111 20 28MB
German Pages 320 Year 1997
SIGRID JACOBY
Allgemeine Rechtsgrundsätze
Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Reiner Schulze, Münster, Prof. Dr. Elmar Wadle, Saarbrücken, Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Regensburg
Band 19
Allgemeine Rechtsgrundsätze BegritTsentwicklung und Funktion in der Europäischen Rechtsgeschichte
Von
Sigrid Jacoby
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Jacoby, Sigrid: Allgemeine Rechtsgrundsätze : Begriffsentwicklung und Funktion in der Europäischen Rechtsgeschichte / von Sigrid Jacoby. Berlin .: Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte ; Bd. 19) Zugl.: Trier, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-08759-3
Alle Rechte vorbehalten
© 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-3365 ISBN 3-428-08759-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 S
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1996 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Trier als Dissertation angenommen. Die Thematik der Arbeit entstammt dem Forschungsprojekt meines Doktorvaters, Herrn Prof. Dr. Reiner Schulze (Münster), zum "Entstehen des Europäischen Gemeinschaftsrechts" . Mein besonderer Dank gilt daher Herrn Prof. Dr. Schulze, der den Doktoranden des Projekts ein fruchtbares Diskussions- und Forschungsforum bot und das Entstehen der Arbeit stets unterstützend begleitete. Das Max-Planck Institut fiir Europäische Rechtsgeschichte in FrankfurtlM., das Bundesarchiv in Koblenz und das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn gewährten mir großzügigen Einblick in ihre Bestände und unterstützten mich in dankenswerter Weise in meinem Forschungsvorhaben. Darüber hinaus bin ich aber auch all jenen zum Dank verpflichtet, die mir während des Dissertationsvorhabens unterstützend zur Seite gestanden haben, meine Eltern, Petra Oberbeck (Trier), Andrea Schaaf (FrankfurtlM.) sowie die studentischen Hilfskräfte Silke Hüttig und Sven Danzeglocke. Trier, im Dezember 1996
Sigrid Jacoby
Inhaltsverzeichnis Einleitung - Allgemeine Rechtsgrundsätze - Begriffsentwicklung und Funktion in der Europäischen Rechtsgeschichte ............................................................................ 13
I Kapitel Allgemeine RechtsgrundsAtze im droit fran~ais und ius germanicum seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert sowie der Gesetzgebungswissenschaft
des 18. Jahrhunderts
23
§ 1 Frankreich................................................................................................................. 25 1. Guy Coquille .................................................................................................... 27
11. Jerosme Mercier ................................................................................................ 29 111. Jean Domat ....................................................................................................... 30 IV. Robert-Joseph Pothier....................................................................................... 34 V. Fran,.:ois Bourjon .............................................................................................. 36
§ 2 Deutschland .............................................................................................................. 38 1. Johann Stephan Pütter ...................................................................................... 38
11. Johann Friedrich Reitemeier ............................................................................. 43 111. Justus Friedrich Runde ..................................................................................... 46 § 3 Italien ........................................................................................................................ 49 1. Gaetano Filangieri ............................................................................................ 49
§ 4 Zusammenfassung .................................................................................................... 53
II. Kapitel Die naturrechtlichen Kodifikationen
55
8
Inhaltsverzeichnis
§ 1 Bayern ...................................................................................................................... 57 I. Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis........................................................... 60
§ 2 Österreich ................................................................................................................. 63
§ 3 Preußen ..................................................................................................................... 70 § 4 Frankreich ................................................................................................................. 75 § 5 Baden ........................................................................................................................ 81 § 6 Zusammenfassung .................................................................................................... 87
III. Kapitel Die Rechtsfindungsregeln der naturrechtlichen Gesetzbücher in der Judikatur Österreichs, Preußens und Frankreichs
89
§ 1 Die Judikatur in Österreich ....................................................................................... 89 § 2 Die Judikatur in Preußen ........................................................................................ 100 § 3 Die Judikatur in Frankreich .................................................................................... 104 I. Principes generaux mit Bezug auf den Code civil als Entscheidungsgrundlage ........................................................................................................ 105
11. Principes generaux/maximes generales in Gestalt römisch-rechtlicher Sätze als Entscheidungsgrundlage .................................................................. 106
§ 4 Zusammenfassung .................................................................................................. 110
IV. Kapitel
Allgemeine RechtsgrundsAtze in der Historischen Schule des 19. Jahrhunderts in Deutschland und die Einflüsse auf Frankreich
112
§ I Deutschland ............................................................................................................ 112 I. Die Romanisten .............................................................................................. 115 1. Friedrich Carl von Savigny ......................................................................... 115
Inhaltsverzeichnis
9
a) Der Kodifikationsstreit .......................................................................... 116 b) Savignys System ................................................................................... 121 c) Savignys späteres Werk ......................................................................... 123 aa) Die Rechtsquellenlehre im "System" ............................................. 124 bb) Das Rechtsverhältnis ..................................................................... 125 cc) Das Rechtsinstitut .......................................................................... 126 d) Ergebnis ................................................................................................. 128 2. Georg Friedrