der Ort, an dem die Frage des Vertrauens ausgehandelt wird.57 Die Verantwortlichkeit für Authentizität auf Seiten der Amtspersonen als Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit potentiell gelingender Interaktion macht Karle stark über das Bild der paulinischen Malzeichen am eigenen Körper (Gal 6,17). Hiermit präferiert sie »das hohe Anschauungspotential der Verkündige 54 Vgl. Karle, I., Der Pfarrberuf als Profession, 67; vgl. Luhmann, N., Soziale Systeme, 563. – Zum Gedanken der Emergenz des Wortes Gottes vgl. auch: Karle, I., »Praedicatio verbi dei est verbum dei«, 142 ff. 55 Karle, I., Der Pfarrberuf als Profession, 70, unter Verweis auf: Meyer-Blanck, M., Inszenierung des Evangeliums; ders., Inszenierung und Präsenz. – An anderer Stelle heißt es: »Die Möglichkeit, sich über schriftliche oder elektronische Kommunikationsmedien in distanzierter Form an Religion zu beteiligen, haben erheblich zugenommen und erlauben es vielen Christen und Christinnen, den Risiken, die die Interaktion mit sich bringt, auszuweichen.« (Karle, I., Der Pfarrberuf als Profession, 71.)  – Vgl. dazu auch: Dinkel, Chr., Face to Face, 161 ff. 56 Dass Beobachtung von Erscheinungsbild, Gestik, Mimik und Umwelt eine wichtige Ressource zur Deutung der Situation darstellt, wird niemand in Frage stellen. Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang eher die Skepsis, die Kommunikationsformen gegenüber geäußert wird, die nicht den Bedingungen der Kommunikation unter physisch Anwesenden unterliegen. Gerade hier ist die niedrigere Hemmschwelle von großer Bedeutung, um überhaupt mit einem anderen Menschen ins Gespräch kommen zu können. Diese Chance bietet etwa die Telefonseelsorge. (Vgl. u. a. Dietel, N., Anonymität und Verschwiegenheit, 104 f.) Darüber hinaus bieten Formen der Kommunikation via Internet, wie Chat-Rooms oder die ›Verkörperung‹ des eigenen Wunsches zur Kommunikation als Avatar in Second Life etc. die Möglichkeit, in einem geschützten Rahmen Facetten der eigenen Identität (spielerisch) zu erproben. Man sollte diese Formen der Kommunikation nicht abwerten, bevor man nicht ihre realen Chancen ausgelotet hat. 57 Vgl. Karle, I., Volkskirche 626 f; vgl. Karle, I., Pfarrerinnen und Pfarrer, 630; 634. – Zur Frage der professionsethischen Verhaltenszumutungen und -erwartungen vgl. Karle, I., Der Pfarrberuf als Profession, 72 ff; 108 ff.

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rin bzw. des Verkündigers«58 als ein »nicht zu unterschätzendes soziales Medium für den christlichen Glauben«59. Gleichzeitig ist es Karle wichtig zu betonen, dass gerade die Störanfälligkeit von direkter Interaktion (aufgrund der episodenhaften und nicht planbaren Kommunikation) die Professionsträger und -­trägerinnen dazu herausfordert, nicht nur auf die eigene pastoralpsychologische Analyse zu blicken, sondern vielmehr über die Entwicklung von Kunstregeln (Schleier­macher) zu einer orientierenden und differenzierten Berufsethik zu gelangen.60

3.3.2 Zur Physiognomie der Religion Im Unterschied zum Unterfangen, der Individualisierung und der Privatisierung von Religion als notwendig neu entstandener Formen von Religion in der Moderne nachzugehen, legt Karle Wert darauf, die »markante Physiognomie der Religion«61 anhand eindeutiger Kriterien auszuweisen. Im Wesentlichen gründet sie ihre Überlegungen dabei auf die systemtheoretisch formulierte Leitunterscheidung ›Transzendenz/Immanenz‹ sowie die damit bestimmbare Leistung des Funktionssystems für die Gesamtgesellschaft. Folgerichtig bestimmt Karle Religion und Kirche als Vollzug der Gesellschaft.62 In bewusster Absetzung von den religionssoziologischen Ausführungen Thomas Luckmanns63 sieht Karle den Vorteil der Religionstheorie Niklas Luhmanns vor allem darin, dass jener »nicht vom Menschen aus[geht], sondern von der Gesellschaft und damit gewissermaßen vom Sichtbaren.«64 Das Sichtbare ist es auch, welches Karle Religion in der Kommunikation, also in der sozialen Interaktion verorten lässt. Nun lässt sich doch – zumindest für Karles Adaption des Luhmannschen Ansatzpunktes für die Bestimmung von Religion – kritisch anfragen, ob denn ›die Gesellschaft‹ als Abstraktum sichtbarer ist als konkrete Menschen, und ob die Bestimmung von Religion nicht immer anthropologisch fundiert sein muss. Die Systemtheorie versteht nun Gesellschaft als Gesamt aller Kommunika­ tionen eines Sozialsystems; Gesellschaft und Kommunikation können nicht ohne Verweis aufeinander bestimmt werden. Daraus folgt: »Alle nichtkommu 58 Karle, I., Der Pfarrberuf als Profession, 70. 59 Ebd. 60 Ebd., 71 f. 61 Karle, I., Die markante Physiognomie, 305. – Karle lehnt sich mit der Formulierung an ein Schleiermacher-Zitat an: vgl. Schleiermacher, F. D. E., Über die Religion, 297. 62 Vgl. Karle, I., Die markante Physiognomie, 308 – unter Veweis auf: Luhmann, N., Die Gesellschaft der Gesellschaft, 90. 63 Vgl. neuerlich und unter Rekurs auf D. Pollacks Fassung der Säkularisierungstheorie: Karle, I., Kirche im Reformstress, 17 ff. 64 Karle, I., Die markante Physiognomie, 306.

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nikativen Sachverhalte und Ereignisse, auch wahrnehmende Bewusstseinssysteme, gehören in die Umwelt der Gesellschaft.«65 Kommunikationen stellen, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, emergente Einheiten dar. Bezogen auf das Phänomen der Religion bedeutet dies, dass diese nur eine gesellschaftliche Existenz – man könnte auch Relevanz sagen – hat, wenn sie in kommunikative Akte überführt wird. Fraglich ist, ob es genügt, hier einfach eine Unterscheidung zu subjektivitätstheoretischen Positionen anhand des Sichtbarkeitskriteriums zu formulieren, wie Karle das tut.66 Wichtig scheint, die berechtigte Differenz ­zwischen Religion und Religiosität aufrecht zu erhalten: Religion bleibt in dieser Unterscheidung die sozial werdende Manifestation des Religiösen als subjektive Bewusstseinsprozesse. In dieser Perspektive muss ein Phänomen nicht gegen das andere ausgespielt werden. Auch hier kann gelten, dass »es erst durch Kommunikation und damit durch bestimmte Sprachmuster möglich wird, innerem Er­ leben einen spezifischen Sinn zu geben und es damit auch erst als religiöses zu definieren und für andere zugänglich zu machen.«67 Völlig zu recht kritisiert Karle die Hypostasierung von Religion bzw. Kirche im Gegenüber zu Gesellschaft – Religion und Kirche sind elementar als Teile der Gesellschaft zu verstehen: Religion als Funktionssystem und Kirche als eines (!) seiner Organisationssysteme. Die Rationalität des Religionssystems lässt sich, in Unterscheidung zu anderen Funktionssystemen mit je eigenen Systemrationalitäten, als Kontingenzbewältigung in ihrer charakteristischen Bezugnahme auf die Leitdifferenz ›Transzendenz/Immanenz‹ fassen. ›Transzendenz‹ bestimmt Karle nun, unter Rekurs auf Luhmann, als »Zweitsinn, als eine komplette, nichts auslassende Zweitfassung der Welt«.68 Indem die Deutungsperspektive mit Blick auf das Phänomen der Transzendenz in »einem gewissermaßen jenseitig oder göttlich gedachten Standpunkt« verortet wird, ist es leicht, erneut – und damit die Tradition der Dialektischen Theologie aufgreifend  – eine (scharfe) Trennlinie zwischen Theologie und Anthropologie einzuziehen. Im Zusammenhang des Versuchs, Systemtheorie und Dialektische Theologie miteinander ins Gespräch zu bringen, schreibt Karle: »Damit ist genau der Sachverhalt gemeint, den Thurneysen so treffend beschreibt: Die Erfahrungen, die ein Mensch in der Welt macht, werden nicht einfach rein imma 65 Ebd. 66 Vgl. hierzu: »Es gibt eine breite Tradition in der Theologie und der Religionswissenschaft des 19. und weitgehend auch des 20. Jahrhunderts, die das ganz anders gesehen hat und das religiöse Kerngeschehen exklusiv im Subjektiven, sozusagen auf der Innenseite der Person verortet und damit primär innerlich in bewusstseinsbezogenen Kategorien beschrieben hat und noch beschreibt.« (Ebd., 307.) 67 Ebd. Im Original hervorgehoben. Karle bezieht sich hier auf Tyrell, H.,/Krech, V./ Knoblauch, H., Religiöse Kommunikation, 18. 68 Luhmann, N., Ökologische Kommunikation, 186; Karle, I., Die markante Physiognomie der Religion, 309.

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nent wahrgenommen und interpretiert, sondern ›von Gott her‹. Die Wirklichkeit wird gleichsam aus einer Perspektive jenseits ihrer selbst gesehen und kommunikativ verdoppelt. Es wird ihr ein Sinn gegeben, den sie sich nicht selbst geben kann.«69

Für die christliche Religion und ihre Professionsträger bedeutet all dies: sich zu besinnen auf die eigene Tradition und der Aufgabe nachzukommen, die Botschaft des Evangeliums den modernen Zeitgenossen zu verkündigen. Die Eigenrationalität und, damit verbunden, das Störpotential der biblischen Erzählungen und Motive bergen die Möglichkeit, die »radikale Verdiesseitigung des Denkens und Empfindens«70 zu irritieren und die Selbstbezüglichkeit moderner Individuen zu unterbrechen71: Die theologische Verantwortung besteht hier in der 69 Dies., Seelsorge im Horizont der Hoffnung, 170. Im Original nicht hervorgehoben. – Fraglich ist, inwieweit Karles Bestimmung, dass der »Wirklichkeit ein Sinn gegeben [wird], den sie sich nicht selbst geben kann« mit der Annahme der Systemtheorie ernst macht, dass Sinn sich nur selbstreferentiell bestimmt bzw. bestimmen lässt. Vgl. dazu etwa: Schützeichel, R., Sinn als Grundbegriff, 12 ff; 266. – In der Linie des angeführten Zitats positioniert sich Karle einerseits auch im Zusammenhang ihrer Überlegungen zu zum Thema ›Heil‹/›Heilung‹ bzw. ›Krankheitsdeutung‹ in der gegenwärtigen Gesellschaft. Sie schreibt: »Es fällt Menschen der Gegenwart durch die hochgetriebene Individualisierung schwerer denn je, ihre eigene Endlichkeit zu akzeptieren. Versteht sich der Mensch aber nicht nur als rein immanente Existenz, sondern als Geschöpf Gottes und weiß das irdische Leben im Licht der Transzendenz zu interpretieren, dann fällt es leichter, die eigene Endlichkeit wahrzunehmen und zu akzeptieren.« (Karle, I., Sehnsucht nach Heil, 555.) – Zum anderen gewinnt ein Zug in ihren Überlegungen an Gestalt, der wiederum an die Auseinandersetzung Henning Luthers mit dem Problem des Sinns erinnert (vgl. Kap. II.4.4.). Karle proklamiert mit Blick auf seelsorgliches Arbeiten die Angemessenheit eines Aushaltens der Sinnlosigkeit. Unter Rekurs auf M. ­Josuttis (»Glaube [ist] nicht Kraft zur Sinndeutung, sondern […] zum Verzicht auf Sinndeutung in religiöser Hinsicht.« [Josuttis, M., Sinn der Krankheit, 130.]) plädiert sie zur Zurückhaltung, den Sinnbegriff in einem objektiv-emphatischen Sinne zu instrumentalisieren. Ähnlich wie Luther unternimmt es Karle jedoch nicht, den Sinnbegriff lebensweltlich-funktional zu fassen und somit in gewisser Weise für die seelsorgliche Arbeit ›zu retten‹ (auch die Deutung des Leidens als sinnloses Leiden ist eine Sinndeutung). Wie leicht dann doch wieder herkömmliche Muster setzender theologischer Rede zum Tragen kommen, zeigt das abschließende Resümee Karles: »In sich selbst haben Krankheiten keinerlei Sinn, aber sie können im einen oder anderen individuellen Fall durchaus als sinnvoll und damit als Chance erfahren werden. Dass dies geschieht, ist nicht erwartbar. Wenn es geschieht, ist es Gnade.« (Karle, I., Sinnlosigkeit aushalten!, 34. Im Original nicht hervorgehoben.) 70 Karle, I., »Erzählen Sie mir was vom Jenseits.«, 334. 71 Vgl. ebd., 348: »Es fällt Menschen der Gegenwart durch die hochgetriebene Individualisierung schwerer denn je, ihre eigene Endlichkeit zu akzeptieren. Der individualisierte Mensch, der letztlich keine andere Sinninstanz als sich selbst mehr kennt, kann seine Endlichkeit nicht denken. Er strebt nach immer mehr Erfüllung, nach immer aufregenderen Erlebnissen und Events, um sich selbst zu verwirklichen und den Sinn seines Lebens zu finden. Viele Menschen verstehen sich deshalb heute nicht mehr als endliche Geschöpfe, die mit den Grenzen des alltäglichen Lebens, den Grenzen ihrer Fähigkeiten und Erkenntnismöglich­keiten, mit den Grenzen ihres Lebens überhaupt und damit mit seiner Endlichkeit zu leben wissen.« – An anderer Stelle geht Karle so weit, von »narzisstischer Selbstgenügsamkeit« zu sprechen, vgl. Karle, I., Die markante Physiognomie, 306.

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»Pflege machtvoller Bilder und Metaphern«72: Die Professionellen des Organisationssystems sollen eine Symbolkompetenz besitzen, die den Gesprächspartnern und Gesprächspartnerinnen die Möglichkeit gibt, sich in ihren existentiellen Bedürfnissen im Symbolbestand der christlichen Tradition aufgehoben zu wissen. Die Professionellen sollen in Form symbolischer Rede ansprechbar sein. Zusammenfassend lässt sich für Karles poimenisches Konzept folgendes formulieren: Wesentliche Aufgabe der Seelsorge ist religiöse Kommunikation. In dieser Bestimmung fallen Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung zusammen, denn es ist die dem Teilsystem Religion – und damit auch dem Organisationssystem Kirche – quasi gesamtgesellschaftlich vorgegeben, die Leitdifferenz ›Transzendenz/Immanenz‹ zu bearbeiten. Die für Professionen charakteristische Ausrichtung an der Vermittlung einer spezifischen Sachthematik findet in der Seelsorge ihren Inhalt im Evangelium von Jesus Christus. Seelsorge hat sich dabei in ihrem praktischen Vollzug an dem Symbolbestand der christlichen Tradition zu orientieren. Zugleich ist es ihre Aufgabe, eine moderne Anthropologie zu kritisieren, die Individualität und Selbstbezüglichkeit der Menschen forciert. Kategorien für diese Kritik sind aus der christlichen Tradition zu entwickeln. Seelsorge engagiert sich im Sinne eines diakonischen wie prophetischen Amtes an der Inklusion von Menschen, deren Lebensgrundlagen – materiell wie immateriell – durch die Exklusion aus anderen gesellschaftlichen Teilgebieten bedroht sind. Es bleibt, einige kritische Anfragen an Karles Religionstheorie zu stellen. Die wichtigste wäre sicherlich, ob die hier geleistete Verbindung von Systemtheorie und poimenischer Absicht so recht überzeugt. Mit der Luhmannschen Theorie begegnet der poimenischen Fragestellung eine makrosoziologische Theorie, deren Anwendbarkeitsgrenzen auf mikrosoziologische Belange evident ist: Der Mensch als Individuum spielt für Luhmann nur eine marginale Rolle und wird viel eher nur als Umwelt der Sozialwelt angesehen, sozusagen als Beobachter. Unter Zuhilfenahme der Systemtheorie kann Karle plausibilisieren, inwiefern für die Professionellen des Organisationssystems Kirche ein Rekurs auf das eigene (traditionelle) Profil im Zusammenhang der Multizentrizität der modernen Gesellschaft sehr sinnvoll ist. Weitgehend unbeantwortet bleibt die Frage nach dem ›Wie‹, also die Frage nach der Vermittlung. Gegeneinander gestellt bleiben das störende, und damit heilsame Potential der christlichen Tradition und die selbstbezüglichen Individuen der Moderne, um es etwas holzschnittartig auszudrücken. Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang, dass Karle nicht die Bedingungen der Konstitution von Sinn reflektiert: Eine Interpretation menschlicher Erfahrungen ›von Gott her‹ wie die Annahme, dass der Wirklichkeit aus dieser Perspektive ein Sinn gegeben werden kann, den sie sich nicht selbst geben kann wirft notwendig die Frage nach den Konstitutionsbedingungen von Sinn auf.

72 Vgl. Karle, I., »Erzählen Sie mir was vom Jenseits.«, 346.

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Dieses Vermittlungsproblem bleibt auch mit Blick auf das diakonische Engagement der professionell Handelnden bestehen: Welche Strukturen Inklusionsvorgänge haben müssen, damit sie nicht bevormundend wirken, auch die Frage, wie die Transformation unbestimmter in bestimmte Komplexität – welches nach Luhmann wesentlich die Funktion der Religion ist – stattfinden soll, inwiefern Religion die Kontingenz der letzten, fundierenden Reduktionen, welche das Gesellschaftssystem leistet, bearbeitet, beantwortet Karle meines Erachtens nicht befriedigend.73 Die stark an institutionstheoretischen Überlegungen orientierten Ausführungen scheinen keine Kapazität mehr für die Wahrnehmung individualisierter und privatisierter religiöser Phänomene in ihrer eigenständigen Legitimation zu haben.74 Eine letzte Bemerkung schließt sich an, welche in den 73 Nur angedeutet sei das Problem, dass der Transfer von Makro- zu Mikrosoziologie in der Systemtheorie über den Beziehungstypus ›Leistung‹ läuft: Luhmann kennt drei Beziehungstypen hinsichtlich der Orientierungsformen des Religionssystems: Funktion, Leistung und Reflexion. (Luhmann, N., Funktion der Religion, 56 ff.) Während sich die Evidenz des Funktionssystems Religion in seiner Funktion für das Gesamtsystem Gesellschaft erweist, spiegelt es sich auf der Reflexionsebene in der Wissenschaft der Theologie. Die Leistung des Funktionssystems Religion zeigt sich in der Beziehung zu anderen gesellschaftlichen Teil­ systemen (aber nach Luhmann auch zu personalen Systemen) in der Diakonie: »Die Leistungen für andere Teilsysteme wollen wir Diakonie nennen. Für Diakonie ist bezeichnend, dass sozialstrukturelle Probleme in personalisierter Form, also an Personen wahrgenommen werden (und das heißt in gewisser Weise natürlich auch: nicht als sozialstrukturelle Probleme wahrgenommen werden). Diese Wahrnehmungsweise ermöglicht es dem Religionssystem, Zuständigkeiten für ›Restprobleme‹ oder Personbelastungen und Schicksale in Anspruch zu nehmen, die in anderen Funktionssystemen erzeugt, aber nicht behandelt werden. Sie schirmt das Religionssystem außerdem durch allzu starke Interferenzen mit anderen Funktionssystemen – zum Beispiel gegen die Versuchung einer diakonischen Umverteilung des Eigentums, einer diakonischen Außenpolitik, Konjunkturpolitik, Forschung usw. ab.« (Luhmann, N., Funktion der Religion, 58. Im Original hervorgehoben. Vgl. Karle, I./Degen, J., Die Diakonie und die Exklusionsprobleme, 195 ff.) 74 Im Wesentlichen kritisiert Karle vor allem an den frühen religionssoziologischen Arbeiten Thomas Luckmanns einerseits das weit gefasste, funktionale Religionsverständnis, andererseits die Hypostasierung des autonomen Individuums. Karle verwehrt sich gegen die Immanentisierung der Transzendenz und gegen die Verweltlichung des religiösen Geschäfts: Für sie ist der Verweis auf Gott oder das Unbedingte das Transzendente – welches etwas kategorial Anderes zu bezeichnen scheint als Selbsttranszendenz. (Vgl. Karle, I., Die markante Physiognomie, 305.) Fraglich ist, ob Karle in ihren Ausführungen zu Luckmann dessen Ansatz der phänomenologischen wie genetischen Transzendenzen gerecht wird. Viel wichtiger scheint es zu sein, sich gegenüber einer Praktischen Theologie abzusetzen, welche sich »[…] bei der Beantwortung dieser Frage [der Frage nach Religion; KM] weithin dem Religionssoziologen Thomas Luckmann angeschlossen [hat], der in den sechziger Jahren einen sehr weiten und elastischen Religionsbegriff in die Diskussion einbrachte. […] Transzendent ist vielmehr alles, was die unmittelbare lebensweltliche Erfahrung überschreitet, was also Selbstreflexion ermöglicht. Jede Form der subjektiven Weltsicht und Weltanschauung hat für Luckmann mithin religiösen Charakter.« (Vgl. ebd.) – Faktisch wendet sich Karle hier vor allem gegen die kulturtheoretisch fundierte Praktische Theologie und kritisiert die (scheinbar unkritische) Zugewandtheit zu Phänomenen individualisierter Religiosität.

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Gesamtzusammenhang der Bestimmung von Religion gehört: Da Karle sich der Frage, wie Religion nun zureichend beschrieben werden kann, unter Zuhilfenahme der Systemtheorie nähert, wird das Phänomen vorwiegend institutionstheoretisch gefasst: Was leistet das Funktionssystem Religion für die Gesellschaft bzw. die anderen Teilsysteme und für die an ihm Teilnehmenden? Da Karle in den allermeisten Passagen nicht deutlich zwischen Funktionssystem und Organisationssystem Kirche unterscheidet, entsteht sehr leicht der Eindruck, dass beides für sie identisch ist.75 Wird eine solche Lesart nahe gelegt, ergeben sich daraus zahlreiche Fragen mit Blick auf den religiösen Pluralismus in der modernen Gesellschaft. Verdeckt wird so auch das Konkurrenzproblem zwischen dem Organisationssystem Kirche – und auch hier existieren ja bei genauerer Betrachtung unter der Bezeichnung ›christlich‹ verschiedene, von einander zu differenzierende Organisationssysteme – und anderen nicht-christlichen Organisationssystemen. Hinsichtlich der staatlichen Privilegien entscheiden die christlichen Organisationssysteme immer noch die Konkurrenzsituation für sich. Aufgrund dieser Unklarheiten in der Ausführung wird auch die Frage nach Zivilreligion bei Karle nur mit dem Verweis gestreift, dass Zivilreligion auf die kirchliche Religion verwiesen bleibt.76 Grundlegende Arbeit hat Karle mit Blick auf ein Gespräch mit soziologischer Theorie von theologischer Seite geleistet. Es wird deutlich, dass solche Gespräche für die Theologie von heuristischem Wert sind und mitnichten ›das Eigene‹ der Theologie an den Rand drängen. Karle zeigt, dass es von gesellschaftlicher Relevanz ist, wenn das Organisationssystem Kirche die ihm zugewiesene Aufgabe der religiösen Kommunikation  – nach innen wie nach außen  – wahrnimmt. Während die konkrete Intersubjektivität, als Kommunikation unter Anwesenden, wesentlich für Karles Konzept von religiöser Kommunikation ist, reflektiert sie allerdings kaum auf den konkreten Ort der Intersubjektivität, den Alltag.

75 Dieser Problemzusammenhang könnte durch einen Verweis auf den epistemologischen Vorbehalt der Systemtheorie abgeschwächt werden: Für das Verständnis von Wirklichkeit gilt immer, dass Beobachtungen voraussetzungs- und kategoriegebunden sind, unabhängig davon, ob es sich um Beobachtungen erster oder zweiter Ordnung handelt. Das gilt auch für die christliche Theologie. 76 Vgl. Karle, I., Die markante Physiognomie, 312.

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4. Henning Luther: Seelsorge im Angesicht des Anderen Mit Henning Luther wird der Alltag überhaupt erst Thema in der neueren Seelsorgelehre. Diejenigen Arbeiten, die in der Folge zum Thema veröffentlicht werden1, beziehen sich auf Luthers vorangegangene Problemskizzen. Sein besonderes Augenmerk richtet Luther auf das Verhältnis zwischen Alltag und Religion, und als virulente – und bei Luther nicht eindeutig geklärte – Frage kristallisiert sich in der Beschäftigung mit der Verhältnisbestimmung von Religion und Alltag diejenige nach der menschlichen Sinnkonstitution heraus: Was ist Sinn? Wer hält für wen mit welcher Intention Sinn bereit? Existiert Sinn frei von Ideologie? Wie kann Seelsorge von Sinn sprechen? In Luthers posthum erschienener Aufsatzsammlung »Religion und Alltag« verdichten sich die Gedankengänge zum Problemdreieck Religion-Subjekt-Alltag; immer wieder eingespielt wird die Frage der Intersubjektivität, welche der Prüfstein für die praktisch-theologische Theoriebildung ist. Die Rede von der ›fragmentarischen Identität‹ ist, im Anschluss an Henning Luther, in der Praktischen Theologie in den letzten zwanzig Jahren regelrecht populär geworden. Das folgende Kapitel wird versuchen, die Gedankengänge Luthers mit Blick auf die Fragerichtung der vorliegenden Arbeit zu systematisieren: So schließt sich Überlegungen zum Seelsorgeverständnis, zum Identitätsverständnis und Religionsverständnis ein Kapitel zur Auseinandersetzung mit der Frage nach der Kon­stitution von Sinn an. Henning Luther kommt immer wieder auf das Problem der Sinns zu sprechen. Die Art, wie er auf dieses zugeht, bestimmt, wie sich zeigen wird, seine Verhältnisbestimmung von Religion und Alltag – und damit auch seine Verhältnisbestimmung von Seelsorge und Alltag.

4.1 Das Verwiesensein der Seelsorge auf die konkrete Alltagswelt Charakteristisch für Luther ist die starke ethische Grundierung seiner poime­ nischen Überlegungen. Vor allem in Auseinandersetzung mit der Philosophie Emmanuel Lévinas’ entwirft Luther das Bild einer seelsorglichen Verantwortung, die dem Seelsorgesuchenden das ethische Primat zuspricht. Seelsorge kann so nur die Gestalt einer diakonischen Seelsorge annehmen. Dabei sieht sie ihre Aufgabe darin, das Selbst-Sein-Können des Anderen zu fördern und zu stärken.



1 Vgl. Kap. 1.2.3.

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4.1.1 Seelsorge als diakonische Seelsorge: grundlegende Aufgabe kirchlicher Praxis Der 1988 erscheinende Artikel »Diakonische Seelsorge« skizziert grundlegend Luthers Seelsorgeverständnis: Alle seine weiteren zum Thema der Seelsorge veröffentlichten Schriften lassen sich in diese Skizze eingliedern. Luther setzt mit diesem Artikel eine Positionsmarkierung: Für die eigenen theologischen Überlegungen exemplarisch, wird das Idiom »Diakonische Seelsorge« mit diesem Artikel populär.2 Der Gedanke der Diakonie durchzieht sämtliche Veröffentlichungen Luthers, sei er nun explizit gemacht oder im Sinne der Vorstellung eines herrschafts­k ritischen Einander-Dienens sinngemäß ausgeführt. Diakonisches Engagement bedeutet Parteinahme für den Einzelnen gegen alle Faktoren, die den Einzelnen der Freiheit berauben, welche dieser zur eigenen Entfaltung braucht: »Diakonische Seelsorge ist solidarisch-helfende Zuwendung zum je individuell einzelnen in befreiender Absicht zugunsten des einzelnen unter konstitutiver Berücksichtigung seines sozialen und gesellschaftlichen Kontextes.«3

Luther tritt einer inhaltlichen wie methodischen Trennung von Seelsorge und Diakonie entgegen, welche dualistische Spaltungen wie die zwischen Wort und Tat, Glaubenshilfe und Lebenshilfe, Seelsorge und Fürsorge produziert, sowie individuelle und sozial verfasste Aspekte auseinander reißt. Diakonische Seelsorge ist eine Realisationsform der Kommunikation des Evangeliums. Als solche richtet sie sich nicht im Diesseits ein, drängt Seelsorgesuchende nicht in die Defizitperspektive ab4, nimmt gesellschaftliche Dysfunktionen nicht fraglos hin. Diakonische Seelsorge ist an den »Rändern des Lebens«5 tätig. Sie unterscheidet qualitativ nicht mehr zwischen dem anthropologischen Grunddatum der prinzipiellen Hilfs- und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen und konkreten Situationen, in welchen diese Bedürftigkeit virulent werden – also den Krisenmomenten des menschlichen Lebens. Indem Luther seine Überlegungen zur Situation des Einzelnen stets an so­ziale und gesellschaftliche Problemzusammenhänge zurück bindet, hebt er sich bewusst von einem Verständnis von Diakonie ab, welches unsystemisch Leid individualisierend fokussiert. Diakonie, und damit auch Seelsorge, kann nach Luther niemals unter Vernachlässigung der gesellschaftsstrukturellen Kom­ponente 2 Bereits 1982 veröffentlicht Wolfgang Finger einen Artikel mit ähnlich lautendem Titel (vgl. Finger, W., Seelsorge als Diakonie.); der fixe Ausdruck »diakonische Seelsorge« gewinnt allerdings erst mit dem Artikel Luthers an Aufmerksamkeit. 3 Luther, H., Diakonische Seelsorge, 476. 4 Vgl. Kap. I.4.1.2. 5 Luther, H., ebd., 476.

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Henning Luther: Seelsorge im Angesicht des Anderen

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dem privaten oder individuellen Christentum zugerechnet werden.6 Darüber hinaus wird die Ansicht abgelehnt, Diakonie rein funktional unter ihrem Leistungsaspekt für andere gesellschaftliche Teilsysteme verrechnen und sie damit gleichsam auf ihre ausschließliche Kompensationsfunktion reduzieren zu können.7 Diakonische Seelsorge wendet sich dem einzelnen Menschen zu: Dieser ist unter keinem Vorzeichen theoretisch wie praktisch zu instrumentalisieren, er ist weder verrechenbar noch austauschbar. Diakonisch-seelsorgliches Handeln ist konstitutiv für die Gesamtheit kirch­ licher Praxis: Daraus ergibt sich eine Perspektivverschiebung, die sich als folgenreich für den gesamten Kanon der Praktischen Theologie erweist. Die geistige Nähe zu Gert Otto, mit dem die Kritische Theorie Einzug in die Praktische Theologie hält, tritt im gemeinsamen Interesse hervor, die ekklesiologische Verengung der Disziplin zu überwinden.8 Luther entwirft jedoch kein neues System der Praktischen Theologie, sondern schafft vielmehr mit Subjektorientierung und gesellschaftsstrukturell-kritischem Grundtenor eine inhaltliche Leitper­ spektive, die für jedes praktisch-theologische Handlungsfeld gelten soll.9 Bereits in seiner Arbeit zur Praktischen Theologie Friedrich Niebergalls10 formuliert Luther den Ausblick, dass der Rückbezug auf das Subjekt zum kritischen Maßstab der praktisch-theologischen Reflexion werden muss.11 Mit diesem Ansinnen ist Luther allerdings in den achtziger Jahren nicht allein: Exemplarisch ist auf den Entwurf Dietrich Rösslers der »dreifachen Gestalt des Christentums in der Neuzeit«12 (der Einzelne – die Kirche – die Gesellschaft) zu verweisen. Luther überwindet die, aus mikrosoziologischer Perspektive gesehene, Grobmaschigkeit und relative Unflexibilität der Systemtheorie Luhmanns, indem er auf das Angewiesensein auch von Systementscheidungen auf soziale Geltung verweist. Damit wird der Aspekt der grundlegend sozialen – also konkret inter 6 Luther wendet sich hier etwa gegen Dietrich Rössler, der in seinem »Grundriß der Praktischen Theologie« Diakonie wie Seelsorge unter dem Gliederungspunkt »Der Einzelne« verhandelt; vgl. Rössler, D., Grundriß, XIIf. 7 Vgl. Luhmann, N., Funktion der Religion, 26; vgl. Luther, H., Religion und Alltag, 56 ff. 8 Man erinnere Ottos Definition der Praktischen Theologie: »Praktische Theologie ist nicht Theorie des Handelns der Amtskirche, sondern: Praktische Theologie ist kritische Theorie religiös vermittelter Praxis in die Gesellschaft.« Vgl. Otto, G., Grundlegung der Praktischen Theologie, S.  21 f; vgl. allgemein zur Rolle der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule innerhalb der Praktischen Theologie: Heyl, A. von, Praktische Theologie und Kritische Theorie. 9 Besonders explizit hat Luther die Konsequenzen der subjektorientierten Betrachtungsweise für die Handlungsfelder der Religionspädagogik und Homiletik gemacht. Vgl. Luther, H., Religion, Subjekt, Erziehung; ders., Sache oder Subjekt?; ders., Predigt. 10 »Religion, Subjekt, Erziehung. Grundbegriffe der Erwachsenenbildung am Beispiel der Praktischen Theologie Friedrich Niebergalls« (1984). 11 Vgl. Luther, H., Religion, Subjekt, Erziehung, 273 ff. 12 Rössler, D., Grundriß, 90.

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subjektiven – Verfasstheit menschlich-gesellschaftlichen Lebens betont und auf die Interdependenz von System und Subjekt, Funktion und Bedeutung, Abstraktion und Kommunikation aus subjekttheoretischer Perspektive verwiesen. Unter Rekurs auf Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns verweist Luther auf die Möglichkeit auch für Diakonie und Seelsorge, letztlich für die Praktische Theologie wie die kirchliche Praxis insgesamt, ihre Anliegen in die gesellschaftlichen Diskurse einzubringen. Das Interesse der Praktischen Theologie wie der kirchlichen Praxis unter dem Vorzeichen diakonisch-seelsorglichen Engagements sollte darin bestehen, sozialstrukturelle Problemzusammenhänge zu thematisieren und für die Unverrechenbarkeit menschlichen Lebens einzutreten. In diese Verweisstruktur ist eine Kritik am so genannten »Defizitmodell des Helfens«13 wie auch der Gedanke der »Sorge um das ›Selbst-Sein-Können‹«14 des Einzelnen eingezogen.

4.1.2 Kritik am »Defizitmodell des Helfens« und die Sorge um das Selbst-Sein-Können des Einzelnen Mit dem »Defizitmodell des Helfens« benennt Luther einen seines Erachtens gesellschaftlich verbreiteten Modus der Wahrnehmung und Reaktion im Umgang mit Menschen, die kurz- oder langfristig aus dem gesellschaftlichen Funktionsgetriebe herausgefallen sind – durch Krisen und Krankheiten ebenso wie durch Eigenschaften, die mit gesellschaftlich formulierten bzw. einfach auch nur gelebten Zielvorstellungen nicht kompatibel sind. Das »Defizitmodell des Helfens« zeichnet sich für diejenigen, die es anwenden – also auch Seelsorger und Seelsorgerinnen  – durch eine doppelte Struktur aus: Zum einen wird, so Luther, angenommen, dass der für alle Beteiligten eines Seelsorgegesprächs15 vorausgesetzte gesellschaftlich-geschichtlich vermittelte Rahmen intakt16 ist. Damit werden Zweifel am Makrosystem Gesellschaft ausgeschlossen. Zum anderen, und dies folgt zwangsläufig aus dem ersten Strukturmuster, wird alles Defizitäre auf die Seelsorgesuchenden übertragen.17 Wirksam ist diese doppelte Struktur durch ihren Delegations- bzw. Projektionscharakter18: Die Seelsorgenden übertragen ihr eigenes ursprüngliches Gefühl der Unzulänglichkeit dieser Welt (also auch der Gesellschaft) auf die Seelsorgesuchenden. Diese werden in Folge als fremd und krank stigmatisiert. Durch diese Art der Übertragung wird ›Unlieb­ 13 Luther, H., Religion und Alltag, 224. 14 Ebd., 228. 15 Mit gemeint sind bei Luther im Grunde immer alle Settings im beratenden, therapierenden, ›helfenden‹ Netz. 16 Vgl. Luther, H., Die Lügen, 165. 17 Vgl. Luther, H., Religion und Alltag, 232; vgl. ders., Wahrnehmen, 261 f. 18 Vgl. ders., Religion und Alltag, 232; vgl. ders., Wahrnehmen, 262.

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sames‹ an der eigenen Person der Seelsorgenden abgespalten, etwa die Angst, selbst nicht mehr im System der Gesellschaft funktionieren zu können. Eine solche asymmetrische, weil machtförmige Beziehungsstruktur zuungunsten der Seelsorgesuchenden bewegt sich nach Luther vor dem Horizont einer Sorge »um das Gelingen der Anpassung an die konventionalen, gesellschaftlich normierten Verhaltenserwartungen.«19 Eine solchermaßen ausgerichtete Seelsorge instrumentalisiert die Individualisierung des Leids.20 Gegen eine solche Praxis setzt Luther den Gedanken einer Seelsorge in Solidarität.21 An Stelle des »transzendierungsunfähige[n] Aufgehen[s] in der All­tagsroutine und im sozialen Konformismus«22 wird als neue Zielrichtung formuliert: »Seelsorge als Sorge um den Menschen als Seele könnte dann verstanden werden als die umfassende Sorge um das ›Selbst-Sein-Können‹«23. Was bedeutet das? Hinter diesem Gedanken des »Selbst-Sein-Könnens« des Menschen steht zunächst keine formale Vorstellung einer irgendwie gearteten, ganzheitlichen ›Identität mit sich selbst‹24, die es für die Seelsorgesuchenden zu erlangen gälte. Des Weiteren geht es auch nicht um eine irgendwie normierende oder sanktionierende Haltung der Seelsorgenden im Sinne irgendwelcher inhalt­ lichen Vorgaben, wie »Selbst-Sein« in concreto auszusehen hätte. Entscheidend ist bei der Formulierung des »Selbst-Sein-Könnens« vielmehr das unpräten­ tiöse Wort »können«. Die Realisierung dieses Wortes ist Aufgabe und Verantwortung einer Seelsorge, die um den potentiell diabolischen Charakter macht­ förmiger Strukturen weiß, und die diakonisch im besten Sinne des Wortes sein möchte. Seelsorge hat so, indem sie sich in nicht-konformistischer Weise um das »Selbst-Sein-Können« des Einzelnen sorgt, konstitutiv kritisch-emanzipatorischen Charakter. Luther konstelliert im Verhältnis der einzelnen Individuen zu ihrer empirischen sozialen Verfasstheit einen nahezu unüberbrückbaren Konflikt, welcher am ehesten Ausdruck in der Vorstellung der Entfremdung findet; diese Konfliktkonstellation gründet in der Annahme der repressiven Ausrichtung von Gesellschaften. Für Luther geht es im Blick auf die Einzelnen um Erschließung von Möglichkeitssinn, um die Befähigung zu »mehrdimensionalem Weltverhalten«25. Aufgabe der Seelsorge ist es, sich mit den Bedingungen der Möglichkeit auseinanderzusetzen. 19 Luther, H. Religion und Alltag, 227; vgl. Kap. I.4.1.3. 20 Zur Kritik der potentiellen Machtförmigkeit der Hilfsstrukturen mit Blick auch auf die so genannte Seelsorgebewegung vgl. Luther, H., ebd., 237. 21 Vgl. Luther, H., Die Lügen, 174. 22 Ders., Religion und Alltag, 228; vgl. Kap. I.4.1.3. 23 Luther, H., ebd., 228. 24 Zum Konzept des Selbst als Fragment vgl. Kap. I.4.2.3. 25 Luther, H., Religion und Alltag, 27. Zur Problematik der Vorstellung von der Erschließung von Möglichkeitssinn im Rahmen einer sich immer weiter ausdifferenzierenden pluralistischen Gesellschaft vgl. Schieder, R., Seelsorge, 37 f.

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In Anlehnung an Emmanuel Lévinas formuliert Luther: »Diakonie (Seelsorge) sollte den anderen nicht wie einen Fremden beobachten, sondern ihm ins An­gesicht schauen.«26 Konsequenz dieses veränderten Blickwinkels ist die Einübung in ein erneut asymmetrisches Beziehungsverhältnis – allerdings zugunsten der Seelsorgesuchenden27: Denn Seelsorge bedeutet für Luther, sich dem Leid des Anderen vorbehaltlos auszusetzen, sich abhängig zu machen von seiner Not, sich herausrufen zu lassen, nicht bei den angenommenen eigenen Möglichkeiten stehen zu bleiben. Seelsorge schafft also – durch die Möglichkeit der Transzendierung des Selbst durch den Anderen – die Möglichkeit zur solidarischen Nähe. In engem Zusammenhang mit der Bestimmung von Seelsorge als Sorge um das »Selbst-Sein-Können« des Menschen stehen Reflexionen Luthers zum Verhältnis von Alltagssorge und Seelsorge, aber auch von Alltag und Religion. Wie Luther nun den ›Alltag‹ in seinen Überlegungen aufstellt, sei im Folgenden kurz ausgeführt.

4.1.3 Seelsorge und Alltag Der Alltag bleibt im Werk Luthers mehrdeutig, so viel kann vorweg genommen werden. Dies ist einerseits systematisch beabsichtigt28, wirkt andererseits in der Ausführung mitunter nicht streng durchgeführt, was wiederum in der Adaption der so genannten Repressionsthese gründen mag, die Luthers Denken charakterisiert. Zunächst wird im Anschluss an Martin Heidegger und der in »Sein und Zeit« vorgenommenen Differenzierung zwischen ›Man‹ und ›eigentlichem Selbst‹29 Alltagssorge bestimmt als Sorge um das »Gelingen der Anpassung an die konven­tionalen, gesellschaftlich normierten Verhaltenserwartungen.«30 Dieser wird eine andere Sorge gegenüber gestellt, die sich in dem Wissen darum manifestiert, dass das Sein des Menschen nicht in dem aufgeht, was im Horizont des ›Man‹ vorgezeichnet ist.31 Entsprechend ist der Ort der Seelsorge derjenige der Bruchstellen und Übergänge, in denen das ›Mehr‹, die Möglichkeit eigentlichen 26 Luther, H., Wahrnehmen, 265. 27 Ders., Die Lügen, 174. 28 So lautet der Untertitel des Aufsatzes »Schmerz und Sehnsucht«: »Praktische Theologie in der Mehrdeutigkeit des Alltags«; vgl. Luther, H., Religion und Alltag, 243 ff. 29 Das ›Man‹ unterliegt Rollenerwartungen, Routine und Konventionalität, der Außen­ leitung sozialisierter Menschen, es kennzeichnet die Entfremdung vom eigentlichen Dasein. Das ›Man‹ ist der Modus des alltäglichen Daseins. Dem steht das eigentliche Selbstsein gegenüber, als existentielle Modifikation des Man. – Vgl. Heidegger, M., Sein und Zeit, 129. 30 Luther, H., Religion und Alltag, 227. – Vgl. auch Heidegger, M., ebd., 191 ff. 31 Vgl. Luther, H., ebd., 227.

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Daseins, aufscheint – »[d]ie durchschnittliche Alltäglichkeit des Besorgens« hingegen »wird möglichkeitsblind und beruhigt sich bei dem nur ›Wirklichen‹«32. Ein Aufgehen in der Alltagsroutine ist Grund und Horizont der Alltagssorge, die Alltagssorge fragt nicht nach Alternativen zum Bestehenden. Vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses von Alltag wird von Luther auf die kritische Funktion der Seelsorge abgehoben: Seelsorge wird, wie bereits an anderer Stelle expliziert33, als »die umfassende Sorge um das ›Selbst-Sein-Können‹«34 definiert. Seelsorge findet ihre Aufgabe darin, Reflexionsprozesse zu evozieren und aktiv zu halten, die die Subjekte nach dem Eigentlichen ihrer selbst im Verhältnis zur Welt fragen lassen. Sie führt den Menschen im Modus der Selbstreflexion an die Grenze der eindeutigen Bestimmbarkeit der Phänomene und weist so hin auf den transzendenten Grund. Die Freisetzung von Möglichkeitssinn unterscheidet sie von der Alltagssorge der aufrecht zu erhaltenden Realitätstüchtigkeit. So weit dürfte die Bestimmung der Seelsorge deutlich sein. Indem Seelsorge sich also an der Grenze ansiedelt und Grenzsituationen bearbeitet, kümmert sie sich auch um diejenigen, die – aus der so genannten Defizitperspektive – als Personalisierungen der Andersartigkeit der Grenzsituation erscheinen: »Krankheit wird zur Aufrechterhaltung der normalen Alltagskonstellation an einzelne delegiert, die gleichsam stellvertretend ihre Brüche und Risse unserer Welt und unseres Zusammenlebens an ihrem Leib und ihrer Seele tragen. Eine von Alltagssorge sich unterscheidende Seelsorge bricht nun mit diesem Delegationsprinzip. […] Seelsorge bezieht also aus der Wahrnehmung der Grenzsituationen zugleich immer jenes kritische Potential, das unsere normale Alltagspraxis transzendiert.«35

Die grundsätzliche seelsorgliche Haltung ist die der Solidarität.36 Werden die strukturellen Aspekte eines Leidens in und an der Welt in die seelsorgliche Reflexion einbezogen, wird eine Trennung zwischen einer individuellen Seelsorge und institutionsbezogener Diakonie überflüssig. In diesem Zusammenhang ist zumindest kurz darauf einzugehen, welche Rolle der Alltag mit Bezug auf die Religion bei Luther spielt. Die Verhältnis­ bestimmung bleibt nach der Lektüre der einschlägigen Texte ambivalent; dies liegt zu einem großen Teil an der vorgängig beschrieben Konstellierung der Seelsorge im Gegenüber zur Alltagssorge. Gleichwohl ist es Luthers Anliegen, weder den Alltag als falschen und entfremdeten Lebensort festzuschreiben, noch Reli-

32 Ebd., 228; bei Heidegger: Heidegger, M., ebd., 195. 33 Vgl. Kap. I.4.1.2. 34 Luther, H., ebd., 228. Analog wird bei Heidegger das Ausgeliefertsein an das ›Man‹ als »Flucht des Daseins vor ihm selbst als eigentlichem Selbst-Sein-können« beschrieben. (Heidegger, M., ebd., 184.) 35 Luther, H., ebd., 233. 36 Vgl. Kap. I.4.1.2. und I.4.4.1.

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gion auf eine systemstabilisierende Funktion festzulegen.37 Viel eher geht es ihm darum, Religion und Alltag dialektisch zu vermitteln und beide Größen nicht als getrennte Entitäten zu behandeln, denn »Religion – als distanzierender Kommentar zur Welt – artikuliert sich […] in alltäglichen Vollzügen.«38 Vorrangig wird dieses Unterfangen der Verhältnisbestimmung von Religion und Alltag von der Frage nach den religionsproduktiven Orten des Alltags getragen. Diese religionsproduktiven Orte lassen sich in den Erfahrungen von Grenzen wiederfinden: Diese Grenzerfahrungen treten am Rand einer jeweiligen Alltagswelt auf, sie stellen sich also als ›Randerfahrung‹ oder als Erfahrung des Übergangs von einer Alltagswelt in eine andere dar. Die Gegebenheit von Übergangssituationen ist quasi selbst alltäglich: Da sich in der Moderne die alltägliche Lebenswelt zunehmend pluralisiert hat, sind auch in zunehmendem Maße Transgressionen von einem alltäglichen Setting in ein anderes mit jeweils spezifischen Rollen­ erwartungen, Plausibilitätsstrukturen und Eigengesetzlichkeiten notwendig geworden.39 Religion  – als spezifischer Modus der Selbstreflexion  – ist an diesen Schnittstellen und Rändern angesiedelt, dort, wo bisher Geltendes potentiell in Frage gestellt wird bzw. werden kann. Das bedeutet für die Präsenz und für die Bedeutung der Religion für den Alltag, dass sie immer wieder aktual wird: »Nicht der gesamte Alltag ist religiös grundiert, wohl aber wird der Alltag immer wieder religiös.«40 Religion und Alltag müssen darüber hinaus schon deshalb eng zusammengedacht werden, weil der Alltag konstitutiv der Ort des Subjektes und der Subjektivität ist: Hier handelt der Einzelne immer wieder neu aus, was als ›wirklich‹ zu befinden ist. Aus dieser Perspektive eröffnet sich die Mehrdeutigkeit des Alltags. Das Verlangen nach einem Gelingen der Lebensgeschichte, die Suche nach Identität ist dabei individuelle Motivation, sich selbst immer wieder in Beziehung zu setzen und die Bezüge zu deuten. Dieser Prozess ist prinzipiell unabschließbar, wie sich zeigen wird.

4.2 Unabschließbare Identität Henning Luthers Votum für eine »Praktische Theologie des Subjekts« entspricht sein ausdrückliches Interesse an der »individuierten Subjektivität der einzelnen«41 allgemein. Dabei ist ein wesentlicher Vollzug der Individuation die Frage nach Selbstvergewisserung, die Frage nach Identität. Für Luther bleibt der 37 Vgl. Luther, H., ebd., 214 f. 38 Ebd., 216. 39 Vgl. ebd., 218; 221 ff. Als Sinnbild für die Pluralisierung der alltäglichen Lebenswelten in der Moderne dient die Großstadt. Vgl. zur religiösen Grundierung des Alltags auch: Timm, H., Zwischenfälle. 40 Luther, H., ebd., 223. 41 Ebd., 30.

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Einzelne in seiner Suche auf den Anderen verwiesen. Ebenso, wie der Andere dem Ego kategorial entzogen ist, bleibt auch die menschliche Sehnsucht nach Identität letztlich ungestillt. Die Hoffnung ist das Movens fragmenta­rischer Existenz.

4.2.1 Identität als Fragment Luther entlehnt den Begriff des Fragments der Ästhetik. Es sind die Unruhe, die Bewegung, die von einem künstlerischem Fragment ausgehen, die Luther dazu veranlassen, das Bild des Fragments für die Veranschaulichung seiner subjekttheoretischen wie identitätstheoretischen Überlegungen fruchtbar zu machen. Die Präferenz für dieses Bild wird durch die Wahl des Standortes für das Theologietreiben ergänzt: Dieser befindet sich in bevorzugter Weise an der Grenze. Gemeint ist ein ›Aufhalten an den Grenzen‹, ein ›Leben an der Grenze‹ – beidem ist der Charakter der Grenzüberschreitung als potentielle Selbsttranszendierung inhärent. Von hier aus eröffnet sich die Parallele zum Charakter des künstlerischen Fragments: Erst die Überschreitung des zugewiesenen Raumes in der Zeit – als Intentionalität oder als sichtbare Überschreitung – eröffnet einen neuen Erfahrungs- und Erlebnisraum.42 Luther führt die Applikation der Fragmentvorstellung auf die Frage nach der Identität des Menschen grundsätzlich aus: So, wie es innerhalb der Kunst Fragmente aus Vergangenheit, das heißt Überreste eines zerstörten Ganzen, und Zukunft, das heißt nicht mehr vollendete Werke, gibt, so ist auch das Leben jeder und jedes Einzelnen Fragment aus Vergangenheit und Zukunft. Fragment aus Vergangenheit um aller verbauter, verspielter, nicht gewollter Möglichkeiten, um des jeweiligen Versagens, um zugefügter Verletzungen, um der Schuld eines jeden Einzelnen, um einer Verlustgeschichte in ihrer ganzen Tragweite Willen. Luther bezeichnet dies auch als Schmerz des Fragments. Fragment aus Zukunft ist jeder Mensch, da dem Fragment der Mangel der vollendeten Gestaltung inne ist, da es den Charakter der Zeit in sich trägt. Sinnentsprechend wäre zu ergänzen: Der Mensch ist Fragment aus Zukunft, da sich in jedem Moment des Lebens potentiell neue Möglichkeiten der Grenzüberschreitung ergeben, die als solche vorwärtsdrängenden Charakter haben. Das Wesen des Fragments aus Zukunft ist Sehnsucht. Fragmentarisch ist die Ich-Identiät für Luther jedoch auch im Hinblick auf die Möglichkeiten der Gegenwart. Erst in der Kommunikation 42 Vgl. auch: Grözinger, A., Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung. Der Diskurs zum Themenfeld Praktische Theologie und Ästhetik hat sich in zahlreichen Veröffentlichungen der vergangenen Jahre niedergeschlagen, vgl. einführend: Gräb, W., Art. Ästhetik, 737 ff. – Vgl. auch die vor etwa zwanzig Jahren von Grözinger erschienene Schrift »Praktische Theologie und Ästhetik« (1987).

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mit dem Anderen, in der gelebten Intersubjektivität, findet das Selbst den Grund zur eigenen Bestimmung: »Da das Ich sich immer nur in der Interaktion mit anderen bestimmen kann, seine Identität also aus der Differenz zum Anderen meiner Selbst erwächst, provoziert jede mögliche Begegnung mit anderen die Selbsttranszendenz. Die Fülle der möglichen Begegnungen mit anderen ist aber prinzipiell unerschöpflich. […] Das Ich ohne die anderen ist fragmentarisch. Selbsttranszendenz meint hier also die notwendige über sich hinausgehende Bewegung zum anderen.«43

Die wesentliche Eigenschaft des Fragments liegt also darin, dass es die Bewegung der Selbsttranszendenz evoziert. Entsprechend ist dem menschlichen Leben, bleibt man im Bild, die Möglichkeit zur Transzendierung inhärent. Allerdings ist die Selbsttranszendenz nur denkbar, wenn die Identität des Menschen bzw. seine Existenz eben als fragmentarische gedacht wird. Anzumerken ist, dass Henning Luther den Begriff des Fragments ein­deutig als Allegorie verwendet, unter bewusstem Rekurs auf seinen ästhetischen Gehalt. ›Fragment‹ und ›Fragmentarität‹ der Ich-Identität bzw. des Selbst sind konstitutiv zu unterscheiden von einer Vorstellung von Fragmentarität, die vor einem persönlichkeitspsychologischen Hintergrund von fragmentierter Identität spricht. Identität, und somit auch ›Fragment‹, ist bei Luther hingegen als Einheit gedacht, nicht als Vielheit. Luther reagiert mit seinen Ausführungen zur fragmentarischen Identität auf Bildungskonzepte, die als Ziel die Entwicklung einer in sich abgerundeten, ›fertigen‹ Identität formulieren. Prinzipiell geht Luther von der grundsätzlichen Unabschließbarkeit von Bildungs- und Entwicklungsprozessen aus, welche er deutlich von statisch gedachten Identitätskonzepten abhebt. Eindeutig negativ werden Identitätstheorien bewertet, die mit der Abschließbarkeit von Bildungsprozessen rechnen, auch solche Theorien, die den Erfolg von Bildungsprozessen in einem fixen Schema daran messen, ob zu bestimmten lebensgeschichtlichen Zeitpunkten die Ausprägung bestimmter Identitätsmerkmale erfolgt. Vielmehr ist der Identitätsbegriff, so Luther, als Regulativ einer Entwicklung zu verstehen – Identität kann nicht als statisches Ziel gedacht werden.44 43 Luther, H, Religion und Alltag, 169. Im Original hervorgehoben. 44 Vgl. ebd., 163 ff. – Abgrenzend bezieht sich Luther auf eine Rezeption klassischer Theorietraditionen, vor allem auf die Rezeptionen George H.  Meads und Erik H.  Eriksons, die die ursprünglich kritischen Impulse der Identitätskonzepte unterläuft und nivelliert (vgl. ­Luther,  H., ebd., 164.  – Zur Erikson-Rezeption vgl. als Bezugstext: Erikson, E. H., Identität und Lebenszyklus; zur Interpretation vgl. Krappmann, L., Soziologische Dimensionen der Identität, 89 ff; Krappmann wird von Luther als Exempel für eine tendenziöse Erikson-Interpretation  – im Sinne eines undynamisch gedachten Identitätskonzepts  – angeführt: vgl. Luther, H., Religion und Alltag, 284, Anm. 11), sowie auf missverständliche Ausführungen bei Mead und Erikson selbst. So spricht etwa Mead einerseits von einer »Struktur der vollständigen Identität«, welche eine »Spiegelung des vollständigen gesellschaftlichen Prozesses«

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Gerade in der Akzeptanz der prinzipiellen Fragmentarität mit Blick auf die Ich-Identität liegt für Luther das eigentümlich Christliche: »Glauben hieße dann, als Fragment zu leben und leben zu können.«45 Die Begründung erfolgt in Auseinandersetzung mit grundlegenden Topoi des christlichen Glaubens: Sünde, Rechtfertigung, Kreuz und Auferstehung, Verkündigung Jesu, Eschatologie, Gottebenbildlichkeit. Zum Sündenverständnis führt Luther etwa aus, dass Sünde als Nivellierung des Unterschieds zwischen Geschöpf und Schöpfer, zwischen Fragment und Totalität verstanden werden kann. Oder aber Schmerz und Sehnsucht, die wesentlich zur fragmentarischen Existenz des Menschen ge­hören, können im Horizont des eschatologischen Vorbehalts interpretiert werden. Thetisch schreibt Luther, »daß die in sich geschlossene und dauerhafte Ich-Identität theologisch nicht als erreichbares Ziel gedacht werden kann – und darf.«46 Die ethische Forderung gründet dabei weniger in spekulativer Theologie als vielmehr in der konkreten lebensweltlichen Erfahrung der fragmentarischen Existenz des Menschen. Diese Erfahrung ist wesentlich in den Problemhorizont der Intersubjektivität eingelassen: Die Begegnung mit dem Anderen ist der eigenen Selbst- und Weltdeutung vorgeordnet. Da Henning Luthers Theologie stark durch die Philosophie Emmanuel Lévinas’ geprägt ist, widmet sich das folgende Kapitel einer kurzen Skizze der Grundgedanken Levinas’ sowie der Frage, welche Aspekte bei Luther bevorzugt Gewicht erhalten.

(Mead, G. H., Geist, Identität und Gesellschaft, 186) sein soll bzw. von »zwei allgemeinen Stadien« bei der »vollständigen Entwicklung der Identität.« (Ebd., 200.) Andererseits ist offenbar relativ unproblematisch auf der Basis der Unterscheidung von I und Me von den »Möglichkeiten des »Ich« [I, KM] die Rede, »die zu den tatsächlichen Ereignissen [gehören] und in gewissem Sinn den faszinierenden Teil  unserer Erfahrung [aus­machen]. In diesem Bereich finden neue Entwicklungen statt, und hier liegen unsere wichtigsten Werte. Wir versuchen ständig, diese Identität zu verwirklichen.« (Ebd., 248.) – Man findet bei Mead das Interesse an der Konzeption des Zusammenspiels von kooperativen, gesellschaftlich verfassten Akten der einzelnen Subjekte und den daraus resultierenden identitätsstrukturellen ›Einprägungen‹ sowie das Interesse, Identität als Prozess beschreiben zu können, welcher immer angewiesen bleibt auf die notwendig flexible gegenseitige Bezugnahme sowohl der Kooperationspartner wie der Funktionen mind/Geist, I und Me. Auch Mead denkt eine eindimensionale Identitätskonzeption nicht als ausreichend. Vielmehr geht er davon aus, dass Bewusstsein aus dem praktischen Verhalten der Umwelt resultiert, gleichsam von symbo­lischer Interaktion abhängig ist. Das Selbstbild (»self«) konstituiert sich dabei durch Synthe­tisierung heterogener Verhaltenserwartungen. 45 Luther, H., Religion und Alltag, 172. 46 Ebd., 165.

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4.2.2 Ethik als prima philosophia Lévinas, in seinem Denken einerseits geprägt durch die Philosophien Edmund Husserls und Martin Heideggers, andererseits durch die Beschäftigung mit der jüdischen Tradition, versucht, entgegen jeglicher Substanzontologie, die Ethik als prima philsophia zu entwerfen. Das Philosophieren Lévinas’ ist zu einem wesent­lichen Teil Ringen um die unbedingte Legitimität des Anderen – nach der Erfahrung der Shoah. Mit Lévinas teilt Luther die Kritik an einer mit der Aufklärung aufgekommenen Vorstellung von Subjektivität, welcher, so Luther, aus postmoderner Perspektive wiederum Solipsismus, asozialer Individualismus, allgemein ihr Herrschaftsanspruch vorgeworfen wird.47 Diese Kritik entspringt einem veränderten Blick auf Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Autonomie und Selbstverwirklichung und fügt sich insofern gut in die Luthersche Problemskizze Gesellschaft  – Individuum ein. Wegweisend ist für Luther, wie Lévinas die Genese von Subjektivität, die Ermöglichung von Subjektwerdung denkt: Der Vorrang der Ethik liegt in der Verantwortung begründet, die dem Subjekt vom Anderen her zugesprochen wird. Das Wissen um den Tod des Anderen offenbart die eigene Seinsbeharrung als Schuld, da es für das Seiende immer um die Sorge um das Sein geht, der reine Trieb der Selbsterhaltung immer an das Ich gebunden bleibt.48 An diesem Egoismus der Selbsterhaltung eröffnet sich für das Subjekt die Krise, da erst die radikale Infragestellung des Subjekts durch den Anderen das eigene Subjektsein ermöglicht. Sein bedeutet für Lévinas zuerst: »sich durch das Existieren isolieren.«49 Erst dadurch, dass sich das Subjekt durch den Anderen anrufen und infrage stellen lässt, wird das Ich in seiner Unvertretbarkeit und Einzigkeit konstituiert. So heißt es in »Die Spur des Anderen«: »Die Einzigkeit des Ich liegt in der Tatsache, daß niemand an meiner Stelle antworten kann.«50 Ichsein und Verantwortung für den Anderen sind so untrennbar aneinandergebunden. Das Subjekt hat die Möglichkeit zu werden erst durch die Unterwerfung unter den Anderen und den Akt der Erwählung durch den Anderen. Die Infragestellung durch den Anderen erwirkt Solidarität. Mehr noch: Für Lévinas ist das Verhältnis des Ich zum Anderen immer als ein asymmetrisches zu beschreiben. Vorrang hat immer der Andere, sofern sein Antlitz Not ist, sofern der Andere immer Witwe und Waise, heimatlos und nackt ist.51 Diese »Epiphanie des Antlitzes ist Heimsuchung«52, anders formuliert: »Offenbarung, in der sich die

47 Vgl. Ebd., 62. 48 Vgl. Lévinas, E., Die Zeit, 29. 49 Ebd., 20. 50 Lévinas, E., Die Spur, 224. 51 Vgl. Lévinas, E., Gott, 116. 52 Lévinas, E., Die Spur, 221. Im Original hervorgehoben.

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Dimension des Unendlichen öffnet.«53 Die Beziehung zum Anderen, welche auf dessen Anrufung basiert, ist für Lévinas Religion, Ausdruck der gemeinschaftlichen Beziehung zum Seienden als Seiendem, in Absehung von erkenntnistheoretischem Interesse und »gewalttätigem Verstehen«54-Wollen. Erst in der Begegnung mit dem Anderen, in der Berührung oder Nähe, entsteht das moralische Bewusstsein. Die Ethik der Verantwortung für den Anderen ist dabei grund­ gelegt in der Unendlichkeit, die immer schon vergangen ist. Das Faktum, dass der Andere immer schon vergangen ist, gründet in der Zeitstruktur und der Einsicht, dass der Akt der Retention bzw. ihr Ergebnis immer ein nachträgliches ist. Entscheidend ist, dass der Andere immer fremd bleibt, in seiner »Ander-heit« als solcher niemals vereinnahmt werden kann von einem Ich, indem dieses den Anderen in sokratischer Tradition als ›Alter Ego‹ wahrnimmt. Die »Ander-heit« ist keine relative, sondern eine absolute, es gibt kein Selbes, das zwischen zwei Anderen vermittelte. Der Andere bleibt immer vollständig ›Alter‹. Als solcher fordert er heraus. Zugleich gehört er der personalen Ordnung der illéité an – die dritte Person ist jenseits des Seins. Dieses ›Jenseits des Seins‹ transzendiert die Kategorien ›Sein‹ und ›Nicht-Sein‹: Das Antlitz bedeutet und ist durch sich selbst Transzendenz.55 Die Herrschaftskritik, die der Philosophie Lévinas’ inhärent ist, integriert sich in das Ansinnen Henning Luthers: Luther geht es, das dürfte deutlich geworden sein, um die Notwendigkeit, die Selbstgenügsamkeit der Vorstellung eines mit sich selbst identischen Ich aufzubrechen. Luther greift den ethischen Appell ­Lévinas’ auf, verbunden mit einer tiefen Zustimmung zur Unhintergehbarkeit des Anderen als Anderer. Weitgehend unberücksichtigt bleiben die Impulse, die Lévinas aus der phänomenologischen Philosophie gewinnt, vor allem die für Lévinas bedeutsam werdende Unterscheidung Husserls zwischen den zwei Formen der Intentionalität, der objektivierenden und der transitiven. Denn es sind die leiblichen Erfahrungen, Bewegungswahrnehmung, also Kinästhesen, die die Beziehung zu einem Anderen als Transitivität ermöglichen. Transzendierung ist keine Möglichkeit des in objektiven Kategorien operierenden Denkens, sondern vielmehr des Sagens vor allem Gesagten (Lévinas unterscheidet hier zwischen dire und dit), vor allem der Sinnlichkeit. In der Berührung mit dem Anderen wird die Intentionalität zur Ethik: Das Begehren ist die Idee des Unendlichen, dessen Seinsweise der Andere ist. In dieser Linie liegen allerdings die Ausführungen Luthers zur ästhetischen Erfahrung als Wahrnehmung des Anderen: »Denn ästhetische Erfahrung ist dadurch gekennzeichnet, daß sie ›auf Sinnlichkeit bezogen im Banne des Objekts‹ verbleibt.«56 53 Luther, H., Religion und Alltag, 78. 54 Lévinas, E., Die Spur, 114. 55 Vgl. Ebd., 235. 56 Luther, H., Subjektwerdung, 193. Luther zitiert hier: Bubner, R., Ästhetische Erfahrung, 36.

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Folgende Konsequenzen zieht Luther aus dem Ansatz Lévinas’ für die Praktische Theologie allgemein57: 1) Das konkrete Subjekt hat Vorrang vor dem ­Abstraktum (System/Institution). 2) Subjektivität ist notwendig nur im Zusammenhang der Intersubjektivität zu denken – dem Anderen kommt der Charakter der Offenbarung zu: Er bleibt immer fremd und verweist damit auf die grundsätzliche Heimatlosigkeit des Menschen. Luther betont hiermit das Fremde, und nicht das Verbindende intersubjektiver Begegnung: Nicht der gemeinsame Wissensvorrat wird thematisiert, sondern die Uneinholbarkeit von Bedeutung. Die religiöse Erfahrung bleibt so an die Erfahrung des Fremden gebunden. 3) Die Bildung von Subjektivität und Individualität ist prozessual zu denken: Sie bildet sich an der Begegnung mit dem Anderen und ist nicht als vorausgesetzt, etwa theonom begründet, anzusehen. 4) Ein Aufgeben des Bemühens, Identität erreichen oder herstellen zu wollen, bedeutet ekklesiologisch die Wahrnehmung und die Anerkennung anderer Formen gelebter Religion und das Engagement für alle Mitmenschen. 5) Die Diakonie wird leitendes Prinzip christlicher Praxis und ihrer Reflexion. 6) Der Praxisbegriff ist an der Begegnung mit dem Anderen zu orientieren – Verdienstdenken ist einer »anrühren-lassenden Passivität«58 nachzuordnen. 7) Die Herausforderung für hermeneutische Prozesse liegt im Denken der Nicht-Indifferenz (non-indifférence): Verständigung und Beziehung haben ihren Weg jenseits von Vereinheitlichung und Gleichgültigkeit zu finden, der Andere erst vermittelt Sinn. Pluralismus und Anerkennung von Individua­ lität und Subjektivität sind untrennbar miteinander verwoben. Der »Humanismus des anderen Menschen« Lévinas’ stellt für Luther eine wesentliche Inspirationsquelle dar, welche seinen schon früh auftretenden Gedanken der diakonischen Prävalenz aller praktisch-theologischen Überlegungen mit der Einsicht verbindet, dass sich Deutung nur unter Anerkennung der Anderheit des Anderen vollzieht. Insofern ist Deutung, absolut betrachtet, eine sich nie erschließende. Mit der starken Reflexion der Bewegung vom Anderen zum Selbst, des Herausgerufenwerdens des Selbst durch den Anderen, nimmt der Gedanke der anthropologischen Transzendenz seinen Platz in Luthers Religionstheorie ein.59 Wie konturiert sich der Religionsbegriff in Luthers Werk darüber hinaus?

57 Vgl. Luther, H., Religion und Alltag, 81 ff. 58 Ebd., 83. 59 Vgl. zur kritischen Einschätzung des Rekurses Luthers auf Lévinas: Stollberg, D., Seelsorge nach Henning Luther, 372.

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4.3 Religion als Modus der Selbsttranszendenz Religion ist konstitutiv an konkrete Subjekte gebunden, die sich in ihrem konkreten Alltag stetig darüber verständigen, was ›wirklich‹ ist. Religiöse Praxis bezieht sich in ihrer Bewegung dabei nicht auf rein Immanentes, sondern setzt sich der Erfahrung der Exteriorität aus: Erst die Erfahrung des Fremden, des Anderen ermöglicht eine Revision des Selbstverständnisses und ein Verstehen der eigenen Begrenztheit.

4.3.1 Der Alltag als Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Theologie und subjektiver Religiosität Luther benennt zur Bestimmung des Phänomens Religion ihre objektive Gestalt (Dogma, Kult etc.) wie ihre subjektive Gestalt (religiöse Produktivität der Subjekte). Waren vorneuzeitlich überlieferte, institutionalisierte und subjektive Religion weitgehend deckungsgleich, veränderte sich dieses Verhältnis durch die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft wesentlich: Der Individualisierungsschub evozierte ein verstärkt reflexives Verhältnis zwischen Subjekt und Religion60 – anders formuliert: Sinn ist in der funktional differenzierten Gesellschaft nicht mehr eindimensional und eindeutig institutionell vermittelbar, sondern obliegt primär der (religiösen) Produktivität der einzelnen Subjekte. Mit der Einsicht, dass die Subjekte der Religion die modernen Individuen sind, hat sich der Blick der Praktischen Theologie  – weg von einer Orientierung an theologischen Systemen  – verstärkt der Lebenswelt und der Alltags­ praxis eben jener zuzuwenden. Mit diesem Postulat knüpft Luther, wie andere in dieser Zeit61, an die Forderungen der so genannten frühen empirischen Wende an – ging es auch ihr um die Überwindung der zunehmenden Diskrepanz zwischen theologischer Lehre bzw. kirchlicher Praxis und subjektiver Religiosität durch eine phänomenologische Hinwendung zur Praxis der Einzelnen in ihrer jeweiligen Lebenswelt. Luther konstatiert einen Bedeutungsverlust, den kirch­ liche Lehre und Praxis in den Augen autonom gewordener religiöser Subjekte erlitten haben. Die Inhalte der christlichen Überlieferung haben ihre Plausibilität für viele moderne Individuen verloren: »Das Auseinanderfallen von kirchlicher Lehre einerseits und subjektiver Religiosität andererseits hat seine Ursache gerade darin, daß nicht länger allen alles an der überlieferten religiösen Tradition einleuchtend, plausibel und subjektiv nachvollziehbar

60 Vgl. Luther, H., ebd., 23 f. 61 Vgl. das Einführungskapitel dieser Studie.

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scheint. Vieles an der offiziellen Religion läßt sich immer weniger mit den Erfahrungen der einzelnen Menschen zusammenbringen.«62

Mit Jürgen Habermas benennt Luther für hochkulturelle Gesellschaften ein Gefälle zwischen sakralem und profanem Handlungsbereich, die Trennung zwischen »›Intellektuellenreligion‹ (Dogmatik)«63 und »Alltagskommunikation«64. Daraus folgt, dass eine Praktische Theologie, die den Immunisierungstenden­ zen entgegenwirken und die so genannte Laienperspektive in ihre Theoriebildung hineinholen möchte, die Traditionsgrundlagen der christlichen Überlieferung quasi am »falschen Platz«65 thematisieren muss: nämlich in der Alltagskommunikation. Es geht um die Reduktion der »Lebensweltvergessenheit der Theologie«66. Wie sich bereits gezeigt hat, findet sich bei Luther ein ambivalenter Begriff von ›Alltag‹67: In letzter Konsequenz bleibt offen, ob Alltag nun den negativ konnotierten Ort der Entfremdung des Subjekts von sich selbst bezeichnet, oder ob Alltag vielleicht doch gerade als Ort des Subjekts auch zwangsläufig dessen Entfaltung und potentielle Eigentlichkeit individualisierend (mit-) konstituiert. Auf jeden Fall ist es der zweite Strang seiner alltagstheoretischen Betrachtung, welcher für die Praktische Theologie neue Impulse setzt und in der nachfolgenden Forschung auf großes Interesse stößt.68 Die Schwierigkeiten in der Ver­ hältnisbestimmung zwischen Religion und Alltag liegen darin begründet, dass Luther den Religionsbegriff aus einem theoretischen Verwendungszusammenhang befreien möchte, der Religion semantisch in die unmittelbare Nähe mit Systemstabilisierung bringt oder gar in eins setzt. Religion soll weder systemfunktional (Luhmann) noch projektionstheoretisch (Feuerbach; Freud) vereinnahmt werden. Religion ist ein Grenzphänomen: Der archimedische Punkt, an dem sich Religion im Alltag ansiedelt, ist der der Grenze, der Ort der offenen Transformation.

62 Luther, H., ebd., 14. Im Original hervorgehoben. 63 Ebd. 64 Ebd.; vgl. Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 283. 65 Luther, H., ebd., 15. 66 Ebd., 18. 67 Vgl. Kap. I.4.1.3. 68 Vgl. neben den bereits erwähnten poimenischen Arbeiten auch exemplarisch für die zweite Hälfte der neunziger Jahre: Failing, W.-E./Heimbrock, H.-G., Gelebte Religion wahrnehmen; Fechtner, K./Haspel, M. (Hg.), Religion in der Lebenswelt der Moderne.

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4.3.2 Weltabstand und Selbsttranszendenz Religion soll für Henning Luther also gerade nicht eine beruhigende, lebensweltliches Hintergrundwissen bestärkende Rolle spielen, vielmehr soll sie »distanzierender Kommentar zur Welt«69 sein: Religion als weltdistante Angelegenheit, als Faktor, der Reflexion im Übergangsmodus provoziert, der zugleich in den Erfahrungen des Alltags ansetzt. Begriffe wie Trost, Geborgenheit, Heimat oder Gewissheit werden nicht mehr mit Religion assoziiert, Luther plädiert für ihre Ersetzung durch Vorstellungen wie Fremde, Suche, Verunsicherung. Das Leben an der Grenze ist dem Alltag quasi eingeschrieben: Grenzen begegnen jedem Menschen als einem, der in der Welt ist, der in dieser Welt mit anderen ist: Unter Bezugnahme vor allem auf die deutsche Existentialphilo­sophie versteht Luther die Konditionen des ›In-der-Welt-Seins‹ als Grenzsituationen, letzte Situationen, die mit dem endlichen Dasein unvermeidlich gegeben sind, welche weder machbar noch wandelbar sind: Zufall, Leiden, der Tod als letzte und absolute Grenze. Darüber hinaus liegt der Begegnung mit dem Anderen immer schon die grundlegende Erfahrung der Differenz, des Andersseins, des Fremdseins voraus. Die Erfahrung der Grenze erscheint hier als Problem von Kommunikation und Interaktion. Die Grenze fordert dabei, sofern sie bewusst wahrgenommen wird, die Revision des eigenen Selbstverständnisses heraus. Verhältnisse müssen neu bestimmt werden: zur Umwelt, zu den Mitmenschen, zum eigenen Selbst. In dieser Auseinandersetzung ist der Mensch auf sich allein gestellt.70 Erfahrungen der Grenze haben potentiellen Kairos-Charakter. Hier ist die Religion angesiedelt, denn ihr Interesse ist es, Grenzen sichtbar zu machen und sie zu überschreiten: »Diese Intention zur Übersteigung des Vorfindlichen scheint mir der Grundtenor des religiösen Interesses zu sein.«71 Religion ist »Grenzüberschreitung par excellence.«72 Religion verfehlt sich selbst, wenn sie die Verunsicherung der Grenzerfahrung scheut und meidet. Luther verweist auf Schleiermacher, der, exemplarisch in seinen »Reden«73, beide Aspekte, den dynamischen Aspekt der Selbsttran­ szendierung im Akt der Anschauung des Universums (vertikal), sowie den dynamischen Aspekt der Selbsttranszendierung im Akt menschlicher Kommunikation und Interaktion (horizontal), als wesenhaft für die Religion bestimmt. Religion ist der Modus der Überwindung von Grenzen in der existentiellen Lebenserfahrung wie auf sozial-kommunikativer Ebene. Sie kommt als existentielle Freiheit und als Liebe zum Tragen. Die Grenze wird so zur »Mitte der Praktischen Theologie – das, worum es ihr in allem, was sie treibt, letztlich geht – ist

69 Luther, H., ebd., 216. 70 Vgl. ebd., 50. 71 Ebd., 54. 72 Ebd., 55. 73 Vgl. Schleiermacher, F. D. E., Über die Religion, hier v. a. die zweite und vierte Rede.

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nichts anderes – so meine These – als die Bearbeitung der Erfahrung von Grenze oder von Grenzen.«74 Die Wendung des Ausgeführten auf die Frage des reflexiven Selbstverhältnisses erfolgt am Beispiel des autobiographischen Erzählens, etwa in dem Aufsatz »Der fiktive Andere. Mutmaßungen über das Religiöse an Biographie«.75 (Auto-) Biographisches Erzählen birgt das Potential, sich selbstreflexiv nicht mit Fremdzuschreibungen und Normierungen unterschiedlichster Art zufrieden geben zu müssen, vielmehr dem impliziten Wissen, der Ahnung nachgehen zu können, als Individuum einmalig unverwechselbar und nicht zufällig zu sein. Das Selbst auf der Spur seiner Selbst bleibt auf der Suche nach möglichen Antworten, wenn auch immer nur vorläufigen, nach dem, durch was es sich als Selbst konstituiert begreifen kann, nach dem, was es, als Selbst, unterscheidbar für sich selbst macht. Religion erscheint als Ermöglichung der Individuierung des Subjekts. Subjektivität, als Struktur von Individualität, erschöpft sich weder in gesellschaftlich noch in religiös vermittelten Identitätsvorgaben.76 Luther formuliert: »Autobiographische Selbstreflexion stellt gleichsam die subjektive Rekonstruktion der dogmatischen Vorgabe einer göttlichen Bestimmung des Menschen dar.«77

Die Erfahrung des grundsätzlichen Begrenztseins einerseits, sowie das intuitive Wissen darum, dass die Individuierung des eigenen Selbst als Subjekt andererseits auch nie in dem aufgeht, was täglich von außen als Deutungsleistungen an die Einzelnen herangetragen wird, evoziert die Suche nach einem ›Mehr‹, das in dieser Welt nicht aufgeht. Das ist die religiöse Dimension des menschlichen Deutens von Selbst und Welt.78 Weltabstand bezeichnet das Wohin der Selbst­ transzendenz, die Bewegung der religiösen Praxis.

4.3.3 Eschatologie als Movens der Theologie Das theologische Denken Luthers gründet in anthropologischer Reflexion. Ein wesentliches Anliegen besteht darin, Theologie und Anthropologie als grundsätzlich ineinander verflochten zu bestimmen: Explizit theologische, sich am Symbolbestand der christlichen Überlieferung orientierende Rede muss existentielle Erfahrungen menschlicher Existenz wie Schmerz und Sehnsucht, Trauer 74 Luther, H., Religion und Alltag, 45. 75 Vgl. auch: Ebd., 248 ff. 76 Hier klingt die von Gert Otto in Anlehnung an Hans-Eckehard Bahr vorgenommene Unterscheidung zwischen »Religion 1« (Interesse an Integration) und »Religion 2« (Interesse an Emanzipation) an, mit Präferenz Luthers für »Religion 2«. – Vgl. Otto, G., Handlungs­felder, 26 ff; vgl. dazu auch: Meyer-Blanck, M., Neuere Entwürfe. 77 Luther, H., ebd., 35. 78 Vgl. ebd.

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und Hoffnung, Endlichkeit und Glück integrieren können, um vor der Frage nach Legitimation Bestand zu haben. Theologie, im ursprünglichen Sinne als ›Rede von Gott‹ verstanden, ist konstitutiv auf Anthropologie verwiesen – Theologie ohne Einbezug anthropologischer Reflexion besteht aus leeren Phrasen: »Eine Theologie ohne Tränen der Trauer und ohne Seufzer der Hoffnung, eine Theologie, die den Menschen in seinem Schmerz und in seiner Sehnsucht verloren hat, hat auch das, was sie für ihr eigentliches Thema halten mag, Gott, verloren.«79

Das Charakteristische christlicher Theologie besteht darin, die Fragmentarität menschlichen Lebens, die Fragmentarität der Ich-Identität nicht verdrängen oder verleugnen zu müssen, sondern dazu zu ermutigen, mit dieser Fragmentarität und durch diese Fragmentarität zu leben.80 Wie Luther diesen Gedanken mit fundamentalen Glaubenssätzen des Christentums vermittelt, sei an dieser Stelle in aller Kürze anhand einiger Beispiele ausgeführt81: a) Rechtfertigung: Sünde wird zunächst als das Bestreben des Menschen bestimmt, sein zu wollen wie Gott und somit die Begrenztheit des mensch­ lichen Lebens nicht anerkennen zu wollen. Anerkennung der Fragmentarität menschlichen Lebens bedeutet jedoch Befreiung von einem permanenten Druck der Selbsterbauung und Selbstrechtfertigung – dies kann bereits als Akt göttlicher Gnade gelten. Ist es möglich, diese Perspektive einzunehmen, kann auch der andere Aspekt der fragmentarischen Existenz wahrgenommen werden, nämlich der des Verwiesenseins auf Vollendung  – die eine, immer aus der Gegenwart heraus gedachte, ausstehende ist. Rechtfertigung lässt sich so als Befähigung zur Selbstbegrenzung verstehen – simul iustus et ­peccator: Der Mensch ist in seinem So-Sein auf Vervollkommnung hin angelegt, welche er jedoch niemals aus sich selbst heraus bewerkstelligen kann.82 b) Kreuz und Auferstehung: Jesus gilt als der exemplarische Mensch. Gerade die Fragmentarität seines Lebens ist beispielhaft, welches im gewaltsamen Kreuzestod gipfelte. Die Fragmentarität des Lebens Jesu wird durch das Oster­ geschehen nicht etwa aufgehoben, vielmehr wird im Auferstandenen der Gekreuzigte geglaubt, so dass Ostern konstitutiv auf Karfreitag verwiesen bleibt. Luther verweist auf Mt 10,38 f; Mt 16,24–26par; Joh 9,3: Jesus ruft – unter Umwertung geltender Werte – dazu auf, die Fragmentarität des eigenen Lebens zu akzeptieren. Schwäche wird nicht als Mangel oder Strafe interpretiert, sondern vielmehr im Sinne eines Verweises ›nach vorn‹ auf die ausstehende Heilung und Vollendendung durch Gott. Damit ist der Ansatzpunkt christlicher Eschatologie bezeichnet.83

79 Ebd., 252. 80 Vgl. ebd., 72. 81 Vgl. Kap. I.4.2.1. 82 Vgl. Luther, H., ebd., 173. 83 Ebd., 174.

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c) Der Mensch als imago dei: Mit dem Verweis auf das Babylonische Exil als ›Sitz im Leben‹ der Gottebenbildlichkeitsaussage (Gen 1,27) macht Luther deutlich, dass es sich bei der Rede von der Gottebenbildlichkeit nicht um eine Beschreibung eines Ist-Zustandes handelt, sondern vielmehr um das Festhalten an der Hoffnungsperspektive, die über die Gebrochenheit menschlichen Lebens hinausweist. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen wird im Zusammenhang mit dem Bilderverbot bzw. der Selbstvorstellung Gottes (Ex 3,14) gesehen. Gott erweist sich in dieser Vorstellung als revelatus und absconditus zugleich, wobei diese Struktur der des Fragments ähnelt: Im Fragment ist Totalität anwesend. Die Analogie wird deutlich, wenn Gottebenbildlichkeit inkarnationstheologisch gedacht wird: Gott kann im emphatischen Sinne nicht mehr (nur) als ›starker‹ Gott, sondern muss (auch) als ›schwacher‹ Gott gedacht werden, der sich abhängig macht. Schwäche und Unvollkommenheit des Menschen entsprechen der ›Rede von Gott‹ unter inkarnationstheologischem Vorzeichen.84 Der christliche Glaube mit seinem eschatologischen Grundzug befördert den religiösen Akt der Selbsttranszendenz im Bewusstsein der menschlichen Selbst­ begrenzung zutiefst. Leitend ist dabei der Gedanke der in den Augen Gottes individuierten Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen. Das Entscheidende des Glaubens liegt für Luther in der anhaltenden Beunruhigung und Befremdung gegenüber der Welt – kein Einverständnis, keine falschen Vertröstungen, kein Einrichten im Status Quo. Schmerz und Sehnsucht, Trauer und Unruhe werden zu Zeichen, die auf Anderes, Vorausliegendes verweisen. Ihnen inhärent ist das Wissen um ›Mehr‹. Schmerz und Sehnsucht thematisieren die Begrenztheit menschlichen Lebens vom Gedanken der Erlösung her; Hoffnung erscheint – unter anderem unter Verweis auf den Hebräerbrief – als Movens des Wanderdaseins, des Sich-Aussetzens85: Glaubende sind heimatlos, gehen in die U-Topie, weil sie dem Versprechen der Verheißung glauben. Trost kann es nur in eschatologischer Perspektive geben. Allerdings kann dies auch nur eine ›andere Eschatologie‹ sein in dem Sinne, dass sich eschatologische Hoffnung unter Einbeziehung gerade der Perspektive der Verantwortung für den Anderen ausgestaltet: »Eschatologie ohne Hoffnung für sich«86, so lautet das absolute Diktum Lévinas’. Die Erfahrung der Sterblichkeit des Anderen begründet die eigene Unvertretbarkeit und Eigentlichkeit in jedem Akt eschatologischer Hoffnung. Insofern ist auch die Eschatologie bei Henning Luther ethisch qualifiziert. Um die Skizze des poimenischen Ansatzes wie der religionstheoretischen Überlegungen Luthers abzuschließen, ist es nötig, einen kurzen Blick auf Ver

84 Vgl. ebd., 176. 85 Vgl. Luther, H., Die Lügen, 173 f. 86 Zitiert nach: Ders., Tod und Praxis, 423.

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wendung und Bedeutung des Sinnbegriffs zu werfen. Denn formal lässt sich Sinn als Relationsbegriff fassen, der auch konstitutiv für alle Prozesse der Selbstreflexion – und somit auch der religiösen Akte – ist. Tatsächlich räumt Luther der Auseinandersetzung mit dem Sinnbegriff in seiner Arbeit einen unübersehbar breiten Raum ein.

4.4 Sinn: Möglichkeit oder Unmöglichkeit? Analog zur Rezeption philosophischer Grundgedanken von Emmanuel Lévinas und der Adaption des Konzeptes der Ethik als prima philosophia nähert sich Luther dem Sinnbegriff vorrangig unter dem Vorzeichen der Frage nach Verantwortung und Verantwortbarkeit. Dabei wird der Sinnbegriff vorrangig im Sinne einer ›positiven Bedeutung von etwas‹ gefasst. Gleichwohl finden sich Ausführungen zum grundsätzlich relationalen Charakter von Sinn etwa im Zusammenhang biographischer Reflexionen.

4.4.1 Die Behauptung von Sinn als Moment der Täuschung Vor allem in dem im Nachlass veröffentlichten Artikel »Die Lügen der Tröster. Das Beunruhigende des Glaubens als Herausforderung für die Seelsorge« findet man eine kompromisslos erscheinende Auseinandersetzung Luthers mit dem Problem des Sinns. Gemeint ist dabei eine emphatische Auffassung von Sinn, und primär geht es um die Frage, wem die Deutungshoheit mit Blick auf die Qualität ›Sinn‹ zugesprochen wird. Anders formuliert: Leitend ist die Überlegung, welche Aufgabe Seelsorge angesichts einer an sich trostlosen Welt, angesichts einzelner Individuen haben kann, für die die Frage nach Sinn in ihrem Leben problematisch geworden ist. Besteht für die Seelsorge höchste Priorität darin, dort wieder Sinn zu vermitteln, wo er nicht mehr gesehen werden kann bzw. womöglich auch nicht mehr gesehen werden will? Ist es ihre Aufgabe, gerade gegenüber der existentiellen Erfahrung von Sinnlosigkeit die absolute Sinnhaftigkeit der Welt und des menschlichen Lebens gegenüberzustellen, welche sich ›aus der Perspektive Gottes‹ auf die Welt behaupten ließe? Deutlich stellt Luther heraus, dass Seelsorge nicht die Funktion der Kontingenzbewältigung haben sollte – damit möchte er sich vor allem von dem systemtheoretischen Religionsbegriff Luhmanns abgrenzen.87 Luther wendet sich gegen eine Logik der Anbieter-Abnehmer-Dynamik: Der Sachgesetzlichkeit erforderlicher Systemleistungen wird das Wechselspiel kommunizierender, interagierender Subjekte gegenübergestellt, welche sich nicht auf den Status per­sonaler

87 So etwa in: Luther, H., Diakonische Seelsorge, 477 ff.

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Systeme zurückstufen lassen. Für das seelsorgliche Gespräch wird jegliche Kompensationsfunktion abgelehnt, zumal, wenn sie von kirchlichen Amtsträgern intendiert ist. Luther unterscheidet in seinen Ausführungen im Grunde nicht zwischen den verschiedenen Kasus der Seelsorge, leitend ist die Vorstellung einer Begegnung zwischen  – die Texte sprechen zumindest kein anderes Setting an  – zwei Personen anlässlich einer krisenhaften Situation. Mit Blick auf die Frage der Krisenbewältigungsfunktion der Seelsorge lässt sich bei Luther ein enger Konnex zwischen Sinn, Trost und Vertröstung formulieren. In diesem Zusammenhang taucht auch immer wieder der Begriff der »Fassadenwelt«88 auf: Die Fassadenwelt ist eine Konstruktion und resultiert aus dem Versuch, eine Welt abseits der trostlosen Welt aufzubauen, aus dem Versuch, Trost und Sinn angesichts einer prinzipiell trostlosen Welt zu behaupten. Wie bereits unter dem Aspekt des »­Defizitmodell des Helfens«89 angeklungen, sieht Luther in der Konstruktion der so genannten Fassadenwelt ein gesamtgesellschaftliches Interesse wirksam, das zum Ziel hat, störende Faktoren zur Bestandssicherung auszublenden, das Leiden von Menschen an diesem ›Grundzustand‹ von Welt zu individualisieren, sie zu pathologisieren. Sinn kann, so Luther, allein um der unterschiedlichen Opfer der bisherigen Geschichte Willen nicht einfach postuliert werden. Trost wird zur Lüge, wenn er sich auf die Erhaltung der so genannten Fassadenwelt, wenn sich der Blick auf das eigene kleine, private Leben beschränkt, wenn der geschichtlich-gesellschaftliche Rahmen ausgeblendet wird. Ironisch spricht Luther davon, dass Trost privilegiertes Geschäft der Religion ist und ­distanziert sich deutlich von theologischen Positionen, die seines Erachtens für die Seelsorge in undialektischer Betrachtung die Funktionen der Stärkung und Förderung von Lebensgewissheit (Luther bezieht sich hier auf Dietrich ­Rössler) bzw. des Glaubenstrostes im Sinne der Vermittlung von Sinn, Stabilität und Halt (­Helmut Tacke)  reklamieren.90 Auch bei systemtherapeutisch orientierten Ansätzen (von denen Luther keine namentlich nennt) sieht er die Gefahr, zwar die vereinzelnde und kontextlose Perspektive anderer Therapieformen aufbrechen zu wollen, letztlich aber doch zu suggerieren, dass das Leben an sich und »das ganze unserer Welt […] in Ordnung sei.«91 Orientierungs- und Sinnverlust scheinen so zu einem krankhaften Erscheinungsbild zugehörig: Diesem ist von Seiten der Therapeuten und Seelsorgerinnen durch Abwehr des Sinnlosigkeitsverdachts einerseits und andererseits durch Hilfe beim Aufbau von Sinn im Rahmen von Seelsorge und Therapie Abhilfe zu leisten. Die funktionalistische

88 Ders., Die Lügen, 163. 89 Vgl. Kap. I.4.1.2. 90 Vgl. Rössler, D., Grundriß, 210; vgl. Tacke, H., Glaubenshilfe, 222 ff. 91 Luther, H., Die Lügen, 165. Im Original hervorgehoben.

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Vereinnahmung des Sinnbegriffs zur Aufrechterhaltung einer bestehenden Ideologie führt zu theologischen Problemen: »Ohne Gewissheit von Sinn lässt sich nicht leben, heißt es. Also muss, wer therapeutisch helfen will, Sinn unterstellen und die akute Sinnkrise des Betroffenen auffangen helfen, indem er diesem [scil. dem Betroffenen] Lebenssinn wieder zugänglich [macht]. Aber gibt es Sinn deshalb, weil wir ihn brauchen? Theologisch gesprochen: Ein Gott, den es gibt, weil wir ihn brauchen, ist ein Selbstwiderspruch.«92

Weiter heißt es: »Ist Glauben der Garant von Sinn? […] Und sind umgekehrt Verzweiflung und die Klage über das anhaltende Leiden und die Sinnlosigkeit dieser Geschichte Ausdruck von fehlendem Glauben oder gar Unglaube? […] Meint ›Gottvertrauen‹ diese letzte beruhigende Ein- und Zustimmung ins Dasein? Wird hier aber nicht das Gottvertrauen zum (unkritischen) Weltvertrauen? […] Wem die umstandslose Affirmation des ­Daseins nicht gelingen mag, den trifft nun auch noch das zusätzliche Leiden an der Unfähigkeit, diesen Sinn, den die Tröster behaupten, nicht erkennen und nachvollziehen zu können.«93

Der Konnex ist deutlich: Trost wird zur Vertröstung, wo Sinn einfach affirmiert und suggeriert wird, wo Gott als Grund der Gewissheit eines letzten Lebenssinns fungiert, um Leiden und Verzweiflung ihre erschreckende Schärfe und Härte zu nehmen. Luther setzt dem entgegen: Erst anhaltende Beunruhigung und Befremdung, Klage und Trauer über diese Welt können aufrichtigen Trost und ehrliche Hoffnung spenden. Erste Aufgabe der Seelsorge ist es, sich radikal aus­ zusetzen, und zwar dem Leid der Anderen. Glaube lässt den Menschen heimatlos werden, führt ihn in die Exteriorität, zum Fremden und zum Anderen. Eine solche »Solidarität der Trostlosen«94 verweigert sich eben der Affirmation ins Dasein und lebt aus der Verheißung heraus, dass »Gott alle Tränen abwischen wird« (Off 21,4). Bis dahin gilt es, so Luther, zu klagen und sich nicht abfinden zu wollen mit dem, was ist: »Trost ist nur Trost in eschatologischer Perspektive.«95

4.4.2 Die Konstitution von Sinn durch den Anderen Ausgangspunkt auch hier ist die Erfahrung der Grenze, die Grenzsituation. Befürchtet wird von Luther allgemein, dass Religion ihr kritisches Potential verliert. Er kritisiert in diesem Zusammenhang die durch die funktionale Kirchen

92 Ebd., 166. Im Original nicht hervorgehoben. 93 Ebd., 169 f. 94 Luther, H., Die Lügen, 174. 95 Ebd., 175; vgl. Kap. I.4.3.3.

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theorie vorgenommene Aufteilung der kirchlichen Aufgaben in »Darstellung und Vermittlung von grundlegenden Deutungs- und Wertsystemen« einerseits und »helfende Begleitung, in Krisensituationen und an Knotenpunkten des Lebens« andererseits.96 Viel eher sind beide Funktionen für die verschiedenen kirchlichen Aufgaben nicht voneinander zu trennen. Gegen die Unterscheidung argumentiert er: »Religion wäre dann einerseits allgemeine stabilisierende Sinnvergewisserung und andererseits Integrationshilfe in den Ausnahmefällen des Lebens. Demgegenüber halte ich es für angemessener, die Grenzproblematik nicht als Unglücksfälle in Ausnahmesituationen und als Gegenstand therapeutischer Betreuung zu betrachten, sondern als Ausgangspunkt zur Thematisierung der Sinnfrage.«97

Der Reflexionsanlass, den Grenzerfahrungen bieten, soll also genutzt und nicht voreilig eingeebnet werden. Die Funktion von Religion liegt darin, die Sinnfrage zu thematisieren. Wird die Grenzproblematik nicht (ausschließlich) als ›Unglücksfall in Ausnahmesituationen‹ gefasst, ist ihr Ort gerade auch im alltäglichen Leben zu suchen. Alle praktisch-theologischen Handlungsfelder, so Luther, müssen einerseits von der Grenzproblematik her durchdacht werden. Andererseits haben sie es als ihre Aufgabe zu betrachten, für Erfahrungen zu sensibilisieren, die die Sinnfrage evozieren. Hinsichtlich der jeweiligen Struktur ist – sofern es der Praktischen Theologie um die Frage der Individuierung des Subjekts geht – zu beachten: (a) das Ich in seinen selbstreferentiellen Bezügen (Anerkennung), sowie (b) der Rückgang des Individuellen auf den Anderen (Bedeutung), welches sich in zwei Schritten vollzieht. Die Subjekte bleiben mit Blick auf ihre Individuierung auf einen transzendierenden Horizont, welcher weder das Ich noch die Welt absolut setzt, verwiesen. Religion stellt sich so grund­legend als Selbsttranszendierung dar. Der Bezugspunkt des religiösen Aktes ist dabei nicht notwendig substantiell festzuschreiben, religionstheoretisch wäre an seiner Stelle ein Stellvertreter einzutragen – oder anders ausgedrückt: Eine absolut gültige Konkretion des Bezugspunktes ist keine Möglichkeit, und insofern wäre rein formal eine Leerstelle einzutragen. Luther geht es wesentlich um den reli­ giösen Akt, um die Bewegung der Selbsttranszendierung. Veranschaulichen kann man dies am Thema der Autobiographie: Sinn kon­ stituiert sich in einem formal beschreibbaren Akt lebensgeschichtlicher Reflexion in Form der Biographie.98 Die Frage nach dem quod bzw. quomodo (Gestalt) hat ihre eigene Berechtigung neben der Frage nach dem quid (Inhalt). Die Reflexion bezieht sich auf ein erst noch zu Ermittelndes (quid), das allerdings 96 Die Zitate sind entnommen: Dahm, K.-W., Beruf: Pfarrer, 305 f; vgl. Luther, H., Religion und Alltag, 58. 97 Luther, H., ebd. 98 Zur Unterscheidung zwischen Lebenslauf und Biographie vgl. Hahn, A., Identität und Selbstthematisierung, 12; vgl. ders., Identität und Biographie, 140 ff; vgl. Kap. I.3.1.3.

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den Charakter eines Transzendenten haben muss, um die Reflexion durch den Vollzug der Selbsttranszendenz bei gleichzeitiger Selbstreferenz religiös zu qualifizieren. Insofern erscheint (a)  auch als Grundhaltung eines Menschen, welche in ihrer formalen Struktur die inhaltliche Ausrichtung des Sinnaufbaus be­einflusst. Eine Biographie ist nicht (nur) darin religiös qualifiziert, dass sie explizit einen Konstitutionszusammenhang zwischen einem Transzendenten, der Welt und dem erzählenden Subjekt herstellt. Die Reflexion an sich ist religiös quali­f iziert. Zwar bestimmt Luther für die autobiographische Reflexion in der christlichen Tradition ›Gott‹ als Adressaten99, als »fiktiven Anderen«, diese Setzung wird in der Moderne allerdings zunehmend fraglich und bleibt zumeist ex­plizit aus. Gegenüber einem autoritären Traditionalismus einerseits und einem radikalen Kontextualismus führt Luther erneut die Bedeutsamkeit der Begegnung mit dem Anderen ein. Während der autoritäre Traditionalismus, so Luther, den Vorgang des Verstehens als Bewegung auffasst, die vom Fremden und Anderen zum Selben zurück kehrt, also in dem Sinne vereinnahmend wirkt, dass Einzelnes auf ein vorgängiges Allgemeines zurück geführt wird, wirkt der radikale Kontextualismus in seinem Relativismus vereinzelnd, kommunikationszerstörend. Demgegenüber kommt es Luther, in Anlehnung an Lévinas’, darauf an, die einmalige Individualität des Anderen und seine Subjektivität, die in keiner Weise auf Objektives zurückzuführen ist, radikal ernst zu nehmen. Sinn, verstanden als BeDeutung, kommt Menschen ebenso wenig durch objektive Gegebenheiten zu, durch die Setzung einer wie auch immer gefügten (metaphysischen) Weltordnung, wie durch die Einsicht in die Vermitteltheit von Subjektivität durch Sprache bzw. Zeichen. Es ist das Antlitz des Anderen, welches für uns bedeutet: »Erst der Andere bringt Sinn in das Sein, in die Welt.«100 Luther zitiert Lévinas: »[…] die Epiphanie des Anderen erhält eine eigene Bedeutung. Der Andere kommt zu uns nicht nur vom Kontext her, sondern er bedeutet ohne diese Vermittlung, durch sich selbst.«101

Sinn konstituiert sich über die Begegnung mit dem Antlitz des Anderen. Eng verknüpft sind hier Sinn, Hoffnung und der Gedanke eines Jenseits des Seins. In der Begegnung mit dem Antlitz des Anderen scheint das Göttliche auf, der Andere entzieht sich Versuchen der Objektivierung immer wieder, entgleitet in der Dimension der Ewigkeit. Der Mensch, der Andere ist unendlich. Diese Ahnung des Unendlichen, welche uns im Anderen begegnet, ist dabei der einzige Modus, ein Verhältnis zum Göttlichen zu haben. Im Innern des Seins scheint ein Sinn auf, der ein Jenseits des Seins eröffnet, aber nicht ein Jenseits des Sinns: 99 Vgl. Luther, H., Religion und Alltag, 120. 100 Ebd., 84. Im Original nicht hervorgehoben. 101 Ebd.; Lévinas, E., Humanismus, 40.

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»[…] es gibt eine Hoffnung, eine Welt, die der Hoffnung zugänglich ist, es gibt den ganz eigenen Beweggrund einer Hoffnung, die bedeutsam ist. […] In einer vom Tod determinierten Existenz, in diesem Epos des Seins, existieren Dinge, die nicht in dieses Epos eingehen, Bedeutungen, die sich nicht auf das Sein einschränken lassen […]. Diese Hoffnung ereignet sich in der Zeit und geht in der Zeit über die Zeit hinaus.«102

Religion ist »die Beziehung zum Seienden als Seiendem«103 – die Epiphanie des Antlitzes des Anderen verweist auf Gott, welcher »Befehle allein durch die Vermittlung von Menschen [erteilt], die unseres Handelns bedürfen.«104 Nachdem bisher versucht wurde, die sinntheoretische Fassung des Religionsbegriffs bei Luther nachzuzeichnen, geht es in einem letzten Kapitel um die kritische Würdigung der Verwendung und Platzierung des Sinnbegriffs im Gesamtzusammenhang der Arbeiten Luthers.

4.4.3 Jenseits von Sinn und Affirmation: das Problem Bezüglich des verwendeten Sinnbegriffs findet sich bei Luther vor allem die Schwierigkeit, dass dieser zumeist emphatisch und interessanterweise weniger funktional gefasst ist als der Religionsbegriff. Im Folgenden werden drei Passagen zitiert, die das Problem des Sinnbegriffs bei Henning Luther exemplarisch illustrieren und die Aporien mit Blick auf seelsorgliches Handeln erkennen lassen. Alle drei Passagen stammen aus dem posthum veröffentlichten Artikel »Die Lügen der Tröster«, in welchem Luther leidenschaftlich für eine beizubehaltende Beunruhigung und Befremdung der Welt gegenüber plädiert. Dort heißt es: »Seelsorge, die Trost vermitteln will durch die Behauptung von Sinn und Bestärkung von Lebensgewissheit, ist immer in der Gefahr, der Fassadenwelt aufzusitzen. Das ›Dahinter‹ einer trostlosen Welt, die um den Verstand bringt und in die Verzweiflung treibt, bleibt ausgespart und verdrängt. Nach Auschwitz sollte auch für die Seelsorge gelten: ›Schon vor Auschwitz war es, angesichts der geschichtlichen Erfahrungen affirmative Lüge, irgend dem Dasein positiven Sinn zuzuschreiben.‹«105

Weiterhin: »Wenn jemand nicht mehr weiter weiß, wenn es bei ihm (oder ihr) nicht mehr so reibungslos klappt wie bei anderen, wird der daraus erwachsende Orientierungs- und Sinnverlust ihm persönlich  – als einzelnem  – zugeschrieben. Therapie hieße dann, 102 Lévinas, E., Gott, 71. 103 Ders., Die Spur, 114. 104 Ebd., 207. 105 Luther, H., Die Lügen, 164 f; Luther zitiert hier: Adorno, Th.W., Ästhetische Theorie, 229.

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dem einzelnen wieder Lebenssinn und Lebensmut oder Lebensgewißheit zurückzugeben. Daß das Ganze – unsere Welt, wie wir sie bis heute kennen – keinen Sinn hat, wird hierbei nicht einmal erwogen. Die Vermutung der Sinnlosigkeit gilt als krankhaft.«106

Theologisch gewendet bedeutet das – noch einmal – für Luther: »Aber gibt es Sinn deshalb, weil wir ihn brauchen? Theologisch gesprochen: Ein Gott, den es gibt, weil wir ihn brauchen, ist ein Selbstwiderspruch.«107

Der Sinnbegriff wird an Stellen wie diesen sehr eng gefasst. Eine vergewissernde, die Welt affirmierende Funktion der Religion wird abgelehnt. Trost, der sich nicht der Erfahrung von Sinnlosigkeit aussetzt, ist Lüge. Man hat den Eindruck, dass Sinn emphatisch nur negativ gefasst werden kann. Darin liegt in poime­ nischer Hinsicht ein großes Problem, welches erfordert, verschiedene Ebenen des Sinnbegriffs bei Luther zu differenzieren. Zum einen ist zu fragen, warum Luther den Sinnbegriff nicht auch, eben wie den Religionsbegriff, stärker funktional gefasst hat. So hätten der Relations­ charakter und die Intentionalität, die der Größe ›Sinn‹ – völlig inhaltsleer – wesentlich eigen sind, stärker fokussiert werden können. Problematisch wird die Argumentation dann, wenn Luther ›Sinn‹ emphatisch begreift und ethisch-moralisch belegt. Die ethische wie die moralische Korrelation von ›Sinn‹ – oder auch von Nicht-Sinn, den es zwar intentional nicht gibt, der aber begrifflich als Ausdruck für eine bestimmte Erlebnis- bzw. Erfahrungsqualität dient – mit ›einem Anderen‹/mit ›Etwas‹ ist Angelegenheit einer jeweiligen Weltanschauung. Im Grunde liegt die Schwäche der Argumentation Luthers darin, dass hier eigene Weltanschauung und theologische Reflexion nicht mehr trennscharf – und für die Lesenden eindeutig differenzierbar – vorliegen. Dies soll nicht als Gegenrede zu Luthers Anliegen verstanden werden und dient im Wesentlichen dem Bemühen, den Sinnbegriff für die theologische Arbeit erhalten zu können. Die Arbeiten Luthers durchzieht ein weiteres Problem: Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist in einer Weise gedacht, wie es modernen Verhältnissen kaum entspricht. Luthers Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse ist von der so genannten Repressionsthese geprägt, welche annimmt, dass die Einzelnen in ihrer Entfaltung bewusst durch gesamtgesellschaftliche Mechanismen gehemmt und unterdrückt werden.108 Luther steht in einer Tradition, die in unkritischer Aufnahme dieser These die Produktion von Möglichkeitsüberschüssen vorangetrieben hat. Indem Luther Individuum und Gesellschaft als zwei miteinander konkurrierende Größen hypostasiert, kommt es in seinem Entwurf schließlich zu unversöhnlich erscheinenden Alternativen wie Kompensation 106 Luther, H., ebd., 165 f. 107 Ebd., 166. 108 Vgl. Schieder, R., Seelsorge, 37.

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oder Kritik, Alltagssorge oder Seelsorge, Lüge oder Sinnlosigkeit. Hätte Luther in diesem Kontext die individualisierte religiöse Produktivität der Subjekte sowie die von ihm eingeforderte Wahrnehmung eben dieser Produktivität kon­ sequent ernst genommen, hätte die Konstellierung dieser Gegensätzlichkeiten ausbleiben können. Poimenisch ist der verwendete Sinnbegriff bei Luther insofern problematisch, als er in der Praxis dort anstößt, wo sich das seelsorgliche Feld in verschiedene Anlässe ausdifferenziert.109 Schieder, der sich in seinem Verständnis von Seelsorge als »Sorge um das Selbst-Sein-Können des einzelnen«110 Luther anschließt, zieht in diesem Zusammenhang notwendige Kasus-Unterscheidungen wieder ein, die Luther in seiner poimenischen Reflexion zunehmend verloren gegangen sind: Schieder unterscheidet Kasualseelsorge, Beratungsgespräch und den Typus »Aushalten mit einem Menschen«111. Der Blick auf die unterschiedlichen poimenischen Anlässe ist notwendig, macht es doch im wahrsten Sinne des Wortes keinen Sinn, etwa in einem Traugespräch den frohgemuten Brautleuten gegenüber ihren Plan einer gemeinsamen – und natürlich glücklichen – Zukunft durch den Hinweis darauf zu vereiteln, dass auch dieser Plan sich als weiterer verzweifelter Versuch herausstellen wird, der prinzipiellen Sinnlosigkeit des Daseins zu entfliehen. Hier wird deutlich, dass der Sinnbegriff bei Luther zu eng und zu einseitig gefasst ist, um mit ihm auf die unterschiedlichen Anlässe reagieren zu können, die den Seelsorgenden mitten in und zwischen den Routinen des Alltags begegnen. Zusammenfassend lässt sich für Luthers poimenisches Konzept folgendes formulieren: Seelsorge hat vorrangig diakonische Seelsorge zu sein. Diakonische Seelsorge versteht sich vor dem Hintergrund der Kritik des »Defizitmodell des Helfens« als »Sorge um das »Selbst-Sein-Können« des einzelnen Menschen. Ihre Verantwortung und ihr ethischer Anspruch erwachsen der Seelsorge aus der 109 Dem folgenden Zitat schließt sich die Frage an, inwieweit es nicht in der Regel – zu­ gegeben – funktional zugewiesene Aufgabe einer Seelsorgers oder einer Seelsorgerin ist, eine gewisse Handlungsfähigkeit zu erhalten, welche wiederum nicht mit einer angenommenen hierarchischen Höherstellung des Seelsorgers oder der Seelsorgerin in Verbindung gebracht werden muss: »Seelsorge wendet sich den Leidenden zu, den Anderen, für welche die selbstverständliche Harmonie unserer Welt zerbrochen ist, die herausgefallen sind und die der Einsamkeit des Elends ausgesetzt sind. Seelsorge vollzieht nun die Bewegung nach, von der der Hebräerbrief spricht: das Lager verlassen, die geschützten Räume unserer für selbstverständlich genommenen Alltagswelt aufgeben und sich dem Elend der Anderen, die draußen sind, auszusetzen. Seelsorge heißt, sich auszusetzen. Oder mit Levinas gesprochen: In der Seelsorge werden wir Geisel des leidenden Anderen. Insofern ist die seelsorgerliche Beziehung, die sich dem Elend des Anderen wirklich aussetzt, wirklich eine asymmetrische Beziehung – freilich anders als dies üblicherweise verstanden wird.« (Luther, H., ebd., 174. Im Original hervorgehoben.) 110 Schieder, R., Seelsorge, 27; Luther, H., Religion und Alltag, 228. 111 Schieder, R., ebd., 39 ff.

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unbedingten Anerkennung des Anderen. Konkreter formuliert: Der Seelsorgesuchende ist dem Seelsorger bzw. der Seelsorgerin immer vorgeordnet. In der Begegnung ist er unverfügbar, er nimmt die Seelsorgenden in die Pflicht zu antworten und stellt sie so – in dem Wissen, dass niemand an Stelle des angesprochenen Individuums antworten kann – in ihre Verantwortung hinein. Die Erfahrung der Sinnlosigkeit des Daseins, die prinzipiell immer aufbrechen kann, fordert von den Seelsorgenden die Haltung der »Solidarität der Trostlosen«. Der Sinnbegriff bei Luther und die Konsequenzen eines solchen Verständnisses für die seelsorgliche Praxis wurden im letzten Kapitel ausführlicher problematisiert. Indem Luther der Frage nach der Individuierung des Subjekts nachgeht, wird der Alltag – als konkreter Ort der Subjekte – wichtig und praktisch-theologisch thematisch. Stark gemacht wird eine Auffassung von Religion, die die individuelle Produktivität der Subjekte als grundlegend erachtet: Der religiöse Akt kann so als Modus der Selbstreflexion verstanden werden, als Weltabstand, in der Bewegung über die täglich erfahrbare Welt hinaus und von sich selbst weg. Insofern ist es auch wieder der Andere, der in die Exteriorität hinaus ruft und die Suche des Selbst nach sich selbst, die Frage nach Identität wach hält. Die Bildung der Identität des Subjektes ist dabei prozessual zu denken: Sie bildet sich an der Begegnung mit dem Anderen und ist nicht als vorausgesetzt, etwa theonom begründet, anzusehen. Identität bleibt immer Fragment. Die Aufgabe der Religion ist weder Affirmation noch Kontingenzbewältigung. Vielmehr soll sie im Modus von Schmerz und Sehnsucht die Beunruhigung über diese Welt wach halten. Der Alltag wird wesenhaft bedeutsam nicht nur, weil er der konkrete Ort der Subjekte ist, sondern auch, weil er der Ort konkreter Inter-Subjektivität ist. ­Luther fordert daher für die Seelsorge die konsequente Wahrnehmung des Anderen und seiner »Ander-heit« ein. Gleichzeitig liegt ihm daran, den Alltag selbst ein Stück weit zu rehabilitieren: Mit seinen potentiell unendlich vielen Brüchen und Stellen des Übergangs ist er die Lebenssphäre, die selbst potentiell unendlich viele religiöse Akte der Individuen evoziert. Die Antwort auf diese Fülle an möglichen Erfahrungen ist der »mikrologische Blick«112. Das Anliegen der Rehabilitation des Alltags verliert sich an vielen Stellen unter dem Einfluss der Repressionsthese. Zusammenfassende und weiterführende Reflexionen (Teil I): Alle drei vorgestellten Konzepte bearbeiten die Frage, was denn nun Seelsorge ist bzw. zu sein hat. Alle drei Konzepte lassen sich bei der Beantwortung dieser Frage von jeweils gewählten, unterschiedlichen ›Partnerdisziplinen‹ unter 112 Luther, H., ebd., 252; der Begriff stammt ursprünglich von Theodor W. Adorno und Walter Benjamin. Zum »mikrologischen Blick« vgl. auch die Predigtsammlung »Frech achtet die Liebe das Kleine« (1991). – Diesem Anliegen Luthers ist mit Blick auf die individuell erfahrene Alltagskultur I. Mädler mit einer qualitativ-empirischen Untersuchung nachgegangen, vgl. Mädler, I., Transfigurationen.

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stützen: Joachim Scharfenberg konsultiert Grundeinsichten der Psychoanalyse Sigmund Freuds, Isolde Karle bezieht die Systemtheorie Niklas Luhmanns ein. Henning Luther nimmt ganz unterschiedliche Impulse auf, setzt sich aber im Wesentlichen, in seine Herangehensweise prägender Weise, mit der Philosophie Emmanuel Lévinas’ auseinander. Gewisse Themen erscheinen als eng mit der poimenischen Reflexion verbunden: der Topos der Freiheit, die Frage der ethischen Entscheidung, das Thema Kommunikation und Sprache bzw. die symbolische Verfasstheit religiöser Rede. Während bei Scharfenberg Freiheit vor allem im Zusammenhang mit der Aufdeckung von Problemstrukturen im Bereich des Unbewussten zusammengedacht wird, geht es bei Luther eher um die Befreiung des Subjekts aus der entfremdenden alltäglichen Lebenswelt bzw. aus Zwängen, die die Gesellschaft den Individuen mit dem Ziel der Uniformierung auferlegt. Beide, Scharfenberg wie Luther, verorten die wirkliche Befreiung explizit eschatologisch. Die Ermöglichung (relativer) Freiheit wiederum ist die Voraussetzung der ethischen Entscheidung, so Scharfenberg. Während sich der ethische Impuls bei Karle vorwiegend aus der Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition speist, erwächst er bei Scharfenberg und Luther aus dem Gespräch bzw. in der Begegnung mit dem Anderen. Die ethische Entscheidung gründet in der Intersubjektivität, in der Wahrnehmung des Anderen, darin, so Luther, unverwechselbar angesprochen zu sein, in dem Wissen, antworten zu müssen. Explizit wird der Problemzusammenhang Kommunikation bzw. symbolische Interaktion bei Karle und Scharfenberg thematisiert. Beide betonen die Wirkkraft von Erzählungen und Symbolen aus der christlichen Tradition. Scharfenberg geht darüber hinaus auf die Notwendigkeit einer Symbolkunde mit Blick auf gegenwartskulturelle Phänomene ein. Mit dieser Blickrichtung, die nicht das Zentrum der Arbeiten Scharfenbergs ausmacht, trifft sich das Interesse Luthers an einer Hermeneutik der Gegenwartskultur, vor allem literarischer Werke. Was beiden wesentlich eigen ist, ist die Frage der Relevanz von Überlieferungen der christlichen Tradition bzw. der gegenwärtigen Christentumspraxis für die modernen Individuen. Auch Karle beschäftigt sich mit dieser Frage, findet ihre Antwort allerdings relativ abstrakt in Funktionszuweisungen entlang gesellschaftlicher Systemgrenzen. Der Aspekt der Relevanz ist derjenige, mit dem sich alle drei Konzepte eindringlich auseinandersetzen. Mitverhandelt wird bei allen drei Positionen – latent oder explizit – das Problem des Verstehens fremder Selbst­ verhältnisse. Als Limesbegriff erhält das Problem des Fremdverstehens erst bei Luther Gestalt. Die genannten Themen – Freiheit, ethische Entscheidung, Kommunikation bzw. symbolische Interaktion, Relevanz – sind mit den in diesem ersten Teil der Arbeit gewählten Kategorien ›Identität‹, ›Religion‹, Sinn‹ und ›Alltag‹ eng verflochten, so dass jedes Thema anhand jeder Kategorie theoretisch durchgespielt werden kann. Damit erweisen sich die gewählten Kategorien als sinnvoll für die poimenische Analyse.

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Substantiell fällt die Auseinandersetzung der drei Konzepte mit den konkreten Kategorien unterschiedlich aus: Die Auswertungen hierzu finden sich in den zusammenfassenden Abschnitten am Ende einer jeweiligen Darstellung, insofern sollen hier Redundanzen vermieden werden. Entsprechend dem Befund, holzschnittartig dargestellt, dass es allen drei Konzepten Schwierigkeiten bereitet, die Kategorie ›Religion‹ mit der Frage zu vermitteln, wie sich individuell Sinn überhaupt erst systematisch aufbaut, wie sich also Deutung von Erfahrung aufbaut, ist der Blick umso dringlicher auf die alltägliche Lebenswelt und die ihr inhärenten Sinn-produktiven Strukturen zu lenken, denen jeder und jede ausgesetzt ist. Durch seine ausgiebige Beschäftigung mit dem Thema ›Alltag‹ weist Henning Luther die Richtung, nicht zuletzt, weil ihm die Intersubjektivität, die Begegnung mit dem Anderen, Ausgangspunkt, Voraussetzung für die Selbstund Weltdeutung des Subjektes ist. Die alltägliche Lebenswelt, als Ort konkreter Intersubjektivität, als Sphäre, in der die Subjekte als Handelnde auftreten, wird das Thema des folgenden Teils II sein. Mit Blick auf das Problem, wie die Kategorie ›Religion‹ mit der Frage vermittelt werden kann, wie sich individuell Sinn überhaupt erst systematisch aufbaut, wie sich Deutung von Erfahrung aufbaut, wird sich das Thema des Relevanzaufbaus herauskristallisieren. Für die Auseinandersetzung mit dem Problem der Relevanz und der Frage der Sinnkonstitution in Teil II wird die phänomenologisch orientierte Soziologie, wesentlich der Ansatz Alfred Schütz’, fruchtbar gemacht.

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Teil II: Die sinnhafte Konstitution der alltäglichen Lebenswelt: Alfred Schütz und die phänomenologisch orientierte Soziologie

Die Untersuchung der poimenischen Konzepte in Teil I hat gezeigt, dass der Alltag bzw. die alltägliche Lebenswelt zwar als Ort der Seelsorge (implizit) mitverhandelt wird, dass aber eine strukturelle Durchdringung des Verhältnisses von Alltag und Seelsorge aussteht. Auch wird das Problem der Intersubjektivität thematisch, ja, zumal bei Henning Luther virulent, eine Fokussierung auf das Problem des Fremdverstehens i. e. des Verstehens fremder Selbstverhältnisse verbunden mit der Frage, was dieses Problem für die seelsorgliche Situation bedeutet, ist vertiefend zu behandeln (die Aporie bei Henning Luther wurde formuliert). Bevor also im dritten Teil dieser Studie nach den aus dieser Bestimmung folgenden konzeptionellen Konsequenzen für die Seelsorge gefragt wird, widmen sich die folgenden Kapitel des Teils II der Frage, anhand welcher struktureller Elemente der alltäglichen Lebenswelt sich subjektiver wie objektiver Sinn aufbaut. Teil II leistet also – über die Rezeption soziologischer Theorie – grundlegende Vorarbeit für eine Skizzierung dessen, was unter einer alltagstheoretisch fundierten Seelsorge verstanden werden kann. Wie gerade die Beschäftigung mit dem Ansatz Henning Luthers gezeigt hat, ist eine differenziertere Betrachtung zur Verhältnisbestimmung der beiden Kategorien ›Alltag‹ und ›Sinn‹ für die poimenische Reflexion dringend notwendig. Allen drei im vorangegangenen Teil vorgestellten poimenischen Konzepten ist die Schwierigkeit eigen, dass sie nicht oder nur ungenügend reflektieren, wie die Kategorie ›Religion‹ mit der Frage zu vermitteln ist, wie sich individuell Sinn systematisch aufbaut, wie sich Deutung von Erfahrung aufbaut. Das Anliegen einer alltagstheoretischen Fundierung der Poimenik, wie es die vorliegende Arbeit vertritt, lässt sich dabei von folgenden Fragen leiten: 1. Wie baut sich Sinn als Grundelement alltagsweltlicher Erfahrung auf? Welche Strukturen der alltäglichen Lebenswelt lassen sich mehr oder weniger allgemeingültig beschreiben? – 2.  Wie lässt sich Religion im Zusammenhang (alltags-) lebensweltlichen Sinnaufbaus verorten? Welcher Ort kommt der religiösen Erfahrung im Aufbau der Alltagswelt zu? – 3. Welche Konsequenzen hat dies für die religiöse Rede wie für denkbare Gestalten der seelsorglichen Praxis, die sich in die alltägliche Lebenswelt eingebettet weiß? – 4. Was folgt für die Seelsorge methodisch aus dem Problem des Fremdverstehens?

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Die sinnhafte Konstitution der alltäglichen Lebenswelt

Dieser zweite Teil  der Arbeit stellt zum überwiegenden Teil  die phänomenologisch orientierte Soziologie Alfred Schütz’ vor: Ihr Entwurf der sinnhaften Konstitution der alltäglichen Lebenswelt, ihre Reflexion genetischer wie phänomenologischer Transzendenzen verweist immer wieder auf das grundlegende Problem der Intersubjektivität. Schütz’ Arbeit gründet zu wesentlichen Teilen in der Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserls, vor allem dessen Lebenswelt-Begriff, und in der Beschäftigung mit den Werken Henri Bergsons und Max Webers. In einer zunehmenden Abkehr von der transzendentalen Phänomenologie, wie sie Husserl vertritt, fundiert Schütz Sinnkonstitution als Bewusstseinsleistung des Subjekts in der sozialen Interaktion. Die Einführung der phänomenologischen Methode in die Soziologie gründet bei Schütz in einem veränderten Wissenschaftsselbstverständnis: Der Zugang zu subjektivem Sinn handelnder Individuen von soziologischer (beobachtender) Seite aus ist viel komplexer zu fassen als die In-eins-Setzung von Selbst- und Fremdverstehen, welche Schütz Weber vorwirft.1 Über den Schütz’schen Ansatz hinaus werden vor allem weiterführende Arbeiten Thomas Luckmanns und Peter L. Bergers mit Blick auf die Frage nach Institutionalisierung  – im Zusammenhang der Frage nach kulturellen Objektivationen intersubjektiver Sinnkonstitution – bzw. der Aufgabe von Institutionen herangezogen. Gliederungsprinzip dieses zweiten Teils ist dabei der Nachvollzug der verschiedenen Ebenen (inter-) subjektiver Sinnkonstitution: In ihren Sinnkon­ stitutionsprozessen sehen sich die Subjekte immer schon auf ihre soziale Umwelt verwiesen. Über Vorgänge der Internalisierung, Objektivation und Externa­ lisierung verwandeln sich die Subjekte Welt an; dies impliziert neben der Übernahme vorgedeuteter Sinnmuster auch die Möglichkeit und Fähigkeit, ›neuen Sinn‹ aus sich heraus zu setzen. In einem vorklärenden Kapitel (5.) wird zunächst der Lebenswelt-Begriff Husserls in groben Zügen erläutert sowie sein Verständnis bei Alfred Schütz (und Thomas Luckmann)2 vorgestellt. Es schließen sich drei größere Kapitel an, die sich dem Thema des Fremdverstehens als hermeneutischem Kernthema im Spannungsverhältnis zwischen ›subjektivem‹ und ›objektivem‹ Sinn widmen: zum einen mit Blick auf die Bedeutung des Anderen für die Konstitution des Selbst (6.), dann hinsichtlich der Konstitutionsprozesse 1 Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 86 f. 2 An vielen Stellen wird das Werk »Strukturen der Lebenswelt« zugrunde gelegt (und nach der Ausgabe aus dem Jahr 2003 zitiert). Dieses entstand, in seiner jetzigen Form, durch die Feder Thomas Luckmanns, welcher in seinen Ausführungen wiederum auf vorhandene, ausführliche Skizzen von Alfred Schütz zurückgriff. Schütz verstarb mitten in der Arbeit an diesem lange von ihm geplanten Buch. Zu detaillierteren Erläuterungen der konzeptionellen Umsetzung vgl. das von Thomas Luckmann verfasste Vorwort zu den »Strukturen der Lebenswelt«: Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 13 ff.  – Vgl. auch Kap. II.8.1., Anm. 1.

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von Sinn im Bewusstsein des Subjekts, also des Einzelnen (7.), schließlich mit dem Interesse, den Zusammenhang von Intersubjektivität und Institutionalisierung als Konventionalisierung des Fremdverstehens zu beschreiben (8.). Teil II schließt mit dem Kapitel zur Frage nach der Bestimmung von Religion, zur Frage der Erscheinungsformen des Religiösen (9.). Oft werden in der Literatur die Begriffe ›Alltag‹ und ›Lebenswelt‹ synonym verwendet. Die Terminologie der vorliegenden Arbeit schließt sich einer Klärung an, die Richard Grathoff vorgenommen hat: Auf der Basis des LebensweltBegriffs Edmund Husserls macht Grathoff die Differenzierung zwischen Lebenswelt und Alltag an der konkreten Geschichtlichkeit des Alltags fest: Der Alltag ist das »stets vorgegebene soziale Konstrukt einer bereits vielfältig vorkonstituierten Welt in ihrer stets konkreten Geschichte.«3 Die Alltagswelt – oder auch: alltägliche Lebenswelt – ist konkret, historisch, gesellschaftlich. In und mit dieser konkreten Gegebenheit kommt es den Einzelnen zu, durch Aufbau und Nachvollzug Sinn im Alltag des eigenen Lebens zu konstituieren. Die Lebenswelt hingegen wird als Bezugspunkt der Mannigfaltigkeit lebenswelt­licher Gegebenheiten durch die phänomenologische Methode der Reduktion anschaulich. Sie besitzt invariante und irrelative Strukturen. So bildet sie quasi den Hintergrund für Alltag. Diese Verhältnisbestimmung erläutert Grathoff an der exemplarischen Nennung verschiedener alltäglicher Sachverhalte und ihrer lebensweltlichen Korrelate: Den alltäglichen Sachverhalten der sozialen Beziehung, des sozialen Bewusstseins, des sozialen Sinns und der Kommunikation entsprechen etwa die lebensweltlichen Korrelate der Intersubjektivität, der Intentionalität, der Reduktion und der Typik.4 Die phänomenologische Sozialtheorie ist nun durch ihre Bindung an die Empirie dazu gezwungen, die lebensweltlichen Begriffe in den alltäglichen Diskurs der Disziplin einzubringen. So werden Lebenswelt und Alltag – bei gleicher Gültigkeit der zuvor getroffenen Unterscheidung – faktisch einheitlicher Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung in der Gemengelage verschiedener methodischer Ansätze.5 Die Unterscheidung zwischen Lebenswelt und Alltag ist mit Bezug auf den Begriff der Typik zu fassen: »Die Typik des Alltags gründet […] in der Sinnstruktur alltäglichen Handlungserlebens, die zwar Strukturen der Relevanz hat, aber kein System. Die ›Struk­ turen der Lebenswelt‹ und die ›Systeme des Alltags‹ werden im Begriff der Typik voneinander getrennt.«6 Die vorliegende Arbeit will also über die Beschreibung der lebensweltlichen Strukturen typische Aussagen über potentielle Systematisierungen des Alltagslebens treffen. Die Sensibilität für unhintergehbare Strukturmuster mit Blick auf

3 Grathoff, R., Alltag und Lebenswelt, 68. 4 Vgl. Ebd., 69 f; vgl. auch: ders., Milieu und Lebenswelt, 106 ff. 5 Vgl. ders., Alltag und Lebenswelt, 70. 6 Ebd., 77.

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die Konstitution vor allem von subjektivem, aber auch von objektivem Sinn, ist für die Seelsorge in Theorie und Praxis wichtig, hat sie ein Interesse daran, selbst thematisch relevant zu sein bzw. zu werden. Eingesetzt wird mit einem Blick auf den Lebenswelt-Begriff Husserls, um nachvollziehen zu können, wie dieser Begriff von Schütz im Rahmen seines eigenen theoretischen Ansatzes neu ak­ zentuiert wird.

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5. Der Lebenswelt-Begriff bei Edmund Husserl und seine Neu-Akzentuierung bei Alfred Schütz Husserl geht es zunächst wesentlich um eine Neukonstitution der Philosophie als Wissenschaft, darum, die Philosophie als Grundlagenwissenschaft neu zu etablieren. Die Phänomenologie entsteht Anfang des 20. Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit dem Psychologismus der Logik1 und methodisch als kri­ tische Entgegensetzung zum verbreiteten Wissenschaftspositivismus und zur Erkenntnishaltung des Objektivismus, welche die moderne Wissenschaft (und mit ihr das Leben in der verwissenschaftlichten Welt) in eine Sinnkrise führt. Wissenschaft, so der Befund, dem auch Husserl folgt, Philosophie und Lebensbedeutsamkeit haben keine gemeinsame Mitte mehr. Als »Prinzip aller Prinzipien« formuliert Husserl, »[…] daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen.«2

Husserl geht es also um einen Rückgang auf die Sachen selbst, unter Voraus­ setzung transzendentaler Bewusstseinsakte mittels der so genannten phäno­ menologischen Reduktion, welche die Epoché als ›Einklammerung‹ selbstverständlichen Weltwissens und den Zugang zur transzendentalen Konstitution (bei angenommenem Korrelationsapriori von Bewusstsein und als ›etwas‹ vermeintem Gegenstand) bezeichnet. Der Gedanke der ›Lebenswelt‹ bzw. der methodische Rückgang auf die ›Lebenswelt‹ dient dabei als integrierendes Moment im Versuch der Begründung wissenschaftlichen Wissens. Schütz nimmt, nach einer Periode der Beschäftigung mit der Philosophie Henri Bergsons, wesentliche Gedanken der philosophischen Phänomenologie auf und wendet sie zu einer Form »mundaner Phänomenologie«3.

1 Vgl. Slenczka, N., Art. Phänomenologie, 770; vgl. Srubar, I., Kosmion, 28. 2 Husserl, E., Ideen I, 52. Im Original hervorgehoben. 3 Waldenfels, B., Einführung in die Phänomenologie, 99. – Zur detaillierten Schütz’schen Theoriegenese vgl. Srubar, I., Kosmion; vgl. ders., Abkehr, 68 ff.

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Die sinnhafte Konstitution der alltäglichen Lebenswelt

5.1 Der Begriff der ›Lebenswelt‹ bei Edmund Husserl Der Begriff ›Lebenswelt‹ wird erst in Husserls Spätwerk, in seiner Schrift »Die Krisis der europäischen Wissenschaften und ihre transzendentale Dimension« (1936), zum fixen Terminus, welcher, semantisch vereindeutigt, vorgängige Begriffe wie ›Erlebniswelt‹, ›Erfahrungswelt‹ und ›Umwelt‹ umfasst. Man kann annehmen, dass sich Husserl der Lebenswelt als Thema systematisch erst als Reaktion auf Martin Heideggers »Sein und Zeit« (1927) zuwendet.4 ›Lebenswelt‹ bezeichnet bei Husserl nun den thematisch unbestimmten Horizont der Subjektrelativität und bildet, als Vorgegebenes, erst die Grundlage für Wissenschaft. Insofern ist das Offenlegen des Ursprungs aller Wissenschaft im Rückbezug auf die Lebenswelt quasi eine Möglichkeit der Selbstbesinnung, eine Möglichkeit der Überwindung der Krisis: Denn die Erkenntnishaltung des Objektivismus‹ fußt in einer bewusstseinsgeschichtlichen Urstiftung, welche als historisches Ereignis memoriert werden muss. Indem die Wissenschaft sich also dieses Stiftungscharakters bewusst wird, bleibt ihr keine andere Möglichkeit, als sich auf ihre vorgängigen Wurzeln zu beziehen – also auf die Lebenswelt. Dabei definiert Husserl in der »Krisis« ›Lebenswelt‹ als »[…] raumzeitliche Welt der Dinge, so wie wir sie in unserem vor- und außerwissenschaftlichen Leben erfahren und über die erfahrenen hinaus als erfahrbar wissen.«5

›Lebenswelt‹ bezeichnet also die unthematische Anschauungswelt; sie ist im Voraus da und ist Boden und Horizont aller außertheoretischen wie theoretischen Praxis6, in apriorischer Seinsweise. Die Welt ist nicht nur für den Einzelnen und seine Weltwahrnehmung, vielmehr liegt in ihrer Wahrnehmung  – als »Vergemeinschaftung des schlicht Wahrnehmungsmäßigen«7 – die Teilhabe am Leben Anderer durch die gemeinsame, wenn auch subjektive, Wahrnehmung. Charakteristisch ist für die Lebenswelt, dass sie »als physisch-naturale Umgebung um eine leibliche, kinästhetisch vermögliche Ichlichkeit zentriert ist, die ihrerseits stets wahrnehmend-erfahrend auf irgendwelche einzelnen Dinge ihrer Umwelt gerichtet ist.«8 Mit der Varianz der von der subjektiven Wahrnehmung abhängigen Erscheinungen nimmt Husserl apriorisch invariante und irrelative Strukturen von Welt an, die über die Methode der Wesensschau hinter der Mannig­ faltigkeit lebensweltlicher Gegebenheiten sichtbar werden. Die Lebenswelt ist der Universalhorizont, auf den sich die so genannte ›natürliche Einstellung‹ bezieht. Das bedeutet gleichzeitig, dass alle varianten und relativen, geschichtlichen Lebenswelten ein- und derselben Welt (-struktur) eignen.

4 Vgl. Fellmann, F., Lebensphilosophie, 202. 5 Husserl, E., Die Krisis, 141. 6 Vgl. ebd., 145. 7 Vgl. ebd., 166. 8 Janssen, P., Art. Lebenswelt I, 153; vgl. Husserl, E., Erfahrung und Urteil, 23 ff.

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Der Begriff der ›Lebenswelt‹ bei Edmund Husserl

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Die Lebenswelt ist immer generativ-geschichtlich, das heißt sie ist in ihren mannigfaltigen Erscheinungsweisen konkret von Menschen gestaltete Umwelt. Insofern ist Husserls Transzendentalphilosophie »Besinnung auf das verantwortliche Subjekt, dem die Welt erscheint.«9 Alle Idealisierungen wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Art finden in der Lebenswelt ihren Existenzgrund – und damit ihren Sinn. Denn die Erzeugung der Idealisierungen findet ihre Motivation ausschließlich in der Lebenswelt. Als Sedimentierungen bilden die Idealisierungen sozusagen ein passives (unter Umständen vorprädikatives) Wissen, das mehr oder weniger selbstverständlich der Lebenswelt zugehört. Über eine Reaktivierung der Sinnesidentität kann jedoch auf die ›Ur­stiftung‹ zurück gegangen werden, so dass die Lebenswelt in ihrer Selbstreflexion wie in ihrer Sinnsetzung potentiell konsistent, aber auch transparent ist. Die Lebenswelt hat in diesem Sinne also »Boden- und Leitfadenfunktion«10. Sie bildet einerseits den Grund für die wissenschaftliche Tätigkeit, ist aber im erstrebten Rückgang auf die transzendentale Subjektivität nur Zwischenschritt und leitend insofern, als die Lebenswelt selbst in ihrer Konstitution eine Leistung des transzendentalen/absoluten Ego ist und insofern auf die Weisen jener konstitutiven Bildung hin untersucht werden kann.11 Klaus Held umschreibt Husserls Idee der Lebenswelt als »die eine umfassende Welt, de[n] Universalhorizont, auf den sich der Seinsglaube der natürlichen Einstellung bezieht.«12 Deutlich ist Husserls Interesse, in jenem transzendentalen Ich ein Letztes zu finden, auf dem alles gründet und welches alles hervorbringt: Die transzendentale Subjektivität bildet das Universum allen möglichen Sinns. Husserl muss sich mit dieser Konzeption dem Einwand des Solipsismus stellen, welcher die Frage nach der Möglichkeit des Fremdverstehens mit sich bringt. Andererseits scheint auch sein, als vermittelndes Element gedachtes, Konzept ›Lebenswelt‹ nicht ganz widerspruchsfrei hinsichtlich des Verhältnisses von Genese und Invarianz. So kritisieren etwa Ludwig Landgrebe und Bernhard Waldenfels, dass das Ergebnis eines prozessualen Verständnisses von Welt keine Ontologie sein kann: Die Annahme von ›Lebenswelt‹ als Konkret-Geschichtliches wie Universales führe in eine Aporie.13 Nach dieser kurzen Skizze des Lebenswelt-Begriffs bei Edmund Husserl wird zu fragen sein, in welcher Weise Alfred Schütz ihn für die Soziologie fruchtbar machen kann bzw. in welcher Form die Phänomenologie Eingang in die Soziologie findet. 9 Held, K., Einleitung, 52. 10 Die Leitfadenfunktion benennt das transzendentale Begründungsinteresse der Phäno­ menologie, die Bodenfunktion die Fundierung der Wissenschaft in der Lebenswelt.  – Vgl. Welz, F., Kritik der Lebenswelt, 82. 11 Vgl. Welz, F., ebd., 86. 12 Held, K., ebd., 52. 13 Vgl. Landgrebe, L., Lebenswelt und Geschichtlichkeit, 33; vgl. Waldenfels, B., Abgründigkeit, 129. – Zur weiteren Kritik vgl. Welz, F., ebd., 89 ff.

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5.2 Phänomenologie als sozialwissenschaftliches Instrumentarium: die wissenschaftstheoretischen Eckpfeiler der Theorie Alfred Schütz’ Alfred Schütz gelingt es, die Phänomenologie methodisch und sachlich für die Sozialforschung im Rahmen seiner »mundanen Phänomenologie«14 langfristig fruchtbar zu machen. Horizont und Interesse der Überlegungen Schütz’ ist die Erhellung der Strukturen der sozialen Wirklichkeit – so verfolgt er eine genuin soziologische Perspektive, unter konstitutiver Zuhilfenahme der philosophischen Phänomenologie. Schütz’ Fokus liegt von Anbeginn auf dem von Husserl so benannten Phänomen der ›natürlichen Einstellung‹ gegenüber aller transzendentaler Philosophie.15 Zugleich lässt sich bei aller inhaltlicher Differenz ein gemeinsames Anliegen bei Schütz und Husserl ausmachen: der Rückgang auf Subjekt und Urphänomen.16 In seinen Überlegungen zur verstehenden Soziologie geht Schütz vom Begriff des sinnhaften Handelns bei Max Weber aus. Nach Weber ist es Angelegenheit der verstehenden Soziologie, »[…] soziales Handeln deutend zu verstehen, Handeln, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist. […] ›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob es äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.«17

Grundlegend auch für Schütz ist Webers Rückführung aller sozialer Beziehungen, ihrer Institutionalisierungen, aller Regionen des objektiven Geistes und kultureller Objektivationen auf das soziale Verhalten Einzelner.18 Auch Schütz geht es um die Rekonstruktion des durch das wechselseitige Handeln der Menschen entstehenden sinnhaften Aufbaus der sozialen Wirklichkeit. Der Sinn, der Wirklichkeit und Handeln zugeschrieben wird, entsteht aus dem Handeln selbst. Im Gegensatz zu Weber will Schütz jedoch nicht an einer Grenze des vermeintlich nicht weiter Ausführbaren stehen bleiben19, sondern vielmehr die zugrunde liegenden Strukturen erhellen: So kritisiert Schütz an Webers Handlungstheorie, dass diese in mangelhafter Weise unterscheide »zwischen Handeln als Ablauf 14 Waldenfels, B., Einführung in die Phänomenologie, 99. 15 Vgl. Baeyer, A. von, Einleitung, 10. 16 Vgl. Welz, F., ebd., 124. 17 Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft, 1. 18 Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 86. 19 Schütz schreibt: »Seine Analyse der sozialen Welt bricht in einer Schicht ab, die nur scheinbar die Elemente des sozialen Geschehens in nicht weiter reduzierbarer oder auch nur in nicht weiter reduktionsbedürftiger Gestalt sichtbar macht.« (Ebd., 87.)

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und vollzogener Handlung, zwischen dem Sinn des Erzeugens und dem Sinn des Erzeugnisses, zwischen dem Sinn eigenen und fremden Handelns bzw. eigener und fremder Erlebnisse, zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen«20. Anders formuliert: Die Herangehensweise Webers setzt sich ihre Grenze auf einer Deutungsebene, die dem Problem des Fremdverstehens nicht in fundamentaler Weise gerecht wird.21 An dieser Stelle wird die Bedeutung der phänomenologischen Theorie mit ihrem Interesse an der Freilegung von Urphänomenen offenbar: Schütz hat den Vorsatz, Grundlagen der sozialwissenschaftlichen Problematik mit den fundamentalen Prozessen des Bewusstseinslebens zu korrelieren. Allerdings wählt er zunächst das Werk des Lebensphilosophen Henri Bergson als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Objektivierung von Sinn bzw. den Prozessen von Sinngebung im Bewusstsein.22 Schütz richtet seinen Blick auf die Schnittstelle zwischen den Sinnstrukturen der Wirklichkeit und dem menschlichen Handeln, welches mit jenen in einem reziproken Verhältnis steht. Sinn wird somit als kleinste Funktionseinheit beschreibbar. Zur Bestimmung dessen, was er mit ›Sinn‹ bezeichnen möchte, greift Schütz nun in seinem Werk »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt« (1932) auf die Ausführungen Henri Bergsons und dessen Unterscheidung zwischen Hin­ leben im Erlebnisstrom und Leben in der raumzeitlich begriffenen Welt zurück.23 Bergson geht davon aus, dass der Bewusstseinsstrom der inneren Dauer unreflektiert ist, dass Erlebnisse nicht als abgegrenzte Einheiten vorliegen24, während allein in der raumzeitlichen Welt Beharrendes existiert. Den inneren Dauerablauf nennt Bergson durée.25 Die Strukturierung des Bewusstseinsstroms erfolgt erst in der rückwärts gewandten Reflexion, indem ein jeweiliges Erlebnis aus jenem Strom hervorgehoben wird. Das hat für den Schütz’schen Sinnbegriff die Konsequenz, dass »nur das Erlebte sinnvoll [ist], nicht aber das Erleben«26. Sinn wird immer erst nachfolgend manifest in der dem Erlebten nachfolgenden Reflexion (so sie denn erfolgt). Dabei erfolgen die Prozesse der Sinnzuschreibung im einzelnen Subjekt, da nur diesem der jeweilige Handlungssinn in jeweiligen Bewusstseinsakten zugänglich ist. Damit erhält die soziologische Betrachtung ihren phänomenologischen Charakter: Ausgangspunkt der Beschreibung ist das Subjekt, das Ego, welches Welt ›strukturiert‹, und somit nicht zuletzt konstituiert. Methodisch ergibt sich hier für die Sozialwissenschaften ein Problem: 20 Ebd. 21 Vgl. ebd., 87 f. 22 Vgl. Srubar, I., Kosmion, 44; vgl. Schütz, A., Lebensformen und Sinnstruktur, 49 ff. – Zum Einfluss Bergsons auf das Denken Schütz’ vgl. Srubar, I., ebd., 44 ff. 23 Zuerst in »Essai sur les données immédiates de la conscience«, 1889, dt. »Zeit und Freiheit«, 1949 (1911). 24 Vgl. Bergson, H., Zeit und Freiheit, 66 ff. 25 Vgl. Schütz, A., ebd., 139. 26 Ebd., 146.

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Von Interesse ist die Möglichkeit des Fremdverstehens – und dies funktioniert mit der Schützschen Position nur über die Konstruktion eines generalisierten Ego bzw. über die Annahme eines Vorrats von typischen sozialen Deutungsschemata, welche die Handlungsmotive von Ego und Alter thetisch in eins setzen können. Dabei kommt es bei Schütz nicht nur zu einer »personalen idealtypischen Konstruktion«27, sondern auch zu strukturalen idealtypischen Konstruktionen. Nach Frank Welz geht es Schütz entsprechend um eine »objektiv verifizierbare Theorie‹ – nur eben ›von subjektiven Sinnstrukturen‹«28. Dieser Sachverhalt, falls man denn diese Bestandsaufnahme in der Schärfe teilen möchte, ergibt sich allerdings notwendig aus dem Interesse Schütz’ an der phänomenologischen Untersuchung der so genannten ›natürlichen Einstellung‹ des mundanen Subjekts und des sinnhaften Aufbaus der Welt, welcher durch das Handeln – und in dessen Folge: durch Handlungen – eben jenes mundanen Subjekts erst konstituiert wird. Insofern liegt der ›Stein des Anstoßes‹ an der Schützschen Metatheorie im genuinen Interesse der Sozialwissenschaften begründet sowie in der Frage der Verhältnisbestimmung von philosophischer Phänomenologie und Soziologie und soll im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter ausgeführt werden.29

5.3 ›Lebenswelt‹ bei Alfred Schütz und Thomas Luckmann – ›natürliche Einstellung‹ und Sinnverstehen Alfred Schütz und Thomas Luckmann30 geht es um eine Analyse der zeitlichen, räumlichen und sozialen Aufschichtung der Lebenswelt. Die alltägliche Lebenswelt wird zunächst bestimmt als »[…] die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr durch die Vermittlung seines Leibes wirkt. […] Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet. Mit ›schlicht gegeben‹ bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch ist.«31 27 Ebd., 350. 28 Welz, F., ebd., 153. 29 So kritisiert Lawrence E. Hazelrigg etwa, dass Schütz epistemologische Begründungsstrukturen sehr denen der positivistischen Wissenschaften ähneln, denen er eigentlich etwas anderes entgegensetzen möchte (vgl. Hazelrigg, L. E., Social Science, 330.) – Ähnlich argumentiert auch John R. Hall, dass Schütz mit der Konstruktion empirisch-idealtypischer ­Modelle den Boden der Phänomenologie verlassen habe (vgl. Hall, J. R., Alfred Schutz, his ­critics, and applied phenomenology, 270). Zur ausführlichen Diskussion unter Einbezug des Einflusses des Neukantianismus auf den Ansatz Schütz’ verweise ich nochmals auf: Welz, F., Kritik der Lebenswelt, hier bes. 136–187. 30 Vgl. Kap. II.5, Anm. 2. 31 Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 29.

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Das heißt also, dass es sich bei der alltäglichen Lebenswelt um diejenige Welt handelt, in die der Mensch hineingeboren und -sozialisiert wird, und von der er es zunächst nicht für notwendig erachtet, sie zu hinterfragen, da ihm in ihr selbstverständlich erscheinende Strukturen begegnen. Diese Strukturen bleiben in der Regel so lange vorreflexiv und vorprädikativ, wie kein Anlass zu ihrer Problematisierung besteht – Anlässe dieser Art können klassischerweise etwa in Krisensituationen gesehen werden, wenn zum Beispiel durch den Tod eines nahe stehenden Menschen die eigene Lebenszeit zum Thema wird und sich dadurch die Frage auftut, wie die alltägliche Lebenszeit gestaltet werden will. Die alltägliche Lebenswelt ist also zunächst vorreflexiv und vorprädikativ. Sie bildet einen Ausschnitt aus dem Gesamt der Lebenswelt mit ihren unterschiedlichen Sinnprovinzen, und ihr ist eine spezifische Bewusstseinsspannung eigen. Davon wird noch die Rede sein. Diesem Teil der Lebenswelt kommt insofern eine hohe Bedeutung zu, da er es ist, in dem Menschen miteinander kommunizieren, in dem Menschen wirken – Schütz nennt die Lebenswelt des Alltags daher auch, in Anlehnung an William James, die »ausgezeichnete Wirklichkeit«32. Neben dieser »ausgezeichneten Wirklichkeit« existieren, wie erwähnt, andere Realitätsbereiche mit geschlossener Sinnstruktur. All jene »mannigfaltigen Wirklichkeiten« bilden in ihren potentiellen Manifestationen die eine Lebenswelt. Auch, wenn Schütz/Luckmann unspezifisch von ›Lebenswelt‹ sprechen, ist die ›alltägliche Lebenswelt‹ Ausgangsund Bezugspunkt ihrer Überlegungen. Worum handelt es sich nun, wenn Schütz von der ›natürlichen Einstellung‹ spricht, mit welcher sich der Mensch in seiner jeweiligen alltäglichen Lebenswelt orientiert und bewegt? Im Wesentlichen an dem Begriff der »relativ-natür­ lichen Weltanschauung« bei Max Scheler orientiert33, basiert die ›natürliche Einstellung‹ auf einem Pool sedimentierter Erfahrungen – wobei es sich bei diesen Erfahrungen vor allem um Mehrheitserfahrungen handelt, so dass die jeweilige Erfahrung quantitativ legitimiert wird. Der Einzelne muss so nicht immer wieder ihre Gültigkeit überprüfen; die Erfahrung kann jedoch ergänzt und unter Umständen durch eigene unmittelbare Vorerfahrungen unterstützt werden. Die Grenze der Fraglosigkeit der natürlichen Einstellung wird dort sichtbar, wenn eine neue Erfahrung nicht ohne weiteres mit dem bisher fraglos geltenden Bezugsschema in Übereinstimmung zu bringen ist.34 Für die natürliche Einstellung benennen Schütz/Luckmann nun sieben herkömmlich nicht weiter hinterfragte Konstitutiva: 32 Ebd., 29; Schütz, A., Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft, 180. 33 Zur Thesis der natürlichen Einstellung bei Husserl vgl. u. a.: Husserl, E., Ideen zu einer reinen Phänomenologie, 57 ff. 34 Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 35. Das ereignet sich exemplarisch in Krisensituationen. Die Krise stellt quasi das noch ungelöste Problem der Integration der neuen Erfahrung dar.

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»[…] a) die körperliche Existenz von anderen Menschen; b) daß diese Körper mit Bewusstsein ausgestattet sind, das dem meinen prinzipiell ähnlich ist; c) daß die Außenweltdinge in meiner Umwelt und der meiner Mitmenschen für uns die gleichen sind und grundsätzlich die gleiche Bedeutung haben; d) daß ich mit meinen Mitmenschen in Wechselbeziehung und Wechselwirkung treten kann; e) daß ich mich – dies folgt aus den vorausgegangenen Annahmen – mit ihnen verständigen kann; f) daß eine gegliederte Sozial- und Kulturwelt als Bezugsrahmen für mich und meinen Mitmenschen historisch vorgegeben ist, und zwar in einer ebenso fraglosen Weise wie die ›Naturwelt‹; g) daß also die Situation, in der ich mich jeweils befinde, nur zu einem geringen Teil eine rein von mir geschaffene ist.«35

Deutlich ist, dass die alltägliche Lebenswelt eben nicht nur ›Natur‹ umfasst, sondern auch die Sozial- und Kulturwelt, dass die alltägliche Lebenswelt insofern grundsätzlich eine intersubjektiv geteilte ist. Die Idealisierungen des ›Und-soweiter‹ und des ›Ich-kann-immer-wieder‹36 sorgen für die Annahme von Handlungsoptionen. Grundvollzug der ›natürlichen Einstellung‹ ist Sinndeutung, und so geht es Schütz um die Konstitutionsanalyse mit Blick auf das Sinnphänomen. Er kritisiert, wie bereits angemerkt, die Weber’sche Konzeption von Sinnverstehen insofern, als die sinnhaften Phänomene der sozialen Welt nicht als intersubjektiv konform anzusehen sind.37 So ist Fremdverstehen immer ein auf ein Alter Ego bezogener Deutungsakt im Horizont der Selbstauslegung des Deutenden: »›Gemeinter Sinn‹ ist also wesentlich subjektiv und prinzipiell an die Selbstauslegung durch den Erlebenden gebunden. Er ist für jedes Du wesentlich unzugänglich, weil er sich nur innerhalb des jemeinigen Bewußtseinsstromes konstituiert.«38 Damit dürfte erneut der Unterschied zur Husserl’schen Konstitution eines transzendentalen Ego markiert sein, denn Schütz plausibilisiert einen konkret-historischen und einen konkret-sozialen, alltagslebensweltlichen Sinnbegriff, welcher pragmatisch gefasst wird. So verweist er darauf, dass der Mensch gängigerweise die Auseinandersetzung mit Sinndeutungsprozessen des Alter Ego an dem Punkt abbricht, an dem die Orientierung des eigenen Handelns gegeben ist.39 Die pragmatische, und insofern auch oft vorreflexive Dimension lebensweltlicher Sinndeutungsprozesse zeigt sich zudem im Umgang mit Sedimentierungen ursprünglich sinnstiftender Akte reflexiver Auslegung, wie Zeichensystemen und Sprache, Kunstwerken und Institutionalisierungen des Handelns. 35 Ebd., 31. 36 In Aufnahme der Husserl’schen Idealisierungen (vgl. etwa Husserl, E., Formale und transzendentale Logik, 195 f) drückt sich in beiden Idealisierungen die Annahme aus, dass die Weltstruktur konstant ist bzw. bleibt, und dass die eigene Vorerfahrung weiterhin gilt. Unter diesen Prämissen kann wiederum davon ausgegangen werden, dass das Vermögen, auf diese oder jene Art zu handeln, bestehen bleibt. – Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 34. 37 Vgl. Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 88. 38 Vgl. Ebd., 222. Im Original hervorgehoben. 39 Ebd., 116 f.

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So erfuhr eine ursprünglich reflexive Auslegung unter Umständen Wiederauslegung und Habitualisierung und wurde, wie Schütz sagt, zu einer »SinnSelbstverständlichkeit«40 für Vorfahren und Zeitgenossen. Plausibel scheint diese vorreflexive Habitualisierung am Beispiel der Redewendungen zu werden, besonders an denjenigen Redewendungen, die mitunter nur noch schwer verstanden werden. So findet sich der Umstand, dass zwar viele Menschen noch um die etwaige Bedeutung einer jeweiligen Phrase wissen, aber oft nicht in der Lage sind, genau zu beschreiben, was die Einzellexeme bedeuten bzw. den ursprünglichen literalen Sinn der Redewendung nicht mehr erhellen können. So kann man annehmen, dass die Wiederauslegung einer typischen lebensgeschichtlichen Erfahrung zur Prägung eines Idioms führte, welches entweder nach wie vor plausibel ist und insofern problemlos semantisch reflektiert werden könnte, welches allerdings in den meisten Fällen konventionell/unreflektiert benutzt wird (›der Kelch ist an jemandem vorüber gegangen/vorbei gegangen‹; ›sein Mäntelchen nach dem Wind hängen‹), bzw. welches in seiner habitualisierten Handhabung erst wieder remotiviert werden müsste (vgl. ›am Hungertuch nagen‹; ›jmd. den Garaus machen‹).41 Ganz allgemein fasst Schütz den Sinnbegriff im ersten Kapitel in »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt« als grundlegend relationalen: »Sinn ist vielmehr […] die Bezeichnung einer bestimmten Blickrichtung auf ein eigenes Erlebnis, welches wir, im Dauerablauf schlicht dahinlebend, als wohlumgrenztes nur in einem reflexiven Akt aus allen anderen Erlebnissen ›herausheben‹ können. Sinn bezeichnet also eine besondere Attitüde des Ich zum Ablauf seiner Dauer. Dies gilt grundsätzlich für alle Stufen und Schichten des Sinnhaften.«42

Wie sind Aufschichtung und Sinnzusammenhang der Lebenswelt näherhin zu verstehen?

5.4 Aufschichtung der alltäglichen Lebenswelt Für Schütz ist die alltägliche Lebenswelt wesentlich durch soziale Bezüge, also intersubjektiv bestimmt. In Unterscheidung, auch hinsichtlich des Bekanntheits- bzw. Anonymitätsgrades, lassen sich differenzieren: Umwelt und Mitwelt, Vorwelt und Folgewelt. An jenen Graden im Abstand der Beziehung des Subjektes zu den es umgebenden anderen Subjekten werden weiterhin die räumliche und zeitliche Aufschichtung der Lebenswelt anschaulich. Die fortschreitende Vernetzung von Sinn denkt Schütz über die Annahme so genannter fringes (­Bedeutungshöfe/Bedeutungshorizonte mit ›offenen Rändern‹) und der Adap

40 Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 45. 41 Vgl. Burger, H., Phraseologie; vgl. Hümmer, C., Synonymie, 68 ff; 84 ff. 42 Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 127. Im Original hervorgehoben.

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tion der Husserl’schen Vorstellung von ›Appräsentation‹. Einer jeglichen Erfahrung des Subjekts ist dabei ein je spezifischer Erlebnis- und Erkenntnisstil inhärent, wobei die Erfahrung, nach Schütz, je nach Qualität, einem spezifischen »Realitätsbereich geschlossener Sinnstruktur«43 zugeordnet ist. Diesen Realitätsbereichen mit ihren jeweils charakteristischen Erlebnis- und Erkenntnisstilen (zu bestimmen unter den Aspekten des Grads der Wachheit, der vorherrschenden Form der Spontaneität, der besonderen Epoché, der spezifischen Form der Sozialität, der spezifischen Form der Selbsterfahrung und unter dem Aspekt der Zeitperspektive; als Beispiele nennt Schütz Phantasie, Traum, Religion, Wissenschaft) ist eine spezifische Spannung des Bewusstseins eigen. Das bedeutet, dass die Wirklichkeitsordnungen nicht etwa ein ontisches Gefüge darstellen, sondern vielmehr durch den Sinn menschlicher Erfahrung konstituiert werden.44 Die alltägliche Lebenswelt stellt in diesem Zusammenhang den »Urtypus der Realitätserfahrung dar«45. Ihr spezifischer Erlebnis- und Erkenntnisstil prägt die aufgeführten Aspekte wie folgt aus46: Die Bewusstseinsspannung ist die der hellen Wachheit. Die Epoché liegt in der Einklammerung des Zweifels: Dass die alltägliche Welt auch anders sein könnte, wird pragmatisch außer Acht gelassen. Die Form der Spontaneität besteht im sinnvollen Handeln, welches leiblich vermittelt ist. Die ihr eigene Form der Sozialität liegt in der Erfahrung der Subjektivität begründet: Die Mitmenschen teilen die gemeinsame Welt des Handelns und der Verständigung. Die Selbsterfahrung ist doppelgründig. Zum einen besteht sie in der »sozial ›gebundenen‹ Habe seiner Selbst unter verschiedenen Rollenaspekten und dem Handeln des ›freien‹ Ich.«47 Die Zeitperspektive konturiert sich in der Überschneidung von innerer Dauer und Welt-Zeit. In diesem Erlebnisstil konstituieren sich soziale, räumliche und zeitliche Strukturen in der alltäglichen Erfahrung: a) Umwelt und Mitwelt Die Sozialwelt ist nicht homogen, vielmehr unterscheidbar in vielfältige Regionen.48 Nach Schütz besitzt jede ihrer Regionen eine »besondere Gegebenheitsweise fremder Bewusstseinserlebnisse«49, sowie eine je spezifische Weise des Fremdverstehens. Eine differenzierte Wahrnehmung der verschiedenen sozialen Sphären erhellt die Voraussetzungen von Handlungsoptionen und Erreich­

43 Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 54 ff; vgl. Schütz, A., Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten; vgl. dazu ausführlicher Kap. II.9.1.2. 44 Vgl. Husserl, E., Ideen I, 134 ff. 45 Schütz, A.,/Luckmann, Th., ebd., 57. 46 Vgl. ebd., 70. 47 Ebd. 48 Vgl. dazu auch: Schütz, A., Das Problem der Personalität, 95 ff. 49 Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 285.

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barkeiten von Handlungszielen. Gleichwohl sind auch diese verschiedenen so­ zialen Sphären dem Subjekt schlicht vorgegeben. Schütz/Luckmann benennen als »Grundaxiome der sozialisierten natürlichen Einstellung«50 die Existenz von mit Bewusstsein ausgestatteten Mitmenschen und die Erfahrbarkeit der Gegenstände der Lebenswelt für die Mitmenschen. Nun existieren verschiedene Gründe, warum ein Objekt, wie es dem Einen erscheint, sich dem Anderen auf unterschiedene Weise darstellt (aus Gründen der räumlichen Gliederung der Lebenswelt, der biographischen Artikulation, der Erfahrung mit Blick auf die eigene Wirkzone). Jene unterschiedlichen Motivationen werden allerdings zunächst aus sozial-pragmatischem Anlass ausgeblendet, um einen Pool von vergemeinschaftenden Basisannahmen bilden zu können (objects of thought bei Alfred North Whitehead). Hier eröffnet sich die »Generalthese der wechselseitigen Perspektiven«51, welche die Vertauschbarkeit der Standpunkte (erstes Grundaxiom) und eine Kongruenz der Relevanzsysteme (zweites Grundaxiom) annimmt. Die Denkobjekte sind dabei für jeden Menschen schon zum Zeitpunkt seiner Geburt in der sozialen Gemeinschaft vorfindlich. Die Akzeptanz der Existenz von mit Bewusstsein ausgestatteten Menschen allerdings ermöglicht, die Erfahrungsqualität von Objekten für das Ich und die Mitmenschen (hier auch ganz unterschiedlich) zu differenzieren: Die Reflexion der oben genannten Bedingungen – die räumliche Gliederung der Lebenswelt, die biographische Artikulation, die Erfahrung mit Blick auf die eigene Wirkzone – führt zu der Einsicht, dass sich Welt unterschiedlich erschließt, dass Individuen unterschiedliche Relevanzsysteme ausprägen. Diese Einsicht zieht in der Regel unterschiedliche Inklusions- und Exklusionsprozesse anhand der Verhältnisbestimmungen von Kategorien wie ›Wir‹, ›Jedermann‹, ›Normalität‹ nach sich. Die ›Du-Einstellung‹ kennzeichnet die räumlich und zeitlich unmittelbare Begegnung (Face-to-face-Situation) mit einem Mitmenschen und ist zunächst vorprädikativ: Menschen begegnen einander, ohne dass sie sich in der Regel Gedanken über die Konstitution der Situation machen.52 Die Kombination wechselseitiger ›Du-Einstellung‹ ergibt die ›Wir-Einstellung‹, welche notwendig gestaltet werden muss. Die Intersubjektivität der Lebenswelt baut sich über ›Wir-Beziehungen‹ auf, die Intersubjektivität konstituiert die alltägliche Lebenswelt. So heißt es bei Schütz/Luckmann: »Die Lebenswelt ist weder meine private Welt noch deine private Welt, auch nicht die meine und die deine addiert, sondern die Welt unserer gemeinsamen Erfahrung.«53



50 Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 98. 51 Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 99. 52 Vgl. ebd., 101 f. 53 Ebd., 109. Im Original hervorgehoben.

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Das Du gehört wesentlich meiner sozialen Umwelt an und wird von mir als Selbst erlebt.54 So ist der Mensch in die Grundrelation des Wir hineingeboren, welche die soziale Umwelt bestimmt. Von hier aus können sich erst die Erfahrung des Du und der je eigenen Umwelt als Teil  der Mitwelt ergeben. Die soziale Umwelt, die Umgebung des Ich und die Umgebung des Du, konstituiert durch die Grundrelation des Wir, ist die Lebenswelt.55 Die sozialen Beziehungen in ihr unterscheiden sich durch Abstufungen der Erlebnisnähe. Ist im Verhältnis zum Du nun ein Abnehmen der Symptomfülle und eine Verkleinerung des Spielraums der Auffassungsperspektiven gegeben, ist der Bereich der Mitwelt betreten. Umwelt, Mitwelt, Vorwelt und Folgewelt – um einen kleinen Vorgriff zu tätigen – unterscheiden sich, nach Schütz, am wesentlichsten durch die verschiedenen Grade der Erlebnisnähe. Bezogen auf Umwelt und Mitwelt bedeutet dies: Umwelt ist das, was das Subjekt aktuell wahrnimmt, dasjenige, wovon das Subjekt (potentiell) Bewusstsein hat. In der sozialen Umwelt koexistiert das Subjekt mit seinen es umgebenden Mitmenschen in räumlicher Nähe und zeitlicher Übereinstimmung. Sphären können aus der Umwelt heraustreten, indem sie als umweltliche Situationen der Vergangenheit angehören (prinzipiell sind sie allerdings als umweltliche Situation auch wieder herstellbar). Die Mitwelt definiert sich nun darüber, dass sie als soziale Sphäre und Konglomerat sozialer Situationen niemals Teil des Subjekts und also kein Erfahrungsgegenstand desselben war. Allerdings gilt auch hier, vor allem vermittelt über die Dimension der zeit­lichen Parallelität, dass die jetzige soziale Sphäre der Mitwelt zu einem Teil der sozialen Umwelt des Subjekts werden kann. Der Unterschied in der Erlebnisqualität von sozialer Umwelt und Mitwelt bezieht sich also auf die Differenz zwischen Faktizität und Potentialität. Dabei ist das Subjekt in den verschiedenen Sphären von Umwelt und Mitwelt, aber auch Vorwelt und Folgewelt, wie sich 54 Schütz schreibt an anderer Stelle: »Zunächst kann die Dueinstellung als reine Erscheinungsform eines besonderen Du, welches mir leibhaftig gegeben ist, gekennzeichnet werden. Sie konstituiert sich schon allein dadurch, daß ich ein Umweltliches als Mitmenschen (als Du) erkenne und ihm somit Leben, nämlich Bewußtsein prädiziere. Aber diese Formulierung wird dem Sachverhalt nicht ganz gerecht. Es handelt sich nämlich nicht um ein urteilendes Prädizieren, sondern um eine vorprädikative Erfahrung, in welcher das Du als ein Selbst erlebt wird. Wir können also die umweltliche Dueinstellung definieren als die besondere Inten­tionalität der Akte, in denen das Ich, solange es in ihnen lebt, von dem Dasein eines Du im Modus des originalen Selbst Erfahrung hat. Jede äußere Erfahrung im Modus des originalen Selbst setzt aber die leibhaftige Vorgegebenheit des Erfahrenen in zeitlicher und räumlicher Unmittelbarkeit voraus. (Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 314. Im Original hervorgehoben.) – Prozesse der Re­f lexion entheben das Subjekt der unmittelbaren Du- resp. Wireinstellung und ihrer vorprädikativen Vorfindlichkeit: »Je mehr ich aber dem Wir aufmerkend zugewendet bin, um so weniger lebe ich im Wir, um so weniger erlebe ich aber auch das Du in schlichter Gegebenheit. Denn nur im Wir lebend, bin ich dem Du als einem Lebendigen zugekehrt. Über das Wir reflektierend, erfasse ich das Du nur als einen Gesamtzusammenhang von Erfahrungsgegenständlichkeiten.« (Ebd., 318. Im Original hervorgehoben.) 55 Vgl. ebd., 323.

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noch zeigen wird, auf unterschiedliche Weise Adressat und zugleich Akteur sozialen Handelns. Das Verfasstsein sozialen Handelns und sein ›Erfolg‹ reguliert sich dabei über die Grenze einer jeweiligen Sphäre (Heiratsanträge von Fans an Stars sind meist wenig erfolgsträchtig). Die Beziehung zu anderen Menschen definiert sich über verschiedene Stufen der Anonymität, der Erlebnistiefe und der Erlebnisnähe. Dabei ist der an die innere Zeit des Bewusstseinsstroms gekoppelte Erlebnisablauf des anderen Menschen in der Wir-Beziehung nur mittelbar, also über Deutung von Mitteilungen, Ausdruck, Bewegungen etc., erfassbar. b) Vorwelt und Folgewelt Die sozialen Sphären der Vorwelt und der Folgewelt konstituieren sich primär gegenüber der sozialen Umwelt nun nicht über die Differenz hinsichtlich der räumlichen Dimension. Während Umwelt und Mitwelt die Gegenwart eines Subjektes bezeichnen, sind Vorwelt und Folgewelt von diesen kategorial auf der Zeitachse verschieden. So handelt es sich bei der Vorwelt um nichts anderes als die soziale Welt, die dem Subjekt vorgängig existierte, welcher jenes zwar betrachtend zugewandt sein kann, allerdings nicht handlungsorientiert (es sei denn in reflexiver Hinsicht). Die soziale Vorwelt ist das, was herkömmlich mit ›Geschichte‹ bezeichnet wird. Als Geschichte kann die Vorwelt in zweierlei Hinsicht existieren: zum einen als Gesamt von abgeschlossenen, für das Subjekt historisch gewordenen Er­ fahrungen, welche als Erfahrungen potentiell (schrittweise und immer wieder) wiederholt werden können. Grundlegend ist, dass den Rahmen einer jeweiligen Erinnerung immer die gegenwärtige biographische Situation bildet: So zeigt sich allein in der Voraussetzung der Konstitution wie dann auch in der Konstitution selbst, eine Varianz mit Blick auf den Aufbau subjektiver Sinnzusammenhänge. Die ›objektiven Sinnzusammenhänge‹ der Vorwelt sind invariabel. Insofern kann das Subjekt an die Konstellationen von Situationen, die es erinnert, keine Erwartungen mehr stellen. Die Abgeschlossenheit der sozialen Vorwelt zeigt sich in ihrer Endgültigkeit deutlicher in der Auseinandersetzung mit den ›Vorfahren‹: Vorfahren handeln nicht mehr, und das Subjekt kann »nicht auf sie zu handeln«56; allein zur Formulierung von Weil-Motiven kann sich das Subjekt auf seine Vorfahren orientierend stützen. Ähnlich wie auf die soziale Gruppe der ›Zeitgenossen‹ referiert das Subjekt auf ›Vorfahren‹ mittels Typisierungen, deren Varianz-Spannbreite wiederum oft sehr gering ist57. Trotz der Verwendung von Typisierungen auf die Vorwelt ist die Generalthese der Wechselseitigkeit der Perspektiven auf diese soziale Sphäre nicht ohne weiteres anwendbar. Grund dafür ist, nach Schütz, der Erfahrungsunterschied der Generationen: Die ›Vor­fahren‹ 56 Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 135. 57 Vgl. ebd. Die Typisierungen können, wie Schütz/Luckmann anführen, auf den eigenen Großvater wie etwa auf Napoleon angewandt werden.

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lebten in einer anderen Welt als das in der Gegenwart lebende Subjekt. Eben dies, die Einsicht in die Bedingtheit des Aufbaus von Relevanzsystemen von der biographischen Situation, unterstreicht die flexible und notwendig ›zweistufige‹ Handhabung der Generalthese der reziproken Perspektivität: Nach ihrer Anerkennung muss ein Schritt der Distanzierung auf Seiten der Betrachterin folgen – ›Du‹ steht nicht für ›Ich‹ und umgekehrt, und die Wir-Beziehungen der Vorwelt waren anders gestaltet als die Wir-Beziehungen der Umwelt des gegenwärtigen Subjekts. Mit abnehmender Inhaltsfülle und zunehmender Anonymität der Typisierungen geht die Kompetenzabnahme auf Seiten der fragend Interessierten einher, deutend konkreten Sinn nachvollziehen zu können. Diese Verhältnisbestimmung gilt generell für den Vorgang intersubjektiver Deutungsleistungen auch für Umwelt und Mitwelt. Mit der Folgewelt verhält es sich nun definitiv vager, da das Subjekt über jene nur wenig wissen kann. Es wird sie geben, sie wird von Alter Egos belebt sein, über deren spezifische Existenz das Subjekt keine Aussage treffen kann. Möglich allein ist eine Übertragung von Typisierungen aus Umwelt und Mitwelt in die Zukunft hinein. Der Nachwelt kann das Subjekt also niemals betrachtend (es sei denn mittels Typisierungs-Übertragungen bzw. Prognosen) oder erlebend zu­gekehrt sein. Das Subjekt der Gegenwart ist von der direkten Partizipation an Vorwelt und Folgewelt ausgeschlossen. Angenommen werden kann im Grunde nur, dass die Nachfahren, die folgenden Generationen, solange sie existieren, in einer Welt leben, dass auch sie prinzipiell den gleichen Strukturen mit Blick auf Sinnkonstitutionsprozesse unterworfen sind. c) Raum und Zeit Hinsichtlich der räumlichen Aufschichtung der Lebenswelt kann vor allem Welt in aktueller Reichweite und Welt in potentieller Reichweite unterschieden werden.58 Dabei ist Ausgangspunkt der Bestimmung der Reichweite immer das ›Hier‹ und ›Jetzt‹ des Subjektes, der Ort, an dem sich das Subjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt befindet (der »Nullpunkt des Koordinatensystems«59, wie Schütz/Luckmann diesen Ort auch bezeichnen, kann sich damit in jedem Moment verschieben). Welt in aktueller Reichweite ist nun der Raum, der durch unmittelbare Erfahrung für das Subjekt gekennzeichnet ist. Der Raum der aktuellen Reichweite spannt den Horizont für die soziale Umwelt des Subjektes auf, für die Du- und Wir-Relationen. Die Wahrnehmung von Objektivationen der Welt in aktueller Reichweite folgt wesentlich Typisierungen im Wissensvorrat, welcher wiederum sprachlich vermittelt ist. Der Übergang von Welt in aktueller Reichweite in Welt in potentieller Reichweite findet vorwiegend über die Veränderung des Leibes im Raum, und damit

58 Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 71 ff. 59 Ebd., 71.

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auch in der Zeit, statt. Durch Ortsveränderungen verschiebt sich für das Subjekt die Welt in Reichweite sowie die Wirkzone. Die versichernde Annahme der möglichen ›Rückverwandlung‹ des Raumes in potentieller Reichweite in den­jenigen aktueller Reichweite liegt wiederum in den beiden lebensweltlichen Idealisierungen des ›Und-so-weiter‹ und des ›Ich-kann-immer-wieder‹.60 Angenommene Abstufungen der Wiederherstellbarkeit basieren auf dem Wissensvorrat des Subjektes und darin ›gespeicherter‹ Erfahrungen: Bereits an der Bushaltestelle stehend, kann ein zu Hause vergessenes Buch unproblematischer geholt werden als ein hoher Berg bestiegen, wenn man untrainiert ist. Haftet der wiederherstell­baren Reichweite der Zeitcharakter der (erinnerten) Vergangenheit an, so verhält es sich mit der Welt in erlangbarer Reichweite anders. Auch sie ist Welt in potentieller Reichweite, allerdings unter dem Signum der Zukunft: Sie war nie in meiner Reichweite, kann aber in meine Reichweite gebracht werden. Allerdings ist sie, im Vergleich zur wiederherstellbaren Reichweite, wesentlich abhängiger von subjektiven Wahrscheinlichkeitsstufen und Vermögensgraden (physische, technische, aber auch: Status im Sozialgefüge), von biographischer Situation und Planhierarchien.61 So heißt ›erlangbar‹ eben immer auch, entsprechend der übergeordneten Kategorie der ›Welt in potentieller Reichweite‹, ›potentiell erlangbar‹. Zweierlei gilt es zu unterscheiden: Sinngebung findet ihren Ursprung in der sozialen Verfasstheit. Der soziale Ursprung wird zur conditio humana.62 Ein wesentliches Anliegen Schütz’ liegt jedoch darin, das logisch-begriffliche Denken in seiner Genese zurück zu verfolgen. Hier ist ihm die Philosophie Henri Bergsons eine Hilfe, von der Verhältnisbestimmung der durée als ureigenem Erkenntnisstrom des Subjekts und der raumzeitlichen Welt, der Organisations­ prozesse des Gedächtnisses, Reflexion der Körperrolle als Vermittler zwischen ›Ich‹ und ›Welt‹, bis hin zur Gliederung des Bewusstseins in verschiedene Ebenen (durée, Körper, Gedächtnis) über eine spezifische attention à la vie.63 Durch die Rückbindung von Erlebnissen an einen irreversiblen, kontinuierlichen, präreflexiven Bewusstseinsstrom, an die durée, wird das Problem der Sinnkonstitution aufs engste mit dem Problem der Zeit zusammengebunden. Von den vorreflexiven Prozessen wird später zu sprechen sein, nur verwiesen sei hier auf die grundlegende Bedeutung der Zeit als Bedingung der Sinnkonstitution. Mit Blick auf die Aufschichtung der alltäglichen Lebenswelt lässt sich für die zeitliche Dimension folgendes kurz ausführen: Den verschiedenen oben erwähnten räumlichen Reichweiten können durchaus Korrelate zugeordnet werden: Zum einen entspricht der Welt in aktueller Reichweite der gegenwärtige Bewusstseinsstrom vor dem Horizont sedimentierter Erfahrungen (Gegenwart),

60 Vgl. ebd., 72 f. 61 Vgl. ebd., 74. 62 Vgl. Srubar, I., Kosmion, 42 f. – Vgl. Kap. II.6. 63 Vgl. Srubar, I., ebd., 55. – Vgl. Kap. II.5.2.

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zum anderen findet sich als Entsprechung zur Welt in wieder herstellbarer Reichweite die Erinnerung (Vergangenheit); schließlich ist als Parallele zur Welt der erlangbaren Reichweite die Erwartung (Zukunft) zu nennen.64 Unabänderliche und auferlegte Konstitutiva der lebensweltlichen Zeitstruktur sind Fortdauer/ Endlichkeit, Geschichtlichkeit/Situation und Zwangsläufigkeit/first things first. Die Umstände dieser Konstitutiva lassen sich nun wie folgt beschreiben: Grundsätzlich erfährt das Subjekt die Welt als Dauer. Anfang und Ende der eigenen Lebenszeit können dabei von einem jeweiligen Subjekt selbst nur über die Reflexion der intersubjektiven Welt eingeholt werden. Die Weltzeit erfährt das Subjekt als irreversibel und in ihrer Dauer zugleich als Transzendierung der eigenen Endlichkeit. Im Unterschied zur Invarianz von Endlichkeit und Zwangsläufigkeit in der lebensweltlichen Struktur(-hierarchie) des Subjektes ist die geschichtliche Situation des Einzeldaseins an sich unabänderlich und zugleich kontingent (das eigene Leben ist deutlich unterschieden von dem eines Vorfahren oder Nachkommen oder Mitmenschen). Das Wissen um die Endlichkeit wird zur Grundlage aller Entwürfe im Blick auf einen jeweiligen Lebensplan: »Sie [die Rahmenbedingungen der Erfahrung, welche jedermann auferlegt sind; KM] bilden gleichsam die Grenzen, innerhalb derer sich die subjektive Erfahrung der Lebenswelt in bestimmte Strukturen gliedert. Subjektiv können sie als Transzendenzen der Alltagswelt erlebt werden. Die Weltzeit begrenzt die subjektive Dauer; man altert in ihr und sie bildet den absoluten Rahmen der Lebenspläne. Die Zwangsläufigkeit der Weltzeit bedingt das subjektive Handeln; sie zwingt das Prinzip des ›first things first‹ den Tagesplänen auf. Die Geschichtlichkeit der Welt bedingt die Geschichtlichkeit der subjektiven Situation in der Welt.«65

Die Zwangsläufigkeiten des Alltags ergeben sich dabei aus der Zwangsläufigkeit der vorgegebenen Zeitstruktur der Welt: Unter Maßgabe der Überschneidung bzw. Konkurrenz verschiedener zeitlicher Dimensionen (subjektive Zeit des Bewusstseinsstroms, biologische Zeit, Jahreszeiten, Weltzeit, ›soziale Zeit‹) ist das Subjekt gezwungen, Prioritäten zu setzen, die dem Prinzip first things first folgen.66 Hierbei handelt es sich um invariante räumliche und zeitliche Strukturen, die der Mensch vorfindet. Es bleibt ihm keine andere Wahl, als Dringlichkeitsstufen auszuarbeiten, die sich  – unter der Bedingung der auferlegten Zeitstruktur – auf Wertentscheidungen und ihre Realisierbarkeiten beziehen.67 Dabei erfordern die Welt als Ausdehnung wie die Welt als Dauer von den Sub 64 Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 89. 65 Ebd., 140. 66 Bevor man mit dem Auto dort ankommt, wohin man sich schon längst gedacht hat, muss man ins Auto einsteigen, den Motor starten, den Gang einlegen, unzählige Handgriffe (und Fußtritte) erledigen. Zu diesem und anderen Beispielen vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 85. 67 Ebd.

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jekten stetige Transzendierungsleistungen, Übergänge von einer  – räumlichen oder zeitlichen – Zone in eine andere, körperlich oder mental. Diese Transzendierungsleistungen erfolgen im Alltag in der Regel unproblematisch. Die Situation in der alltäglichen Lebenswelt ist nun einerseits durch die ›objektive‹ Weltzeit und die Bedingung der jeweiligen menschlichen Endlichkeit, durch die geschichtliche Situation des Individuums geprägt. Die Situation der alltäglichen Lebenswelt ist andererseits wesentlich durch die eigene Lebensgeschichte bestimmt: Die individuelle (historische) Situation besteht aus der Geschichte individueller Erfahrungen. Der autobiographische Aspekt beschreibt die Einzigartigkeit einer jeweiligen Lebensgeschichte, denn einzigartig sind die Abfolgen von Erfahrungen in der inneren Dauer eines jeden Menschen. Das bedeutet, holzschnittartig ausgedrückt: Zeit individualisiert zwangsläufig, und das Bewusstsein eigener Individualität lässt sich – mit Blick auf die ›äußere‹ wie die ›innere‹ Zeit und mit Blick auf die Frage, was im grundlegendsten Sinne ›Sinn gemacht‹ hat, (nur) zum Teil reflexiv erhellen. Mit diesen Ausführungen ist die Aufschichtung der Lebenswelt kurz umrissen. Bevor der Frage nachgegangen wird, wie sich überhaupt (Welt-) Wissen aufbaut und vermittelt, wird zunächst der Problemzusammenhang zwischen der lebensweltlich gegebenen Sozialität und der Möglichkeit des Fremdverstehens näher betrachtet.

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6. Die Vorgegebenheit des Anderen: Grenze des Verstehens Das Problem des Fremdverstehens, des Verstehens fremder Selbstverhältnisse markiert eine hermeneutische Grenze: Subjektiver und objektiver Sinn fallen nie in eins, die Erschließung subjektiven Sinns aus der Perspektive des Anderen bleibt stets fragmentarisch. Diese Einsicht gewinnt vor dem Hintergrund an Bedeutung, dass Individuen auf – möglichst gelingende – Kommunikation an­ gewiesen, eingebettet in eine Sozialwelt sind, und das von Geburt an. Im Folgenden werden die Vorgegebenheit des Sozialen wie das Problem des Fremdverstehens näher betrachtet. Schließlich wird die (präreflexive)  Normativität und Konventionalisierung, die sich sozial ausprägt, am Beispiel der Studie »Agnes« des Ethnomethodologen Harold Garfinkel problematisiert.

6.1 Sozialität als überindividuelles Faktum Der Mensch ist ein soziales Wesen: Von Geburt an ist er in ein soziales Umfeld hinein geboren, in welchem er sich zu orientieren lernen muss. Dies erfolgt wesentlich über die Wahrnehmung der Differenz zwischen Alter und Ego1 und der Fähigkeit, Zeichen zu deuten, welche be-deuten sollen. Mit Blick auf die Sozialwelt lassen sich vier Kategorisierungen vornehmen: Umwelt (als Struktur­ bezeichnung raumzeitlicher Koexistenz von Menschen), Mitwelt (als Sphäre potentieller sozialer Erfahrung), Vorwelt und Nachwelt.

6.1.1 Die faktisch vorgegebene Sozialwelt und die Idealisierung der Reziprozität der Perspektiven Wie bereits ausgeführt, knüpft Schütz mit Blick auf das Problem des Fremd­ verstehens an den Begriff des sinnhaften Handelns bei Max Weber an. Schütz wie Weber geht es um die Rekonstruktion des durch das wechselseitige Handeln der Menschen entstehenden sinnhaften Aufbaus der sozialen Wirklichkeit. Der Sinn, der Wirklichkeit und Handeln zugeschrieben wird, entsteht aus dem Handeln selbst. Über Weber hinausgehend möchte Schütz die Sphären des Eigen­psychischen und Fremdpsychischen bzw. des Eigenverstehens und Fremdverstehens ausdifferenzieren.2 Schütz geht nicht davon aus, dass der Sinn einer



1 Vgl. Kap. II.6.2.2. 2 Zur Auseinandersetzung mit Weber vgl. Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 85 ff.

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fremden Handlung prinzipiell undeutbar, also unverstehbar ist, allerdings betont er die Grenze substantiellen bzw. inhaltlichen Handlungsverstehens. Formal setzt seine Frage nach der Möglichkeit des Fremdverstehens zunächst voraus, dass erstens auch der Andere (also der aus sozialwissenschaftlicher Perspektive interessierende Beobachtete) in seiner Vorgegebenheit mit seinem Handeln einen Sinn verbindet, und dass – im optimalen Fall – diese Sinndeutung des Anderen mit Blick auf seine Handlung ein Akt der Reflexion ist (und also potentiell erfragt werden kann). Zweitens setzt die Frage nach der Möglichkeit des Fremdverstehens voraus, dass eben der vom Beobachter dem beobachteten Anderen zugewiesene Handlungssinn nicht mit dem gemeinten Sinn der fremden Handlung übereinstimmen muss.3 Hier eröffnet sich der Problemhorizont der Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Sinn. Für die Deutung von gemeintem, fremdem Sinn ist der Rückbezug auf die Kategorie des Leibes unverzichtbar: Deutung von Beobachtung ist angewiesen auf Anzeichen. Der fremde Leib ist dabei der Ort der potentiellen Deutung von Anzeichen4, da er Ausdrucksfeld der Erlebnisse von Alter Ego als psychophysischer Einheit ist: Die am Leib des Gegenübers registrierbaren Veränderungen verweisen auf fremde Bewusstseinsaktivität und fremde Bewusstseinserlebnisse. Unter ›Ausdruck‹ als Voraussetzung intersubjektiver Deutungsleistungen wird hier nur unter der Annahme gesprochen, dass hinter dem Akt des Ausdrückens auch eine kommunikative Absicht steckt. Der Akt des Ausdrückens ist ein unverzichtbares Element aller Kommunikationen; der Ausdruck als ›Interaktionsvehikel‹ besteht formal aus Hervorbringung (Alter Ego) und Zuschreibung/Deutung (Ego). Mit der Analyse der mundanen Sozialität verlässt Schütz den transzendental-phänomenologischen Horizont der Theorie Husserls. Zwar orientiert Schütz seine Überlegungen in »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt« weiterhin an der Methode der phänomenologischen Reduktion, allerdings nur so weit, wie es der Erkenntnis des Phänomens des inneren Zeitbewusstseins dient – und seiner Anwendung auf die Phänomene der natürlichen Einstellung.5 Schütz verzichtet hier also auf die Frage nach der Konstitution des Alter Ego im Bewusstsein des einsamen Ich und bezieht sich auf die Sozialwelt in faktischer Gegebenheit und 3 Vgl. ebd., 102 f. Schütz setzt sich an dieser Stelle ebenfalls mit Scheler auseinander, welcher die Potentialität des Verstehens in eins fallen lässt mit einem Akt der ›Selbsthabe‹ des erfassenden (externen) Ich: vgl. Scheler, M., Wesen und Formen, 273 ff; 288. 4 Schütz (Der sinnhafte Aufbau, 103 f) rekurriert hier auf das Husserl’sche Verständnis von Anzeichen, demzufolge Anzeichen aufzufassen sind als »Gegenstände oder Sachverhalte, von deren Bestand jemand aktuelle Kenntnis hat, ihm den Bestand gewisser anderer Gegenstände oder Sachverhalte in dem Sinn anzeigen, dass die Überzeugung von dem Sein der einen von ihm als Motiv (und zwar als ein nichteinsichtiges Motiv) erlebt wird für die Überzeugung oder Vermutung vom Sein des anderen.« (Husserl, E., Logische Untersuchungen II/1, 32) – Vgl. auch Kap. II.8.2. 5 Vgl. Schütz, A., ebd., 129 f.

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Vorgegebenheit.6 Grundsätzlich werden für das Du die gleichen Eigenschaften hinsichtlich seiner Bewusstseinsleistungen angenommen wie für das Ich: Alter Ego besitzt Bewusstsein auf der Basis einer inneren Dauer, sein Bewusstseinsstrom gleicht dem meinen in seinen Urformen. All das, was prinzipiell über die Prozesse der Sinnkonstitution des (immer schon sozial eingebundenen) Ich ausgesagt werden kann, gilt prinzipiell ebenso für alle Anderen, egal welcher Grad der Typisierung und Anonymität zur Beschreibung des sozialen Verhältnisses angegeben wird: Mitmenschen, Zeitgenossen, Vorfahren, Nachfahren. In der Annahme also der prinzipiellen Übereinstimmung allgemein-menschlicher intentionaler Bewusstseinsakte liegt so die Reziprozität der Perspektiven7 begründet, welche grundlegend für soziales Handeln überhaupt wie auch seiner Deutung ist. Allerdings bleibt die Erfassung fremd gemeinten Sinns nach Schütz ein Limesbegriff: In letzter Konsequenz bleibt es unmöglich, dass Erlebnisse durch Ego und Alter Ego identisch ausgelegt werden. Die konkrete Erlebnisdeutung ist, unter Absehung von prinzipiell gleichen Strukturen in Prozessen der Sinn­ konstitution, zuallererst ein höchst individueller Akt, nicht zuletzt aufgrund der bereits erwähnten Verknüpfung der Erlebnisse mit der inneren Dauer: Bei identischer Interpretation müsste die Bewusstseinsleistung in allen Bezugnahmen gleich sein – dies beträfe den konkreten Gehalt der Erlebnisse, wie Urimpressionen, aktive Spontaneitäten, Reflexion, aber auch ihre Reihenfolge und ihre Höfe von Retentionen und Protentionen.8 Gemeinter Sinn kann sich also nur subjektiv im jeweiligen Bewusstseinstrom für Alter Ego konturieren – eine Erschließung dessen kann durch Ego nur durch Deutung von ­Signata (Wahrnehmung des fremden bewegten Leibs) geschehen.

6.1.2 Mitmenschen, Zeitgenossen, Generationen Ist Alter Ego Ego immer schon vorgegeben, operiert Ego in der natürlichen Einstellung in der Regel mit zwei Grundaxiomen zur vorläufigen Überbrückung der Fremdheit: zum einen mit dem Axiom der Existenz von mit Bewusstsein ausgestatteten Menschen, zum anderen mit dem Axiom der prinzipiellen Ähnlichkeit von Erfahrungen mit der Umwelt/Dingen der Umwelt bei Ego wie Alter Ego. Dass gerade das zweite Axiom mit Vorsicht zu genießen ist, wird deutlich 6 Bei Scheler heißt es: »Die Realität der Mitwelt und Gemeinschaft ist als Dusphäre und Wirsphäre erstens der gesamten Natur, als organischer und toter […] vorgegeben. […] Ferner ist die Realität des ›Du‹ und einer Gemeinschaft überhaupt vorgegeben dem Realsein des ›Ich‹ im Sinn des Eigen-Ich und seinem singulär und individuell ›Selbst-erlebten‹ […].« (Scheler, M., Die Wissensformen, 374. Im Original hervorgehoben.) 7 Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 574 f. 8 Vgl. Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 221 f. – Es wird deutlich, dass die Leistungen der Sinndeutung unmittelbar an biographische Vorerfahrungen geknüpft sind.

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einerseits mit Verweis auf die unterschiedlichen »Nullpunkte der Koordinaten­ systeme«, also unterschiedlichen Reichweiten und Perspektiven mit Blick auf Erlebnisse der Umwelt (Ich sehe notwendigerweise ein- und denselben Stuhl aus meiner Perspektive in anderer Gestalt als mein Nachbar, der einen Meter neben mir steht und denselben Stuhl anblickt), andererseits durch das Vorhandensein von Unterschiedlichkeiten in der biographischen Situation (Relevanzsysteme, Planhierarchien, Internalisierung von Prototypen etc.). Soziale Interaktion und die intersubjektive Bezogenheit auf ein Thema wird unter diesen Prämissen wiederum durch die Operation mit zwei Idealisierun­gen möglich: erstens durch die Idealisierung der »Vertauschbarkeit der Standpunkte«9, zweitens durch die Idealisierung der »Kongruenz der Relevanzsysteme«10 – beides begründet die »Generalthese der wechselseitigen Perspektiven«11. Wird grundsätzlich mit diesen Idealisierungen, das heißt mit dieser Generalthese gearbeitet, kann es im konkreten Fall im Nachgang zur Ausdifferenzierung kommen: Ego registriert, dass die Perspektiven auf etwas doch nicht identisch sind. Dabei regeln sich der Grad der Beziehung und der Grad der Wahrnehmung von Anderen über den Grad der miteinander geteilten räumlichen und zeitlichen Welt. Schütz/Luckmann unterscheiden diesbezüglich Mitmenschen, Zeitgenossen und Generationen: Während der Mitmensch als jemand erscheint, der eine gemeinsame Schnittmenge im Hier und Jetzt konstituiert, tritt der Zeitgenosse eher als Typus, also ent-subjektiviert auf. Jeder Zeitgenosse kann jedoch in den ›Stand‹ des Mitmenschen wechseln, wenn sich durch die Änderung eines Umstands plötzlich eine solche gemeinsame Schnittmenge ergibt. Der Grad des potentiellen Anschlusses zwischen jeweiligen biographischen Situationen nimmt noch einmal mit Blick auf Vorwelt und Folgewelt drastisch ab, also mit Blick auf die Genera­tionen. Kriterium für die Bestimmung der ›intersubjektiven Reichweite‹ sind also die gemeinsam geteilten Erfahrungen. Dabei ist die Du-Einstellung, als zweite, zunächst schlicht formal zu beschreibende Beziehungsform zum Mitmenschen, neben der Wir-Beziehung, vorprädikativ – und damit der Vorgegebenheit des A ­ lter Ego korrelierend: Alter Ego wird in seiner Existenz aktuell wahrgenommen in räumlicher und zeitlicher Unmittelbarkeit.12 Ist die Du-Einstellung wechselseitiger Natur, sprechen Schütz/Luckmann von »Wir-Beziehung«13. Teilnahme am Leben eines anderen ist nur möglich im Rahmen einer Wir-Beziehung. Die Face-to-face-Situation, also die Situation direkter Begegnung, ist die Grundform sozialer Interaktion. In keiner anderen Situation ist die räumliche und zeitliche Schnittmenge, also die Potentialität gemeinsamer und ähnlicher Erfahrungen, so verdichtet wie hier. Die Wir-Be

9 Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 99. 10 Ebd. 11 Ebd. – Vgl. Kap. II.5.4. 12 Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 102. 13 Ebd.

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ziehung (ebenso wie die Du-Beziehung) ist allerdings zunächst eine rein formale Beschreibung des Bezogenseins als Bezogensein – Erlebnisnähe, Erlebnistiefe und Anonymität bilden das Koordinatensystem, innerhalb dessen sich eine jeweilige Beziehung ausgestaltet und immer wieder aktualisiert: Es ergeben sich »Abstufungen der Unmittelbarkeit«14. Entsprechend ist es für die Wir-Beziehung typisch, dass sie die Möglichkeit der Selbst-Erfassung über die Erfahrung des Anderen bietet: In der Begegnung mit dem Anderen erfahre Ich mich selbst als Erfahrung des Anderen mit mir. Es wird deutlich, dass sich konkrete (partizipierende) Intersubjektivität der Lebenswelt nicht anders als im Modus der Wir-Beziehung ausbilden kann: Die Lebenswelt ist dabei keine private Welt, sondern die Welt gemeinsamer und geteilter Erfahrungen, sie ist zugleich Sedimentierung der gemeinsamen Aushandlung sozialer Realität(en) wie ihre Aktualisierung. Die Sozialwelt wird zum größten Teil nicht unmittelbar erfahren. Menschen, die zwar eine Spanne der Weltzeit miteinander teilen, jedoch nicht in einer WirBeziehung zueinander stehen, nennen Schütz/Luckmann »Zeitgenossen«15. Daraus folgt, dass Menschen in den Status der Zeitgenossen übergehen können, sofern die aktuelle Wir-Beziehung ein Ende findet. Dabei nimmt die Symptomfülle, anhand derer Ich auf das Bewusstseinsleben einer anderen Person schließen kann, mit dem Anwachsen der räumlichen Distanz ab. Dies hat Konsequenzen mit Blick auf Grenzen und Möglichkeiten entsprechender Kommunikationsmedien (z. B. Telefon, Internet), welche genutzt werden können, um aus dem Status der Zeitgenossenschaft in den Status der Wir-Beziehung zurück zu wechseln. Die Konstitution bestimmter Beziehungen fordert eine entsprechende ›soziale Reichweite‹: Eine Lebenspartnerschaft lässt sich kaum unter den Bedingungen der Zeitgenossenschaft begründen, denn Zeitgenossenschaft trägt die Charakteristika der Mittelbarkeit, der Typisierung, der Anonymisierung. Zeitgenossenschaft kann, entsprechend zur Du-/Wir-Einstellung als Ihr-Einstellung bezeichnet werden.16 Zeitgenossen werden unter Typen zusammengefasst, welche die Individuen subsumieren, mehr noch: »In meiner aktuellen Erfahrung hat der Zeitgenosse nur den Status eines Schnittpunkts typischer Eigenschaften«17. So entsteht typenbezogenes Verhalten, und damit auch institutionalisierte Verhaltensschemata über typisierte Erwartungen und Erwartungserwartungen. Der Grad der Fremdheit reguliert dabei die Durchlässigkeit für die Wahrnehmung von Individualität: »Je anonymer der Typus, vermittels dessen ein Zeitgenosse erfahren wird, umso stärker ist der Sinnzusammenhang, der dem anderen unterschoben wird, objektiviert.«18 – Dies wird auf andere Weise noch einmal plausibel, denkt man an gesellschaftliche Gruppen mit bestimmten Merkmalen, welche

14 Ebd., 105. 15 Ebd., 116. 16 Vgl. ebd., 118. 17 Ebd., 124. Im Original hervorgehoben. 18 Ebd.

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von einer Mehrheitsgesellschaft mit einem bestimmten Pool an Merkmalen abgelehnt bzw. kritisch betrachtet werden: Man ›weiß‹ also, wie ›die Chinesen‹ sind, was ›der Islam‹ eigentlich will, und dass man ›den Behinderten‹ helfen muss etc. In dem Maße, in dem Typisierung nützlich und unabdingbar ist, in dem Maße bildet sie andererseits ein Einfallstor für Dominanzverhalten. Schließlich ist mit Blick auf das Stichwort ›Generationen‹ bzw. ›Vorwelt‹ und ›Nachwelt‹ weniges zum Aufbau unmittelbarer Beziehungen auszuführen. Aus dem bisher Gesagten dürfte deutlich sein, dass der Aufbau unmittelbarer Beziehungen hier nicht möglich ist. Entweder war das Leben von Menschen beschlossen, bevor Mein Leben begann, oder die Spanne der Wir-Beziehung bzw. Zeitgenossenschaft ist definitiv beendet – selbst die lebendigen Momente aktueller Erfahrung sind historische geworden, der Ort der Erinnerung ist die biographische Situation der Gegenwart. Meine Vorwelt erweist sich als invariabel, die Generalthese der Reziprozität greift hier nicht. Ebenso wenig greift die Generalthese für das Verhältnis zwischen Mir und denen, die nach Mir leben, also der Nachwelt. Eine Vertauschbarkeit der Perspektiven ist nicht möglich. Die »Weltsicht der Generationen«19 entsteht aus einer gemeinsam geteilten räumlichen und zeitlichen Spanne. Auch Vorwelt und Folgewelt werden zu einem großen Teil  mittels anonymer Typisierungen interpretiert. Trotz der typisierten Interpretationsprozesse hat der Rekurs auf das Verhalten von Vorfahren bzw. die Antizipation der Lebensumstände von Nachfahren einen mitunter sehr konkreten Einfluss auf die subjektiven Handlungsmotive der Gegenwart. Nachdem also nachgezeichnet worden ist, welche Typen sozialer Beziehungen unter dem Aspekt der Reichweite in Raum und Zeit unterscheidbar sind, wird es nun darum gehen, das grundlegende Problem des Fremdverstehens näher zu skizzieren.

6.2 Eigener Sinn und fremder Sinn Das Problem des Fremdverstehens lässt sich anhand der Skizzierung des Verhältnisses von subjektivem und objektivem Sinn erhellen. Die Gegebenheit unterschiedlicher Deutungen von Wirklichkeit, ob als Deutung oder als Deutung der Deutung, verweist auf einen potentiell unendlichen hermeneutischen Prozess bzw. auf die Grenze faktischen Verstehen-Könnens. Die Erfahrung des Anderen als Anderer, als abgegrenztes Reflexionssubjekt selbständiger Bewusstseinsprozesse, gründet in der Primärerfahrung der Differenz zwischen Selbst und Umwelt. Diese Differenz ist der Ort der potentiellen Selbsttranszendenz: Das Religiöse kann, aus dieser Perspektive, in seiner grundlegendsten Form als Selbsttranszendenz als sozial grundgelegt betrachtet werden.

19 Ebd., 137.

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6.2.1 Das Problem des Fremdverstehens: subjektiver und objektiver Sinn Das Problem des Fremdverstehens, des Verstehens fremder Selbstverhältnisse, ist grundlegendes Problem der conditio humana, der sozialen Verfasstheit menschlichen Lebens. Es bildet den Kernpunkt der Gedankengänge Schütz’. Der Begriff des Fremdverstehens ist grundsätzlich ein Limesbegriff: Die Möglichkeit, deutend von eigenen Erfahrungen und Prozessen der eigenen Sinnkonstitution auf das Verhalten oder die Handlung eines Anderen schließen zu können, bleibt notwendigerweise immer begrenzt. Denn die eigene Dauer ist der Selbstauslegung zwar vollständig und in Kontinuität gegeben, die fremde Dauer eines Alter Ego jedoch zeigt sich dem von außerhalb Deutenden nur fragmentarisch und ohne Kontinuitätszusammenhang. Die fremde Dauer ist nur in »Auffassungsperspektiven«20 gegeben. Die Dauer des Beobachtenden und die Dauer des Beobachteten kreuzen sich allerdings für die Zeit der Beobachtung (hier sind Situationen direkter, wechselseitiger Kommunikation mit eingeschlossen): Die Gleichzeitigkeit besteht in der Parallelisierung der beiden inneren Dauerabläufe, im »Phänomen des Zusammenalterns«21. Es bleibt jedoch dabei, dass Ego einerseits nicht auf die fremde innere Dauer in Vollständigkeit und Kontinuität blicken kann, und dass jegliche Situation, welche Ego deutet, zunächst unwillkürlich von dem Referenzrahmen gezeichnet ist, den Ego in diese Situation mitbringt. Schütz nennt dies den »Index meines eigenen Jetzt und So«22. Grundsätzlich, so kann festgehalten werden, basieren alle Akte des Fremdverstehens auf Akten der Selbstauslegung. Zur Beschreibung der Aspekte, die unter dem Begriff des ›Fremdverstehens‹ subsumiert werden können, greift Schütz zunächst auf »einen weitesten Begriff des Verstehens überhaupt« aus: »Wir können dann sagen, dass Verstehen korrelativ zu Sinn überhaupt sei; denn alles Verstehen ist auf ein Sinnhaftes gerichtet und nur ein Verstandenes ist sinnvoll.«23 Unterschieden werden nun folgende Aspekte bzw. Äquivokationen des Begriffs des ›Fremdverstehens‹ (der Komplexitätsgrad des Verstehens verhält sich graduell zur Komplexität beobachtbarer Signata): a) die Interpretation des Mitmenschen als ›Du‹, d. h. die Wahrnehmung des Anderen als Lebewesen mit Dauer und Bewusstsein  – anhand der Auslegung der eigenen Erlebnisse mit dem Du; b) die Beobachtung von Veränderungen des Leibes des Anderen als ›Objekt‹ der Umwelt und die Deutung der Veränderungen wiederum anhand eigener Erlebnisse von Prozessen;

20 Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 231. 21 Ebd., 227. 22 Ebd., 228. 23 Ebd., 232. Im Original hervorgehoben.

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c) die Verknüpfung der Wahrnehmung des Anderen als ›Du‹ mit der Beobachtung der Veränderung des Leibes: die Interpretation der Veränderung des Leibes als Ausdruck der Erlebnisse eines anderen Bewusstseins. Hier greift in der Zuschreibung der Bewusstseinsaktivität die Generalthese der wechselseitigen Perspektiven. d) Die Frage nach dem Sinnzusammenhang, in welchen das Erlebnis vom Du eingebettet wird – mit dem Ziel, den vom Anderen gemeinten Sinn erfassen zu können.24 Gerade an Punkt d) zeigt sich, dass der Deutungsprozess notwendig hoch­gradig fragmentarisch ist. Mit den Punkten a) und b) wird die Sphäre des einsamen Ich in der Sinngebungsleistung nicht verlassen. Mit der Übertragung von Deutungsleistungen auf den Anderen  – als Subjekt einer Handlung  – zeigt sich in den Punkten c) und d) das Problem des Fremdverstehens deutlich. Dieser hermeneutische Zirkel ist letztendlich unhintergehbar: In die Auswertung jeglichen Datenmaterials (seien es Feldnotizen, Videoaufzeichnungen, Interviews etc.) ist immer der »Index des Jetzt und So« der Auswertenden eingeschrieben. Insofern kann man sich, bei aller Kontextuierungsleistung, dem gemeinten Sinn des Alter Ego nur annähern, ihn nicht erfassen. Wird also Fremdverstehen als Limes­begriff behandelt, muss sein Gelingen – allen Einwänden zum Trotz – als ›Arbeitshypothese‹ bestehen bleiben, sonst wären alle Überlegungen zur gelingenden sozialen Interaktion obsolet. Wichtig scheint, die Grenzen des Verstehensprozesses in Prozessen der Deutung präsent zu halten. Schütz unterscheidet nun zwischen Ausdrucksbewegung und Ausdruckshandlung als Unterscheidung zwischen Handlungen bzw. Verhalten ohne kommunikative Absicht und Handlungen mit kommunikativer Absicht. Ausdrucksbewegungen können zwar Sinn für den Beobachter machen, müssen aber nicht als Akt der Selbstmitteilung aus der Sicht der Beobachteten verstanden werden. Ausdruckshandlungen hingegen haben auch im Bewusstsein der Beobachteten immer ihren sinnhaften Platz: Der Beobachtete setzt in kommunikativer Absicht zu deutende Zeichen in den Raum der sozialen Interaktion hinein. Zeichen sind so immer eingespannt zwischen Ausdrucksschema und Deutungsschema. Sie können gefasst werden als »[…] Handlungsgegenständlichkeiten oder Artefakte, welche nicht nach jenen Deutungsschemata ausgelegt werden, die sich aus Erlebnissen von ihnen als selbständigen Gegenständlichkeiten der Außenwelt konstituierten oder für derlei Erlebnisse von Gegen­ ständlichkeiten der physischen Welt im jeweiligen Erfahrungszusammenhang vorrätig sind (adäquate Deutungsschemata), sondern welche kraft besonderer vorangegangener erfahrender Erlebnisse in andere (inadäquate) Deutungsschemata eingeordnet werden, deren Konstitution sich aus polythetischen Setzungen erfahrender Akte von anderen

24 Vgl. zu allen Punkten: Ebd., 232 f.

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physischen oder idealen Gegenständlichkeiten vollzog. […] Unter einem Zeichensystem verstehen wir einen Sinnzusammenhang zwischen Deutungsschemata, in den das betreffende Zeichen für denjenigen, der es deutend oder setzend gebraucht, eingestellt ist.«25

Jedes Zeichen, so Schütz unter Rekurs auf Husserl, hat neben der objektiven, konventionellen Bedeutung subjektiven und okkasionellen Charakter. Hier zeigt sich aufs Neue die biographische und situative Indexikalität von Zeichen, welche eine Spannung zwischen dem objektiven, konventionalisierten Bedeutungsgehalt eines Zeichens und dem subjektiven, okkasionellen Bedeutungsgehalt im Sinnzusammenhang im Bewusstsein des Einzelnen mit sich bringt. Daraus folgt nicht zuletzt, dass ein verwendetes Zeichensystem umso eindeutiger, also objektiver bzw. konventionalisierter sein muss, je anonymer der Adressat ist26: Grundsätzlich muss jedes Zeichen bereits vorgedeutet sein, bevor es verwendet werden kann. Der Beobachter muss die objektive Bedeutung sowie die subjektive Ausdrucksfunktion eines Zeichens im Horizont des Bewusstseins des Beobachteten zur Vorstellung bringen können, um daraus schließen zu können, was die Mitteilung bedeuten soll. Der Kontext der Interpretation kann dabei unterschiedlich weit sein: zu fragen ist immer nach dem »Um-zu«-Motiv bzw. dem »Weil«-Motiv27 im Hintergrund, dem ›Plan‹ des Befragten. Über die Antizipation dessen, unter Annahme der Generalthese der wechselseitigen Perspektiven, kann der Ausdruck von etwas als Zeichen für etwas gelesen werden. Entsprechend kann – mit aller Vorsicht – von ›subjektivem‹ und ›objektivem Sinn‹ gesprochen werden: Der subjektive Sinn verbindet das Gesetzte mit dem Bewusstsein des Setzenden, er ist das Produkt des ›Du‹, welches in der eigenen inneren Dauer Erlebnissen Aufmerksamkeit zuwendet. Hierauf kann in kommunikativer Absicht eine Zeichensetzung als Zeugnis der Aufmerksamkeitszuwendung, als Zeugnis der subjektiven Sinnsetzung erfolgen. Der Beobachter kann dies in der Annahme der Gleichzeitigkeit der inneren Dauer und unter Verwendung der Generalthese der Vertauschbarkeit der Perspektiven nachvollziehen – und Rückschlüsse auf den subjektiven Sinn ziehen. Objektiver Sinn manifestiert sich an einem Erzeugten unter Absehung der bewusstseinsmäßigen Konstitutionsleistung eines Subjektes, eines ›Du‹ – der Deutende fragt nicht über die Einbettung des Erzeugten in den eigenen Sinnzusammenhang hinaus: »Objektiver Sinn ist nichts anderes 25 Ebd., 250 f. Im Original hervorgehoben. 26 Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 132.  – Die Straßenverkehrsregelung etwa benutzt eindeutige und konventionalisierte Zeichen, die unter Absehung der biographischen Situation der Autofahrer kommuniziert werden können. Der Autofahrer ist hier Typus. 27 Schütz übernimmt die Begrifflichkeiten von M. Weber: Mit dem »Um-zu«-Motiv ist die Orientierung des Handelns an einem Künftigen gemeint, das »Weil«-Motiv benennt den ­kausalen Rückbezug auf bereits abgelaufenes Handeln. Vgl. Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 195 ff; 202 ff. – Vgl. Kap. II.7.2.1.

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als die Einordnung der erfahrenden Erlebnisse von einem Erzeugten in den Gesamtzusammenhang der Erfahrung des Deutenden.«28 Die Interdependenz von subjektivem und objektivem Sinn ist deutlich ge­ worden. Die Eruierung subjektiven Sinns wird umso schwieriger, je anonymer der Akteur ist. Sie wird umso unnötiger, je fortgeschrittener die Habitualisierung im Umgang mit einer Objektivation ist. Bei allem versuchten Nachvollzug des subjektiven Sinnes erweisen sich die Möglichkeiten des Fremdverstehens als begrenzt: Die Subjektivität des Anderen ist uneinholbar. Sinn konturiert sich so als intersubjektives Phänomen: Jede Sinngebung von Ego weist zurück auf die Sinngebung, die Alter Ego mit Bezug auf die Welt vorgenommen hat.29

6.2.2 Die Erfahrung des Anderen als Ort der Selbsttranszendenz Dem Verständnis von einer genetisch bedingten Fähigkeit, aber auch Notwendigkeit zur Transzendierung des Ego liegt die Einsicht zugrunde, dass der Mensch leiblich verfasst ist, und dass sein Leib die Grenze zur Umwelt markiert. Der Leib ist Perzeptionsorgan und »Träger urstiftender Erlebnisse aktiver und passiver Art.«30 Er ist konstantes Bewusstseinserlebnis und vermittelt das Bewusstsein numerischer Identität. Der Leib ist Ausgangspunkt der Weltorientierung. In der natürlichen Welteinstellung ist dabei Sein immer gleichzeitig Sein mit Anderen, der Erfahrung vom eigenen Ich ist die Erfahrung von Alter Ego sogar genetisch-konstitutionell vorgeordnet. Bevor ein Kind einen Begriff von ›Ich‹ entwickelt, ist es in die Sozialwelt verwoben, so dass die Erfahrung des Anderen den Begriff von ›Ich‹ zuallererst mitkonstituiert: »Die Erfahrung vom fremden Leib ist in dieser Sphäre ein Urphänomen«31. Der fremde Leib bleibt Ego als Körper der Umwelt gegeben. Es besteht mithin für den eigenen Leib keine Mög 28 Schütz, A., ebd., 272. – Wörtlich heißt es bei Schütz: »Vom subjektiven Sinn eines Erzeugnisses sprechen wir dann, wenn wir den Sinnzusammenhang im Blick haben, in welchem die Erlebnisse des Erzeugenden, von denen das Erzeugnis zeugt, für diesen stehen oder standen,  d h. wenn wir die polythetischen Akte, in denen sich diese Erlebnisse des das Erzeugnis Setzenden aufbauten, in Gleichzeitigkeit oder Quasigleichzeitigkeit unserer Dauer nachvollziehen vermögen. […] Objektiven Sinn können wir hingegen nur einem Erzeugnis als solchem prä­dizieren, also dem fertig konstituierten Sinnzusammenhang des Erzeugten selbst, dessen Er­zeugung in polythetisch aufbauenden Akten im fremden Bewusstsein von uns unbeachtet bleibt.« (Ebd., 269. Im Original hervorgehoben.)  – In diesem Zusammenhang sei nur am Rande auf das Problem der Konsensfiktionen hingewiesen, auf welches Alois Hahn am Beispiel einer Untersuchung bei jungen Ehen hinweist: vgl. Hahn, A., Konsensfiktionen in Kleingruppen, 222 ff:, ders. Die soziale Konstruktion des Fremden, 145. 29 Vgl. Schütz, A., ebd., 117. 30 Schütz, A., Das Problem der Personalität, 111. 31 Ebd., 115.

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lichkeit, die gegebene Grenze zu überschreiten und auf den anderen Leib auszudehnen.32 Inwieweit die soziale Verfasstheit menschlicher Existenz die Welt von Ego transzendiert, beschreibt Schütz im Rahmen seiner Ausführungen zu den so genannten »mittleren« Transzendenzen.33 Die phänomenologische Ausdifferenzierung der Transzendenzen und ihrer Spannweiten ist dabei von der gene­ tischen Grundlegung aller Transzendierungsvorgänge zu unterscheiden. Thomas Luckmann stärkt den anthropologischen Aspekt in der Bestimmung des Begriffs von Transzendenz: Der Mensch als Mängelwesen, so Luckmann vor allem unter Rekurs auf die anthropologische Bestimmung Arnold Gehlens, ist darauf angewiesen, den eigenen biologischen Organismus zu transzen­dieren, um überhaupt Mensch zu sein. Gemeint ist hier die Notwendigkeit der Abstraktion, der Ablösung aus der konkreten Unmittelbarkeit. Diese Fähigkeit zur Transzendierung ermöglicht dem Menschen erst, zwischen sich und seiner Umwelt zu unterscheiden, sie ermöglicht es ihm, so etwas wie ›Wirklichkeit‹ zu setzen. Insofern setzt die Bildung einer eigenen Identität Transzendierung voraus – und erweist sich als sozial grundgelegt, da sich die Identität eines Menschen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt, das heißt ganz wesentlich mit seinen Mitmenschen, ausbildet. Menschliche Individuation vollzieht sich in intersubjektiven Prozessen.34 In diesem Verständnis von Religion als Transzendierung des biologischen Organismus erscheint Religion also einerseits als grundlegend sozial, andererseits als Fähigkeit des ›Herauslösens‹ aus der Sphäre unmittelbarer Erfahrung. Der Aspekt des Vorgegebenen ist auf Natur und Gesellschaft insgesamt auszuweiten.35 Eine der wesentlichen Grunderfahrungen des menschlichen Lebens besteht darin, sich in einer Welt vorzufinden, die der Mensch nicht selbst geschaffen hat: Natur und Gesellschaft transzendieren die alltägliche Erfahrung des Individuums. Diese Transzendenzen sind jedem Menschen auferlegt, wenn auch ihre Erfahrung individuell abgeschattet ist. Die alltägliche Handhabung dieser Transzendenzen ist nur möglich, weil sich ›sozial gebilligte Systeme‹ ausprägen, die beunruhigende Erscheinungen, die die Lebenswelt des Alltags transzendieren, in Analogie mit Bekanntem (oder auch Verstehbarem) setzen.36 Medium der Handhabung ist die Erzeugung höherstufiger Appräsentationsverweisungen, von Symbolen, denen die Fähigkeit zur Transzendenzbearbeitung inhärent ist.37 32 Schütz schreibt dazu: »Von meine[m] spezifischen Erlebnis der Grenzen meines Leibes wird Dein Leib und seine Grenzen nicht erfasst. Eben dies macht ja Deinen Leib zu etwas Fremdem, was nicht Ich ist. Wenn ich Deine Hand berühre[,] so ist dies eine ganz andere ­Situation[,] als wenn ich meine eigene Hand berühre, aber auch völlig verschieden von dem Erlebnis, wenn Du meine Hand berührst. Gerade hier zeigt sich ganz prägnant, was wir mit dem Erlebnis der Grenzen des eigenen Leibes meinen.« (Ebd., 116.) 33 Vgl. Kap. II.9.1.1. 34 Vgl. Luckmann, Th., Die unsichtbare Religion, 83. 35 Vgl. Schütz, A., Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft, 167. 36 Vgl. ebd., 169. 37 Vgl. Kap. II.8.2.

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Im Folgenden wird das Phänomen der (präreflexiven) Normativität und Konventionalisierung, die sich sozial ausprägt, am Beispiel der Studie »Agnes« des Ethnomethodologen Harold Garfinkel veranschaulicht: Die Studie zeigt deutlich, inwieweit Fremdverstehen (pragmatisch) über Konventionalisierungen rollenspezifischer Handlungsmuster geregelt wird.

6.3 Sozialität und Normativität: die ethnomethodologische Studie »Agnes« von Harold Garfinkel Harold Garfinkel begründete Terminus wie Ansatz der Ethnomethodologie; sein Werk »Studies in Ethnomethodology«, erschienen in den USA 1967  – bis heute nicht ins Deutsche übersetzt – bildet nach wie vor die zentrale Programmschrift der Ethnomethodologie.38 Garfinkels Hauptschrift, entstanden Mitte der fünfziger Jahre, bildet eine Ansammlung empirischer Studien bezüglich des Umgangs von Menschen mit Alltagswirklichkeiten (Konstruktion, Transformation, Destruktion, Reproduktion). Eines der Kapitel beschreibt den Übergang einer transsexuellen Person von einer männlichen zu einer weiblichen Geschlechtsidentität und verdeutlicht so stattfindende Prozesse der Konstruktion gemeinsamer sozialer Wirklichkeit in ihrer Anlage wechselseitiger Hermeneutik (Subjekt/Umwelt). Diese Studie Garfinkels, die unter dem Namen »Agnes« prominent wurde, veranschaulicht zum einen Prozesse der vorprädikativen, vorreflexiven Sinnkonstitution innerhalb der sozialen Interaktion. Zugleich exemplifiziert die Studie mit der Schilderung des (chronischen) passings den ausgesucht pragmatischen Charakter bereits ›vorgedeuteten‹/präreflexiven Wissens in der sozialen Interaktion. Die Studie macht somit den Hintergrund sichtbar, vor dem vermeintlich ›normal‹ in einer westlichen, geschlechtlich dichothomen Gesellschaft agiert wird  – und stellt diese ›Normalität‹ insofern in Frage, als sie sie als Konstrukt offenbar werden lässt. ›Normalität‹ ist hier Sedimentierung typisierter Mehrheitserfahrungen und -voten. Als solche ist sie immer anfragbar. Agnes verdeutlicht, wie etwas, das gesamtgesellschaftlich als unproblematisch eingestuft wird (das heterosexuelle Bezogensein) zu einem Problem werden

38 Garfinkel war Schüler Alfred Schütz’ an der New School of Social Research in New York, nachfolgend Doktorand bei T. Parsons in Harvard. (Zum Einfluss Schütz’ und Parsons im Ansatz Garfinkels vgl. Heritage, J., Garfinkel and Ethnomethodology, 7–74. Zum Austausch zwischen Schütz und Parsons hingegen vgl. Schütz, A./Parsons, T., Zur Theorie sozialen Handelns.) Insofern sind hier die beiden theoretischen Eckpfeiler seines Forschungsansatzes benannt – bei Garfinkel treffen sich Gedanken der deutschen Phänomenologie und Max Webers, Sprachwissenschaft und Symbolischer Interaktionismus. (Vgl. Patzelt, W. J., Harold Garfinkel, 136 ff.)

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und nicht im Präreflexiven verhandelt werden kann, wenn vorgestellte Sinndeutungsmuster bzw. Elemente des gesellschaftlichen Wissensvorrats (eindeutige primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale zeigen eindeutig das soziale Geschlecht an) nicht mit der eigenen Lebenswirklichkeit (Agnes kann sich nicht mit ihrem ›male sex‹ identifizieren) zusammen stimmen: Agnes muss tagtäglich ihre Geschlechtlichkeit neu inszenieren und konstruieren.39

6.3.1 Ethnomethodologie Ethnomethodologie bezeichnet keine eigene Methode innerhalb der empirischen Sozialforschung. Vielmehr geht es darum, unter Verwendung herkömmlicher Methodik (wenig standardisierte Interviews, teilnehmende Beobachtung, Video- und Bandaufzeichnung, Transkriptionen, Beobachtungs- und Interviewnotizen), einem eigenen Forschungsinteresse nachzukommen, welches sich in der Frage zusammenfassen lässt, welches interaktive Handeln, Äußern und Denken von Menschen diejenige Wirklichkeit konstituiert, die als selbstverständ­ liche Wirklichkeit wiederum dem eigenen Handeln, Äußern und Denken als Basis dient bzw. dann auch reproduziert, destruiert oder transformiert wird.40 Bei Garfinkel heißt es entsprechend zur Erläuterung des ethnomethodologischen Programms: »I use the term ›ethnomethodology‹ to refer to the investigation of the rational properties of indexical expressions and other practical actions as contingent ongoing accomplishments of organized artful practices of everyday life.«41

Gegen Talcott Parsons, an dessen Ansatz Garfinkel die Unterbelichtung der Leistungen des Subjekts im Rahmen des sozialen Handelns kritisiert42, vertritt Garfinkel die Position, dass jeder einzelne die soziale Wirklichkeit aktiv und inter­ aktional als sinnhaften (Handlungs-) Zusammenhang konstituiert. Ge­brochen wird hier mit der auf Emil Durkheim zurück reichenden Prämisse, Sozio­logie könne und müsse sich auf so etwas wie ›harte Fakten‹ bzw. auf ­soziale Fakten als objektive Realität beziehen.43 Gesellschaftliche Wirklichkeit stellt sich für Garfinkel als Vollzugswirklichkeit (contingent ongoing accomplishment) dar: 39 Die tagtägliche Inszenierung der eigenen Geschlechtlichkeit betrifft alle Menschen – bei Agnes fällt es nur auf, weil es ›illegitim‹ erscheint. Vgl. einführend zur Inszenierung als allgemeines Problem: Butler, J., Körper von Gewicht, 19 ff. 40 Vgl. Patzelt, W. J., Ethnomethodologie, 125. 41 Garfinkel, H., Studies in Ethnomethodology, 11. 42 Garfinkel war bei Parsons an der Harvard University Assistent und promovierte bei Parsons, schlug aber bereits in der Dissertation einen anderen Weg ein als der Systemtheoretiker Parsons. 43 Vgl. Bergmann, J. R., Ethnomethodologie, 121.

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Die Mitglieder einer Gesellschaft bringen in jedem Moment des sozialen Handelns soziale Realität(en) hervor. An diesen situativen, immer neuen Hervorbringungen ist Garfinkel interessiert, und insofern mag man hier durchaus den Husserl’schen Gedanken der Epoché, der Technik der Enthaltung eines Urteils über zeitlich-räumliches Dasein als wahrhaft Seiendes, im Hintergrund erkennen.44 Leitend ist für die Ethnomethodologie die Annahme, dass die Mitglieder einer Ethnie, Menschen mit ähnlichem bzw. identischem kulturellem Referenzrahmen, bestimmte Methoden anwenden, um eben gemeinsame Selbstverständlichkeiten in ihrer alltäglichen Wirklichkeitskonstitution (reality work) hervorzubringen (reproduzieren, transformieren usw.). Dies geschieht unter Anwendung vorhandenen Wissens, also erstens unter Verwendung von szenischen Praktiken, zweitens unter Zuhilfenahme einschränkender Interpretationsverfahren mit Blick auf die Vieldeutigkeit von verwendeten sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen, drittens über die Handhabung von Darstellungstech­niken (accounts), welche die Interpretation von Handlungen in ihrem Verfahren in eine, in der Regel vom Akteur erwünschte, Richtung lenken.45 Insofern kann jeder Mensch in einem sozialen Gefüge als Ethnomethodologe bezeichnet werden. Die Ethnomethodologie als Forschung bezieht sich nun auf Merkmale wirklichkeitskonstitutiven Alltagshandelns, welche einerseits formal gültig ethnienübergreifend sind (Allgemeine Ethnomethodologie), welche andererseits aber auch als spezifischer Ausdruck dieser formal gültigen Merkmale in einer besonderer Ethnie (z. B. Lehrerinnen, Richter, Pfarrer) zur Darstellung kommen und untersuchungsrelevant werden (Spezielle Ethnomethodologie).46 Entscheidend ist, dass es der Ethnomethodologie nicht um eine Nachvollzugshermeneutik geht, nicht um eine Rekonstruktion vermeintlich bereits abgelaufener Sinnbildungsprozesse im Subjekt, vielmehr ist der Ethnomethodologie an der Beschreibung und dokumentarischen Interpretation aktualer, (notwendig) intersubjektiver Sinnkonstitution und ihrer Strukturprinzipien gelegen. Erforderlich ist dabei eine Haltung der größtmöglichen Indifferenz gegenüber dem interessierenden Setting. Dieses Setting macht immer auch die Hintergrunderwartungen einer Ethnie sichtbar, welche sich in ihren Interaktionsprozessen an einem gemeinsam erarbeiteten Bestand (occasioned corpus) orientiert.47 Die Studie »Agnes« 44 Vgl. ebd., 123. 45 Vgl. Ebd., 125. 46 Vgl. ebd. 47 In diesem Zusammenhang leistet Patzelt eine instruktive Bestimmung des Operators ›Normalität‹: »›Normalität‹, die es – je nach wirklichkeitsformender Absicht – in Geltung zu halten, umzuformen oder zu erschüttern gilt, wird im Rahmen der E[thnomethodologie] aufgefasst als ein Index aus den folgenden Merkmalen, anhand welcher die Mitglieder einer Ethnie die ihnen begegnenden Ereignisse und Wirklichkeitselemente beurteilen: deren Einordenbarkeit in bekannte Klassen von Wirklichkeitsmerkmalen (›Typikalität‹), die erwartbare Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens, die Vergleichbarkeit des Neuen mit schon Bekanntem anhand von Typikalität und Wahrscheinlichkeit, alltagstheoretische Rückführbarkeit

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eignet sich in großem Maße dazu, das ethnomethodologische Modell der reality work zu exemplifizieren: Am Beispiel der Geschlechtszugehörigkeit wird der interaktive und präsentative, perzeptive und konstruktive Charakter des alltäg­ lichen making of sichtbar.

6.3.2 Die Studie »Agnes« Die Studie »Agnes«, überschrieben mit »Passing and the managed achievement of sex status in an ›intersexed‹ person«, ist mit einem Umfang von 70  Seiten die längste der in »Studies in Ethnomethodology« versammelten Forschungsberichte.48 Die Studie ist mittlerweile über 35 Jahre alt; ihr Duktus ist zum großen Teil dem ethnomethodologischen Anspruch der freien und ungelenkten Beobachtung geschuldet: Dem Leser erscheint manches im Text redundant und ›­unsortiert‹  – die biographische Situation von Agnes muss in einem zweiten Schritt in Eigenarbeit mosaikartig zu einem Bild zusammengesetzt werden: Agnes und Garfinkel treffen 1958 aufeinander, im Medical Center of the University of California, Los Angeles (UCLA). Agnes ist zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt und hofft auf eine Operation, welche ihr äußeres, ›zufälliges‹ und »irrtümliches«49, weil männliches Geschlecht dem schon immer vorhandenen und ihr wesentlich eigenen weiblichen Geschlecht anpasst.50 Agnes wuchs als ›biologischer‹ Junge in Northwestern City auf und wurde von ihrer Umwelt als des Neuen auf Bekanntes (›kausale Eingebundenheit‹), nachvollziehbare instrumentelle Effizienz des Begegnenden, seine erkennbare Notwendigkeit gemä[ß] einer natürlichen oder mora­lischen Ordnung, sowie substantielle Kongruenz der eigenen Wirklichkeitswahrnehmung mit der von anderen. Solange ein Bestand an gemeinsamen Normalitätserwartungen und praktizierter ›Normalformen‹ szenischer Praktiken sowie materieller Produktionen verfügbar ist, in Geltung gehalten und verlässlich immer wieder neu bewirkt wird, ist dieser bewirkte Bestand die zentrale Ressource, das ›Durchführungsmittel‹ weiterer Wirklichkeitskonstruktion und Maßstab dafür, was von den Mitgliedern einer Ethnie für selbstverständlich gehalten sowie der Beurteilung konkret vorgenommener Handlungen, Äußerungen und Interpretationen zugrunde gelegt wird.« (Patzelt, W. J., ebd., 126 f. Im Original hervorgehoben.) 48 Garfinkel, H., Studies in Ethnomethodology, 116–185. 49 Ebd., 127. 50 Garfinkel führt Anges schon im Titel als »intersexed person« ein, dies vor dem Hintergrund, dass Agnes, als sie das UCLA im Alter von 19 Jahren aufsucht, biologisch-männliche wie biologisch-weibliche Geschlechtsmerkmale entwickelt hatte. Dies lässt sich in der Schilderung nicht weiter aufrecht erhalten, da sich 1966, also etliche Jahre nach der erfolgten Operation, herausstellt, dass Agnes, seit sie zwölf Jahre alt war, heimlich weibliche Hormone einnahm, die ihre Mutter verschrieben bekam, so dass Agnes in ihrer Pubertät sekundäre weibliche Geschlechtsmerkmale entwickelte. Insofern lässt sich Agnes biologisch eher als transsexuell beschreiben – ein Umstand, den Agnes in den prä- und postoperativen Ge­ sprächen mit Garfinkel scheint vermeiden zu wollen.

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Junge/männlicher Jugendlicher wahrgenommen, bis sie 17 Jahre alt war. In den Gesprächen mit Garfinkel betont Agnes immer wieder, wie problematisch und schwer handhabbar für sie die männliche Geschlechtsrollenidentität war, zumal sie scheinbar keinen positiven bzw. neutralen Bezug zu ihrem männlichen Körper hatte. Im Jahr 1956 ändert Agnes ihr Erscheinungsbild in einer solchen Weise, dass sie von nun an von ihrer Umwelt als Frau wahrgenommen wird.51 1957 geht Agnes mit Freundinnen nach Los Angeles, im Februar1958 lernt sie ihren zukünftigen Freund und späteren Ehemann Bill kennen. Garfinkel berichtet von insgesamt etwa 70 Stunden Interview, von ihm selbst und seinen Kollegen am UCLA geführt. Als zentral für den Vorgang der Konversion des biologischen Geschlechts konturiert sich das Problem des passings: Abgesehen von den physischen Unannehmlichkeiten, die die Operation für Agnes mit sich bringt, erscheint es als immerwährende, stets neu auftauchende Probe ihrer selbst52, in der sozialen Interaktion als ›etwas‹ bzw. als ›jemand‹, in diesem Fall also als ›Frau‹, erkannt zu werden. So heißt es bei Garfinkel zum Problem des passings: »The work of achieving and making secure their rights to live in the elected sex status while providing for the possibility of detection and ruin carried out within the socially structured conditions in which this work occurred I call ›passing‹.«53

Ingesamt ergeben sich für Agnes folgende Schwierigkeiten54 im Zusammenhang des ›sozialen Erkannt-Werdens‹: a. die ›Stilisierung‹ als ›Frau‹: Agnes legt großen Wert darauf, als natural, normal female wahrgenommen zu werden. Dies ist notwendig im Zusammenhang der gesellschaftlich vorherrschenden Omnirelevanz der Geschlechterdichothomie und dem Bedürfnis in westlichen Gesellschaften, Menschen eindeutig entweder als ›Mann‹ oder als ›Frau‹ klassifizieren zu können. Dies 51 In diesem Jahr, im Alter von 17 Jahren, bricht Agnes die High School ab und arbeitet von dieser Zeit an als Bürokraft (in unterschiedlichen Stellen). Erwähnt wird immer wieder, dass Agnes sich weiterqualifizieren möchte. 52 Hier differenzieren Kessler/McKenna: In der Annahme, dass der größte Teil des sozialen Verstehens in diesem Punkt vom sozialen Gegenüber und dessen Vorannahmen geleistet wird, kommen Kessler/McKenna in ihrer Studie zu dem Schluss, dass die einmalige Zu­ weisung zu einem der beiden sozialen Geschlechter ausreicht, um immer wieder mit eben jenem identifiziert zu werden – relativ unabhängig davon, wie sich der/die Transsexuelle nachfolgend verhält. Vgl. Kessler, S. J./McKenna, W., Gender: An Ethnomethodological ­Approach, 136 ff. 53 Garfinkel, H., ebd., 118. Im Original hervorgehoben. 54 Die im folgenden nur ganz schemenhaft und eher nur angedeuteten Schwierigkeiten, die sich für Agnes ergeben, sind typisch für Transsexuelle in einer Gesellschaft, die Alterna­ tiven jenseits der beiden Geschlechter, ›männlich‹ und ›weiblich‹, sanktioniert und Übergänge nur in einzelnen Fällen zulässt. Zur Einbettung in einen größeren Horizont empfiehlt sich, da noch recht zeitnah zu Garfinkels Studie: Kessler, S. J./McKenna, W., ebd., 112–141. – Zum Problem der Geschlechterdichothomie vgl. weiterhin: Gildemeister, Regine, Die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit, v. a. 225 ff.

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bedeutet für eine Mann-zu-Frau-Transsexuelle, dass sie Aspekte der weib­ lichen sozialen Geschlechtsrolle in ihrem Alltag in einer gewissen Stereo­ typie hervorbringen muss, um als ›Frau‹ kategorisiert zu werden: »Thus in order to be a transsexual one must also meet the criteria of beeing a ›normal‹ member of one’s ›chosen‹ gender.«55 Damit diese Wahrnehmung als ›normale Frau‹ nicht gestört wird, entwickelt Agnes in verschiedenen Situationen Strategien, wie sie dieses Bild trotz ihrer biographischen Situation aufrecht erhalten kann.56 Agnes fürchtet Situationen, die sie nicht ›vorbereiten‹ kann ebenso wie Routine, die sie für Gefahren potentiellen ›Enthüllt-Werdens‹ unaufmerksam werden lässt. b. die Interpretation der Vergangenheit als biologischer Junge/männlicher Jugendlicher für sich selbst und der Umgang mit diesem Umstand vor anderen: Agnes ist sehr bemüht, die Tatsache ihrer biologisch-männlichen Vergangenheit als ›Irrtum der Natur‹ zu vermitteln, welcher durch die Operation be­ hoben wird. Durch die Operation erhält sie den sexuellen Status (biologisch wie potentiell sozial), der ihr von Geburt an im Grunde eigen war (»legitimately possessed«57). Es existiert kein Deutungsrahmen über diese enge Zuweisung vom biologischen zum sozialen Geschlecht hinaus. Agnes ist bemüht darum, ihre Vergangenheit gegenüber Menschen, die sie neu kennen lernt zu verschweigen bzw. ihrem sozialen Gegenüber nichts über ihre Vergangenheit mitzuteilen. Denn der common sense würde ihr, so ihre Befürchtung, ihre ›Normalität‹ absprechen, da ihr Verhalten prinzipiell nicht nachvoll­ziehbar ist.58 55 Kessler, S. J./McKenna, W., ebd., 118.  – Über die Zuweisungskategorien ›Frau‹ bzw. ›Mann‹ hinaus existiert nichts Drittes, Viertes oder Fünftes. Menschen, die nicht eindeutig dieser Dichothomie entsprechen, werden bekanntermaßen in ihrem ›Anderssein‹ sanktioniert (Operation bei intersexuellen Kindern; Hormontherapie). 56 Sie verweigert sich amtsärztlichen Untersuchungen, gibt eine Urinprobe ihrer Mit­ bewohnerin ab, weil sie Angst hat, dass von ihrer eigenen Probe auf ihr biologisch-männliches Geschlecht geschlossen werden kann, geht nicht mit Freunden und Freundinnen Baden, wenn nicht entsprechende Umkleidemöglichkeiten vorhanden sind (auch für diese Situationen gelten gesellschaftliche Konventionen: ›erlaubt‹ ist in diesem Fall etwa zu sagen, man sei nicht in der Stimmung zu baden etc.) 57 Garfinkel, H., Studies in Ethnomethodology, 127.  – Der Zusammenfall von biologischem und sozialem Geschlecht in Agnes’ Deutung repräsentiert die gesellschaftliche Annahme, dass das biologische Geschlecht essentielles Zeichen des sozialen Geschlechts ist. Eine Person mit biologisch-weiblichen Geschlechtsmerkmalen kann in gesellschaftlicher Normierung per se nichts anderes als eine ›Frau‹ – mit typischer sozialer Geschlechtsrollenzuweisung und heterosexuellem Begehren – sein. (Vgl. Garfinkel, H., ebd., 122 f; Kessler, S. J./McKenna, W., ebd., 113. Vgl. auch zur Zuordnung von Geschlecht, Geschlechtsidentität und Begehren: Butler, J., Das Unbehagen der Geschlechter, 22 ff.) 58 Vgl. Garfinkel, H., ebd., 125 f.  – Für den common sense ist Geschlechtszugehörigkeit invariant: Übergänge werden nur als spielerische und zeitlich begrenzte zugelassen i. e. kon­ trolliert (z. B. Kostümierung). Hier fallen ›Normalität‹ und ›Natur‹ zusammen mit Moral.

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c. die Aushandlung der (heterosexuellen) Beziehung mit ihrem Freund. Hier zeigt sich ebenfalls exemplarisch die Interdependenz von zugewiesener Geschlechtsrolle und erwartetem Sozialverhalten. Als Entsprechung zu ihrem Freund Bill als »120-prozentigem Mann« entwirft sich Agnes als »120-prozentige Frau«.59 Als sich Agnes ins UCLA begibt, hat sie Probleme mit Bill, der auf mehr körperliche Intimität und Heirat drängt. Agnes leidet unter der Angst, dass die Beziehung zwischen ihr und Bill als Beziehung zwischen Frau und Mann abnormal sein könnte: So äußert sie Bedenken, dass Bill sie unnormal finden könnte ebenso, wie sie Garfinkel dazu befragt, ob er Bill unnormal findet, da er, Bill, ein sexuelles Interesse an ihr hat. Dass der geschlechtsrollentypische Habitus für Agnes nicht selbstverständlich ist, zeigen Beispiele, in denen sie von Bill gemaßregelt wird, weil sie ihrer weib­ lichen Rolle entsprechend nicht passiv genug in der Interaktion war.60 Agnes ist also in der Position, in dem gesellschaftlich für ihr Geschlecht vorgesehenen Rahmen zu handeln und gleichzeitig lernen zu müssen, was gesellschaftlich überhaupt von ihr verlangt wird – und dies mit einer Selbstverständlichkeit zu handhaben, dass niemand auf die Idee kommt, es mit einem ehemals biologischen Mann zu tun zu haben.61 Dieser kurze Blick in Garfinkels Studie »Agnes« macht deutlich, wie hoch der Grad an Konventionalisierung in sozialen Interaktionen ist. Konventionalisierungen werden nicht stetig thematisiert und reflektiert  – sofern es keine Pro­ blemanzeigen gibt, verbleiben sie in der Regel im Bereich des Vorreflexiven. Am Beispiel dieser Studie lassen sich bestimmte, eben die in diesem Rahmen interessierenden Konventionen quasi wieder verflüssigen: Zu sehen ist, welch klein­ 59 Vgl. Garfinkel, H., Studies in Ethnomethodology, 129. 60 Garfinkel gibt wieder: »On another occasion she received a lecture from Bill an how a lady should conduct herself on an picnic. This he did by angrily analyzing the failings of a companion’s date who had insisted, in his angry account, on wanting things her own way, of offering her opinions when she should have been retiring, of being sharp in her manner when she should have been sweet, of complaining instead of taking things as they were, of professing her sophistication instead of being innocent, of acting bawdy instead of abjuring any claims of equality with men, of demanding services instead of looking to give the man she was with pleasure and comfort. Agnes quoted Bill with approval: ›Don’t think the others are taking your part when you act like that. They’re feeling sorry for the guy who has to be with her. They’re thinking, where did he ever pick her up!‹« (Ebd., 146 f.) 61 Agnes lehnt es vehement ab, auf irgendeine Weise mit Homosexuellen (mit ­Schwulen) oder Transvestiten in Zusammenhang gebracht zu werden. Solche Personen werden von ihr als unnormal klassifiziert; Agnes kann, nach eigenen Angaben, kein Verständnis für eine andere Geschlechts(rollen)identität aufbringen als für die des Aufeinander-Bezogen-Seins von Mann und Frau, gelebt von natürlichen, also biologischen Männern und Frauen, die einen entsprechenden sozialen Habitus pflegen. Agnes lehnt ebenfalls jeglichen Kontakt mit ­Menschen ab, die ebenfalls vor einer Operation stehen bzw. diese bereits hinter sich gebracht haben.

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teilige Arbeit die Anpassung an selbstverständliche Erwartungen im Rahmen sozialer Interaktionen darstellt. Im Nachgang zur Studie ist das Gesprächssetting zwischen Garfinkel und ­Agnes mit Blick auf ihm inhärente, allerdings nicht notwendige Konstitutionsmerkmale hin kritisiert worden: Androzentrismus und methodisch ›blinde Flecken‹ attestiert Mary F. Rogers der Studie.62 Sie konstatiert ein Machtgefälle zwischen Garfinkel und Agnes und weist auf die Rekonstruktion von Rollenmustern hin, die die Forschenden in ihrem Konstruktionschakater erkannt haben: »They [the researchers; KM] were, however, culturally equipped to treat her [Agnes; KM] as any young, self-respecting woman of that day typically expected men to treat her. They were, in short, prepared to be masculine so that Agnes could persue her ­feminine course within as well as beyond the research situation. In ethnomethodological terms, commonsense understandings about gender served these researchers as a source even while they were apparently treating such understandings as a topic of inquiry invoked most often with the rubric of ›cultual events‹.«63

Diese Kritik macht auf anderer Ebene deutlich, wie sehr soziale, rollenspezi­ fische Interaktionen präfiguriert sind. Vertraut und fraglos sind die Muster für diejenigen, die einen relativ unproblematischen Umgang mit ihnen pflegen können. Mit dem Aspekt der Reproduktion von Mustern ist zugleich der Aspekt ihrer Legitimation gegeben: Geltung beansprucht das, was immer wieder sichtbar 62 Rogers, M. F., They All Were Passing, 170.  – Rogers kritisiert, dass Garfinkel wenig über die Methode ausführt, sei es, dass er die von ihm erwähnten »Tests« nicht weiter erläutert, sei es, dass er über Setting und Struktur der Interviews, welche von ihm überwiegend als »conversations« oder »talks« bezeichnet werden, kaum etwas ausführt. (Vgl. Rogers, M. F., ebd., 171.) Rogers vermutet, dass Garfinkel in seinem Bericht den Begriff ›Interview‹ meidet, um nicht explizit auf das Machtgefälle zwischen den Partizipierenden hinzuweisen. Dieses Machtgefälle zwischen den Forschern und ihrer Klientin/Probandin ist für Rogers vorhanden aus Gründen des Status’, des Altersunterschieds, der Bildung und der Tatsache, dass ­Agnes auf diese Gespräche angewiesen ist, da aus ihnen die Notwendigkeit einer geschlechts­ umwandelnden Operation hervorgehen muss. 63 Rogers, M. F., ebd., 181. – So beschreibt Garfinkel an verschiedenen Stellen in »Studies in Ethnomethodology« Agnes’ Auftreten und Erscheinungsweise: »single girl« (119) whose »appearance was convincingly female«, »tall, slim, with a very female shape« (119), »female measurements of 38–25–38« (117), »long, fine dark-blonde hair«, »pretty features«, »peachesand-cream-complexion« (119), »dressed in a tight sweater which marked off her thin shoulders, ample breasts, and narrow waist« (119), »appropriately feminine manner«, sowie seine Reaktion: »There were many occasions when my attentions flattered her with respect to her ­feminity; for example, holding her arm while I guided her across the street; having lunch with her at the Medical Center; offering to hang up her coat; relieving her of her handbag; ­holding the automobile door open for her while she entered; being solicitous for her comfort before I closed the auto door and took my own seat behind the wheel. At times like this her ­behaviour reminded me that being female for her was like having been given a wonderful gift. It was on such occasions that she most clearly displayed the characteristics of the ›120 per cent female‹.« (133)

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wird. Mit Blick auf das Problem der Legitimation existieren verschiedene Möglichkeiten des Handelns für Individuen: Zu einem Phänomen kann man sich zustimmend, ablehnend oder aber auch gleichgültig verhalten. Der Grad der Aufmerksamkeitszuwendung zu einem Phänomen reguliert sich dabei über die Verortung des Phänomens im Relevanzsystem eines jeweiligen Individuums. Darüber entscheidet sich letztlich auch, ob etwas im Bereich des Vorreflexiven verbleibt, oder ob es Objekt der reflexiven Zuwendung wird. Das Problem der Relevanz erweist sich dabei als zentral für die Konstitution subjektiven wie objektiven Sinns wie für das Verstehen von Kommunikationsprozessen.

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7. Relevanz und Sinnkonstitution Das letzte Kapitel hat sich mit der Beschreibung des grundsätzlichen Problems des Fremdverstehens beschäftigt – unterschieden wurden subjektiver und objektiver Sinn; deutlich wurde, dass beide nie zusammenfallen können. Fremdverstehen hat sich insofern als Limesbegriff dargestellt. Nun ist mit dem Problem des Fremdverstehens als Problem des Verstehens fremder Selbstverhältnisse ein weiterer Aspekt angezeigt, den es mit zu reflektieren gilt, denn nicht nur die Deutung mit Blick auf fremden, sich darstellenden Sinn ist fraglich, sondern fraglich bleibt auch der Nachvollzug eigener Sinnkonstitutionsprozesse des Individuums. Zwar ist hier graduell deutlich zu unterscheiden: Der fremde Sinn wird Mir immer wesentlich unzugänglicher sein als der eigene Sinn. Trotzdem sind nicht alle Sinnkonstitutionsprozesse den Individuen in ihrem Selbstverhältnis, also in ihrer Subjektivität, völlig bewusst und spontan ›abrufbar‹. Vielmehr finden unterschiedliche Sinnkonstitutionsprozesse auf zu unterscheidenden Ebenen statt  – im Bereich des Reflexiven wie im Bereich des Vorreflexiven/Vorprädikativen. Die erste Aufgabe wird also darin bestehen, den Bereich des vorreflexiven Sinnaufbaus näher zu beleuchten. Schütz’ Auseinandersetzung mit dem Thema findet über das Phänomen der inneren Dauer Eingang. Darüber hinaus kon­zentrieren sich die Ausführungen im Wesentlichen auf die Darstellung der Passiven Synthesis bei Edmund Husserl – nicht etwa, um die Berechtigung von Schütz’ Zuwendung zur mundanen Sozialität zurück zu stufen, sondern vielmehr um thetisch vorintentionale Bewusstseinsakte beschreiben zu können, auf die die weiteren prädikativen Synthesen aufbauen. Exemplarisch wird auf die Arbeit von Ichiro Yamaguchi, »Passive Synthesis und Intersubjektivität bei Husserl« (1982) zurück gegriffen, um letztlich nur einen kleinen Ausblick auf ein sehr weites Feld zu gewähren.1 Im Anschluss daran wird gefragt, wie sich nun über die Konstitution von Sinn Relevanz aufbaut, welche Relevanzstukturen prototypisch zu beschreiben sind. Schließlich wird sich das letzte Unterkapitel mit der Frage der Voraussetzungen und den Gestalten subjektiven Handelns beschäftigen, als Resultat bestehender Relevanzstrukturen.

1 Im Rahmen der Fragestellung dieser Arbeit ist eine umfängliche Beschäftigung mit dem Problem der Synthesis und seine Verhältnisbestimmung zum Problem der Inter­subjektivität im Werk Husserls weder möglich noch wäre sie richtig platziert. Hier kann weiter verwiesen werden auf: Holenstein, E., Phänomenologie der Assoziation; Kühn, R., Husserls Begriff der Passivität; Lee, N.-I., Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte.

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7.1 Die passive Synthesis als Grundlage höherstufiger Akte des Bewusstseins Wie bereits ausgeführt, bezeichnet der Begriff ›Lebenswelt‹ für Husserl den universalen Boden, passiv und vorgegeben, Welt, in der wir leben. So sind die Gegenstände dieser Welt immer schon da, ebenfalls passiv und vorgegeben, und zwar als solche Objekte, die das Subjekt prinzipiell affizieren. Im Grunde ermöglicht erst die Analyse der passiven Synthesis2 die Thematisierung der Lebensweltanalyse, da sie auf die passive Hintergrundstruktur der Lebenswelt samt 2 Obwohl der Begriff der Synthese bzw. Synthesis bereits in der Antike geprägt wurde (Eisler, R., Art.  Synthese, 201), kommt ihm erst in der Neuzeit eine bedeutende Rolle zu  – so in der Transzendentalphilosophie Kants und im deutschen Idealismus (etwa bei Fichte, Schelling, Hegel), unter Rekurs auf Kant auch in der Phänomenologie Husserls. Synthese bezeichnet dabei die Verbindung von Mehreren bzw. Mannigfaltigen zu einem Ganzen als Akt des Bewusstseins (dies ist mit ein Grund, warum der Begriff der Synthese außerhalb der Bewusstseinsphilosophie in der Philosophie der Gegenwart wenig Resonanz findet. In pragmatistischen, systemtheoretischen und handlungstheoretischen Ansätzen wird der Begriff der ›Synthese‹ vermieden und eher mit ›Assimilation‹, ›Koordination‹ oder ›Integration‹ von Elementen/Teilen umschrieben, etwa in den Ausführungen Jean Piagets, welcher sich in seiner genetischen Epistemologie zwar unmittelbar auf die Kantische Erkenntnistheorie bezieht, allerdings gänzlich ohne den Terminus der ›Synthese‹ auskommt. (Vgl. Hoppe, H., Art. Synthesis; synthetisch, 823.) Bei Merleau-Ponty begegnet in Folge und in kritischer Auseinandersetzung mit den Husserlschen Gedanken der Begriff der Synthese schließlich im Kontext einer Philosophie der Leiblichkeit i. S. eines leiblichen Engagiertseins in der Welt. Ganz allgemein heißt es in der zweiten Auflage des Wörterbuchs der Philosophischen Begriffe von 1904: »Die (geistige)  Synthese ist das Resultat der (synthetischen) Tätigkeit des Bewusstseins, des Ich, welches kraft seiner Natur sich selbst und die objectiven Inhalte seines Erlebens immer wieder zu zusammenhängenden Einheiten, zur Einheit des Selbst- und Objectbewusstseins verbindet. Psychologisch ist die Synthese eine Leistung der Apperception (s.d.). Die associative Synthese geht von der »passiven«, die apperceptive Synthese von der »activen« Apperception aus. »Schöpferisch« ist die Synthese insofern, als sie aus psychischen Elementen neue, in der bloßen Summe der Bestandteile noch nicht gegebene geistige Gebilde (z. B. die höheren ästhetischen Gefühle) erzeugt. Die logische Synthese ist die Betätigung des Denkens (s.d.) in der Verknüpfung von Vorstellungen, Begriffen, Urteilen, Schlüssen; sie führt zum »System« (s.d.) der Wissenschaft, wie die ästhetische zum Kunstwerk, die speculative, philosophische zur »Weltanschauung«. [Im Original hervorgehoben.] (Eisler, R., ebd.)  – Sehr deutlich wird hier die grundlegende Funktion der Synthese als menschliche Äußerung der Verortung in der Welt, um es ganz allgemein auszudrücken. Synonym mit der synthetischen Funktion des Bewusstseins ist, wie auch der Text verdeutlicht, der Vorgang der Apperzeption. Apperzeption bezeichnet dabei, nach Kant, in empirischer Hinsicht das in jedem Augenblick veränderte Selbstbewusstsein, als reine Form den Zustand des konstanten, identischen Selbstbewusstseins, die in allen Subjekten gleichsam vorhandene Ichheit. (Vgl. Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, 138 ff.) Leibniz konturiert den Terminus der Apperzeption im Gegenüber zu dem der Perzeption und verdeutlicht den aktiv-synthetischen Charakter: Während Perzeption »l’expression de la multitude dans l’unité« (Leibniz, G. W., Die Philosophischen Schriften, Bd. III, 69) bzw. der vorübergehende Zustand mannigfaltiger Impressionen ist, bezeichnet die Apperzeption das reflexive Bewusstsein (»la connaissance reflexive de cet état intérieur«). Nach Kant bil-

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der passiven Vorgegebenheit des individuellen Objektes zurück verweist – und auf die passive affektive Hintergrundstruktur des Bewusstseins des Subjektes.3 Husserl spricht nun von einer Schichtenstruktur der passiven Synthesis, welche sich in mehrere Stufen auffächert. Die Herausarbeitung dieser Schichtenstruktur ist ein wesentliches Anliegen Yamaguchis.4 Der Konstitutionsbogen reicht von der so genannten Triebintentionalität, der ›Uraffektion‹ bzw. ›Urassoziation‹ bis hin zur Relation des Erfassten mit Blick auf die Mitgegebenheit anderer Objekte und der Erinnerung eines Subjektes mit Bezug auf das eine, ursprünglich affizierende Objekt. Es lassen sich unterscheiden: 1) angeborene Triebinten­ det die Einheit der Apperzeption die reine Synthesis der produktiven ­Einbildungskraft ab und ist allgemeinste Funktion des Verstandes im Hinblick auf die Gewinnung von Begriffen aus Mannigfaltigem. (Vgl. Kant, I., ebd., 167 ff.) Die transzendentale Apperzeption ist also das Vermögen des Bewusstseins überhaupt. Sie ist Quelle der Kategorien und gibt »ein Principium der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in aller möglichen Anschauung an die Hand.« Der deutsche Idealismus entfaltet die Bedeutung der Synthese im Zusammenhang der Dialektik (vor allem Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling; Georg Wilhelm Friedrich Hegel unter Berufung auf die logische Form, allerdings ohne Nutzung des Terminus ›Synthese‹). Als spekulative Synthese bezeichnet die Synthese im Rahmen der Dialektik die Aufhebung des Entgegengesetzten und Widersprechenden auf höherem Niveau. Die Verbindung der Gegensätze erfolgt in einer höheren Einheit, in einem umfänglichen Ganzen. Charakteristisch für die Synthese als Vollzug ist dabei der Überschritt vom Allgemeinen zum Besonderen – dies trifft ebenso für das Kantische Zusammenspiel von Kategorien und Apperzeption zu (s. u.), wie für die Fichtesche Methode des Aufsuchens des Gleichen im Entgegengesetzten. Husserl sieht, wie schon Kant, die Synthesis als wesentliches Kennzeichen des Bewusstseins an. Allerdings denkt Husserl die Vorgänge der Synthesis nicht nur als höherstufige, kate­ goriengeleitete Synthese. Vielmehr ist auch das Bewusstsein für ihn nicht nur intentionales Bewusstsein, sondern basiert auf Vorgängen der Synthese, welche in ihrer unterschiedlichen Gestalt durchaus assoziativen Charakter haben, also Prinzip der passiven Genesis sein können. Ichgesteuert, und hier findet sich der Gegensatz zu Kant, sind die Synthesen bei ­Husserl nur auf der Ebene des Prädikativen – zu nennen sind hier die bereits erwähnte Apperzeption, sodann Explikation, Kollektion, Prädikation etc. Der Ebene des Prädikativen liegt allerdings der Bereich der passiven Synthesis zugrunde, die assoziativen Synthesen des Gleichen mit dem Gleichen und die fundierende »Ursynthesis des ursprünglichen Zeitbewusstseins« (­Husserl, E., Analysen zur Passiven Synthesis, 125 ff). Husserl geht damit noch einen Schritt weiter als Kant und überbietet den Gedanken der kategoriengeleiteten Synthesis bei eben jenem durch eine Bezogenheit von intersubjektiver Synthesis/Welt (Husserl, E., Die Krisis, 175) auf ein »universale[s] cogitatum« (Husserl, E., Cartesianische Meditationen, 80), welches wiederum das Bewusstseinsleben terminiert. (Vgl. Staudigl, M., Art. Synthese, 523.) Die Syn­t hesis fungiert als universales Prinzip. 3 Vgl. Yamaguchi, I., Passive Synthesis, 19. 4 Grundlegend verfolgt Yamaguchi in seiner Arbeit die Frage der Bedeutsamkeit der passiven Synthesis für den Aufbau von Intersubjektivität in der Phänomenologie Husserls. Yamaguchi leistet in seinem Buch eine Zusammenschau verschiedener Texte Husserls zum Thema der passiven Synthesis, u. a. aus den »Logischen Untersuchungen«, den »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie«, aus »Erfahrung und Urteil« und den »Analysen zur passiven Synthesis«.

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tionalität; 2) Urassoziation der Wahrnehmungsfelder; 3) Affektion; 4) Rezeption; 5) schlichte Erfassung; 6) Explikation; 7) Relation.5 Anhand einer kurzen Skizze soll schlicht aufgezeigt werden, wie Husserl den Vorgang der Weltwahrnehmung in seinen wesentlichen Zügen beschreibt. Grundlegend für die Konstitution der passiven Synthesis ist die angeborene (transzendentale) Triebintentionalität, welche von Husserl auch als ›Urassoziation‹ bezeichnet wird und mit der passiven Synthesis verflochten agiert. Das System der Triebintentionalität besteht aus einem System von assoziativ verflochtenen Trieben und bestimmt die gesamte assoziative Synthesis durch die von ihm vorgegebene Richtung.6 Erster Bezugspunkt des Gerichtetseins auf etwas sind Wahrnehmungsfelder, und zwar im Zustand voraffektiver Einheitsbildung, so dass Husserl auch von einer Urassoziation der Wahrnehmungsfelder spricht. Ohne Affektion bzw. voraffektiv bedeutet nun, dass sich in diesem Status die Uraffektion ohne Ichbeteiligung an der Bildung von einheitlichen Sinnesfeldern ereignet.7 Die Urassoziation der Wahrnehmungsfelder erfolgt dabei unter den Bedingungen der Koexistenz (als gleichzeitiges Auftreten mehrerer Urimpressionen bzw. Gegenstände) und Sukzession (als Ablaufmodus). Der Uraffektion folgt bei Husserl die Affektion als Urassoziation, bei welcher nun in verschiedenen Graden Ich-Aktivität beteiligt ist. Affektion wird hier verstanden als »Zug, der sich entspannt in der Zuwendung des Ich und von da sich fortsetzt im Streben nach […] Kenntnisnahme des […] Gegenstandes«8. Die affektive assoziative Synthesis erfolgt nun, im allgemeinsten Sinne, unter Maßgabe der Größen Verwandtschaft, Ähnlichkeit/Nichtähnlichkeit und Kontrast und fußt auf dem Prinzip der Weckung. Husserl charakterisiert die Affektion als »beständig wechselndes aktives Relief«9, so dass in jeder Phase der Konstitution eines hyletischen Gegenstandes Phasengehalte auftreten, welche zwar nicht nichts sind, aber zugleich nicht selbst schon Gegenstände sind.10 Fußend auf der angeborenen Triebintentionalität, schließt sich nach Urassoziation und Affektion die Schicht der Rezeption an, in welcher die affektive Kraft dafür verantwortlich sein kann oder nicht, dass sich das Ich dem Gegenstand zuwendet. Grund­legend für diese Rezeptivität des Ich ist allerdings die von Husserl so genannte Retention, jene Gesetzmäßigkeit, die dafür sorgt, dass ein Eindruck präsent bleibt. Die Affektion unterscheidet sich nun darin, ob sich das Ich dem aufdrängenden Gegenstand zuwendet oder nicht. Erst, wenn dies der Fall ist, wenn das Ich sich der Einheitsbildung bzw. dem Eindruck zuwendet, handelt es sich um einen Akt der 5 Vgl. Yamaguchi, I., ebd., 37 f. 6 Vgl. ebd., 38; 58 f. 7 Vgl. ebd., 39. Zur Kritik Yamaguchis an der Ordnungsform der Sinnesfelder unter Absehung von affektiven Elementen vgl. ebd. 8 Husserl, E., ebd., 148 f. 9 Ebd., 164. 10 Vgl. Yamaguchi, I., ebd., 47.

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­ ezeptivität. Diesem Vorgang folgt die so genannte schlichte Erfassung, welR che als »kontinuierlich fließende Aktivität«11 fungiert, und in welcher die Einheit eines Objektes begriffen wird. Urquellende Aktivität ist für die Funktion der schlichten Erfassung von Bedeutung, welche auch als »der als absolute Subjektivität gekennzeichnete zeitkonstituierende Bewusstseinsfluss selber«12 beschrieben werden kann. Deutlich wird, dass Zuwendung oder Nicht-Zuwendung des Ich im zeitkonstituierenden Bewusstseinsfluss darüber entscheiden, ob ein Eindruck bzw. ein Gegenstand im Status der Anonymität verbleibt oder nicht. Erst mit Erreichen der Schichten von Rezeption und Erfassung ist es möglich, zur Explikation fortzuschreiten. Die Explikation bezeichnet nun denjenigen Vorgang, bei dem, nach Zuwendung des Ich, das Rezipierte bzw. Erfasste Gegenstand des Wahrnehmungsinteresses wird, so dass im Bewusstseinsfluss aus einem Unbestimmten etwas Bestimmtes wird, ein Objekt mit Eigenschaften: »ein unbestimmtes Thema S wird zu einem Substrat mit Bestimmungen.«13 Schließlich setzt sodann die Relation ein, welche das Wahrgenommene in Beziehung zu anderen Objekten im Außenhorizont des neu Wahrgenommenen setzt. Dieser re­ lativierende Vorgang hat zwei Aspekte: zum einen als Einheit von gleichzeitig Affizierendem in einem Wahrnehmungsfeld, zum anderen als deckendes Er­ eignis von Erinnerung und Wahrnehmung. Mit dieser unter Umständen schematisch anmutenden Skizze der einzelnen Schichten der passiven Synthesis ist nun bei Husserl der Bereich umrissen, welcher die Bewusstwerdung von Externa und ihrer Relevantwerdung für das reflexive Ich beschreibt. Es wird deutlich, dass vor aller (Handlungs-) Pragmatik Prozesse stehen, die zuallererst die Möglichkeit einer Praxis konstituieren. So beschreibt die Husserl’sche Phänomenologie mit ihren eigenen Worten vor dem Horizont ihrer eigenen Philosophie bzw. Anthropologie kleinteilig eine Genesis von Bewusstheit und Bewusstwerdung, von Relevanz und Orientierungspunkten. Das Subjekt in seinem zeitkonstituierenden Bewusstseinsfluss verbleibt eher in einem Horizont der Anonymität, je mehr es den Externa keine Bedeutung qua Rezeption und Explikation zumisst. In der Beschreibung der passiven Synthesis durch Ichiro Yamaguchi wird deutlich, dass sich Erlebnisse aus dem Bewusstseinsstrom nur durch Aufmerksamkeitszuwendung und Eindringen eines Wahrnehmungsinteresses konstituieren. Selbst die Relation als deckendes Ereignis von Erinnerung und Wahrnehmung dürfte kaum primär als Erfahrung bezeichnet werden. Alfred Schütz führt in »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt« aus, dass etwas als ›Erlebnis‹ bezeichnet werden kann, sofern es als Phänomen der inneren Dauer, der durée, wird und entwird, als Teil eines Erlebnisstroms, ohne besondere Bewusstseins

11 Ebd., 49. 12 Ebd., 50. 13 Ebd., 38.

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Relevanz und Sinnkonstitution

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spannung. Allerdings kann auch ein solches als Erlebnis bezeichnet werden, welches unter dem Eindruck der attention à la vie als umgrenztes Phänomen mit raumzeitlicher Qualität fassbar wird  – und welches als ein solches Phänomen Reflexion ermöglicht bzw. einfordert. Das so genannte unterschiedene Erlebnis ist Gegenstand der Zuwendung des Ichs: Dem Erlebnis kommt Aufmerksamkeitszuwendung zu, so dass die ›Erfahrung‹ als reflektiertes Erlebnis erscheinen kann.14

7.2 Relevanz und Relevanzgenese Das Thema ›Relevanz‹ spielt im Werk Alfred Schütz’ eine zentrale Rolle.15 Erste Überlegungen zum Problem stellt Schütz in den Jahren 1928/29 an.16 Der Topos ist für Schütz so grundlegend, dass er in Niederschriften und Äußerungen aller Zeiten auftaucht – sei es in »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt«, den Entwürfen zu den »Strukturen der Lebenswelt«, zahlreichen Briefen und Gesprächen, bis hin zu Schütz’ letztem Aufsatz »Hic egregie progressus sum« (1958)17, welcher sich zwar, folgt man in der Interpretation dem Titel, als Resümee zum Problem der Relevanz und zur Genese von Horizontstrukturen versteht, jedoch nicht mit noch offenen Fragen zum Thema spart.18 In der Tat scheint es kaum einen Begriff zu geben, welcher im Zusammenhang von Bewusstseinsvollzügen und Handlung, im Allgemeinen wie Speziellen, grundsätzlicher ist: Das Problem der Relevanz ist unmittelbar an die Frage 14 Entsprechend heißt es: »Das Ich hat in jedem Augenblick seiner Dauer Bewußtsein von seinen Leibzuständen, seinen Empfindungen, seinen Wahrnehmungen, seinen stellung­ nehmenden Akten und den Zuständen seines Gemütes. Alle diese Komponenten konstituieren das So des jeweiligen Jetzt, in dem das Ich lebt. Wenn ich von einem dieser Erlebnisse Aussage, daß es sinnhaft sei, so setzt dies voraus, daß ich es aus der Fülle der mit ihm zugleich seienden, ihm vorausgegangenen und ihm nachfolgenden schlicht erlebten Erlebnisse ›heraus­hebe‹, indem ich mich ihm ›zuwende‹. Wir wollen ein so herausgehobenes Erlebnis ein ›wohlumgrenztes Erlebnis‹ und von ihm aussagen, daß wir mit ihm einen ›Sinn verbinden‹. Damit haben wir den ersten und ursprünglichsten Begriff des Sinnes überhaupt gewonnen.« (Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 127; vgl. ebd., 139 ff. Im Original hervorgehoben.) 15 Zu dieser Einschätzung vgl. auch: Nasu, H., Alfred Schütz und die hermeneutische Wissenssoziologie, 79 ff. 16 Vgl. Schütz, A., Wiener Exzerpte.  – Bei den »Wiener Exzerpten« handelt es sich um Skizzen und Notizen, die Schütz etwa im Jahr 1929, also noch in Wien, abgefasst hat. 17 Im Deutschen erstmals erschienen 2004 im Rahmen der Alfred Schütz Werkausgabe (ASW), vgl. ASW VI.1, 333–337. Auch im Englischen erschien der Text erst 1996 in den ­Collected Papers IV. 18 Zum Editorischen vgl. den Bericht der Herausgeberinnen: ASW VI.1, 57–64. Zu Re­ levanz und Typus im Zusammenhang mit sprachpathologischen Fragestellungen und der Auseinandersetzung mit Kurt Goldstein vgl. Schütz, A., Sprache, Sprachpathologie und Bewusstseinsstrukturierung, 107 ff.

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gebunden, wie Handeln möglich ist und unter welchen Bedingungen sich Handeln vollzieht. Die Genese von Relevanzen, auch im vorprädikativen Bereich, ist Voraussetzung jeglicher Konturierungsvorgänge, also jeglicher Orientierungsleistung: Etwas muss Relevanz gewinnen, damit es erfasst werden, identifiziert werden, gehandhabt werden kann. Die Phänomene, die an Relevanz gewinnen, können dabei ganz unterschiedlicher Natur sein: vom bloßen ›Ding‹, etwa einem Stuhl, über Planung und Durchführung eines Einkaufs bis hin zu komplexen wissenschaftlichen Tätigkeiten. So heißt es in den »Strukturen der Lebenswelt«: »Das Relevanzproblem ist vielleicht das wichtigste und zugleich schwierigste Problem, das es in der Beschreibung der Lebenswelt zu lösen gilt.«19 Schließlich ist das Problem des Sinnverstehens an die Frage gebunden, wie Sinn zualler­erst generiert wird, und das bedeutet: Das Relevanzproblem thematisiert die Frage der Auswahl dessen, was sinnhaft thematisch wird. Schütz schreibt in den »Wiener Exzerpten« zum Verhältnis von Relevanz und Sinn: »Offenbar Korrelativa: Nur zwischen Relevantem bestehen Sinnzusammenhänge; nur das im Sinnzusammenhang Stehende ist relevant.«20 Relevanz wird so zum Grundbegriff der Ordnung mit Blick auf den alltäglichen Erfahrungsraum wie den Wissens­vorrat. In einem ersten Kapitel wird es nun darum gehen, die unterschiedlichen Relevanzstrukturen, die Schütz kennt, kurz vorzustellen, um in einem zweiten Schritt den Prozess der Typisierung als grundlegendes Moment im Zusammenhang des Erfahrungsaufbaus zu thematisieren.

7.2.1 Die verschiedenen Strukturen der Relevanz Nach Schütz beruht der Aufbau aller subjektiven Relevanzsysteme auf einer menschlichen Grunderfahrung, der Erfahrung der eigenen Sterblichkeit: Der Mensch weiß, dass er sterben muss, und er hat Angst zu sterben. Schütz nennt diese Angst »Fundamentalangst«21. Der Antizipation des eigenen Todes und der mit ihr verbundenen Angst entspringt die Motivation, die Welt zu ›bewältigen‹, zu planen, Wirklichkeit zu gestalten. Die Fundamentalangst produziert so als Reaktion die Haltung der »Epoché der natürlichen Einstellung«22. Das bedeutet: Der phänomenologische Kunstgriff der Haltung der Epoché als Technik der Enthaltung eines Urteils über zeitlich-räumliches Dasein als wahrhaft Seiendes wird in Schütz’ Überlegungen quasi umgewendet. Die Epoché der natürlichen Einstellung klammert nicht den Glauben an die Realität des raumzeitlichen Daseins aus, sondern vielmehr den Zweifel an seiner Existenz: »Was er [der Mensch; KM]

19 Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 253. 20 Schütz, A., Wiener Exzerpte, 49. 21 Ders., Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, 204. 22 Ebd., 205.

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in Klammern setzt, ist der Zweifel daran, daß die Welt und ihre Gegenstände anders sein könnten, als sie ihm erscheinen.«23 Auf dieser Grundlage unterscheidet Schütz drei Relevanzstrukturen: die thematische Relevanz, die Auslegungs- bzw. Interpretationsrelevanz und die Motivationsrelevanz. Alle drei Relevanzstrukturen sind miteinander verflochten und müssen in ihrem Zusammenspiel genauer untersucht werden. Grundsätzlich geht Schütz von einem Bewusstseinsfeld aus, das in Thema, Feld und Horizont aufgegliedert ist, wobei der Bewusstseinsstrom bzw. die durée Erfahrungsprozesse in der (inneren) Zeit verankern. Schütz betont, dass es sich bei dem Phänomen des von Husserl so genannten »Blickstrahls«, also der Zuwendung des Bewusstseins zu etwas, um eine Tätigkeit nur bedingter Willkür handelt. Vielmehr erscheint der »Blickstrahl« als eine Funktion, welche in einem komplexen System von Sedimentierung und Rekognition, Typisierung und Horizontstruktur begründet ist. Anders formuliert: Die Frage der Relevanz ist vordringlich eine Frage der biographischen Erfahrung und ihrer (Re-) Interpretation. So unterscheidet Schütz für die Tätigkeit der Aufmerksamkeitszuwendung zwei Kausalzusammenhänge: zum einen den Konnex von Thema und Horizont eines Bewusstseinsfeldes in einem jeweiligen Moment, zum anderen die Verbindung des Ursprungs der strukturierenden Tätigkeit des Bewusstseins zur Herausbildung von Motiven.24 Ausgangspunkt zur Reflexion des letzten Punktes ist die Bestimmung eines Bewusstseinsfeldes (unter anderen möglichen) als »ausgezeichnete Wirklichkeit«25 (in Übernahme des Begriffs von William James, mit leichter Bedeutungsverschiebung auch paramount reality genannt) über den Grad der Bewusstseinsspannung bzw. der attention à la vie (Bergson).26 Dabei gilt es im Grunde als Selbstverständlichkeit, dass der Mensch als biophysische Einheit an verschiedenen Regionen der Wirklichkeit partizipiert – diese verstanden primär als unterschiedliche Bereiche im Bewusstsein mit gestufter Aufmerksamkeitszuwendung, dem entsprechend auch verstanden als unterschiedliche Sphären der Umwelt, welche den Menschen zum Handeln bzw. zur Handlung auffordern. Erhebt der Mensch ein Thema zur »ausgezeichneten Wirklichkeit«, sinken die verbleibenden potentiellen thematischen Felder in den Hintergrund ein und werden so zu horizontal umgebenden Bereichen. Jene werden mit der Hierarchisierung allerdings nicht in den Stand der Bedeutungslosigkeit abgedrängt, sondern bestimmen den Umgang mit dem vorherrschenden Thema mit (Schütz nennt dies die »›kontrapunktische Struktur‹ unserer Persönlichkeit«  – als Korrelat zur 23 Ebd. 24 Schütz, A., Das Problem der Relevanz, 71. 25 Vgl. Kap. II.5.3. 26 Schütz, A., ebd., 72 f. Zu den beiden Termini bei James und Bergson vgl. James, W., The Principles of Psychology, 283 ff; Bergson, H., L’Énergie spirituelle, 15 ff, 80 ff, 108 ff, 129 ff, 164 ff, bes. 47 f; vgl. auch: Matière et mémoire, 89–195, 224–233.

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»Hypothese der Ich-Spaltung«27). Schütz parallelisiert das Feld im Hintergrund mit der Theorie des Unbewussten der Psychoanalyse: »Was Freud das unbewusste Leben nennt, ist jedoch seinem Inhalt nach potentiell der Thematisierung fähig, und die analytische Technik besteht darin, die verborgenen Motive des neurotischen Verhaltens zuerst in das horizontartige Bewußtseinsfeld zu bringen und sie schließlich zu dessen thematischem Kern zu machen.«28

Die thematischen Relevanzen, lassen sich, ebenso wie die Interpretationsrelevanzen, als auferlegte und als wesentliche Relevanzen fassen. Eine thematische Relevanz besteht in dem Moment, in dem etwas Gegenstand des Bewusstseins wird. Auferlegt ist eine solche thematische Relevanz, wenn die Handlungssituation die Zuwendung zu einem Thema erfordert. Irritiert werden die lebensweltlichen Idealisierungen des ›Und-so-weiter‹ und des ›Ich-kann-immer-wieder‹29: Ein Thema verlangt Aufmerksamkeit, indem es sich in Gestalt eines prägnanten Unvertrauten Geltung verschafft. Alternativ erfolgt der auferlegte Themenwechsel durch einen ›Sprung‹ von einem geschlossenen Sinnbereich in einen anderen, etwa von der Traumwelt in die alltägliche Lebenswelt. Im Vergleich dazu ist es den wesentlichen thematischen Relevanzen (in den »Strukturen der Lebenswelt« ist von »motivierten« thematischen Relevanzen die Rede, also der Form der freiwilligen Zuwendung) eigen, dass die Aufmerksamkeit auf implizite Andeutungen im ausgezeichneten Thema gerichtet werden kann. Dies ergibt sich über die Annahme, dass jedes Thema einen prinzipiell unbegrenzten äußeren und inneren Horizont aufweist, so auch Husserl. Der äußere Horizont enthält alles, was einem Thema im Bewusstsein zugehört – Retentionen, Protentionen, passive Synthesen – der innere Horizont hingegen umfasst die potentiellen Auslegungen der konkreten Erfahrung und der ihr eigenen einzelnen Elemente.30 Die wesentlichen oder auch motivierten thematischen Relevanzen basieren also auf dem Akt des ›Im-Griff-Behaltens‹ und besitzen weniger den Charakter des ›Schocks‹. Die Handelnden wenden sich freiwillig einem neuen Thema zu, um eine Situation auszulegen. Die Unterscheidung zwischen auferlegt und motiviert kehrt mit Blick auf die Interpretationsrelevanzen insofern wieder, als die auferlegte Interpretations­ relevanz zu einem Abgleich zwischen einem Phänomen und sedimentierten Erfahrungen im Wissensvorrat nötigt. Durch Abgleich der aktuellen Erfahrung mit bereits Erfahrenem, zunächst durch die passive Synthesis der Rekognition – anhand der Prädikate Gleichheit, Ungleichheit, Identität, Ähnlichkeit – kommt 27 Schütz, A., ebd., 77 f. 28 Ebd., 79. Im Original hervorgehoben. Auch die psychoanalytische Technik der ›freien Assoziation‹ bestätigt für Schütz die Verflochtenheit der Relevanzstrukturen, die Beziehung zwischen Thema und Horizont resp. Feld. 29 Vgl. Kap. II.5.3. 30 Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 266.

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es zu einer vorprädikativen Auslegung, welche unter Umständen erst Relevanzen erzeugt. Erst wenn der Zugriff auf das Phänomen problematisch wird, entsteht eine Auslegungsrelevanz. Ein Problem mit Blick auf das zu Interpretierende entsteht, wenn zwischen Phänomen und sedimentierter Erfahrung keine rou­tinemäßige Deckung zustande kommt, wenn äußere Umstände bzw. die einem Element zukommenden Eigenschaften zu weiterer Auslegung motivieren. Hier kann also von motivierter Interpretationsrelevanz gesprochen werden. Der Interpretationsrelevanz kommt nach Schütz eine Doppelfunktion zu: Zum einen erweisen sich die sedimentierten Erfahrungen als auslegungsrelevant, welche den thematischen Gegenstand ›berühren‹, zum anderen besitzen zugleich einzelne Elemente des wahrgenommenen Gegenstandes Interpretationsrelevanz für die Erhellung des erfahrenen, aktuellen Weltausschnitts.31 Motivationsrelevanzen entstehen, wenn die Auslegung eines Themas zu einer handlungsrelevanten Entscheidung führt, die wiederum Bezug zu übergreifenden biographischen Mustern aufweist: Die Motivationsrelevanzen bauen sich über ›Um-zu‹-Zusammenhänge und ›Weil‹-Zusammenhänge32 auf. Motivationen im ›Um-zu‹-Zusammenhang zeigen die einem Handlungsentwurf folgende, argumentativ in die Zukunft gerichtete Motivationskette an. Es geht darum, etwas zur Erreichung eines bestimmten Ziels zu verwirklichen. Das größere Ganze können dabei Tages- wie Lebenspläne sein. Motivationsrelevanzen des ›Weil‹Typs resultieren aus biographischer Bedingtheit. Hier ist der Ort der Einstellungen: Biographisch bedingt, sind Einstellungen oft habitualisiert, erhalten keine Erinnerung an die Ursprungssituation, sind »schwer thematisierbar und dem reflektiven Bewusstsein nur schwer zugänglich.«33 Das bedeutet weder, dass jede Motivationsrelevanz des ›Weil‹-Typs habitualisiert bearbeitet wird, noch dass (zumindest teilweise) Transparenz vorreflexiver Elemente keine Möglichkeit ist. Zur Skizzierung der unterschiedlichen Relevanzstrukturen sollen diese wenigen Ausführungen genügen – das Thema der Relevanzen wird in der Beschäftigung mit dem Topos des Wissensvorrats wiederkehren.34

7.2.2 Typisierung Die Typisierung als Prozess ist im vorigen Kapitel bereits angesprochen worden. Dabei handelt es sich um den Vorgang, der eintritt, wenn zwei Phänomene miteinander abgeglichen werden müssen: Die Typisierung, als Bestimmung von Gleichheit oder Ähnlichkeit, ist also das Schlüsselkonzept des Aufbaus von

31 Vgl. Schütz, A., Das Problem der Relevanz, 99. 32 Vgl. Kap. II.6.2.1. 33 Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 300. 34 Vgl. Kap. II.8.

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Erfah­rung; sie generalisiert bis zu einem gewissen Grad die jeweiligen Erfahrungen durch typisierende Rekognition oder Identifikation zu Klassifizierungszwecken  – und damit zu Orientierungszwecken.35 Typisierungen durchziehen das menschliche Alltagsleben, angefangen von der Fähigkeit, ein Phänomen so und nicht anders zu nennen (z. B. Hund, Auto, Baum, aber auch: Liebe), bis hin zu pragmatischen Handlungsmustern und der Beobachtung von Experimenten. Die Klassifikation von Phänomenen steht dabei in engem Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wissensvorrat, sie ist an Konventionen orientiert. Es gibt also einen Pool vorkonstituierter Typen und Charakteristika, der von den Einzelnen in der Regel nicht weiter angefragt wird. Sehr viele Typen sind vertraut. Diese Vertrautheit erschließt sich über die vorangegangene Sedimentierung von Erfahrungen (gesellschaftlicher Wissensvorrat) wie über Sozialisation bzw. Aneignung von Elementen des gesellschaftlichen Wissensvorrats (subjektiver Wissensvorrat). Ein Typus des lebensweltlichen Wissensvorrats kann dabei gefasst werden als »[…] ein in lebensweltlichen Erfahrungen ›gestifteter‹ Sinnzusammenhang. Anders ausgedrückt, der Typ ist eine in vorangegangenen Erfahrungen sedimentierte, einheitliche Bestimmungsrelation.«36

Der Typus entsteht also in einer ganz ursprünglichen Situation, in der es gilt, eine problematische Situation durch eine Neuinterpretation einer Erfahrung zu lösen. Diese Lösung wird mit Hilfe des zuhandenen Wissensvorrats gefunden, also unter Mitwirkung einer ›alten‹ Bestimmungsrelation, welche sich für die aktuell zu bewältigende Situation als nicht ausreichend dargestellt hat. Typisierungen weisen die Eigenschaft auf, relativ offen zu sein, um – nach erfolgtem Abgleich – möglichst viele Phänomene subsumieren zu können. Es gibt also keine ›endgültigen‹ Typen im Wissensvorrat.37 Die Typen selbst können so immer weiter angereichert werden. Typisierungen wie ihre Gehalte, aber auch die Stufung von Relevanzbereichen sind kulturabhängig. Das bedeutet zugleich, dass die ­Stufung von Relevanzen der Aushandlung fähig wie bedürftig ist. Sie sind verwiesen auf Legitimation. Das bedeutet, dass es Typen nur als problemorientierte Typen gibt. Typen sind also eingespannt zwischen ihre Konstitutionssituation, also erste, primäre Erfahrungen, und die Situationen ihrer Aktualisierung. Jeder klassifizierte Typ ist also eine Anwendung vorhandener Typisierungen. Neue Typisierungen entstehen nur, wenn das Passungsverhältnis nicht mehr als hinreichend 35 Vgl. Hanke, M., Alfred Schütz, 96. – Luckmann merkt im Vorwort zu den »Strukturen der Lebenswelt« an, dass die Skzzierung der Problemzusammenhänge zur Typisierung sozialer Realität wie zur Sozialisation von Typen breiter ausgefallen ist als es die ursprünglichen Ausführungen Schütz’ vorsahen. (Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th, ebd., 20.) 36 Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 314. 37 Vgl. ebd., 316.

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empfunden wird – aber auch diese neue Bestimmung steht immer in einem Abhängigkeitsverhältnis zu bereits bestehenden Bestimmungsmöglichkeiten. Konventionalisiert verläuft sehr häufig die Handhabung von Worten als Namen für etwas; der Wortgebrauch verläuft im Alltag meist vorreflexiv; nicht jeder muss sich fragen, welche Charakteristika dem mit einem Wort bezeichneten Prototypen zukommen, welche graduellen Abweichungen beim aktuellen Phänomen vorliegen. Die meisten Phänomene in der Alltagswelt können schnell, wenn auch oberflächlich, identifiziert werden, Hunde wie Messer, Schreiben wie Schokoladeneis. Der Fähigkeit zur Identifizierung muss eine Sozialisation in den gesellschaftlichen Wissensvorrat hinein voraus gehen.38 Ein wesentliches Vehikel für Typisierungen ist also die Sprache, da sie als gesellschaftlich objektiviertes Bedeutungssystem fungiert. Insofern sind Typisierungen immer schon objektiviert, so sie sprachlich sind. Sprache kann in diesem Sinne als »Sedimentierung typischer Erfahrungsschemata, die in einer Gesellschaft typisch relevant sind«39 aufgefasst werden.40 Entscheidend ist, dass Interpretationen von Phänomenen mit Blick auf Routinehandeln wie mit Blick auf (subjektive, wie auch immer kollektiv ver­mittelte) Planhierarchien von Bedeutung sind. Das bedeutet: Ohne Typisierungen ist alltagspraktisches Handeln undenkbar, ohne Typisierungen sind aber auch Entwürfe schwierig denkbar. Der Übernahme gesellschaftlich vorgegebener Typisierungen folgen Situationen subjektiver Anwendung und Überprüfung. Die Verifizierung von Typisierungen ist dabei eng mit kollektiven wie individuellen Relevanzstrukturen verflochten. Wie eng nun das Problem der Relevanz an das des Handelns gebunden ist, wird noch zu betrachten sein.

7.3 Handeln in der alltäglichen Lebenswelt Die Gefahr ist groß, das Thema des Handelns, seiner Planung und seines Vollzugs unterkomplex zu beschreiben. Vor dem Hintergrund des Wissens um Relevanz und Relevanzgenese soll hier nur kurz exemplifiziert werden, inwiefern Handeln in den Zusammenhang der lebensweltlichen Sinnkonstitution verflochten ist: einerseits mit Blick auf die individuelle Sinnkonstitution – wie entsteht Handlungsrelevanz und worauf gründet sie? – andererseits mit Blick auf die Genese intersubjektiven Sinns.

38 Vgl. dazu ausführlicher Kap. II.8.1. 39 Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 319. 40 Auf das Thema ›Sprache‹ wird unter dem Aspekt der Konventionalisierung des Fremdverstehens Kap. II.8.2. weiter eingegangen werden.

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7.3.1 Die Sinnbezogenheit von Erlebnis, Erfahrung und Handlung Die Notwendigkeit zu handeln bestimmt das grundsätzliche Verhältnis des Menschen zur Lebenswelt des Alltags. Der Mensch muss sich in ihr bewegen, sie sich aneignen, das heißt: mit ihr umgehen können. Nicht-Handeln ist letztlich keine Möglichkeit, da allein die Vorgegebenheit Mensch und Umwelt positiv, das heißt faktisch, ins Verhältnis setzt. Vor diesem Horizont erscheint auch das NichtTun, das Unterlassen, als Handeln. Menschliches Handeln und Lebenswelt stehen also in einer – aus menschlicher Sicht – unauflösbaren und reziproken Relation zueinander. Schütz/Luckmann unterscheiden Erlebnis, Erfahrung und Handlung: Erlebnisse konstituieren sich in Erlebnisabläufen. Ihnen sind neben dem Kern der aktuellen Erlebnisphase  – die Struktur eines Phänomens differenzieren Schütz/Luckmann mit Aron Gurwitsch in thematischen Kern, thematisches Feld und offenen Horizont – zugleich appräsentierte Bestandteile eigen. Die Deskription der Schichtenstruktur im Rahmen der passiven Synthesis beschreibt dies en detail: Bevor ein Phänomen ins Bewusstsein tritt, ereignen sich bereits zahlreiche schematische Abgleiche. Diese Abgleiche, welche sich in passiven Synthesen vollziehen, ermöglichen, dass Gegenstände, Eigenschaften und Ereignisse in Erlebnisabläufen der natürlichen Einstellung schlicht auftreten können, ohne problematisiert werden zu müssen. Etwas wird erst durch die reflexive Zuwendung zu einer Erfahrung: »Erlebnisse heben sich im Bewußtseinsstrom ab; Erfahrungen sind durch Aufmerksamkeit ausgezeichnete Erlebnisse.«41 Da sich auch Erlebnisse aus dem Bewusstseinsstrom nur durch Aufmerksamkeitszuwendung und Eindringen eines Wahrnehmungsinteresses konstituieren, ist insofern der Unterschied zwischen Erlebnis und Erfahrung am Grad der Aufmerksamkeitszuwendung festzumachen sowie an der Reflexion als nachträglicher Bewusstseinsleistung. So führt Schütz in »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt« aus, dass etwas als ›Erlebnis‹ bezeichnet werden kann, sofern es als Phänomen der inneren Dauer, der durée, wird und entwird, quasi als Teil eines ›Erlebnisstroms‹, ohne besondere Bewusstseinsspannung. Allerdings kann auch ein solches als Erlebnis bezeichnet werden, welches unter dem Eindruck der attention à la vie als umgrenztes Phänomen mit raumzeitlicher Qualität fassbar wird – und welches als ein solches Phänomen Reflexion ermöglicht bzw. einfordert. Das ›unterschiedene‹ Erlebnis ist Gegenstand der Zuwendung des Ichs: Dem Erlebnis kommt Aufmerksamkeitszuwendung zu, so dass die Erfahrung als reflektiertes Erlebnis erscheinen kann.42 Die Reflexion als erhöhte Aufmerksamkeitszuwendung wiederum setzt das zu Reflektierende in Deutungs- und Verweiszusammenhänge: 41 Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 449. 42 Noch einmal zitiert: »Das Ich hat in jedem Augenblick seiner Dauer Bewußtsein von seinen Leibzuständen, seinen Empfindungen, seinen Wahrnehmungen, seinen stellungneh-

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»Ein solcher Zusammenhang ist ein Sinnzusammenhang; Sinn ist eine im Bewusstsein gestiftete Bezugsgröße, nicht eine besondere Erfahrung oder eine der Erfahrung selbst zukommende Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beziehung zwischen einer Erfahrung und etwas anderem. […] Das andere kann jedoch auch etwas Verwickelteres als eine einzelne Erfahrung sein: ein Erfahrungsschema, eine höherstufige Typisierung, eine Problemlösung oder Handlungsrechtfertigung.«43

Dabei ist die Herstellung von Deutungs- und Verweiszusammenhängen wiederum abhängig von vorhandenen Relevanzsystemen und zur Verfügung stehendem Wissensvorrat. Handeln kann nun, als Drittes neben Erlebnis und Erfahrung, als prospektiver Umgang mit Objekten der Aufmerksamkeitszuwendung und des Wahrnehmungsinteresses beschrieben werden. Der Gesamtzusammenhang, in den Handeln eingebettet wird, ist der Entwurf: Handeln ist motiviert durch die Vorstellung, modo futuri exacti, ein entworfenes Ziel zu erreichen (diese Zielformulierung kann sich auf ganz unterschiedlichen Ebenen bewegen, vom Schuheputzen bis hin zur Kandidatur zum Bundespräsidenten). Zu unterscheiden ist zwischen Handeln »in seinem Vollziehen und Erzeugen von Handlungen (­actio) und der bereits fertig konstituierten Handlung als durch Handeln Erzeugtem (actum)«44. Insofern ist Handeln die Verwirklichung des Entwurfs der Handlung. Zugleich plausibilisiert die entworfene Handlung den Sinn des Handelns. Dem Handeln kommt intentional (subjektiver) Sinn zu, während erst über eine abgeschlossene Handlung gesagt werden kann, dass sie diesen oder jenen (objektiven) Sinn gehabt hat. Wie kann Handeln nun näherhin als soziale Interaktion verstanden werden?

7.3.2 Handeln als soziale Interaktion Handeln ist grundlegend für die Konstitution der alltäglichen Lebenswelt, für ihre jeweilige Bestehensform wie für Transformationsprozesse. In der natürlichen Einstellung fällt es schwer, Situationen auszumachen, in denen ein Mensch menden Akten und den Zuständen seines Gemütes. Alle diese Komponenten konstituieren das So des jeweiligen Jetzt, in dem das Ich lebt. Wenn ich von einem dieser Erlebnisse aussage, daß es sinnhaft sei, so setzt dies voraus, daß ich es aus der Fülle der mit ihm zugleich seienden, ihm vorausgegangenen und ihm nachfolgenden schlicht erlebten Erlebnisse ›heraushebe‹, indem ich mich ihm ›zuwende‹. Wir wollen ein so herausgehobenes Erlebnis ein ›wohlumgrenztes Erlebnis‹ nennen und von ihm aussagen, daß wir mit ihm einen ›Sinn verbinden‹. Damit haben wir den ersten und ursprünglichsten Begriff des Sinnes überhaupt gewonnen.« (Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 127. Im Original hervorgehoben.) – Vgl. weiterhin zur Unterscheidung der Erlebnisse: ebd., 140 ff. 43 Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 449 f. Im Original hervorgehoben. 44 Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 124. Im Original hervorgehoben.

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nicht handelt  – selbst auf dem Gebiet des Träumens, als von der Lebenswelt des Alltags zu unterscheidendem eigenständigen Realitätsbereich geschlossener Sinnstruktur, kann, mit Einschränkung, von Handeln gesprochen werden.45 Handeln stellt eine Bewusstseinsleistung dar. Materiales Handeln hat unmittelbar interaktionalen Charakter46: Greift ein Mensch durch sein Wirken in seine Umwelt ein, ist dies für andere Menschen sichtbar und somit interpretierbar, nicht zuletzt, weil die Umwelt in der natürlichen Einstellung immer sozial ist (es sei denn, es handelt sich um eine Art Einsiedlertum). Soziales Handeln ist also, mit Max Weber gesprochen, das Bezogensein des Handelns auf das (verstehbare) Verhalten Meines Gegenübers, also »Handeln […], welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer be­ zogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.«47 Im Unterschied zum Wirken bestimmen Schütz/Luckmann Denken als »Han­ deln […], das in seinem Vollzug und vom Entwurf des Handelns her nicht notwendig in die Umwelt eingreift.«48 Handeln kann also unter einer Innen- wie einer Außenperspektive betrachtet werden: Ihm kann subjektiv und/oder objektiv Sinn zugeschrieben werden. Handelt es sich nicht um ein schlichtes ReizReaktions-Schema (auch hier ist zu bedenken, dass das quasi-automatische, panische Ausweichen etwa vor einem Hund infolge einer zurückliegenden traumatisierenden Begebenheit von Außenstehenden immer noch als Verhalten im Sinne eines Handelns interpretiert werden kann), lässt sich, zumindest in groben Zügen, eine Chronologie des Handelns und eine klare Abfolge in den Zu­ ständen seines Manifestwerdens ausmachen.49 Zunächst gilt es, für die Möglichkeit der Interpretation eines Phänomens noch einmal die Unterscheidung zwischen Handeln und Handlung hervorzuheben: In der verräumlichten und quantifizierbaren Zeit erscheint die Handlung als ein Abgeschlossenes, welches die Aktion des Handelns einschließt. Sinnhaftigkeit erschließt sich erst im rückschauenden Blick – oder aber, in Form eines Entwurfs, antizipierend, von woher auch das Handeln als auf Zukünftiges gerichtete ›spontane Aktivität‹ seinen Sinn erhält. Diese Integration in das Sinngebende des Entworfenseins der Handlung (in die Intentionalität der Reflexion) unterscheidet Handeln vom Verhalten. Schütz definiert Verhalten zunächst ganz allgemein als »durch spontane Aktivität sinngebendes Bewußtseinserlebnis«50 und grenzt von diesem eben die durch den Entwurf ermöglichte Selbstgegebenheit des Handelns ab. Gleichzeitig erscheint Verhalten immer auch als Träger des Handelns, und das als

45 Vgl. dazu Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 67. 46 Vgl. Srubar, I., Kosmion, 127 f. 47 Weber, M., Soziologische Grundbegriffe, 19. Im Original hervorgehoben. 48 Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 459. 49 Vgl. Kap. II.7.3.3. 50 Schütz, A., ebd., 151.

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»[…] körperliches Geschehen in Raum und Zeit, das anderen Menschen, die dieses Geschehen beobachten, Aufschluß über Tun und Lassen geben kann, wie es auch dem Handelnden selbst über den Verlauf des Handelns Auskunft gibt.«51

Unabhängig davon, ob nun in einer Situation Verhalten oder vorentworfenes Handeln auftritt, die Interpretation durch die Außerperspektive bzw. die Zuschreibung eines ›objektiven Sinns‹ findet immer nachfolgend statt. Auch hier zeigt sich hinsichtlich der Möglichkeit der abschließenden Deutung eines Phänomens die Hoheit der (abgeschlossenen) Handlung vor der einzelnen Handlung in actu. Allerdings ist der ›objektive Sinn‹ dem ›subjektiven Sinn‹ gegenüber logisch temporär-nachrangig; zudem ist er attributiv. Medium der Kommunikation, interaktional Voraussetzung für die Erhebung des ›objektiven‹ Sinns ist die Leiblichkeit, die Materialisierung des Handelns.52 Überschreitet ein Mensch die Phase des Denkens zur Phase des Wirkens, so liefert er seiner sozialen Umwelt durch den Eingriff in eben diese zunächst Indizien zur Interpretation. Diese Indizien existieren für Verhalten allgemein, sei es Handeln oder Erleben (denn auch auf Letzteres können, mit aller Vorsicht, Rückschlüsse gezogen werden: Wenn jemand in einer bestimmten so­zialen Situation lächelt, kann man zunächst annehmen, dass diese Person eine freundliche Atmosphäre verbreiten möchte). Zu bedenken ist, dass es sich beim Verhaltensrepertoire des Einzelnen wie den Interpretationsleistungen der Anderen immer um Variationen von Konventionsleistungen und Typisierungen handelt, die im gesellschaftlichen Wissensvorrat verankert sind. Je höher der Grad der Ab­weichung ist, desto schwerer fällt die Interpretation. Dies bedeutet weiterhin, dass in der Regel eine bestimmte gesellschaftliche Erwartung an die Kommunikationsleistungen sozialer Interaktionen existieren: Sie sollen funktionieren. Dem entsprechend ist es möglich, intentional, und zwar sozial intentional zu agieren: Das eigene Verhalten kann in Erwartung eines bestimmten Resultats, also die Deutungsleistung der Anderen bereits antizipierend, gesteuert werden.53 Handeln ist, sofern es die Phase vom Denken zum Wirken überschreitet, (in der Regel) soziale Interaktion. In diesem Zusammenhang bestimmen Schütz/Luckmann ›Arbeit‹, als Variante des Wirkens, als Vollzug einer entworfenen Veränderung der Umwelt.54 Die Bestimmung einer Handlung als ›Arbeit‹ erlaubt die Frage der Zurechnungsfähigkeit – eine konventionalisierte Grundregel lautet: Wer handelt, trägt die Verantwortung dafür. Anders ausgedrückt: Wer 51 Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 454. 52 Vgl. ebd., 460. 53 Miteinbezogen in Planung und Interpretation werden muss in jedem Fall ein bestimmter Grad an Falibilität, denn Kommunikation und Interpretation sind nie erschöpfend in­ einander aufgehoben (dies erschließt sich schon in der unendlichen Fülle der potenziell kommunizierbaren Bewusstseinsinhalte des Einzelnen samt ihrer biographischen Signatur). 54 Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 464.

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Die sinnhafte Konstitution der alltäglichen Lebenswelt

mit einem vorentworfenen Handeln zu einem bestimmten Zweck in die Umwelt eingreift, muss damit rechnen, auf dieses sein Handeln hin befragt zu werden. Der Überschritt vom Entwurf einer Handlung zum Resultat kann dabei prototypisch beschrieben werden.

7.3.3 Handeln – vom Entwurf zum Resultat Handeln besitzt eine Zeitstruktur, da es – Denken wie Wirken – ein Geschehen in der verräumlichten und quantifizierbaren Zeit darstellt. Es folgt als Wirken einem Entwurf, wenngleich die vollzogene Handlung, und damit auch die einzelnen Schritte des Handelns, mit dem Entwurf nicht notwendig identisch sein muss.55 Eine relativ hohe Übereinstimmung zwischen Entwurf und Vollzug ergibt sich für Situationen sozialer Interaktion, die sich an typisierten Mustern von Motiven, Verläufen und Zielen orientieren. Dies trifft vor allem auf Handlungen alltäglicher Pragmatik zu, und dies umso eher, je bekannter einzelne Handlungskonstitutiva bereits dem Handelnden bekannt sind: Wenn jemand Brot kaufen möchte, dabei Weg, Ort und Verkäufer bekannt sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass schon der Entwurf dieser Handlung die wesentlichen Züge der vollzogenen Handlung besitzt. Aber auch hier weist die Vorstellung einer Handlung notwendigerweise ›Leerstellen‹ in ihrer Realitätsfähigkeit auf, da die Vollendung der Handlung im sozialen Raum einerseits immer von Mitmenschen und ihrer Beteiligung abhängig ist, und da sie andererseits Änderungen, die sich etwa in der Zeit der Abwesenheit des handelnden Subjekts an einem Ort ergeben haben, verarbeiten muss.56 Vom Entwurf ist die Nur-Phantasie zu unterscheiden, welche keinen Anspruch erhebt, sich im Raum des Realen und Möglichen verwirklichen zu lassen. Das Entwerfen geschieht jedoch modo potentiali als Phantasie im Raum des möglich zu Verwirklichenden.57 Handlungen werden modo futuri exacti entworfen.58 Das heißt, dass etwas, die Zukunft antizipierend, konstelliert wird, so dass auf die Vollendung der Antizipation hin gearbeitet werden kann. Dabei gehört das Handeln als Wirken zwei Zeiten an: Zum einen ist das Handeln des Subjekts (auch als Denken) immer eingebettet in den inneren Dauerablauf, eingebettet in Erwartungen und Erinnerungen von Zukunft und Vergangenheit. Das Subjekt erlebt sein ­Wirken

55 Zu den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten von Pragma und Vorsatz bzw. Entwurf und ihren Resultaten mit Blick auf Wirken in Raum und Zeit vgl.: Schütz, A., Das Problem der Personalität, 134. 56 Vgl. vertiefend zum Thema des Entwurfs und der Protention: Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 152 ff. 57 Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 479 f. 58 Ebd., 465.

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Relevanz und Sinnkonstitution

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quasi in »Selbstgegebenheit«59. Zum anderen ist Handeln als leibliche Aktion immer auch Teil der Weltzeit, der verräumlichten und quantifizierbaren Zeit. Der Übergang von durée hinein in objektive bzw. kosmische Zeit ereignet sich durch die Körperbewegungen eines Menschen. Die Erfahrung der Gleich­zeitigkeit hinsichtlich eines wirkenden Handelns im inneren Dauerablauf und der ­äußeren Zeit nennt Schütz »lebendige Gegenwart«60: Jene entspringt im Zusammenlauf von kosmischer Zeit und durée. Beide Zeiten, die kosmische Zeit wie die innere Zeit, sind irreversibel. Dies ist ein grundlegendes Element der Lebenswelt des Menschen: Geschehenes lässt sich nicht ungeschehen machen, oder anders ausgedrückt: »Was geschehen ist, ist geschehen.«61 Durchführbar erscheint ein Entwurf also, »[…] wenn der Handelnde im Modus der hypothetischen (wenn … dann …) Relevanz annimmt, dass er das, was er gerade phantasiert, in die Wirklichkeit umsetzen könnte, wenn er nur eben wollte.«62

Dabei hängt die Grenze des Durchführbaren wesentlich von biographischen Voraussetzungen ab, auch mit Blick auf das eigene Lebensalter und die Erfahrung des Alterns bzw. Älterwerdens: Die Grenzen des Möglichen ergeben sich aus emotionalen, kognitiven und leiblichen Kapazitäten, welche es gilt, zum Zwecke der Durchführung eines Entwurfs abzuschätzen. Je nach Art und Reichweite des Entwurfs ist diese Abschätzung einfacher und unproblematischer, sofern es möglich ist, zu einem überwiegenden Teil auf Routinewissen (also Fer 59 Ebd., 469. 60 Schütz, A., Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, 191. In diesem Schnittpunkt manifes­tiert sich zudem die Standardzeit, die Schütz auch »bürgerliche Zeit« nennt: Beide Zeitperspektiven werden als eine wahrgenommen, die allen Menschen einer Gesellschaft im Zustand des hellwachen Bewusstseins gemein ist. Die Standardzeit, so könnte man auch sagen, ›taktet‹ den Einzelnen in den Zeitablauf seiner Umwelt ein und ermöglicht intersubjektive Planungen. (Vgl. Schütz, A., Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, 197 f.) 61 Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 470. – Dies mag banal anmuten, doch ist die Un­umkehrbarkeit der Zeit gerade in Beratungszusammenhängen ein Faktum, welches immer wieder thematisiert und problematisiert wird, etwa im Zusammenhang der Bearbeitung von Schuldzusammenhängen. Schütz schreibt zu diesem Problemzusammenhang an anderer Stelle: »Hierin [in der Unwiderrufbarkeit wirkenden Handelns; KM] liegt der Grund, warum ich – vom moralischen und rechtlichen Standpunkt aus gesehen – zwar für meine Taten, nicht aber für meine Gedanken verantwortlich bin. Darin ist ebenso begründet, warum ich die Freiheit der Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten nur hinsichtlich meines geistig entworfenen Wirkens habe, bevor dieses Wirken in der Außenwelt vollzogen worden ist oder zumindest während es in der lebendigen Gegenwart ausgeführt wird und somit noch offen für Modifikationen ist. Mit Bezug auf die Vergangenheit gibt es keine Möglichkeit zu wählen. Habe ich mein Werk ganz oder zumindest teilweise verwirklicht, dann habe ich ein für allemal gewählt, was getan worden ist, und muss nun die Konsequenzen tragen. Ich kann nicht wählen, was ich wünsche getan zu haben.« (Ebd. 193.) 62 Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 481.

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tigkeiten, Gebrauchswissen, Rezeptwissen)63 zurück zu greifen. Dies trifft zu einem wesentlichen Teil auf die Bewältigung alltäglicher Situationen zu. Auch auf dieser Ebene des pragmatischen Alltagshandelns geht es um sinnvolle Handlungen, welche erst durch biographisches Lernen aus dem Zustand der problematischen Möglichkeit in scheinbar problemloses Handeln mit scheinbar geringer subjektiver Aufmerksamkeitszuwendung übergehen konnten. Dass auch das routinemäßige Handeln seinen Ursprung in ehedem problematischem Handeln hat, zeigt sich dann, wenn die so genannte »ceteris-paribus-Klausel«64 nicht mehr angewandt werden kann, das heißt, wenn Routinehandeln aus irgendeinem Grund (emotionale, kognitive, körperliche Einschränkung/Ungeübtheit) nicht mehr möglich ist.65 Handeln ist somit immer Versuch und Methode, (problematische) Situationen zu bewältigen. Der Schritt vom Entwurf zum Resultat ist mehrstufig. Dabei können verschiedene Entwürfe immer auch miteinander konkurrieren, so dass erst der Entschluss als Wahl und Entscheidung zu einer Handlung führt. Der Entschluss ist ein Willensakt. Steht vor jedem Entwurf und jeder Handlung grundsätzlich der Zweifel, so kann die Umsetzung des Entwurfs drei Wege nehmen: Verwirklichung, Unterbrechung und Abbruch. Welcher Weg auch gewählt wird, hinsichtlich der ›Beheimatung‹ des Entwurfs in der Zeit ist aus der Antizipation des Zukünftigen Gegenwärtiges bzw. bereits Vergangenes geworden.66 Unabhängig davon, welchen Verlauf die Umsetzung des Entwurfs nimmt, das Handeln des Menschen ist gesellschaftliches Handeln: Der Mensch existiert als vergesellschafteter, das heißt: Einerseits wirkt er auf sein soziales Umfeld ein (mit der Handlung des reinen Denkens als Sonderfall), andererseits ist das mensch­ liche Verhalten zu einem großen Teil typisiert und hinsichtlich seiner Motiviertheit kulturell vorgeprägt. In diesem Zusammenhang sei erneut auf die Rolle der sprachlichen Verfasstheit menschlichen Lebens verwiesen. Sprache stellt in allen Kulturen mit die wichtigste gesellschaftliche Objektivation dar: In der Sprache objektiviert sich gesellschaftlicher Sinn als kommunikativer Sinn. In das Bedeutungsgewebe der Sprache ist immer auch ein ursprünglicher Sinn (auch ein ursprünglich subjektiver Sinn) von Erfahrungen eingeschlossen, wobei die Erfahrungen vermittels typisierter Wortbedeutungen, Wortverbindungen und Wortfeldern Wahr­ nehmung und Handlung strukturieren: »Neben ausdrücklichen Bewertungen haben jedoch alle Sprachen auch Bewertungs­ dimensionen, welche in die Bedeutungsfelder fest eingeschlossen sind. Auch ohne ausdrückliche (semantische oder syntaktische) Bewertung im Aussagenzusammenhang

63 Zur Differenzierung vgl. ebd., 156 ff. 64 Ebd., 479. 65 Vgl. ebd., 485. 66 Vgl. ebd., 517.

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Relevanz und Sinnkonstitution

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tragen daher einzelne Wörter aus solchen Bedeutungsfeldern feststehende Bewertungshöfe mit. Diese aktualisieren sich sowohl innersprachlich-subjektiv als auch intersubjektiv in kommunikativen Vorgängen verschiedenster Art.  […] Eine ­Sprache leistet also, durch die Objektivierung von Subjektivem und durch die Vergegenwärtigung von Nichtvorhandenem und Zukünftigem, einen allgemeinen und, durch die vorgefertigten Gewichtungen, einen besonderen Beitrag zur Wahl zwischen Entwürfen.«67

In Retrospektive auf eine vollzogene Handlung bzw. in der Analyse von Wahlund Handlungsmöglichkeiten lassen sich immer Planhierarchien und Interessenzusammenhänge erhellen. Auch, wenn diese nicht präsent sind, sind sie doch immer leitend. Insofern kann es bei dem Blick auf Planhierarchien und Interessenzusammenhänge und deren jeweilige Über- oder Unterordnungsverhältnisse zum einen prospektiv um die Formulierung von Zielvorstellungen gehen, zum anderen rückschauend um Einsicht in unter Umständen bis dahin verborgene Beweggründe eines Handelns bzw. einer Handlung. Idealerweise ginge Wählen und Handeln also ein Reflexionsprozess voraus, wie sich ein Entwurf in eine Planhierarchie oder einen Interessenzusammenhang einfügt, und wie sich im Blick auf die einzelnen Schritte wie das erwünschte Resultat das Kriterium der Durchführbarkeit bestimmen lässt. Die Konstitution von Relevanzsystemen ist dabei stark subjektiv-biographischen – weil erfahrungsbezogenen – wie gesellschaftlich typisierten und standardisierten Kriterien unterworfen. Allein aufgrund des Einflusses lebensgeschichtlicher Faktoren auf die Genese sind Re­ levanzsysteme immer individuell und nicht austauschbar. Bisher hat sich die Skizze des Schütz’schen Ansatzes im Wesentlichen auf das konkrete Problem der Intersubjektivität, des Fremdverstehens, wie auf die Re­f lexion der Frage der Relevanz und ihrer Genese bezogen. Geht man davon aus, dass Fremdverstehen für Ego je eher zur Möglichkeit wird, desto mehr die Relevanzgenese von Alter transparent wird, ist es wichtig, den Aspekt der Inter­dependenz zwischen Gesellschaft und subjektiver, auch intersubjektiver Sinnkonstitution mit einzubeziehen. Es stellt sich also die Frage, wie sich gesellschaftliches Wissen aufbaut, und wie dieses auf die Individuen zurückwirkt, und welche Rolle in diesem Zusammenhang die Sprache als Medium intersubjektiver Bedeutungskonstitution spielt.



67 Ebd., 510.

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8. Intersubjektivität und Institutionalisierung: Konventionalisierung des Fremdverstehens Jede Gesellschaft besitzt ein mehr oder minder differenziertes, kulturell geprägtes Korpus an Wissen. Jedem Menschen einer solchen Gesellschaft kommt grundsätzlich die Teilhabe an diesem gesellschaftlichen Wissen über Sozia­ lisation, aber auch über reziproke Prozesse der (Mit-) Gestaltung zu. Das gesellschaftliche Wissen bezeichnet nicht weniger als die gemeinschaftsbildenden und sich fortpflanzenden Konventionen einer sozialen Gemeinschaft im Umgang mit der Welt – und dies bedeutet, heruntergebrochen auf die Sphäre der Individuen: Wissen bezüglich der Gestaltungsmöglichkeit der eigenen Lebenswelt. Der Wissensvorrat einer Gesellschaft konstituiert sich intersubjektiv. Dabei spielt die Objektivierung subjektiven Wissens, etwa in Form von sprachlichen Zeichen, die intersubjektiv ausgehandelten und tradierten Übereinkünfte, was über das Lebensnotwendige, über die Wirklichkeit des Lebens in der Gesellschaft, gewusst werden muss, im stetigen Zusammenspiel von Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung eine tragende Rolle. Zu fragen wird also sein, wie sich alltagspraktisches Wissen aufbaut, und wie sich sein Erwerb beschreiben lässt. Den Ausführungen zu Zeichen und Symbolen im allgemeinen und der Sprache im besonderen schließt sich eine nähere Skizzierung des Prozesses von Externalisierung, Objektivation und Internalisierung an sowie die Frage, welche Rolle intermediären Institutionen im Zusammenhang der Partizipation von Individuen an der Aushandlung gesellschaftlicher Wirklichkeit zukommen kann.

8.1 Der Wissensvorrat und sein Erwerb Um den dialektischen Prozess der gesellschaftlichen Aushandlung von Wirklichkeit zu erfassen, sollen im Folgenden zunächst die Frage der Bedingungen des subjektiven Wissenserwerbs und der Aufbau dieses subjektiven Wissens in den Blick kommen. Daran schließt sich die Erörterung des Modells des gesellschaftlichen Wissensvorrats an sowie die Behandlung des kritischen Aspekts der sozialen Verteilung des Wissens.1

1 Die Ausführungen orientieren sich dabei v. a. an den »Strukturen der Lebenswelt«. Das entsprechende vierte Kapitel »Wissen und Gesellschaft« ist im Wesentlichen von Luckmann konzipiert und niedergeschrieben worden. So heißt es im Vorwort zur Entstehung der »Strukturen der Lebenswelt«: »Ich [Th. Luckmann; KM] bin der Grundstruktur des Schützschen Entwurfs gefolgt, allerdings mit zwei wesentlichen Abweichungen. Das dritte Kapitel über den subjektiven Wissensvorrat hat einen etwas anderen inneren Aufbau als das von Schütz entworfene; bedeutsamer ist, daß zwei relativ untergeordnete Abschnitte der ursprünglichen

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Intersubjektivität und Institutionalisierung

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8.1.1 Elemente des subjektiven Wissensvorrats Der Einzelne hat es unmittelbar mit den Strukturen des lebensweltlichen Wissensvorrats zu tun, wobei sich die Strukturen über Relation und Anschluss­ fähigkeit aufbauen. Sowohl genetisch als auch funktional und strukturell ist der lebensweltliche Wissensvorrat auf die Situation des erfahrenden Subjekts bezogen: »Die Struktur des lebensweltlichen Wissensvorrats besteht also aus relevanzbedingten Sinnzusammenhängen zwischen mehr oder minder vertrauten und mehr oder minder glaubwürdigen typischen Bestimmungen, die miteinander in mehr oder minder widerspruchslosen Beziehungen stehen.«2

Während der Wissensvorrat allgemein als – nicht abgeschlossenes – Korpus sedimentierter Erfahrung gelten kann, bezeichnet Wissenserwerb in gleicher Linie Sedimentierung aktueller Erfahrungen nach Typik bzw. Vertrautheit und Re­levanz. Anwendung und Erfassung eines Typs geschehen mehr oder minder auto­matisch: Sie vollziehen sich in sehr vielen Fällen im Rahmen der passiven Synthesis und vor dem Hintergrund vor allem des Gewohnheitswissens.3 Anders formuliert: Die Konturierung eines Typs ergibt sich aus den auf lebensweltlichen Erfahrungen basierenden gestifteten Sinnzusammenhängen.4 So erfolgt die Interpretation einer jeglichen Situation im Wesentlichen unter Bezugnahme auf die beiden Kategorien Typik und Relevanz, indem es zu einer Befragung bereits sedimentierter und klassifizierter Erfahrungen einerseits und der aktuellen Erfahrung andererseits hinsichtlich ihres Passungsverhältnisses  – und das be­ deutet auch: hinsichtlich ihres Vertrautheitsgrades – kommt. Bedingungen des Wissenserwerbs sind so Bedingungen der Situation und umgekehrt. Konzeption dieses Kapitels  – über die Typisierungen sozialer Realität und über die Sozia­ lisation von Typen  – ausführlicher dargestellt worden sind. Zusatzanalysen der Probleme, die in diesen Abschnitten entworfen wurden, zeigten bald die Notwendigkeit einer systematischen Behandlungsweise. Das Ergebnis ist ein völlig neues Kapitel: das gegenwärtige Kapitel über Wissen und Gesellschaft.« (Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 20 f.) Mit Blick auf die »Strukturen der Lebenswelt« existiert ein editorisches Problem. Gleichwohl macht es im Rahmen dieser Studie keinen Sinn, akribisch Quellenscheidung zu betreiben (verwiesen sei auf die deutsche 1975 und 1984 erschienene Ausgabe im Suhrkamp-Verlag so wie auf den noch ausstehenden Abdruck im Rahmen der Alfred Schütz Werkausgabe  – geplant als Bd. IX – samt editorischem Bericht). Da Thomas Luckmann, als Schüler Schütz’ und ›Nachfolgeautor‹, im Wesentlichen die Kompositionsskizze Schütz’ ausarbeitete und sehr bemüht ist, die Einheit des Schützschen Werkes durch die Jahre hindurch stark zu machen, ist es plausibel, die »Strukturen der Lebenswelt« als Produkt eines Autorenpaares zu lesen – und im Sinne des Schütz’schen Gesamtwerkes zu interpretieren. 2 Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 247. 3 Vgl. ebd., 207. 4 Vgl. ebd., 314.

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Die sinnhafte Konstitution der alltäglichen Lebenswelt

Sowohl der Wissensvorrat in seiner objektivierten Verfasstheit wie auch das subjektive Korrelat seiner Anverwandlung sind durch die Tatsache der räum­ lichen, zeitlichen und sozialen Konstitution strukturiert und begrenzt. Das Wissen um diese Konstitution samt ihrer Grenzen sind dem Wissensvorrat inhärent und, sofern es nicht weiter reflektiert wird, Teil der natürlichen Einstellung, also Grundmuster der alltäglichen Lebenswelt. Insofern sind die ›immer schon gewussten‹ Grundelemente der Wirklichkeitsinterpretation – räumliche, zeitliche und soziale Verfasstheit – vorprädikativ: Die Grenzen der räumlichen und zeitlichen Konstitution zeigen sich etwa darin, dass kein Mensch an zwei Orten zugleich sein kann. Es ist auch nicht nötig, dies in der natürlichen Einstellung weiter zu thematisieren, es wird von jedermann selbstverständlich hingenommen. Die subjektiven Korrelate zur »Transzendenz der Weltzeit«5 – biologische und soziale Zeit, innere Dauer – sind dem Prinzip des first things first unterworfen.6 Auch dieses Prinzip ist so im Wissensvorrat verankert, dass im Grunde niemand mehr wirklich darüber nachdenken muss. Aus dem Gesagten geht hervor, dass als Kriterien des Wissensvorrats benannt werden können: die Begrenztheit der Situation und die zeitliche, räumliche und soziale Gliederung der subjektiven Erfahrung. Beide Grundelemente gehören konstitutiv zu jedem Situationsund Erfahrungshorizont. Der Wissensvorrat unterliegt immer einer jeweils biographischen Artikulation, da Wissensvorrat und Wissenserwerb zu einem ganz erheblichen Teil durch die Erfahrung des notwendig individuellen Vollzugs der Interpretation von Welt (wie vorgeformt sie auch immer sein mag) geprägt sind. Grundsätzlich kann zwischen zwei Erfahrungstypen unterschieden werden: zum einen zwischen Erfahrungen, die als Einheiten mit fragloser Natur – also als Einheiten der natürlichen Einstellung – in den Wissensvorrat aufgenommen werden, zum anderen solche Erfahrungen, die in problematischen, das heißt interpretationsbedürftigen Zusammenhängen auftreten, und die zunächst eine Auslegung erfordern, bevor sie einer Sedimentierung unterliegen. Erfahrungsinterpretation und Wissenserwerb hängen also aufs Engste zusammen, denn »[d]er Fortgang des Wissenserwerbs ist […] mit dem Erfahrungsablauf identisch.«7 Schütz/Luckmann beschäftigen sich im Zuge der Strukturanalyse des Wissensvorrats darüber hinaus mit einer weiteren Größe des Wissens, dem ›Routinewissen‹, welches sie zwischen den Grundelementen des Wissensvorrats (vorhandene Elemente)  und seinen Teilinhalten (zuhandene Elemente)  ansiedeln. Mit Blick auf das so genannte Routinewissen werden Fertigkeiten, Gebrauchswissen und Rezeptwissen unterschieden.8 Das Wissen um die raum-zeitliche Verfasstheit des Körpers mit seinen sozialen Bezügen sowie das prinzipielle 5 Ebd., 150. 6 Wer zum Beispiel einen selbst gestrickten Pullover verschenken will (klare Um-zuMotivation), muss ihn erst stricken. 7 Ebd., 179. 8 Vgl. ebd., 156 ff.

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Wissen um sein gewohnheitsmäßiges Funktionieren gehen nahtlos in ein spezifischeres Wissen um das gewohnheitsmäßige Funktionieren des Körpers über, welches auf den zuvor genannten Wissenselementen aufliegt.9 Schütz/­Luckmann nennen diese gewohnheitsmäßigen Funktionseinheiten der Körperbewegung, welche auf den Grundelementen des gewohnheitsmäßigen Funktionierens des Körpers basieren, Fertigkeiten.10 Gebrauchswissen11 hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass es auch dem Gewohnheitswissen zugehört, jedoch nicht mehr das gewohnheitsmäßige Funktionieren des Körpers betrifft. Verwendet als ›Mittel zum Zweck‹, sind diese Tätigkeiten so oft in ihrer Tauglichkeit zur Erreichung des Ziels bestätigt worden, dass ein höchstmöglicher Vertrautheitsgrad erreicht wurde; auch die Idealisierung des ›Ich-kann-immer-wieder‹ wird mit dem Gebrauchswissen verknüpft.12 Schließlich wird von den vorangegangen zwei Formen des Gewohnheitswissens das Rezeptwissen13 unterschieden, welches zwar nicht mehr unmittelbar auf die Fertigkeiten zurückgeführt werden kann, jedoch standardisiert und automatisiert ist: Im Horizont einer Situation ist es implizit, ohne eine Thematisierung erfahren zu müssen, wie etwa das Aufnehmen von Spuren bei der Jagd. Das Gewohnheitswissen besitzt eine paradoxe Relevanzstruktur. Es ist notwendig stets zuhanden, verbleibt jedoch, so lange keine Störungen im Routinehandeln auftreten, im Bereich des Präreflexiven: »Es ist von größter Relevanz und dennoch von sozusagen untergeordneter Relevanz. Es ist ein entscheidendes Merkmal von Routine, daß sie ohne Aufmerksamkeitszuwendung, also ohne in Erfahrungskernen thematisch zu werden, ausgeführt werden kann. Routine ist ständig griffbereit, ohne in den eigentlichen, gesonderten Griff des Bewusstseins zu kommen. Gewohnheitswissen ist ständig, jedoch marginal relevant.«14 9 Die verschiedenen ›Wissenstypen‹ zu unterscheiden, ist nicht immer einfach bzw. unproblematisch: Beispielsweise unterscheidet in der natürlichen Einstellung niemand im selbstverständlichen Gebrauch der Vollzüge ›Atmen‹ und ›Gehen‹ – dies liegt daran, dass beides im Alltag gewohnheitsmäßig abläuft, sofern der Bewegungsapparat unbeschädigt und schmerzfrei funktioniert bzw. Ich keine Atembeschwerden habe. Allerdings muss Gehen selbst erst erlernt werden, obwohl aufgebaut auf Elementen kinästhetischer Natur, welche wiederum nicht erst erlernt werden mussten, wie z. B. das Atmen. Diese erlernten Funktionseinheiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie wissensmäßig eine ursprünglich problematische Situation auf Dauer bewältigten, auch wenn die Tätigkeit an sich zu einem späteren Zeitpunkt wieder problematisch wird, etwa durch Unfall oder Krankheit. 10 Vgl. ebd., 157. 11 Vgl. ebd., 157 f. 12 Schütz/Luckmann merken an, dass den Tätigkeiten des Gebrauchswissens im Grunde der Charakter von Handlungen nicht mehr zukommt, da sie fraglos geworden sind  – obwohl ihre Störanfälligkeit eine größere ist als die der Fertigkeiten. Als Beispiele nennen Schütz/Luckmann Holzhacken, Schreiben, Klavier spielen, Sprechen, Ofen heizen etc. (Vgl. ebd., 158.) 13 Vgl. ebd., 158 f. 14 Ebd., 160.

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Die sinnhafte Konstitution der alltäglichen Lebenswelt

Zu unterscheiden ist also zwischen den Grundelementen des Wissensvorrats, der Begrenztheit der Situation, der Struktur der subjektiven Erfahrung. Gemeinsam ist ihnen die Sonderstellung innerhalb der Strukturen des Wissensvorrats als stets präsente und zugleich präreflexive. Fertigkeiten und Gebrauchswissen gehören wesentlich zur Lebenswelt des Alltags. Sie changieren, je nach Problemlage, zwischen Präreflexivität und Reflexivität und bilden die Grundlage für alltägliche, pragmatische Handlungsvollzüge. Der subjektive Wissensvorrat ist immer biographisch geprägt. Gleichzeitig ist er nur beschreibbar in Relation zum gesellschaftlichen Wissensvorrat.

8.1.2 Der gesellschaftliche Wissensvorrat Der überwiegende Teil des subjektiven Wissensvorrats wird nicht unmittelbar und individuell erworben, etwa durch stetig aufeinander folgende Sedimentierung von Erfahrung, sondern erlernt15: Der Mensch wird in eine bestehende Gesellschaft, in eine »historische Sozialwelt«16 hineingeboren und hineinsozia­ lisiert. Die Wissenselemente im subjektiven Wissensvorrat sind sowohl sozial bedingt als auch sozial abgeleitet. Voraussetzung für die subjektive Interna­ lisierung des gesellschaftlichen Wissens ist die Objektivierung subjektiven Wissens.17 Denn obgleich die Objektivierungen in Sprache und Sozialstruktur als sozial-historisches Apriori dem Einzelnen vorgegeben sind, vollziehen sich doch zugleich immer auch Prozesse gesellschaftlicher Anverwandlung von neuem und verändertem Wissen, welches sich aus subjektiven Erfahrungen speist. Die »Strukturen der Lebenswelt« verstehen dabei unter Objektivierung nichts anderes als »die Verkörperung subjektiver Vorgänge in Vorgängen und Gegenständen der Lebenswelt des Alltags«18. Die Selektion von Elementen subjektiver Erfahrung zur ›Einverleibung‹ in den gesellschaftlichen Wissensvorrat erfolgt unter Rekurs auf die hypothetische Relevanz dieser Wissenselemente für andere Mitglieder der Gesellschaft. Dies heißt weiterhin, dass jede historische Gesellschaft

15 Die Ausführungen zum Thema des gesellschaftlichen Wissens beziehen sich im Wesentlichen auf die Niederschrift des vierten Kapitels in »Strukturen der Lebenswelt« »Wissen und Gesellschaft«, sowie ergänzend auf grundlegende Gedanken des Werks »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« von Thomas Luckmann und Peter L. Berger, welche sich bemühen, die Schütz’sche Soziologie mit der Wissenssoziologie zu verbinden, gleichsam stark in der Schütz’schen Tradition stehen. Schütz selbst beschränkt sich hinsichtlich dieses Aspekts vorwiegend auf den subjektiven Wissenserwerb und die Bedeutung der Intersubjektivität für das (subjektive) Wissen von der Lebenswelt. 16 Ebd., 331. 17 Zum Prozess von Externalisierung, Objektivation und Internalisierung vgl. Kap.  II. 8.3.1. 18 Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 358.

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in ihrem Wissensvorrat ein System beherbergt, welches die hypothetischen Relevanzen reguliert, die sich auf auftretende Probleme und bereits bestehende Problemlösungen beziehen: »Was sozial relevant ist, für wen es relevant und an wen es wie zu vermitteln ist, gehört zum Bestand ›sozialisierter‹ Interpretationsund Motivationsrelevanzen.«19 Objektivierungen subjektiven Wissens sind nun auf verschiedenen Stufen vorzufinden – im Wesentlichen sind zu unterscheiden: (a) fortlaufende Objektivierungen des subjektiven Wissenserwerbs, (b) Anzeichen, (c) Erzeugnisse als Handlungsresultate und (d) Zeichensysteme. Auf der ersten Stufe (a) handelt es sich nicht unmittelbar um Objektivierungen konkreter subjektiver Wissenselemente, sondern vielmehr um den Erwerb subjektiven Wissens in ganz basalen Handlungsvollzügen, welcher objektiviert wird (durch die Beobachtung eines anderen Menschen in einer vergleichbaren Situation können bestimmte Lösungsvorschläge für ein Problem ausgeschlossen werden, z. B. bei verschiedenen Versuchen, Feuer zu entfachen). In Anzeichen (b) verkörpern sich Resultate des Wissenserwerbs wie Fertigkeiten und Verhaltensmuster, Maximen, Sprichwörter etc. Diese Objektivierungen sind vor allem Bestandteil des sozialen ­Apriori: In eine Gesellschaft hineingeboren, übernehmen die Mitglieder sie meist fraglos als »praktische Rezepte für die Bewältigung alltäglicher Situationen«20 und erlernen sie eben nicht individuell immer wieder aufs Neue. Eine weitere Klasse von Objektivierungen findet sich in Erzeugnissen als Handlungsresultate (c): die »Strukturen der Lebenswelt« unterscheiden hier Merkzeichen, Werkzeuge und Kunstwerke.21 Merkzeichen entstehen nun, indem sie von Handelnden festgesetzt werden, um an etwas zu erinnern.22 Je unmittelbarer sich in dieser Manifestation der Zusammenhang zwischen Handlung und Handlungsresultat darstellt, umso eher kann ein Merkzeichen auch als Orientierungshilfe für andere in einer vergleichbaren Situation zur Verfügung stehen. Werkzeuge hingegen sind meistens schon vergesellschaftet, und ihre Handhabung ist routiniert – allerdings sind auch dieser Vergesellschaftung Situationen der lebensweltlichen ›Erfindung‹ vorausgegangen, in welcher ganz praktische Probleme zu bewältigen waren. Kunstwerke lassen sich letztlich nur unter der Kategorie ›Objektivierung von etwas für andere‹ in diese Objektivierungskette einreihen, da über diese pragmatische Bestimmung hinaus die Rede vom zweideutigen Zeichen hin zu einem dreigliedrigen Symbolverständnis aufgeweitet werden müsste. Kunstwerke, so die »Strukturen der Lebenswelt«, werden geschaffen, um anderen Menschen eine Form der ›Lösung‹ für Probleme anzubieten, welche aus der Sphäre 19 Ebd., 395. 20 Ebd., 365. 21 Vgl. ebd., 370. 22 Zum Beispiel die Brotkrumen, die im Grimm-Märchen »Hänsel und Gretel« Hänsel im Wald hinterlässt, um den Rückweg zu finden.

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der alltäglichen Wirklichkeit hinaus auf Außeralltägliches bzw. nicht im Alltag Aufgehendes verweisen.23 Während in allen bisher genannten Fällen der entscheidende Punkt für die Vermittlung subjektiven Wissens  – fortlaufende Objektivierungen des subjektiven Wissenserwerbs, Anzeichen und Erzeugnisse als Handlungsresultate – in der intersubjektiven Schnittmenge von Relevanz- und Erfahrungsstrukturen im Blick auf gesamtgesellschaftliche Probleme liegt, basieren Zeichensysteme (d) in der Regel auf einer historischen Vorgegebenheit. Dies besagt nichts anderes, als dass Zeichensysteme als Objektivierung subjektiver Erfahrung von den un­mittelbaren Erfahrungssituationen abgekoppelt sein und als anonymisierte Erfahrungen an andere weitergegeben werden können  – unter der Prämisse, dass die andere Person die Zeichen in ihren Verwendungszusammenhängen lesen kann. Zeichen sind historisch vorgegeben und konventionalisiert, zugleich sind sie darauf angewiesen, dass sie intersubjektiv und aktuell in ihrer Bedeutung bestimmt werden können. Die durchschnittliche Anonymität und Abstraktion von Zeichensystemen verweist auf den Bezugspunkt einer hypothetischen Relevanz  – das Wissen kann unabhängig von der momentanen subjektiv-biographischen Situation erlernt werden. Zeichensysteme haben quasi ihren ›objektiven Sinn‹.24 Als Zeichensystem par excellence gilt die Sprache, welche zugleich als Medium der Objektivierung wie als »Voraussetzung für die gesellschaft­liche Häufung des Wissens und für die Entwicklung ›höherer Wissensformen‹«25 fungiert.26 Konventionen des sprachlichen Zeichensystems ermöglichen  – bis zu einem gewissen Grad – Verständigung und damit Lernen.

8.1.3 Die soziale Verteilung des Wissens Mit der Frage nach der Genese von Wissen und den vorhandenen Grundelementen im subjektiven wie gesellschaftlichen Wissensvorrat ist die Frage der sozialen Verteilung des Wissens gegeben: Diese Frage problematisiert die Tatsache, 23 Vgl. ebd., 374.  – Diese Form der ›Lösung‹ ist sicherlich nicht ganz unproblematisch, da sicherlich viele Kunstwerke nicht die Intention haben, eine eindeutige Interpretation für ­Etwas anzubieten. Die Verweise bleiben oft absichtlich in Uneindeutigkeit, in die sich der interpretierende Betrachter als Person eintragen muss. Das Kunstwerk kann allenfalls selbst den Charakter eines ›Lösungsangebots‹ tragen, indem es eine Möglichkeit darstellt, auf material Alltägliches wie auf Transzendentes zu verweisen. Es hat selbst Klammerfunktion. 24 Vgl. ebd., 383. 25 Ebd., 386. 26 Auch dies gilt es, kritisch zu betrachten, da nicht erst seit de Saussure das Problem der Arbitrarität, d. h. der willkürlichen Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem, diskutiert wird. Dabei impliziert der Gedanke der Arbitrarität auch, dass die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem in unterschiedlichen Sprachgemeinschaften völlig unterschiedlich organisiert ist. Vgl. Quine, W.v.O., Word and Object.

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dass bestimmte Wissenselemente für einige Rollenträger und Rollenträgerinnen wichtiger sind als für andere – und dass die Distribution von Wissenselementen insofern faktisch über die Zuschreibung sozialer Rollen läuft. Auch dieser Umstand verdankt sich zum Großteil der Internalisierung eines Systems hypo­ thetischer Relevanzen im gesellschaftlichen Wissensvorrat.27 Die Rollenträger einer jeweiligen Institution handeln bestimmten Erwartungen entsprechend, die ihre soziale Rolle hervorrufen: »Wo immer sich Lösungen sozial-relevanter Probleme in routinemäßigen Handlungsformen niederschlagen, die ihrerseits mit einer institutionalisierten Rollenstruktur verbunden sind, wird typischerweise auch die Wissensvermittlung institutionalisiert und routinemäßig von bestimmten Rollenträgern übernommen.«28

Die gesellschaftliche Verteilung des Wissens bedeutet pragmatisch eine Ent­ lastung für den Einzelnen, denn eine sozial abgeleitete, bewährte und vermittelte Lösung für ein verbreitetes Problem muss nicht von jedem Einzelnen immer wieder neu gesucht werden. Erforderlich wird die soziale Verteilung des Wissens einerseits durch die Akkumulation differenzierten Wissens im Zuge der Arbeitsteilung und andererseits durch die fortschreitende Scheidung von Theorie und Praxis bzw. Lebenswelt – im Gegensatz zu allgemein relevanten Wissenselementen, welche, hochanonymisiert, jedermann zur Verfügung stehen.29 Die Struktur des gesellschaftlichen Wissensvorrats basiert auf zwei Voraussetzungen: zum einen auf Kommunikationsprozessen, welche aus dem Faktum der Sozialität der alltäglichen Lebenswelt resultieren, zum anderen auf Vor­gängen der institutionalisierten Wissensvermittlung bzw. auf historischen Prozessen der Wissensanhäufung. Dabei entspricht die Struktur des gesellschaftlichen Wissensvorrats der sozialen Verteilung des Wissens.30 Die »Strukturen der Lebenswelt« beschreiben die Unmöglichkeit, dass Wissen in einer Gesellschaft irgendwie gleichmäßig verteilt sein könnte, da allein die individuelle Biographie eines jeden Gesellschaftsmitglieds eine völlige Identität bezüglich des Gewussten unterminiert. Allerdings kann hier noch zwischen einfachen und komplexen Prozessen der Wissensverteilung unterschieden werden: Während die einfache Wissensverteilung prinzipiell allen Gesellschaftsmitgliedern zugänglich ist und über gesellschaftliche Relevanzstrukturen geregelt wird (z. B. über die Rollenzuschreibung Mann/Frau)31, vollzieht sich die komplexe Wissensverteilung über den Er 27 Ein unmittelbar einleuchtendes und zugleich nicht unproblematisches Beispiel dürfte die in Deutschland (noch) übliche frühe Separierung von Kindern in Schulzweige mit unterschiedlichem Bildungsniveau sein, welche zumeist entlang entsprechender Sozial- und Bildungsniveaus der Herkunftsfamilien läuft. 28 Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 397. 29 Vgl. ebd., 404 f. 30 Vgl. ebd., 411. 31 Vgl. ebd., 415.

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werb von Sonderwissen, welches sich notwendig über die Begrenzung der Einzelbiographien ergibt. Hauptmerkmale der komplexen Wissensverteilung sind also Ungleichmäßigkeit und Aufgliederung bzw. Spezialisierung des Wissens.32 Der gesellschaftliche Wissensvorrat ist für das einzelne Subjekt in seiner Gesamtheit also überkomplex und unübersichtlich.33 Was lässt sich nun zum ›Trägermedium‹ sozialen Sinns, der Sprache, sagen? Wie lassen sich Zeichen und Symbole im Zusammenhang intersubjektiver Bedeutungskonstitution verorten?

8.2 Zeichen, Symbol, Sprache: intersubjektive Bedeutungskonstitution Das Werk Alfred Schütz’ zeichnet sich über die Jahre hinweg durch die Beschäftigung mit einem grundlegenden Thema aus: der Existenz eines handlungs­f ähigen bzw. handelnden Ego, der Existenz des Alter und der zeichenvermittelten Interaktion beider in der intersubjektiv geteilten Lebenswelt. Schütz widmet sich der Frage, wie Sprache als Handlung gedacht werden kann.34 Dieses Interesse gestaltet sich hinsichtlich des Aspekts der kommunikativen Konstruktion der Lebenswelt in den Schriften bzw. Vorlesungen Schütz’ zu Zeichen, Sprache und 32 Vgl. ebd., 424. 33 Grundsätzlich ist der Versuch der »Strukturen der Lebenswelt«, gesellschaftliche Verhältnisse und Prozesse im Blick auf die Verteilung des Wissens schlicht zu beschreiben, zunächst begrüßenswert. Allerdings zeigt sich die Grenze der reinen Deskription, wenn gerade in diesem Kontext keine Notwendigkeit gesehen wird, den Zusammenhang von Wissensverteilung und Machtverhältnissen näher zu beleuchten. Auch ist es durchaus kritisch zu sehen, dass Luckmann durch den steten Rückgriff auf die binäre Codierung Mann/Frau in seinen Beispielgeschichten Machtverhältnisse stabilisiert, die allerdings schlicht zur Beschreibung von ›Grundverhältnissen‹ dienen sollen. – In den »Strukturen der Lebenswelt« heißt es etwa: »Ferner gibt es in diesem gesellschaftlichen Wissensvorrat Elemente, die nur für Männer re­ levant sind, und solche, die nur für Frauen relevant sind. Die einen werden routinemäßig nur an Männer, die anderen nur an Frauen vermittelt. So wären ›normale Männer‹ im Besitz sowohl des allgemein relevanten Wissens als auch des nur für Männer relevanten Wissens, ›normale Frauen‹ im Besitz ebenfalls des allgemein relevanten Wissens und des nur für Frauen relevanten Wissens. Da aber auch für die ›männlichen‹ und ›weiblichen‹ Elemente die gesellschaftlich festgelegte zeitlich-biographische Differenzierung der Vermittlungsvorgänge gilt, kommt noch ein weiteres hinzu. Zu jedem gegebenen Zeitpunkt sind, genauso genommen, nur ›normale erwachsene Männer‹ im Besitz der für jedermann relevanten und der für die Männer relevanten Wissenselemente, während ›normale junge Männer‹ nur gesellschaftlich festgelegte Bruchteile des allgemeinen und des für Männer relevanten Bestands an Wissenselementen besitzen. Selbstverständlich gilt das gleiche auch für junge und erwachsene ›normale Frauen‹.« (Ebd., 417 f.) 34 Zur gegenwärtigen Aktualität des Sprachverständisses Schütz’ als Handlung (Bedeutung baut sich intersubjektiv und reziprok auf) vgl. Knoblauch, H./Kurt, R./Soeffner, H.-G., Einleitung, 10 f.

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Kommunikation aus: »Erleben, Sprache und Begriff« (kurz: »Spracharbeit«; 1925); »Sprache, Sprachstörungen und die Struktur des Bewusstseins« (1950); »Vorlesungen zur Sprachsoziologie« (erste Vorlesungen hielt Schütz im Jahr 1949); »Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft« (kurz: »Symbolaufsatz«; 1955).35 Der so genannte »Symbolaufsatz« markiert sicherlich den Höhepunkt der Auseinandersetzung Schütz’ mit der Frage nach den Grundzügen einer adäquaten Zeichentheorie – Schütz selbst schätzte diese seine eigene Schrift sehr und setzt sie auf eine Stufe mit seinem bekannten Aufsatz »On Multiple Realities« (1945), der Erarbeitung des Theorems der so genannten geschlossenen Sinnbereiche.36 Aufgrund der herausgehobenen Bedeutung dieses Aufsatzes und der Tatsache, dass sich in ihm viele vorgängige Gedanken (und nachgängige Gedanken, wenn man den Text mit entsprechenden Passagen aus den »Strukturen der Lebenswelt« vergleicht) finden, soll vorrangig »Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft« als Textgrundlage für die folgenden Ausführungen, vor allem für die Ausführungen zu Zeichen und Symbol, dienen. Grundlegend folgt Schütz der Annahme, dass es Vorgänge der Appräsentation, der Kommunikation und der Sprache sind, welche Ordnung konstitu­ ieren.37 Die Lebenswelt erhält ihre Ordnung durch kommunikative Handlungen, Zeichen und Symbole.38 Schütz sieht Zeichen und Symbole als Medien der Grenzüberschreitung an. Grenzüberschreitung bedeutet, dass Zeichen und Symbole die Grenzen der alltäglichen Lebenswelt benennen, bearbeiten, transzendieren – und das heißt: deutend (potentiell) handhabbar machen. Schütz unterscheidet nun, auch mit Blick auf die Bearbeitung der jeweiligen ›Transzendenzebene‹, Anzeichen, Merkzeichen, Zeichen und Symbole. Entsprechend widmet sich dieses Kapitel Zeichen allgemein, Symbolen und der Sprache als Zeichensystem und intersubjektivem Kommunikationsmodus.

35 Die Jahreszahlen beziehen sich auf die Abfassung einer jeweils ersten, druckreifen Version. Zum Editorischen s. Knoblauch, H./Kurt, R./Soeffner, H.-G., ebd., 7 ff; 37 f; 79 ff; 117 f; 221 ff. 36 Zur Theorie der Bereiche geschlossener Sinnstruktur vgl. Kap. II.9.1.2. 37 Es ist ein wichtiges Anliegen von Schütz, die verschiedenen Positionen zum Problem der symbolischen Verweisung – von Whitehead über Morris und Ducasse bis Cassirer und Langer  – auf einen grundsätzlichen Sachverhalt zurück zu führen: den der Appräsentation bzw. der appräsentativen Ordnungen: vgl. Schütz, A., Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft, 120 ff. 38 Vgl. zum Thema der symbolischen Ordnung und zur Frage der Kulturarbeit als Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner sozialen und physischen Umwelt aus systematischtheologischer Sicht u. a.: Moxter, M., Kultur als Lebenswelt, bes. 274 ff; Herms, E., Funktion der Realitätsauffassung, 244.

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8.2.1 Das Zeichen als wesentliches Element intersubjektiver Kommunikation Bereits in »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt« (1932) beschreibt Schütz die unauflösliche Verquickung von Fremdverstehen und Prozessen der Zeichen­ setzung und Zeichendeutung.39 Das Interesse Schütz’ an semiotischen Prozessen währt durch die verschiedenen Zeiten seines Schaffens40, da sie für Vorgänge sozialer Kommunikation grundlegend sind. Zeichen beziehen sich – im Gegensatz zu Anzeichen und Merkzeichen – in ihrer Funktion auf die face-to-face-Situation, also auf Situationen direkter Interaktion zwischen Subjekten. Mit Blick auf das Problem des Fremdverstehens ist eine Annäherung nur über den Nachvollzug der Struktur ›Zeichensetzung – Zeichen – Bezeichnetes – Zeichendeutung‹ möglich. Unterhalb dieses Komplexionsgrades ist der Vorgang des Fremdverstehens nicht zu beschreiben. In »Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft« entwirft Schütz einen mehrstufigen Zeichenbegriff entlang der Unterscheidung jeweilig konstatierter Immanenzen bzw. Transzendenzen. Das Kriterium der Zuordnung ist dabei, welche ›Transzendenz­weiten‹ die Zeichen zu bearbeiten vermögen. Unterschieden werden nun Merkzeichen, Anzeichen, Zeichen und Symbole. Während Merkzeichen und Anzeichen vorwiegend auf der individuell-subjektiven Ebene rangieren, ordnet Schütz die Zeichen der Bearbeitung von intersubjektiven Grenzerfahrungen zu. Symbole hingegen beziehen sich auf Erfahrungen, die den Alltag überschreiten, die nicht im Alltag aufgehen und in ihm kein entsprechendes Antwortmuster finden.41 Merkzeichen bilden die einfachste Appräsentationsbeziehung.42 Bei Appräsentation kann zunächst in der einfachsten Gestalt von einer passiven Synthesis ausgegangen werden: Es handelt sich um eine Paarung von etwas Wahrnehmbarem, Anwesendem und etwas gegenwärtig nicht Wahrnehmbarem, nicht Anwesendem. Unter Appräsentation wird herkömmlich ›Mitvergegenwärtigung‹ verstanden. Merkzeichen und Anzeichen haben Teil an der Welt in aktueller bzw. potentieller Reichweite, sind also eingebunden in den (potentiellen) Handhabungsbereich. Merkzeichen sind individuell angelegt und sollen an etwas erinnern. Dabei erhalten Gegenstände der Außenwelt per Zuschreibung eine neue bzw. zusätzliche Bedeutung – als Mittel der Erinnerung – zur Orientierung. Der abgeknickte Zweig wird nicht mehr nur als abgeknickter Zweig wahrgenommen, sondern, indem er abgeknickt wurde, als Wegmarke. Es wird deutlich, dass hier wiederum die lebensweltlichen Idealisierungen (›Undso-weiter‹; ›Ich-kann-immer-wieder‹) greifen, die einer solchen Handlung erst

39 Vgl. Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 250 ff; 258 ff; 266 ff. 40 Vgl. Hanke, M., Alfred Schütz, 58. 41 Vgl. Kap. II.8.2.3. 42 Vgl. Schütz, A., Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft, 145.

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Sinn verleihen. Auch Anzeichen richten sich, wie bereits erwähnt, nicht notwendig auf ein soziales Gegenüber als Interpretationsinstanz. Anzeichen entstammen dem Wissensvorrat in dem Sinne, dass sie das Vorhandensein eines Zusammenhangs zwischen zwei Ereignissen bezeichnen: Der Blitz zeigt den Donner an, die Übelkeit das Erbrechen. Das Beschreiben einer Kausalität in der Verhältnissetzung bleibt jedoch vage und subjektiv, denn mit einem veränderten Deutungsschema ändert sich unter Umständen auch die Interpretation von Ereigniszusammenhängen: So können Blitz und Donner als Naturschauspiel angesehen werden, sie können aber auch als Grollen einer Gottheit interpretiert werden. Anzeichen versetzen also den Menschen in den Stand, die Welt in aktueller Reichweite zu transzendieren, indem der Mensch interpretatorisch auf etwas ausgreifen kann, was noch aussteht. Nun ist die Welt des Alltags eine intersubjektiv geteilte und konstituierte Welt, keine Welt des Privaten und Monadischen. So sind, im Vergleich zu Merkzeichen und Anzeichen, Zeichen, nach Schütz, wesentlich auf intersubjektive Kommunikation bezogen. Bei intersubjektiver Kommunikation fällt sofort Sprache als Zeichensystem ein, doch handelt es sich viel grundlegender um jegliche Veränderungen an einem Leib in Raum und Zeit bzw. um Ereignisse, die von diesem ausgelöst werden. In diesen Veränderungen oder Auslösern teilt sich Ego die Bewusstseinsleistung von Alter mit (hierunter lässt sich auch die Sprache subsumieren). Auch in dieser Interpretation der Paarung von Bewusstseins­leistung und körperlichem Ausdruck handelt es sich um eine Form der Appräsentation. Die Konstitution der Lebenswelt als gemeinsame kommunikative Umwelt vollzieht sich über diese Form des aufeinander bezogenen Verstehens: Alter und Ego motivieren sich gegenseitig in ihren zeichenvermittelten Bewusstseinsaktivitäten.43 In der face-to-face-Beziehung ist Alter und Ego die Welt in gemeinsamer Reichweite gegeben, die raumzeitlichen Koordinaten sind (prinzipiell) die gleichen, es gilt die Generalthese der Reziprozität der Perspektiven. Die Welt von Alter überschneidet sich mit der Welt von Ego, im gemeinsamen Erlebnis tritt eine Synchronisation beider Bewusstseinsströme ein. Alter transzendiert jedoch faktisch immer die Welt von Ego, da erstens die Reziprozität der Perspektiven nur idealerweise angenommen ist und zweitens jeder Mensch eine einzigartige biographische Situation – mit einem einzigartigen Relevanzsystem – mitbringt. Die intersubjektiv entstandene Wir-Beziehung transzendiert beide Welten, die von Ego und die von Alter. Die Wir-Beziehung gehört nicht dem geschlossenen Sinnbereich der Alltagswirklichkeit an und ist als solche nur symbolisch erfassbar.44 Allein über Zeichen ist intersubjektive Kundgabe, intersubjektives Ver­ stehen, Kommunikation überhaupt möglich. Zeichen können also verstanden werden als »[…] Gegenstände, Gegebenheiten oder Geschehnisse in der Außen

43 Vgl. ebd., 151. 44 Vgl. ebd., 154 f.

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welt […], deren Erfassung einem Deuter die Bewusstseinsakte eines Mitmenschen appräsentiert.«45 Als Verdeutlichung der hochgradigen Kontextabhängigkeit von Wahrnehmung und Verstehen, welche nicht zuletzt durch die individuelle biographische Situation bedingt ist, sei ergänzend auf den Schütz’schen Begriff der Ordnungen verwiesen (der Ordnungsbegriff rekurriert auf Henri Bergsons Prinzip der Ordnungen des Lebens). Jeder Gegenstand, sowie die Erfahrung von eben diesem, ist feld- und horizontabhängig: Jedes Glied einer assoziativen Paarung ist Teil einer Ordnung, Teil eines Sinnbereichs. Insofern ereignet sich in dem Vorgang der Appräsentation eine Verbindung zwischen zwei unterschiedlichen Ordnungen (Beispiel bei Schütz: Fahne und betreffender Staat) bzw. auch innerhalb einer Ordnung (Beispiel: Rauch und Feuer). An jeder Appräsentationssituation sind, nach Schütz, nun vier Schemata beteiligt: a) Apperzeptionsschema; b) Appräsentationsschema; c) Verweisungsschema; d) Rahmen- oder Deutungsschema.46 Das Apperzeptionsschema benennt die Elemente des apperzipierenden Glieds aus ihrer ›natürlichen Umgebung‹ heraus (Beispiel: Gold; Rund); das Appräsentationsschema rahmt das appräsentierende Glied als Teil einer jeweiligen Paarung (Beispiel: Ring); das Verweisungsschema ordnet das appräsentierte Glied in seiner Bedeutung ein (Beispiel: verheiratet); das Deutungsschema hingegen regelt das Verhältnis zwischen Appräsentationsschema und Verweisungsschema – man könnte sagen: Es codiert etwas als etwas in einem (kulturell vermittelten) spezifischen Bedeutungsgefüge (der goldene Ring an der Hand einer Nonne erfordert eine andere Deutung als der goldene Ring an der Hand eines Familienvaters). Im Rekurs auf die Überlegungen Henri Bergsons zum Verhältnis gleichzeitig bestehender Ordnungen plausibilisiert Schütz von anderer Seite her die Individualität jeglicher Deutungsakte – bzw. die allgemeine Annahme, dass Zeichenund Symbolbeziehungen vieldeutig und unbestimmt sind bzw. sein müssen. In seinem Werk »L’Évolution créatrice« stellt Bergson dar, dass Unordnung an sich nicht existiert, dass vielmehr zwei Ordnungen, die geometrische und die spontane, im Akt der bewusstseinsmäßigen Deutung miteinander ›konkurrieren‹, so dass als ›Unordnung‹ jeweils die Ordnung klassifiziert wird, die gerade nicht erwünscht ist.47 Die Ausführungen über das Verhältnis gleich­zeitig bestehender Ordnungen sind nun insofern von Bedeutung, als deutlich wird, dass ein gewähltes Bezugsprinzip zum bevorzugten Bezugsprinzip vor anderen wird. Hieraus folgt, dass die Deutung einer Appräsentationsbeziehung von der Bevorzugung eines Schemas (Apperzeptions-, Appräsentations-, Verweisungs-, Rahmenschema) abhängt, dass sie sozusagen individuell und kulturell ­variieren

45 Ebd., 156. 46 Vgl. ebd., 134. 47 Vgl. Bergson, H., L’Évolution Créatrice, 221 ff.

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muss und tatsächlich variiert. Ein Zeichen oder Symbol bedeutet in einer sozialen Gruppe etwas anderes als in einer anderen, bzw. was in einer sozialen Gruppe als Symbol von Bedeutung ist, kann in der anderen sozialen Gruppe keine spezifische Bedeutung haben (dies lässt sich auch auf das Verhältnis zwischen Individuen und Zeichen bzw. Symbolen übertragen). Ebenso spielt die Bestimmung des Verhältnisses der Schemata untereinander in der Betrachtung des Problems der natürlichen und willkürlichen Zeichen eine Rolle.48 Schließlich kommt Schütz auf Grundsätze zu sprechen, die die Appräsentationsbeziehungen strukturell verändern können (Grundsatz der bedingten Beliebigkeit des Bedeutungsträgers; Grundsatz der Veränderlichkeit der Appräsentationsbedeutung; Grundsatz der figurativen Übertragung).49 All dies bezeugt einerseits die kommunikative Konstitution der intersubjektiven Lebenswelt, andererseits den Grad der Kontingenz im Verstehen bei aller Konventionalisierung. Das Zeichen transzendiert die Welt von Alter wie die von Ego. Erneut wird deutlich, dass Fremdverstehen ein Limesbegriff ist. Nichts­ destotrotz ist es für das Subjekt die einzige Möglichkeit auch der Subjektwerdung in reziproken Prozessen des intersubjektiven Handelns, über die Zeichenvermitteltheit der kommunikativen Lebenswelt in eben jener einen Platz einzunehmen und Alltag auszugestalten. Sinnzusammenhänge, die durch die verschiedenen Zeichensysteme konstituiert werden, sind für diejenigen plausibel, die um die vorerfahrenen (einzelnen) Zeichen bereits wissen. Jedes gesetzte Zeichen als solches  – als Element eines Zeichensystems  – ist dabei sinnvoll und grundsätzlich verstehbar. Es gibt keine prinzipiell unverständlichen oder sinnlosen Zeichen – allenfalls treten Verständnisprobleme mit Blick auf den Bezugsrahmen auf, das heißt wenn der Bezug eines Zeichens zu einem Zeichensystem nicht passt. Systemfremdheit ist hier der einzige Grund für nicht gelingende De-Codierung.50

48 Schütz schreibt hierzu: »Darüber hinaus scheint Bergsons Theorie den üblichen Unterschied zwischen natürlichen und willkürlichen (oder konventionellen) Zeichen zu erklären. Diese Unterscheidung läßt darauf schließen, dass ein bestimmtes Schema als Bezugssystem, als Prototyp der Appräsentationsbeziehung ausgewählt worden ist. Die sogenannte ›wirk­ liche Beziehung‹, die dem natürlichen Zeichen zugrunde liegt, besteht darin, daß sowohl Zeichen als auch Signatum Ereignisse innerhalb der physischen Welt der Natur sind. Das gleiche ­Apperzeptionsschema ist daher auf das Zeichen und, potentiell, auf das Signatum anwendbar. Anders gesagt, diejenigen Autoren, die zurecht erkennen, daß ein den Deutenden einschließendes triadisches Verhältnis zustande kommen muß, meinen, daß bei natürlichen Zeichen das Appräsentationsschema mit dem Verweisungsschema zusammenfällt, während das Interpretationsschema schlicht als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Bei willkürlichen Zeichen muß hingegen das Interpretationsschema als grundlegendes Bezugssystem angesehen werden.« (Schütz, A., ebd., 137.) 49 Für detailliertere Ausführungen vgl. ebd., 138 ff. 50 Vgl. dazu auch: Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 169.

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8.2.2 Symbolisierung als Appräsentation des Transzendenten Das Schütz’sche Verständnis von Symbolen verändert sich im Laufe der Jahre. Während Schütz zunächst keine Unterscheidung zwischen Zeichen und Symbol einzieht bzw. allgemein vom ›Symbolischen‹ spricht und in »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt« Zeichen und Symbol synonym verwendet, ändert sich diese terminologische Verwendung spätestens in seinem Aufsatz »Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft«. Hier wird das Symbol als eine besondere Zeichenform im Rahmen eines mehrstufigen Zeichenbegriffs entworfen. Das ­appräsentierte Glied der Paarung gehört bei Symbolen einem anderen Wirklichkeitsbereich an als das appräsentierende Glied. Dieser Gedanke gründet auf der Auseinandersetzung mit den Überlegungen William James’ zur so genannten ›ausgezeichneten Wirklichkeit‹ und deren Subuniversa – bei Schütz reformuliert als Lebenswelt des Alltags und davon unterschiedene geschlossene Sinnprovinzen.51 So heißt es zur Definition des Symbols, in Anlehnung an den Symbol­ begriff Karl Jaspers’, zunächst: »Ein Symbol kann in erster Annäherung als eine Appräsentationsverweisung höherer Ordnung definiert werden, in der das appräsentierende Glied des Paares ein Gegenstand, eine Gegebenheit oder ein Geschehnis innerhalb der Wirklichkeit unseres Alltags ist, während das appräsentierte Glied auf eine Idee hinweist, die unsere Alltags­ erfahrung transzendiert.«52

Und weiterhin: »Die symbolische Verweisung aber ist dadurch gekennzeichnet, dass sie den ge­ schlossenen Sinnbereich des Alltags transzendiert und daß nur das appräsentierende Glied des Paares ihr angehört, während die Wirklichkeit des appräsentierten Glieds zu einem anderen Sinnbereich (in James’ Terminologie) zu einem anderen Sub-Uni­ versum gehört. Wir können daher die symbolische Beziehung definieren, indem wir sagen, daß sie eine Appräsentationsbeziehung zwischen zwei Größen ist, die min­

51 Vgl. Kap. II.9.1. 52 Schütz, A., Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft, 169. Vgl. dazu bei Jaspers: »Man spricht von Bedeutung im Sinne von Zeichen und Bild, von Gleichnis, Vergleich, Allegorie, Metapher. Der Grundunterschied von Bedeuten in der Welt und metaphysischem Bedeuten ist: ob in der Beziehung des Bildes zu dem, was es vertritt, dieses Vertretene auch selbst als Gegenstand zu erfassen wäre, oder ob das Bild nur Bild für etwas ist, das auf keine andere Weise zugänglich wird; ob das bildhaft Ausgedrückte auch direkt gesagt oder gezeigt werden könnte, oder ob es für uns nur ist, sofern es im Bild ist. Ausschließlich im letzteren Falle sprechen wir von Symbol. Das Symbol ist nicht deutbar, es sei denn wieder durch andere Symbole. Symbolverstehen heißt daher nicht: die Bedeutung rational kennen, das Symbol übersetzen können, sondern: in der Symbolintention als Existierender diese unvergleichbare Bezogenheit auf ein Transzendentes, an der Grenze, im Verschwinden des Gegenstandes, erfahren.« (­Jaspers, K., Philosophie, 16.)

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destens zu zwei geschlossenen Sinnbereichen gehören, wobei das appräsentierende Symbol ein Bestand der ausgezeichneten Wirklichkeit des Alltags ist.«53

In den »Strukturen der Lebenswelt« schließlich verlaufen die terminologische Verwendung und die funktionale Bestimmung über die Bearbeitung der ›Tran­ szendenzweite‹: Zeichen beziehen sich auf die mittleren Transzendenzen, Symbole auf die großen.54 Zeichen rekurrieren auf Alltägliches, Symbole auf Außeralltägliches. Dabei besitzen Symbolbeziehungen wesentlich die gleiche Appräsentationsstruktur wie Zeichen. Allerdings ist es die Besonderheit symbolischer Appräsentation, dass sie eine Verweisung höherer Ordnung darstellt und auf anderen appräsentativen Verweisungen basiert (Anzeichen, Merkzeichen, Zeichen, anderen Symbolen; eine typische Appräsentation höherer Ordnung stellt auch die Metapher dar).55 Ebenso treffen auf Symbole, wie auf Zeichen, die Grundsätze der Veränderung zu: a) die Beliebigkeit des Bedeutungsträgers, b) die Veränderlichkeit der Appräsentationsbedeutung, c) der Grundsatz der figurativen Übertragung. Nach den Ausführungen zum Wissensvorrat lässt sich die soziale Ableitung bzw. Vorgegebenheit auch von symbolischen Appräsentationsbeziehungen plausibilisieren: Hat sich gesellschaftlich eine Lösung für ein bestimmtes Problem unter Einbezug eines Zeichens oder Symbols bewährt, so wird höchstwahrscheinlich das sozial gebilligte Symbol als typische Lösung für ein Problem verstanden und als typische Lösung intersubjektiv vermittelt. Die gebildeten und sozial anerkannten appräsentativen Beziehungen können weiterhin als Element weiterer (höherer) Symbolisierungen dienen. Dem einzelnen Menschen ist letztlich Gesellschaft, intersubjektiv wie institutionell, nur über zeichenhafte und symbolische Vermittlung zugänglich – und dies bevorzugt durch das System der Sprache. Natur und Gesellschaft transzendieren die alltägliche Lebenswelt des Einzelnen. Die Bear­ beitung dieser Transzendierung ist nur symbolisch vermittelt denkbar. Der Mensch ist für Schütz, in Übernahme des Diktums Ernst ­Cassirers, animal symbolicum56.

8.2.3 Sprache Das Besondere der Sprache liegt darin, nicht nur Dinge zu benennen, sondern vielmehr die Beziehungen der benannten Dinge zueinander auszudrücken. Sprache hat die Fähigkeit, Benanntes zu konstellieren – nach jeweils einer Sprache eigenen grammatikalischen Gesetzmäßigkeiten, also syntaktischen, morphologischen, semantischen und phonetischen Eigenschaften. Der Fokus des ­Interesses

53 Schütz, A., ebd., 182. 54 Zu den verschiedenen Transzendenzweiten vgl. Kap. II.9.1.1. 55 Vgl. Schütz, A., ebd., 176. 56 Vgl. bei Schütz: ebd., 197.

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liegt bei Schütz jedoch weniger auf spezifisch linguistischen Fragestellungen57 als vielmehr auf der Frage der sozialen Bedeutung von Sprache. Die Thematisierung von Kommunikation hat gerade in den späteren Arbeiten Schütz’ ein starkes Gewicht, nicht zuletzt, weil die Lebenswelt des Alltags als grundlegend kommunikative bestimmt wird. Da Schütz’ Interesse ein pragmatisches und weniger ein semiotisches oder grammatisches ist, widmet er sich der Frage, wie sich die Ordnungen der appräsentativen Systeme im Handeln ausdrücken.58 Die Sprache ist elementarer Bestandteil des gesellschaftlichen Wissensvorrats: Jeder Mensch, der in eine soziale Gemeinschaft hinein geboren wird, findet also ein historisch vorgegebenes, überindividuelles Zeichensystem vor, dessen er sich zu bedienen lernen muss. ›Neue‹ Zeichensysteme werden im Laufe des Lebens ›hinzu gelernt‹: Veränderte soziale Zusammenhänge erfordern zumeist die Verwendung eines neuen, zumindest anderen Zeichensystems. Dabei existieren graduelle Unterschiede in der erforderlichen individuellen Anpassungsleistung, etwa im Falle von Migration oder anlässlich eines Arbeitsplatzwechsels.59 Die Konstitution von Zeichen und ihr Gebrauch aktualisieren sich immer wieder neu, doch folgen sie darin in weiten Teilen der Konvention – Sprache ist wesentlich typisiert und institutionalisiert. Die Sprache bildet also ein ­System von typisierenden Erfahrungsschemata, die in einer Gesellschaft als relevant angesehen werden.60 Schütz/Luckmann nennen in den »Strukturen der Lebenswelt« drei Grundbedingungen für die Konstitution von Sprache: erstens die gegen­seitige Spiegelung von Mitmenschen in der Wir-Beziehung, zweitens das konkrete Handeln in gegenständlicher Intersubjektivität und drittens die Aufeinanderstufung verschiedener Formen der Appräsentation.61 Dabei lässt sich die Bedeutung der Appräsentation wiederum in drei Perspektiven fassen: in die Perspektive des subjektiven Sinns, des intersubjektiven Sinns und des objektiven Sinns. Während der subjektive Sinn mit der ›Um-zu‹-Motivation des Sprechens als subjektiver Handlung gleichbedeutend ist, findet sich der objektive Sinn in den Konventionen und Bedeutungszusammenhängen des Sprachsystems. Der intersubjektive Sinn hingegen ergibt sich aus der konkreten Gesprächssituation und der Verknüpfung mit vorher Gesagtem.62 57 Schütz hat sich mit Fragen der Grammatik in Ansätzen in seiner Arbeit »Erleben, Sprache und Begriff« auseinander gesetzt. 58 Vgl. Knoblauch, H./Kurt, R./Soeffner, H.-G., Einleitung der Herausgeber, 21 f. Hanke vertritt hinsichtlich der Gewichtung der Semiotik im Schütz’schen Werk eine andere Meinung, vgl. Hanke, M., Alfred Schütz, 57 ff. 59 Die Probleme des Zeichensystemwechsels im Zusammenhang von Migration hat Schütz sehr anschaulich in seinem Essay »Der Fremde« dargestellt. Vgl. auch zur Konstitution des symbolischen Selbst: Natanson, M., The journeying Self, 128 ff. 60 Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 318 ff. 61 Vgl. ebd., 660. 62 Vgl. zum Sinnverstehen von Zeichen auch: Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 172 ff. Schütz unterscheidet hier subjektiven, objektiven und okkasionellen Sinn. Hinsichtlich der

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Intersubjektivität und Institutionalisierung

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Grundlegend ist allerdings zwischen Wahrnehmungsgegenstand und Be­ deutung zu unterscheiden. Dabei nennen Schütz/Luckmann für Bedeutungsträger im einfachsten Sinne, also prototypische Zeichen, folgende Eigenschaften: »›Objektivität‹ der Lauterlebnisse, Anzeichenhaftigkeit der Lautmuster, Ausdruckshaftigkeit (d. h. appräsentativer Verweis auf ein ›Innenleben‹) typischer Lautmuster in Handlungen.«63 Sprachformen sind Zeitobjekte: in der zwischenmenschlichen Kommunikation vergehen sie mit der Zeit  – es sei denn, dem wird künstlich entgegen gewirkt, etwa durch technische Aufnahme. Entsprechend verhält es sich mit dem Erleben von Lauten bzw. Lautmustern: Sie werden in einer Synchronisation von äußerem Ablauf und inneren Zeitsynthesen erfahren. Dabei existiert in der Wahrnehmung der Lautgestalt ein Kern, welcher von einem thematischen Feld umgeben ist (unterschiedliche Abschattungen hinsichtlich Tonhöhe und Melodie, Lautstärke, Rhythmus etc.).64 Wesentlich für das Gelingen von Kommunikation ist, dass diese Lautmuster als Vor-Erfahrung abgespeichert werden und abrufbar sind. Diese Abrufbarkeit oder Erinnerbarkeit der Lautmuster (samt anderer Anzeichen, die ein Gesprächspartner von sich gibt) bildet die Grundlage für die Wahrnehmung einfacher wie höherstufiger Appräsentationen. Die Abrufbarkeit bildet ebenfalls die Grundlage für die Ausprägung von Deutungsschemata. Auch in diesen Situationen gilt die Generalthese der wechselseitigen Perspektiven: Ego geht davon aus, dass Alter die Lautfolge in ähnlicher Weise wahrnimmt (dass diese Idealisierung im Rahmen von verbalen Kommunikationssituationen besonders störanfällig ist, zeigt sich an den zahlreichen Missverständnissen, die sich regelmäßig in Kommunika­ tionssituationen ergeben). Prototypische Zeichen müssen sich von der konkreten intersubjektiven Situation ablösen, sollen sie zu Zeichen im allgemeingültigen Sinne werden. Sprachformen finden sich so mehreren ›Einklammerungen‹ gegenüber: der räumlichen (Austauschbarkeit der Standorte), der zeitlichen Erschließung eines übergeordneten Sinns schreibt Schütz: »Was ist nun aber jene Synthesis, jener übergeordnete Sinnzusammenhang und damit zugleich jenes übergeordnete Deutungsschema, von dem her der okkasionelle Sinn des einzelnen Zeichens (Wortes) erfaßt werden kann? Die Einheit der Rede, gesehen von der Seite des Redenden, ist auf der Einheit der Zeichensetzung als einheitliche Handlung des Redenden fundiert und daher gilt alles, was wir für die Einheit der Handlung gesagt haben, auch für die Einheit der Rede. Sie konstituiert sich nur im Entwurf des Sinnsetzenden und ist dem Sinndeutenden, solange sie nicht entworden und vollendet ist, in adäquater Erfassung prinzipiell unzugänglich. Der Deutende gewinnt nur Näherungswerte an das vom Redenden Gemeinte, die von seinem Vorwissen im jeweiligen Jetzt und So abhängen: dies zumindest während des Aufbaus der Rede; denn auch die ›objektive‹ Erfassung der Rede gelingt erst, nachdem sie vollendet ist. Was hier Rede heißt, ob ein einzelner Satz, ein Buch, das Gesamtwerk eines Autors oder einer ganzen ­Literaturrichtung, was also jeweils letztes Deutungsschema für den Sinndeutenden ist, bleibt immer quaestio facti.« (Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau, 175.) 63 Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 664. 64 Vgl. ebd., 661.

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(›Und-so-weiter‹/›Ich-kann-immer-wieder‹) und der situativen (Ablösung von der konkreten Wir-Beziehung/Typisierung). Sprachformen können sich also von anderen konkreten Ausdrucksformen lösen, mit denen sie ehedem ein »expressives Syndrom«65 formten. Ebenso werden Sprachformen vom konkreten gesellschaftlichen Kontext unabhängig, so dass Sprache zugleich, nämlich als Zeichensystem, neben der konkreten Handlung (Sprechen) als Voraussetzung der allermeisten Handlungen (Denken, Planen) fungieren kann. Der Vorgang der gegenseitigen sozialen Kontrolle hinsichtlich des Verstehens von Lautmustern und Sprachformen ist in seiner Bedeutung für die ›Re-Inszenierung‹ des Wissensvorrats von großer Bedeutung: Erst der Gebrauch von Zeichen und seine Bestätigung als ›legitim‹ sichert die Sinnhaftigkeit des Bestands im gesellschaftlichen wie subjektiven Wissensvorrat. So ist, anders ausgedrückt, jede ›natürliche‹ Sprache das Produkt von Ablagerungen gesellschaftlicher (Aus-) Handlung in Verständigungsprozessen: Das legitimierte Zeichensystem (mit allen thematischen Kernen und Rändern, Worten und Bedeutungshöfen) ist als tauglich zur Beschreibung von (gesellschaftlich ausgehandelter) Wirklichkeit bestätigt: »Sprache ist das hauptsächliche Mittel des gesellschaftlichen Aufbaus jeder mensch­ lichen Wirklichkeit; sie ist aber auch das Hauptmedium der Vermittlung einer bestimmten, also geschichtlichen, gesellschaftlich schon aufgebauten Wirklichkeit. Unter beiden Aspekten ist die Sprache wesentlich, als quasi-ideales Zeichensystem ist sie die Voraussetzung zur Entsubjektivierung, d. h. zur geschichtlich-gesellschaftlichen Bestimmung der subjektiven Orientierung des einzelnen in seiner Lebenswelt. Als Erzeugnis der Wir-Beziehung ist Sprache zugleich auch immer schon in der intersubjektiven Erzeugung jeder geschichtlichen Sozialwelt vorausgesetzt.«66

Zeichensysteme, insbesondere die Sprache, verbinden Menschen (im Akt der Selbstreflexion) mit sich selbst und der Welt, auf etwas hin: die semantischtaxo­nomische Festlegung von Zeichen und ihrer Position im System schafft dem Einzelnen Orientierung und ermöglicht Handlung. Dabei resultieren Sinn­ deutungen und Sinnverfestigungen aus der Merkzeichenhaftigkeit der Sprache und von ihr abgeleiteten Zeichensystemen.67 Mit Blick auf den Zusammenhang zwischen sozialen Merkmalen und zuhandenem Zeichensystem weisen die »Strukturen der Lebenswelt« darauf hin, dass die jeweils gegebene Sozialstruktur die kommunikativen Mittel (lautliche Äußerungen, Körperhaltung, Gestik, Mimik) bestimmt – unter Absehung von Varianzen der situativen Aushandlung. Die Verwendung von typischen kommunikativen Mustern ist in einem großen Umfang abhängig von der Sozialstruktur,

65 Ebd., 665. 66 Ebd., 668. Im Original hervorgehoben. 67 Vgl. ebd., 667.

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Intersubjektivität und Institutionalisierung

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welcher etwa die Gesprächspartner angehören (Schütz/Luckmann nennen hier als Beispiel den so genannten ›Babytalk‹ in der Beziehung zwischen Mutter und Kind).68 Dabei sind »[d]ie Zugangschancen zu Sprache […] sozial verteilt. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil der geschichtlich veränderlichen Formen der sozialen Verteilung des Wissens – und der gesellschaftlichen Ungleichheit.«69 Die Regelungen des Gebrauchs kommunikativer Mittel erstrecken sich dabei von Worttabus über gebotene Stilvarianten in bestimmten Situationen bis zu statusbedingten Anredeformeln. Strukturwandel und Strukturerhalt innerhalb einer Gesellschaft ergeben sich aus einer Mischung zwischen fortwährendem und aktuellem Gebrauch. Freiheiten in der intersubjektiven Verständigung ergeben sich durch Wahlmöglichkeiten in einer konkreten Situation, die trotz der Zuordnung von Stil und Sozialstruktur immer vorhanden sind: Neben den Varianzmöglichkeiten im sprachlichen Zeichensystem spielen hier indikative (Stimmung, Typ, Persönlichkeit der Sprecherin) und phatische (beziehungsstörende oder be­ ziehungsstiftende) Bedeutungsfunktionen eine Rolle.70

8.3 Institutionalisierung und Institutionen Der Überschritt von der Reflexion von Zeichensystemen zum Problem der Insti­ tutionalisierung liegt nahe: Denn der Gebrauch, das ›Hinnehmen‹ von Apprä­ sentationssystemen verweist auf Prozesse vorgängiger Institutionalisierung dieser Appräsentationssysteme. Institutionalisierung ist ein Vorgang der Stabilisierung von Ordnungen, sie umfasst Appräsentationsschemata wie soziale Beziehungen. Gesellschaft ist so, nach Schütz, eine Ordnung, die »[…] the scope of all possi 68 Vgl. ebd., 669. 69 Ebd.  – An anderer Stelle heißt es: »Die Sozialstruktur, sowohl als Wirk-Zusammenhang von Institutionen als auch als System gesellschaftlicher Ungleichheit von Lebens­chancen und Lebensführung, bestimmt sowohl die Grundstruktur kommunikativer Situationen wie die Zugangschancen zum gesellschaftlichen Vorrat an Wissen und kommunikativen Mitteln. Eine der Folgen davon ist, daß die Fähigkeit, typische kommunikative Situationen zu­reichend zu meistern, eine soziale Verteilung aufweist. Diese Verteilung ist nach den für die typischen Lebensläufe typischer Gruppen und Schichten von Gesellschaftsmitgliedern relevanten Kenntnissen von kommunikativen Mitteln und, in Verbindung damit, Kenntnissen der relevanten Sprachgebrauchsregelungen gegliedert.« (Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 670 f.) – In diesem Zusammenhang stellen sich etwa die Fragen, wie viel Prozent der bundesrepublikanischen Bevölkerung dem Nutzerprofil der traditionellen Nachrichtenformate in den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern entsprechen, oder wie viele Menschen mit der Beantragung von Sozialleistungen allein deshalb Schwierigkeiten haben, weil sie die sprachlichen Anforderungen der Antragstellung nicht bewältigen. Hiermit ist das Problem der Herrschaft benannt und damit die Frage, wie Definitionsmacht in Appräsentationssysteme eingegliedert ist. (Vgl. zum Problem der Definitionsmacht bei Schütz: Schütz, A., Die Gleichheit und die Sinnstruktur der sozialen Welt.) 70 Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 671 f.

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bilities for defining my situation«71 zur Verfügung stellt. Legitimationsprozesse sind als Prozesse sozialer Konstruktion zu fassen. Insofern kann das Problem der Institutionalisierung vor dem Horizont des wirklichkeitskonstruierenden Charakters der sozialen Welt – durch Kommunikation, Wirken, Interaktion – entfaltet werden. Jeder, der in eine Gesellschaft hinein sozialisiert wird, wird mit gesellschaftlichem Wissen konfrontiert und muss mit diesem umzugehen wissen. Wissen wird durch Handeln zur Wirklichkeit (Thomas-Theorem)72. Diesen Problemzusammenhang entfaltet das Kapitel zum Prozess von Internalisierung, Objektivation und Externalisierung. Dieser Prozess ist grundlegend für die Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit.73 Das Kapitel zur »Intersubjektivität und Institutionalisierung« wird mit Überlegungen zum Thema der intermediären Institutionen, welche per definitionem zwischen gesellschaftlich legitimierten Handlungs- und Erfahrungsmustern und denjenigen der einzelnen Subjekte vermitteln und zu denen auch die Kirchen gezählt werden können, abgeschlossen.74

8.3.1 Externalisierung, Objektivation, Internalisierung »Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit« (kurz: »Gesellschaft­liche Konstruktion«) beschreibt Gesellschaft als Regelkreislauf von Externalisierung, Objektivation und Internalisierung. Diese drei Prozesse stehen in einem engen wechselseitigen Verhältnis, dieses Wechselverhältnis begründet Institutiona­ lisierungen und damit Institutionen. Dem Menschen kommt in seiner Verfasstheit als Organismus und Selbst seiner Umwelt gegenüber die Eigenschaft der »Exzentrizität« (Helmuth Plessner) zu. Denn er steht vor der Aufgabe, »Körper-Haben« und »Körper-Sein«75 stetig aufeinander abzustimmen – insofern ist 71 Schütz, A., Collected Papers I, 330. 72 »If men define situations as real, they are real in their consequences.« (Thomas, W. I./Thomas, D. S., The child in America, 571 f.) – Vgl. Drehsen, V., Religiosität und Bewusstsein, 42. 73 Dieses Moment haben Thomas Luckmann und Peter L. Berger, inspiriert von Schütz’ Vorgaben, breit dargestellt in ihrem Werk »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit«. Die Ausführungen des folgenden Kapitels beziehen sich also auf eben dieses Werk. – Das erste Kapitel des Buches, »Die Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt«, basiert auf den »Strukturen der Lebenswelt«. Als solches wird es nicht weiter thematisiert. Berger und Luckmann beziehen sich zudem hinsichtlich ihrer Ausführungen explizit auf das Gesamtwerk Schütz’. (Vgl. Berger, P. L./Luckmann, Th., Die gesellschaftliche Konstruktion, 22 [Fußnote 2]). 74 Auch hier soll noch einmal auf eine Veröffentlichung von Peter L. Berger und Thomas Luckmann zurück gegriffen werden: Berger, P. L./Luckmann, Th., Modernität, Pluralismus, Sinnkrise. 75 Berger, P. L./Luckmann, Th., Die gesellschaftliche Konstruktion, 53.

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Intersubjektivität und Institutionalisierung

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»[d]ie Selbstproduktion des Menschen […] notwendig und immer eine gesellschaftliche Tat.«76 Die Notwendigkeit zur Ausbildung externer Ordnungselemente liegt nun in der prinzipiellen Ungerichtetheit des menschlichen Wesens, in der Unspezialisiertheit und damit Flexibilität menschlicher Triebe. Diese Eigenschaften erfordern ordnende Strukturen im menschlichen Zusammenleben, soll es eine gewisse Stabilität aufweisen, so Berger/Luckmann.77 Diese Struktur bildet sich zuallererst durch die Typisierung von Handlungen und ihre intersubjektive Anerkennung. In dieser Folge bilden sich Typen von Handelnden und Typen von Handlungen heraus. Prozesse der Institutionalisierung finden also dort statt, wo Typen von Handelnden habitualisierte Handlungen reziprok typisieren.78 Entscheidend ist dabei die Bildung von Typen, welche mit ihrer spezifischen Eigenschaft Bestandteil des Wissensvorrats und damit prinzipiell allgemein erreichbar werden. Objektivationen stellen so typischen Sinn dar, welcher in den historischen Sinnvorrat einer Gesellschaft eingeht. Institutionen bilden sich mittels Zeit, welche benötigt wird, Handlungen in ihrer sozialen Relevanz zu bestätigen und sie in ihrer Typisierung reziprok zu legitimieren. Der Ursprung einer jeglichen Institution liegt so in der nicht-forma­ lisierten face-to-face- (bei Berger/Luckmann: vis-à-vis-) Situation. Durch die Typisierung von Handlungen tritt eine Entlastung der Interagierenden ein, da zum großen Teil  vorbestimmt ist, welche Handlung zu welchem Zweck ausgeführt wird, so dass Auswahl und Entscheidung eingegrenzt und Erwartungen spezifiziert werden.79 Die Kehrseite dieser Entlastung ist die Kontrolle, die jede Institution ausübt, da sie nur bestimmte Handlungsweisen zulässt und andere Handlungsmöglichkeiten begrenzt.80 Entäußerung und Vergegenständlichung, also Externalisierung und Objektivation, erfordern nun Prozesse der Internalisierung, der Einverleibung im Umgang mit der sozialen Umwelt und ihren Produkten. Dies geschieht durch Sozialisierung und Tradierung. Dass alle drei Elemente, Externalisierung, Objektivation und Internalisierung, für die soziale Existenz des Menschen wesentlich aufeinander bezogen sind, ist deutlich: »Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit. Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.«81 Oder anders ausgedrückt: »Wissen über die Gesellschaft ist demnach Verwirklichung im doppelten Sinne 76 Ebd., 54. 77 Mit dem Gedanken des Menschen als Mängelwesen, der anthropologischen Extra­positionalität und der Kompensationsfunktion von Institutionen schließen sich Berger/Luckmann Arnold Gehlen an. 78 Vgl. ebd., 58. 79 So kann man in einer Metzgerei Fleisch kaufen und keine Bücher. Gleichzeitig würden die allermeisten Menschen nicht erwarten, in einer Metzgerei Bücher kaufen zu können. 80 Von dieser Kontrolle, die die Institution qua ihres Wesens als Organisation typisierter, also spezifizierter Handlungen ausübt, sind jedoch deutlich Zwangsmaßnahmen zu unterscheiden, welche zum Erhalt der Institution eingesetzt werden, wie etwa die Inquisition. 81 Berger, P. L./Luckmann, Th., ebd., 65. Im Original hervorgehoben.

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Die sinnhafte Konstitution der alltäglichen Lebenswelt

des Wortes: Erfassen der objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit und das ständige Produzieren eben dieser Wirklichkeit in einem.«82 Damit ist nicht von einer Eigenlogik von Institutionen auszugehen: Denn die ›unterstellte‹ Logik einer Institution, so auch Friedrich Tenbruck, liegt in der menschlichen Re­ flexion auf eben jene Institution und somit in Sinngebungsprozessen und dem Bedürfnis nach (biographischer) Konsistenz. Dabei muss die ›unterstellte‹ Logik eine solche sein, die (unter Umständen wieder ›unterstellt‹83) soziales, zumindest gruppenspezifisches Allgemeingut ist. Anders sind Prozesse der Legitimation, auch der subjektiven, nicht vorstellbar. Dies wird plausibel, wirft man noch einmal einen Blick auf Bedeutung und Funktion der Sprache in diesem Zusammenhang: Sprache ist Hauptinstrument der Legitimierung und letztlich für den Einzelnen in einer Sprachgemeinschaft nicht hintergehbar. Sprache präsentiert die objektive Wirklichkeit als Faktum, und Sprache bietet die Bausteine für subjektive biographische Narrationen. Auf diese Weise stattet Sprache auch Institutionen mit Logik aus. Die »Gesellschaftliche Konstruktion« versteht Legitimation als »›sekundäre‹ Objektivation von Sinn«84. Unterschieden werden vier Ebenen der Legitimation: sprachliche Objektivation von Erfahrung, grundlegende Interpretationsmuster (Lebensweisheiten, Märchen etc.), explizite Legitimationstheorien und symbolische Sinnwelten. Die symbolische Sinnwelt integriert unterschiedliche Sinnprovinzen, sie ist die Matrix einer Traditionsgemeinschaft und fungiert als Trägerin objektiven wie subjektiven Sinns. Im Blick zu behalten ist, dass Institutionen und symbolische Sinnwelten, jegliche »Stützkonzeptionen«85, auf Legitimation und Tradition lebendiger Menschen angewiesen sind. Jenseits dessen gibt es für sie keine Existenz.86 Dies gilt ebenfalls für jegliche Formen von Sub-Sinnwelten.

82 Ebd., 71. Im Original hervorgehoben. – Auf die Probleme der Tradierung, der Weitergabe der Tradition an folgende Generationen, sowie die Frage der Internalisierung der Wirklichkeit in der Auseinandersetzung mit dem signifikanten bzw. generalisierten (Mead) Anderen, der primären und sekundären Sozialisation, soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Angemerkt sei lediglich, dass Berger/Luckmann in einer Zusammenführung von Gehlens Institutionentheorie und der Sozialpsychologie Meads davon ausgehen, dass sich über die verschiedenen Prozesse der Sozialisation die Strukturen der Gesellschaft ins Bewusstsein quasi ›einschreiben‹: Handlungsnormen und -optionen werden zu einem großen Teil (unreflektiert) verinnerlicht. Vgl. dazu Berger, P. L./Luckmann, Th., ebd., 139 ff; ebenso: Dies., Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, 46. 83 Hier stellt sich erneut die Frage der Definitionsmacht; vgl. Kap. II.8.2.3. 84 Berger, P. L./Luckmann, Th., Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 98. 85 Ebd., 116. 86 Unbestritten ist, dass sich Systeme und Systemzwänge ›verselbständigen‹ können, so dass einzelne Individuen kaum Regulationsmöglichkeiten besitzen. Trotzdem bedürfen auch solche Systeme, wie etwa das Wirtschaftssystem, grundsätzlich der Zustimmung – und wenn auch nur von Seiten derer, die ›definitionsmächtig‹ sind.

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Intersubjektivität und Institutionalisierung

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8.3.2 Intermediäre Institutionen als Vermittlungsinstanzen Institutionen sind, wie dem vorigen Kapitel entnommen werden kann, Manifestationen objektiven Sinns, welche soziales Handeln von gesellschaftlicher Relevanz dauerhaft regulieren – und damit, zu einem beträchtlichen Anteil, normieren. Institutionen partizipieren so an einem Gefüge von Sinn- und Wertbezügen, welches sie durch ihr Vorhandensein mitbestimmen. Der Grad der Mitbestimmung bzw. der ›normativen Reichweite‹ unterscheidet nun Primär- und Sekundärinstitutionen (Arnold Gehlen): Während Primärinstitutionen gesellschaftsübergreifende Funktionen ausüben, lassen sich die Funktionen von Sekundärinstitutionen eher als beschränkt und spezialisiert beschreiben. Von Interesse unter den Sekundärinstitutionen sind hier diejenigen, die sich als ›inter­mediäre‹ (Émile Durkheim) darstellen. Die intermediären Institutionen gewährleisten (theoretisch) nicht nur eine Vermittlung der gesellschaftlich normierten Handlungsund Erfahrungsmuster an die einzelnen Subjekte, sondern ermöglichen ebenso eine Vermittlung der Erfahrungs- und Handlungsmuster der an einer Institution partizipierenden Subjekte in die Gesellschaft hinein. Berger/Luckmann messen dieser Form der Institution insofern eine besondere Aufmerksamkeit bei, als »die Person selbst zur Erstellung und Bearbeitung des gesellschaftlichen Sinnvorrats bei[trägt].«87 Der gesellschaftliche Sinnbestand wird auf diese Weise von den an intermediären Institutionen partizipierenden Subjekten nicht als etwas autoritativ Vorgegebenes erfahren, sondern als Angebot, welches mitgeprägt und umgeprägt werden kann. Zu dieser »Zwischenebene des sozialen Raums«88 werden nun von Berger/Luckmann auch die Kirchen gezählt. Die Kirchen stehen dabei als intermediäre Institutionen in einem Spannungsverhältnis zwischen Mitgliedschaftslogik, Einflusslogik und Ursprungs- bzw. Tradierungslogik.89 Bevor sie sich zu Sekundärinstitutionen umformte und ausdifferenzierte, manifestierte sich die (offizielle)  Religion als Primärinstitution: Ihre Objektivationen, Riten und Lehren bildeten einen symbolischen Baldachin, welcher die Lebenswelt der allermeisten Menschen der Gesellschaft integrieren konnte, die représentations collectives sorgten für ein conscience collective (Émile Durkheim).90 87 Berger, P. L./Luckmann, Th., Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, 59. Dass die intermediäre Vermittlung nicht immer in beide Richtungen funktioniert, hat eine das Projekt der Bertelsmann Stiftung »Geistige Orientierung« weiterführende Untersuchung zu Sinnvermittlung und moralischer Kommunikation in intermediären Institutionen ergeben: Neben Familie und ökologischen Gruppen als in ›beide Richtungen‹ funktionierende intermediäre Institutionen stellten sich Beratungseinrichtungen als nur einseitig operierend heraus. Vgl. auch: Luckmann, Th. (Hg.), Moral im Alltag, 219 ff. 88 Ebd., 15. 89 Gabriel, K., Modernisierung, 30 ff. 90 Vgl. Berger, P. L./Luckmann, Th., ebd., 60. Zu den Konsequenzen des Verlusts des einen integrierenden symbolischen Baldachins für die moderne Gesellschaft vgl. auch Soeffner, ­H.-G., Gesellschaft ohne Baldachin.

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Die sinnhafte Konstitution der alltäglichen Lebenswelt

Über die Integration der Wirklichkeitserfahrung der Menschen in einer ge­ meinsamen Wirklichkeitsdeutung war es möglich, eine übergreifende Moral zu etablieren, Wissen und Gewissen zu prägen. Dieser symbolische Baldachin löst sich unter den Vorzeichen von Modernisierung, Pluralisierung und der daraus folgenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft auf. Von allgemeingültiger Relevanz, sind nun die Primärinstitutionen, wie etwa Staat oder Wirtschaft, den Sekundärinstitutionen vorangestellt. Die Sekundärinstitutionen im religiösen Feld finden sich zudem in einer Konkurrenzsituation wieder, die sich durch das Faktum der Pluralisierung ergibt. Hier eröffnet sich eine ›neue‹ Form der Bedeutsamkeit von intermediären Institutionen  – also denjenigen Institutionen, die zwischen den gesellschaftlich legitimierten Handlungs- und Erfahrungsmustern und denjenigen der einzelnen Subjekte vermitteln – für die gesamtgesellschaftliche Aushandlung von Wirk­lichkeit. Die Primärinstitutionen können vor dem Hintergrund notwendiger Leistungserfordernisse eine Integration des einzelnen Subjekts mit dem Anspruch der Mitbestimmung nicht leisten. Insofern sind die intermediären Institutionen, unter ihnen die Kirchen, von Bedeutung, als sie eine aktive Partizipation des Einzelnen an der Aushandlung des gesamtgesellschaftlichen moralischen Kapitals wie die Teilnahme an der Reflexion von Handlungsmöglichkeiten und -maximen im öffentlichen Raum ermöglichen. Intermediären Institutionen kommt damit, sofern sie diese Integrationsleistung vollbringen, gesellschaftsstabilisierender Charakter zu.91 Diesen Integrationsanspruch besitzen die ›großen‹ Institutionen nicht, so dass die Definition eines geeigneten Raumes für die Erfüllung dieses Anspruchs gesellschaftlich notwendig ist: »Abgesehen von dem bereichsübergreifend generalisierbaren Aspekt seiner ›Zweck­ rationalität‹ ist er [der objektive Sinn der institutionalisierten Handlungsschemata; KM] also nicht einmal von einem Bereich auf den anderen übertragbar und läßt sich erst recht nicht in übergeordnete Sinnschemata einfügen. Der objektive Handlungssinn läßt sich von sich aus nicht in subjekt-bezogene und zugleich auf ein über­ geordnetes Wertesystem gerichtete und der gesamten Lebensführung Sinn verleihende Kate­gorien einordnen. Nur die religiösen und ›quasi‹-religiösen Institutionen vermitteln Sinnkategorien mit einem solchen Gesamtanspruch.«92

Die religiösen Institutionen93 unterstützen die Vermittlung zwischen subjektiven und kollektiven Erfahrungsschemata und Sinnbeständen. Intermediäre In 91 Mit Blick auf die Kirche schreiben Berger/Luckmann: »Für die Gesamtgesellschaft leistet die Kirche in diesem Fall einen wichtigen Beitrag. Sie stützt die Stabilität und Glaubwürdigkeit der ›großen‹ Institutionen (allen voran des Staates) und mildert die ›Entfremdung‹ des Individuums von der Gesellschaft.« (Berger, P. L./Luckmann, Th., ebd., 61.) 92 Ebd., 29. 93 Die Kirchen dienen hier nur als Beispiel für intermediäre Institutionen. Berger/Luck­ mann nennen weiterhin exemplarisch: ökologische Gruppen, Vereine, lokale Parteigruppen. (Vgl. ebd., 76.)

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Intersubjektivität und Institutionalisierung

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stitutionen erhalten (wie alle Institutionen) den Sinnbestand einer Gesellschaft, andererseits ermöglichen sie (in institutionalisierter Form) die Partizipation der Mitglieder einer Gesellschaft an der Aushandlung von Moral und Wirklichkeit. Sie verweben die Individuen in den gesellschaftlichen Diskurs. Damit bilden sie ein wesentliches zivilgesellschaftliches Element. Nachdem aus verschiedenen Perspektiven die Konstitution des Sozialen – in der Reflexion auf subjektive Bedingungen, gesellschaftlich konventionalisierte Prozesse und allgemein die Frage nach dem Aufbau von Sinn über symbolische Ordnungen – skizziert wurde, ist schließlich zu thematisieren, welcher Ort der Religion bzw. dem Religiösen im Zusammenhang des sinnhaften Aufbaus der alltäglichen Lebenswelt und der in der alltäglichen Lebenswelt stetig stattfindenden Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion zukommt.

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9. Religion und Transzendenzweite Auf Religion bzw. religiöse Erfahrungen geht Schütz nicht ausführlicher ein.1 Viel lässt sich freilich aus seiner Theorie der symbolischen Ordnungen sowie der Vorstellung der geschlossenen Sinnprovinzen ableiten. Schütz’ Unterscheidung der verschiedenen Transzendenzen hat Thomas Luckmann wieder aufgenommen. Dieses Kapitel versteht sich als Kompilation verschiedener Elemente, die nicht allein aus der Feder Alfred Schütz’ stammen, gleichwohl als gedank­ liche Weiterführung des zuvor Ausgeführten mit Blick auf die Frage nach der Religion zusammengeführt werden können. In diesem Sinne werden in einem ersten Kapitel das Modell der verschiedenen Transzendenzen vorgestellt sowie die Theorie geschlossener Sinnbereiche. Im darauf folgenden Kapitel wird in einem Exkurs auf das Thema der religiösen Erfahrung bei William James eingegangen: James wird von Schütz immer wieder im Zusammenhang der Theorie geschlossener Sinnbereiche herangezogen; explizit wird daran anschließend die Sinnprovinz der Religion thematisiert sowie der Frage der kommunikativen Konstitution symbolischer Ordnungen nachgegangen. In einem letzten Kapitel wird – im Sinne einer Phänomenologie der verschiedenen Manifestationen des Religiösen in der Gegenwart – der Versuch unternommen, verschiedene soziale Erscheinungsformen des Religiösen in den Blick zu nehmen: Zur Sprache kommen werden hier die individualisierte Religion, also die Verflüssigung der Religion ins Religiöse, religiöse Sozialformen in institutionalisierter Gestalt und die so genannte Zivilreligion. Diese Wahrnehmung der unterschiedlichen Manifestationen des Religiösen ist wichtig mit Blick auf die Frage, in welche Kommunikationszusammenhänge sich Kirche als Institution, in Gestalt ihrer Amtsträger und -trägerinnen, einbringen kann.

9.1 Der Alltag und seine Transzendenzen In den »Strukturen der Lebenswelt« wie in vorgängigen Schriften Alfred Schütz’ findet sich die Unterscheidung verschiedener Transzendenzen. Der Begriff der Transzendenz wird dabei auf den Charakter des Vollzugs bezogen: Er beschreibt das Phänomen der Überschreitung gültiger Vorstellungen und Erfahrungen. Damit wird die Denkfigur des Transzendierens an die Immanenz gebunden; sie wird anthropologisch fundiert. Wissen um die Transzendenz existiert nur in Relation zur Erfahrungswelt der alltäglichen Lebenswelt: »Das Wissen um die Grenzen des Lebens in der Welt stammt nicht aus einer Erfahrung irgendwelcher ›Transzendenz‹, noch stammt es eigentlich aus Erfahrungen

1 Vgl. Knoblauch, H., Metaphors, 84; 88.

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Religion und Transzendenzweite

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einer ›transzendierenden‹ Welt. […] Ferner ist festzustellen, daß Wissen um die ›Transzendenz‹ der Welt nicht im theoretischen Abstand zur ›Welt‹ gewonnen wird. Vielmehr gibt dieses aus dem täglichen Leben und aus den Erschütterungen des täglichen Lebens stammende Wissen zu theoretischen Überlegungen erst den ursprünglichen Anlaß.«2

Wie wird der Transzendenzbegriff bei Schütz und Luckmann näher gefasst? Wie kann das Verhältnis zwischen Religion – Religion als Sinnprovinz neben anderen Sinnprovinzen – und alltäglicher Lebenswelt beschrieben werden?

9.1.1 Die phänomenologischen Transzendenzen Im Gedanken der Appräsentationsleistung als Transzendenzerlebnis zeigt sich, dass Schütz Immanenz und Transzendenz als Einheit denkt, wenngleich als Einheit der Differenz. In dieser Bewusstseinsleistung ist es angelegt, dass der Mensch Phänomene ›mit vergegenwärtigen‹ kann, die im Hier und Jetzt nicht gegeben sind. Das ist die grundlegende Bestimmung der Transzendenz: die Überschreitung von etwas Anwesendem auf etwas (noch) nicht Anwesendes hin. Streng genommen kann man auch sagen: Jedes Anzeichen der Umwelt er­ fordert zur Interpretation eine Transzendierungsleistung. Die Transzendenz­ erfahrung ist so Konsequenz menschlicher Grenzerfahrung. Natur und Gesellschaft transzendieren die alltägliche Lebenswelt des Einzelnen durch das ihnen eigene ›Mehr‹, durch ihren Charakter als Rahmung des menschlichen Lebens­ zyklus’. Dabei ist den symbolischen Appräsentationen eigen, »beunruhigende Erscheinungen, die die Welt des Alltags transzendieren«3 – Dinge, die sich nicht aus sich selbst heraus erklären lassen – in Analogie zu Vertrautem zu setzen und so zu veranschaulichen. Der Funktion des Symbols ist es genuin, Transzendenzerfahrung ›offen‹ zu halten4, aber auch, Bedrohliches zu ›zähmen‹. Schütz und Luckmann unterscheiden zwischen ›kleinen‹, ›mittleren‹ und ›großen‹ Transzendenzen; diese Unterscheidung baut auf der Einsicht auf, dass Trans­ zendenzerfahrungen wesentlicher Bestandteil der menschlichen Alltagswelt sind.5 2 Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 590. Im Original hervorgehoben. 3 Schütz, A., Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft, 169. 4 Schütz definiert in »Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft«: »Ein Symbol kann in erster Annäherung als eine Appräsentationsverweisung höherer Ordnung definiert werden, in der das appräsentierende Glied des Paares ein Gegenstand, eine Gegebenheit oder ein Geschehnis innerhalb der Wirklichkeit unseres Alltags ist, während das appräsentierte Glied auf eine Idee hinweist, die unsere Alltagserfahrung transzendiert.« (Ebd.) 5 Schütz/Luckmann führen aus: »Niemand glaubt, er könne nach gestern zurückkehren, niemand springt über den Berg, niemand versucht, den Mond vom Himmel herunterzuholen. Wenn der Mensch versucht, in die Haut eines anderen zu schlüpfen, scheitert er. Und bei gegebenem Anlaß kommt jedermann einmal zum Schluß, daß auch er nicht dem Tod entrinnen können wird.« (Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 593.)

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Die sinnhafte Konstitution der alltäglichen Lebenswelt

Die Klassifizierung der Transzendenzen bezieht sich auf zu unterscheidende Erfahrungsschichten und fragt nach dem Woher des Wissens. Grundlegend ist einerseits, dass dem Wissen um die »›Transzendenz‹ der Welt«6 die Unterscheidung zwischen ich-bezogenen und ich-transzendenten Erfahrungen vorgeordnet ist.7 Darüber hinaus ist die Transzendenzerfahrung insofern im Grunde jeder Erfahrung mitgegeben, als sich jede Erfahrung in ihrem thematischen Feld, ihrem Horizont oder Kern quasi transzendieren muss, um überhaupt als Erfahrung manifest werden zu können – sie enthält Verweise etwa auf sedimentierte Vorerfahrungen oder Erfahrungselemente. Der gegenwärtige Erfahrungskern verweist so auf Nicht-Gegenwärtiges.8 Diese ›Mitgegebenheit‹ der Transzendenzerfahrung wird in der Regel in der natürlichen Einstellung nicht mitreflektiert. Sie bildet jedoch die unterste Ebene des Wissens um die »›Transzendenz‹ der Welt«. Die Unterscheidung zwischen ›kleinen‹, ›mittleren‹ und ›großen‹ Tran­ szendenzen erfolgt nun entlang eines ›Grenzüberschreitungspotentials‹: »Je nachdem, ob das in der gegenwärtigen Erfahrung angezeigte Nicht-Erfahrene grundsätzlich genau so erfahrbar ist wie das gegenwärtig Erfahrene oder  – obwohl selbst gegenwärtig – nur durch solche Anzeigen erfahrbar oder (in der gleichen Wirklichkeit) überhaupt nicht in persona erfahrbar ist, wollen wir von den ›kleinen‹, den ›mittleren‹ und den ›großen‹ Transzendenzen sprechen.«9

Die ›kleinen‹ Transzendenzen sind nun dadurch charakterisiert, dass man auf sie im Laufe der alltäglichen Routinen trifft: Sie fallen nicht auf, solange die Dinge nach Plan laufen, sie stellen keine großen Hindernisse dar, solange Er­ innerung, Handlungsentwurf und Schlussfähigkeit keine Probleme sind. Die ›kleinen‹ Transzendenzen manifestieren sich darin, dass etwas außerhalb der Reichweite ist. Typ-Zuordnung und Wiedererkenntnis verknüpfen die gegenwärtige mit einer vergangenen Erfahrung, die gegenwärtige Erfahrung verweist auf eine zukünftige voraus, da sich immer ein Handlungsplan zur Wiedererlangung der Reichweite anschließt.10 Mit den ›mittleren‹ Transzendenzen verhält es sich etwas anders. Sie nehmen in der intersubjektiven Verfasstheit der Lebenswelt in Form von Mitmenschen, 6 Ebd., 594. 7 Vgl. Kap. II.6.2.2. 8 Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 595. 9 Ebd., 596 f. 10 Man sucht beispielsweise in einem Geschäft in der Hosentasche nach dem Einkaufzettel, findet ihn, ist allerdings irritiert, weil in jener Hosentasche im Grunde das Porte­monnaie sein sollte (erinnerte Erfahrung). Man wird sich schließlich darüber im Klaren, dass man das Portemonnaie zu Hause auf dem Küchentisch hat liegen lassen (Gegenstand außer Reichweite). Eine solche Situation ist zwar meistens ärgerlich, jedoch unkompliziert zu handhaben: Sofern man sich an den Heimweg erinnern kann und gut zu Fuß ist, wird man den Schluss fassen umzudrehen, das Portemonnaie zu holen und so Reichweiten zu verändern (Handlungsplan).

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Zeitgenossen und Generationen Gestalt an, folgt man den Ausführungen in den »Strukturen der Lebenswelt«.11 Kennzeichnend für die ›mittleren‹ Transzendenzen ist es, dass der Mensch, hat er es mit ihnen zu tun, die erfahrene Grenze nicht überschreiten kann – obwohl ihm das Gebiet jenseits der Grenze nicht gänzlich unbekannt ist. Im Gegensatz zu dem Begriff der ›kleinen‹ Transzendenzen weist der Begriff der ›mittleren‹ Transzendenzen darauf hin, dass das, worauf sich das Erlebnis der Transzendenz bezieht, nicht unmittelbar erfahren werden kann. Die Wechselseitigkeit der Perspektiven ist eben doch nur eine ›Arbeitshypothese‹. Das Innenleben des – als Typus identifizierten und als solchen wieder erkannten – Mitmenschen bleibt für die eigene unmittelbare Erfahrung verschlossen; dass dem Außen ein Innen entspricht, wird über eine angenommene Äquivalenz zur eigenen Selbsterfahrung geschlossen – darüber hinaus kann sich die Andere mir nur (an-)zeichenhaft mitteilen. Dies impliziert ein grundsätzliches hermeneutisches Problem in der intersubjektiven Begegnung, wovon bereits ausführlich die Rede war.12 Begibt sich Alter nun in einen Bereich außerhalb erlangbarer Reichweite, wird er zum Zeitgenossen; er verweist zusätzlich auf die absolute Begrenztheit mit Blick auf das räumlich gebundene Erkenntnisvermögen von Ego. Allerdings zeichnet sich die Beziehung zu Zeitgenossen immer noch durch einen beträchtlichen Teil gemeinsamer, je unmittelbarer Erfahrungen aus, welche den mit mir befreundeten Zeitgenossen vom anonymen Typus unterscheiden. Je anonymer der Typus wird, desto weiter ist er von der Erfahrungswelt von Ego entfernt. Begegnungen der Generationen hingegen transzendieren auf andere Weise den eigenen Erfahrungsschatz: Ältere Menschen etwa stellen eine Verbindung zur eigenen Vergangenheit her, die selbst nicht mehr unmittelbar erlebt werden kann; ihr angeeigneter Wissensvorrat kann, zumindest in vielen Situationen, nachfolgenden Menschen helfen, Phänomene zu interpretieren. Anhand des Wissens um Vorfahren, aber auch um Nachfahren, um ältere und jüngere Menschen, wird die zeitliche Begrenzung des eigenen Lebens deutlich. Mit diesem Komplex ist bereits die Frage nach den ›großen‹ Transzendenzen berührt. Schütz differenziert die Ebene der ›mittleren‹ Transzendenzen in drei Transzendenzen; diese Differenzierung ist so nicht mehr in den »Strukturen der Lebenswelt« vorhanden. Er unterscheidet für die ›mittleren‹ Transzendenzen die Welt der Anderen, Wir-Beziehungen und soziale Kollektive bzw. institutionalisierte Beziehungen.13 Schütz beschreibt die Ebene der Welt der Anderen im Wesentlichen so wie es die »Strukturen der Lebenswelt« unternehmen. Ein­deutig ordnet er diese Beziehung, die sich durch räumlich-zeitliche und analogische Appräsentationsverweisungen interpretiert, der Wirklichkeit des Alltags zu  – 11 Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 602 ff. 12 Vgl. etwa Kap. II.6.2.1. 13 Vgl. Schütz, A., Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft, 154 ff; s. auch die Ausführungen in den Notizbüchern: Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt (II/1984), 318 ff.

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Schütz charakterisiert diesen Transzendenzbezug zwischen Ego und Alter als »immanente Transzendenz«14. Hingegen transzendiert die Wir-Beziehung als zweite der mittleren Transzendenzen die Wirklichkeit des Alltags und ist nur symbolisch fassbar: Eine Freundschaft geht nicht in einer konkreten Situation der Alltagswirklichkeit auf. Die gemeinsame Situation ist vielmehr appräsentierendes Element mit Bezug auf etwas, etwa die Idee der Partnerschaft als umfänglichsten Begriff für die appräsentierte Wir-Beziehung. Die Wir-Beziehung gehört also einer anderen Sinnprovinz als der der ausgezeichneten Wirklichkeit des Alltags an.15 Das Soziale bildet also in dieser Vorstellung eigene Sinnprovinzen aus. In ähnlicher Weise ist wohl die Rede von der dritten Transzendenz zu verstehen: Auch die Formen kollektiver Gebilde und institutionalisierter Beziehungen gehören einer von der Alltagswelt verschiedenen Sinnprovinz an (Schütz verweist hier auf eine mögliche Analogie zum Subuniversum idealer Beziehungen bei William James) und finden sich nur in symbolischer Form in der Lebenswelt des Alltags wieder. Institutionalisierte Beziehungen sind für Schütz »gedankliche Konstruktionen des Alltagsverstands, deren Wirklichkeit in einem anderen Sinnuniversum liegt«16. In der Differenzierung der drei Transzendenzen innerhalb der ›mittleren‹ zeigt sich, dass Schütz allem, was über die konkrete soziale Situation hinaus geht, eine andere Verortung als der in der Wirkwelt des Alltags zuweist (wenngleich die in den symbolischen Appräsentationen enthal­ tenen Wirklichkeitsebenen bei Schütz innerweltlich gedacht sind). Die ›großen‹ Transzendenzen verweisen auf einen Erfahrungsraum jenseits der alltäglichen Lebenswelt – die ›großen‹ Transzendenzen besitzen in der Regel ›Stellvertreter‹ (Symbole, Ikonen etc.). Den allermeisten ›großen‹ Transzendenzen ist gemein, dass die Alltagswelt mit ihrer spezifischen Bewusstseinsspannung bewusst verlassen wird. Schütz/Luckmann nennen hier exemplarisch Schlaf, Tagtraum, Ekstasen, die theoretische Einstellung.17 Aus dem Bereich der geschlossenen Sinnprovinzen jenseits der Wirkwelt des Alltags können Erinnerungen an Erfahrungen in der Lebenswelt des Alltags platziert werden: Dies geschieht durch Sprache und Symbole im weiter gefassten Sinne.18 Die verschiedenen Sinnprovinzen oder Wirklichkeiten bilden so etwas wie ›kulturelle 14 Schütz, A., ebd., 193. 15 Vgl. Schütz, A., ebd.; Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 321. 16 Schütz, A., ebd., 193. 17 Vgl. dazu auch: Schütz, A., Das Problem der Personalität in der Sozialwelt, 147 ff. 18 Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 622 f.  – Krisen und Tod sind dabei Transzendenzen eigener Qualität, da sie  – bei Krisen je nach Bedrohlichkeit  – das bestehende Relevanzsystem der alltäglichen Lebenswelt erheblich durcheinander bringen können. Dabei vermittelt sich der Tod als letzte Grenze nur über abgeleitetes Wissen, über die Beobachtung des eigenen Alterns und das Miterleben des Sterbens anderer: Vom Tod kann insofern nur fälschlicher Weise als Transzendenzerfahrung gesprochen werden. (Vgl. ebd., 625.)

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Lebenswelten‹ aus, welche durch Systeme appräsentativer Sinnbeziehungen aufeinander bezogen sind. In der Interpretation des Spätwerks Schütz’ wird diese Vorstellung mit dem Begriff des Kosmions belegt.19 Was hat es nun mit den Bereichen geschlossener Sinnstruktur näherhin auf sich?

9.1.2 Bereiche geschlossener Sinnstruktur 1945 erscheint in erster Fassung Schütz’ Artikel »On Multiple Realities« (in der deutschen Übersetzung: »Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten«).20 Schütz setzt sich intensiv mit dem bereits von William James thematisierten Problem der verschiedenen Wirklichkeiten auseinander. In einem Brief an Aron ­Gurwitsch schreibt Schütz dazu: »Sein [des Textes; KM] Inhalt wird eine Analyse des Problems der Vielfachen Wirklichkeiten sein, das James sehr deutlich gesehen, aber meiner Meinung nach nicht genügend analysiert hat.«21 James expliziert in seinem Werk »The Principles of Psychology«, dass der Ursprung aller Wirklichkeit insofern subjektiv ist, als sich eben jene durch das Bezogensein des menschlichen Bewusstseins auf etwas – emotional, kognitiv, religiös, ästhetisch  – konstituiert. Etwas kommt dann Wirklichkeit zu, wenn es ins Bewusstsein dringt bzw. zu einem Objekt des Bewusstseinsinteresses wird: »Each world whilst it is attended to is real after its own fashion; only the reality lapses with the attention.«22 Dabei ist die Annahme, dass etwas wirklich ist, vorwiegend emotional begründet: Sie ist belief, »doxisches Vertrauen«23 im Sinne einer vorreflexiven Sicherheit. Innerhalb der Urdoxa als Basis des Vertrauens an die vorgegebene Welt24 zeigen sich die Wirklichkeitsgrade von etwas für den Einzelnen im Grad der Zustimmung (acquiescence; consent) zu etwas. ­Johannes Linschoten, dessen Anliegen es ist, James mit Husserl ins Gespräch zu bringen 19 Vgl. Srubar, I., Kosmion, 9; 251 f. 20 Dieser Schrift widmete Schütz viel Aufmerksamkeit, obgleich es schon eine Vorlage in dem Manuskript »Das Problem der Personalität in der Sozialwelt« von 1936/37 findet. Schütz schreibt in einem Brief an Aron Gurwitsch, er habe »an diesen Aufsatz sieben (magere) Jahre hingegeben.« (Zit. aus dem editorischen Bericht zu den »Mannigfaltigen Wirklichkeiten« in: ASW V.1, 178). – »Das Problem der Personalität in der Sozialwelt« verfasste Schütz noch vor seiner Emigration in die USA; das Manuskript ist erstmals in ASW V.1 abgedruckt: »Das Problem der Personalität in der Sozialwelt«, in: ASW V.1, 33–90; s. auch: »Das Problem der Personalität in der Sozialwelt. Bruchstücke«, in: ASW V.1, 91–176. Die »Mannigfaltigen Wirklichkeiten« sollten eine Neufassung für die amerikanische Leserschaft sein (editorischer Bericht zu den Mannigfaltigen Wirklichkeiten in: ASW V.1, 177). 21 Zit. aus dem editorischen Bericht zu den Mannigfaltigen Wirklichkeiten in: ASW V.1, 177. – Vgl. zur Auseinandersetzung Schütz’ mit James auch: Schütz, A., William James’ Begriff. 22 James, W., The Principles of Psychology, 293. Im Original hervorgehoben. 23 Linschoten, J., Auf dem Wege, 156. 24 Vgl. Husserl, E., Erfahrung und Urteil, 25; vgl. ders., Krisis, 105 ff.

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bzw. aufzuzeigen, dass die James’sche Psychologie eine in wesentlichen Zügen phänomenologische ist, kommt zu dem Schluss: »Für ihn [James; KM] ist Wirklichkeitserlebnis, wie für Husserl, eine Grunderscheinung des Erlebens, das nicht auf eine noch fundamentalere Struktur zurückgeführt werden kann.«25 James unterscheidet nun mit Blick auf die Wirklichkeit verschiedene Subuniversa (sub-universes): »(1) The world of sense, or of physical ›things‹ as we instinctively apprehend them […]. (2) The world of sience, or of physical things as the learned conceive them […]. (3) The world of ideal relations, or abstract truths believed or believable by all, and expressed in logical, mathematical, metaphysical, ethical or aestetic propositions. (4) The world of ›idols of the tribe‹, illusions or prejudices […]. (5) The various supernatural worlds […]. (6) The various worlds of individual opinion, as numerous as men are. (7) The worlds of sheer madness and vagary, also indefinitely numerous.«26

Relevant für Schütz ist an den James’schen Überlegungen die Einsicht, dass einerseits verschiedene Wirklichkeitsordnungen nebeneinander ›existieren‹, und dass die Einschätzung von real oder irreal von der Wahl des kognitiven Stils abhängt. Mit der Wahl des kognitiven Stils ist eine Wirklichkeitsordnung näher als die andere, sie erscheint (zumindest in einem jeweiligen Moment) realer, von diesem Standpunkt aus wird der Wirklichkeitsgrad der anderen Welten beurteilt. Jede Wirklichkeitsordnung besitzt so jeweils ihren spezifischen Seinsstil mit kompatiblen und kongruenten Erfahrungen, die dem gleichen kognitiven Stil angehören. Schütz zieht nun dem Terminus ›Subuniversa‹ die Bezeichnung »geschlossene Sinnprovinzen«27 vor: Denn, so Schütz, Wirklichkeit bildet sich nicht aufgrund der ontologischen Struktur der Objekte heraus, sondern vielmehr durch den Sinn der Erfahrungen. Eine geschlossene Sinnprovinz 25 Linschoten, J., ebd., 159. Im Original hervorgehoben. – Interessant ist in diesem Zusammenhang weiterhin, dass Linschoten auch für James  – über den Konnex von leiblicher Verfasstheit des Menschen und dem Gedanken der Urdoxa als Wahrnehmungswirklichkeit – den Gedanken der Lebenswelt als Horizont bzw. Hintergrund aller anderen existierender Welten plausibilisieren kann. Vgl. ebd., 164 ff. 26 James, W., ebd., 292 f. In der Übersetzung des niederländischen Textes von Linschoten ins Deutsche heißt es: »1. Die sinnliche, normale Alltagswelt […]. 2. Die Welt der Natur­ wissenschaft. 3.  […] ideale[r] Relationen und abstrakte[r] Wahrheiten, zum Ausdruck gebracht in logischen, mathematischen, metaphysischen, ethischen und ästhetischen Urteilen. 4.  Die Welt der Gruppenidole, der Meinungen und Vorurteile […]. 5.  Übernatürliche Welten […]. 6. Die Welten der persönlichen Auffassungen, von denen es ebenso viele gibt, wie da Menschen sind. 7.  Die Welten des Wahnsinns und der Geisteskrankheit, unzählbar viele.« (Linschoten, J., ebd., 161 f.) James erhebt hier nicht den Anspruch auf Vollständigkeit in der Aufzählung. 27 Schütz, A., Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, 206; vgl. auch: Schütz, A./Luck­ mann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 54 ff.

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­definiert sich also über einen spezifischen kognitiven Stil.28 Schütz exempli­ fiziert nun das, was unter einem spezifischen kognitiven Stil gemeint ist, anhand der Welt des Alltagslebens. Charakteristisch für den kognitiven Stil der Lebenswelt des Alltags ist: »(1) [E]ine spezifische Bewusstseinsspannung, nämlich das Hellwachsein, das in der völligen Aufmerksamkeit auf das Leben gründet; (2) eine spezifische Epoché, nämlich das Ausklammern des Zweifels; (3) eine vorherrschende Form der Spontaneität, nämlich die des Wirkens (eine sinnhafte Spontaneität, die auf einem Entwurf gründet und durch die Absicht gekennzeichnet ist, die entworfenen Zustände mittels auf die Außenwelt sich richtender Körperbewegungen herbeizuführen); (4) eine spezifische Form der Erfahrung des Selbst (das wirkende Selbst als das totale Selbst); (5) eine spezifische Form der Sozialität (die gemeinsame intersubjektive Welt der Kommunikation und des sozialen Handelns); (6) eine spezifische Zeitperspektive (die Standardzeit, die in einem Schnittpunkt von durée und kosmischer Zeit als die universale zeitliche Struktur der intersubjektiven Welt ihren Ursprung hat).«29 28 Es scheint, als lägen Schütz und James nicht weit auseinander – der Verweis auf die vermeintliche Ontologisierung der Wirklichkeitsordnungen bei James im Gegensatz zur Kon­ stituierung von Sinnprovinzen schlicht durch ›Erfahrungssinn‹ bei Schütz ist nicht unpro­ blematisch. James kennt die Fähigkeit der Sprache zur Ontologisierung. Hanke schreibt etwa in seiner Schütz-Einführung über die geschlossenen Sinnprovinzen im Unterschied zu den Wirklichkeitsordnungen bei James: »›Geschlossene Sinnbereiche‹ sind daher keine ontologischen Größen, die außerhalb des sie hervorbringenden Bewußtseins und voneinander getrennt existieren, sondern Titel für, so die von Bergsons Erlebnisphilosophie geprägte Einsicht, verschiedene Spannungen des Bewußtseins, über die sich die Erlebnisse konstituieren.« (Hanke, M., Alfred Schütz, 50.) – Hingegen lautet die Lesart Linschotens bezüglich der Objekte des Denkens resp. des Bewusstseins bei James – unter Verweis auf Uneindeutigkeiten der James’schen Ausführungen mit Blick auf zwei Problemkreise: »An zweiter Stelle spricht James von Objekten, die unabhängig vom Bewußtsein bzw. Denken zu sein scheinen. Wenn wir nun etwas vorauseilen und verfolgen, was James im weiteren behandelt, dann sehen wir, daß er das Ding für eine Realität hält, für etwas, was von vielen Personen auf dieselbe Art und Weise wahrgenommen wird und darin seine Unabhängigkeit vom Wahrnehmenden demonstriert. Die These scheint somit zu besagen, daß unser Bewußtsein oder Denken auf Dinge bezogen ist, die unabhängig vom Denken schon da sind. Aber wenn James zu dem Abschnitt vorrückt, der für ihn die Essenz des Paragraphen [»The Stream of Thought«; KM] darstellt, dann spricht er über etwas völlig anderes, nämlich über das Objekt des Bewußtseins (bzw. des Denkens); d. h.: über dasjenige, was gedacht wird. Und wir werden sehen, daß das keineswegs eine Dingstruktur hat, auch nicht nach James. Somit wissen wir also nicht, was James mit seinen ›objects‹ genau meinte. Denn wenn auch die Dinge als etwas Unabhängiges erscheinen, so ist das Objekt des Denkens ganz gewiß nicht unabhängig vom Denken selbst.« (Linschoten, J., ebd., 132 f. Im Orginal hervorgehoben.) – Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass James bereits im Wesentlichen das gemeint hat, was Schütz später mit dem Terminus »geschlossene Sinnprovinz« bezeichnete. Diese Lesart findet sich in den Texten Schütz’ bestätigt. 29 Schütz, A., ebd., 207. Im Original hervorgehoben.

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Charakteristisch für die »ausgezeichnete Wirklichkeit des Alltagslebens«30 ist, dass ihr als einziger Sinnprovinz der Wirklichkeitsakzent des Wirkens zukommt. Dieser Wirkwelt des Alltags steht der Mensch in der Regel pragmatisch gesinnt gegenüber. Die Geschlossenheit der Sinnprovinzen hat, nach Schütz, zur Folge, dass keine der Sinnprovinzen ohne weiteres in eine andere transformiert werden könnte: Vielmehr findet der Wechsel in Form eines Sprungs statt (im Sinne des Kierkegaard’schen Schocks). Mit dem Wechsel verändert sich einerseits die Bewusstseinsspannung  – denn jeder Sinnprovinz ist eine spezifische Bewusstseinsspannung eigen (vgl. etwa den Zustand des Hellwachseins und den Zustand des Phantasierens) – sowie andererseits Epoché, Sozialität, Spontaneität, Selbsterfahrung und Zeitperspektive. Wechsel der Sinnprovinz bedeutet also Wechsel des Erlebnisstils. Schütz bezeichnet die Wirkwelt des Alltags als »Archetyp unserer Erfahrungen der Wirklichkeit«31, von dem alle anderen Sinnprovinzen als abgeleitet angesehen werden können. Einschränkend betont er, dass die Zuordnung der Sinnprovinzen zueinander nicht in einem statischen Sinne aufzufassen ist: Zum einen finden im Laufe eines Tages regelmäßig Wechsel in der Bewusstseinsspannung statt, zum anderen existieren »Enklaven«, ›Überschneidungsräume‹ verschiedener kognitiver Stile.32 30 Ebd. 31 Ebd., 209. 32 Schütz widmet sich diesem Thema im Rahmen der »Mannigfaltigen Wirklichkeiten« nur in einer Fußnote; vgl. ebd., Fußnote 20. In seinem Aufsatz »Don Quijote und das Problem der Realität« (Typoskript von 1953) geht Schütz nochmals darauf ein: Die Erfahrungsenklaven der verschiedenen Sinnprovinzen transzendieren eine jeweilige Sinnprovinz durch ihr gleichzeitiges Bezogensein auf eine andere Sinnprovinz. Die Erfahrungsenklaven ermöglichen so die – zumindest partielle – gleichzeitige Teilnahme an verschiedenen Sinnprovinzen. Bei Don Quijote sind dies die Wirkwelt des Alltags und die Welt des Phantasierens. Vgl. Schütz, A., Don Quijote und das Problem der Realität, 291. – Schütz thematisiert in seiner Beschreibung einzelner geschlossener Sinnprovinzen leider nicht die der religiösen Erfahrung. Als Beispiele neben dem geschlossenen Sinnbereich der Wirkwelt des Alltags dienen ihm vielmehr die Bereiche der wissenschaftlichen Theorie, der Traumwelt und der Phantasiewelten. Auf letztere soll hier kurz exemplarisch eingegangen werden. – Die Phantasiewelten sind nicht auf eine einzige Sinnprovinz zu beschränken, da ihre Gestalten vielfältig sind: In den »Strukturen der Lebenswelt« werden zur Plausibilisierung genannt: die in sich geschlossenen Sinnprovinzen des Witzes, des Spiels, des Märchens, der Dichtung, des Tagtraums. (Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 61.) – Allerdings kommen all jenen Welten Gemeinsamkeiten im Erlebnis- bzw. Erkenntnisstil zu, als da wären: a) vor allem die Absenz des pragmatischen Motivs, welches die Lebenswelt des Alltags bestimmt. Darüber hinaus ist die Standardzeit quasi ausgehebelt, das Subjekt unterliegt nicht mehr den Bedingungen der konkreten Leiblichkeit, es ist auch nicht mehr nur auf sich selbst zurück geworfen hinsichtlich eigener Erinnerung, eigenen Wissens und eigener Wahrnehmung; b) eine größtmögliche Spontaneität; c) die Zeitlosigkeit im Hinblick auf die kosmische Zeit: Phantasmen haben hier keine feste Zeitstelle – obgleich sie natürlich an die innere Dauer gebunden sind; d) eine gewisse Spannbreite an sozialen Möglichkeiten: Der Tagtraum etwa hat eine andere soziale Struktur als das gemeinschaftliche Spiel bei Kindern. (Vgl. Schütz, A./Luckmann, Th., ebd., 61 ff.)

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Wesentlich an der Theorie der geschlossenen Sinnprovinzen ist, dass die­ jenige real ist, der subjektiv der Wirklichkeitsakzent zugesprochen wird. Die Beurteilung aller anderen Sinnprovinzen hinsichtlich ihres Realitätsgrades erfolgt relativ zur Entfernung von der jeweils aktuell realen Sinnprovinz. Die Tatsache, dass die meisten Menschen, jenseits der Phase des Schlafs (und damit des Träumens), der Wirkwelt des Alltags den Wirklichkeitsakzent zurechnen, lässt Schütz die Beschreibung der Lebenswelt des Alltags als »ausgezeichnete Wirklichkeit« vornehmen. Erst die (leibliche)  Verhaftung in der Lebenswelt des Alltags ermöglicht Kommunikation und konkrete Intersubjektivität. Die Wirkwelt des Alltags ist hinsichtlich der Kommunikationspotentiale nicht hermetisch abgeriegelt, sondern prinzipiell durchlässig für Erlebnisse in oder mit anderen Sinnprovinzen: Intersubjektivität ist in ›Überschneidungsräumen‹ (»diskursive[n] Subunivers[en]«33) möglich. Die Semiotik bildet hier den kommunikativen Zusammenhang der unterschiedlichen Sinnprovinzen; sie ist die »Klammer der Lebenswelt«34. Die Probleme, die sich für die intersubjektive Kommunikation bei zwar physisch gemeinsam geteilter Wirkwelt, allerdings unterschiedlich verteilten Wirklichkeitsakzenten auf verschiedene Sinnprovinzen ergeben, exemplifiziert Schütz auf sehr kurzweilige Art in seinem Aufsatz »Don Quijote und das Problem der Realität«.35

9.2 Die kommunikative Qualifizierung religiöser Erfahrung Die Ausführungen zu den phänomenologischen Transzendenzen wie zu den Bereichen geschlossener Sinnstruktur lassen danach fragen, unter welcher Bedingung überhaupt Erfahrungen als religiös qualifiziert werden können. Zunächst wird im Rahmen eines Exkurses der Idee der transzendenzoffenen Disposition des Menschen bei William James nachgegangen. Es schließen sich Reflexionen zur Sinnprovinz der Religion an wie zur Frage der kommunikativen Konstitution symbolischer Ordnungen.

33 Schütz, A., ebd., 297. Zu denken ist hier auch an gemeinsam inszenierte Rollenspiele, wie etwa die beiden, im deutschsprachigen Raum sehr populären Fantasy-Rollenspiele ›­Midgard‹ und ›Das Schwarze Auge‹, welche auch Scharen von Erwachsenen in ihren Bann gezogen haben. 34 Endreß, M./Srubar, I., Einleitung, 24. 35 Als ›Vorgabe‹ formuliert Schütz: »Die These, die wir unterbreiten wollen, lautet, daß sich Cervantes’ Roman systematisch mit genau dem von William James dargelegten Problem der mannigfaltigen Wirklichkeiten befaßt und daß die verschiedenen Phasen von Don ­Quijotes Abenteuern sorgfältig ausgearbeitete Variationen des Hauptthemas sind, nämlich der Frage, wie wir Realität erfahren.« (Schütz, A., ebd., 290.)

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Exkurs: Die transzendenzoffene Disposition des Menschen (William James) William James legte sein religionspsychologisches Hauptwerk »Die Vielfalt religiöser Erfahrung« 1902 vor.36 Darin geht es ihm um die Explikation und Untersuchung der religiösen Erfahrung als Phänomen. James kommt zu dem Ergebnis, dass sich die religiöse Erfahrung nicht wesentlich von anderen Erfahrungen unterscheidet; lediglich richtet sie sich in spezifischer Weise auf religiöse Inhalte. Darin besteht der einzige Unterschied.37 Wie kommt James nun zu ­diesem Ergebnis, und welchen Weg schlägt er mit »D[er] Vielfalt religiöser Erfahrung« ein? James unterscheidet zunächst zwischen Existenzurteil und Werturteil: Während das Existenzurteil die Frage formuliert, was die Natur eines Gegenstandes, wie er zustande gekommen ist etc., ist das Werturteil eben mit der Frage nach der Wertigkeit von etwas beschäftigt. Keines der beiden Urteile kann aus dem anderen abgeleitet werden, eine Vermischung von Seins- und Werturteil ist abzu­ lehnen. Infolge dessen wird in der »Vielfalt religiöser Erfahrung« eine Phänomenologie religiöser Erfahrung geliefert, die sich allein durch die Tatsache der bloßen Existenz der Phänomene legitimiert.38 James untersucht vorwiegend Dokumente von Persönlichkeiten, die auf religiösem Gebiet von sich reden gemacht haben, versetzt mit Beispielen aus der Praxis von mit ihm bekannten Forschern – 36 Grundlage der »Vielfalt religiöser Erfahrung« sind die »Gifford Lectures«, die James in den Jahren 1901 und 1902 – über zwei Semester hinweg – in Edinburgh gehalten hat. Die Vorlesungsmanuskripte wurden noch 1902 unter dem Titel »The Varieties of Religious Ex­ perience. A Study in Human Nature« veröffentlicht und mussten im selben Jahr sechsmal aufgelegt werden. 37 In dieser Folge war etwa der Zweig der Religionssoziologie, welcher unter Verwendung eines substantialen Religionsbegriffs arbeitete, sehr interessiert daran, jenen Inhalten des Religiösen näher zu kommen. (Vgl. Knoblauch, H., Religionssoziologie, 191.) 38 Es ist einiges zur Kritik an der James’schen Methodik gesagt worden. Die Kritik richtet sich etwa gegen die Auswahl vornehmlich außerordentlicher religiöser Erfahrungen, die Ausklammerung institutionaler und historischer Faktoren, die Überbetonung des Gefühls im Konzept, die Zusammenführung mit psychopathologischen Gegebenheiten oder die Konzentration auf christliche Zeugnisse religiöser Erfahrung. (Vgl. dazu u. a.: Wulff, D. M., Psychology of Religion, 499 ff; Henning, C., William James, 175 ff.) Am schwersten wiegt sicherlich der Einwand, dass James die Interdependenz zwischen der religiösen Erfahrung an sich und ihrem sozial konstruierten Charakter nicht ausreichend bedenkt. (Vgl. Taylor, Ch., Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, 30 f. Taylor thematisiert hier das notwendige Verwiesensein des Gefühls auf sprachliche bzw. symbolische Äußerung, damit eine Erfahrung zustande kommt: »Eine Erfahrung kann überhaupt keinen Inhalt haben wenn man nicht irgend etwas über sie sagen kann.« [Ebd., 30.]) Bei aller Kritik, zumindest hinsichtlich der Methode, sollte man nicht vergessen, dass James, wohlgemerkt als einer der Pioniere der Religions­ psychologie, zu einer Zeit seine religionspsychologischen Untersuchungen durchführte, als noch keine Standards für empirische Forschung existierten und Vieles – man vergleiche hier auch nur die (Selbst-) Studien Freuds – auf Selbstexploration fußen musste.

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etwa von Edwin D. Starbuck, Henry W. Rankin und Theodore Flournoy. Zudem nutzt er die Methode der Selbstexploration. James gehört zu den religionspsychologischen Empirikern der ersten Stunde. Er zieht als Methode der Erkenntnisgewinnung die Induktion der Deduktion vor. Vor allem Beispiele außergewöhnlicher religiöser Erfahrungen – subsumiert unter Kapitelüberschriften wie »Bekehrung«, »Heiligkeit« und »Mystik« – dienen ihm zum Aufweis eines Allgemeinen, welches jeglicher religiöser Erfahrung inhärent ist. Er geht, mit Blick auf die (subjektive) Ausgestaltung der ›religiösen Haltung‹, davon aus, dass ein Zusammenhang zwischen der seelischen Konstitution und der ›Wahl‹ religiöser Ausformung besteht. So kann er zwei religiöse Typen beschreiben: die einmal Geborenen (verhandelt unter der Kapitelüberschrift »Die Religion des gesunden Geistes«), welche ein harmonisches Verhältnis zu ihrer Umwelt haben und ihrem Leben gegenüber optimistisch eingestellt sind, und die zweimal Geborenen (verhandelt unter der Kapitelüberschrift »Die kranke Seele«), welche eine lange Zeit des Pessimismus und der Hoffnungslosigkeit, also des gefühlten Leids, durchschreiten müssen, um erst in einem zweiten Schritt in einer Art Vereinigungsprozess in eine Sphäre der Ruhe und der existentiellen Befriedung eintreten zu können. Diese Befriedung bezieht sich auf das Verhältnis des Selbst zu seiner Umwelt bzw. auf die Art der Selbstreflexion: Es geht um ein Verortet-Sein in der Welt, welches nicht mit einer Kritiklosigkeit an bestehenden sozialen oder gesellschaftlichen Verhältnissen gleichzusetzen ist.39 Die Erfahrung der zweimal Geborenen trägt den Charakter der Erlösung. James definiert Religion nun als »[…] die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, daß sie in einer Beziehung zum Göttlichen stehen.«40

Und vorher im Text heißt es: »[…] die Haltung eines Menschen gegenüber dem, was er als höchste Wahrheit empfindet, könnte man entsprechend als seine Religion identifizieren. […] Religion ist, was immer sie noch sein mag, die Gesamtreaktion des Menschen auf sein Leben.«41

Es geht vor allem um das intentionale Bezogensein des Menschen auf etwas, das er – durchaus subjektiv, James spricht, in Abgrenzung zur institutionalisierten Religion von der »persönlichen Religion«42 – in dem Sinne als wirklich erachtet, dass dieses Etwas Gestalt gebend auf sein Leben Einfluss hat: »Gott ist wirklich, weil er etwas Wirkliches hervorbringt.«43 Die Reziprozität in der Beziehung 39 Es liegt nahe, dass James die religiöse Erfahrung der zweimal Geborenen als die tiefer gehende, bedeutsamere ansieht. – Vgl. Taylor, Ch., ebd., 36. 40 James, W., Die Vielfalt religiöser Erfahrung, 63 f. Im Original hervorgehoben. 41 Ebd., 67. 42 Ebd., 62. 43 Ebd., 493.

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zwischen dem Subjekt und dem, worauf es sich letztinstanzlich bezieht, hat alltagspraktische und identitätsstiftende Wirkung, etwa mit Blick auf Haltung und Selbstbild. Anders formuliert: Moralische, praktische und emotionale Haltungen lassen sich auf Objekte des Bewusstseins zurückführen, welche wiederum Reaktionen auf Gegenstände des Denkens oder der Sinne hervorrufen. Für die religiöse Erfahrung lässt sich die Erfahrung eines »Mehr«44 als grundlegend beschreiben: Dieses »Mehr«, so sagt James, steht im Zusammenhang mit der unterbewussten (nicht zu verwechseln mit dem Freudschen Unbewussten) Fortsetzung des bewussten Lebens. Nicht, dass es darin aufginge, seine Hypothese beschreibt dies lediglich für die den Menschen ›zugewandte‹ (im Gegensatz zur ›abgewandten‹) Seite des »Mehr«. Dass dieses »Mehr« nun eine Realität ist, erweist sich für James an den Wirkungen in dieser Welt, an den religiösen Erfahrungen und an den mit ihnen korrespondierenden Haltungen. Die Erfahrung ist dabei das Primäre, die kognitive Verarbeitung (etwa in Form von dogmatischen Lehrgebäuden) sekundär. Entsprechend seiner kulturellen Prägung nennt James diese Realität ›Gott‹. Neben dem Bezug auf eine letztinstanzliche Größe, welche sich als Objekt im Bewusstsein manifestiert, finden sich mannigfaltige Ausprägungen und Eigenschaften des Religiösen. So ist ›Gottes‹erkenntnis nie mit absolutem Wahrheits- und Vollständigkeitsanspruch zu haben, sondern nur bruchstückhaft und in schließlich unendlicher Ergänzung: »Jeder nimmt aus seinem besonderen Blickwinkel einen bestimmten Wirklichkeitsund Problembereich wahr, zu dem er sich in einzigartiger Weise verhalten muß. […] Das Göttliche darf nicht nur für eine einzige Eigenschaft stehen, es muß für eine Gruppe von Eigenschaften stehen, für die zu kämpfen sich verschiedene Menschen finden. Weil jede Haltung eine Silbe ist in der Gesamtbotschaft der menschlichen Natur, bedarf es unserer Gesamtheit, um ihren vollen Sinn zu buchstabieren.«45

Der Mensch lebt in Teilsystemen; die Welt des je gegenwärtigen Bewusstseins ist nur eine von vielen Welten, und auch sie gliedert sich wiederum in verschiedene Welten. Die Erfahrungen aller Welten, so James, haben Bedeutung für das menschliche Dasein, nicht zuletzt im Hinblick auf das Religiöse, weil sie Ausfluss einer Wirklichkeit sind, und weil synthetisierende Erfahrungen möglich sind.46 Nur kurz sei an die Schilderungen des letzten Unterkapitels im Zusammenhang der geschlossenen Sinnprovinzen bei Schütz bzw. der vielfachen Wirk 44 Ebd., 489. 45 Ebd., 475. Im Original nicht hervorgehoben. 46 Im Original heißt es: »Meine ganze Bildung treibt mich zu der Überzeugung, daß die Welt unseres gegenwärtigen Bewußtseins nur eine von vielen Welten ist, die es gibt, und daß diese anderen Welten Erfahrungen enthalten müssen, die auch für unser Dasein eine Bedeutung haben; und dass, obwohl die Erfahrungen dieser und jener Welt unterschieden bleiben, dennoch beide an verschiedenen Punkten in Verbindung treten und dabei höhere Energien einsickern.« (Ebd., 495.)

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lichkeiten bei James erinnert: In der Annahme, dass es sich auch bei James nicht um ein ontologisches System handelt, sondern um Entitäten mit spezifischen Bewusstseinsspannungen und einer theoretisch unbegrenzten Varianz an Vorstellungs- und Beschreibungsinhalten, kann angenommen werden, dass die religiöse Erfahrung in ihren konkreten Beschreibungen die verschiedenen Teilsysteme (oder mit Schütz gesprochen: Sinnprovinzen) quasi imprägniert. Die religiöse Frage durchzieht das Bewusstsein des Menschen als Mensch. Anders lässt es sich im Grunde nicht denken, dass Objekte des Bewusstseins Einfluss auf die moralische, praktische und emotionale Haltung haben. Allgemein formuliert werden können allerdings nur eine transzendenzoffene Disposition des Menschen und die Bezogenheit auf ein »Mehr«, welches das Selbst transzendiert. Real sind die subjektiven, privaten und persönlichen Phänomene in ihrer Konkretheit, während eine jegliche Abstraktion von der Erfahrung, letztendlich also auch schon die Versprachlichung, die Beschäftigung mit dem Allgemeinen und dem Kosmischen, Symbole der Wirklichkeit darstellen.47 Die phänomenolo­ gische Haltung liegt hier in einer Zurückhaltung gegenüber substantieller Ausgestaltung und exklusiven Wahrheitsansprüchen. Der Exkurs zu James zeigt, wenn auch etwas anders nuanciert als bei Schütz/Luckmann, die enge Verwobenheit des Religiösen in die Verfasstheit der menschlichen Existenz. Andererseits ist die formende Kraft des Religiösen mit Blick auf andere Lebensbereiche und Lebenseinstellungen deutlich geworden. Wie kann nun mit Alfred Schütz die Sinnprovinz der Religion gefasst werden?

9.2.1 Die Sinnprovinz der Religion Das Attribut der ›Religion‹ bzw. des ›Religiösen‹ ist den ›großen‹ ­Transzendenzen vorbehalten48; es bezeichnet eine Transzendierungsbewegung, die über die vorfindliche Welt hinaus geht  – unabhängig davon, ob sich diese Transzendierungsbewegung an immanente Themen bindet.49 Die Zusammenführung der Vorstellung von der »ausgezeichneten Wirklichkeit« und den geschlossenen Sinnprovinzen mit der phänomenologisch gewonnenen Unterscheidung der Transzendenzebenen bedeutet, dass sich Religion als Bezogensein auf etwas, das die Lebenswelt des Alltags überschreitet, bestimmen lässt. Für die religiöse 47 Vgl. ebd., 481. 48 Im Zusammenhang der Transzendierung der biologischen Natur schreibt Luckmann: »Es deckt sich mit einer elementaren Bedeutungsschicht des Religionsbegriffs, wenn man das Transzendieren der biologischen Natur durch den menschlichen Organismus ein religiöses Phänomen nennt.« (Luckmann, Th., Die unsichtbare Religion, 85 f.) 49 Luckmann nennt als Bezugspunkt moderner religiöser Themen die Autonomie des Individuums: Selbstverwirklichung, Selbstdarstellung, Mobilität, Sexualität, Familialismus. (Vgl. Luckmenn, Th., ebd., 151 ff.)

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Haltung ist eine spezifische Bewusstseinsspannung charakteristisch. Der Religion als geschlossener Sinnprovinz mit spezifischer Bewusstseinsspannung – als von der ausgezeichneten Wirklichkeit des Alltags zu unterscheidende Sinn­ provinz  – kommt dabei ein eigener Bereich zu (nicht ontologisch zu fassen), neben Kunst, Wissenschaft, Politik, Phantasie etc. In welchem Verhältnis stehen nun Sozialisation und die Rede vom ›religiösen Bewusstsein‹ bzw. auch die Qualifizierung einer Erfahrung als religiöse? Die Unterscheidung der Sinnprovinzen scheint abhängig von sozialer Konstruktion zu sein: »Zwar besitzt das Bewußtsein die Fähigkeit zur Erfahrung großer Transzendenzen; ob diese jedoch religiöser, ästhetischer oder theoretischer Art sind, ist Folge kultureller Konstruktionsprozesse […]. Diese Position steht im übrigen im Einklang mit der anthropologischen Annahme der Vorgängigkeit des Sozialen: Wenn nämlich auch dem Transzendieren die Sozialität zugrunde liegt, dann sind die Ausprägungen der Tran­szendenzen, die Abgrenzung der Sinnprovinzen gegen den Alltag und die Unterscheidbarkeit der Sinnprovinzen gegeneinander soziale Konstruktionen.«50

Das bedeutet, dass die subjektive Erfahrung einer anderen Wirklichkeit der Ausprägung einer Sinnprovinz mit der ihr zugehörigen Symbolwelt vorgängig ist, sei dies nun in wissenschaftlicher, religiöser oder ästhetischer Hinsicht. Daraus folgt, dass die Klassifizierung von spezifischen Erfahrungen zu bestimmten Sinnprovinzen kulturspezifisch ist und einer gewissen Deutungsvarianz unterliegt. Man kann auch sagen: Die Erfahrung ›großer‹ Transzendenz muss nicht immer als religiös qualifiziert werden – nach Schütz könnte es sich auch um eine ästhetische Erfahrung handeln oder um eine Erfahrung des wissenschaftlichen Typs. Sinnprovinzen sind, im Anschluss an die James’sche Vorstellung der Subuniversa formuliert, »subjektiv konstituierte Bereiche des Erfahrens.«51 Der Lebenswelt des Alltags wird hingegen immer das Primat zugesprochen, denn sie zeichnet sich durch Sozialität aus sowie die Notwendigkeit, dass der Mensch in ihr handelnd tätig wird. Ohne sich dem Problembereich en detail zuzuwenden, gibt Schütz zu verstehen, dass auch andere Sinnbereiche der Vergesellschaftung fähig sind: Als Beispiel der intersubjektiven Beteiligung für die Sinnprovinz der Religion benennt er den gemeinsamen Gottesdienst und das gemeinsame Beten der Gemeinde.52 Mit Blick auf die religiöse Qualifizierung von Erfahrun 50 Knoblauch, H., Transzendenzerfahrung, 161. Knoblauch verweist hier auf Schütz’ Äußerungen, dass Sinnprovinzen wie Wissenschaft, Philosophie und Religion besondere kulturelle Entwicklungen darstellen. (Vgl. ebd.) 51 Ebd., 158. 52 Vgl. Schütz, A., Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft, 181 f.  – Hier heißt es: »Die hier angeführten Eigenschaften der Wirklichkeit des Alltags bedeuten jedoch nicht, daß andere geschlossene Sinnbereiche nicht auch der Vergesellschaftung fähig sind. Es gibt zwar geschlossene Sinnbereiche, in denen Intersubjektivität unmöglich ist  – zum Beispiel meine Träume oder selbst meine Wachträume. Es gibt aber andere, wie die Spielwelt von Kindern,

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gen kann Religion als Konstrukt kommunikativen Handelns verstanden werden: In Akten zahlreicher Kommunikationen ›einigt‹ sich eine soziale Gruppe, auch eine Gesellschaft oder ein Kulturkreis darüber, welche Erfahrungen als religiös zu qualifizieren sind, wie bestimmte Erfahrungen zu interpretieren sind, und welche Handlungen institutionalisiert werden müssen, um die vorgenommene Deutung von Erfahrung für die soziale Gruppe als verbindlich etablieren zu können. Diese Prozesse erfolgen allmählich über die kommunikative Konstitution symbolischer Ordnungen. Man könnte auch sagen: Die symbolischen Ordnungen bzw. die symbolischen Sinnwelten basieren auf Akten kommunikativen Handelns, deren Ort die Lebenswelt des Alltags ist. Hier wird die enge Verflochtenheit von Alltag und religiöser Erfahrung sichtbar: Jene kann nicht soziales Ereignis werden, ohne kommuniziert zu werden. Mehr noch: Jene findet auch für das Individuum nur eine Gestalt über (konventionalisierte) Denkformen  – ohne dies existierte kein Begriff von etwas. Kommunikatives Handeln bezeichnet nun eine intersubjektive Wirkhandlung, welche vermittels der Konventionalisierung kommunikativer Abläufe zwischen subjektivem und objekti­ vem Sinn Zeichen (re-) aktiviert und (re-) motiviert. Kommunikatives Handeln ist somit immer Herstellung sozialen Sinns und Legitimationsbestätigung für eine gerade favorisierte Sinnprovinz samt zugehörigen symbolischen Ordnungen. Die subjektive Erfahrung ist dabei Movens für Bestätigung, Ablehnung, Reproduktion, Destruktion oder Innovation. Die Möglichkeiten des Erfahrungausdrucks sind zu einem großen Teil  konventionalisiert.53 Diesen reziproken Prozess zwischen subjektiver Erfahrung und Aufbau symbolischer Ordnungen nennt ­Hubert Knoblauch auch »Vergesellschaftung der Transzendenzen«54. Die kommunikative Konstitution symbolischer Ordnungen soll im Folgenden noch etwas genauer betrachtet werden.

die intersubjektive Beteiligung und sogar wechselseitiges Handeln im Sinne der gemein­samen Phantasievorstellungen gestatten. In der Welt religiöser Erlebnisse gibt es einerseits die einsame Vision des Mystikers oder Propheten und andererseits den gemeinsamen Gottesdienst, es gibt einsame Gebete und das Gebet der Gemeinde.« – Zum Problem der Auslassung der typo­logischen Erfassung mit Blick auf die Sinnprovinz der Religion bei Schütz vgl. auch: ­Nieder, L., Lebenswelt, Alltagswelt, die Vielfalt der Wirklichkeiten, 281. 53 Das wird etwa plausibel, wenn man sich die Bekehrungsberichte aus der »Vielfalt religiöser Erfahrung« zu Gemüte führt, folgen doch sehr viele einem bestimmten Erzählduktus bzw. Erzählformular. – Vgl. hierzu auch: Luckmann, Th., ebd., 171 ff. 54 Knoblauch, H., ebd., 170.

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9.2.2 Die kommunikative Konstitution symbolischer Ordnungen Symbolische Ordnungen bauen sich aus Appräsentationen höherer Ordnung, wie etwa Symbolen oder Metaphern, auf. Dabei ist die Entwicklung von Symbol­ systemen hochgradig abhängig von soziohistorischen Faktoren  – wer an bestimmte (bildhafte)  Diskurse nicht angeschlossen ist, findet sich in der Ordnungsmatrix bestimmter sozialer Gruppen oder einer Gesellschaft als Ganzer nicht zurecht. Der Theorie der geschlossenen Sinnprovinzen zufolge gehören jeder Sinnprovinz jeweils symbolische Ordnungen an, die sich in ihrem jewei­ ligen kognitiven Stil ähneln.55 Die symbolischen Ordnungen des Religiösen bilden nur einen Bereich unter vielen  – welche Symbolsysteme sich in welchem Umfang ausprägen, hängt wiederum von den soziohistorischen Bedingungen ab: Die Welt des mittelalterlichen Minnegesangs ist in ihrer gelebten Form weit­ gehend verschwunden. Heute existieren Filmproduktionsstätten mit eigenem Mythos. »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« fasst das Thema der symbolischen Ordnung unter der Bezeichnung »symbolische Sinnwelt«56. Symbolische Sinnwelten, in Luckmanns Werk »Die unsichtbare Religion« auch »symbolische Universa«57 genannt, stellen Bindeglieder zwischen der Lebenswelt des Alltags und ›außeralltäglichen‹ Erfahrungen dar, also Erfahrungen, die die alltägliche Lebenswelt transzendieren. Als Bindeglieder haben sie die Gestalt objektivierter Sinnsysteme. Symbolische Sinnwelten tragen den Anspruch der Legitimierung in sich, sie folgen in ihrem Modus der (Re-) Produktion bestimmter Gesetzmäßigkeiten  – analog dem spezifischen kognitiven Stil, der einer jeden Sinnprovinz eigen ist. Die umfassendste symbolische Sinnwelt integriert die anderen Sinnwelten und wird in der Schütz-Rezeption gerne mit dem – ursprünglich von Eric Voegelin geprägten  – Terminus »Kosmion«58 bezeichnet (Schütz selbst geht mit diesem Begriff eher sparsam um, wenngleich seine LebensweltAnalyse sich mit den Bedingungen der Konstruktion dessen beschäftigt, was Voegelin »Kosmion« nennt). Symbolische Sinnwelten bauen sich also aus sprachlichen Objektivierungen, die in kommunikativen Prozessen entstehen, auf und beinhalten normative Regeln, durch die sie sich legitimieren. Der Lebenswelt des 55 Die Untersuchung dieser Ähnlichkeit ist bekanntlich genuines Interesse der Religionswissenschaft bzw. einer der Religionswissenschaft anhängenden Religionsphänomenologie: Der Religionsphänomenologie wohnt von Anfang an das Interesse inne, die vielfältigen Erscheinungsformen auf grundlegende (Narrations-) Elemente zurückzuführen. 56 Berger, P. L./Luckmann, Th., Die gesellschaftliche Konstruktion, 98 ff. 57 Luckmann, Th., Die unsichtbare Religion, 80. Dort heißt es: »Symbolische Universa sind sozial objektivierte Sinnsysteme, die sich einerseits auf die Welt des Alltags beziehen und andererseits auf jene Welt, die als den Alltag transzendierend erfahren wird.« 58 Voegelin, E., Die neue Wissenschaft der Politik, 52; vgl. exemplarisch für die SchützRezeption: Srubar, I., Kosmion, 248 ff. – Vgl. Kap. II.9.1.1.

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Alltags kommt das Primat aufgrund ihrer intersubjektiven Verfasstheit und der ihr einwohnenden Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der pragmatischen Gestaltung zu. So sind alle Sinnprovinzen auf die Lebenswelt des Alltags bezogen, in welcher sie zugleich sichtbar werden: Sie werden sichtbar in dem Sinne, dass sie angezeigt und zum Teil kommunizierbar werden – sie gehen aber nicht in ihr auf. Entscheidend ist, dass alle Sinnprovinzen (einschließlich der des Alltags) Teil eines jeweiligen Bewusstseins samt zugehöriger innerer Dauer sind. Das bedeutet, dass das Bewusstsein quasi Mittler zwischen der Erfahrung einer außer­ alltäglichen Sinnprovinz und der kommunikativen Handlung ist. Symbolische Kommunikation zeichnet sich nun im Gegensatz zur pragmatischen Alltagskommunikation durch einen Wechsel des Rahmen- und Deutungsschemas aus.59 Intersubjektives Verstehen gelingt umso eher, je mehr die Kommunikationspartner hinsichtlich eines Rahmen- bzw. Deutungsschemas konvergieren  – die Kontextualisierung der Kommunikation muss also stimmen. Für die religiöse Kommunikation ist dies insofern einsichtig, als konventionalisierte Transformationszeichen in bestimmten Zusammenhängen markieren, dass es sich hier um eine solche handelt (zum Beispiel: das Schlagen des Kreuzes).60 Die Pluralisierung im Zuge der Moderne bringt es allerdings mit sich, dass religiöse Kommunikation nicht mehr vorwiegend institutionell gebunden ist: Das zeigt sich an Phänomenen wie der Verflüssigung und der zunehmenden Individualisierung von Religion sowie etwa am Beispiel der Zivilreligion. Was unterscheidet nun aber die religiöse Kommunikation von Formen der Kommunikation, die sich auf andere Sinnprovinzen und somit andere symbolische Ordnungen beziehen? Hubert Knoblauch bestimmt als Merkmal der religiösen Kommunikation, dass diese »quasi-ontologisch«61 ist. Sie teilt mit der ästhe­ tischen Kommunikation das Merkmal der Entpragmatisierung. Bezugspunkt der Religion oder des Religiösen bleibt immer die subjektive Erfahrung. Gleichzeitig ist Religion immer abhängig von (potentiellen) Formen ihrer intersubjektiven Gestaltwerdung (im Wesentlichen also der Sprache), so dass religiöse Kommunikation – und damit die Konstitution symbolischer Ordnungen – für das Subjekt als Medium zwischen der Lebenswelt des Alltags und einer letztinstanzlichen Selbstvergewisserung fungiert. Darüber hinaus wird man sagen können, dass 59 Vgl. Knoblauch, H., Transzendenzerfahrung, 171. Knoblauch bezieht sich für die weiteren Ausführungen auf Erving Goffmans Buch »Rahmen-Analyse«, welche im Detail sicherlich für empirische Forschung interessant ist, an dieser Stelle jedoch nicht weiter thematisiert werden soll. Wichtig ist hier, dass ein Rahmenwechsel stattfindet, welcher, so Goffman, über Transformationszeichen in der sozialen Interaktion angezeigt wird. 60 Vgl. zur theologischen Traditionsbildung als Appräsentation der religiöser Wirklichkeit: Balder, H., Glauben ist Wissen, 34 ff; 98 ff; 260 ff. 61 Knoblauch, H., ebd., 181. Knoblauch wiederum verweist auf Geertz: Geertz, C., Religion as a Cultural System.

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das individuelle Kosmion eines Subjektes, die Integration verschiedener symbolischer Ordnungen in einer übergeordneten ›Matrix‹ über ein Zusammenspiel der verschiedenen, zu unterschiedlichen Sinnprovinzen mit unter­schiedlichen Bewusstseinsspannungen zuzurechnenden symbolischen Ordnungen erfolgt. Wie stark etwa religiöse Erfahrungen Einfluss auf die Deutung alltagsweltlicher Erfahrungen haben, dürfte mit der Relevanz zusammen hängen, welche den religiösen symbolischen Ordnungen im Zusammenhang des Aufbaus der übergeordneten subjektiven symbolischen Ordnungen zukommt. Diese Gewichtung erfolgt in dem Spannungsfeld von individuellem Relevanzsystem und gesellschaftlicher Normativität.62 Nach einer Reflexion der verschiedenen Transzendenzweiten, der Bereiche geschlossener Sinnstruktur  – hier besonders des Bereichs der Religion  – sowie der Frage der kommunikativen Konstitution symbolischer Ordnungen er­ öffnet sich die Frage, welche Erscheinungsformen des Religiösen grundsätzlich beschreibbar sind. Eine Wahrnehmung und Unterscheidung der unterschied­ lichen Sphären des Religiösen ist wichtige Voraussetzung für die potentielle Anschlussfähigkeit kirchlichen Handelns.

9.3 Erscheinungsformen des Religiösen: die religiöse Grundierung des Alltags Religion hat in der Moderne viele Gesichter bekommen. Ein einheitlicher Bezug zu einer religiösen Institution ist nicht mehr gegeben. Die Transformations­ prozesse der Moderne haben die Individuen in die religiöse Selbstreflexion entlassen, welche im Dialog mit den klassischen religiösen Institutionen stattfinden können aber nicht müssen. Die Entkopplung der religiösen Reflexion von den großen Institutionen bedeutet nun nicht automatisch, dass Gesellschaft einem unaufhaltsamen Prozess der Säkularisierung unterworfen wäre. Viel eher, und dies ist eine der wichtigen Aufgaben der Praktischen Theologie, geht es darum, in der Pluralität der Kulturen individueller Selbstreflexion das Moment des Religiösen aufzufinden und sichtbar zu machen: Eine Aufgabe der Praktischen Theologie ist, Phänomenologie religiöser Praxis und religiöser Deutungs­ 62 Nur um ein Beispiel anzuführen: Wenn jemand den kognitiven Stil der Wissenschaft im Aufbau seiner übergeordneten symbolischen Ordnung favorisiert (und er mit dieser Gewichtung von seiner Umwelt in der Regel bestätigt wird), wird er die auf ihn zukommenden Deutungsprobleme in der Lebenswelt des Alltags zunächst über die Adaption eben jenes ­kognitiven Stils zu lösen versuchen. Dies trifft natürlich ebenso auf den kognitiven Stil der religiösen Erfahrung zu: Deutungsprobleme in der Lebenswelt des Alltags werden umso eher versucht, über die Adaption des kognitiven Stils religiöser Erfahrung gelöst zu werden, je mehr Gestaltungskraft die religiöse symbolische Ordnung mit Blick auf die übergeordnete indivi­duelle symbolische Ordnung besitzt.

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muster zu sein.63 Das Ansinnen der Untersuchung religiöser Phänomene außerhalb der Kirche hatte bereits Paul Drews mit seinem Programm der »Religiösen Volkskunde«.64 Im Jahr 1901 schreibt er: »[W]ie ein unentdecktes Land liegt z. T. die Religion unseres eigenen Volkes vor unseren Augen.«65 Das Programm ist heute nach wie vor aktuell, es geht um die »Wiedergewinnung der empirischen Religion als Gegenstand der Praktischen Theologie«66, um ein Sichtbarmachen individualisierter Religion in der Gesellschaft. Hermeneutisch schlägt Franz-Xaver Kaufmann für das religionssoziologische Unterfangen vor, die begriffliche Bestimmung von Religion zugunsten einer allgemeinen Zuwendung zur Gesamtheit öffentlicher Diskurse über Religion zu vernachlässigen.67 Auch die Religionsdefinition Ulrich Barths  – Religion ist »Deutung von Erfahrung im Horizont der Idee des Unbedingten«68  – besitzt eine solche Weite in ihrer Struktur, dass verschiedene Phänomene gelebter Religion sichtbar werden können. Hermeneutisch wird es darauf ankommen, die individuellen symbolischen Ordnungen von Subjekten in ihren Gehalten und ihren Relevanzhierarchien zu erhellen.69 Im folgenden Kapitel soll ein kurzer Blick auf die verschiedenen Ebenen geworfen werden, in denen im Alltag Religiöses thematisch wird: Das erste ­Kapitel 63 Hießen die Schlagworte in der religionssoziologischen Debatte erst ›Pluralisierung‹ und ›Säkularisierung‹, so wird das Stichwort ›Säkularisierung‹ zunehmend durch das Schlagwort der ›Individualisierung‹ ersetzt. (Vgl. Steck, W., Praktische Theologie, 166.) Auch die Untersuchungen der EKD zur Kirchenmitgliedschaft tragen mittlerweile der Einsicht Rechnung, dass eine Nichtanbindung an die großen religiösen Institutionen nicht mit Areligiosität in Eins zu setzen ist, und dass die äußeren Formen der religiösen Praxis nicht mehr nur über Kirchenmitgliederzahlen, Gottesdienstbesucherbefragungen etc. – also über die Untersuchung binnenkirchlicher Phänomene anhand herkömmlicher kirchensoziologischer Fragestellungen – zu erheben sind: Seit ein paar Jahren beschränkt man sich in den Untersuchungen nicht mehr nur auf das binnenkirchliche Milieu – und wendet sich mit einiger Aufmerksamkeit den ›treuen Kirchenfernen‹ und Konfessionslosen zu. – Vgl. Engelhardt, K./Loewenich, H.v./Steinacker, P. (Hg.), Fremde Heimat Kirche. Die dritte Erhebung; vgl. Matthes, J. (Hg.), Fremde Heimat Kirche. Erkundungsgänge; vgl. Huber, W./Friedrich, J.,/Steinacker, P. (Hg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung; vgl. Hermelink, J./Lukatis, I./Wohlrab-Sahr, M. (Hg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Analysen. 64 Vgl. Kap. 1. 65 Drews, P., »Religiöse Volkskunde«, 4. 66 Weyel, B., Moderne Lebenswelt und Religion, 14. 67 Kaufmann, F.-X., Wo liegt die Zukunft der Religion?, 73. 68 Barth, U., Religion in der Moderne, 10. 69 Ergänzend dazu kann der Vorschlag zur Begriffsklärung des Heidelberger Geographen Edgar Wunder gelesen werden: »Religion ist ein Kommunikationszusammenhang, der durch ein anthropozentrisch und anthropomorph strukturiertes Symbolsystem vermittelt, durch einen Mythos verbürgt und durch Evidenzerlebnisse persistent gehalten wird, wobei die von den Subjekten perzipierte Kontingenz der lebenspraktisch relevanten Erscheinungswelt das Bezugsproblem bildet, welches durch eine symbolische Dopplung der Wirklichkeit und eine darauf aufbauende Kosmisierung der Welt bearbeitet wird, mit dem Ziel der Identitätsstiftung und des Managements der Lebensführung.« (Wunder, E., Religion, 49. Im Original hervorgehoben.)

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Die sinnhafte Konstitution der alltäglichen Lebenswelt

beschäftigt sich mit der Frage, was nun genauer mit der ›Unsichtbarkeit‹, ›Verflüssigung‹, der Individualisierung von Religion gemeint ist und zeichnet die inzwischen sehr populäre Position Thomas Luckmanns zum Thema in aller Kürze nach. Ein weiteres Kapitel schließt sich an, welches einen Blick auf die Situation religiöser Institutionen in Deutschland wirft, worauf sich das abschließende Kapitel dem Phänomen Zivilreligion annähert. Die drei Ebenen symbolisieren die verschiedenen Kreise, die in die Sinnkonstitution von Individuen verwoben sind: Selbstreflexion, Reflexion des Selbst im Zusammenhang sozialer Gruppen/ sozialer Institutionen, Reflexion des Selbst und sozialer Institutionen im Zusammenhang gesellschaftlicher Diskurse. Im Idealfall wirken alle drei Ebenen aufeinander zurück.

9.3.1 Individuelle Verfasstheit von Religion: die Verflüssigung des Institutionellen (Privatisierung) Luckmanns Ausführungen beruhen auf der Annahme, dass sich die institutionalisierte Religion ins Religiöse verflüchtigt hat: Religion wird nach wie vor ­gelebt, sie hat nur ihre Gestalt verändert, sie ist, an traditionellen, an den Wahrnehmungsmaßstäben institutionalisierter Religion gemessen, ›unsichtbar‹ geworden.70 Unabhängig von der konkreten Gestalt der Religion prägt sie sich als Weltansicht aus: Unter Weltansicht versteht Luckmann ein integriertes Ganzes, bestehend aus Deutungs- und Handlungsschemata, Typisierungen, Relevanzen etc., das das Routinewissen leitet. Die Weltansicht deutet menschliche Erfahrungen in der Welt sinnhaft, sie ist transzendent (dem Individuum immer schon vorgegeben) und immanent (weil internalisiert und in dieser Folge individuell angewendet) zugleich.71 So beruht Sozialisation »auf den anthropologischen Bedingungen der Religion.«72 Nun bildet sich, unabhängig davon, ob es sich um ›sichtbare‹ oder ›unsichtbare‹ Religion handelt, aus der Weltsicht der so genannte »heilige Kosmos«73 heraus. Der »heilige Kosmos« transzendiert die alltägliche Lebenswelt; er ist damit in die Rede von den »großen Transzendenzen« einzubeziehen – und ist Teil dessen, was zuvor als »Kosmion« (also die intern ausdifferenzierte, kulturell umrissene Lebenswelt, welche durch Systeme appräsentativer Verweisungen zusammengehalten wird)  bezeichnet wurde. Der »heilige

70 Luckmann verwendet selbst in seinem Buch »Die unsichtbare Religion« den Begriff der ›unsichtbaren Religion‹ nicht. Vielmehr sollte seine Schrift ursprünglich »The Problem of Religion in Industrial Society« heißen. Damit war allerdings der Verleger nicht einverstanden – so dass der Titel »The Invisible Religion« auf jenen zurück geht. 71 Vgl. Knoblauch, H., Verflüchtigung, 16. 72 Luckmann, Th., Die unsichtbare Religion, 88 f. 73 Ebd., 96.

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Kosmos« stabilisiert über Symbole (Sprache, Ikonen und Rituale etc.) die Weltansicht: Er prägt sozusagen ihren Hintergrund aus und stellt sich gleichzeitig als etwas in Relation zur Lebenswelt des Alltags ›ganz Anderes‹ dar. In der modernen Gesellschaft ist der »heilige Kosmos« – im Gegensatz zu traditionellen Gesellschaften – allerdings nicht mehr als wohl umschriebenes Ganzes, als Komplex festgelegter und allgemein gültiger Themen und Hierarchien zu verstehen. Vielmehr gleicht der »heilige Kosmos« einem Vorrat letztinstanzlicher Bedeutungen, aus welchem, je nach individueller Präferenz, ausgewählt werden kann und muss.74 Die Weltansicht kann nun, so Luckmann, als basale und zunächst ganz unspezifische Form der Religion angesehen werden, welche in allen Sozialformen strukturell vorzufinden ist.75 Dass sich der »heilige Kosmos« aus der Lebenswelt des Alltags ausgrenzt, ist allerdings ein hochkulturelles Phänomen. Seine Geltung wird spezifiziert und damit beschränkt auf ein gesellschaftliches Funktionssystem (Religion) neben anderen. Dabei bringt die inter-institutionelle Relativierung einen Plausibilitätsverlust für die Individuen mit sich, da die ›Wahrheitsansprüche‹ unterschied­ licher Institutionen (Wirtschaft, Politik, Religion etc., aber auch der Institutionen innerhalb des Funktionssystems ›Religion‹) miteinander abgeglichen werden müssen: Die Individuen finden sich aus einem (religiös-) sozialen Orientierungsgefüge entlassen vor und können nicht davon ausgehen, dass sie die Kriterien für ihre Selbst- und Weltdeutung institutionell monoform und abgesichert geboten bekommen. Mit der Abwanderung ins Private unterliegt die Gestalt des Religiösen mehr denn je den Konstitutionsplausibitäten der Individuen: Das Religiöse wird mehr und mehr in Form der Bricolage manifest. Insofern zieht der Pluralismus – und mit ihm die Privatisierung als Kehrseite der Medaille – die Neigung zum Synkretismus nach sich. Privatisierung bedeutet zudem, dass sich die sich äußernden bedeutungsvollen Themen stärker auf den privaten Bereich beziehen. In Aufnahme der modernen religiösen Themen, die Luckmann benennt76, schreibt Hubert Knoblauch: »Die Privatisierung kommt also einer Schrumpfung der Transzendenzen gleich: Ins Zentrum des Heiligen Kosmos moderner Gesellschaften rücken zunehmend ­Themen, die eigentlich zu den mittleren oder kleinen Transzendenzen gehören: die körper­ liche Erfahrung nimmt einen zentralen Ort ein, das sexuelle Verhalten, die Familie, Bewusstseinserweiterung, Selbstverwirklichung, das persönliche Glück und Wohl­

74 Vgl. ebd., 145. Luckmann vergleicht den »heiligen Kosmos« der Industriegesellschaften mit einem »Warenlager«. (Ebd.) 75 Vgl. ebd., 89 f. An anderer Stelle heißt es: »Die Bedeutungshierarchie, die eine ganze Weltansicht prägt und die die Grundlage der religiösen Funktion von Weltansichten ist, findet ihren Ausdruck in einer ausgegrenzten Sinnschicht, die allen anderen in der Weltansicht vorkommenden Sinnschichten übergeordnet ist.« (Ebd., 98.) 76 Vgl. Kap. II.9.2.1.

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ergehen rücken ins Zentrum religiöser Bemühungen, die von der Psychoanalyse über therapeutische Kulte bis zu den gegenwärtigen Formen des ›Fundamentalismus‹ reichen.«77

Die ›Unsichtbarkeit‹ von Religion basiert also zum einen auf einem allgemeinen Relevanzverlust der traditionellen religiösen Institutionen. Luckmann konstatiert unter Rekurs auf Friedrich Tenbruck bereits in der »Unsichtbaren Religion«, dass sich soziologisch in der Kirche als traditioneller Institution vorwiegend Angehörige »einer vergangenen sozialen Ordnung in der modernen Gesellschaft«78 finden. Diesen Befund mag man teilen oder nicht, entscheidend ist, dass mit Blick auf das Religiöse Wahrnehmungssensibilitäten für Formen des Religiösen zu entwickeln sind, die sich nicht im binnenkirchlichen Milieu beheimatet wissen: Neue soziale Religionsformen wie die religiöse Gestaltungstätigkeit der Individuen existieren mehr oder weniger unabhängig von den traditionellen christlichen Institutionen. Die Folge von Pluralisierung und Individualisierung von religiösen Vollzügen hat zur Konsequenz, dass die persönliche Identität zum Maßstab religiöser Aktivität wird: Individuelle Identitätserhaltung ist primäre Funktion der Religion.79 Mit Blick auf die Identitätsproblematik avanciert die Form ›Individuum‹ zur Institution80: »Hatten wir vorher die Weltsicht als eine universale gesellschaftliche Form der Religion definiert, so können wir entsprechend die persönliche Identität als eine universale Form der individuellen Religiosität definieren.«81

Die (religiösen) Sinnwelten der Individuen prägen sich zunehmend abge­koppelt von den traditionellen religiösen symbolischen Ordnungen aus, da die Kosmisierungstendenzen individuell – bzw. in sehr viel kleineren Gemeinschaften, nicht zuletzt auch in Selbsthilfegruppen – bearbeitet werden. Durch die Abkopplung von der institutionalisierten Religion sehen sich die Individuen vor die Aufgabe der Selbstkonstitution im Sinne der Komposition vorhandener Identitätsmomente, aber auch im Sinne der Selbstlegitimation gestellt: Sie müssen sich selbst als Integral dienen – damit Biographiedeutung als Möglichkeit erhalten bleibt.82 77 Knoblauch, H., Thomas Luckmann, 246.  – Luckmann nennt als Hauptthemen im »heiligen Kosmos« der Industriegesellschaften, wie bereits erwähnt: Selbstdarstellung, Selbst­ verwirklichung, das Mobilitätsethos, Sexualität und Familialismus. (Luckmann, Th., ebd., 157.) 78 Ebd., 75. Vgl. Tenbruck, F., Die Kirchengemeinde in der entkirchlichten Gesellschaft. 79 Nassehi, A./Weber, G., Tod, Modernität und Gesellschaft, 416. 80 Vgl. Knoblauch, H., Verflüchtigung, 33. 81 Luckmann, Th., ebd., 109. – Vgl. Drehsen, V., Reprivatisierung, 253. 82 Walter Sparn zeigt in historischer Perspektive diese, im Grunde ja für die Individuen problematische Situation an der wachsenden Popularität der Autobiographien auf: vgl. Sparn, W., Dichtung und Wahrheit, 19.

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Mit diesem Prozess der Individualisierung und Privatisierung von ­Religion ergeben sich Legitimierungsprobleme für die Institutionen: Je weiter der Grad der De-Institutionalisierung von Religion fortgeschritten ist, desto schwieriger dürfte es sein, den traditionellen Symbolgehalt mit den subjektiven symbolischen Ordnungen zu vermitteln (auf diesen Problemzusammenhang greift, freilich aus anderer Perspektive, bereits Scharfenberg aus, wie sich in früheren Kapiteln gezeigt hat).

9.3.2 Religiöse Sozialformen Zur Veranschaulichung der verschiedenen Gestalten, die das Religiöse in seiner institutionalisierten Form annehmen kann, sei kurz auf die religiösen Sozial­ formen verwiesen, die sich traditionell in westlichen Gesellschaften herausbilden. Die Typisierung der religiösen Sozialformen folgt entlang konventionalisierten Klassifikationen. Unter den Aspekten Umfang und Komplexität werden herkömmlich vier verschiedene Typen von religiösen Organisationen unterschieden: Kirchen, Denominationen, Sekten83 und Kulte.84 Max Weber beschränkt sich in der Wahrnehmung des institutionalisierten religiösen Felds auf die Beschreibung der Sozialformen ›Kirche‹ und ›Sekte‹, Ernst Troeltsch benennt eine dritte Form, die von ihm so genannte ›Mystik‹. Howard Becker bestätigt diesen Befund und attestiert in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts dieser Sozialform, die er mit dem Terminus ›Kult‹ (cult) belegt, eine bedeutende Rolle in der Gesellschaft der Moderne.85 In ihrem sozialen Charakter sind Kulte  – auch ›neue religiöse Bewegungen‹ genannt – persönlich und privat und weisen keine formale Mitgliedschaft auf.86 Richard Niebuhr schließlich ergänzt das Beschreibungsmodell um das Phänomen der Denominationen, einer, mit Blick auf Umfang und Komplexität, sozialen Zwischenform zwischen Sekten und Kirchen, welche gerade in der religiösen Landschaft der USA eine bedeutende Rolle

83 Der Begriff ›Sekte‹ ist dabei nicht als historisch gewachsener Kampfbegriff zu ver­ stehen, sondern in dem Sinne, wie ihn Max Weber und Ernst Troeltsch verwendet haben: zur Deskription einer religiösen Gemeinschaft, welche partikulare Geltung beansprucht, die nur religiös Qualifizierte beheimaten möchte (z. B. qua Konversionserlebnis) und ihren Bestand aus dem Charisma besonders Qualifizierter ableitet, mit ablehnendem Verhältnis der Welt bzw. Gesellschaft gegenüber, die den Lebensstil der Mitglieder streng reglementiert und Mitgliedschaft über Mission und Eintritt reguliert. (Vgl. Troeltsch, E., Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 794 ff.) – Edgar Wunder nennt diese Gemeinschaften aufgrund der Problematik des Sektenbegriffs auch »Weber-Troeltsch-Gemeinschaften«. (­Wunder, E., Religion, 132 ff.) 84 Vgl. Knoblauch, H., Religionssoziologie, 146. 85 Vgl. Becker, H., The Development and Interaction, 624 ff. 86 Vgl. auch Knoblauch, H., ebd., 148 ff.

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spielt.87 Denominationen entstehen aus Gemeinschaften, die sich so weit in ihrer Struktur gefestigt haben, dass ihr Weiterbestehen nicht an die Lebenszeit der Gründungsfigur gebunden ist. Denominationen nehmen hinsichtlich ihres sozial­verpflichtenden Charakters eine Mittelstellung zwischen den Kirchen und den Sekten ein. Religiöse Sozialformen können in der Bundesrepublik die Rechtsform einer ›Körperschaft des öffentlichen Rechts‹ und eines ›eingetra­ genen Vereins‹ annehmen. Manche religiöse Gemeinschaften bleiben schlicht als freie Zusammenschlüsse bestehen, ohne eine Rechtsform anzunehmen. Hubert Knoblauch weist mit Recht darauf hin, dass das Staatsrecht also weder Sekten noch Kirchen kennt. Es existieren einige Beispiele für religiöse Gemeinschaften, die aus kirchlicher Perspektive als ›Sekten‹ (ab-) qualifiziert werden, jedoch im Staat als ›Körperschaft des öffentlichen Rechts‹ anerkannt sind, wie die Mormonen, die Neuapostolische Kirche, die Adventisten und die Christen­ gemeinschaft.88 Knoblauch ist der Meinung, dass sich die Vielfalt religiöser Gemeinschaften nur schwer mit der oben angeführten Typologie in Einklang bringen lässt und schlägt vor, ihre empirische Sozialform unter den Aspekten der Organisationsform bzw. inneren Ausdifferenzierung zu erfassen.89 Denn organisierten Gemeinschaften ist immer ein gewisser Grad an Arbeitsteilung und, damit verbunden, eine bestimmte Rollenzuweisung eigen, um die inhaltlichen Ziele zu erreichen, die die jeweilige organisierte Sozialform charakterisieren. Dabei zeigt sich für höhergradig ausdifferenzierte Organisationen ein Verlust an Spontaneität und kreativer Handlungsfreiheit als Konsequenz ihrer sozialen Ordnung.90 Die Existenzregulation der religiösen Sozialformen kann mit Hilfe des Modells des ›religiösen Feldes‹ von Pierre Bourdieu nachvollzogen werden.91 Das religiöse Feld wird als neben anderen gesellschaftlichen Feldern (z. B. ökonomisches, politisches) existierend gedacht. Dabei ist allen Feldern ein spezifisches symbolisches Kapital eigen, welches über konkrete ökonomische Werte hinausgeht. Dies trifft also auch für das religiöse Feld zu, welches thematisch mit der Bearbeitung menschlicher Grund- und Grenzerfahrung in dieser Welt durch Riten und Symbole ›beauftragt‹ ist. Der Faktor, der das religiöse Feld in Be­wegung, lebendig hält, ist das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Bourdieu 87 Vgl. Niebuhr, R. N., The Social Sources of Denominationalism; vgl. auch: Parsons, T., The cultural background of American religious organisations, 147. 88 Vgl. Knoblauch, H., Religionssoziologie, 156 f. 89 Ebd., 149. 90 Mit Blick auf das Problem der Privatisierung von Religion schreibt Volker Drehsen in den 1970er Jahren für den deutschsprachigen Raum: »Je schwerfälliger sich die Kirchen auf die Privatisierungstendenzen einstellen, der die Religion unterliegt, desto rascher erscheinen Surrogat-Bewegungen auf dem Plan.« (Drehsen, V., Reprivatisierung, 253.) 91 Vgl. Bourdieu, P., Das religiöse Feld, 77 ff.

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schildert dies zum einen für die strukturell wesentliche Unterscheidung zwischen religiösen Experten und Laien, andererseits für den Konkurrenzcharakter in der Beziehung zwischen den verschiedenen religiösen Sozialformen. Das religiöse Feld reguliert sich dabei, wie alle anderen Felder, über den Faktor ›Macht‹92: Die herrschenden Gruppen bestimmen, was rechtgläubig ist und wo die Grenzen des religiösen Feldes anzusiedeln sind. Das religiöse Feld organisiert sich also über die beiden Marker ›orthodox‹ und ›heterodox‹. Die Funktion der Religion besteht zu einem wesentlichen Teil in ›sozialer Kontingenzbewältigung‹ – Bourdieu spricht auch von ›Soziodizee‹: der Legitimation der sozialen Situation zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung. Allerdings ist auch eine Auflösung des religiösen Feldes in der Weise zu beobachten, dass die Kirchen auf der einen Seite, als Vertreter der Orthodoxie, Gestalten annehmen, die herkömmlich anderen kulturellen Bereichen zugeordnet werden. Dies ist eine Folge ihrer bürokratischen Organisation. Auf der anderen Seite der Skalierung, also bei den Bewegungen, die aus kirchlicher Perspektive als heterodox gelten, erfolgt eine neue Verknüpfung genuin nicht-religiöser Topoi mit einer wie auch immer gearteten Vorstellung der Heilsvermittlung. All dies beschreibt im Grunde auf andere Weise die Prozesse der Pluralisierung, der Individualisierung und – mit Blick auf die Kirchen – der Entkonfessionalisierung von Religion. Je unflexibler die großen Institutionen auf die spirituellen Bedürfnisse der Laien reagieren können, desto mehr wachsen die Chancen für kleinere soziale Gemeinschaften, sich für jene Bedürfnisse einsetzen zu können. Im Anschluss an die nur skizzenhafte Thematisierung unterschiedlicher religiöser Sozialformen soll nun der Blick auf den Gegenstand der Zivilreligion gewendet werden. Wie sich zeigen wird, ist die Bestimmung dessen, was mit dem Begriff ›Zivilreligion‹ gemeint ist, weder einfach noch eindeutig zu leisten. Nichtsdestotrotz soll das Phänomen als Erscheinungsform des Religiösen im sozialen Raum, also in der Lebenswelt des Alltags, benannt und umschrieben werden. Ein erster Schritt wird darin bestehen, sich dem Phänomen über die Re­ flexion der Schwierigkeit seiner Bestimmung zu nähern.

9.3.3 Zivilreligion Der Begriff ›Zivilreligion‹ beschreibt keine positive, konfessionell geprägte Religion, er bezeichnet viel eher ein religionstheoretisches Postulat.93 Der Terminus ›Civil Religion‹ kommt zunächst 1967 durch die Veröffentlichung »Civil Religion in America« des US-amerikanischen Soziologen Robert N. Bellah auf und bezeichnet das Gesamt an Glaubensvorstellungen, Ritualen und Symbolen, das

92 Vgl. ebd., 96 ff. 93 Vgl. Schieder, R., Wieviel Religion verträgt Deutschland?, 203.

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in die politische Kultur einer Gesellschaft eingelassen ist.94 Bellah greift in seiner Bestimmung auf die beiden Grundaxiome von Max Weber und Émile Durkheim zurück – jedes soziale Handeln ist sinnhaftes Handeln (Weber); jede Gesellschaft ist eine »moralische Entität« (Durkheim)  – und hält fest, dass jede Gesellschaft eine symbolische Vorstellung von sich selbst notwendig braucht. Ohne eine solche Vorstellung verliert, so Bellah, eine Gesellschaft ihr Ver­mögen zu handeln. Diese These reagiert auf das konstatierte Problem, dass das (USamerikanische) Gemeinwesen in der Moderne insofern ein religionspolitisches Problem hat, als es notwendig Neutralität gegenüber den positiven Religionen zu wahren hat, gleichzeitig allerdings selbst auf Kritik und Legitimation angewiesen ist. Öffentliche und politische Moral werden nun in einem solchen Verhältnis konstelliert, dass die öffentliche Moral den Gedanken einer gerechten und freien Gesellschaft am Leben erhält und die politische Moral anmahnt, sie im Sinne eines gerechten, freien und pluralen Gemeinwesens zu unterstützen. Da in dem Terminus der civil religion für viele Kritiker des Konzeptes eine religiöse Überhöhung des Staates mitschwingt, spricht Bellah später konsequent von der public philosophy, die, plural gefasst und in ihrer Pluralität mit Blick auf die Legitimität normativer Ansprüche diskutiert, die öffentliche Moral konstituiert.95 Über die Adäquanz einer deutschen Übersetzung sowie die Adaption dieses US-amerikanisch geprägten religionstheoretischen Konstrukts für die Verhältnisse in Deutschland ist vielfach debattiert worden.96 Niklas Luhmann führt Ende der siebziger Jahre, analog zum englischen Begriff, den Terminus ›Zivil­ religion‹ ins Deutsche ein. Luhmann versteht unter ›Zivilreligion‹ den gesellschaftlich unterstellten Wertekonsens, welcher sich jedoch für die westliche Kultur nur teilsystemspezifisch institutionalisiert ausprägen kann.97 Dabei nimmt die Zivilreligion in Luhmanns Systemtheorie eine nicht zu unterschätzende Rolle 94 Vgl. Bellah, R. N., Civil Religion in America, 8. 95 Eine eindrückliche religiöse Überhöhung des Politisch-Nationalen zeigt sich hingegen in Rorty’s Werk »Stolz auf unser Land«. Vgl. Rorty, R., Stolz auf unser Land, 15; 22; 27. 96 Dies hängt mit dem Unterschied in der Zuordnung zwischen Religion und Politik bzw. Staat und Kirchen/Denominationen zusammen. Zudem herrscht, vor allem wegen der religiösen Überhöhung des Politischen während der Zeit des Nationalsozialismus, in Deutschland eine große Skepsis, Politisches überhaupt mit Religiösem in Verbindung zu bringen. Eine ungebrochene Verflechtung genuin christlichen bzw. protestantischen Gedankenguts mit der Sphäre des Politischen, wie es in den USA zu beobachten ist und wie es Bellah beschrieben hat, ist in Deutschland schlechterdings nicht denkbar. Während sich in den USA Kirchen/­ Denominationen und Staat voneinander emanzipierten und es im Interesse aller war, dass keine positive Religion staatlich privilegiert wird, bestehen in Deutschland immer noch institutionalisierte Verquickungen zwischen Staat und Kirchen. Daraus ergibt sich, dass der Staat in Deutschland durch Vergabe staatlicher Privilegien den Markt der positiven Religionen mit reguliert. Vögele erhebt den Befund, dass sich in Deutschland zivilreligiöse Gehalte gerade deshalb nicht so stark durchsetzen können, weil die politische Funktion der beiden großen Kirchen innerhalb der politischen Kultur ausgeprägter ist. (Vgl. Vögele, W., Zivilreligion, 7.) 97 Luhmann, N., Grundwerte als Zivilreligion, 175; 187.

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ein, da sie es ist – funktional beschrieben – die für die strukturell sich immer weiter ausdifferenzierende Gesellschaft eine allgemeinverbindliche Sym­bolik zu Verfügung stellt. Während der Luhmannsche Begriff der Zivilreligion keine Tradition begründet, finden Überlegungen Hermann Lübbes zum Thema größeren Anklang. Lübbe versteht unter ›Zivilreligion‹ ein Instrument der Ratio­ nalisierung und der Pragmatisierung der Politik. So heißt es in »Religion nach der Aufklärung«: »Zivilreligion – das sind Bestände öffentlicher Kultur, in der das Gemeinwesen und in ihm das bürgerliche Leben seine Abhängigkeit von Lebensvoraussetzungen, die politisch nicht dispositiv sind und im Interesse gemeinsamen politischen Lebens An­ erkennung ihrer Unverfügbarkeit verlangen, symbolisch bekundet.«98

Das bedeutet nichts anderes, als dass die Zivilreligion die Grenzen nach verschiedenen Seiten hin verdeutlicht: Zum einen dient sie der Politik als kritischer Maßstab und als Schranke zur Kompetenzüberschreitung. Zum anderen reguliert sie jedoch auch klar die Grenze zwischen Politik und dem Religionssystem mit seinen positiven Religionen und markiert so Übergriffe des Religionssystems im Sinne exklusiv-religiöser Geltungsansprüche mit Blick auf die Politik. Allgemein kann man festhalten, dass »mit der überwiegenden Mehrheit der Forschung an Zivilreligion das Moment zentral zu sein [scheint], daß in der politischen Kultur religiöse Elemente zur Darstellung kommen, egal ob zum Zweck der Legitimation, der Affirmation oder der Kritik.«99 Charakteristisch für die Idee der Zivil­religion ist, dass diese sich nicht aus dem ›Glaubensvorrat‹ bzw. aus dogmatischen Vorstellungen einer – staatlich privilegierten – positiven Religion speist, sondern vielmehr einen diskursiv entstandenen religiösen Symbolbestand darstellt, welcher Teil der öffentlichen Präsentation und des Selbstverständnisses eines Gemeinwesens ist; zivilreligiöse Elemente gehören »zum 98 Lübbe, H., Religion nach der Aufklärung, 321. Mit etwas anderen Worten formuliert Lübbe in »Staat und Zivilreligion«, dass dem Zivilreligionsbegriff zugeordnet werden sollen »diejenigen Symbole, symbolischen Handlungen, rituellen und freien Bekundungen, Normen und freien Gewohnheiten […], durch die innerhalb des politischen Systems öffentlich ein Sinnbezug zu prinzipiell nicht disponiblen Voraussetzungen seiner eigenen Existenz hergestellt wird und durch die darüber hinaus der Grund bekannt und anerkannt wird, der uns normativ festlegen läßt, was prinzipiell menschlicher Dispositionsfreiheit entzogen sein soll.« (Lübbe, H., Staat und Zivilreligion, 205 f.) – Alternativen zum Begriff ›Zivilreligion‹ bestanden in Ausdrücken wie ›Religion des Bürgers‹ oder ›staatsbürgerliche Religion‹ (Habermas). Auch Rolf Schieder spricht sich 1987 noch für die Beibehalten des Anglizismus’ ›Civil ­Religion‹ aus, nicht zuletzt deshalb, weil jener den fremden, das heißt nicht-europäischen Ursprung des Konzepts verdeutlicht und eine reflektierte Anwendung auf europäische Verhältnisse anmahnt. (Vgl. Schieder, R., Civil Religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur, 26.)  – Mittlerweile dürfte sich in Religionssoziologie, politischer Kulturforschung und Theologie allerdings der Begriff ›Zivilreligion‹ endgültig durchgesetzt haben. 99 Vögele, W., ebd., 5.

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Ensemble der Passageriten des demokratischen Staates.«100 Dieser Symbolbestand zeichnet sich durch abstrakte Inhalte aus, welche moralisch unverbindlich sind und insofern wenig für die direkte alltagspraktische Orientierung austragen101 – allerdings können die symbolischen Inhalte gerade durch den Grad ihrer Abstraktion integrierend wirken. Die Zivilreligion ist, ihrer Idee nach, kein Produkt des Staates, sondern speist sich aus dem bürgerlichen Engagement. Dabei gilt es, mit Blick auf den Gebrauch zivilreligiöser Orientierungen für verschiedene Milieus zu unterscheiden: Die Akzeptanz zivilreligiöser Orientierungen ist milieuspezifisch, »sie entscheidet sich nach Kriterien wie dem Bedürfnis nach moralischer Orientierung von außen, dem Bedürfnis nach Religion, dem Bedürfnis nach Individualität und Religion.«102 Rolf Schieder definiert schließlich: »Unter Zivilreligion kann man alle zielwahlorientierenden Gewißheiten der Bürger über Ursprung, Verfassung und Bestimmung ihres Gemeinwesens verstehen.«103 In diesem Zusammenhang wird noch einmal die Bedeutung von intermediären Institutionen deutlich, denn gerade sie ermöglichen den Einzelnen – organisiert – am gesellschaftlichen Diskurs zu partizipieren. Wenn man Zivilreligion als Reaktion des Gemeinwesens auf die Religionsfreiheit ernst nimmt, dann kann der Staat nur Interesse daran haben, dass sich viele positive Religionen am Diskurs beteiligen. Auf diesem Wege entsteht ein Reservoir religiöser Elemente, welche nicht institutionell gebunden sind, deren sich aber alle Bürger und Bürgerinnen frei bedienen können, gerade weil sie nicht institutionell gebunden sind. Der Zivilreligionsbegriff öffnet (auch nationale)  Grenzen und richtet den kritischen Blick auf die Ver­ antwortungsübernahme durch die Politik im Sinne eines Gemeinwesens, das an der Idee der Freiheit und der Idee der Gerechtigkeit orientiert ist. Nachdem in diesem umfänglichen, weitgehend rein theoretisch-phänomenologisch gehaltenen Teil  versucht wurde, die Konstitutionsbedingungen von subjektivem wie objektivem Sinn und ihre notwendige Verschränkung miteinander aufzuzeigen, wird es im nachfolgenden dritten und abschließenden Teil der Untersuchung darum gehen, die Erträge der phänomenologisch orientierten Soziologie, v. a. des Ansatzes Alfred Schütz’, für die Theorie der Seelsorge zu skizzieren. Als leitende Fragestellung wurde herausgearbeitet: Welche konzeptionellen Konsequenzen ergeben sich für die Seelsorgelehre und -praxis aus dem Problem 100 Ebd., 13. Anlässe sind etwa Staatsakte, Festtagsreden, Begräbnisse, Volkstrauertag, Tag der Deutschen Einheit, 9. November, Weihnachts- und Neujahrsansprachen usw. 101 Ebd., 10. 102 Ebd., 14. Vögele bezieht sich in seinen Ausführungen auf Ergebnisse der Studie »Milieu und Kirche«, durchgeführt von der Evangelischen Akademie Loccum in Zusammenarbeit mit dem Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hannover: vgl. Vester, M./Vögele, W. (Hg.), Kirche und die Milieus der Gesellschaft. 103 Schieder, R., Wieviel Religion verträgt Deutschland?, 203.

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des gegenseitigen Verstehens fremder Selbstverhältnisse? Mit dem Ansatz Alfred Schütz’ ist es möglich geworden, das Problem des Fremdverstehens näher in den Griff zu bekommen, es in seiner Tiefendimension auszuleuchten. In diesem Zusammenhang war es konstitutiv notwendig, die Interdependenz zwischen der Genese subjektiven wie objektiven, auch gesellschaftlichen Sinns zu verdeut­ lichen. Es lassen sich invariante Elemente im Konstitutionsprozess von Sinn beschreiben, welche durch Struktur und Aufschichtung der Lebenswelt gegeben sind, bedeutsam hier vor allem: durch den Verlauf der Konturierung von Er­ fahrung und durch das ausgezeichnete Trägermittel sozialen Sinns in der intersubjektiven Kommunikation, der Sprache. Für die Theorie der Seelsorge scheinen drei Aspekte wesentlich zu sein: zum einen (1) das Wissen um die Verortung ihrer Praxis in der alltäglichen Lebenswelt. Seelsorge selbst lebt unter den Konstitutionsbedingungen der alltäg­ lichen Lebenswelt, sie ist Teil der alltäglichen Lebenswelt. Dieses Wissen kann Seelsorge mit Blick auf die Reflexion ihrer eigenen Konstitutionsbedingungen wie mit Blick auf ihre Aufgabe nutzen. Denn zum anderen (2) erscheint als grund­legende Aufgabe der Seelsorge die Arbeit an der Erhellung von Relevanz­ systemen als Voraussetzung der Möglichkeit des Fremdverstehens: Damit wird eine mögliche Antwort auf die Frage Welche konzeptionellen Konsequenzen ergeben sich für die Seelsorgelehre und -praxis aus dem Problem des gegenseitigen Verstehens fremder Selbstverhältnisse? vorgeschlagen. Seelsorge sieht den Menschen in verschiedene soziale Zusammenhänge (Familie, Freundeskreis, Arbeitsplatz, Sportverein, Internetforen etc., aber auch die Gesellschaft als [abstrakte] Großgruppe) eingestellt, welche durch ihre Impulse die Sinnkonstitutionsleistungen der Individuen und den Abgleich mit einem System bestehender Relevanzen herausfordern. Seelsorge ist damit (3) auf die plurale Ausformung individueller Religiosität verwiesen. Wie diese Aspekte als Signaturen einer alltagspraktisch orientierten Seelsorge näher beschrieben werden können, wird der nächste Teil dieser Arbeit zeigen.

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Teil III: Poimenische Überlegungen zum Problem des Fremdverstehens

Die Auseinandersetzung mit den poimenischen Arbeiten Joachim Scharfenbergs, Isolde Karles und Henning Luthers hat im ersten Teil der Arbeit gezeigt, dass es allen drei Konzepten Schwierigkeiten bereitet, die Kategorie ›Religion‹ mit der Frage zu vermitteln, wie sich Sinn individuell aufbaut, wie Handeln für das Subjekt zur Möglichkeit wird, worin der Unterschied zwischen subjektivem und objektivem Sinn gründet. Die Zuwendung zur phänomenologisch orientierten Soziologie Alfred Schütz’ mit ihrer Theorie der Lebenswelt, die Thema des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit ist, lag in dem Wunsch begründet, über die Reflexion der alltäglichen Lebenswelt und der ihr inhärenten Sinn-produktiven Strukturen zu einem tieferen Verständnis von (inter-) subjektiver Erfahrungsdeutung zu gelangen. Die Frage, die nun im dritten Teil der Arbeit vornehmlich behandelt werden soll, lautet: Welche Schlüsse sind nun aus der Beschäftigung mit der phänomenologisch orientierten Soziologie Alfred Schütz’ für eine Seelsorge, die sich in der Lebenswelt des Alltags verankert weiß, zu ziehen? Scharfenberg, Karle und Luther liefern dafür mit ihren Konzepten Grundeinsichten, die hier aufgenommen sein wollen: Seelsorge ist zunächst einmal konkretes intersubjektives Geschehen. Von der Situation konkreter Intersubjektivität aus­ gehend, ist die Wahrnehmung des größeren sozialen Kontextes wichtig; der seelsorgliche Blick darf die Individuen nicht von ihrer sozialen Umwelt isolieren, sondern vielmehr die Einbettung der Individuen in unterschiedlichste soziale Systeme realisieren. Der Gesprächspartner ist unter hermeneutischem Aspekt dem Seelsorger entzogen, er ist ihm ›vorgeordnet‹, wie Henning Luther formulieren würde; das Selbst bildet sich erst am jeweils Anderen: Sozialität ist Ausgangspunkt und Voraussetzung für die Selbst- und Weltdeutung der Subjekte. Reli­ giöse Kommunikation findet dabei ihren Modus in symbolischer Interaktion. Wie Henning Luther gezeigt hat, muss die poimenische Reflexion an den Ort der Subjekte rückgebunden werden, an die Lebenswelt des Alltags. Die Beschäftigung mit der phänomenologisch orientierten Soziologie Alfred Schütz’ und ihrer Fortführung vor allem durch Thomas Luckmann vertieft das Verständnis dieser poimenischen Einsichten von Scharfenberg, Karle und ­Luther. Gleichzeitig ist diese soziologische Theorie in der Lage, bei der Klärung von Fragen behilflich zu sein, welche für die poimenische Theoriebildung noch zu reflektieren sind. Die Fragen lassen sich an dieser Stelle, nach dem Durchgang

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Poimenische Überlegungen zum Problem des Fremdverstehens

durch Teil I und II, mit Blick auf das poimenische Interesse wie folgt reformulieren bzw. zusammenführen: 1. Wie lässt sich der lebensweltliche Zusammenhang der seelsorglichen Situation beschreiben?1 – 2. Wie lässt sich Religion im Zusammenhang (alltags-) lebensweltlichen Sinnaufbaus verorten? Welcher Ort kommt der religiösen Erfahrung im Aufbau der Alltagswelt zu? Welche Konsequenzen hat dies für die religiöse Rede wie für denkbare Gestalten der seelsorglichen Praxis, die sich in die alltägliche Lebenswelt eingebettet weiß?2 – 3. Welche theologischen Zielvorstellungen erscheinen in Reaktion auf das Problem des Fremdverstehens sinnvoll? – 4. Was folgt für die Seelsorge methodisch aus dem Problem des Fremdverstehens? Die protosoziologischen Reflexionen Alfred Schütz’ stellen für den poime­ nischen Diskurs eine Bereicherung dar, da sie die unlösbare Verankerung der seelsorglichen Situation in der Lebenswelt des Alltags plausibilisieren: Seelsorge als konkretes intersubjektives Geschehen ist in der Lebenswelt des Alltags angesiedelt und gestaltet sich unter den Bedingungen der alltäglichen Lebenswelt – also Raum, Zeit, Sozialität – aus. Daraus ergibt sich, dass sie einerseits auf die Themen und Gestalten, die der seelsorglichen Situation vorgängig sind, ausgreifen kann, da sie ihr strukturell ähnlich sind: In der Regel geht es um Themen, die auf (problematischen) sozialen Konstellationen aufliegen oder Themen, die die menschlichen Existenzbedingungen zum Gegenstand haben. Die Phänomenologie der Lebenswelt, die Schütz leistet, liefert nun ein Modell, wie sich Sinn prototypisch aufbaut. Sinn ist ein Relationsbegriff und damit Universalmedium; er entsteht durch fortlaufende Prozesse der Internalisierung, Objektivierung und Externalisierung. Die Konstitution von subjektivem Sinn wie die Genese subjektiver Relevanzen ist dabei eng mit gesellschaftlich sedimentiertem Sinn in Form des Wissensvorrats verflochten. Im Idealfall fließt die subjektive Aneignung bereits verobjektivierten Sinns in den Pool sozialen Wissens zurück: Die Kirchen als intermediäre Institutionen können hier vermittelnd wirken. Schütz’ Ausgangsfrage, wie Fremdverstehen möglich ist, kann – auch mit Blick auf die Seelsorge – zunächst dahin gehend beantwortet werden, dass der Begriff des Fremdverstehens ein Limesbegriff ist: Subjektiver Sinn lässt sich nicht  – nicht vom soziologischen Beobachter, nicht vom Seelsorger, unter Umständen nicht einmal von den Subjekten selbst gänzlich – völlig erschließen. Der Bezugspunkt jeglicher Begründungsstrukturen dabei ist das Subjekt – auch, wenn es sich um internalisierte gesellschaftlich vorgeprägte Muster handelt, so sind diese doch immer nur am Ort des Subjekts erfragbar. Das Problem des Fremdverstehens stellt sich als grundlegendes anthropologisches Problem dar; es wird in Situationen 1 Die ursprünglich lautenden Fragen »Wie baut sich Sinn als Grundelement alltagswelt­ licher Erfahrung auf? Welche Strukturen der alltäglichen Lebenswelt lassen sich mehr oder weniger allgemeingültig beschreiben?« sind in Teil II behandelt worden. 2 Die ursprünglichen Fragen 2 und 3 sind hier unter Punkt 2 zusammen gefasst.

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konkreter Intersubjektivität nicht immer explizit, es wird jedoch latent immer mitverhandelt.3 Grundsätzlich lädt der Nachvollzug der phänomenologischen Haltung zu einer Zurückhaltung gegenüber vorschnellen Deutungen ein: Indem auch der Seelsorger um den ›Index meines eigenen Jetzt und So‹ weiß, kann er nicht beanspruchen, seinen Gesprächspartner vollgültig – und unter Umständen besser als dieser sich selbst – verstanden zu haben. Verstehen ist ein approximatives und fragiles Geschehen. Ob seelsorgliche Deutungsmomente angenommen werden, bestimmt sich in vielen Fällen über die biographischen Konstitutionsmomente individueller Subjektivität. Mit der Reflexion der Kategorien ›Identität‹, ›Religion‹ und ›Sinn‹ im ersten Teil der Arbeit ist deutlich geworden, dass eine Entflechtung derselben nur um den Preis möglich ist, dass der Gesprächspartner nicht als reales, in der Lebenswelt des Alltags verortetes Individuum gedacht wird, dessen Sinnkonstitutionsprozesse selbstständig, wenn auch im Rahmen allgemein gültiger Strukturen, ablaufen. Religiöse Sinndeutung als »Deutung der Wirklichkeit im Horizont ihrer Unendlichkeits-, Ganzheits-, Ewigkeits- und Notwendigkeitsdimension«4 bezieht sich auf die äußere Erfahrungswelt wie auf das Verständnis der Iden­tität der Subjekte. Beide Bezüge kann sie nur wahrnehmen, sofern die lebensweltlichen Existentialia mit in die Reflexion eingebunden werden. Die Beschäftigung mit dem Ansatz Alfred Schütz’ hat die Lebenswelt des Alltags als ›Existenzraum‹ der Individuen plausibilisiert und aufgezeigt, dass die Lebenswelt sich aus verschiedenen Sinnprovinzen zusammen setzt, alle diese aber bezogen bleiben auf die ›ausgezeichnete Wirklichkeit‹, die Lebenswelt des Alltags. Die systematische Reflexion dieser Bedingungen mit Blick auf die Seelsorge soll nun in diesem dritten Teil geschehen.

3 Neuerlich hat sich auch C. Thierfelder mit der Frage von Fremdheit und Differenz in der Seelsorge auseinandergesetzt, wenngleich anders theoretisch fundiert und ausgerichtet: vgl. Thierfelder, C., Durch den Spiegel.  – Die Frage des Fremdverstehens betrifft ganz grundlegend natürlich auch – und augenscheinlich zunächst offensichtlicher – die interkulturelle Seelsorge. Hier scheint allerdings das im Großen auf, was sich auch intrakulturell (v. a. in pluralisierten Gesellschaften) als problematisch erweist. (Zur interkulturellen Seelsorge vgl. Schneider-Harpprecht, Chr., Fremdheit und Annäherung; ders., Interkulturelle Seelsorge; Federschmidt, K. u. a. [Hg.], Handbuch Interkulturelle Seelsorge.) 4 Barth, U., Religion in der Moderne, 14.

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10. Seelsorge und Alltag Das folgende und abschließende Kapitel fächert sich in vier Aspekte auf, die noch einmal das Spektrum des Problemzusammenhangs mit Blick auf die Seelsorge verdeutlichen. In einem ersten Unterkapitel wird der lebensweltliche Zusammenhang der seelsorglichen Situation umrissen; ein zweites Unterkapitel widmet sich noch einmal explizit der Frage nach der Verhältnisbestimmung von Religion und Alltag und der Frage nach religiöser Kommunikation. Die Kon­ statierung des Problems des Fremdverstehens gerade auch als Problem konkreter seelsorglicher Interaktion lässt nach einer theologischen Leitvorstellung fragen, nach einem Modell, unter welchen Bedingungen sich religiöse Kommunikation vollzieht bzw. vollziehen kann. Als Leitvorstellung wird im dritten Unterkapitel Schleiermachers ›Theorie des geselligen Betragens‹ vorgeschlagen sowie der Versuch einer semantischen Verknüpfung zum Gedanken der koinonia bei Paulus gewagt. Die Arbeit schließt mit der Skizze eines methodischen Reflexes auf das Problem des Fremdverstehens: Der Begriff der Relevanz hat sich als zentral im Zusammenhang der Konstitution subjektiven wie gesellschaftlichen Sinns erwiesen. In dieser Folge erscheint als methodischer Reflex auf das hermeneu­tische Problem die Erhellung, die Arbeit mit und an subjektiven Relevanz­systemen für die seelsorgliche Interaktion vielversprechend.

10.1 Der lebensweltliche Zusammenhang der seelsorglichen Situation Um das Problem des Fremdverstehens explizit mit in die poimenischen Reflexion einzubinden ist es notwendig, die Konstitutionsbedingungen individuellen Sinns an die in der Lebenswelt des Alltags stattfindenden Prozesse der Sinngenese rückzubinden. Im Folgenden wird unter Rekurs auf die phänomeno­logische Soziologie Alfred Schütz’ und ihrer Weiterführung vor allem durch Thomas Luckmann der lebensweltliche Zusammenhang der seelsorglichen Situation beschrieben. Näher betrachtet werden die wesentliche Elemente der alltäglichen Lebenswelt, Raum, Zeit und Sozialität, sowie der Umstand, dass sich Seelsorge als institutionalisiertes Handlungsfeld der Kirche ausgestaltet; auch dieser Rahmen ist in der Regel in allen seelsorglichen Begegnungen konstitutiv.

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10.1.1 Raum und Zeit Wie alle anderen Institutionen, Objektivationen, wie menschliches Leben überhaupt, unterliegt die seelsorgliche Situation den Bedingungen des Raumes und der Zeit.5 Auch ihre Themen sind von den Konstitutiva der lebensweltlichen Raum- und Zeitstruktur geprägt. Subjektive wie objektive Zeit, Lebenszeit wie Weltzeit sind irreversibel. Was bedeutet das für die seelsorgliche Arbeit? Zwei Ebenen lassen sich, zunächst mit Blick auf die Zeit, unterscheiden: Den zeitlichen Bedingungen unterliegen sowohl die konkreten Individuen, die an der seelsorglichen Situation teilnehmen, wie der institutionalisierte Rahmen. Die partizipierenden Individuen weisen ein bestimmtes Lebensalter auf  – für welches unter Umständen ein bestimmtes lebensgeschichtliches Thema charakteristisch ist (zum Beispiel Autoritätskonflikte bei Jugendlichen oder der Umgang mit der ›auferlegten‹ Freiheit nach langer Zeit der Berufstätigkeit beim Eintritt ins Rentnerdasein). Ebenfalls treten alle beteiligten Individuen mit ihrer eigenen, jeweils besonderen Lebensgeschichte in die Situation ein. Das gilt für Seel­sorgende wie Gesprächspartner gleichermaßen und bedeutet, dass das seelsorgliche Gespräch es schon immer mit abgeschlossenen oder noch aktuellen Lebensgeschichten zu tun hat, unabhängig davon, ob Vergangenes bisher im Gespräch bereits thematisiert wurde oder nicht. Lebensthemen sind anwesend, ohne dass sie angesprochen werden müssen, wenngleich sie oft ansprechbar sind. Die Irreversibilität der Zeit kann über Themen wie Sünde, Schuld, (Un-) Gerechtigkeit oder Endlichkeit bzw. Tod problematisiert werden. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang etwa stellt, ist die, ob man nicht in der Vergangenheit anders hätte handeln können/müssen, sich einer Person gegenüber anders hätte verhalten sollen. – Es zeigt sich insgesamt, dass die Themen von den Konstitutiva der lebensweltlichen Zeitstruktur geprägt sind: Die Elemente Fortdauer/ Endlichkeit, Geschichtlichkeit/Situation, Zwangsläufigkeit/first things first sind im Grunde allen Problemzusammenhängen eingeschrieben und werden biographisch individuell variiert. Der der (alltäglichen) Lebenswelt auferlegte Zeit­ charakter lässt, natürlich auch mit Blick auf die soziale Verfasstheit, fragen, was zu tun sei: ›Ich weiß nicht, was ich tun soll‹ – dieser Satz bildet sich letztendlich aus dem Umstand heraus, dass Prioritäten unter dem Vorzeichen der Erfahrung des Vergehens von Zeit miteinander konfligieren. Die seelsorgliche Situation als Ganze ist in die Zeit hinein gestellt: Sie steht in einer zeitlichen Abfolge zwischen Vergangenem und Zukunft. Während das Zukünftige unter Umständen durch die Ausgestaltung der Gegenwart mitbestimmt werden kann, sehen sich die Seelsorgenden in der konkreten Situation einer institutionellen Vorgeschichte ausgesetzt, an welcher sie selbst mitunter 5 Zur Grunddimension der Zeit in der Seelsorge (und zur Grunddimension der Sprache) vgl. auch: Gärtner, S., Zeit, Macht und Sprache.

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nicht partizipiert haben, welche jedoch die Einstellung des Gesprächspartners in der konkreten gegenwärtigen Situation mit prägt. Auf einen weiteren Aspekt mit Blick auf das Thema Zeit sei nur erwähnend eingegangen: Jeder seelsorglichen Situation steht es offen, die gemeinsam verfügbare Zeit aktiv zu gestalten. Das bedeutet, dass der aktiven Gestaltung verschiedene Formen der zeitlichen Gestaltung zur Verfügung stehen, sei es das ein­malige Gespräch6, eine begrenzte Gesprächsreihe oder das fortgesetzte Gespräch, zunächst ohne Begrenzung. Die Konsequenzen, die aus der räumlichen Verfasstheit menschlichen Lebens erwachsen, lassen sich analog formulieren: Wesentlichstes Merkmal dürfte sein, dass die Grenze der unmittelbaren Erfassbarkeit von Welt für den Menschen mit der Welt in aktueller Reichweite gegeben ist, welche er von seinem Standpunkt aus (›Nullpunkt des Koordinatensystems‹) wahrnehmen und interpretieren kann, in welcher er handeln kann. Dem Menschen kommt nicht die Möglichkeit der Ubiquität zu, er kann nicht hier und dort gleichzeitig sein. Aus dieser Verfasstheit, ebenso wie aus der zeitlichen Bedingtheit, erwachsen mitunter Entscheidungsprobleme – oder im Rückblick die Einschätzung ›zur falschen Zeit am falschen Ort‹ gewesen zu sein. Die Themen, über die diese Gegebenheiten problematisiert werden, decken sich im Wesentlichen mit denen, wie sie für die zeitliche Dimension formuliert wurden: zum Beispiel Sünde, Schuld, (Un-) Gerechtigkeit oder Endlichkeit/Tod. Die raum-zeitliche Verfasstheit des menschlichen Lebens plausibilisiert einen epistemologischen Vorbehalt: Erkenntnis, so sie sich auf die Lebenswelt des Alltags bezieht und nicht reine Spekulation bezeichnen soll, ist immer individuell generiert und gleichzeitig kulturell vermittelt. Hier ist für die Seelsorge Zurückhaltung geboten: Die Plausibilität christlicher Einsichten prüft sich an den biographischen Erfahrungen des Individuums. Sie kann nicht vorgegeben werden. Die seelsorgliche Begegnung findet unter den Bedingungen der alltagslebensweltlichen Aufschichtungen statt. Eine wesentliche Aufgabe der Seelsorge besteht darin, nach Möglichkeiten des individuellen Umgangs mit diesen lebensweltlichen Gegebenheiten zu suchen.

10.1.2 Sozialität Bei einer seelsorglichen Situation handelt es sich immer um eine Interaktion zwischen mindestens zwei Menschen. Sie stellt also eine konkrete Form der Intersubjektivität dar. Die seelsorgliche Situation ist, wie sich im vorherigen Kapitel gezeigt hat, durch die Konstitutiva Raum und Zeit geprägt. Konstelliert sich 6 Vgl. zur Form des Kurzgesprächs etwa Lohse, T. H., Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung.

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die Situation als Form der Kommunikation unter Anwesenden  – face-to-face, also nicht medial vermittelt durch Telefon oder Computer – treffen zwei Menschen in unmittelbarer Reichweite aufeinander. Die Situation der Kommunikation unter Anwesenden hat den Vorteil, dass die so genannte Symptomfülle höher ist als bei mittelbaren Kommunikationsformen: Mimik, Gestik und visueller Gesamteindruck bieten Anhaltspunkte mit Blick auf die Idee des Eigentlichen, was gesagt werden will, und mit Blick auf die Idee der Wahrhaftigkeit der Person. Die Abstufungen der Unmittelbarkeit führen zu ausgeprägteren Unschärfen mit Blick auf die Deutungssicherheit von Anzeichen. Gleichzeitig besitzen mittelbare Kommunikationsformen den Vorteil, dass sie niederschwelliger sind: Der Griff zum Telefonhörer ist in manchen Fällen, in denen eine Person stark belastet ist, leichter, als sich einem Gesprächspartner, also dem Seelsorger, mit allen Aspekten der eigenen Erscheinung preis zu geben. Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist die Möglichkeit der anonymisierten Kommunikation: Während ein Problemzusammenhang am Telefon ohne Nennung des Namens stattfinden kann und die Stimme als einziges Medium der Interpretation fungiert, fällt dieser Anhaltspunkt in der Kommunikation via E-Mail oder im Chat-Room aus. Das muss nicht nur als Nachteil interpretiert werden. Denn solch hochgradig anonymisierte Kommunikationsformen bieten die Möglichkeit neuer Freiräume, und zwar in einem guten Sinne: Hier kann unter Umständen eine bisher unterdrückte Seite der Persönlichkeit, ein unterdrückter Teil der Identität, sozial ›angetestet‹ werden.7 Damit eine seelsorgliche Situation zustande kommt, muss mit Blick auf die ›soziale Reichweite‹ ein Überschritt aus dem Bereich der Zeitgenossenschaft in die Umwelt der jeweiligen Subjekte geschehen  – die seelsorgliche Situation ist darauf angewiesen, dass Seelsorge und Gesprächspartner in eine Wir-Beziehung eintreten: Die Ausbildung einer gemeinsamen Schnittmenge im Hier und Jetzt ist die Voraussetzung für das soziale Miteinander, für die gegenseitige Wahrnehmung als eigenständige Subjekte.8 Die Wir-Beziehung ermöglicht die SelbstErfassung über die Erfahrung des Anderen. Die seelsorgliche Situation ist ein lebensweltlicher Ausschnitt, in welchem soziale Realität konkret ausgehandelt wird. Sie bietet also die Möglichkeit, institutionalisierte Verhaltensschemata, resultierend aus typisierten Erwartungen und Erwartungserwartungen, neu und kritisch zu überdenken. Die seelsorgliche Situation stellt mit Blick auf das Problem des Fremdverstehens einen Möglichkeitsraum dar: Der jeweils Andere verbindet, sozial dem Gesprächspartner immer schon vorgegeben, mit seinem Handeln einen Sinn. 7 In dieser Linie verstehe ich auch das Anliegen I. Nords mit Blick auf das Thema ›Virtualität‹ und ›Seelsorge‹: Nord, I., Virtuelle Dimension. 8 Die Vorstellung des ›Hier und Jetzt‹ unterliegt mit Blick auf mittelbare Formen seelsorglicher Kommunikation einer gewissen Varianz.

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­ ieser Sinn ist unter Umständen reflektiert und kann idealerweise erfragt werD den. Der hermeneutische Vorbehalt, dass subjektiver und objektiver Sinn nie in eins fallen, führt für die Seelsorge zu einem methodischen Reflex, der Auseinandersetzung mit subjektiven Relevanzsystemen, welcher in Kap. 10.4. ausführlicher thematisiert wird. Gleichzeitig bietet die Situation der Kommunikation unter Anwesenden die Möglichkeit, am Leib des Anderen als psychophysischer Einheit, wie Schütz es nennt, Anzeichen der fremden Bewusstseinsaktivität und Bewusstseinserlebnisse zur Interpretation heran zu ziehen. Die Annahme der prinzipiellen Übereinstimmung allgemein-menschlicher intentionaler Bewusstseinsakte begründet auch für das seelsorgliche Gespräch zunächst die so genannte Reziprozität der Perspektiven; als Situation eingebettet in die Lebenswelt des Alltags, herrscht in der konkreten Situation (zunächst) die so genannte ›natürliche Einstellung‹ vor. Eine Einstimmung in ein vertrauensvolles Miteinander darf allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass die Reziprozität der Perspektiven eine Technik zwecks pragmatischer Kommunikation darstellt  – sie speist sich aus den Idealisierungen der Vertauschbarkeit der Standpunkte wie der Kongruenz der Relevanzsysteme. Will die Seelsorge zu einem tieferen Verstehen der Interpretationskontexte des Gesprächspartners vordringen, muss sie allerdings ernst nehmen, dass konkrete Erlebnisdeutungen individuelle Akte darstellen, die in ihr subjektives Netz von Erfahrungsevidenzen verwoben sind. Die Erschließung gemeinten Sinns durch den Seelsorger bleibt immer auf die Deutung von Signata, auch auf Selbstaussagen des Gesprächspartners verwiesen. Obwohl das Problem des Fremdverstehens eine Grenze markiert, derer sich alle an einem Gespräch Beteiligten bewusst sein sollten  – besonders aber die so genannten ›Professionellen‹ – eröffnet die seelsorgliche Situation im besten Fall Raum und Zeit, innerhalb derer Möglichkeiten soziales Verstehens durchgespielt werden. Das Faktum der Sozialität bestimmt auch die Themen des seelsorglichen Gesprächs: Die allermeisten Probleme werden an sozialen Konstellationen manifest. Zu denken ist hier an Konflikte mit der Familie bzw. einzelnen Mitgliedern der Familie, an Konflikte mit Freunden, mit Lebenspartnern, Arbeitskollegen und anderen Personen aus dem individuellen sozialen Umfeld. Das Problem der Isolierung ist ein soziales Problem, in der Jugend, im mittleren Erwachsenen­ alter, als alter Mensch; das Problem, von anderen ›aufgezehrt‹ zu werden, ist ein soziales Problem. Oft geht es mit Blick auf problematische soziale Zusammenhänge um eine individuell passende Austarierung der Pole Autonomie – Hetero­ nomie, Freiheit  – Bindung, Individualität  – Gemeinschaft. Aufgabe der Seelsorge ist es, das soziale Netz des Gesprächspartners, sein soziales System, in welchem er lebt, zu erfassen. Hiervon sind Einsichten zu erwarten, innerhalb welcher Normen- und Wertgefüge sich ein Mensch bewegt, auch, inwieweit die Übernahme verschiedener Rollen mit Blick auf das Normen- und Wertgefüge eines Subjektes wie des primären sozialen Umfeldes eines Subjekts zu Konflikten

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führen, und welche Handlungskonflikte sich daraus ergeben.9 In diesen Reflexionszusammenhang gehört unter Umständen auch die Einbeziehung von Vorfahren. Zwar lassen sich keine unmittelbaren Beziehungen mehr zu bereits verstorbenen Familienmitgliedern oder Freunden des Gesprächspartners aufbauen, doch kann es wichtig sein, die Position auch einer bereits verstorbenen Person im Aufbau eines subjektiven Normen- und Wertsystems zu bestimmen. Schließlich handelt es sich bei einer seelsorglichen Situation um eine konkrete Form sozialer Interaktion. Grundsätzlich eröffnet sich hier die Möglichkeit, Erfahrungen zu versprachlichen, sie mitunter dadurch erst ›real‹ werden zu lassen, ihre Deutungs- und Verweisungszusammenhänge zu plausibilisieren bzw. neu zu bestimmen. In der seelsorglichen Situation können vergangene Handlungen und zukünftiges Handeln thematisiert werden. Im Wesentlichen geht es um die Herstellung von Sinnzusammenhängen insofern, als Sinn eine im Bewusstsein gestiftete Bezugsgröße darstellt. Handeln ist nun als Bezogensein auf das (verstehbare)  Verhalten des Gegenübers, also als reziprokes Geschehen bestimmt worden. Die seelsorgliche Situation kann nun auf zweierlei Weise als Möglichkeitsraum verstanden werden: Zum einen bietet sie Zeit und Raum, interaktional experimentell zu handeln. Im Gespräch mit dem Seelsorger oder der Seelsorgerin können die Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen einerseits verschiedene Identitätsfacetten zum Vorschein bringen, andererseits können in einer seelsorglichen Situation verschiedene Handlungsentwürfe durchgespielt werden, sofern die Frage nach Handlungsmöglichkeiten Anlass für eine seelsorgliche Zusammenkunft gewesen ist. Leitend muss dabei sein, in die Be­arbeitung einer Fragestellung die Reflexion des subjektiven Relevanzsystems, der subjektiven Planhierarchie und subjektiver Interessenzusammenhänge mit einzubeziehen.10 Kommunikationsprozesse verlaufen auch hier immer zeichenvermittelt. Lässt sich ein Unterschied zwischen Alltagskommunikation und religiöser Rede beschreiben? Geht man von dem Modell der geschlossenen Sinnprovinzen aus, bleibt zu fragen, inwieweit der Gedanke der Synchronisation der Bewusstseinsströme als Voraussetzung gemeinsamen Handelns  – auch kommunikativen Handelns – für die religiöse Kommunikation von Bedeutung ist. Zunächst aber soll ein Blick auf die institutionelle Verfasstheit von Seelsorge geworfen werden: 9 Etwa die Mutterrolle und die Rolle der erfolgreich Berufstätigen. Hier geht es nicht darum, Klischees zu reproduzieren, sondern auf eine problematische Konstellation hin zu weisen, deren Lösung in Deutschland immer noch vorwiegend individuell zu leisten ist; Versagen wird hier, familiär wie beruflich, individuell zugerechnet. – Zur Wahrnehmung des Beziehungsfelds und der sozialen Netzwerke als wichtige Dimension mit Blick auf den Zugang zu Menschen vgl. Ansätze der Systemischen Therapie bzw. Systemischen Seelsorge, vgl. etwa: Morgenthaler, Chr., Systemische Seelsorge; vgl. Held, P., Systemische Praxis in der Seelsorge; vgl. ders./Gerber, U. (Hg.), Systemische Praxis in der Kirche; vgl. Götzelmann, A., Seelsorge zwischen Subjekt und System. 10 Zu diesem Punkt mehr unter Kap. III.10.4.

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An die Seelsorge allgemein wie an die jeweiligen Seelsorgenden als Rollen­träger werden spezifische Erwartungen gestellt. Als institutionalisierte Form sozialer Interaktion sieht sich die Seelsorge selbst in systemische Verweisungszusammenhänge eingestellt.

10.1.3 Seelsorge und Institution Seelsorge ist ein institutionalisiertes Handlungsfeld der Institution Kirche. Damit nimmt sie Teil an der Reproduktion von gesellschaftlich ›bewährten‹ Sinnmustern wie der ihr funktional  – wenn auch nicht ausschließlich ihr  – zuge­ wiesenen Frage von Sinnvermittlung und Sinnproduktion.11 Dies geschieht in zwei Richtungen: mit Blick auf die innerkirchliche Struktur wie mit Blick auf die gesamte Gesellschaft. Zwei Aspekte sind im Zusammenhang des Problemhorizonts ›Seelsorge und Institution‹ zu reflektieren: zum einen die Rollenerwartungen an die Seelsorgenden, zum anderen  – auch hier findet sich ein wesentliches Anliegen Henning Luthers wieder – das politisch-diakonische Engagement der Kirche in der Gesellschaft. Anschlussfähig ist hier das Verständnis von Kirche als intermediärer Institution, wie es unter Kap. II.8.3.2. entfaltet wurde. Ihre potentielle Leistungsfähigkeit als Institution bezieht die Kirche über ihren Gegenstand: Religion bildet, auch nach der Abdrängung des eigenen Geltungsanspruchs auf die Allgemeinheit in einen ›Privatraum‹ durch die Primärinstitutionen, eine »Form eines umfassenden, inhaltlich reichen und systematisch strukturierten Erfahrungs- und Wertmusters«12 aus. Darin liegt, inmitten beschleunigter Pluralisierungsprozesse, nach wie vor ihre Stärke. Als intermediäre Institution hat die Kirche die Möglichkeit, Einzelne mit der kirchlich vertretenen Weltsicht bekannt zu machen, dazu aufzufordern, individuelle Rollenfragen vor diesem Hintergrund zu durchdenken und handelnd mit anderen Mitgliedern der Gesinnungs- und Sinngemeinschaft in der Öffentlichkeit aufzutreten.13 Dies kann sie auf unterschiedlichen Ebenen unternehmen. Auf den Verlust von Selbstverständ­ lichkeiten hinsichtlich geltender Wert- und Normensysteme antwortet Kirche als intermediäre Institution mit ihren eigenen, traditionellen und sedimentierten Erfahrungs- und Wertmustern. Ihre Plausibilität hat sie in der Gesellschaft der Moderne vorwiegend kommunikativ zu erweisen. Unter einem ersten Aspekt wird hier die seelsorgliche Situation als institutionalisierte Kommunikationsform selbst betrachtet. Der zweite Aspekt nimmt in aller Kürze die Möglichkeiten des Handelns der Kirche in der Öffentlichkeit in den Blick.

11 Vgl. Berger, P. L./Luckmann, Th., Modernität, Pluralismus, Sinnkrise, 18. 12 Ebd., 34. 13 Vgl. ebd., 62.

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Zunächst ist für die konkrete seelsorgliche Gesprächssituation festzuhalten, dass der Seelsorger Rollenträger ist, und dass ihm in der Regel mit rollenspezifischen Erwartungen entgegengetreten wird. Unter diese Erwartungen fallen Vorstellungen zu Auftreten, Meinungen, Eigenschaften etc. Unter diese Erwartungen fällt – als unterscheidendes Moment zu anderen Professionen – dass der Seelsorger bzw. die Pfarrerin ein Vertreter bzw. eine Vertreterin der christlichen Religion ist. Als ein solcher hat der Seelsorger auf (christlich-) religiöse Themen ansprechbar zu sein. Insgesamt wird man unter Rekurs auf bereits Ausgeführtes auch hier davon ausgehen können, dass konventionalisierte Erwartungshaltungen umso eher mit einem Rollenträger identifiziert werden, je mehr Anonymität mit Blick auf die konkrete Person wie auf die konkreten Möglichkeiten seelsorglicher Interaktion vorherrscht. In der seelsorglichen Situation können zwei sich bisher nicht kennende Menschen aufeinander treffen, es kann aber auch zu einer Begegnung zwischen zwei Menschen kommen, die bereits ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander haben. Unabhängig von der Art des Verhältnisses zwischen Seelsorger und Gesprächspartner zu Beginn eines seelsorglichen Gesprächs existiert die spezifische Erwartung des Gesprächspartners, es mit einer Person zu tun zu haben, die – schlicht von Berufs wegen – auf das Thema Religion ansprechbar ist, und von der auch zu erwarten ist, dass sie alltagsweltliche Situationen vor dem Horizont der christlichen Glaubenstradition potentiell zu deuten vermag. Dass die christliche Tradition Grund und Horizont seelsorglicher Theorie und Praxis bildet, entspricht dem Selbstverständnis der Institution wie der funktionalen gesellschaftlichen Zuweisung. Wenn sich Seelsorge als Funktion der Kirche versteht, hat sie die Aufgabe, ihre institutionellen Voraussetzungen mit zu reflektieren. Das dürfte gerade in hoch funktionalisierten und spezialisierten Gesellschaften zutreffen: Die christlichen Kirchen stehen nicht nur aufgrund ihres selbst gewählten Bekenntnisstandes, sondern auch in der gesellschaftlichen Zuschreibung für eine bestimmte Glaubensüberzeugung, und insofern ist es die vorrangige Aufgabe christlicher Kirchen, in all ihren Teilbereichen, nicht nur auf ihre Glaubensüberzeugung hin angesprochen werden zu können, sondern sie auch gesellschaftlich aktiv zu repräsentieren. Hier treffen sich der Missionsauftrag wie die Verantwortung zu einem am Allgemeinwohl orientierten Handeln in einem Gemeinwesen. Aus dieser Voraussetzung ergibt sich der Unterschied zwischen Seelsorge und so genannter ›weltanschaulich neutraler‹ Beratung: Der Unterschied liegt in der Ansprechbarkeit auf religiöse Fragen, in der Repräsentanz einer christlichen Institution. Die Erwartungen mit Blick auf ein bevorstehendes Gespräch mit einem Seelsorger sind andere als die mit Blick auf ein Gespräch mit einer Psychologin: Es ist anzunehmen, dass problematische Situationen oder Konflikte in einem seelsorglichen Gespräch mittels eines anderen symbolischen Systems gedeutet werden als in einem Gespräch einer staatlichen Beratungsstelle. Die Kehrseite des Zwangs zur Wahl in der pluralen Gesellschaft ist die bewusste Entscheidung:

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Dies wahrzunehmen kann für die Seelsorgenden mit Blick auf ihr eigenes berufliches Selbstverständnis hilfreich sein. Seelsorgliches Handeln kann darüber hinaus als Beitrag der Institution Kirche zur gesellschaftlichen Situation gefasst werden. In dem 2006 veröffentlichten ›Gemeinsamen Wort‹ des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft des demokratischen Gemeinwesens in Deutschland, »Demokratie braucht Tugenden«, heißt es: »Für die Kirchen gehört es zu ihrer politisch-diakonischen Verantwortung und ihrem seelsorgerlichen Auftrag, die politische Gemeinschaft zur Wahrnehmung von Ver­ antwortung in der Demokratie aufzurufen und zu ermutigen. Es ist Teil ihres Verkündigungsauftrags, wenn sie die Bürgerinnen und Bürger auf das Gebot der Nächstenliebe als Grundlage der politischen Tugend des aktiven Eintretens für die Belange der einzelnen Menschen wie des Gemeinwohls verweisen.«14

Das ›Gemeinsame Wort‹ spricht damit die wesentliche Aufgabe an, die die Kirchen im Gesamtzusammenhang der Gesellschaft besitzen: die aktive Be­teiligung am zivilgesellschaftlichen Wertediskurs und die (mit anderen geteilte) Verantwortung für das Gemeinwohl. Diese Verantwortung leiten die Kirchen nicht aus ihrem vermeintlich volkskirchlichen Charakter ab, sie ergibt sich aus dem grundlegend sozialen Charakter des christlichen Gedankens. Da die Prinzipien der Sorge und der Gerechtigkeit mit anderen Prinzipien anderer Institutionen und Systeme konkurrieren, die nicht unter das Kriterium der Menschendienlichkeit fallen, müssen die Kirchen ihrer eigenen Tradition gegenüber Verantwortung übernehmen und sich für eine Gesellschaft einsetzen, die Menschen, im besten Sinne des Wortes, zusammen leben lässt. Die Konkretisierung der Verantwortung hat es dabei immer mit den beiden Aspekten des Wohls des einzelnen Menschen einerseits wie des Gesamtwohls andererseits zu tun. Die Wahrnehmung diakonisch-politischer Verantwortung materialisiert sich in drei Formen: durch Aufrechterhaltung ›klassischer‹ sozialer Dienstleistungen15; 14 Demokratie braucht Tugenden, 47. 15 Es existieren dabei verschiedene Modelle, das Verhältnis von Seelsorge und Diakonie zueinander zu bestimmen: Entweder wird die eine Disziplin der anderen untergeordnet (eine Vorordnung der Seelsorge findet sich vorwiegend in Lehrbüchern zur Seelsorge; in seiner »Praktische[n] Theologie« bestimmt auch Dietrich Rössler die Seelsorge als Sonderfall der Diakonie, vgl. Rössler, D., Grundriß, 175 ff), man bestimmt eine Gleichrangigkeit mit einer thematischen ›Schnittmenge‹, oder das Verhältnis von Diakonie und Seelsorge wird als Trennung beider Dimensionen beschrieben. (Zu den verschiedenen Modellen vgl. Götzelmann, A., Zum Verhältnis von Seelsorge und Diakonie, 18 ff.) – Der erste, der den Begriff der »diakonischen Seelsorge« verwendet, ist Dietrich Bonhoeffer im Zuge seiner Finkenwalder Seelsorgevorlesung von 1935, als Unterscheidung von der »kerygmatischen Seelsorge«. (Vgl. Bobert-Stützel, S., Dietrich Boenhoeffers Pastoraltheologie, 255 ff. Götzelmann/DrescherPfeiffer/Schwartz verweisen darauf, dass die diakonische Blickrichtung der Seelsorge nicht neu ist, dass der Aspekt bei Nitzsch und Niebergall bereits Eingang in die Reflexion findet; auch Otto Baumgarten erarbeitet im Zuge seiner Seelsorgelehre einen »sozialen Zugang« zur

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durch Beteiligung an gesellschaftlichen Diskursen zu sozialethischen und unter Umständen politischen Fragestellungen; durch Angebote von liturgischen ForSeelsorge. Vgl. Götzelmann, A./Drescher-Pfeiffer, K-H.,/Schwartz, W., Impulse für eine diakonische Seelsorge im 21.  Jahrhundert, 12 f; vgl. Baumgarten, Otto, Protestantische Seelsorge, 177 ff; 234 ff.)  – Dass der diakonische Aspekt von Seelsorge lange Zeit unzureichend reflektiert worden ist, ist in der Verkündigungsorientierung und Individuumszentrierung der Poimenik zu suchen. Im Zuge der Seelsorgebewegung kommt es nur zu vereinzelten Verhältnisbestimmungen zwischen Diakonie und Seelsorge. Einen programmatischen Schwerpunkt auf die diakonische Orientierung setzt für die Poimenik Henning Luther mit seinem Artikel »Diako­nische Seelsorge« (Vgl. Kap. I.4.1.1.). Luther strebt dabei, wie bereits erwähnt, die Überwindung folgender Dualismen an, »1. die Trennung von Wort und Tat, von Fürsorge und Seelsorge, von Lebenshilfe und Glaubenshilfe, von Beratung und Verkündigung, von Diakonie und Theologie …; 2. die Trennung von individuellen und sozialen/gesellschaftlichen Aspekten, von personalen und institutionellen Perspektiven …« (Luther, H., Diakonische Seelsorge, 475.) Die Herausstellung des Verbindenden zwischen Seelsorge, Diakonie und Sozialarbeit soll die Trennungen der Perspektiven überwinden. – Henning Luther wird von Arnd Götzelmann dahingehend kritisiert, dass er Begrifflichkeiten verwischt und beide Dimensionen in eins schmilzt. (Vgl. Götzelmann, A., Zum Verhältnis von Seelsorge und Diakonie, 44.) Bei aller berechtigten Kritik scheint mir doch ein wesentlicher Aspekt darin zu liegen, dass Luther den poimenischen Blick einerseits aufweiten will und soziale bzw. gesellschaft­liche Phänomene fassen können will, die auf die Einzelnen negativ einwirken, dass er sich andererseits von der ewigen Perspektive des Helfen-Wollens und vermeintlichen Helfen-Könnens verabschieden will. Diese Aspekte wurden im ersten Teil der Arbeit bereits ausführlicher behandelt. Luther hätte kaum behauptet, dass Diakonie und Seelsorge eins sind im Sinne eines identischen Handlungsfeldes. Was er betont, ist die Notwendigkeit, eine grundsätzlich diakonische Haltung in der Seelsorge bzw. in aller kirchlichen Praxis einzunehmen. – Der Aspekt des Diakonischen hat mittlerweile in einige poimenische Lehrbücher Einzug gefunden, etwa in die »Seelsorgelehre« Jürgen Ziemers. Im Anschluss an Henning Luther und Hermann Steinkamp bestimmt Ziemer Seelsorge als solidarische Praxis. Den Zusammenhang zwischen diakonischem Engagement und sozialpolitischer Wachsamkeit stellt Ziemer deutlich heraus: »Seelsorge kann […] nur in einer Kirche gelingen, die als Ganze und in ihren einzelnen Insti­ tutionalisierungen ein klares und eindeutiges sozialpolitisches Engagement erkennen lässt. […] Sie [die Seelsorgerinnen und Seelsorger; KM] müssen es einfordern und selbst zum Engagement bereit sein. Wenn Seelsorge generell stärker den Blick auf strukturelle Gegebenheiten in unserer Welt richtet und durch eine wache soziale Aufmerksamkeit gekennzeichnet ist, dann wird ihr Zusammenhang mit der Diakonie auch wieder deutlicher.« (Ziemer, J., Seelsorgelehre, 125 f.) – Für die Seelsorge geht es also um die Einübung des diakonischen Blicks. Notwendig ist, ein systemisches Verständnis von der Vielschichtigkeit menschlicher Lebenslagen zu gewinnen, es thematisieren zu können und darauf ansprechbar zu sein. (Die konkreten diakonischen Handlungsfelder werden darüber hinaus von diakonischen Einrichtungen professionell wahrgenommen: Das Diakonische Werk der EKD ist zusammen mit dem Deutschen Caritasverband (noch) der größte nichtstaatliche Dienstleister im Sozialbereich. Klassische Handlungsfelder der kirchlichen Diakonie sind: Altenhilfe, Flüchtlingshilfe, Ehe- und Familienberatung, Kinder- und Jugendhilfe, Obdachlosenhilfe, Arbeitslosenhilfe etc. Unverzichtbar neben diesen hochspezialisierten Handlungsfeldern der Diakonie bleibt die sog. ›Gemeindediakonie‹, welche als Sorge um Ausgrenzungsprozesse im sozialen Nahbereich – oder auch zur weltumspannenden, ökumenischen Solidarisierungsaktivitäten – unverzichtbar ist.) Auch Diakonie als Seelsorge, letztere verstanden als Grundfunktion der Kirche (vgl. Kap. III.10.2.3.), bedeutet Schaffen von Partizipationsmöglichkeiten.

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men, die sozialintegrative Bedeutung über die Orts-/Personalgemeinde hinaus haben (Medienformate wie Fernseh- oder Rundfunkgottesdienste; anlassbezogene Gottesdienste). Die Mitwirkung am politischen Wollen einer Gesellschaft sollte als Aufgabe der Kirchen verstanden werden: Als Vertreter eines bestimmten weltanschaulichen Interesses können und müssen sich die Kirchen in den Dialog begeben, um an der Aushandlung einer allgemeinverbindlichen und öffentlichen Moral beteiligt zu sein, welche das Gemeinwesen fundiert: Klassischerweise sind an dem Prozess der Erlangung eines zivilreligiösen Konsenses Parteien und Parlamente, Gerichte, Medien, Schulen und die Kirchen beteiligt.16 Dabei wird es immer wichtiger, Zivilreligion und Religionsfreiheit zueinander so zu bestimmen, dass die Religionsfreiheit keinen Schaden nimmt. Dieser Aspekt verweist auf die Notwendigkeit, auch andere religiöse Institutionen oder Gemeinschaften in den öffentlichen Diskurs mit einzubeziehen. Leitend könnte das sein, was Wolfgang Huber »gottoffene Humanität«17 genannt hat: Es geht um die Entwicklung einer zivilgesellschaftlich verorteten Anthropologie, die vor allem die Unverbrüchlichkeit der Menschenwürde für alle Menschen auf Dauer stellt, und die, damit einhergehend, das Recht auf religiöse Orientierung, welcher Art auch immer, ernst nimmt und nicht als unaufgeklärtes und somit zu überwindendes Denken per se abqualifiziert.18 Die Umstellung von alleiniger staatlicher Privilegierung auf zivilgesellschaftliche Plausibilität in der Frage der Anerkennung von Institution und ›Botschaft‹ stellt die Kirchen – und die Theologie – mitunter immer noch vor Adaptionsprobleme.19 Die Kirchen können ihre gesellschaftliche Position als intermediäre Institution dazu nutzen, um als ›Interpretationsgemeinschaft‹ Einzelnen die Möglichkeit zu bieten, »die Deutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit mitzuprägen und an der Weiterentwicklung gesellschaftlicher Sinnmuster mitzuarbeiten«20. 16 Vgl. Schieder, R., Art. Civil Religion, 383. 17 Huber, W., Die Rolle der Kirchen als intermediärer Institutionen in der Gesellschaft, unter URL: http://ekd.de/print.php?file=/vortraege/huber/huber-v5.html (12.02.2008). 18 Vor allem Schulen und Gerichte sind Träger zivilreligiöser Debatten, wie es etwa Kopftuch- oder Kruzifixurteil, auch die Frage nach der Legitimität konfessionellen Unterrichts an Schulen, zeigen. Dass die Medien eine zentrale Rolle mit Blick auf den zivilreligiösen Diskurs haben, zeigen unter anderem die Diskussionen um äquivalente bzw. alternative Sendeformate zum Wort zum Sonntag, welche von Muslimen und Juden gestaltet werden. (Vgl. Brauck, M., Neues Sendungs-Bewusstsein, 122 f.) 19 Vgl. Schieder, R., ebd., 383 f. – Vgl. zum Öffentlichkeitscharakter religiöser Rede: Weyel, B., Predigt und Öffentlichkeit, 173 ff. 20 Huber, W., ebd. – Dass Kirche auch eine Verantwortung gegenüber Menschen in öffentlicher Verantwortung trägt, welcher sie unter Ausübung der »öffentlichen Seelsorge« nachkommen kann, hat Klaus Engelhardt mit Verweis darauf ausgeführt, dass es sich hierbei nicht nur um Krisenmanagement handeln kann: Mit Bezug auf die Fürbitte schreibt er: »Das gottesdienstliche Fürbittgebet ist ein sensibles Kriterium dafür, ob und wie die Kirche seel­sorgerlich in der Öffentlichkeit präsent ist.« (Engelhard, K., Seelsorge an Frauen und Männern, 197.) –

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Wie lässt sich Religion nun im Zusammenhang (alltags-) lebensweltlichen Sinnaufbaus verorten? Welcher Ort kommt der religiösen Erfahrung im Aufbau der Alltagswelt zu? Welche Konsequenzen hat dies für die religiöse Rede wie für denkbare Gestalten der seelsorglichen Praxis, die sich in die alltägliche Lebenswelt eingebettet weiß?

10.2 Religion und alltägliche Lebenswelt Zunächst geht es noch einmal darum zu fragen, wie sich die beiden Größen ›Religion‹ und ›Alltag‹ zueinander bestimmen lassen. Daran schließen sich Überlegungen zur religiösen Kommunikation an; besonders das Thema der geschlossenen Sinnprovinzen wird in die poimenische Reflexion mit einbezogen. Schließlich widmet sich ein letztes Unterkapitel der Frage nach den verschiedenen Gestalten der seelsorglichen Praxis in der alltäglichen Lebenswelt. Nur am Rande sollen die bereits erwähnten Angebote liturgischer Formen thematisiert ­werden, die sozialintegrative Bedeutung über die Orts-/Personalgemeinde hinaus haben. Hier ist einerseits an Medienformate wie Fernseh- oder Rundfunkgottesdienste zu denken, besonders aber an anlassbezogene Gottesdienste, etwa in Folge von Unglücken oder Katastrophen (beispielsweise ist zu denken an die Gottesdienste im Zusammenhang des Massakers in der Erfurter Gutenberg-Schule, des Zugunglücks von Eschede oder des Amoklaufs von Winnenden.) Die anlassbezogenen Gottesdienste in Folge von Unglücken und Katastrophen sind eine Station der Vergewisserung: der des Überlebt-Habens und der des Abschied-Nehmens. Sie bearbeiten gesellschaftlich empfundene Kontingenzeinbrüche. Das Angebot dieser Vergewisserungsleistung ist eine Leistung, die die Kirche für die Gemeinschaft erbringt, im Wissen darum, dass der Vergemeinschaftsungsappell überlebensnotwendig für die Großgruppe ist. (Unter Absehung von Erklärungsversuchen scheint der Appell in solchen schweren Stunden zumeist darin zu bestehen, dass die Sozialgemeinschaft dennoch an sich glaubt: »dem Schmerz standzuhalten und nicht an der Welt und am Menschen zu verzweifeln« (EKD-Ratsvorsitzender zum Amoklauf in Erfurt: »Keine Antwort auf die Frage nach dem ›Warum‹« [26. April 2002], unter URL: http://www.ekd.de/print.php?file=/presse/pm44_2002_rv_amok lauf_erfurt.html [12.02.2008]), so der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Kock in seiner Pressemitteilung zu Erfurt; pointiert formulierte Johannes Rau in der Trauerfeier: »Wenn unsere Gesellschaft zusammenhalten soll, dann müssen wir uns umeinander kümmern! Wir müssen einander achten und aufeinander achten!« (Zit. n. Kulick, H., »Das Entsetzen hat uns nicht verlassen!« [Spiegel Online vom 03. Mai 2002], unter URL: http://www.spiegel.de/ politik/deutschland/0,1518,194596,00.html [12.02.2008].) – Das ist die zivilreligiöse Botschaft, die für solche Anlässe mindestens so wichtig ist wie die Bearbeitung der Katastrophenerfahrung durch tradierte christliche Symbolik. Dass es nicht nur um sprachliche Symbolik geht, zeigt die Omnipräsenz von Kreuzen und Kerzen, von Blumen, Kränzen und Zetteln.) Denn Katastrophen und Unglücksfälle verursachen in der Regel ein Sinnvakuum, das nach Deutung verlangt. Die Kirchen haben hier die Möglichkeit, dem Unaussprechlichen, der Trauer, der Angst eine (symbolische)  Gestalt zu geben und dadurch wiederum sozial integrativ zu wirken: Denn eine gesellschaftliche Erschütterung zieht immer das Bedürfnis nach einer Ver­ sicherung dessen nach sich, was die soziale Gemeinschaft im Kern zusammenhält. – Vgl. dazu auch Friedrichs, L., Kasualpraxis in der Spätmoderne, 218.

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10.2.1 Der Ort der Religion in der alltäglichen Lebenswelt Religion und Alltag sind untrennbar miteinander verwoben. Diese Verwobenheit kann unter Aufnahme dreier Reflexionsmomente näher beschrieben werden: erstens durch die Annahme einer anthropologischen Grundlegung, zweitens über die Reflexion der Phänomenologie der Transzendenzen, drittens über die Bestimmung von Religion als konstituiert durch grundlegende Vollzüge der Sinngenese. Die anthropologische Grundlegung Die Erfahrung des Anderen wurde bereits als Ort der Selbsttranszendenz beschrieben: Die Ablösung aus der konkreten Unmittelbarkeit stellt die Voraus­ setzung für Individuation, die Genese von Identität und reflektierte Intersubjektivität dar. Gleichzeitig ist der religiöse Vollzug in der Bewegung auf den Anderen zu präliminiert. Die Erkenntnis der Grenze des Subjekts wie die Erfahrung der Welt bringen die Bewegung hervor: Die Fähigkeit zur Transzendierung ermöglicht es dem Menschen, ›Wirklichkeit‹ zu setzen, indem Ich und Umwelt als Getrennte wahrgenommen werden. Das bedeutet für die Bestimmung des Verhältnisses von Religion und alltäglicher Lebenswelt, dass das Grundmuster des religiösen Vollzugs fest in der Lebenswelt des Alltags verankert ist. Es ist wesentliches Merkmal der konkreten Intersubjektivität. Der notwendige Bezug zu dem Anderen verweist darauf, dass das Subjekt an sich angewiesen ist. Die Fragmentarität der Ich-Identität erfordert zur Ausprägung von Subjektivität und Selbstreflexion die Begegnung mit dem Anderen: Die Identität eines Individuums erwächst aus der Differenz zum Anderen.21 Die gelebte Intersubjektivität erweist sich dabei in zweierlei Hinsicht als religionsproduktiv: einerseits mit Blick auf die unendliche Fülle potentieller Begegnungserfahrungen, andererseits mit Blick auf die prinzipielle Entzogenheit und Unverfügbarkeit des Anderen. Das Bewusstsein von der unendlichen Fülle potentieller Begegnungserfahrungen fordert eine strukturelle Offenheit hinsichtlich der subjektiven Identitätsbildung ein. Dies sich und einem Gesprächspartner zu verdeutlichen dürfte mit eine seelsorgliche Aufgabe sein, denn diese strukturelle Offenheit zieht wiederum Eigenschaften nach sich, die für ein gelingendes Miteinander von Vorteil sind: Interesse, Wachheit, Flexibilität, Vorurteilslosigkeit. Hinter dem Typus des anderen Menschen das konkrete Subjekt zu sehen, welches – allein durch seine individuelle biographische Situation – einzigartig ist, prägt eine Haltung aus, die Begegnung und Bemühen um Verstehen ermöglicht. Sie ist prinzipiell religionsoffen. In der Reflexion der prinzipiellen Entzogenheit und Unverfügbarkeit des Anderen sei noch einmal auf Emmanuel Lévinas zurück gegriffen, um den reli

21 Vgl. Luther, H., Religion und Alltag, 169.

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gionsproduktiven Aspekt der Fremdheitserfahrung zu verdeutlichen. Der Andere bleibt bei Lévinas immer fremd; in seiner »Ander-heit« kann er niemals von einem Ich vereinnahmt werden, indem dieses den Anderen als ›Alter Ego‹ (quasi als ›verdoppeltes Ich‹) wahrnimmt. Die »Ander-heit« ist bei Lévinas nicht als relative gedacht, sondern als absolute: Es gibt kein Selbes, das zwischen zwei Anderen vermittelte. Der Andere bleibt immer vollständig ›Alter‹. Als solcher fordert er heraus; die Epiphanie seines Anlitzes ist Heimsuchung, das Antlitz bedeutet und ist durch sich selbst Transzendenz, »Offenbarung, in der sich die Dimension des Unendlichen öffnet.«22 Die Beziehung zum Anderen, welche auf dessen Anrufung basiert, ist Religion, Ausdruck der gemeinschaftlichen Beziehung zum Seienden als Seiendem.  – Die bleibende Fremdheit des Anderen ist unauflösbar. Sie ist grundlegend und jeder Gestalt konkreter Intersubjektivität eingestiftet. Die Konsequenz ist allerdings nicht das Verharren, sondern die Wanderschaft. Der Andere fordert heraus zum Verlassen des eingenommenen Platzes. Die unendliche Fülle potentieller Begegnungserfahrungen wie die prinzipielle Entzogenheit des Anderen fordern die Bewegung auf den Anderen hin. Insofern bildet die in der Lebenswelt des Alltags grundgelegte Sozialität als Anstiftung zur Selbsttranszendenz die Grundform für höherstufige religiöse Akte. Zur Phänomenologie der Transzendenzen Die von Alfred Schütz und Thomas Luckmann vorgeschlagenen Differenzierungen mit Blick auf die verschiedenen Transzendenzspannweiten plausibilisieren unmittelbar die enge Verwobenheit des Religiösen mit der Lebenswelt des Alltags. Schütz wie Luckmann nehmen die Unterteilung in ›kleine‹, ›mittlere‹ und ›große‹ Transzendenzen vor, wobei die ›mittleren‹ Transzendenzen von Schütz noch einmal differenzierter bestimmt werden als von Luckmann.23 Worauf es hier ankommt, ist, dass sie in der Bearbeitung der Reichweite, auf die sie sich beziehen, aufeinander aufbauen. Zwar werden erst die ›großen‹ Transzen­ denzen mit Religion in Verbindung gebracht – doch sind auch die anderen Trans­ zendenzen als religionsaffin zu bezeichnen, da sie das Potential besitzen, eine größere Dimension anzunehmen. Das bedeutet, dass eine Situation, in der ein Mensch in der Regel über Routinehandeln ein Problem auf dem Niveau ›kleiner‹ Transzendenzen löst, zu einem anderen Moment den Anlass bietet, über Grund und So-Sein des menschlichen Lebens nachzudenken. Der Auslöser für die ›Störung‹ im Routineablauf kann vielfältig sein, von ungeplanten Verzögerungen im zeit­lichen Ablauf bis hin zu plötzlicher krankheitsbedingter Immobilität. Denkt man an Schütz’ Theorie geschlossener Sinnprovinzen, kann man davon ausgehen, dass sich mit Blick auf die Einschätzung der ursprünglichen Si

22 Ebd., 78. 23 Vgl. Kap. II.9.1.1.

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tuation ein Wandel in der Bewusstseinsspannung ereignet, man sieht etwas ›mit anderen Augen‹. Diese wenigen Gedanken beschreiben die schlichte Tatsache, dass alltägliche Anlässe für religiöse Akte mannigfaltig sind, vor allem gründen die Themen, die religiös bearbeitet werden, in der Lebenswelt des Alltags, in den (Grenz-) Erfahrungen des Menschen mit sich, der Umwelt und seinen Mit­menschen. Die Spannweite einer Transzendenz kann sich dabei ändern: aus einer ›kleinen‹ kann eine ›mittlere‹ werden, aus einer ›großen‹ kann eine ›mittlere‹ werden  – dies hängt davon ab, wie viel an Fremdheit in der Bearbeitung einer Schwelle aufgebaut, erhalten oder abgebaut wird. Grundlegende Vollzüge der Sinngenese Die religiöse Deutung ruht auf grundlegenden Vollzügen der pragmatischen Sinngenese auf. Das bedeutet zunächst, dass die Anlässe, um die es geht, Konstellationen der alltäglichen Lebenswelt entstammen – wie sie sich aus den lebensweltlichen Aufschichtungen Zeit, Raum und Sozialität ergeben. Die religiöse Deutung verdoppelt quasi das zu reflektierende Erlebnis der alltäglichen Lebenswelt: Ein Erlebnis kann einerseits analog zu den Bedingungen der Lebenswelt des Alltags geschildert und gedeutet werden, es kann dann aber auch unter den Bedingungen des spezifischen religiösen Auslegungsschemas inter­pretiert werden. Der Charakter dieser duplizierenden Sichtweise kommt im Grunde allen symbolischen Deutungen zu, also etwa auch der Deutung des kindlichen Autoritätskonflikts in der psychoanalytischen Theorie Freuds als Ödipuskonflikt. Es ist anzunehmen, dass, sofern eine gemeinsame religiöse bzw. weltanschauliche Deutung gelingen soll, das zu deutende Erlebnis unter den Bedingungen der alltäglichen Lebenswelt zunächst reformuliert und rekonstruiert werden muss, bevor es von einem religiösen oder weltanschaulichen Standpunkt aus interpretiert werden kann. Auch der religiöse Deutungsvorgang ist nun auf die Anschlussfähigkeit an das subjektive Sinnsystem angewiesen: Erst wenn eine Deutung in einen Verweisungszusammenhang mit subjektiv Vorgängigem gebracht ist, kann sie subjektive Relevanz ausprägen: Sinn ist eine Bezugsgröße, keine einer Erfahrung selbst zukommende Eigenschaft. Die Herstellung eines Deutungsoder Verweisungszusammenhangs ist, wie bereits ausgeführt, von vorhandenen subjektiven Relevanzsystemen und dem zur Verfügung stehenden Wissensvorrat abhängig. Geht es in der seelsorglichen Situation um die Wiedererlangung von Handlungsfähigkeit  – allgemein oder mit Bezug auf eine konkrete Situation, muss sich der prospektive Entwurf modo futuri exacti an das bestehende subjektive Relevanzsystem, an subjektive Planhierarchien, also an die subjektive Eigenlogik hinsichtlich der Herstellung von Verweisungszusammenhängen rückkoppeln lassen. Dabei bilden die Akte kommunikativen Handelns in der seelsorglichen Situation – als Teil der alltäglichen Lebenswelt – materiale Formen sozialen Handelns aus, Formen des Bezogenseins des Handelns auf das Verhalten des Gesprächspartners. Sie konstituieren den Möglichkeitsraum der Seel-

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sorge, auf deren Sinnkonstitutionsleistungen andere Formen sozialen Handelns außerhalb der seelsorglichen Situation aufbauen können.

10.2.2 Religiöse Kommunikation Wie kann religiöse Kommunikation in einer seelsorglichen Situation vor dem Hintergrund der Ausführungen zur phänomenologisch orientierten Soziologie beschrieben werden? Die folgenden Überlegungen sind als Annäherung an das Phänomen zu verstehen, wie sie sich aus den Schütz’schen Reflexionen zu den geschlossenen Sinnprovinzen und der intersubjektiven Bedeutungs­konstitution durch Zeichen und Symbole, durch Sprache ergeben. Allgemein kann man sagen, dass religiöse Kommunikation in die Kommunikationsprozesse der Lebenswelt des Alltags eingefügt ist. Mehr noch: Die Lebenswelt des Alltags erhält ihre Ordnung durch kommunikative Handlungen, Zeichen und Symbole. Zeichen und Symbole benennen die Grenzen der alltäglichen Lebenswelt, sie be­arbeiten, transzendieren diese Grenzen.24 Religiöse Kommunikation ist, sofern sie eine soziale Form ausprägen will, auf konkrete Intersubjektivität und damit auf Prozesse der Bestätigung angewiesen. Geschlossene Sinnprovinzen Für Schütz’ Theorie der geschlossenen Sinnprovinzen gilt, dass der so genannten ausgezeichneten Wirklichkeit der Lebenswelt des Alltags als einziger Sinn­ provinz der Wirklichkeitsakzent des Wirkens zukommt. Dieser Wirkwelt steht der Mensch in der Regel pragmatisch gesinnt gegenüber. Jeder Sinnprovinz kommt dabei ein spezifischer kognitiver Stil zu, jeder Sinnprovinz ist eine besondere Bewusstseinsspannung eigen.25 Die Geschlossenheit der Sinnprovinzen hat zur Folge, dass keine der Sinnprovinzen einfach in eine andere transformiert werden könnte. Den Wechsel von einer Sinnprovinz in eine andere beschreibt Schütz als Sprung bzw. analog zum Kierkegaard’schen Schock. Mit 24 Vgl. Kap. II.8.2. 25 Zur Rekapitulation: Der kognitive Stil der Lebenswelt des Alltags besteht aus folgenden Merkmalen: »(1) [E]ine spezifische Bewusstseinsspannung, nämlich das Hellwachsein, das in der völligen Aufmerksamkeit auf das Leben gründet; (2) eine spezifische Epoché, nämlich das Ausklammern des Zweifels; (3) eine vorherrschende Form der Spontaneität, nämlich die des Wirkens (eine sinnhafte Spontaneität, die auf einem Entwurf gründet und durch die Absicht gekennzeichnet ist, die entworfenen Zustände mittels auf die Außenwelt sich richtender Körperbewegungen herbeizuführen); (4) eine spezifische Form der Erfahrung des Selbst (das wirkende Selbst als das totale Selbst); (5) eine spezifische Form der Sozialität (die gemeinsame intersubjektive Welt der Kommunikation und des sozialen Handelns); (6) eine spezifische Zeitperspektive (die Standardzeit, die in einem Schnittpunkt von durée und kosmischer Zeit als die universale zeitliche Struktur der intersubjektiven Welt ihren Ursprung hat).« (Schütz, A., Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, 207. Im Original hervorgehoben.)

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einem Wechsel von einer Sinnprovinz in eine andere verändert sich also die Bewusstseinsspannung, aber auch Epoché, Sozialität, Spontaneität, Selbsterfahrung und Zeitperspektive. Der Wechsel einer Sinnprovinz bedeutet also einen Wechsel im Erlebnisstil. Die Sinnprovinzen sind dabei nicht in einem statischen Sinne zueinander zu denken, auch stellen sie keine ontologischen Entitäten dar. Von Interesse für die Frage der religiösen Kommunikation sind die von Schütz so genannten »Enklaven« oder »Überschneidungsräume« verschiedener kognitiver Stile. Schütz selbst führt dazu leider nur wenig aus26: Die Wirkwelt des Alltags ist hinsichtlich der Kommunikationspotentiale nicht hermetisch abgeriegelt, sondern prinzipiell durchlässig für Erlebnisse in oder mit anderen Sinnprovinzen: Die konkrete Intersubjektivität findet in diesen »Überschneidungsräumen« (»diskursive[n] Subunivers[en]«27) statt. Das bedeutet zunächst für die seelsorgliche Situation, dass zwei Subjekte aufeinander treffen, die beide in der ausgezeichneten Wirklichkeit der Lebenswelt des Alltags verortet sind – erst dies ermöglicht die Kommunikation miteinander. Unter dieser Bedingung partizipieren sie beide an den Charakteristika der alltäglichen Lebenswelt, und unter Umständen führt auch eine leitende Fragestellung (›Was soll/kann ich tun?‹) auf die intersubjektiv geteilte und gestaltete alltägliche Lebenswelt zurück. Wie bereits im vorherigen Kapitel ausgeführt, werden die Gesprächspartner für die Seelsorge qua institutioneller Anbindung einen Wechsel im kognitiven Stil erwarten. Anders formuliert: Eine (Lebens-) Geschichte, die sich in der alltäglichen Lebenswelt ereignet hat, ein Erlebnis, eine Erfahrung der alltäglichen Lebenswelt bedarf der Erinnerung und der Reformulierung vor dem Hintergrund eines anderen Auslegungsschemas. Wechsel des Auslegungsschemas Intersubjektive Kommunikation ereignet sich über Zeichensetzung und Zeichendeutung, im allgemeinsten Sinn gesprochen. Von Bedeutung ist dabei der Vorgang der Appräsentation, der ›Mitvergegenwärtigung‹ von etwas gegenwärtig nicht Wahrnehmbarem, Anwesendem. Nur so kann ›über etwas‹ gesprochen werden. Dass Appräsentationsvorgänge komplex und störanfällig sind, ist aufgrund der Bestimmung wahrscheinlich, dass an jeder Appräsentationssituation vier Schemata beteiligt sind: a) Apperzeptionsschema; b) Appräsentationsschema; c) Verweisungsschema; d) Rahmen- oder Deutungsschema.28 Die Deutung einer Appräsentationsbeziehung hängt also von der Bevorzugung eines Schemas ab: Wie bereits ausgeführt, kann ein Zeichen oder ein Symbol in einer sozialen Gruppe etwas anderes bedeuten als in einer anderen sozialen Gruppe. 26 Vgl. Kap. II.9.1.2. 27 Schütz, A., Don Quijote und das Problem der Realität, 297. – S. d. Beispiel ›Rollenspiele‹ in Kap. II.9.1.2, Anm. 33. 28 Vgl. Schütz, A., Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft, 134.

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Symbole weisen dabei mit Blick auf ihre Bestimmungsrelation einen höheren Komplexitätsgrad auf als Zeichen: Sie beziehen sich, so Schütz, auf Erfahrungen, die den Alltag überschreiten, die nicht im Alltag aufgehen und in ihm kein entsprechendes Antwortmuster finden.29 Auch gehört das appräsentierte Glied der Paarung bei Symbolen einem anderen Wirklichkeitsbereich an als das appräsentierende Glied. Das appräsentierende Glied kann also ein Geschehnis oder eine Gegebenheit der Wirklichkeit des Alltags sein, wobei das appräsentierte Glied auf etwas verweist, das die Alltagserfahrung transzendiert. Man kann auch sagen: Die Wirklichkeit des appräsentierten Glieds gehört einem anderen (geschlossenen) Sinnbereich an.30 Charakteristisch für symbolische Appräsentationen ist, dass sie Verweisungen höherer Ordnung darstellen und auf anderen appräsentativen Verweisungen, wie Anzeichen, Merkzeichen, Zeichen, anderen Symbolen, aufruhen – Symbole entziehen sich der eindeutigen Interpretation. Daraus folgt für das Verhältnis zwischen in der Regel pragmatisch orientierter Alltagskommunikation und religiöser Kommunikation als symbolischer Kommunikation, dass ein Wechsel mit Blick auf Rahmen- und Deutungsschema stattfindet. Intersubjektives Verstehen wird hier möglich, indem die Gesprächspartner in ihrem kommunikativen Bezug auf Rahmen- und Deutungsschema konvergieren. Der Wechsel des Auslegungsschemas bzw. die Ankündigung des Wechsels muss dabei angezeigt werden: Dies kann auf der Ebene verbaler Kommunikation stattfinden, aber auch durch räumliche Veränderungen, etwa das Betreten einer Kirche. Idealtypisch ließe sich also der Prozess der Ermöglichung kommunikativen Verstehens mit Blick auf die geschlossene Sinnprovinz der Religion folgendermaßen entwerfen: Verortet in der Lebenswelt des Alltags, begegnen einander Menschen mit unterschiedlicher innerer Dauer, individuellen Bewusstseinsströmen. Mit der Synchronisation der äußeren wie der inneren Dauer ist ein Überschritt in eine andere Sinnprovinz möglich – und damit die implizite Übereinkunft, ein verändertes Auslegungsschema der Kommunikation zu Grunde zu legen bzw. einem veränderten kognitiven Stil zu folgen. Die erwähnten ›Enklaven‹ oder ›Überschneidungsräume‹ sorgen für die Rückkopplung an die Lebenswelt des Alltags, welche sich wiederum nur individuell biographisch ausdrücken kann. Die Rückkopplung bildet dabei die Frage der Passung ab: Erscheint das, was unter Einbeziehung des veränderten Auslegungsschemas als Interpretation eines der Lebenswelt des Alltags entstammenden Phänomens angeboten wird, aus subjektiver Perspektive plausibel und passend zur subjektiven Auf­fassung einer Erfahrung? 29 Vgl. Kap. II.8.2.3. 30 Vgl. Schütz, A., ebd., 182: »Wir können daher die symbolische Beziehung definieren, indem wir sagen, daß sie eine Appräsentationsbeziehung zwischen zwei Größen ist, die mindestens zu zwei geschlossenen Sinnbereichen gehören, wobei das appräsentierende Symbol ein Bestand der ausgezeichneten Wirklichkeit des Alltags ist.« – Vgl. Kap. II.8.2.

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Zweierlei zeigt sich an dieser kurzen Überlegung: Zum einen bilden nach diesem Modell die Erfahrungen der alltäglichen Lebenswelt die Basis für intersubjektive Begegnungen; die intersubjektiven Begegnungen sind selbst Teil der Lebenswelt des Alltags. Zum zweiten werden Erfahrungsinterpretationen im Zusammenhang religiöser also symbolischer Kommunikation an subjektive Plausibilitätsstrukturen rückgekoppelt. Diese Plausibilitätsstrukturen stehen in engstem Zusammenhang mit subjektiven Planhierarchien und Relevanzsystemen. Dass religiöse Kommunikation trotz der individuell-biographischen Prägung des hermeneutischen Prozesses gelingen kann, liegt in der Differenz zwischen Darstellung und Dargestelltem begründet, im ›Sinnüberschuss‹, der dem Symbol und seiner prinzipiell unabschließbaren Deutung eigen ist. Die sym­ bolische Appräsentation, aufruhend auf anderen appräsentativen Verweisungen, integriert potentiell über ihre appräsentierende Seite als Element der Lebenswelt des Alltags und eröffnet zunächst einen offenen Deutungsraum mit Blick auf das Appräsentierte, welcher wiederum durch ein gewähltes Auslegungsschema notwendig begrenzt, jedoch nicht gefasst wird. Diese versuchte Begrenzung, die versuchte Sagbarkeit der appräsentierten Transzendenzen wird etwa deutlich am konventionalisierten Symbolbestand des christlichen Glaubens und der Zu­ ordnung einzelner Symbole zueinander.31 Mit der Aneignung der symbolischen Deutung alltagsweltlicher Erfahrungen bietet sich dem Subjekt die Möglichkeit zur reflexiven Aneignung seines eigenen Lebens, dessen Endlichkeit, Fragmentarität wie Kontingenz unter Bezug auf die Idee eines Unbedingten. Die Ausgestaltung des symbolischen Bezugs zur Idee eines Unbedingten konstelliert dabei die Identität eines Individuums, seinen Bezug zu Umwelt und Mitmenschen; sie prägt Handlungsoptionen und konturiert wiederum Erfahrungen der alltäglichen Lebenswelt als religiöse.

10.2.3 Gestalten der seelsorglichen Praxis in der Lebenswelt des Alltags Der poimenische Diskurs unterliegt zwei Engführungen, welche mit dieser Studie nicht überwunden werden, die aber in Richtung möglicher Reflexionsgänge zumindest thematisiert werden sollen. Als Engführungen sind zu benennen: 1)  die formale Engführung auf das klassische Gespräch; 2) die thematische Engführung auf Krisen und Konfliktlagen. Dieser Befund trifft auch auf die in Teil I der Arbeit untersuchten poimenischen Arbeiten von Joachim Scharfenberg, Isolde Karle und Henning Luther zu  – wenngleich sich bei Scharfenberg wie Luther das Postulat einer diakonischen bzw. politischen Wirksamkeit seelsorglichen Arbeitens findet.32 Beide benannten Engführungen können von

31 Zum Beispiel: Sünde – Kreuz – Tod; Glaube – Auferstehung – ewiges Leben. 32 Vgl. Scharfenberg, J., Einführung in die Pastoralpsychologie, 148 ff.

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einem Verständnis von Seelsorge überwunden werden, die sich selbst in der Lebenswelt des Alltags verortet weiß, die offen ist für die Vielfalt der Themen der alltäglichen Lebenswelt. Fokussierung auf das klassische Gespräch »Das Gespräch zwischen Seelsorger/Seelsorgerin und ratsuchenden Menschen in einem Gegenüber zum einzelnen oder auch zu einer Gruppe gilt heute als zentrales und unverzichtbares Mittel seelsorglichen Handelns. Das dürfte durch alle poimenischen Richtungen und Parteien hindurch unstrittig sein.«33

Diesem Eingangsvotum Klaus Winklers zur Frage der seelsorglichen Aufgabe heute ist Recht zu geben, wenngleich hinzugefügt werden kann, dass das Gespräch ›im Amtszimmer‹ nicht als die einzige Form seelsorglichen Handelns angesehen werden muss. Seine faktische Bedeutung als herausragende seelsorg­ liche Form ist von Wolfgang Steck als »artifizielle Version der alltagsweltlichen Privatreligion, eine habituelle Ausformung bürgerlicher Lebenseinstellungen und eine methodische Raffinierung bürgerlicher Verhaltensmuster«34 beschrieben worden. Ein Blick in die praktisch-theologische Literaturlandschaft genügt um festzustellen, dass die Grundform der Seelsorge weitgehend als klassisches Gespräch inszeniert wird.35 Exemplarisch für die Problemlage kann auf zwei programmatische Titel verwiesen werden: zum einen auf »Seelsorge als Gespräch« von Joachim Scharfenberg36, zum anderen auf »Gespräch als Seelsorge« von Martin Nicol.37 Nicol bezieht sich in seiner Monographie vor allem auf die Bedeutung des Gesprächs bei Joachim Scharfenberg und Helmut Tacke und behauptet einen reflexiven Neueinstieg in der Situierung des Gesprächs in der Seelsorge durch die Entfaltung eines Konzepts des so genannten ›existen­tiellen Gesprächs‹, verstanden als partnerschaftliches Gespräch, orientiert am Paradigma des Gesprächs unter Freunden. Die Potentialität des Gesprächs an sich, als ›existentielles Gespräch‹, soll hinsichtlich seiner seelsorglichen Züge wahrgenommen werden, im Gegensatz zu der Instrumentalisierung eines bestimmten Gesprächs­modells einer bestimmten Schule bzw. Anthropologie, Theologie etc. Nicol will das Gespräch in der Tat nicht nur auf die traditionell seelsorg­ 33 Winkler, K., Seelsorge, 255 f. Im Original hervorgehoben. 34 Steck, W., Praktische Theologie, 224. 35 Vgl. Hauschildt, E., Art. Seelsorge II, 32 ff; auch E. Hauschildts »Alltagsseelsorge« fokussiert allein auf das Gespräch als Form der Seelsorge. 36 Vgl. Kap. II.2.2.1. – Damit ist gleich die Referenz zum entsprechenden Paragraphen in Eduard Thurneysens »Die Lehre von der Seelsorge« gegeben: Vgl. Thurneysen, E., Die Lehre von der Seelsorge, 87 ff. 37 Klaus Winkler behandelt in seinem Lehrbuch »Seelsorge« beide Veröffentlichungen exemplarisch für den Kasus – den des Seelsorgegesprächs – als Vertreter zum einen der »fort­ geführten Seelsorgebewegung« (Winkler, K., ebd., 178), zum anderen der »auf Restitution und Kontinuität ausgerichteten Bestrebungen« (ebd., 256) in der poimenischen Gegenwartslage.

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lichen Situationen, das heißt Situationen der Krisen- und Konfliktbearbeitung, beschränkt wissen (die Engführung der Seelsorge auf das klassische Gespräch wird damit nicht überwunden).38 Über Nicols Intention hinaus wäre es für den poimenischen bzw. praktischtheologischen Diskurs gewinnbringend, den Gedanken der cura animarum generalis wieder stärker in die poimenische bzw. praktisch-theologische Re­f lexion einzubeziehen. In Aufnahme der Unterscheidung zwischen cura animarum ­specialis und cura animarum generalis hat Dietrich Stollberg ursprünglich die Begriffe des speziellen und generellen Propriums der Seelsorge geprägt.39 Dies fand kaum Eingang in die Seelsorgeliteratur, vermutlich aufgrund der Schwierigkeiten, die der Begriff des Propriums mit sich bringt.40 Das generelle Proprium bezeichnet nun nach Stollberg die Bindung des seelsorglichen Geschehens an das institutionelle Selbstverständnis (im Unterschied zu anderen, nicht-kirchlichen Erscheinungsformen), das spezifische Proprium hingegen wird durch den Unterschied zu anderen konkreten kirchlichen Handlungsformen und Praxis­ feldern benannt, womit letztendlich die Gesprächsform, und zwar als diakonisch-therapeutische, in den Vordergrund tritt.41 Wichtig an dieser Stelle ist der Rekurs auf die Unterscheidung der beiden Formen der Seelsorge und vor allem das Anliegen der näheren Zuordnung beider.42 Seelsorge ist – über die cura animarum specialis hinaus – Grundfunktion der Kirche: Als eine solche gestaltet sie sich in der homiletischen, liturgischen, katechetischen und kybernetischen Praxis aus. Dass die Kasualpraxis vorzüglicher Ort der Seelsorge ist, an dem sich kirchlicher Anspruch auf Öffentlichkeit und der Anspruch der Öffentlichkeit 38 Winkler arbeitet heraus, dass, bei aller Absetzung der beiden Ansätze gegeneinander – chronologisch korrekt müsste man formulieren: bei aller Absetzung der Nicol’schen Schrift von Scharfenberg, wobei sich der Charakter des Gegenentwurfs nun schon in der programmatischen Umkehr der Titelstichwörter zeigt – bei Nicol wie Scharfenberg übereinstimmende Strukturen in ihren poimenischen Reflexionen wiederfinden lassen. Diese Grundstruk­turen, die das seelsorgliche Gespräch charakterisieren, setzt Winkler mit der Ausführung seiner Formulierung »Freisetzung eines christlichen Verhaltens zur Lebensbewältigung« (ebd., 3; 271) in eins und benennt als grundlegend für das seelsorgliche Geschehen: Strukturierung, umfassende Deutung, Glaubensbezogenheit (hier ist natürlich der Ort für das von Winkler so genannte »persönlichkeitsspezifische Credo« [ebd., 276]), Lebensgestaltung, Emanzipation. (Vgl. ebd., 270 ff.) Dies alles soll im Wesentlichen gelten und muss doch nicht auf ein an Krisen und Konflikten orientiertes seelsorgliches Gespräch beschränkt bleiben (s. u.). 39 Vgl. Stollberg, D., Therapeutische Seelsorge, 148–155; vgl. auch: Ders., Wahrnehmen und Annehmen, 20–43. 40 Vgl. Eschmann, H., Theologie der Seelsorge, 215. 41 Einige Jahre später tauscht Stollberg die Begriffszuordnung aus. Über den Grund muss hier nicht spekuliert werden, zumal Stollberg selbst den Vorgang als »sprachliche Korrektur« bezeichnet. (Vgl. ebd., 214 f.) 42 Einer Zuordnung von nichtprofessioneller, funktionaler, alltäglicher Seelsorge zum Genus der generellen Seelsorge und einer entsprechenden Zuordnung von professioneller und inten­tionaler Seelsorge zur speziellen Seelsorge muss man sich deshalb nicht anschließen. (Vgl. ebd., 215 f.)

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ablesen lassen, dürfte ebenfalls einsichtig sein.43 Das Anliegen, in die poime­ nische Reflexion den Aspekt der cura animarum generalis wieder stärker einzubeziehen, trifft sich mit anderen, wenn auch wenigen, Stimmen der gegenwärtigen poimenischen Literatur. Christoph Schneider-Harpprecht schreibt: »Es gilt, ihre [der Seelsorge; KM] in der Tradition festgehaltene Funktion als cura animarum generalis wieder stärker in den Blick zu nehmen, das die seelsorgliche Bedeutung des Handelns der Kirche insgesamt in den Mittelpunkt stellt. […] Seelsorge als cura animarum generalis hat zum Ziel, auf verschiedenen Ebenen des kirchlichen Lebens Beziehungssysteme zu schaffen, die seelsorglich wirksam sind und die seelsorg­ liche Qualität der Beziehungen in den bestehenden kirchlichen Handlungsformen und Beziehungssystemen zu fördern. Seelsorge wird dadurch zur systemischen Praxis, welche die beratende, helfende, fürsorgende, spirituelle Dimension der Beziehungen in menschlichen Systemen gestaltet.44

Wird Seelsorge als umfassenderes Geschehen verstanden, wird sie in einen größeren Raum sozialer Interaktionsmöglichkeiten gestellt. Sie hat es dann nicht mehr nur, etwa im Rahmen eines Gesprächs ›unter vier Augen‹, mit Krisen und Konfliktlagen zu tun, sondern mit vielfältigen intersubjektiven Begegnungen, deren Themen ihre Berechtigung in sich tragen. Fokussierung auf Krisen und Konfliktlagen Der Befund der Fokussierung auf Krisen und Konfliktlagen findet sich mit einem Blick in die gängigen Lehrbücher bestätigt. Als Formen der Seelsorge werden herkömmlich genannt: Krankenhausseelsorge, Telefonseelsorge, Gefängnisseelsorge, Militärseelsorge, Notfallseelsorge. Es geht um Schuld, Krankheit, Trauer, Suizid, Sterben.45 Dies sind wichtige Themen für die Seelsorge, und die Aufmerksamkeit für diese Themen sollte nicht geringer werden. Zu fragen ist aller 43 Vgl. Gräb, W., Lebensgeschichten – Lebenswentwürfe – Sinndeutungen, 172 ff. 44 Schneider-Harpprecht, Chr., Die Rolle der Seelsorge, 29 f. Im Original hervorge­hoben. 45 Vgl. Winkler, K., Seelsorge, 297 ff; vgl. Ziemer, J., Seelsorgelehre, 195 ff; 267 ff; vgl. Rössler, D., Grundriß, 213; vgl. Handbuch der Seelsorge, 405 ff. – Hier findet sich trotz allem ein Kapitel zum Thema Seelsorge und Glück/Freizeit, einleitend wird konstatiert: »In welcher Lage, wenn überhaupt, wird Seelsorge gesucht? Wo soll Seelsorge zu finden sein? Im allgemeinen Bewußtsein gehört sie dorthin, wo der beklemmende Ausnahmezustand herrscht. Sie hat sich an den Ort der Gefahr zu begeben. Sie ist Krisenhilfe.« (Handbuch der Seelsorge, 389.) Auch E. Hauschildt verhandelt unter dem Punkt »Orte« Zufallsseelsorge und Hausseelsorge unter dem Aspekt des helfenden Gesprächs und fasst unter »Seelsorge im Pfarrhaus« »kirch­ liche Akutseelsorge« (Hauschildt, E., Art. Seelsorge II, 41 f); vgl. Wintzer, F., Praktische Theologie, 127 ff; auch: Stollberg, D., Art. Seelsorge, 175, dort heißt es: »Der z.Z. gebräuchliche Begriff der S[eelsorge] läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: S. ist kirchl. Hilfe für einzelne und Gruppen in Krisen und Konflikten unter seelischem Aspekt und mit seelischen Mitteln. Die Tatsache, daß es sich um kirchl. Hilfe handelt, be­deutet die Notwendigkeit theol. qualifizierter Reflexion, Motivation und Intention der S.« (Im Original hervorgehoben.)

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dings, ob mit dieser Fokussierung nicht andere Themen marginalisiert und an den Rand gedrängt werden, die ihre eigene Berechtigung haben. Dies lässt sich mit Blick auf die Kasualien plausibilisieren: Zwar bearbeitet die rituelle (und seelsorgliche) Begleitung biographische Schwellensituationen, der Anlass muss dabei nicht immer krisenhaft sein, denkt man etwa an den Kasus der Trauung im Gegensatz zur Beerdigung. Allerdings hat es die seelsorgliche Begleitung auch hier, wie bereits erwähnt, mit Situationen zu tun, die biographische Höhepunkte oder Einschnitte darstellen. Anders verhält es sich mit den Anlässen, die sich spontan und zufällig er­ geben, Gesprächsgängen, die gerne als Situationen der so genannten Alltagsseelsorge bezeichnet und berechtigterweise in ihrem Kasus von Krisen- und Konfliktgesprächen unterschieden werden. Zu denken ist hier an Begegnungen, die nicht den Charakter einer gezielten Krisenintervention tragen, die sich en passant ergeben: über den Gartenzaun hinweg, beim Einkaufen, auf der Straße, ›zwischen Tür und Angel‹, auch im Taxi46. Situationen, die kurze Einblicke gewähren in die alltägliche Lebenswelt des Anderen, des kurzweiligen Gesprächspartners. Auch hier können  – ohne die Intention der sofortigen thematischen Vertiefung  – Inhalte angerissen werden, die unter Umständen weiter bearbeitet werden wollen. Der Charakter dieser Gespräche ist im Wesentlichen davon geprägt, sich, wenn auch in aller Kürze, zu erkennen und eine grundsätzliche Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Dass es sich hier oft um Formen des so genannten Smalltalks handelt, muss kein Grund sein, den Wert solcher Gespräche gering zu schätzen: Alltagsweltliche Stabilität stellt eine Voraussetzung zur Handlungsfähigkeit dar. Die Bestätigung von Routinehandeln als unverzicht­ barer Form alltagsweltlicher Orientierung sollte nicht gegen den Vorwurf des Ausgeliefertseins an entfremdende Systemzwänge ausgespielt werden. Inhalte des so genannten Smalltalks können zu gegebener Zeit wieder aufgenommen werden, wenn es gewünscht wird oder angebracht erscheint. Diese Gesprächsgänge tragen, unabhängig von einer etwaigen Wiederaufnahme von thematischen Elementen, ihren Wert in sich, da sie die alltagsweltliche Orientierung von Subjekten in deren Selbstaussagen beschreiben und insofern ein unproblematisches Element im Aufbau intersubjektiver Beziehungen darstellen. In diesem Zusammenhang ist es fraglich, ob die bisher praktizierte Unterscheidung zwischen ›Alltagsseelsorge‹ und ›Seelsorge‹ glücklich gewählt ist. Zwar wird durch diese Kategorisierung eine bestehende Differenz sowohl mit Bezug auf einen thematischen Fokus im Gespräch benannt wie auch mit Bezug auf die formalen Voraussetzungen eines Gesprächs. Fraglos bilden beide Formen des seelsorglichen Gesprächs als Momente intersubjektiver Begegnung Möglichkeiten und Chancen aus, einander mit Blick auf subjektive Orientierungsrelevanzen in der Lebenswelt des Alltags näher kennen zu lernen; die Seelsorgerin erweist sich im

46 Vgl. Knörzer, G., Der Taxifahrer als Seelsorger.

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besten Fall als verlässliche und verbindliche Gesprächspartnerin. Das Problem der Orientierung der poimenischen Reflexion an Krisen und Konfliktlagen liegt darin, dass die Lebenswelt des Alltags als Konstitutionsrahmen des individuellen Lebens wie der institutionellen Grundlegung nicht in die wissenschaftliche Reflexion mit eingeholt wird.47 Die Orientierung der Seelsorge an Krisen und Konflikten bewirkt eine Vergessenheit, eine Alltagsvergessenheit in dem Sinne, dass die seelsorgliche Situation selbst nicht mehr als Handeln in der Lebenswelt des Alltags interpretiert wird, nämlich als konkrete Intersubjektivität, die sich ebenfalls zu einem großen Teil aus zuhandenem Wissen speist. Eine positive Bestätigung alltagsweltlicher Pragmatik und alltagsweltlichen Routinehandelns ist aus keinem theologisch ersichtlichen Grund abzuqualifizieren.48 Nach der Reflexion der grundlegenden Konstitutiva der alltäglichen Lebenswelt mit Blick auf die seelsorgliche Situation und der Bearbeitung der Frage, wie sich die Verwobenheit von Seelsorge und Alltag näher beschreiben lässt, wird im Folgenden eine mögliche theologische Leitvorstellung im Zusammenhang des Problems des Fremdverstehens vorgeschlagen.

47 Vgl. auch Henke, Th., Seelsorge und Lebenswelt, 70. 48 Mit dem Problem der Konzentration auf Krisen und Konfliktlagen ist ein weiterer Problemzusammenhang gegeben, der sich als Konstellation eines Hierarchiegefälles beschreiben lässt. Diskursiv ist dieser Problemzusammenhang seit Heraussetzung der Praktischen Theologie als Wissenschaft – und damit der Seelsorgelehre – durch Schleiermacher gegeben, genauer gesagt seit der strukturkonservativen Rezeption der Ausführungen Schleiermachers zur Seelsorgelehre. Diese strukturkonservative Rezeption der Ausführungen Schleiermachers zur Seelsorge sorgte für ein poimenisch konstelliertes Gesprächsgefälle, das sich über Rollenzuschreibungen des Pfarrers als Arzt, Prediger oder Therapeut entfaltete: Damit wird der Anlass einer seelsorglichen Situation in den allermeisten Fällen in einer Situation der Krise gesehen. (Dass dieses Gefälle konstatiert wird, gehört mittlerweile zum guten Ton in der poimenischen Literatur. Henning Luther dürfte einer der ersten gewesen sein, der auch die Seelsorgebewegung dieser Kritik unterzog.) – Leitend kann die Vorstellung Klaus Winklers sein, der ›Partnerschaft‹ nicht als Vorauszusetzendes für die seelsorgliche Situation definiert, sondern als Beziehungsqualität, die allmählich und reziprok erarbeitet werden muss. (Vgl. Winkler, K., Seelsorge, 273; der Gedanke der Orientierung an einer erst zu erarbeitenden Partnerschaft erscheint mir unproblematischer als die Einführung des »Freunde-Paradigmas« in der Reflexion auf den Charakter des »existentiellen Gesprächs«. [Vgl. Nicol, M., Gespräch als Seelsorge, 162 f.]) – Auf dieser Linie wäre es möglich, einen Aspekt der Bestimmung von Seelsorge durch Dietrich Rössler – Seelsorge als Hilfe zur Lebensgewissheit – zu inter­pretieren, ohne die Kritik Henning Luthers (Vgl. Luther, H., Die Lügen, 168 ff)  unbeachtet zu lassen: »Lebensgewißheit ist Gewissheit in bezug auf die Gemeinschaft des Lebens.« (Rössler, D., Grundriß, 214.)

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10.3 Eine theologische Leitvorstellung: Geselligkeit als hermeneutische Praxis des Religiösen Wenn als Grundproblem der mundanen Sozialität das Problem des Fremd­ verstehens, des gegenseitigen Verstehens fremder Selbstverhältnisse wie seiner Konsequenzen für das seelsorgliche Arbeiten reflektiert wird, ist zu fragen, welche Leitvorstellung für die intersubjektive Begegnung sinnvoll – das heißt unter der Prämisse, dass sie das Grundproblem ernst nimmt  – zu entwerfen ist. Diese Leitvorstellung für die soziale Interaktion müsste in der Lage sein, eine verbindliche Gestalt zu konturieren, und zugleich müsste sie einen größtmög­ lichen Freiraum mit Blick auf die gegenseitigen hermeneutischen Prozesse in den Kommunikationsvollzügen bieten. Der Möglichkeitsraum, den die seelsorgliche Situation eröffnet, lässt Formen und Gestalten der »Kommunikation des Evangeliums« (Ernst Lange) vielfältig werden. Dieser Möglichkeitsraum eröffnet sich allerdings erst, wenn die Prozesse religiöser Produktivität der Subjekte nicht dogmatistisch unterbrochen bzw. durch das Urteil abgebrochen werden, den Anderen schon längst – und unter Umständen auch besser als dieser sich selbst – verstanden zu haben. Gefragt ist also eine Form der konkreten Gemeinschaftsstiftung, welche als solche einerseits in ihrer Verbindlichkeit die Grundlage für die seelsorgliche Situation darstellt, die aber andererseits die beiden Pole Sozialität und Individualität so zueinander ins Verhältnis zu setzen weiß, dass beide Elemente sich mit Blick auf die Gesprächsintention der beteiligten Subjekte ergänzen und gegenseitig befruchten.49 Friedrich Schleiermachers ›Theorie des geselligen Betragens‹ skizziert eine Theorie des Gesprächs, welche hinsichtlich des Problems der Verhältnisbestimmung von Sozialität und Individualität wie der tieferen Einsicht in das hermeneutische Problem für das poimenische Selbstverständnis weiterführend zu sein verspricht. Einer kurzen Skizze der Schleiermacher’schen Gedanken folgt die Frage, inwieweit sich semantische Merkmale des Geselligkeitsbegriffs in der Vorstellung der koinonia in den paulinischen Schriften wiederfinden lassen. Statt hier eine eindeutige Antwort zu geben, soll im Rahmen dieser Arbeit die Frage zunächst nur umrissen, mögliche Ansatzpunkte nur angedeutet werden.

49 Dem Gemeinschaftsbegriff haften semantische Probleme an, die vor allem darauf zurück zu führen sind, dass das Individuelle in seiner autonomen Widerständigkeit mit Blick auf die Gemeinschaft oft als zu Überwindendes gedacht wird. Ebenso soll hier keine semantische Nähe zum Vereinsbegriff erzeugt werden, wie es klassisch etwa Emil Sulze in seiner Übertragung des Vereinsbegriffs auf die Gemeinde vorführt. Viel eher wäre ›Gemeinschaftsstiftung‹, unabhängig von einer konkreten positiven Gestalt, zunächst formal als aktiver, prinzipiell unabschließbarer und offener Prozess zwischen zwei oder mehreren Subjekten zu beschreiben.

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10.3.1 Schleiermachers Theorie des geselligen Betragens – Sozialität und Individualität Friedrich Schleiermachers ›Theorie des geselligen Betragens‹ expliziert, in welch engem Zusammenhang Individualität und Sozialität stehen. Dabei verbinden sich seine Überlegungen zur Theorie mit eigenen, konkreten lebensweltlichen Er­fahrungen: In seiner frühen Berliner Zeit nimmt Schleiermacher am Austausch mit Gebildeten seiner Zeit in Form verschiedener geselliger Zirkel teil.50 Eine wichtige Rolle spielt hier vor allem der Salon, den Henriette Herz 1780 ins Leben rief. Gerade zu Henriette Herz hat Schleiermacher einen engen, freundschaftlichen Kontakt, in welchen auch Friedrich Schlegel eingebunden ist.51 Die Gesprächskultur, die Schleiermacher in der frühen Berliner Zeit pflegt, und seine Theoriebildung sind dicht miteinander verwoben. Auch haben sich Schleier­machers Theologie- und Kirchenverständnis und seine Theorie und Praxis der freien Geselligkeit in dieser Zeit aneinander entwickelt  – der »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« wie die »Reden« erscheinen im Jahr 1799. Schleiermachers theoretisches Interesse kreist in seinen frühen Schriften um das »Leitproblem der Erfassung realer Intersubjektivität im Spannungsfeld von Intimität und Öffentlichkeit.«52 Die Gewichtsverlagerung von der In 50 In Berlin gab es zu jener Zeit verschiedene Vereinigungen, die eine Form der freien ­ eselligkeit pflegten, wie etwa die so genannte ›Montagsgesellschaft‹ oder ›Mittwochsge­ G sellschaft‹, viele Gastgeberinnen und Gastgeber von Salons entstammten dem jüdischen Bürgertum. 51 Vgl. Strube, R., Die Exklusivität des offenen Hauses, 16 ff. Henriette Herz wohnte zunächst dem Kreis bei, den ihr Mann Marcus Herz unterhielt, und welcher sich vor allem Ausführungen zur Philosophie Kants, aber auch der Naturwissenschaft widmete. Nach einiger Zeit gründete Henriette Herz ihren eigenen, eher an literarischen Themen interessierten Salon, so dass die Sturm-und Drangzeit-Werke J. W. Goethes große Aufmerksamkeit fanden. Dies war der Beginn eines der berühmtesten Berliner Salons, zu dem unter anderem gehörten: Johann Gottfried Schadow, Alexander und Wilhelm von Humboldt, Jean Paul, Rahel ­Levin (spätere Varnhagen), Dorothea Veit (geb. Mendelssohn, spätere Schlegel). 52 Oberdorfer, B., Von der Freundschaft zur Geselligkeit, 416. Im Original hervorgehoben.  – Zum sozialtheoretischen Interesse Schleiermachers in seinen frühen Schriften vgl. u. a. Schleiermacher, F. D. E., Anmerkungen zu Aristoteles, 1–43; auch: Ders., Über das Naive, ­177–187; ders., Über den Styl, 363–390, wie die »Gedankenhefte«: ders., Gedanken I, 1–49; ders., Gedanken II, 105–115; ders., Gedanken III, 117–149; ders., Über den Werth des Lebens, 391–471. – Auch die Freundschaft wird bei Schleiermacher als Sozialform interpretiert, die zu gesellschaftlichen Hierarchiegefällen und Dominanzverhältnissen quer steht und somit einen Freiheitsraum ermöglicht. Auch die Freundschaft fördert im Idealfall wechselseitig Wahrung und Förderung von Individualität. Oberdorfer schreibt dazu: »Systematisiert man Schleiermachers Überlegungen zur Freundschaft, ergibt sich ein Konzept, das drei Funktionen der Freundschaft verbindet: 1) die wechselseitige Wahrnehmung irreduzibler Andersheit (aufgrund eigener Beobachtung oder aufgrund der Selbstoffenbarung des je anderen, 2) die wechselseitige Verhaltenskritik, -korrektur und -motivation sowie 3) die wechselseitige Rückspiegelung von Bildern des je anderen, die diesem ermöglichen, seine soziale Resonanz zugleich

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timität auf die Öffentlichkeit zeigt sich in der Verschiebung des theoretischen Interesses von der Reflexion der Gestalt der Freundschaft auf die Gestalt der freien Geselligkeit mit ihrer Zwischenstellung zwischen Intimität und totaler Öffentlichkeit.53 In der Fragment gebliebenen Schrift »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« nun legt Schleiermacher dar, welche Eigenschaften er dem geselligen Betragen beimisst. Die freie Geselligkeit besitzt zunächst keinen weiteren Zweck als den der Selbsterhaltung, um ihrer selbst Willen; sie ist also frei von äußeren Zwecken.54 Die Pflege der Geselligkeit dient der Aufrechterhaltung wie der Fortbildung der Individualität, und zwar einerseits der Individualität der einzelnen Teilnehmenden wie der Individualität der Versammlung. Dies wird möglich, indem der gesellige Kreis eine Unterbrechung von beruflichen und familiären, von gesellschaftlichen Rollenzuweisungen überhaupt darstellt. Die freie Geselligkeit findet ihre Gestalt nun darin, dass der konkrete Charakter sich erst über die individuellen Beiträge der Einzelnen konstituiert: In der vielstimmigen Kommunikation über ein Thema kann sich dieses erst richtig entfalten. Dabei ist grundgelegt, dass jedes Individuum seine eigene »Sphäre«55 besitzt, dass Ansichten und Grundsätze, Ausdruck und Betragen in ihrer gegenseitigen Zuund Anordnung die nicht austauschbare Individualität des Einzelnen ausmacht: »Ein Mensch ist aber nur insofern ein Individuum, als alles in ihm zusammenhängt, einen Mittelpunct hat und sich gegenseitig bestimmt und erklärt.«56 Kein Individuum weist zu einem anderen eine identische »Sphäre« auf, doch existieintim und objektiv wahrzunehmen.« (Oberdorfer, B., ebd., 421 f.) – In dieser Anthropologie Schleiermachers ist der Mensch immer »ein freies, eigenen Maximen folgendes, aber dennoch bedürftiges Wesen«. (Schleiermacher, F. D. E., Anmerkungen zu Aristoteles, 5.) 53 Oberdorfer, B., ebd., 416. 54 Vgl. Schleiermacher, F. D. E., Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (KGA I/2), 165. – In formaler Hinsicht hebt die Geselligkeit Gegensätzlichkeiten auf: Abhängigkeit und Freiheit, Instrumentalisierung und Selbstzweck der Person, Individualität der Gruppe und Individualität des Einzelnen; vgl. Oberdorfer, B., ebd., 431. – Schleiermacher äußert hinsichtlich des Zwecks der freien Geselligkeit: »Der Zweck der Gesellschaft wird gar nicht als außer ihr liegend gedacht; die Wirkung eines Jeden soll gehen auf die Thätigkeit der Übrigen, und die Thätigkeit eines Jeden soll seyn seine Einwirkung auf die andern. Nun aber kann auf ein freies Wesen nicht anders eingewirkt werden, als dadurch, daß es zur eignen Thätigkeit aufgeregt, und ihr ein Objekt dargeboten wird; und dieses Objekt kann wiederum zufolge des obigen nichts seyn, als die Thätigkeit des Auffordernden; es kann also auf nichts anders abgesehen seyn, als auf ein fremdes Spiel der Gedanken und Empfindungen, wodurch alle Mitglieder einander gegenseitig aufregen und beleben.« (Schleiermacher, F. D. E., ebd., 169 f.) – Schleiermacher unterscheidet im folgenden mit Blick auf die Geselligkeit drei Gesetze: das formale Gesetz (alles ist Wechselwirkung); das materiale Gesetz (das freie Gedankenspiel basiert auf der Mitteilung der Individuen), das quantitative Gesetz (der Stoff findet seine Grenze an der gemeinschaftlichen Sphäre aller, wobei freilich die Sphäre der Gesellschaft stets eine auszu­ lotende ist); vgl. Schleiermacher, F. D.E, ebd., 170. 55 Ebd., 48; 171. 56 Ebd., 172.

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ren intersubjektive Überschneidungsräume. Diese sind die Voraussetzung für Kommunikation, und in ihnen kann ein jeder nach seiner »Manier«57, wie es bei Schleiermacher heißt, also nach der »je spezifischen Weise, wie die Inhalte« im Individuum »zu einer Einheit integriert sind«58, einen Beitrag mit Blick auf ein grundgelegtes Thema leisten. Das eigentliche Entstehen der Geselligkeit ist an diese Mitteilungsvollzüge gebunden; die jeweilige »Manier« der Individuen darf dabei nicht eingeschränkt werden. Die Angewiesenheit der Konstitution von Geselligkeit durch Mitteilung wie die Maßgabe, dass durch diese Vollzüge der Freiraum jenseits gesellschaftlicher, familiärer oder beruflicher Rollenerwartungen für die Erweiterung der individuellen Sphären genutzt werden wollen (allerdings mit der Idee, dass die Praxis der freien Geselligkeit auf Gesellschaft, Familie und Beruf ausgreift), bedingt die gegenseitige Steigerung von Sozialität und Individualität.59 Die Individualität eines Menschen, seine individuelle Selbstentfaltung60, bildet sich an der kommunikativen Durchdringung eines Themas mit anderen Individuen, die konkrete Gestalt des Diskurses prägt den geselligen Kreis und drängt auf Fortentwicklung. Die freie Geselligkeit ist in dieser Interdependenz als eigentliche ethische Lebensform zu beschreiben. Sie bildet als Modell eine Alternative zur Verabsolutierung des Individuums wie dem Gedanken, dass das Soziale, eine Gemeinschaft, Individuen notwendig von sich selbst entfremdet und die Bildung von Individualität behindert. Die freie Geselligkeit kann als sozialer Ort weniger als Rückzugsraum denn als Ausgriff bürgerlicher Individuen auf die öffentlich-gesellschaftliche Sphäre interpretiert werden (die Salonkultur stellt sich als avantgardistisch dar, ja, durchaus als subversive Kultur, die das gebildete Bürgertum einer Diskursöffentlichkeit abtrotzt, die vorran 57 Ebd., 174. 58 Oberdorfer, B., ebd., 432. 59 Oberdorfer schreibt zur Theorie der Geselligkeit bei Schleiermacher: »[E]s ist eine ›­innere Tendenz‹ der Individualität selbst, die in diesem Heraustreten aus der eigenen Sphäre sich allererst bildet, ohne freilich dadurch konstituiert zu sein: Geselligkeit ist die Weise des Prozessierens von Individualität.« (Oberdorfer, B., Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit, 508. Im Original hervorgehoben.) – Vgl. auch Hinrichs, W., Schleiermachers Theorie der Geselligkeit, 21 ff. 60 Im Jahre 1800 berichtet Schleiermacher von anthropologischen Erkenntnissen, die er aus seiner frühromantischen Praxis der freien Geselligkeit gewonnen hat: »Lange Zeit genügte es auch mir nur die Vernunft gehabt zu haben, und die Gleichheit des Einen Daseins als das Einzige und Höchste anbetend, glaubte ich es gebe nur Ein Rechtes für jeden Fall, es müße das Handeln in Allen daßelbe sein, und nur weil Jedem seine eigne Lage, sein eigner Ort gegeben sei, unterscheide sich Einer vom Andern (…). Der Mensch, der Einzelne sei nicht ein eigenthümlich gebildet Wesen, sondern nur ein Element und überall derselbe (…). (Nun aber ist) mir aufgegangen, was jetzt meine höchste Anschauung ist, es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles was aus ihrem Schooße hervorgehen kann.« (Zit. n. Gräb, W., Die unendliche Aufgabe, 54; vgl. Schleiermacher, F. D. E., Monologen, 344.)

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gig durch den Adel bestimmt ist): Für die freie Selbsttätigkeit des Geistes wird ein eigener sozialer Raum beansprucht, dieser liegt an der »Schwelle zwischen Intimität und bürgerlicher Öffentlichkeit«61. Das Modell des freien Gesprächs als Katalysator der Individualität des Einzelnen wie der sozialen Gruppe – und hier auch soziale Gruppe in einer sozialen Großgruppe  – liefert wichtige Impulse für die poimenische Theoriebildung.62 In Anwendung auf die Religion heißt es bei Schleiermacher, sie sei »das vollendetste Resultat der menschlichen Geselligkeit«. In der Unterscheidung zwischen ›­Kirche als Veranstaltung‹ und ›Religion als Mitteilung‹ zielt Schleiermacher darauf ab, dass die religiöse Erfahrung der Bestätigung durch Andere bedarf. Sie bildet sich in der Wechselwirkung mit anderen (»Ist die Religion einmal, so muss sie nothwendig auch gesellig sein.«63) und prägt ein Kriterium für die Kritik kirchlicher Lehre aus. Der prinzipiell uneingeschränkte und offene Prozess der Mitteilung gibt dem gläubigen Individuum Anteil an der Unendlichkeit von Religion. Der genuinen Rückbindung des Religionsbegriffs an das religiöse Bewusstsein des Individuums entspricht die Formulierung in der »Kurzen Dar­

61 Oberdorfer, B., Von der Freundschaft zur Geselligkeit, 431. 62 Martin Nicol beruft sich in seinem Buch »Gespräch als Seelsorge« (1990) wesentlich auf Schleiermachers Geselligkeitspraxis und interpretiert Schleiermacher, nicht ungewöhnlich, vor dem Hintergrund der Romantik – bzw. hinsichtlich der Berliner Zeit 1796–1802 der Frühromantik. Bisweilen bekommt man den Eindruck, dass Nicol über eine relativ klischeehafte Interpretation Schleiermachers das Innovative des Schleiermacherschen Denkens aus dem Blick verliert. (Nicol zeichnet ein Bild von Schleiermacher, das mitunter dem eines enthusiastischen Idealisten gleicht.) Nicol ist vor allem am Gesprächsmodell Schleiermachers interessiert: Das Gespräch als Ort der religiösen Erfahrung, als Ort der Erfahrung durch die Begegnung mit dem Anderen, Elixier der Selbst-, Welt- und Gotteserkenntnis. Nicol erinnert zu Recht an die Auffassung, dass Schleiermacher Einsichten der späteren Dialog-Philosophie vorweg genommen hat (vgl. Nicol., M., ebd., 35; vgl. Beißer, F., Schleiermachers Lehre von Gott, 28 [Anm. 43]; vgl. auch: Gadamer, H.-G., Platos Denken in Utopien 273; ders., Die Unfähigkeit zum Gespräch, 209) und konstatiert: »[M]an wird in Zukunft deutlicher als bisher fragen müssen, ob nicht als eine überaus wichtige Wurzel sowohl seines Ideals der freien Geselligkeit, wie er es in seinem ›Versuch einer Theorie des geselligen Betragens‹ von 1799 beschrieben hat, als auch seines Ideals von der wahren Kirche in den ›Reden‹ (ebenfalls 1799!) seine Praxis und Theorie des Gesprächs anzusehen ist.« (Nicol, M., ebd., 38; mit Verweis auf Spiegel, Y., Theologie der bürgerlichen Gesellschaft, 23.) – Nicol kritisiert bei Schleiermacher »Mangel an Wahrnehmung von Wirklichkeit« (Nicol, M., ebd., 43) und »Mangel im Blick auf die möglichen Konturen religiöser Erfahrung« (ebd.). Der theologische Deutehorizont ist, nach Nicol, das eigentliche Problem des Schleiermacherschen Gesprächsmodells, mit welchem er sich, davon abgesehen, mit Blick auf sein Interesse am »existentiellen Gespräch« und der nachfolgenden Konzeption des poimenischen Paradigmas des »Gesprächs unter Freunden« (ebd., 162 ff) gut arrangieren kann. – Zu fragen ist, warum Nicol sich, wenn ihm die Entfaltung eines Gesprächsmodells unter Zuhilfenahme des Schleiermacherschen Geselligkeitsgedankens wichtig ist, nicht ergänzend der Hermeneutik Schleiermachers zuwendet und seine Betrachtungen auf die Jahre 1796–1802 reduziert. 63 Schleiermacher, F. D. E., Reden, 177.

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stellung« (§ 219), dass jeder Theologe »im Bilden einer eigenen Überzeugung begriffen sei über alle eigentlichen Örter des Lehrbegriffs.«64 Was lässt sich vor dem Hintergrund der ›Theorie des geselligen Betragens‹ über die Möglichkeiten des gegenseitigen Verstehens fremder Selbstverhältnisse sagen? Michael Hofer stellt Schleiermachers Konzept der Geselligkeit als »Ort des Bemühens um Verstehen und Anerkennen«65 vor.66 Schleiermacher gelten hermeneutische Prozesse als prinzipiell unabgeschlossen und unvollständig: Nichtverstehen löst sich niemals gänzlich auf. Mehr noch: »Missverstehen [­ergibt sich] von selbst […], und das Verstehen auf jedem Punkt muss gewollt und gesucht werden.«67 Das hermeneutische Problem ergibt sich dabei nicht etwa nur im Rahmen interkultureller Kommunikation, sondern dort, wo zwei Menschen aufeinander treffen, die ein und dieselbe Sprache sprechen und im gleichen soziokulturellen Milieu verortet sind. Dieselben Worte tragen  – abgesehen von einer konventionalisierten Hauptbedeutung  – unterschiedliche Konnotationen mit sich; der Sinn einer Rede wird erst durch ein Ineinander von psychologischer und grammatischer Interpretation verständlich.68 Bei Schleiermacher sind also Sachverstehen und Personverstehen eng aneinander gebunden und nicht voneinander trennbar, anders gewendet: In dem Bemühen um das Verstehen einer 64 Schleiermacher, F. D. E., Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 83. Vgl. dazu ausführlicher: Rendtorff, T., Religion – das »vollendetste Resultat der menschlichen Geselligkeit«, 84 ff. 65 Hofer, M., Nächstenliebe, 15. 66 Schleiermacher hält von 1810 bis 1830 immer wieder Vorlesungen über Hermeneutik; die Nachlassedition geht auf seinen Schüler Friedrich Lücke zurück. Mit Schleiermacher vollzieht sich die Einbeziehung des Gesprächs als Grundlage des Verstehens in die hermeneu­ tische Reflexion: Schriftliche wie mündliche Texte werden in einen Prozess des Verstehens als kongeniale Interpretation der durch einen Autor oder Sprecher vorgebrachten Mitteilung wie ihrer Intention einbezogen. War bis Schleiermacher die Hermeneutik auf ›heilige‹ bzw. ›autoritative‹ Texte beschränkt, wird sie nun auf alle Hervorbringungen des tätigen Geistes an­ gewandt. – Vgl. Schleiermacher, F. D. E., Hermeneutik und Kritik. 67 Ebd., 92. 68 Schleiermacher schreibt in der Einleitung zur Hermeneutik: »9. Das Auslegen ist Kunst. 1. Jede Seite für sich. Denn überall ist Konstruktion eines endlichen Bestimmten aus dem unendlichen Unbestimmten. Die Sprache ist ein Unendliches, weil jedes Element auf eine besondere Weise bestimmbar ist durch die übrigen. Ebenso aber auch die psychologische Seite. Denn jede Anschauung eines Individuellen ist unendlich. Und die Einwirkungen auf den Menschen von außen sind auch ein bis ins unendlich Ferne allmählich Abnehmendes. Eine solche Konstruktion kann nicht durch Regeln gegeben werden, welche die Sicherheit ihrer Anwendung in sich trügen. – 2. Sollte die grammatische Seite für sich allein vollendet werden, so müßte eine vollkommene Kenntnis der Sprache gegeben sein, im anderen Falle eine vollständige Kenntnis des Menschen. Da beides nie gegeben sein kann, so muß man von einem zum anderen übergehen, und wie dies geschehen soll, darüber lassen sich keine Regeln geben. – Das volle Geschäft der Hermeneutik ist als Kunstwerk zu betrachten, aber nicht, als ob die Ausführung in einem Kunstwerk endigte, sondern so, daß die Tätigkeit nur den Charakter der Kunst an sich trägt, weil mit den Regeln nicht auch die Anwendung gegeben ist, d. i. nicht mechanisiert werden kann.« (Ebd., 80 f.)

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sprachlichen Mitteilung, eines Textes – sei es geschriebenes oder gesprochenes Wort – lässt sich Individualität erst erschließen. Dabei ist, wie bereits erwähnt, Verstehen für Schleiermacher nie abgeschlossen und kann nur approximativ geleistet werden. Sein Entwurf einer Technik der Hermeneutik dient nicht zuletzt dazu, der Aneignung eines Textes durch Projektion zu wehren.69 Das Problem des Verstehens fremder Texte wird umso deutlicher, bezieht man den Gedanken ein, dass auch die sprachliche Artikulation des reinen Denkens ein Akt unumgehbarer Individualität ist. Die Dialektik ist somit die Kehrseite der Hermeneutik.70 Das Verweisungsverhältnis beschreibt also Wissen als Entstehendes und illustriert, dass der Gegenstand und das Denken in ihrem Gegebensein perspektivisch sind – als Deutungsleistungen von Subjekten. Approximatives Verstehen ist jenseits dieses »mühsame[n] Umweg[s]«71 nicht mehr denkbar. Das Selbstbewusstsein vermittelt zwischen Denken und Sein  – auch Idealität und Realität. Die Einheit des Selbstbewusstseins allerdings, als gedachte Einheit, ist bedingt durch den transzendenten Grund, in welchem alle Gegensätze aufgehoben sind. Jener transzendente Grund ist »das treibende Prinzip unseres Bewusstseins«72, der jedoch dem Wissen entzogen ist. Allein das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit vermittelt eine Anschauung der Beziehung zwischen dem unmittelbaren Selbstbewusstsein und dem transzendenten Grund; dies ist der Ort der Religion.73 Getrennt sind also Erkenntnis- und Seinsgrund: Das Selbstbewusstsein, sich immer wieder selbst setzend, begreift sich also als gesetztes. Ich-Bewusstsein entsteht erst im reflexiven Rückgang des Selbst­bewusstseins auf seine als unmittelbar gesetzte Voraussetzung. Hofer zieht aus dem Verwobensein des transzendenten Grundes in das Selbst-Verhältnis des Menschen eine bemerkenswerte Konsequenz, die in ihrer ethischen Ausrichtung von Interesse für die Auseinandersetzung mit Schleiermachers Geselligkeits­ theorie ist. Hofer schreibt: 69 Hofer, M., ebd., 232. 70 Endgültig definiert Schleiermacher ›Dialektik‹ 1833 in der »Einleitung zur Dialektik«: »Dialektik ist Darlegung der Grundsäze für die kunstmäßige Gesprächsführung im Gebiet des reinen Denkens.« (Schleiermacher, F. D. E., Einleitung zur Dialektik, 117.) 71 Gräb, W., Die unendliche Aufgabe, 59. 72 Schleiermacher, F. D. E., Dialektik, 272. 73 Zur unabschließbaren Prozessualität der Unterscheidungstätigkeit vgl. Gräb, W., Institution und Individuum 260 ff. Mit Verweis auf den richtungsweisenden Charakter der Schleiermacherschen Überlegungen heißt es dort: »Schleiermacher hat jedoch darauf aufmerksam gemacht (und darin dürfte er keineswegs bereits wieder eingeholt sein), daß von dieser Beziehung des Endlichen auf ein unendliches Ganzes nur dann die Rede sein kann, die Religion, sozusagen als Kontingenzbewältigungspraxis, nur dann wirklich wird, wenn das Endliche sich aktuell selber transparent wird für sein Gegenteil, wenn die Entzweiung am Endlichen selber vor sich geht, als immanente Prozessualität, mit der es in sich über sich hinausweist, sich als Erscheinung des ganz anderen, der unendlichen Ganzheit entdeckt. So erst realisiert sich die Religion, in dieser prozessual-dynamischen Selbstunterscheidung, die zugleich immer auch die Negativität bedeutet gegen das, was historisch-empirisch von ihr da ist.« (Ebd., 264.)

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»[…] Schleiermacher bietet eine Theorie des Subjekts an, die hermeneutische Konsequenzen ziehen lässt: im Theorem der schlechthinnigen Abhängigkeit gelingt es ihm, den transzendental Anderen als Seinsgrund unserer selbst zu explizieren. Damit ist im Selbstbewusstsein unaufhebbar ein Anderer mitgesetzt, der transzendenter Grund unseres Wissens ist und reflexiv nie eingeholt werden kann. Mit diesem konstitu­ tionstheoretischen Argument wird sich […] die Frage: ›Wie könnte man einen Fremden ­tolerieren, wenn man sich nicht selbst als Fremden erfährt?‹[Fußnote] nicht nur als rhetorisch erweisen.«74

Schleiermachers Subjekttheorie entwickelt sich quasi erst über eine »Phänomenologie des Wissens«75. Die Möglichkeit intersubjektiver Empfänglichkeit resultiert aus der Erfahrung, in der Begegnung mit sich selbst durch einen transzendentalen Anderen bestimmt zu sein. Der Andere wird so zur Voraussetzung der Erkenntnis Meiner selbst. Aus dieser Perspektive erscheint der Gedanke der Geselligkeit als Modell, wie mit Alterität umgegangen werden kann: Im Wissen darum, dass es nie vollständige Identität mit dem Anderen geben wird, dass der Andere immer der Andere bleiben wird, den man sich nicht aneignen kann, gibt es ein Bemühen um Verstehen, wohl wissend, dass es nicht abschließbar ist.

10.3.2 Versuch einer semantischen Verknüpfung: der Gedanke der koinonia bei Paulus Der Versuch, die Idee der Geselligkeit bei Schleiermacher mit dem Gedanken der koinonia bei Paulus in eine semantische Nähe zu rücken, ist als Vorschlag zu lesen: Die Gedanken der Verbindlichkeit der konkreten intersubjektiven Beziehung unabhängig von anderweitig stattfindenden sozialen Rollenzuschreibungen wie der (notwendigen) Verschiedenheit der Einzelnen in einem gemeinsamen sozialen Korpus können hier unter Umständen wegweisend sein. Da die vorliegende Studie keinen Beitrag zur exegetischen Wissenschaft leisten kann und will, liegt der Anspruch der folgenden Ausführungen entsprechend auf dem Niveau der Idee eines möglichen Rückbezugs. Inwieweit der Gedanke der Geselligkeit bei Schleiermacher einen urchristlichen Vorläufer in der Paulinischen Vorstellung der koinonia mit Blick etwa auf die Frage der symbolischen Teilhabe wie der teleologischen Bestimmung findet, bedarf weiterer Untersuchung.76 An dieser Stelle scheint der Rekurs auf den koinonia-Gedanken bezüglich der ethischen Qualifizierung des Gesprächs bereichernd. 74 Hofer, M., Nächstenliebe, 14 f. Die im Zitat angeführte Fußnote verweist auf: Kristeva, J., Fremde, 198. 75 Hofer, M., ebd., 260. 76 Die Frage der symbolischen Teilhabe bei Paulus und Schleiermacher soll nicht weiter vertieft werden: Zu fragen wäre, ob sich ein Vergleich nicht über die Reflexion der anthro­ pologischen Fundierung des Koinons bei Schleiermacher entwickeln müsste.

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Der Begriff koinonia (κοινωνία)77 kommt in den paulinischen Briefen 13-mal vor.78 Die Kontexte können jeweils unterschiedlich sein79; aus der paulinischen Verwendung lässt sich folgende Grundstruktur erheben: »Gemeinschaft (mit jemandem) durch (gemeinsame) Teilhabe (an etwas)«.80 – Der koinonia-Gedanke bezieht sich auf die Idee der konkreten lebensweltlichen Gemeinschaft: Er ist immer auf eine konkrete Sozialgestalt bezogen, insofern hat er ekklesiologischen Charakter, ist allerdings immer schon christologisch begründet. Abgesehen von der konkreten diakonischen Implikation, die der Begriff oft bei sich trägt, ist er eng an einen sozialethischen Begriff von Freiheit geknüpft. Diese Aspekte der konkreten lebensweltlichen Gemeinschaft wie der sozialethischen Ausrichtung werden exemplarisch in der Betrachtung des ersten Korintherbriefs wie des Briefs an Philemon deutlich. 1 Kor 10,16 bezeichnet im Zusammenhang des Herrenmahls die Teilhabe, welche Gemeinschaft schenkt: Die erste Hälfte des Satzes thematisiert die Teilhabe der Glaubenden an der Heilswirkung des Kreuzestodes Christi durch das Trinken des Bechers; durch das Trinken des Bechers werden die Glaubenden in der Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten gestärkt.81 Mit dem Wort soma (σῶμα) ist in der zweiten Hälfte des Satzes der ans Kreuz gegebene Leib Christi gemeint (vgl. Röm 7,4; Kol 1,22), von dem auch gesagt werden kann: »Leib für euch« (11,14). Auch der zweite Halbsatz spricht von der Teilhabe an der Heilswirkung 77 Die Worte der Wortgruppe κοιν- bezeichnen im griechisch-hellenistischen Sprach­ gebrauch, je nach Verwendung, etwas als auf die Allgemeinheit bezogen bzw. auch das, was allen – Dingen oder Personen – gemeinsam ist. Dabei variiert die ethische Konnotation: Wie im Deutschen der Gegenwart, kann das, was allen gemeinsam ist, das Gemeine, als profan und gewöhnlich, schlicht abgewertet werden (so ist in der jüdisch-christlichen Tradition ebenfalls die Bedeutung ›unrein‹ zu finden). Allgemein ließe sich sagen, dass es bei dieser Wortgruppe um die Aussage der Beteiligung an etwas, nämlich dem Koinon/κοινόν, geht. Κοινωνία (als Abstraktbildung zu κοινωνέω und κοινωνός) steht im Zusammenhang mit ›Anteil nehmen‹ und ›Anteil geben‹, bedeutet oft auch nur ›Zusammengehörigkeit‹ oder aber auch ›Beziehung‹: Zwei Personen etwa haben etwas gemein und gehören so mit Blick auf das κοινόν zu­ sammen. 78 Im übrigen Neuen Testament finden sich weitere Stellen im ersten Johannesbrief (1 Joh 1,3.6 f), dann: Apg 2,42; Eph 3,9 und Hebr 13,16. 79 Eine genaue Bestimmung des gemeinten Aspektes im Zusammenhang des Terminus κοινωνία ist aus dem konkreten Kontext zu erheben. Eine Rolle spielt der Begriff bei Paulus in folgenden Zusammenhängen: im Zusammenhang der Thematisierung der Kollekte für Jerusalem (Röm 15,26; 2 Kor 8,4; 9,13). Κοινωνία besteht in Bezug auf das Evangelium (Phil 1,5); sie ist durch Paulus vermittelt, bezieht sich aber auf alle Glaubenden. Der Begriff κοινωνία ist auf die Gemeinschaft mit Christus und dem Heiligen Geist bezogen (1 Kor 1,9; 2 Kor 13,13; Phil 2,1). Κοινωνία wird thematisch im Zusammenhang des Herrenmahls (1 Kor 10,16). Auch sind die Glaubenden in die Gemeinschaft der Leiden Christi hinein genommen (Phil 3,10), κοινωνία hat einen verbindlichen Aspekt (Gal 2,9). (2 Kor 6,14 wird κοινωνία formal gebraucht.) Phlm 6 wiederum spricht von der κοινωνία, die der Glaube wirkt. 80 Hainz, J., Art. κοινωνία, 751. 81 Vgl. Wolff, Chr., Brief des Paulus an die Korinther, 229.

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des Todes Christi wie von der Stärkung der Gemeinschaft mit ihm – die Teilgabe gewährt Christus selbst.82 Betrachtet man nun die konkrete Situation in Korinth, gewinnt das Ausgesagte materiale Gestalt: In Korinth herrschen Streitereien der Gemeindemitglieder untereinander mit Bezug auf unterschiedliche Lehrautoritäten (Paulus, Apollos, Kephas, Christus) – das konkrete Zusammenleben der Korinther ist gefährdet, zumindest wird es strapaziert. 1 Kor 10,17 verdeutlicht, dass der Apostel das Herrenmahl als Geschehen erachtet, welches für die Einheit der Gemeinde von Bedeutung ist: »Die Glaubenden werden hier stets aufs neue auf das Fundament ihres Verbundenseins untereinander gestellt – auf die heilschaffende Lebenshingabe Christi.«83 Die Einheit vermittelt die sakramentale Einbeziehung der Gemeinde in den Heilstod Jesu Christi (vgl. 1,10.17; 11,20.34). Daraus folgt, dass gegenseitige Entsolidarisierungsprozesse (wie dies Paulus etwa im Zusammenhang der Problematik des Essens von Götzenopferfleisch ausführt, vgl. 8,11) nicht vorkommen sollten. Darum betont 10,17 noch einmal ausdrücklich die Einheit der Gemeinde: Ein Brot ist es, das gebrochen wird (obwohl es sich faktisch aufgrund der Größe der Gemeinde um mehrere Brote gehandelt haben wird).84 Die Christen und Christinnen sind füreinander da, sie bilden ein Ganzes; dieses Ganze bildet sich nicht aus sich selbst heraus, es ist ihnen quasi vorgegeben durch Christus, der im Herrenmahl Anteil an seinem Heilstod gewährt. 1 Kor beschreibt exemplarisch, wie das Verhältnis von Anteilgabe und Anteilnahme mit Blick auf die christliche Gemeinde zu bestimmen ist: Durch das Herrenmahl erhalten die Glaubenden Anteil an der Erlösung durch den Kreuzestod Jesu. Christus selbst gibt teil, und die durch Christus gewirkte Teilhabe führt zu gegenseitiger Teilhabe und Teilgabe der Christinnen und Christen untereinander: Sie sind viele Glieder, aber nur ein Leib in Christus (vgl. 12,12 ff). In ihrer Unterschiedlichkeit sind sie aufeinander angewiesen zum tieferen Verständnis gegenseitiger Achtung und Liebe (1 Kor 13). Die semantische Füllung der ­koinonia-Struktur zielt also auf ein konkretes Desiderat in der alltäglichen Lebenswelt der Korinther ab: Einheit zu wahren, indem zwar Unterschiede gesehen, jedoch gleichzeitig konstruktiv aufgenommen werden. Dieses Spannungsfeld von Diversität und Einheit kehrt thematisch in einer anderen Variation im Brief des Paulus an Philemon wieder. Der Begriff der koinonia findet sich im Philemonbrief im Rahmen des Proömiums; hier legt Paulus die Grundlage für seine späteren Ausführungen. Der Begriff koinonia in Phlm 6 stellt das wichtigste Stichwort der Passage dar.85 Be 82 Vgl. ebd., 229 f. 83 Ebd., 230. 84 Vgl. ebd., 231. 85 Vgl. Reinmuth, E., Brief des Paulus an Philemon, 30. – Die Kommentare sind sich einig darin, dass die genaue Bedeutung von Philm 6 bzw. einzelner Satzteile schwer zu bestimmen ist; vgl. exemplarisch O’Brien, P. T., Colossians and Philemon, 279, und Reinmuth, E., ebd. –

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kanntermaßen lässt sich die Situation des Briefes wie folgt skizzieren: Der Brief stellt ein Begleitschreiben zur Rückkehr des Sklaven Onesimus zu seinem Herrn Philemon dar. Paulus als amicus domini schreibt Philemon aus der Gefangenschaft (wobei Paulus damit rechnet, dass sein Brief in der Gegenwart der Hausgemeinde verlesen werden wird): Er, Philemon, möge den flüchtigen Onesimus wieder bei sich aufnehmen, und zwar nicht mehr als Sklaven, sondern vielmehr als »geliebten Bruder« (16). Philemon wie Onesimus sind durch Paulus zum christlichen Glauben gekommen, und Paulus hätte Onesimus gerne an seiner Seite behalten. Philemon soll Onesimus aufnehmen wie ihn selbst, Paulus. In Vers 6 ist nun die Rede von der κοινωνία τῆς πίστεώς: Reinmuth schlägt vor, hier mit ›Gemeinschaft des Glaubens‹ zu übersetzen, wobei die Teilhabe anderer an Philemons Glauben gemeint sein soll86: »Die Bitte des Paulus enthält den Wunsch, dass sich die Gemeinschaft, die im Glauben des Philemon wurzelt, möglichst vielen Menschen öffnen möge.«87 Wie auch im ersten Korintherbrief zeigt sich, dass Paulus die koinonia in der gemeinsamen Teilhabe am Glauben an Christus wurzeln sieht. Damit geht es um nichts weniger als die Anzeige von Gleichheit zwischen Philemon und Onesimus. Unabhängig von der konventionellen Rollenzuschreibung, die die Gesellschaft der Antike vornimmt, bedeutet Paulus Philemon, dass die sozialen Unterschiede in Christus aufgehoben sind, und das heißt konkret: dass sie in der Gemeinde nicht als trennend praktiziert werden sollen.88 Viel eher wirkt die gemeinsame Teilhabe am Glauben, dass entsprechendes Handeln und Einsicht in das folgt, was »im Blick auf Jesus gilt: […] Sie [die Gemeinschaft; KM] ist die Wirklichkeit, an der erkannt werden kann, worin ›das Gute unter uns [Fußnote] auf Christus hin‹ besteht.«89 – Der konkrete soziale Bezug der Glaubenden untereinander dürfte hier als ethischer Prüfstein gelten. Das Verbindende mit Blick auf eine mögliche theologische Leitvorstellung kann bei Schleiermacher und Paulus nun in der ethischen Qualifizierung intersubjektiver Begegnungen gesehen werden. Auch für Paulus und seine Vorstellung von koinonia könnte mit aller Vorsicht formuliert werden, dass der Einzelne zu seiner Bestimmung erst durch die Erkenntnis der Angewiesenheit und Zugehörigkeit seiner selbst zu anderen findet: Erst die Gemeinschaft vernetzt den Einzelnen mit der Tradition bzw. Überlieferung und setzt deren lebensweltNach J. Hainz ist das Wortfeld koinonia Schlüssel zum Verständnis des gesamten Philemonbriefes bzw. ist der Philemonbrief als Konkretion des paulinischen Koinonia-Verständnisses zu lesen: vgl. Hainz, J., Art. κοινωνία, 753. 86 Vgl. Reinmuth, E., ebd., 30. 87 Ebd. 88 Im Galaterbrief schreibt Paulus: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.« (Gal 3,28) 89 Reinmuth, E., ebd., 30.

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liche Aktualisierung heraus. Die konkret gelebte, in der Lebenswelt des Alltags angesiedelte Intersubjektivität ist auch hier, bei Schleiermacher wie bei Paulus, die Voraussetzung für die kommunikative Anerkennung und Aushandlung von Alterität wie Identität. Schleiermachers ›Theorie des geselligen Betragens‹ (die Tragfähigkeit der semantischen Verknüpfung zur Vorstellung der koinonia bei Paulus müsste an anderer Stelle einer eingehenderen Prüfung unterzogen werden) liefert wichtige Impulse für eine ethische Haltung im Zusammenhang mit dem Problem des Fremdverstehens. Was kann nun abschließend zu einem möglichen methodischen Reflex auf das Problem des Fremdverstehens ausgeführt werden? Als zentral im Zusammenhang der Konstitution subjektiven wie intersubjektiven Sinns hat sich der Begriff der Relevanz erwiesen. In dieser Folge wird vorgeschlagen, als vielversprechenden methodischen Reflex auf das hermeneutische Problem die Erhellung, die Arbeit mit und an subjektiven Relevanzsystemen für die seelsorgliche Interaktion zuzugehen.

10.4 Alltagsrelevanz Das erste Unterkapitel geht noch einmal auf die Frage ein, inwiefern das Problem des Fremdverstehens auch ein Problem in der seelsorglichen Begegnung darstellt und inwieweit die Arbeit an und mit Relevanzsystemen als methodischer Reflex auf das Problem des Fremdverstehens für das seelsorgliche Gespräch Klärung bringen kann. In einem zweiten Schritt wird es darum gehen, an einigen wenigen Beispielen aufzuzeigen, dass sich die Genese des Netzes oder Systems individueller Relevanzen aus ganz verschiedenen (para-) sozialen Elementen speist. Den Schluss dieses Kapitels bildet eine Zusammenstellung von Anregungen möglicher Schritte der Interaktion für die seelsorgliche Begegnung.

10.4.1 Relevanzerhellung als Reflex auf das Problem des Fremdverstehens Unter Rekurs auf Alfred Schütz wurde soziale Interaktion zunächst als prämissengeleitet beschrieben: Kommunikative Prozesse erfolgen über die Operation mit Idealisierungen, einerseits durch die Idealisierung der ›Vertauschbarkeit der Standpunkte‹, andererseits durch die Idealisierung der ›Kongruenz der Relevanzsysteme‹. Beide Idealisierungen gründen in der ›Generalthese der wechselseitigen Perspektiven‹. Diese Prämissen spielen eine wichtige Rolle im Zusammenhang pragmatischer Kommunikation, wenn es darum geht, ein zielgeleitetes Gespräch zu führen, dessen heuristisches Interesse weder auf das Gespräch selbst als Gespräch, den Anderen, die eigene Fremdheit etc. abzielt. Unter Ein­beziehung

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der ›Generalthese der wechselseitigen Perspektiven‹ ist es möglich, sich über ein externes, pragmatisch zu lösendes Problem zu verständigen. Die Kommunikation wird komplexer, wenn offensichtlich wird, dass die Perspektiven etwa zweier Subjekte nicht konvergieren, wenn deutlich wird, dass die Differenz zwischen eigenem und fremdem Sinn Teil der conditio humana und damit unhintergehbar ist. Dieses Verhältnis wurde als das Problem des Fremdverstehens beschrieben: Die Möglichkeit, von eigenen Erfahrungen und Pro­ zessen der eigenen Sinnkonstitution ausgehend das Verhalten oder die Handlung eines Anderen eindeutig zu erschließen, bleibt begrenzt.90 Nun zeichnet sich die seelsorgliche Situation in vielen Fällen dadurch aus, dass im Gespräch etwas zur Klärung gebracht werden soll: Was kann ich tun? Was soll ich tun? Wer erwartet was von mir? Aber auch: Welche Haltung nehme ich mir selbst und anderen gegenüber ein vor dem Horizont bestimmter symbolischer Ordnungen, ethischer Grundlinien meines eigenen Glaubens?91 Der Beginn solcher Gespräche zeichnet sich in der Regel nicht dadurch aus, dass thematisch sofort ›hoch‹, das heißt unmittelbar eingestiegen würde: Zu Beginn wird es gerade darum gehen, unter der Prämisse der ›Generalthese der wechselseitigen Perspektiven‹ miteinander ins Gespräch zu kommen, um die Verbindlichkeit der Situation zu aktualisieren wie eine Form der gegenseitigen Wertschätzung/Akzeptanz auszudrücken: Man ist sich einig mit Blick auf das Wetter, den Taumelkurs einer bundesrepublikanischen Volkspartei oder die Schönheit der Weihnachtskrippe in der eigenen Kirche. Dieser Einstieg ins Gespräch ist mitnichten abzuwerten, stellt er doch die Aushandlung der Beziehungsgrundlage für Kommendes dar. Welche Rolle spielt nun der Begriff der Relevanz für die seelsorgliche Situation? Schütz/Luckmann schreiben: »Das Relevanzproblem ist vielleicht das wichtigste und zugleich schwierigste Problem, das es in der Beschreibung der Lebenswelt zu lösen gilt.«92  – Auf dieser Linie wird dem Problem der Relevanz eine besondere Bedeutung für die Reflexion der Praxis der Seelsorge bei­gemessen. Aufgrund der bisher geleisteten grundlagentheoretischen Bemühungen der vorliegenden Arbeit lässt sich der Begriff der Relevanz als Korrelativbegriff zum Begriff des Sinns bestimmen93, denn Sinnzusammenhänge werden aktiv nur zwischen Erfahrungen gestiftet, die sich als reflektierte Erlebnisse aus dem Bewusstseinsstrom als relevant konturieren. So verhält es sich auch mit der reli­ 90 Vgl. Kap. II.6.2.1. 91 Sicherlich ist mit diesen Fragetypen nicht das Spektrum seelsorglicher Themen ab­ gedeckt. Die Last mancher Situationen besteht darin, dass man gerade erst mal gar nichts tun kann. Diese Situationen gilt es zunächst auszuhalten, und das gilt auch für die seelsorgliche Begleitung. Früher oder später wird jedoch auch in solchen Situationen zumindest der letzte Fragentyp thematisch, etwa in der Überlegung, was Halt gibt. 92 Schütz, A./Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, 253. 93 Vgl. Schütz, A., Wiener Exzerpte, 49.

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giösen Deutung, wurde Religion zuvor bestimmt als »Deutung von Erfahrung im Horizont der Idee des Unbedingten.«94 – Um Deutung von Erfahrung geht es in den meisten seelsorglichen Situationen; auch die Situationen, in denen vordergründig Smalltalk betrieben wird, lassen sich mit Blick auf die Erfahrungsdeutungspraxis der Gesprächspartner hin transparent machen. Deutung von Erfahrung zeigt sich so als grundlegender Vollzug der alltäglichen Lebenswelt, die Einstellung von Ereignissen in Sinnzusammenhänge, die Vernetzung von Phäno­menen zu einem subjektiv plausiblen (wenngleich mitunter bestehend divergentem) Größeren. Deutung von Erfahrung lässt sich dabei nur vor dem Hintergrund bestehender, wie auch immer gearteter subjektiver Relevanzsysteme bzw. Präferenzordnungen realisieren. Die biographisch bedingte Individualität eines jeden Einzelnen, die auf individueller Sedimentierung von Erfahrungen aufruht, seine spezifische Identitätskonstitution erfordern Deutungsleistungen, die in einem Passungsverhältnis stehen: Die Plausibilität einer Erfahrungsdeutung erfolgt individuell am Ort des Subjekts, sie ist rückgebunden an bereits bestehende Relevanzhierarchien. Durch dieses ›Tor‹ der subjektiven Plausibi­ litätsprüfung muss auch die religiöse Deutung gehen. Das bedeutet für die seelsorgliche Situation zum einen, dass die Prozesse der Sinndeutung intersubjektiv reziprok stattfinden müssen. Andererseits ist es für die Seelsorgenden mit Blick auf die Möglichkeit des (partiellen) Verstehens der anderen Person sehr hilfreich, Aufschluss über die subjektive Relevanzhierarchie bzw. die subjektive Präferenzordnung des Gesprächspartners zu erlangen. So wird es sukzessive möglich, Sinndeutungsprozesse des Gesprächspartners nachzuvollziehen, aber auch, im gemeinsamen Prozess Deutungsvorschläge zu erarbeiten, die einem be­ stehenden Relevanzsystem korrelieren, die es – bewusst – kontrastieren etc. Entscheidend ist, dass erst die Wahrnehmung subjektiver Relevanzhierarchien die Arbeit an der Deutung von Erfahrung bzw. prospektiv die Arbeit an Handlungsoptionen ermöglicht, weil sie Anschluss an subjektive Plausibilitätsstrukturen schafft. Die Unterscheidung Schütz’ zwischen thematischen Relevanzen, Interpretationsrelevanzen und Motivationsrelevanzen kann dabei für Klärungsprozesse im seelsorglichen Prozess hilfreich sein. Wie Schütz bereits ausgeführt hat, sind die drei Relevanzstrukturen miteinander verflochten95 und mitunter nur schwer zu separieren. Ein analytischer Blick auf die verschiedenen Relevanzstrukturen, wie sie in einer seelsorglichen Situation zum Tragen kommen können, schärft die Wahrnehmungssensibilität für die verschiedenen Facetten der (Selbst-) Mitteilung in einem Gespräch. Zunächst hat es jedes Gespräch mit auferlegten und wesentlichen Relevanzen zu tun: Ein konkretes Thema wird geplant in einer seelsorglichen Situation angesprochen und bearbeitet. Dieses Thema erhält damit – zumindest für eine ge

94 Barth, U., Religion in der Moderne, 10. 95 Vgl. Kap. II.7.2.1.

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wisse Zeit – höchste Priorität. Dabei kann es irgendwann eintreten, dass sich die Relevanz mit Blick auf ein ausgezeichnetes Thema (z. B. Konflikte einer Frau mit ihrem Ehemann) zugunsten eines impliziten Themas verschiebt (z. B. Verhältnis der Frau zu ihrem Vater). Das seelsorgliche Gespräch ist ein klassischer Ort, in dem Interpretationsrelevanzen ihren Raum finden können: In vielen Fällen liegt der Anlass für ein seelsorgliches Gespräch auf Seiten der Seelsorgesuchenden in dem Problem, das zu interpretierende Phänomen mit sedimentiertem Erfahrungswissen nicht zur Deckung bringen zu können. In der Regel ergibt sich hier die Frage, wie eine sich als problematisch konstellierende Situation außerhalb des Seelsorgegesprächs zu verstehen ist bzw. im Anschluss daran, welche Handlungsoptionen mit Blick auf die problematische Situation entworfen werden können. Schließlich stehen die Motivationsrelevanzen in engstem Zusammenhang mit zu entwerfenden bzw. entworfenen Handlungsoptionen: Was soll erreicht werden? Welches Ziel wird verfolgt? Aber auch: Welche Option liegt zunächst aufgrund biographischer Bedingungen näher?96  – Die Motivations­ relevanz gilt es, auch hinsichtlich bereits vergangener Handlungen zu reflektieren, da sie Aufschluss über die Gründe gibt, warum jemand so und nicht anders gehandelt hat.

10.4.2 (Para-) Soziale Faktoren der Relevanzgenese Subjektive Relevanzsysteme bzw. Plausibilitätsordnungen bilden sich zunächst in Situationen der konkreten Intersubjektivität aus. Auch die seelsorgliche Situation kann der Ort sein, an dem sich Relevanzsysteme bestätigen oder ver­ ändern. Die Integration verfügbarer Sinnmuster und ihre Vernetzung mit bereits bestehenden Sinnmustern finden über eine Plausibilitätsprüfung am Ort des Individuums statt. Die seelsorgliche Situation stellt dabei nur einen Ausschnitt aus all den Situationen dar, die das Individuum sinndeutend verarbeiten muss: Jeder Mensch ist in soziale Kontexte verwoben, welche sich in engere oder weitere Kreise unterteilen lassen. Kernfamilie, weitere Verwandtschaft, Freunde und Freundinnen, Arbeitskollegen und -kollegen, der Sportverein, Urlaubs­ bekanntschaften, nicht zuletzt die Kirchengemeinde bilden Beispiele, in welche pluriform verfassten sozialen Netze der oder die Einzelne in der Regel (in Auswahl) verwoben ist. Die unterschiedlichen Begegnungen provozieren  – latent 96 Hier geht es aus seelsorglicher Sicht nicht darum, jemanden zur Wiederholdung des Immergleichen anzustiften, sondern sich vielmehr dem Verstehen anzunähern, welche Handlungsmöglichkeiten sich für den Gesprächspartner aus biographischen Gesichtspunkten zunächst nahe legen. Die seelsorgliche Arbeit wird dann, bei gegebenem Anlass, darin bestehen, überkommene und nicht mehr tragfähige Handlungsmuster zu problematisieren und am Entwurf neuer Handlungsoptionen gemeinsam zu arbeiten.

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oder ­explizit – eine Überprüfung der individuellen Relevanzordnung; dies kann sich in vielen Fällen schlicht auf vorreflexiver Ebene abspielen. Mit Blick auf die Genese von Relevanzen ist die Rolle der Massenmedien mit zu bedenken: Neben der Konfrontation mit intersubjektiv vermittelten Relevanzordnungen findet eine Bearbeitung der Relevanzfrage in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts zu einem großen Teil in der Auseinandersetzung mit In­ halten statt, die über die Massenmedien verbreitet werden. Nicht nur Funk und Fernsehen, auch das Internet und ein kaum überschaubarer Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt sorgen für Bilder und Abbilder von Lebensgestaltung und Weltdeutung. Gerade die Suggestivkraft, die von manchen Medien wie etwa dem Fernsehen ausgeht, erfordert eine erhöhte Reflexionsleistung des Individuums mit Blick auf die Frage, was von all dem Angebotenen relevant für das Eigene ist. Die Integrationsleistung hinsichtlich der verschiedenen Sinnwelten und Deutungsangebote, auch der milieuspezifischen Rollenerwartungen, die an jeden Einzelnen im Schnittpunkt unterschiedlicher sozialer Zusammenhänge gestellt werden, liegt bei den Individuen selbst. Zwar können Gesprächszusammenhänge – etwa mit Freunden, im Internet oder aber mit Gemeindemitgliedern – mit Blick auf Plausibilitätsordnungen klärend wirken, die letzte Deutungshoheit liegt bei den Individuen (das kann auch gar nicht anders sein, sind die Kategorien Freiheit und Mündigkeit leitend). Treten Einzelne in die seelsorgliche Situation bzw. das seelsorgliche Gespräch ein, bleiben sie in all die unterschiedlichen sozialen Zusammenhänge verflochten und beziehen von dort her, unter Ein­beziehung ihrer bisherigen Erfahrungen, die Elemente zum Aufbau eigener Sinndeutungsprozesse. In aller Kürze sollen zwei Ebenen skizziert werden, in die sich die Einzelnen unter anderem hinein gestellt sehen, wenn sie in die seelsorgliche Situation eintreten. Als Beispiel für die sinnproduktive Kraft weiterer (im Gegensatz etwa zur Kernfamilie) sozialer Zusammenhänge dient die Teilnahme am Leben einer Kirchengemeinde.97 Die für die Moderne charakteristische Bedeutung parasozialer Kommunikation wird mit einem kurzen Blick auf das Thema der Massen­medien beleuchtet. Die Reflexion dieser Ebenen geschieht unter der Prämisse, dass die Seelsorgenden die verschiedenen sozialen Zusammenhänge, in denen die In­ dividuen stehen und auf denen die primären Sinndeutungsprozesse auf­ruhen, mit bedenken und in ihre Arbeit mit einbeziehen müssen. Bei den Menschen, die eine seelsorgliche Situation aufsuchen, kann es sich um unterschiedliche ›Partizipationstypen‹ handeln. Grob gesagt, kann man unter­ 97 Hier könnte man in ähnlicher Weise auf Sport- und Kunstvereine oder die aktive Mitgliedschaft in einer politischen Partei verweisen. Die Gemeinsamkeit der sozialen Gestalt soll, neben den natürlich unterschiedlichen Inhalten und Zielsetzungen der sozialen Zusammenkünfte, darin bestimmt werden, dass Menschen dort regelmäßig partizipieren, und dass eben jene Partizipation eine Bedeutung für die konkrete Lebensgestaltung wie für die Haltung der Welt gegenüber besitzt.

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scheiden zwischen den so genannten ›treuen Kirchenfernen‹, denjenigen, die ab und zu am Gottesdienst teilnehmen, und denjenigen, die auch andere Angebote der Kirchengemeinde nutzen (dass jemand, der der Kirchengemeinde ganz fern steht, eine seelsorgliche Situation gezielt aufsucht, ist eher selten).98 Prin 98 Sicherlich kommt es in Einzelfällen vor, dass auch Menschen mit den Seelsorgenden ins Gespräch kommen, die der Kirche sonst fern stehen. Auf dieser Personengruppe soll nun nicht der Fokus liegen, da sie an der Aushandlung sozialen Sinns im Rahmen der Kirchen­ gemeinde nicht aktiv partizipiert. – Mit Blick auf die soziale Struktur der Kirchenmitglieder unterscheidet die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft »Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge« fünf Typen der Mitgliedschaft; hinsichtlich der (expliziten) religiösen Gesinnung und organisatorischer Anbindung reicht das Mitgliederspektrum von »stark christlich-religiös und kirchennah« (Typ 1) bis »geringe Kirchlichkeit und christliche Religiosität« (Typ 5). (Vgl. Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge, 148 ff.) Als weitere Typen werden benannt: »stark christlich-religiös, weniger kirchennah« (Typ 2), »kirchennah, weniger religiös« (Typ 3), »mittlere Kirchlichkeit und christliche Religiosität« (Typ 4). (Vgl. ebd.) Um das Spektrum der Kirchenmitgliedschaft weiter zu erhellen, korreliert die Untersuchung die Mitgliedschaftstypen mit Weltsichten, Soziallagen und Lebensstilen. Unter den Kirchenmitgliedern bezeichnen sich als »sehr verbunden« oder »ziemlich verbunden« mit der Kirche 37 % (West) bzw. 47 % (Ost), als »etwas verbunden« 37 % (West) bzw. 31 % (Ost) und als »kaum verbunden« bzw. »überhaupt nicht verbunden« 26 % (West) bzw. 21 % (Ost). Hinsichtlich des Gottesdienstbesuchs, als Indikator für die Teilnahme am öffentlichen Verkündigungsgeschehen der Kirche, stellen sich die Zahlen folgendermaßen dar: »jeden/fast jeden Sonntag« bzw. »1–2mal im Monat« besuchen 23 % (West) bzw. 28 % (Ost) Gottesdienste, »mehrmals im Jahr« 35 % (West) bzw. 37 % (Ost) und »1mal im Jahr oder seltener« bzw. »nie« besuchen 42 % (West) bzw. 35 % (Ost) den Gottesdienst. (Vgl. ebd., 54. 72 % derer, die mehrmals im Jahr, seltener oder nie am Gottesdienst teilnehmen, geben als Begründung für ihr [Nicht-] Teilnahmeverhalten an, dass der Besuch des Gottesdienstes für ihren Glauben nicht wichtig ist. In dieser Konsequenz erscheint der Glaube »als von kirchlichen Vollzügen relativ abgelöstes Privatum« [ebd., 81].) Bezüglich anderer Formen der Beteiligung am Gemeindeleben sind gegenüber der KMU III (Erhebung 1992) deutliche Rückgänge zu verzeichnen; 63 % der Befragten beteiligen sich überhaupt nicht. (Vgl. ebd., 64.) Rituelle Lebensbegleitung und diakonisches Engagement der Kirche sind entscheidend hinsichtlich der Erwartungshaltung an die Kirche wie für die Begründung der eigenen Kirchenmitgliedschaft. (Vgl. ebd., 60.) – Die Umfrage bestätigt eine längst gewonnene Erkenntnis: Nicht nur, dass sich Christentum außerhalb der kirchlichen Mauern findet, auch eine nicht zu unterschätzende Zahl an nominellen Kirchenmitgliedern empfindet eine Distanz zur Institution und lebt diese. Dies kann man harmonisierend, wie es J. Hermelink im Schlusskapitel der KMU IV tut, institutionengeschichtlich auflösen und – mit Blick auf das Teilnahmeverhalten zu Zeiten des deutschen Staatskirchentums – sagen, dass passive Mitgliedschaft ihre Tradition hat. (Vgl. ebd., 426.) P. Höhmann und V. Krech schlagen vor, die Haltung einer fehlenden Beziehung zu Religion und Kirche, jenseits von Affirmation, Ablehnung oder Ambivalenz, als »religiöse Indifferenz« (ebd., 182) zu bezeichnen. Diese religiöse Indifferenz ist beobachtbar aus Sicht der Kirchenorganisation oder des Religionssystems als »partielle und unvollständige Integration des Mitglieds« (ebd., 184), aus der Perspektive der einzelnen Person erscheint sie als »Unabhängigkeit der Überzeugung und der Lebensführung gegenüber dem Religionssystem und der Kirchenorganisation«. (Ebd.) Höhmann und Krech plausibilisieren, dass diese religiöse Indifferenz einerseits gesellschaftsstrukturell, als individuell zu erbringende Integrationsleistung gesellschaftlicher Ausdifferenzierung, bedingt ist. Andererseits sehen sie die Gründe für die mangelnde Integration von Seiten der Kirchen­ organisation in Milieuzentrierung und -ausschluss. (Der Befund der Milieuverengung wurde

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zipiell gilt es in der Begegnung mit Gemeindemitgliedern wahrzunehmen, wie stark jemand in das Gemeindeleben eingebunden ist, und in welchen Gruppierungen sich jemand beheimatet fühlt. Nimmt die Person regelmäßig am Gottesdienst teil? Besucht er oder sie den Bibelgesprächskreis, an dem der Seel­ sorger oder die Seelsorgerin selbst teilnimmt? Unter Umständen finden sich hier schon Anknüpfungspunkte mit Blick darauf, wie ein seelsorglich zu bearbeitendes Thema mit Diskurselementen verknüpft werden kann, die den Gesprächspartnern vertraut sind. Vielleicht hat die Gesprächspartnerin die Predigt vom vorletzten Sonntag noch im Sinn, welche sich mit dem Thema des Seelsorgegesprächs berührt?99 Wo finden sich Anknüpfungspunkte, Übereinstimmunbereits 1957 von K. v. Bismarck für die [aktiven] evangelischen Kirchenmitglieder erhoben: Gehobenes Bürgertum und Kleinbürgertum sind auch heute, d. h. zur Zeit der Erhebung [2002] noch die dominant vertretenen Milieus der kirchlichen Kerngemeinden. [Vgl. ebd., 222].) Die Brisanz des Phänomens der religiösen Indifferenz wird annähernd deutlich, bringt man es mit dem Phänomen der ›Intimisierung‹ religiöser Kommunikation zusammen, wie es sich aus den Auswertungen K. Sammets ergibt: Sammet zeichnet nach, dass die ansteigende Zurechnung individueller Verantwortung im Hinblick auf religiöse Kommunikation (vgl. auch Luhmann, N., Religion als Kommunikation, 140; Stichwort ›Authentizität‹) und die damit verbundene zunehmende Privatisierung religiöser Überzeugungen die Tendenz hat, zu religiöser Sprachlosigkeit zu führen. Für diese Sprachlosigkeit nimmt Sammet wiederum zwei Gründe an: einerseits die De-Legitimierung traditioneller Formeln und Rituale – und damit der Möglichkeit, sich ›anonymeren‹ Ausdrucksformen zu bedienen – andererseits den Un­w illen bzw. das Unvermögen, in der Öffentlichkeit sehr Privates bzw. Intimes zu kommu­nizieren. (Vgl. Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge, 389 ff.) In dieser Linie liegt es, wenn Krech und Höhmann wiederum konstatieren, dass ein wesentliches Problem darin liegt, dass symbolische Kommunikation unter den Bedingungen der Pluralisierung ihre Fähigkeiten verliert, »[…] Alltagsdifferenzen zu überwinden und symbolische Gemeinschaft zu stiften (theologisch gesprochen: Kirche als Leib Christi und Volk Gottes zu repräsentieren). In der Folge ist religiös-symbolische Kommunikation individueller Zustimmung oder Ablehnung ausgesetzt.« (Ebd., 187.) 99 Ernst Lange thematisiert in anderer Perspektive den Aspekt der Relevanz mit Blick wiederum auf die Predigtvorbereitung: In der Vorbereitung der Predigt geht es darum, dass der Prediger die besondere Relevanz der biblischen Überlieferung für die Gegenwart transparent machen kann. Dazu muss er möglichst intensiv an der Situation partizipieren, die die Predigt »herausfordert« (Lange, E., Chancen des Alltags, 326), er muss also eine Ahnung davon haben, was die Zuhörer umtreibt, beschäftigt, wie sich die existentielle Situation beschreiben lassen kann. Er wird sich selbst zur Frage: »Je intensiver er aber an der Situation, die die Predigt heraus­fordert, teilsucht, um so gewisser wird er selbst zunächst ›sprachlos‹ werden. Die Anfechtung, der Zweifel, die Auflehnung, die Gleichgültigkeit, das Mißverständnis seiner Hörer werden ihn selbst belasten. Er wird ein in seinen Hörern Angefochtener sein. Weil er teilhat an Menschen, denen Gott die Frage ist, wird Gott für ihn selbst, wird jedenfalls die Relevanz der biblischen Überlieferung im hic et nunc für ihn selbst zur unausweichlichen Frage werden.« (Ebd.) – Etwas weiter im Text heißt es: »In jedem Fall besagt die Relevanzerfahrung, daß die Eigenaussage des Textes im Medium meiner Erkenntnis in der homiletischen Situation, an der ich partizipiere, oder auch gegen sie zu funktionieren beginnt. Es ist nun eine spezifische Beziehung hergestellt zwischen Tradition und Situation […], daß ich Zeuge einer Selbstapplikation und Selbstaktualisierung der Tradition, Zeuge eben dieser Relevanz geworden bin. Und

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gen, Abgrenzungen? Ähnlich verhält es sich mit anderen Gesprächszusammenhängen im gemeindlichen Leben: Unter Umständen kann der Seelsorger das zu besprechende Thema in einen bestehenden Diskurszusammenhang in der Gemeinde einordnen. Hier, wie auch in anderen Zusammenhängen, ist der Gesprächspartner bzw. die Gesprächspartnerin nicht als ›fensterlose Monade‹ zu begreifen, sondern vielmehr als Individuum, das in engem Kontakt mit anderen Menschen steht. Aus diesem Kontakt konturieren sich Meinungen, Einstellungen, Prioritäten und Relevanzen.100 Der Einzelne partizipiert also in Form unterschiedlicher sozialer Zusammenhänge an unterschiedlichen Relevanzgefügen, die sich wiederum in symbolischen Ordnungen ausdrücken und ein gemeinsames, so scheint es oberflächlich, soziales Wissen darstellen. Diesen Hintergrund gilt es wahrzunehmen, unabhängig davon, ob es sich um die Kernfamilie eines Individuums, seine Arbeits­ situation oder seine sozialen Vernetzungen in der so genannten ›Freizeit‹ handelt. All diese Dinge prägen die Relevanzordnungen des Individuums, seine Präferenzordnung  – welche sich allerdings erst durch subjektive Anverwandlung ausprägen. Daraus folgt, dass zwei Individuen, die in (sehr) ähnlichen sozialen Zusammenhängen leben, durchaus unterschiedliche Relevanzsysteme ausprägen. Es gilt, dies für die seelsorgliche Situation wahrzunehmen: Der Plausibilitätshorizont eines Individuums lässt sich nur bis zu einem bestimmten Grad über quantitative Sozialdaten erheben. Für die Seelsorge ist so immer die Sensibilität für die ›Eigenlogik‹ des Subjekts gefragt (welche, wie sich bereits dargestellt hat, nie völlig transparent werden wird – nicht für die Seelsorgenden, mitunter nicht für die Seelsorgesuchenden selbst mit Blick auf die eigene Person). Die Situation der Individuen in der Moderne ist im Besonderen durch die Allgegenwart der Massenmedien gekennzeichnet. Das heißt, dass diese Medien – darin liegt meine Ermächtigung zur Predigt […].« (Ebd., 328.) – Mit der Fokussierung auf die Situation der Hörer und Hörerinnen macht Lange deutlich, dass die biblische Überlieferung an sich Relevanzcharakter hat, dass dieser jedoch immer mit den Fragen und Aspekten vermittelt werden muss, die für die Hörer und Hörerinnen gegenwärtig Relevanz besitzen. Lange verweist vehement auf die notwenig hermeneutische Zirkelstruktur zwischen der religiösen Gegenwartslage der Zuhörer und der Auslegung des Predigttextes, auf die Entwicklung der Predigtaufgabe von Seiten der Predigthörer. Langes ›Programm‹ findet sich in dem bekannten Satz gebündelt: »Predigen heißt, ich rede mit dem Hörer über sein Leben.« (Ebd., 62.) Die Reflexion auf die »homiletische Situation« (Lange) soll Begegnung schaffen, soll ermöglichen, dass das Evangelium den Einzelnen in seiner alltäglichen Lebenswelt angeht. Diese Begegnung zwischen Prediger, Text und Hörer ist nicht ohne reflexiven Einbezug des Alltags als Ort intersubjektiver Begegnung und des Handlungsvollzugs denkbar. 100 Vorstellbar ist folgende Situation: Das Thema, mit dem ein Seelsorgesuchender auf die Seelsorgerin zugeht, ist die bevorstehende Trennung von seiner langjährigen Ehefrau. Ist nun der Gesprächspartner eng mit einer homogen auftretenden Gruppe von Gemeindemitgliedern verbunden, die sich zum Thema Scheidungen mehrheitlich kritisch äußern, sind dem Gesprächspartner wahrscheinlich bereits Probleme in der Begegnung mit Personen dieser Gruppe erwachsen.

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mit ihrem parasozialen Charakter – Anteil an der Genese subjektiver Relevanzen haben. Eine kurze Skizze zu diesem Problemhorizont soll die Reflexion zu den Faktoren des Aufbaus subjektiver Relevanzen abschließen. Die Möglichkeit, schriftlich festgehaltene Kommunikationsinhalte massen­ haft herstellen und verbreiten zu können, ist erstmals mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert gegeben (wenngleich die Rezipienten hier einer relativ kleinen gesellschaftlichen Elite zugerechnet werden können und die eigentliche Verbreiterung des Lesepublikums erst im 18.  Jahrhundert stattfindet). Gegenwärtig haben es die Individuen jedoch nicht nur mit einem überwältigenden Büchermarkt zu tun, es haben sich vielmehr Formen und Gestalten massenmedialer Kommunikation ausgeprägt, die den elektronischen Medien zuzurechnen sind: Radio, Fernsehen, Internet. Spezifisch für die elektronischen Medien ist ihre Organisationsform: Die Sender/Kommunikatoren sind in der Regel komplex organisiert (Funk- und Fernsehanstalten), während die Rezi­ pienten typischerweise einen niedrigeren Grad an Organisation aufweisen. Allein aus diesem Sachverhalt erschließt sich, dass die Rezipienten dem System der Kommunikatoren relativ ›unterlegen‹ bzw. mit Blick auf die Sendeinhalte und ihre Formen von diesem abhängig sind. Die Massenmedien des 21.  Jahrhunderts, vor allem Zeitschriften, Fernsehen, Radio, Film und Internet haben im Wesentlichen alle Bevölkerungsschichten bzw. -milieus erreicht – niemand kann sich wirklich den Medieninhalten entziehen, welche schließlich Eingang in konkrete Situationen sozialer Interaktion Eingang finden (man unterhält sich über den Fortgang einer daily soap, das Dossier einer großen Wochenzeitung, die Programmauswahl eines Radiosenders, über Neuigkeiten aus dem spanischen Königshaus).101 Die Wirkungen der Mediennutzung auf Menschen in ihrer alltäglichen Lebenswelt lassen sich im Wesentlichen unter den Aspekten der Zeit und der sozialen Interaktion betrachten. Die Zeit der Mediennutzung besetzt in der Regel ein Zeitfenster im Tagesablauf. Augenfällig wird der Sachverhalt mit Blick auf das Fernsehverhalten: Die regelmäßige Rezeption von bestimmten Sendungen strukturiert mitunter die Zeitplanung, zumindest einen Teil  der Freizeit­gestaltung von Individuen (etwa die 20-Uhr-Nachrichten, der sonntägliche Krimi, auch die bereits genannten daily soaps, die mittlerweile, auch in ihren Pluriformität, aus den Programmangeboten der Sender nicht mehr weg zu denken sind102). Art und subjektive Funktion der Mediennutzung entscheiden darüber, ob die Mediennutzung die konkrete subjektive Interaktion eher unterbindet oder anregt. Bedeutsam ist, dass gerade die audiovisuellen Medien den Rezipierenden mitun 101 Im Rahmen der Fragestellung der vorliegenden Untersuchung geht es weniger darum, auf die Funktionen der Massenkultur einzugehen, die diese für die Industriegesellschaft besitzt. Vgl. dazu Hunziker, P., Medien, Kommunikation und Gesellschaft, 98 ff. 102 Zur Bedeutung von daily soaps für den Alltag von Kindern und Jugendlichen vgl. etwa: Götz, M. (Hg.), Alles Seifenblasen?, 365 ff; vgl. auch Landbeck, H., Generation Soap.

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ter eine soziale Wirklichkeit präsentieren, die sich nicht mit der individuellen Erfahrung der eigenen alltäglichen Lebenswelt deckt. Gleichzeitig werden jedoch Probleme behandelt, die die Rezipierenden unter Umständen aufgrund ihrer Prototypizität als bekannt oder vertraut identifizieren können. Dieses Verhältnis zwischen medialer Wirklichkeit und alltagsweltlicher Realität der Rezipierenden kann unterschiedlich bearbeitet werden: Stilisierende Vereinfachungen wie dramatisierende Überspitzungen in den Unterhaltungsformaten können schlicht zur Ablenkung der Rezipienten von ihren eigenen Lebensthemen führen. Andererseits können Informationssendungen wie Unterhaltungssendungen reflexionsgenerativ wirken (das trifft nun ebenfalls auf Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und Kino­f ilme zu, obwohl das Rezeptionsverhalten medienspezifisch weitergehend zu differenzieren wäre): Über die subjektive Betroffenheit durch ein Thema können sich die Rezipierenden dazu anregen lassen, den medial inszenierten Lösungsvorschlag mit ihren eigenen lebensweltlichen Möglichkeiten und Voraussetzungen ins Gespräch zu bringen.103 Die Massenmedien spielen für moderne Industriegesellschaften eine be­ deutende Rolle mit Blick auf die Zuteilung von Sinn. Sie vermitteln zwischen individueller und kollektiver Erfahrung: Für als typisch extrapolierte Probleme werden typische Deutungen angeboten. Ihre zentrale Stellung in der Aushandlung von gesellschaftlichem Sinn, von Wissen und Meinungen verweist auf ihre faktische Geltung wie auf ihre Verantwortung: »Was immer andere Institutionen an Wirklichkeitsdeutungen und Werten produzieren, die Medien wählen aus, organisieren (›verpacken‹) diese Produkte, verändern sie meistens im Lauf dieser Prozesse und entscheiden über die Formen der Verbreitung«, schreiben ­Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrem Essay »Modernität, Pluralismus und Sinnkrise« (1995).104 Berger und Luckmann sind der Meinung, dass es in der Aufgabe der Führungskräfte der »Sinnvermittlungsanstalten«105, also auch der Massenmedien, liegt, die intermediären Institutionen im Rahmen eines »›de­ regulierten‹ Sinnangebotsmarktes«106 zu stützen. Der Problemzusammenhang der Prägung gesellschaftlicher, auch konkret intersubjektiver Diskurse durch die Massenmedien ist mit diesen wenigen Ausführungen nur berührt. Wichtig im Zusammenhang mit der Fragestellung der vorliegenden Studie ist zu sehen, wie komplex die Faktoren sind, die auf die Genese subjektiver Relevanzen Einfluss haben. In diesem Kapitel wurden lediglich zwei Kreise angesprochen: Zum einen die in der Regel nicht unmittelbar zur sozialen Kerneinheit eines Individuums gehörende Sinngemeinschaft 103 Vgl. mit Blick auf den populären Kinofilm: Herrmann, J., Sinnmaschine Kino; Gräb, W./Herrmann, J./Merle, K./Metelmann, J./Nottmeier, Chr., »Irgendwie fühl ich mich wie Frodo …!«. 104 Berger, Peter L./Luckmann, Th., Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, 57. 105 Ebd., 71. 106 Ebd.

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der Kirchengemeinde, zum anderen das Beispiel der massenmedialen Vermittlung von sozialem Sinn. Das Bild müsste durch einen Blick auf Kernfamilie und weitere Familie, Freundeskreis, Arbeitskollegium, soziale Beziehungen in der Freizeit etc. ergänzt werden. Dies hätte den Rahmen der Studie gesprengt. Die Skizze der beiden sinnproduktiven (para-) sozialen Elemente hat auf das Entscheidende hingewiesen: Sinn wird intersubjektiv, wenn auch medial vermittelt, heraus gesetzt, ausgehandelt, individuell internalisiert. Um sich dem Verstehen subjektiver Deutungsprozesse bei einem Gesprächspartner anzunähern, ist es von großer Hilfe, um bestehende subjektive Relevanzsysteme und Plausibilitätsordnungen am Ort des Subjekts, welche aus unzähligen Prozessen der Externalisierung, Objektivation und Internalisierung entstanden sind, zu wissen: Allein dieses Wissen macht es möglich, getroffene Aussagen, Denk- und Deutungs­ figuren des Gesprächspartners kontextualisieren und selbst deuten zu können. Im Folgenden soll abschließend versucht werden, mögliche Fragen mit Blick auf eine Erhellung bestehender, auf intersubjektiv-reziproke Deutungsprozesse aktiv Einfluss nehmende Relevanzstrukturen zu formulieren.

10.4.3 Mögliche Schritte der Interaktion Nachdem als wichtige und mögliche Reaktion aus poimenischer Perspektive auf das Problem des Fremdverstehens die Erhellung von Relevanzsystemen formuliert wurde, soll in einem letzten Schritt überlegt werden, welche denkbaren leitenden Fragestellungen sich mit Blick auf diesen methodischen Reflex skizzieren lassen. Zu bedenken ist, dass es bei der Formulierung handlungsleitender Fragen für die seelsorgliche Situation hinsichtlich der konkreten Interaktion nicht nur darauf ankommen kann, dass die Seelsorgerin die Relevanzhierarchien bei ihrem Gesprächspartner möglichst genau aufspürt und dabei selbst möglichst unprofiliert bzw. unpersönlich bleibt. Die exemplarischen Auseinandersetzungen mit der Pastoralpsychologie Joachim Scharfenbergs zeigt, dass der Seelsorger bzw. die Seelsorgerin mit seiner bzw. ihrer Persönlichkeit, mit eigenen Ängsten und Fragen in jede konkrete Situation unweigerlich mit eingetragen ist. Wichtig ist ein reflexiver Umgang mit den Facetten und Erfahrungen der eigenen Person, die in das seelsorgliche Gespräch mit einfließen. Entsprechend kann mit Blick auf das Problem der Relevanz formuliert werden: Nicht nur die Relevanzhierarchie bzw. die Relevanzstrukturen, die der Gesprächspartner biographisch aus­ geprägt hat, auch die Relevanzhierarchie bzw. Relevanzstrukturen, die sich bei der Seelsorgerin bzw. dem Seelsorger aufgebaut haben, die Ordnungen subjektiver Sinnkonstitution, gilt es wahrzunehmen und für die konkrete Situation reflexiv zu handhaben (das bedeutet, dass man in der Regel um typische eigene Reaktionen auf bestimmte Themen und Themenkonstellationen weiß, und dass diese Reaktionen kontrolliert eingesetzt werden können).

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Der Vorschlag geht dahin, die Fragen, die den Anlass der seelsorglichen Situation zu klären helfen – samt der ihr inhärenten Relevanzordnungen der beteiligten Gesprächspartner – in drei Kreise einzuteilen: zum einen in einen Kreis von Fragen, die sich auf den Seelsorgesuchenden beziehen, zum anderen in einen Kreis von Fragen, die die Seelsorgenden zur Erhellung der eigenen Handlungsbzw. Reaktionsmotivation an sich selbst richten können. Schließlich thematisiert ein weiterer Kreis von Fragen die intersubjektive Schnittmenge; diese Fragen beziehen sich auf die gemeinsame konkrete Situation und haben im Wesentlichen den Aspekt (der Begründung) einer gemeinsamen Zielrichtung zum Gegenstand. Für die genannten Fragenkreise lassen sich exemplarisch Fragen finden, die für die Arbeit mit und an subjektiven Relevanzsystemen sinnvoll erscheinen, und die, ohne Anspruch auf Vollgültigkeit, im Folgenden kurz benannt werden. A) Für die Seelsorgenden mit Blick auf die Gesprächspartner stellen sich folgende Fragen: 1) Wo liegt das Problem? Wie wird das Problem beschrieben? – Relativ bald zu Beginn des Gesprächs wird der Gesprächspartner bzw. werden die Gesprächspartner (wenn es sich um ein Paar oder mehrere Familienmitglieder handelt) äußern, worin der Anlass besteht, aus dem das seelsorgliche Gespräch gesucht wird. Hier gilt es bereits, aufmerksam wahrzunehmen, wie etwa eine Konflikt- bzw. Problemsituation geschildert wird. Daraus lassen sich wichtige Anknüpfungspunkte für die weitere Gesprächsführung entnehmen. 2) Welche Deutungslogik verfolgt der Gesprächspartner in der Schilderung des Problemzusammenhangs? – Die Konflikt- bzw. Problemsituation wird in vielen Fällen von den Gesprächspartnern und -partnerinnen vorgedeutet werden, indem man sich etwa auf ähnliche Erfahrungen bezieht, die in der eigenen Vergangenheit des Seelsorgesuchenden liegen, oder indem ähnliche Problemzusammenhänge aus dem sozialen Umfeld memoriert werden, sowie das Wissen, wie ein Freund oder eine Verwandte mit eben dieser problematischen Situation bereits umgehen konnte bzw. umgegangen ist. Hier wird unter Umständen bereits deutlich, inwiefern die bekannten Deutungsmuster und Handlungsmöglichkeiten eine Option für den Seelsorgesuchenden sind, oder ob an Sinndeutungen und Handlungsentwürfen gearbeitet werden muss, welche sich nicht spontan aus dem Fundus sedimentierter Erfahrungen ableiten lassen. 3) Was lässt sich, unter Umständen aus Zeiten bisheriger Bekanntschaft zwischen Seelsorgesuchendem und Seelsorger, aber auch bereits aus dem jetzigen Gespräch bereits über anzunehmende Relevanzhierarchien sagen?  – Für de Fall, dass sich Seelsorgesuchender und Seelsorger bereits kennen  – dies kann im Rahmen von kirchengemeindlichen Zusammenhängen gut möglich sein  – weiß der Seelsorger unter Umständen schon etwas zur Person, zu vorhandenen Meinungen und Einstellungen, Prioritäten. Dies kann mit

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Blick auf die Interpretation der seelsorglichen Situation hilfreich sein; dieses ›Wissen‹ sollte jedoch mit Bedacht eingesetzt werden: In jedem Fall bedarf es einer Überprüfung an der gegenwärtigen Situation und an den Selbstaus­ sagen des Gesprächspartners. Denn es ist denkbar, dass sich – selbst wenn die Einschätzung des Seelsorgers zur Person zutrifft – der Gesprächspartner im seelsorglichen Gespräch von einer ganz anderen Seite zeigt als er dies in anderen Zusammenhängen tut (Jugendkreis, Kirchengemeinderat etc.). 4) Welche Stellung nimmt das beschriebene Problem im Relevanzsystem des Gesprächspartners ein?  – Die Antwort auf diese Frage dient quasi der Klärung der ›Dringlichkeitsstufe‹ bzw. der Klärung des so genannten ›Leidensdrucks‹ des Gesprächspartners: Muss mit Blick auf eine formulierte problematische Situation schnell gehandelt werden? Muss sich möglichst bald etwas ändern? Oder liegt ein problematisches Thema vor, welchem jedoch die Zeit ein­geräumt werden kann, die es für seine Bearbeitung braucht? Aufschlussreich ist die Verortung des Themas im Verhältnis zu anderen Lebensthemen; welche anderen Themen werden durch die Problematik des aktuellen Themas berührt oder beeinflusst? Ist es dem Gesprächspartner wichtiger, mit viel Zeitaufwand möglichst viel Geld zu verdienen oder, ebenfalls mit erheblichem Zeitaufwand, seinen kranken Vater zu pflegen? Die Konstellation des Relevanzgefüges kann deutlich machen, woher ein Mensch etwa Anerkennung bezieht. 5) Gibt es Elemente des Relevanzsystems, die existentiell miteinander konfligieren? – Um handlungsfähig zu bleiben, bedarf es einer einigermaßen deutlichen Anordnung der verschiedenen Optionen zueinander: Wenn jede Handlungsmöglichkeit einer anderen gleichrangig zugeordnet wäre, wäre Handeln keine subjektiv sinnvolle Möglichkeit mehr. Wenn ein Seelsorgesuchender nicht mehr weiß, wie er in einer bestimmten Situation mit Blick auf eine konkrete Problemlage handeln soll, liegt das möglicherweise daran, dass Elemente des Relevanzsystems miteinander konkurrieren. In diesem Fall ist es hilfreich, Relevanzen und Prioritäten gemeinsam heraus zu arbeiten. 6) Welche Stellung nehmen konkret vorstellbare Handlungsmöglichkeiten mit Blick auf das beschriebene Problem im subjektiven Relevanzsystem ein?  – Diese Frage schließt unmittelbar an die vorangegangene an, kann es doch nur darum gehen, Handlungsmöglichkeiten zu entwerfen, die der subjektiven Relevanzordnung entsprechen. Anders gewendet: In seelsorglichen Situationen, in denen die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen problematisiert werden, ist auf das Passungsverhältnis zu bestehenden Relevanzordnungen zu achten. Je weniger eine Handlungsoption mit einer ausgeprägten Relevanzordnung in Relation gesetzt werden kann, umso größer ist die Gefahr, dass sich ein Vorschlag zur Problemlösung (mit der Zeit) als fremd konturiert. (Dabei kann natürlich auch das Element der Risikobereitschaft einen vergleichsweise hohen Stellenwert im subjektiven Relevanzsystem ein-

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nehmen, so dass wiederum die Bereitschaft, etwas dem Subjekt Fremdes auszuprobieren, der Relevanzordnung entspräche.) 7) Geht es im seelsorglichen Geschehen ›nur‹ um eine Klärung bestehender Re­ levanzen, oder geht es um eine ›Neuordnung‹ des Relevanzsystems? Passen alte Deutungsmuster noch zur ›gegenwärtigen‹ Person? – Die Frage, die sich über das Anliegen der Herausarbeitung von Handlungsoptionen entspinnt, ist die weiterführende Frage, ob das subjektive Gefüge von Relevanzen und ihre Zuordnung zueinander im Wesentlichen vom Seelsorgesuchenden als trag­ fähig erachtet werden oder ob der Bedarf besteht, bisher geltende Wertungen gründlich zu reflektieren und unter Umständen zu revidieren. Klassischerweise verbindet sich hiermit die Frage, inwieweit Deutungsmuster, die sich entlang einer Biographie über die Jahre ausgeprägt haben, vom Subjekt noch als hilfreich zur Situationsdeutung und zur Situationshandhabung in der Gegenwart eingeschätzt werden. Sollte dies nicht der Fall sein, ist an einer Aktualisierung des Deutungsinstrumentariums zu arbeiten, wovon ganz wesentlich das Gefüge subjektiver Relevanzen betroffen ist. Ob diese Arbeit eher im Rahmen seelsorglicher Gespräche, etwa in Form einer Beratungsreihe, oder doch lieber auf dem Boden eines explizit therapeutischen Settings stattfinden sollte, kann nur situativ entschieden werden. B) Mit Blick auf ihr eigenes Arbeiten können die Seelsorgenden selbstreflexiv klären: 1) Welche Reaktionen setzt das beschriebene Problem bei Mir frei? Warum? Woran werde Ich erinnert? – Dieser Aspekt ist für die seelsorgliche Arbeit überhaupt von großer Relevanz: Die eigene Reaktion der Seelsorgenden auf ein vorgebrachtes Thema, auch die eigene Reaktion auf die Person des Gesprächspartners, seine oder ihre Art zu sprechen, sich auszudrücken etc. ist mit zu reflektieren. Nicht umsonst legt etwa die Klinische Seelsorgeaus­bildung großen Wert auf den Faktor der Selbsterfahrung: Die eigene Reaktion auf eine Situation in die Reflexion der Situation mit einbeziehen zu können, darin liegt ein Teil der seelsorglichen Verantwortung begründet. 2) Welchen Stellenwert messe Ich dem beschriebenen Problem mit Blick auf Mein eigenes Relevanzsystem bei? Zu welchen Handlungsmöglichkeiten tendiere Ich aufgrund Meiner subjektiven Ordnung von Relevanzen? – Ähnlich verhält es sich mit dieser Reihe von Fragen: Um in einer seelsorglichen Situation frei dafür zu sein, mit dem Gesprächspartner an einer für ihn plausiblen Re­ levanzordnung zu arbeiten, muss den Seelsorgenden klar sein, welche Meinung und Position sie selbst zu einem zum Problem gewordenen Thema haben bzw. einnehmen, und dass dies wiederum ihre Position ist, die keine Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Wenn hier Klarheit besteht, ist die Gefahr gering, dass der oder die Seelsorgende dem Gesprächspartner eigene Meinungen oder Positionen schlicht überstülpt.

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3) Konfligiert die Positionierung des beschriebenen Problems durch den Gesprächspartner mit Meinem persönlichen Ranking?  – Damit ist im Grunde eine Variante der unter Punkt B2) formulierten Fragen benannt. Unterschiedliche Einschätzungen und Bewertungen mit Blick auf ein geschildertes Problem können kommunikativ aufgelöst werden, sie können nebeneinander anerkannt stehen bleiben, konfligierende Positionen können sich auch unproduktiv verhärten (das kann zum Beispiel auch der Fall sein, wenn sich keine gemeinsame Zielrichtung für den seelsorglichen Prozess erarbeiten lässt). Hier gilt es, wiederum gemeinsam, die Bedeutung der konfligierenden Positionierungen für den Fortgang der seelsorglichen Arbeit auszuloten und entsprechende Schlüsse zu ziehen (die Möglichkeit der Delegation ist keine Möglichkeit, die nur im äußersten Fall genutzt werden könnte). Ist eine weitere Zusammenarbeit gesichert, kann sich das gemeinsame Gespräch über die Begründung der unterschiedlichen Positionierungen wiederum klärend und unter Umständen gegenseitig bereichernd auswirken. C) Schließlich sind mit Blick auf die gemeinsame intersubjektive Schnittmenge folgende Fragen denkbar: 1) Woher speist sich für den Gesprächspartner wie für Mich der Begründungs­ zusammenhang zur Einordnung in ein bestehendes Relevanzsystem? Existieren gemeinsame Bezugspunkte neben der individuellen Sedimentierung biographischer Erfahrung? – Die Fragen, die sich im intersubjektiven Überschneidungsraum ergeben, lassen sich, wie könnte es anders sein, mühelos an die Sphäre der Subjekte (Seelsorgesuchender wie Seelsorger) angliedern. Infolge dessen ist mit der Frage nach den gemeinsamen Bezugspunkten einerseits die Frage nach den unterschiedlichen sozialen Faktoren gemeint, welche Einfluss auf die Ausprägung unterschiedlicher Relevanzordnungen haben. Andererseits wäre sich darüber zu verständigen, ob man sich in der Begründung oder Anordnung subjektiver Relevanzen auf Gemeinsamkeiten beziehen kann, etwa auf einen gemeinsamen Horizont zwar konventionalisierter, zugleich immer auch individuell besetzter symbolischer Ordnungen. Dies könnten Elemente des öffentlichen Diskurses sein, Werte und Normen, die Seelsorgesuchender wie Seelsorger für grundlegend und unverzichtbar wichtig erachten; dies können auf dieser Linie Elemente des christlichen Glaubens sein, die die subjektive Relevanzordnung rahmen und fundieren, sie vielleicht auch herausfordern. Da die Seelsorge als Institution der Institution an den Bezug zur symbolischen Ordnung des christlichen Glaubens gebunden ist, sollten die Seelsorgenden prinzipiell die symbolischen Überschneidungsräume zwischen den alltagsweltlichen Erfahrungen der Einzelnen und den Deutungshorizonten des christlichen Glaubens offen halten. Ist der Bezug auf einen gemeinsamen symbolischen Horizont – oder auf gemeinsame symbolische Elemente – gegeben, fällt unter Umständen der Rekurs auf be-

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Poimenische Überlegungen zum Problem des Fremdverstehens

stehende subjektive Relevanzsysteme, ihre Begründung wie ihre intersubjektive Nachvollziehbarkeit leichter. 2) Besitzt die seelsorgliche Situation ihr eigenes Relevanzsystem? Welche Normativitäten lassen sich auf konventioneller wie auf subjektiver Ebene ausmachen? Hier ist einerseits zu fragen, inwieweit die seelsorgliche Situation bereits durch Vorannahmen des Seelsorgers wie des Seelsorgesuchenden disponiert ist. Soll aus der Sicht der Seelsorgerin ein bestimmtes Ziel erreicht werden? Worum geht es? Geht es darum zu helfen, Glauben zu wecken, die Selbstverantwortung jedes Einzelnen zu stärken? Andererseits wäre zu fragen, mit welchen Vorannahmen der Seelsorgesuchende in die Situation eintritt, was er oder sie denkt, was Seelsorge leisten muss. Muss sie überhaupt etwas Konkretes leisten? Schließlich ist danach zu fragen, inwieweit sich im Laufe der seelsorglichen Begegnung ein Relevanzgefüge ausprägt, welches seinen Selbstzweck eben nur in der Phase gemeinsamen Miteinander-Arbeitens besitzt. In letzter Konsequenz könnte darunter so etwas wie ein Kontrakt verstanden werden, den die Gesprächspartner miteinander schließen, um einem aufgeworfenen Thema begegnen zu können. Es ließen sich sicherlich einige Fragen zu den verschiedenen Kreisen ergänzen. Mit diesem Ausschnitt an Fragen soll lediglich eine kleine Anregung gegeben werden, wie im Rahmen eines möglichen methodischen Reflexes auf das Problem des Fremdverstehens die Kategorie der Relevanz für die poimenische Arbeit fruchtbar gemacht werden kann. Es zeigt sich, dass die Frage nach Relevanz und Relevanzgenese unweigerlich zu einer systemischen Betrachtungsweise führt: Nicht das Individuum als ›fensterlose Monade‹, unabhängig von Raum, Zeit und Sozialität ist Träger (über-) subjektiv plausiblen Sinns. Viel eher gestaltet sich subjektiver Sinn über die Auseinandersetzung mit den Bedingungen der alltäglichen Lebenswelt, mit ihrem raum-zeitlichen Charakter, vor allem über ihre soziale Verfasstheit wie ihrer kulturellen Objektivationen aus. Der Zugang zur Anordnung subjektiver Relevanzen bietet so für die poimenische Arbeit ein wichtiges Tor zum Verständnis intersubjektiven Handlungsverstehens.

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Schluss/Ausblick

Ausgangspunkt der Arbeit war die Feststellung, dass die Poimenik einer alltagstheoretischen Fundierung bedarf. Dieser Befund ergab sich vor allem über zwei Beobachtungen: Zum einen bleibt die Vermittlung der Kategorie ›Religion‹ mit der Frage, wie sich individuell wie sozial Sinn überhaupt erst systematisch aufbaut, wie sich also Deutung von Erfahrung aufbaut, in den meisten poimenischen Arbeiten aus. Exemplarisch wurden hierzu im ersten großen Teil der Arbeit die poimenischen Positionen Joachim Scharfenbergs, Isolde Karles und Henning Luthers untersucht. Alle drei Konzeptionen beschäftigen sich – mehr oder weniger intensiv – mit dem Problem des Verstehens fremder Selbstverhältnisse. Daraus folgt in keinem der drei Fälle eine Beschäftigung mit Bedingungen und Prozessen subjektiver Sinnkonstitution. Der Befund der Notwendigkeit einer alltagstheoretischen Fundierung der Poimenik speist sich andererseits aus der Auffälligkeit, dass auch poimenische Arbeiten, die eigens und ausführlich den Alltag zum Gegenstand haben, sich sehr schwer tun, das seelsorgliche Geschehen konsequent in der alltäglichen Lebenswelt zu verorten. Im Rahmen einer Problemskizze wurden im einführenden Kapitel die Ansätze von Wolfgang Steck, Eberhard Hauschildt und Thomas Henke angeführt. Auch die Arbeiten Henning Luthers zum Verhältnis von Seelsorge und Alltag, die breiter in Teil I der vorliegenden Arbeit vorgestellt wurden, überwinden den Hiatus nicht. Es kristallisierte sich als notwendig heraus, dezidiert einerseits nach den Bedingungen des Aufbaus subjektiven, und das bedeutet zugleich sozialen Sinns in der Lebenswelt zu fragen. Andererseits musste weiterhin gefragt werden, was in diesem Zusammenhang zum Phänomen der Religion bzw. des Religiösen gesagt werden kann, wie das Verhältnis zwischen den Strukturen der alltäglichen Lebenswelt und der Religion bzw. dem Religiösen in möglichst unpolemischer Weise bestimmt werden kann – so, dass die tiefe, strukturell bedingte Verbindung zwischen Religion und Alltag, die faktisch besteht, transparent für die poimenische Reflexion werden kann. Wesentliche Grundeinsichten mit Blick auf die interessierenden Fragen gewinnt die Studie in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten des phänomenologisch orientierten Soziologen Alfred Schütz (Teil  II). Schütz widmet sich umfänglich und aus verschiedenen Blickwinkeln dem Problem des Fremdverstehens. Seine tiefgehenden Analysen machen deutlich, dass die subjektive Sinnkonstitution und die Herstellung sozialen Sinns, aber auch die Faktizität, also die Vorgegebenheit sozialen Sinns, nicht voneinander getrennt werden können. Gleichzeitig wird einsichtig, dass subjektiver und objektiver Sinn nie in eins

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Schluss/Ausblick

fallen können: Die Möglichkeit umfänglichen Fremdverstehens bleibt begrenzt, Fremdverstehen ist immer wieder nur approximativ leistbar. Schütz’ Ausführungen zu den Strukturen der Lebenswelt, die unter eben jenem Titel posthum redigiert und problemorientiert ergänzt von seinem Schüler und Mitautor Thomas Luckmann publiziert wurden, zeichnen das Bild einer Vernetzung subjektiver wie sozialer (darunter fällt in der Perspektive der vorliegenden Studie auch die Ebene institutionellen Sinns, wie es wiederum Thomas Luckmann und Peter L. Berger in ihrem Werk »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« ausführen) Sinnkonstitution, deren Grund in den Grundbedingungen der Lebenswelt des Alltags – Raum, Zeit und Sozialität – liegen. Das wesentliche Element der Konstitution ist in der Kategorie der Relevanz zu finden: Sie reguliert die Manifestation des Sinns (und ist zugleich als prozessual zu verstehendes Resultat sedimentierten Sinns zu betrachten). Die Grundelemente subjektiver Sinnkonstitution gelten auch hinsichtlich der Frage religiöser Deutung von Lebenserfahrungen (genauso, wie die Kategorie der Relevanz in engem Verhältnis zu der Frage der institutionellen Tradition steht). Diese Kategorie der Relevanz übernimmt nun Teil  III mit Blick auf einen möglichen poimenischen Reflex auf das Problem des Fremdverstehens. Aus der Auseinandersetzung mit den Arbeiten Alfred Schütz’ (und der nachfolgenden Tradition der phänomenologisch orientierten Soziologie)  hat sich deutlich gezeigt, dass die Bedingungen der Konstitution subjektiven Sinns wie die Manifestation subjektiven Sinns in Form von subjektiven (gleichzeitig sozial bedingten) Relevanzordnungen auf die Frage der Religiosität des Einzelnen übertragbar ist. Für den intersubjektiven Umgang mit dem Problem des Fremdverstehens ist als theologische Leitvorstellung Schleiermachers Theorie der Geselligkeit vorgeschlagen worden (mit der Frage der Anschlussfähigkeit an die Paulinische Idee der koinonia). Die Studie schließt mit methodischen Vorschlägen zur Erhellung subjektiver Relevanzordnungen für die seelsorgliche Situation. Damit bestärkt die vorliegende Studie die seelsorgliche Praxis darin, den subjektiven Sinn des Seelsorgesuchenden, seine subjektiven Relevanzordnungen zur Grundlage seelsorglichen Arbeitens und damit religiöser Kommunikation ernst zu nehmen. Erst dies schafft eine Basis für die intersubjektive Begegnung ›auf Augenhöhe‹, die sich wiederum, im Falle der Seelsorge prototypisch, auf Fragestellungen und Antwortmöglichkeiten im Horizont der christlichen Tradition beziehen kann. Erst eine Annäherung an subjektive Relevanzordnungen macht es möglich, an einer subjektiv plausiblen Deutung von (alltagsweltlichen, zumindest immer in der Lebenswelt des Alltags angesiedelten) Phänomenen gemeinsam zu arbeiten. Denn eine solche An­näherung gibt immer auch schon Auskunft darüber, welchen Stellenwert und welche Gestalt der Religion bzw. dem Religiösen in der subjektiven Anverwandlung zukommt. Das Problem des Fremdverstehens wie das der subjektiven Relevanzordnungen ist grundlegend. Die vorliegende Arbeit hat den Versuch unternommen,

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einen Impuls für den poimenischen Diskurs zu leisten. Die ›Anwendungs­freiheit‹ des Problems ist freilich groß und könnte für die verschiedenen Disziplinen der Praktischen Theologie ausformuliert werden. Bei alledem ist leitend, dass die Kommunikation des Evangeliums nicht von den biographisch bedingten Sinnkonstitutionsleistungen der beteiligten Subjekte absehen kann.

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Literatur

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Literatur

– Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewussten in der Psychoanalyse, in: Werke aus den Jahren 1909–1913, Gesammelte Werke VIII, London/Frankfurt a. M. 1955, 430–439. – Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Gesammelte Werke IX, London/Frankfurt a. M. 1948. – Die Verdrängung, in: Werke aus den Jahren 1913–1917, Gesammelte Werke X, London/Frankfurt a. M. 1949, 247–261. – Das Unbewusste, in: Werke aus den Jahren 1913–1917, Gesammelte Werke X, London/Frankfurt a. M. 1949, 264–303. – Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Gesammelte Werke XI, London/Frankfurt a. M. 1948. – Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Gesammelte Werke XIII, London/Frankfurt a. M. 1955, 73–161. – Das Ich und das Es, in: Gesammelte Werke XIII, London/Frankfurt a. M. 1955, ­237–289. – Die Zukunft einer Illusion, in: Werke aus den Jahren 1925–1931, Gesammelte Werke XIV, London/Frankfurt a. M. 41968, 325–380. – Das Unbehagen in der Kultur, in: Werke aus den Jahren 1925–1931, Gesammelte Werke XIV, London/Frankfurt a. M. 41968, 421–506. – Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit, in: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Gesammelte Werke XV, London/Frankfurt a. M. 1940, 62–86. – Der Mann Mose und die monotheistische Religion, in: Werke aus den Jahren ­1932–1939, Gesammelte Werke XVI, London/Frankfurt a. M. 31968, 103–246. Friedrichs, Lutz, Kasualpraxis in der Spätmoderne. Studien zu einer Praktischen Theologie der Übergänge, Arbeiten zur Praktischen Theologie 37, Leipzig 2008. Fritzen, Florentine, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20.  Jahr­ hundert, Frankfurter historische Abhandlungen 45, Stuttgart 2006. Gabriel, Karl, Modernisierung als Organisierung von Religion, in: Krüggeler, Michael/ Gabriel, Karl/Gebhardt, Winfried (Hg.), Institution  – Organisation  – Bewegung. Sozialformen der Religion im Wandel, Veröffentlichungen der Sektion »Religionssoziologie« in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2, Opladen 1999, 19–37. Gadamer, Hans-Georg, Die Unfähigkeit zum Gespräch, in: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke 2, 207–215. – Platos Denken in Utopien. Ein Vortrag vor Philologen, in: Griechische Philosophie III. Plato im Dialog, Gesammelte Werke 7, 270–289. Gärtner, Stefan, Zeit, Macht und Sprache. Pastoraltheologische Studien zu Grunddimensionen der Seelsorge, Freiburg i. Br. 2009. Garfinkel, Harold, Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs 1967. Geertz, Clifford, Religion as a Cultural System, in: Banton, Michael (Hg.), Anthropological Approaches to the Study of Religion, ASA monographs 3, London 31969, 1–46. Gildemeister, Regine, Die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit, in: Ostner, Ilona/Lichtblau, Klaus (Hg.), Feministische Vernunftkritik. Ansätze und Traditionen, Frankfurt u. a. 1992, 220–239. Götz, Maya (Hg.), Alles Seifenblasen? Die Bedeutung von Daily Soaps im Alltag von Kindern und Jugendlichen, Edition TelevIZIon, München 2002.

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Literatur

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Götzelmann, Arnd, Seelsorge zwischen Subjekt und System. Die Entdeckung familientherapeutischer Ansätze in der Pastoralpsychologie, in: Pastoraltheologie 35, 2000, 209–227. – Zum Verhältnis von Seelsorge und Diakonie. Zuordnungsmodelle, Konzepte und Thesen auf dem Weg zu einer diakonischen Orientierung der Seelsorge, in: Götzelmann, Arnd/Drescher-Pfeiffer, Karl-Heinz/Schwartz, Werner (Hg.), Diakonische Seelsorge im 21. Jahrhundert. Zur Bedeutung seelsorglicher Aufgaben für die diakonische Praxis, Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 27, Heidelberg 2006, 18–50. Götzelmann, Arnd/Drescher-Pfeiffer, Karl-Heinz/Schwartz, Werner (Hg.), Impulse für eine diakonische Seelsorge im 21. Jahrundert. Zur Einführung, in: Diakonische Seelsorge im 21. Jahrhundert. Zur Bedeutung seelsorglicher Aufgaben für die diakonische Praxis, Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 27, Heidelberg 2006, 11–17. Goffman, Erving, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation der Erfahrung, Frankfurt a. M. 1980. Gräb, Wilhelm, Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers, Göttinger theologische Arbeiten 14, Göttingen 1980. – Die unendliche Aufgabe des Verstehens, in: Lange, Dietz (Hg.), Friedrich Schleiermacher 1768–1834. Theologe – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1985, 47–71. – Institution und Individuum, in: Pastoraltheologie 79, 1990, 255–269. – Praktische Theologie als religiöse Kulturhermeneutik. Eine deutende Theorie gegenwärtig gelebter Religion, in: Hauschildt, Eberhard/Laube, Martin/Roth, Ursula (Hg.), Praktische Theologie als Topographie des Christentums. Eine phänomenologische Wissenschaft und ihre hermeneutische Dimension, Hermeneutica 10, Rheinbach 2000, 86–110. – Praktisch-theologische Wahrnehmung und Theorie gelebter Religion, in: Lämmlin, Georg/Scholpp, Stefan (Hg.), Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Tübingen u. a. 2001. – Dogmatik als Stück der Praktischen Theologie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 85, 1988, 474–492. – Praktische Theologie als Praxistheorie protestantischer Kultur, in: Ders./Weyel, Birgit (Hg.), Praktische Theologie und Protestantische Kultur, Praktische Theologie und Kultur 9, Gütersloh 2002, 35–51. – Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002. – Lebensgeschichten  – Lebensentwürfe  – Sinndeutungen. Eine Praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 22002 (1998). – Art. Ästhetik, in: Ders./Weyel, Birgit (Hg.), Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007, 737–747. Gräb, Wilhelm/Herrmann, Jörg/Merle, Kristin/Metelmann, Jörg/Nottmeier, Christian, »Irgendwie fühl ich mich wie Frodo …!« Eine empirische Studie zum Phänomen der Medienreligion, Religion – Ästhetik – Medien 1, Frankfurt a. M. 2006. Grathoff, Richard, Alltag und Lebenswelt als Gegenstand der phänomenologischen Sozialtheorie, in: Hammerich, Kurt/Klein, Michael (Hg.), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 20: Materialien zur Soziologie des Alltags, Opladen 1978, 67–85.

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Literatur

– Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung, Frankfurt a. M. 1995. Greverus, Ina-Maria, Kulturanthropologie und Kulturethnologie: »Wende zur Lebenswelt« und »Wende zur Natur«, in: Zeitschrift für Volkskunde 67, 1971, 13–26. – Über Kultur und Alltagswelt, in: Ethnologia Europaea IX, 1976, 199–211. – Kultur und Alltagswelt. Eine Einführung in Fragen der Kulturanthropologie, München 1978. Grözinger, Albrecht, Seelsorge als Rekonstruktion von Lebensgeschichte, in: Wege zum Menschen 38, 1986, 178–188. – Praktische Theologie und Ästhetik, München 1987. – Differenz-Erfahrung. Seelsorge in der multikulturellen Gesellschaft, Waltrop 1996. – Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, Gütersloh 1995. Haas, Eberhard Th., Opferritual und Ursprung der Neurosen. Versuch einer Wiederannäherung, in: Wege zum Menschen 58, 2006, 410–427. Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1981. Hahn, Alois, Konsensfiktionen in Kleingruppen. Dargestellt am Beispiel von jungen Ehen, in: Neidhardt, Friedhelm (Hg.), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 25: Gruppensoziologie. Perspektiven und Materialien, Opladen 1983, 210–232. – Die soziale Konstruktion des Fremden, in: Sprondel, Walter (Hg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Für Thomas Luckmann, Frankfurt a. M. 1994, 140–163. – Identität und Selbstthematisierung, in: Ders./Kapp, Volker, Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a. M. 1987, 9–24. – Identität und Biographie, in: Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.), Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt a. M. 1995, 127–152. Hainz, Josef, Art. κοινωνία, in: EWNT II, Stuttgart u. a., 21992, 749–755. Hall, John R., Alfred Schutz, his critics, and applied phenomenology, in: Cultural Hermeneutics 4 (1977), 265–279. Hanke, Michael, Alfred Schütz. Einführung, Wien 2002. Harnisch, Wolfgang, Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, Göttingen 21990. Hauschildt, Eberhard, Ist die Seelsorgebewegung am Ende? Über alte und neue Wege zum Menschen, in: Wege zum Menschen 46, 1994, 260–273. – Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuchs, Arbeiten zur Pastoraltheologie 29, Göttingen 1996. – Alltagsseelsorge. Der Alltag der Seelsorge und die Seelsorge im Alltag, in: Pohl-Patalong, Uta/Muchlinksy, Frank (Hg.), Seelsorge im Plural. Perspektiven für ein neues Jahrhundert, Hamburg 1999. – Art. Seelsorge II, in: TRE XXXI, Berlin u. a. 2000, 31–54. – Art. Seelsorgelehre, in: TRE XXXI, Berlin u. a. 2000, 54–74. Hazelrigg, Lawrence E., Social Science and the Challenge of Relativism, Talla­hassee 1989. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 151979 (1927). Heimbrock, Hans-Günter, Welches Interesse hat Theologie an der Wirklichkeit?

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Von der Handlungstheorie zur Wahrnehmungswissenschaft. Zur Methodologie praktischer Theologie, Manuskript, Frankfurt a. M., 1995. Held, Klaus, Einleitung, in: Edmund Husserl, Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II, hg. u. eingel. v. K. Held, bibliographisch revidierte Ausgabe, Stuttgart 2002, 5–53. Held, Peter, Systemische Praxis in der Seelsorge, Mainz 1998. Held, Peter/Gerber, Uwe (Hg.), Systemische Praxis in der Kirche, Mainz 2003. Henke, Thomas, Seelsorge und Lebenswelt. Auf dem Weg zu einer Seelsorgetheorie in Auseinandersetzung mit soziologischen und sozialphilosophischen Lebensweltkonzeptionen, Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge 14, Würzburg 1994. Henning, Christian, William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, in: Drehsen, Volker/Gräb, Wilhelm/Weyel, Birgit (Hg.), Kompendium Religionstheorie, Göttingen 2005, 170–182. Heritage, John, Garfinkel and Ethnomethodology, Cambridge 1984. Hermelink, Jan/Lukatis, Ingrid/Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Bd. 2: Analysen zu Gruppendiskussionen und Erzählinterviews, Gütersloh 2006. Herms, Eilert, Die Funktion der Realitätsauffassung in der Psychologie Sigmund Freuds. Überlegungen zur möglichen Bedeutung von Theologie für die psychoanalytische Theoriebildung, in: Ders., Theorie für die Praxis – Beiträge zur Theologie, München 1982, 214–252. Herrmann, Jörg, Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film Praktische Theologie und Kultur 4, Gütersloh 22002 (2001). Heyl, Andreas von, Praktische Theologie und Kritische Theorie. Impulse für eine praktisch-theologische Theoriebildung, Praktische Theologie heute 15, Stuttgart u. a. 1994. Hinrichs, Wolfgang, Schleiermachers Theorie der Geselligkeit und ihre Bedeutung für die Pädagogik, Weinheim 1965. Hölscher, Lucian, Die Religion des Bürgers. Bürgerliche Frömmigkeit und protestantische Kirche im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 250, 1990, 595–630. Hofer, Michael, Nächstenliebe  – Freundschaft  – Geselligkeit. Verstehen und An­ erkennen bei Abel, Gadamer und Schleiermacher, München 1998. Hoppe, Hansgeorg, Art. Synthesis; synthetisch, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10, Darmstadt 1998, 818–823. Huber, Wolfgang/Friedrich, Johannes/Steinacker, Peter (Hg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006. Hümmer, Christiane, Synonymie bei phraseologischen Einheiten. Eine korpusbasierte Untersuchung, Potsdamer Linguistische Untersuchungen 3, Frankfurt a. M. 2009. Hunziker, Peter, Medien, Kommunikation und Gesellschaft. Einführung in die Soziologie der Massenkommunikation, Darmstadt, 21996. Husserl, Edmund, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Husserliana I), Den Haag 1950. – Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Neue, auf Grund der handschriftlichen Zusätze des Verfassers erweiterte Auflage (Husserliana III), Den Haag 1950.

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Literatur

– Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (Husserliana IV), Den Haag 1952. – Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (Husserliana VI), Den Haag 21962. – Analysen zur Passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1826 (Husserliana XI), Den Haag 1966. – Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft (Husserliana XVII), Den Haag 1974. – Logische Untersuchungen, Zweiter Band, Erster Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis (Husserliana XIX/1), Den Haag 31984. – Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, redigiert und herausgegeben von Ludwig Landgrebe, Hamburg 21954 (1948). James, William, The Principles of Psychology, Vol. II, New York 1950 (New York 1890). – Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, übers. v. Eilert Herms und Christian Stahlhut, mit einem Vorwort von Peter Sloterdijk, Frankfurt a. M. u. a. 1997 (zuerst: The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature, New York u. a. 1902). Janssen, Paul, Art.  Lebenswelt I, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 5, Darmstadt 1980, 151–155. Jaspers, Karl, Philosophie, Bd. 3: Metaphysik, Berlin 1932 (41973). Jones, Ernest, Leben und Werk von Sigmund Freud, Bd. III: Die letzte Phase 1919– 1939, Stuttgart 1962. Josuttis, Manfred, Der Sinn der Krankheit. Ergebung oder Protest?, in: Ders., Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion. Grundprobleme der Praktischen Theologie, München 1974, 117–141. Junker-Kenny, Maureen, Review: Thomas Henke, Seelsorge und Lebenswelt. Auf dem Weg zu einer Seelsorgetheorie in Auseinandersetzung mit soziologischen und sozialphilosophischen Lebensweltkonzeptionen, in: International Journal of Practical Theology 1, 1997, 169 f. Jung, Carl Gustav, Von den Wurzeln des Bewusstseins. Studien über den Archetypus (Psychologische Abhandlungen; 9), Zürich 1954. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft (1), Immanuel Kant Werkausgabe III, Wilhelm Weischedel (Hg.), Frankfurt a. M. 131995. Karle, Isolde, Seelsorge als Thematisierung von Lebensgeschichte. Gesellschaftsstrukturelle Veränderungen als Herausforderung der evangelischen Seelsorgetheorie, in: Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.), Religion und Biographie. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt a. M. 1995, 198–217. – Seelsorge in der Moderne. Eine Kritik der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre, Neukirchen-Vluyn 1996. – Chancen der Seelsorge unter den Bedingungen der Moderne, in: Weth, Rudolf (Hg.), Was hat die Kirche heute zu sagen? Auftrag und Freiheit der Kirche in der pluralistischen Gesellschaft, Neukirchen-Vluyn 1998, 58–66. – Seelsorge in der modernen Gesellschaft. Spezifische Chancen, Ressourcen und Sinnformen der seelsorgerlichen Kommunikation, in: Evangelische Theologie 59, 1999, 203–219.

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Literatur

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– Funktionale Differenzierung und Exklusion als Herausforderung und Chance für Religion und Kirche, in: Soziale Systeme 7, 2001, 100–117. – Der Pfarrberuf als Profession. Eine Berufstheorie im Kontext der modernen Gesellschaft Praktische Theologie und Kultur 3, Gütersloh 2001. – Pfarrerinnen und Pfarrer in der Spannung zwischen Professionalisierung und Professionalität, in: Deutsches Pfarrerblatt 103, 2003, 629–634. – Seelsorge im Horizont der Hoffnung. Eduard Thurneysens Seelsorgelehre in systemtheoretischer Perspektive, in: Evangelische Theologie 63, 2003, 165–181. – »Praedicatio verbi dei est verbum dei«. Bullingers Formel neu gelesen, in: Evange­ lische Theologie 64, 2004, 140–147. – Volkskirche ist Kasualien- und Pastorenkirche!, in: Deutsches Pfarrerblatt 104, 2004, 12, 625–630. – Die markante Physiognomie der Religion, in: Härle, Wilfried/Haese, Bernd-Michael/Hansen, Kai/Herms, Eilert (Hg.), Systematisch Praktisch (Festschrift für Reiner Preul), Marburg 2005, 305–314. – »Erzählen Sie mir was vom Jenseits.« Die Bedeutung des Himmels für die religiöse Kommunikation, in: Evangelische Theologie 65, 2005, 334–349. – »Da ist nicht mehr Mann noch Frau …«. Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz, Gütersloh 2006. – Seelsorge en passant: Urbanität, Individualität und Cityseelsorge, in Pastoraltheo­ logie 41, 2006, 219–230. – Die Sehnsucht nach Heil und Heilung in der kirchlichen Praxis. Probleme und Perspektiven, in: Ders./Thomas, Günter (Hg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009, 543–556. – Sinnlosigkeit aushalten! Ein Plädoyer gegen die Spiritualisierung von Krankheit, in: Wege zum Menschen 61, 2009, 19–34. – Kirche im Reformstress, Gütersloh 2010. Karle, Isolde/Degen, Johannes, Die Diakonie und die Exklusionsprobleme in der modernen Gesellschaft, in: Schibilsky, Michael/Zitt, Renate (Hg.) in Zusammen­ arbeit mit Klaus D. Hildemann und Reinhard Schmidt-Rost, Theologie und Dia­ konie, Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 25, Gütersloh 2004, 187–207. Kaschuba, Wolfgang, Einführung in die Europäische Ethnologie, München 22003. Kaufmann, Franz-Xaver, Wo liegt die Zukunft der Religion?, in: Krüggeler, Michael/ Gabriel, Karl/Gebhardt, Winfried (Hg.), Institution  – Organisation  – Bewegung. Sozialformen der Religion im Wandel, Opladen 1999, 71–97. Kessler, Suzanne J./McKenna, Wendy, Gender: An Ethnomethodological Approach, Chicago 1978. Klaus, Bernhard/Lachmann, Rainer/Öffner, Ernst u. a. (Hg.), Kommunikation in der Kirche. Predigt  – Religionsunterricht  – Seelsorge  – Publizistik, Gütersloh 1979. Kneer, Georg/Nassehi, Armin, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung, München 1993. Knoblauch, Hubert, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse. Thomas Luckmanns Unsichtbare Religion, in: Luckmann, Thomas, Die Unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 31996 (1991), 7–41.

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Literatur

– Transzendenzerfahrung und symbolische Kommunikation. Die phänomenologisch orientierte Soziologie und die kommunikative Konstruktion der Religion, in: Tyrell, Hartmann/Krech, Volkhard/Knoblauch, Hubert (Hg.), Religion als Kommunikation, Religion in der Gesellschaft 4, Würzburg 1998, 147–186. – Religionssoziologie, Berlin u. a. 1999. – Metaphors, transcendence and indirect communication: Alfred Schutz’ phenomeno­ logy of the life-world and the metaphors of religion, in: Boeve, Lieven/Feyaerts, Kurt (Hg.), Metaphor and God-talk, Religions and Discourse 2, Bern u. a. 1999, 75–94. – Thomas Luckmann: Die Privatisierung der modernen unsichtbaren Religion, in: Drehsen, Volker/Gräb, Wilhelm/Weyel, Birgit (Hg.), Kompendium Religionstheorie, Göttingen 2005, 239–247. Knoblauch, Hubert/Kurt, Ronald/Soeffner, Hans-Georg, Einleitung der Herausgeber: Zur kommunikativen Ordnung der Lebenswelt. Alfred Schütz’ Theorie der Zeichen, Sprache und Kommunikation, in: Alfred Schütz Werkausgabe V.2, Theorie der Lebenswelt 2. Die kommunikative Ordnung der Lebenswelt, Konstanz 2003, 7–33. Knörzer, Guido, Der Taxifahrer als Seelsorger, in: Diakonia 24, 1993, 41–49. Köhler, Thomas, Freuds Psychoanalyse. Eine Einführung, Stuttgart u. a. 1995. Krappmann, Lothar, Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, Stuttgart 92000. Krech, Volkhard, Wissenschaft und Religion. Studien zur Geschichte der Reli­ gionsforschung in Deutschland 1871–1933, Religion und Aufklärung 8, Tübingen 2002. – Georg Simmel: Religion an der Schwelle, in: Drehsen, Volker/Gräb, Wilhelm/Weyel, Birgit (Hg.), Kompendium Religionstheorie, Göttingen 2005, 62–73. Kristeva, Julia, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a. M. 1990. Kühn, Rolf, Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der genetischen Phänomenologie, Phänomenologie 2, Kontexte; Bd. 6, Freiburg u. a. 1998. Kurz, Wolfram, Der Bruch im seelsorgerlichen Gespräch. Zum Sinn einer verfemten poimenischen Kategorie, in: Pastoraltheologie 74, 1985, 436–451. Lämmermann, Godwin, Praktische Theologie als kritische oder empirisch-funktionale Handlungstheorie? Zur theologiegeschichtlichen Ortung und Weiterführung einer aktuellen Kontroverse, München 1981. Landbeck, Hanne, Generation Soap. Mit deutschen Seifenopern auf dem Weg zum Glück, Berlin 2002. Landgrebe, Ludwig, Lebenswelt und Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins, in: Waldenfels, Bernhard/Broekman, Jan M./Pažanin, Ante (Hg.), Phänomenologie und Marxismus. Bd. 2: Praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 1977, 13–58. Lange, Ernst, Predigen als Beruf. Aufsätze, hg. v. Rüdiger Schloz, Stuttgart 1976. – Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart, herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter Cornehl, Edition Ernst Lange 4, München 1984. Langer, Susanne K., Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a. M. 1965 (zuerst: Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite and Art, Cambridge/Mass. 1942). Lee, Nam-In, Edmund Husserls Phänomenologie der Instinkte, Phaenomenologica 128, Dordrecht u. a. 1993.

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Register

Personen Adorno, Theodor W.  32, 140, 143 Albrecht, Christian  50 f, 85 Ammon, Ulrich  52 Asmussen, Hans  65 Augst, Kristina  44 Baeyer, Alexander von  154 Balder, Holger  251 Barlösius, Eva  46 Barthes, Roland  24 Barth, Karl  47 Barth, Ulrich  40, 43, 63, 253, 267, 305 Bastian, Adolf  28 Baumgarten, Otto  14, 40–42, 45–48, 276 Bäumler, Christof  59 Beavin, Janet H.  14 Becker, Howard  257 Beißer, Friedrich  296 Bellah, Robert N.  259 f Berger, Peter L.  55, 60, 148, 212, 228–232, 250, 253, 274, 312, 320 Bergmann, Jörg R.  180 Bergson, Henri  33, 148, 151, 155, 165, 195, 220 f, 241 Bloth, Peter C.  66 Bobert-Stützel, Sabine  276 Boisen, Anton T.  74 Bonhoeffer, Thomas  70, 276 Bornemann, Wilhelm  14, 37 f, 42 Bourdieu, Pierre  258 f Brauck, Markus  278 Brückner, Wolfgang  38 Bubner, Rüdiger  127 Buckow, Wolf-Dietrich  24 Burger, Harald  159 Butler, Judith  180, 184 Charim, Isolde  104 f Cohn, Ruth C.  15 Dabrock, Peter  105

Dahm, Karl-Wilhelm  14, 138 Degen, Johannes  105, 113 Dierken, Jörg  50 Dietel, Norbert  108 Dinkel, Christoph  107 f Dinter, Astrid  44 Dittmar, Norbert  52 Dittus, Gottliebin  66 Dober, Hans Martin  69, 73, 86 Dörner, Klaus  80 Drehsen, Volker 14, 28–31, 40, 42, 228, 256, 258 Drescher-Pfeiffer, Karl-Heinz  276 Drews, Paul  14, 38 f, 40, 42, 253 Durkheim, Émile  29, 180, 231, 260 Eisler, Rudolf  189 Ekkard, Friedrich  28 Elias, Norbert  23 f Endreß, Martin  243 Engelhardt, Klaus  253, 278 Erikson, Erik H.  79, 124 Erne, Thomas  44, 48, 84 Eschmann, Holger  288 Faber, Heije  15 Failing, Wolf-Eckart  13, 44, 130 Faulstich, Werner  27 Fechtner, Kristian  130 Federschmidt, Karl  267 Fellmann, Ferdinand  152 Feuerbach, Ludwig  84, 130 Fichte, Johann Gottlieb  189 f Finger, Wolfgang  116 Freud, Sigmund  14, 65, 68 f, 73, 77–79, 81, 84–91, 130, 144, 196, 244, 246,282 Friedrich, Johannes  253 Friedrichs, Lutz  279 Fritzen, Florentine  46 Gabriel, Karl  231 Gadamer, Hans-Georg  296

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Personen Garfinkel, Harold  21, 168, 179–186 Gärtner, Stefan  269 Geertz, Clifford  31, 251 Gehlen, Arnold  231 Gerber, Uwe  273 Gildemeister, Regine  183 Goffman, Erving  251 Gogarten, Friedrich  47 Götzelmann, Arnd  273, 276 f Götz, Maya  311 Gräb, Wilhelm  13, 43 f, 48, 50 f, 74, 123, 262, 289, 295, 298, 312 Grathoff, Richard  32, 149 Greverus, Ina-Maria  31 Grözinger, Albrecht  16, 66, 123 Gurwitsch, Aron  33, 200, 239 Haas, Eberhard Th.  85 Habermas, Jürgen  17, 24, 27, 32, 56–58, 60, 118, 130, 261 Hahn, Alois  100, 138, 177 Hainz, Josef  300, 302 Hall, John R.  156 Hanke, Michael  33, 198, 218, 224, 241 Harnisch, Wolfgang  97 Haspel, Michael  130 Hauschildt, Eberhard  13, 16–18, 45, 47 f, 51–56, 287, 289, 319 Hazelrigg, Lawrence E.  156 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  189 f Heidegger, Martin  120 f, 126, 152 Heimbrock, Hans-Günter  13, 44, 130 Held, Klaus  153, 273 Helle, Horst Jürgen  14 Heller, Agnes  24 Henke, Thomas  17, 48, 56–61, 291, 319 Henning, Christian  244 Heritage, John  179 Hermelink, Jan  253, 308 Herms, Eilert  217 Herrmann, Jörg  43, 312 Herz, Henriette  293 Herz, Marcus  293 Heyl, Andreas von  14, 117 Hinrichs, Wolfgang  295 Hofer, Michael  297–299 Hölscher, Lucian  36 Hoppe, Hansgeorg  189 Horkheimer, Max  32 Huber, Wolfgang  253, 278 Hümmer, Christiane  159

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Humboldt, Alexander von  293 Humboldt, Wilhelm von  293 Hunziker, Peter  311 Husserl, Edmund  33 f, 56, 148, 151–154, 157 f, 160, 169, 176, 181, 188–192, 195 f, 239 f Hutten, Ulrich von  26 Jackson, Don D.  14 James, William  157, 195, 222, 234, 238–248 Janssen, Paul  152 Jaspers, Karl  222 Jones, Ernest  85 Jung, Carl Gustav  14, 81 Junker-Kenny, Maureen  57, 60 Kämpfer, Horst  69, 71 f, 76 f, 88 f Kant, Immanuel  189 f Karle, Isolde  16, 19, 48, 63, 69, 74, 89, 93–114, 144, 265, 286, 319 Kaschuba, Wofgang  26–28 Kaufmann, Felix  33 Kaufmann, Franz-Xaver  33, 253 Kelsen, Hans  33 Kessler, Suzanne J.  183 f Kierkegaard, Søren  242 Klaus, Bernhard  14 Kneer, Georg  99 Knoblauch, Hubert  21, 110, 216 f, 224, 234, 244, 248 f, 251, 254–258 Knörzer, Guido  290 Köhler, Thomas  78 Köstlin, Heinrich Adolf  45 Krappmann, Lothar  124 Krech, Volkhard  29 f, 37, 46, 110, 308 f Kristeva, Julia  299 Kühn, Rolf  188 Kulick, Holger  279 Kurt, Ronald  216 f, 224 Kurz, Wolfram  66 Lämmermann, Godwin  14 Landbeck, Hanne  311 Landgrebe, Ludwig  153 Lange, Ernst  15, 23, 292, 309 f Langer, Susanne K.  73, 217 Lee, Nam-In  188 Lefèbvre, Henri  24, 32 Leibniz, Gottfried Wilhelm  189 Levin, Rahel  293 Lévinas, Emmanuel  20, 115, 120, 125–128, 134 f, 139 f, 144, 280 f

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Register

Linschoten, Johannes  239–241 Linse, Ulrich  46 Lipp, Carola  31 Loewenich, Klaus von  253 Lohse, Timm H.  270 Lorenzer, Alfred  72, 90 Lübbe, Hermann  261 Luckmann, Thomas  21, 107, 113, 148, 156– 161, 163 f, 166, 170–172, 176, 178, 194, 196–205, 208–212, 215 f, 224 f, 227–232, 234–238, 240, 242, 247–250, 254–256, 265, 268, 274, 281, 304, 312, 320 Luhmann, Niklas  24, 93, 96, 99 f, 104 f, 108–110, 112 f, 117, 130, 260, 309 Lukatis, Ingrid  253 Luther, Henning  13, 16, 17, 20, 32, 41–44, 48, 50, 57–59, 62 f, 98, 107, 111, 115–145, 147, 265, 274, 277, 280, 286, 291, 319 Mädler, Inken  143 Marcuse, Herbert  32 Marx, Karl  84 Mattheirer, Klaus J.  52 Matthes, Joachim  253 McKenna, Wendy  183 f Mead, George H.  124 f, 230 Melanchthon, Philipp  26 Menger, Carl  33 Merle, Kristin  43, 312 Metelmann, Jörg  43, 312 Mieses, Ludwig von  33 Möller, Christian  55 Morgenthaler, Christoph  273 Morus, Thomas  26 Moxter, Michael  217 Nase, Eckart  77, 89 Nassehi, Armin  99, 103, 256 Nasu, Hisashi  193 Natanson, Maurice  224 Nicol, Martin  42, 287 f, 291, 296 Niebergall, Friedrich  14, 40, 42, 276 Niebuhr, Richard N.  47, 257 f Nieder, Ludwig  249 Nipperdey, Thomas  27, 37 Nitzsch, Carl Immanuel  43, 45, 276 Nord, Ilona  52, 271 Nottmeier, Christian  43, 312 Nowak, Kurt  36 f Oberdorfer, Bernd  293–296

O’Brien, Peter T.  301 Otto, Gert  14, 117, 132 Parsons, Talcott  24, 179 f, 258 Patzelt, Werner J.  179–182 Paul, Jean  293 Pfister, Oskar 77 Plog, Ursula  80 Pohl-Patalong, Uta  16 Quine, Willard van Orman  214 Reinmuth, Eckart  301, 302 Rendtorff, Heinrich  66 Rendtorff, Trutz 297 Ricœur, Paul  73 Riehl, Wilhelm Heinrich  28 Riemann, Fritz  76 Rogers, Carl R.  15 Rogers, Mary F. 186 Rorty, Richard  260 Rössler, Dietrich  42 f, 78, 88, 106, 117, 136, 276, 289, 291 Schadow, Johann Gottfried  293 Scharfenberg, Joachim  14, 19, 48, 62 f, 65–91, 96, 101 f, 144, 257, 265, 286–288, 313, 219 Scheler, Max  157, 169 f Scheliha, Arnulf von  50 f Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  189 f Schieder, Rolf  119, 141 f, 259, 261 f, 278 Schlegel, Friedrich  293 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst  42 f, 45, 48, 107, 109, 131, 268, 291–299, 302 f, 320 Schlözer, August Ludwig von  28 Schmidt-Rost, Reinhard  52, 98 Schneider-Harpprecht, Christoph  267, 289 Schoot, Ebel van der  15 Schütz, Alfred  18, 19, 21, 24, 31, 33 f, 56 f, 60, 62, 92, 145, 147–179, 188, 192–228, 234–243, 246–250, 263, 265–268, 272, 281, 283–285, 303–305, 319 f Schützeichel, Rainer  111 Schwartz, Werner  276 Simmel, Georg  29 f, 34 Slenczka, Notger  33, 151 Soeffner, Hans-Georg  216 f, 224, 231 Sommer, Regina  44 Sparn, Walter  256

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Sachbegriffe Spiegel, Yorick  267, 279, 296 Srubar, Ilja  151, 155, 165, 202, 239, 243, 250 Stahlberg, Thomas  45–47 Staudigl, Michael  190 Steck, Wolfgang  13, 17, 39, 43, 48–56, 253, 287, 319 Steinacker, Peter  253 Stichweh, Rudolf  94, 95 Stollberg, Dietrich  15, 47, 128, 288 f Strube, Rolf  293 Tacke, Helmut  136, 287 Taylor, Charles  244 f Tenbruck, Friedrich  230, 256 Theißen, Gerd  97 Thierfelder, Constanze  267 Thomas, Dorothy  228 Thomas, William Isaac  228 Thurneysen, Eduard  66, 110, 287 Tillich, Paul  19, 47, 68, 73, 88 Timm, Hermann  122 Treiber, Angela  41 Troeltsch, Ernst  46, 50, 257 Tyrell, Hartmann  110

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Voegelin, Eric  250 Vögele, Wolfgang  260, 261, 262 Vogt, Carl  28 Waldenfels, Bernhard  56, 151, 153 f Wappler, Klaus  36 Watzlawick, Paul  14 Weber, Georg 256 Weber, Max  21, 33 f, 148, 154 f, 158, 168, 176, 179, 202, 257, 260 Weeber, Martin  50 Wegenast, Klaus  14 Weinhold, Karl  28 Welz, Frank  153 f, 156 Weyel, Birgit  37 f, 44, 253, 278 Whitehead, Alfred N.  161 Wieser, Friedrich  33 Winkler, Klaus  47, 287–289, 291 Wintzer, Friedrich  48, 289 Wohlrab-Sahr, Monika  253 Wolff, Christian  300 Wulff, David M.  244 Wunder, Edgar  67 f, 253, 257 Yamaguchi, Ichiro  188, 190–192

Veit, Dorothea  293 Vester, Michael  262 Virchow, Rudolf  28

Ziemer, Jürgen  277, 289 Zijlstra, Wybe  15

Sachbegriffe Alltag  16, 34, 41 f, 61 f, 64, 91, 114 f, 120–122, 130, 143, 147, 149, 280 – Typik des A.  149 Alltagsbewusstsein  23, 25, 34 Alltagsdogmatik  17, 48–51 Alltagsgespräch  48, 50, 53 f – seelsorgliches  17, 49 Alltagskommunikation  52, 54, 130 Alltagskultur  28, 31, 41 f – religiöse  51 Alltagsrelevanz  91, 303–319 Alltagsseelsorge  13, 17 f, 22, 48, 51–56, 290 Alltagssorge  120 f Alltagstheologie  54 Alltagstherapie  53 Alltagsvergessenheit  291 Alltagsverstehen  24 Anzeichen  169, 213 f, 217–219, 285

Appräsentation  160, 217–227, 235, 250 Auferstehung  125, 133, 286 Auffassungsperspektiven  174 Aufklärung  26, 44 Auslegung  158 f, 195, 210 (s. Interpretation) Auslegungsschema  284–286 – religiöses  282 Autobiographie  138, 256 Autopoiesis  99, 104 Ästhetik  123 Bedeutung  72, 128, 176, 192, 206 f, 216–227, 255 Bedeutungshorizont  159 Beratung  83, 98, 275 Bewusstsein  25, 34, 127, 151 f, 155, 160, 165, 170, 174 f, 189–193, 251 Bewusstseinsleistung  148, 170, 202

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Register

Bewusstseinsspannung  242, 248 Bewusstseinsstrom  155, 158 Biographie  100, 132, 316 Bürgerlichkeit  27 Bürgertum  22, 26, 37, 295 Clinical Pastoral Training  15, 68 cura animarum generalis  22, 45, 288 f cura animarum specialis  45, 288 Defizitmodell des Helfens 118–120 Defizitperspektive  116 Denominationen  257 Deutung(en)  169, 305, 316 (s. Interpretation) – religiöse  282, 305 – symbolische  282 Deutungsmuster  314 Deutungsschema  156, 175 f, 219 f, 225, 251 Diakonie  116, 120, 128 Dialektik  298 Dialektische Theologie  66, 77 Diskurs  15, 72 f – gesellschaftlicher  118, 233, 262 Dogmatik  130 Dominanzverhalten  173 Einstellung – natürliche  154, 156–159, 161, 210, 236 Empirieorientierung  46 Endlichkeit  166 Entfremdung  119 Entkirchlichung  36, 61 Entkonfessionalisierung  259 Entscheidung  166, 197, 206, 229, 270, 275 – ethische  70, 83, 144 Entwurf  199, 201, 204 f Erfahrung(en)  160, 163, 198, 200 f, 210, 273, 286, 305, 312 – biographische  195 – der eigenen Sterblichkeit  194 – religiöse  16, 234, 244, 246 f, 266, 296 – sedimentierte  209 – subjektive  210, 251 Erinnerung  101, 163, 166, 192, 236, 284 Erkenntnis  151 f, 246, 270 Erkenntnisstil  160, 242 Erklärungsschemata  224 Erleben  240 Erlebnis  192 f, 200 f Erlebnisstil  160, 242 Erwartungshaltungen  308

– konventionalisierte  275 Erzählen  100 – autobiographisches  132 Eschatologie  132–134 Ethik  126–128 Ethnologie  27–31 Ethnomethodologie  179–182 Existenzurteil  244 Expertenkultur  58 Externalisierung  228–230, 266 Feld – religiöses  258 f Fertigkeiten  210 Folgewelt  163 f Fragment  123–125 Fragmentarität  133 Freiheit  69 f, 83, 87, 131, 144, 300, 307 Fremdheitserfahrung  281 Fremdverstehen  18 f, 21, 62, 100, 147, 168, 173–177, 218, 221, 263, 266, 292, 303 Fremdprophetie (Religion als F.)  78, 86 f Freundschaft  238, 293 Frömmigkeit  36–38 Geburtstagsbesuche  51 f Gegenübertragung  75, 81 f (s. Übertragung) Gemeinde  36, 59, 45, 306 Gemeinschaft  71, 224, 292, 300–302 Geschichte  163 Geselliges Betragen – Theorie des geselligen B.  292–299 Geselligkeit  294 f, 299 Gesellschaft  29 f, 228 f – funktionale Differenzierung der G.  102 f Gespräch  65–70, 83, 286 f, 296, 304 Glaube  44, 98, 107, 111, 125, 134 Gottebenbildlichkeit  134 Grenzüberschreitung  123, 131, 217, 236 Grenzerfahrung  122, 131, 235 – intersubjektive  218 Grundambivalenzen  72 f, 75 f Grundkonflikte  72 f, 76 Grundstrukturen  72 f, 76 Habitualisierung  159, 177 – vorreflexive  159 Haltung  304 – religiöse  245, 247 f Handeln  194, 200, 202, 204–207, 273 – alltagspraktisches  199

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Sachbegriffe – kommunikatives  17, 56, 249 – routinemäßiges  206 – sinnhaftes  154, 168, 260 – soziales  202, 231, 260, 282 Handlung  200–202, 204, 226 Handlungsentwürfe  273, 314 Handlungskonflikte  273 Handlungsoptionen  306, 314 f Handlungsorientierung  14 Handlungspragmatik  192 Handlungsverstehen  318 (s. Verstehen) Heilung  69, 90 Heilungsprozess  84 Hermeneutik  41, 43, 179, 297 f – des Symbols  73, 90 Hierarchiegefälle  75 Hoffnung  123, 134, 140 Humanismus  26, 128 Identität  63, 71, 80, 123–125, 143, 256, 267, 280, 303 Identitätsbildung  , 69, 79, 104 Ikonen  238 Illusion  84, 86 Immanenz  96, 98, 107, 112, 218, 234 f Individualität  101–106, 167, 293–295, 298 Individualisierung  26, 29, 36 f, 41, 46, 102, 259 – des Leids  119 Individuation  178, 280 Industrialisierung  29 Institution(en)  228, 230 – intermediäre  208, 231–233, 262, 274 Institutionalisierung  227 f Interaktion  70–73, 95, 100, 107–109, 131, 270 f – soziale  148, 201–204, 273, 311 Internalisierung  228–230, 266 Interpretation  50, 170, 203 – der seelsorglichen Situation  315 Interpretationsgemeinschaft  278 Intersubjektivität  17–20, 57, 63, 114 f, 124 f, 128, 143, 147, 161, 243, 270 f, 280, 291, 303 Kapital – moralisches  232 – symbolisches  258 Kasualien  290 Kasualpraxis  288 Kirche(n)  93, 106, 109 f, 231 f, 257, 268, 274, 296

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Kirchlichkeit – restaurative  37 Klischee  72 Koinonia  292, 299–303 Kommunikation  14, 82 f, 99 f, 217, 303 f – des Evangeliums  15, 93, 98, 116 – pragmatische  303 – religiöse  64 f, 93 f, 96–98, 283–286 – symbolische  251 Konflikt  71 f, 77, 286 Konfliktlagen  286, 289–291, 314 Kontingenzbewältigung  135 – soziale  259 Konventionalisierung  185 Konventionsleistung  203 Konversationsanalyse  52 Kosmion  239, 250, 252, 254 Kosmos – heiliger  254 f Kreuz  75, 125, 133, 286 Krisen  286, 289–291 Kritische Theorie  32 – des religiösen Symbols  71, 91 Kulte  257 Kulturhermeneutik  43 (s. Hermeneutik) Kulturwelt  158 Laientheologie  54 Lebensführung  24 f, 49, 227, 232 Lebensgeschichte  100 f, 167, 269 Lebensgestaltung  307 Lebenskultur  51 – alltägliche  27, 31 Lebenslauf  100 f, 138 Lebensthemen  269, 312 Lebenswelt  34, 149, 151–167, 172, 189, 200 – Aufschichtung der L.  263 – alltägliche / L. des Alltags  18, 147, 157, 159–167, 222, 235, 241, 255, 301 – kommunikative  221 Lebenswirklichkeit  35 Lebenszeit  157, 166, 269 (s. Zeit) Legitimation  230 Legitimationsprozesse  228 Leib  169, 174 f, 177, 219, 272, 300 Leiblichkeit  203 Liberale Theologie  45, 48 Liebe  88, 97, 131 Marxismus  32 Massenkonsumgesellschaft  32

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Massenmedien  307, 310–312 Medien  27, 217, 278, 311 Mediennutzung  311 Mehrheitserfahrungen  179 Methode(n) – phänomenologische  148 – sozialwissenschaftliche  14 Mitwelt  159 f, 162, 168 Moderne  46, 98, 102 Modernisierung  29, 35, 232 Moral  232 – öffentliche  260, 278 – politische  260 Möglichkeitsraum  273 Möglichkeitssinn  119 Mündigkeit  88, 307 Narration  250 – biographische  230 Naturwissenschaften  33 f Normativität  168, 179 f, 318 – gesellschaftliche  252 Normengefüge  272 Objektivation  229–230, 266 Objektivismus  151 Offenbarung  126, 128 Orthotomie  45 Öffentlichkeit  274 f, 293, 296 – bürgerliche   27 Ordnung  194, 217, 220 – Stabilisierung von O.  227 – symbolische  249–252, 310, 317 Pastoral Counseling  15 Pastoralpsychologie  15, 66, 70 f, 73–75, 88, 95, 101, 313 Persönlichkeitsstrukturen  76 Perspektive(n) – Generalthese der wechselseitigen P.  161, 170 f Phänomenologie  32, 56, 151, 154 – des Alltäglichen  29, 50 – mundane  151, 154 – philosophische  151 – religiöser Praxis  252 – transzendentale  21, 148 – des Wissens  299 Philosophie – phänomenologische  33 Pietismus  44

Pfarramt  37 f, 95 Pfarrberuf  39, 95, 107 Pfarrer/Pfarrerin  39 f, 95, 106, 108 Planhierarchie  199, 207 Plausibilitätsstrukturen  122, 286 – subjektive  286, 305 Pluralisierung  13, 30 f, 46, 232, 251, 259, 309 Priestertum aller Glaubenden  49, 54 Prioritäten  315 Privatisierungsprozesse  46 Privatreligion  85 Problem – hermeneutisches  63, 292 (s. Hermeneutik) Problemsituation  314 Profession  95 f, 106 Proprium – generelles (der Seelsorge)  288 – spezielles (der Seelsorge)  288 Psychoanalyse  66, 68, 77–80, 101 Psychologie, 77 – des religiösen Lebens/religiöse P.  39 f Psychotherapie  68 Raum  164–167, 269 f Realität  (s. Wirklichkeit) Realitätsbereich  160 Rechtfertigung  43, 83, 125, 133 Referenzialitätsverlust  32 Referenzrahmen  174, 181 Relation  135, 164, 190–192, 198, 266 Relevanz(en)  187–207, 209, 254, 268, 304, 315, 318 – Auslegungsrelevanz  195–197, 305 – hypothetische  212, 214 – individuelle  303 – Motivationsrelevanz  195–197, 305 – soziale  229 – subjektive  266, 282, 316 – thematische 195 f, 305 Relevanzhierarchie  253, 305, 313 f Relevanzstruktur  195, 305, 313, 188 – gesellschaftliche  215 Relevanzsystem(e)  161, 171, 194, 201, 207, 272, 305 f, 315 f – individuelle(s)  219, 252, 306 – Erhellung von R.  263, 313 Religion  21, 30, 63, 84–90, 103, 107–114, 115, 121 f, 127, 131, 138, 147, 178, 234— 263, 256, 266, 274, 280, 296, 298 – gelebte  43 f

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Sachbegriffe – Individualisierung von R.  251 – Privatisierung von R.  109, 257 (s. Privatreligion) – unsichtbare  107, 254 Religionskritik  77 f, 88 f Religionspsychologie  47, 70, 88, 244 Religiosität  30, 37, 110, 129, 256 -subjektive  129 Rolle  95, 100, 272 -soziale  215 Rollenerwartungen  122, 274, 295 – milieuspezifische  307 Rollenmuster  186 Rollenträger  215, 274 f Routine  23, 211 Routinehandeln  199 Routinewissen  210 Salon(s)  27, 293–295 Schwellensituationen – biographische  290 Sedimentierung  210 Seelsorge  18 f, 22, 45, 49, 52, 54, 59, 65–75, 90, 93–101, 112, 115–122, 135, 140, 142, 262 f, 265–321 – diakonische  115–117, 142 Seelsorgebewegung  15, 47, 65 f Seelsorgegespräch  17, 49, 59, 65–70, 83, 272, 287 (s. Gespräch) Seelsorger/Seelsorgerin  45, 80–83, 91, 95 f, 118, 142, 267, 274 f, 313, 316 f Segmentierungsprozesse – gesellschaftliche  26, 35 Sehnsucht  125, 134 Sekten  257 Selbstanalyse  81 Selbstauslegung  158, 174 Selbsterfahrung  316 Selbsterkenntnis  83 Selbstexploration  245 Selbstreflexion  132, 226, 252 Selbsttranszendenz /Selbsttranszendierung  124, 134, 138 f, 280 Semiotik  243 Sinn  19, 21, 35, 43, 64, 88, 91, 112, 115, 128 f, 135, 139, 141, 155, 159, 168, 177, 193, 201, 266, 271 f, 304, 313 – gesellschaftlicher  263, 312 – intersubjektiver  224 – objektiver  147, 173, 176, 203, 224, 231, 263 – subjektiver  147, 173, 176, 203, 224, 263

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Sinnaufbau  21, 24 – vorreflexiver  188 Sinnbegriff  42, 158 f Sinnbereiche – geschlossene  217, 223, 234, 241 Sinndeutung  111, 158, 226, 305, 307 – religiöse  63, 267 – subjektive  87 Sinnformen  98 – christliche  98 Sinnfrage  138 Sinngebung  177 Sinngemeinschaft  312 f Sinnkonstitution  165, 188–207 – intersubjektive  181 Sinnkrise  137, 151 – der Moderne  34 Sinnmuster  51, 55, 274, 306 – gesellschaftliche  278 Sinnproduktion  274 Sinnprovinz(en)  238, 248, 267 – geschlossene  222, 234, 238, 240, 250, 281, 283 Sinnsystem  250 – subjektives  282 Sinnvermittlung  231, 274 Sinnzusammenhang  194, 201 Smalltalk  290, 305 Solidarität  119, 121, 137, 143 Sonntag  23 Sorge  120 f, 276 Sozialisation  198 f, 208, 230, 254 Sozialität  293, 295 – mundane  169, 292 Sozialstruktur  226 Sozialwelt  158 Soziologie  20 f, 29–35, 93, 113, 148, 154, 180 (s. Wissenssoziologie) – verstehende / phänomenologisch orientierte S.  21, 33 Sprache  199, 206, 208, 214, 216 f, 223–227, 283 – als Handlung  216 – als Therapeutikum  69, 78 Sprachgemeinschaft  230 Sprachgeschehen  76, 84 Studium – theologisches  46 Subjekt  42, 117, 154, 299 Subjekttheorie  299 Subjektivität  122, 125, 128 – transzendentale  153

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Register

Subjektwerdung  59, 221 Symbol  66, 72, 88–92, 144, 178, 208, 216–219, 222 f, 235, 238, 247, 255, 283, 285 f – religiöses  71 Symbolkompetenz  112 Symbolkunde  144 – kritische  73, 88 f Synthesis  189 f – passive  189–193 Systemtheorie  93, 109 Teilgabe  301 Teilhabe  300, 302 – symbolische  299 Topisches Modell  78 f Transzendenz(en)  110, 218 – große  235–239, 248, 254, 281 – immanente  238 – kleine  235–239, 281 – mittlere  178, 235–239, 281 – phänomenologische  243 Transzendenzerfahrung  235 f, 238 Transzendierung  178 Transzendenzrelevanz  91 Transzendenzweite  223, 234 Trost  134, 136 f Typik  209 Typisierung  163, 197–199, 203 – von Handlungen  229 Umwelt  99 f, 152 f, 159 f – soziale  16, 162 Unbewusstes  78 f, 196 Übertragung  68, 75, 81 f, 118 f Verantwortung  127, 135, 276 Vereine  27, 37 Vereinswesen  36 f Verhalten  75, 82, 154, 174,202 Verhaltenserwartungen  95, 100, 119 f Verkündigung  14, 55, 95 – des Evangeliums  107–109 Verstehen  100, 174, 220, 297–299 Vertrauen  239 Vertrautheit  209 Volkskunde  28, 31 – religiöse  38–40 Vorfahren  163 Vorwelt  163 f

Wahl  206 f Wahrnehmung  152, 192, 220 – kulturhermeneutische  13 Wahrnehmungsgegenstand  225 Wahrnehmungsinteresse  192, 200 f Weltansicht  254 f Weltdeutung  125, 255, 307 Weltwahrnehmung  191 Wende – empirische  36, 41, 48 Wertediskurs – zivilgesellschaftlicher  276 Wirken  202, 242 Wirklichkeit  15, 82, 86, 99, 180, 226, 239 f, 280 – ausgezeichnete  157, 195, 222, 243, 267, 283 – gesellschaftliche  180, 228, 278 – soziale  52, 168, 179–181 Wirklichkeitsdefizit  37 Wirklichkeitskonstitution – alltägliche  181 Wirklichkeitsordnung  240 Wissen  208–216 – alltagspraktisches  208 – gesellschaftliches  208 – Objektivierung subjektiven W.  212 f – soziale Verteilung des W.  214–216 – subjektives  208 Wissenssoziologie  14, 212 Wissensvorrat  201, 208–214, 266 – gesellschaftlicher  180, 198, 212–214, 216 – lebensweltlicher  209 – subjektiver  198 Zeichen  72, 168, 175 f. 208, 216–223, 283, 285 – Indexikalität von Z.  176 Zeichensystem  176, 213 f – überindividuelles  224 Zeit  164–167, 204 f, 225, 269 f, 311 – innere  167, 205 – kosmische  205 Zeitgenosse  172 Zirkel – hermeneutischer  82, 101, 175, 310 f – pastoralpsychologischer  75 Zivilreligion  114, 251, 259–263 Zwangsneurose  85 Zweifel  160, 194 f, 206

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-62413-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-62413-6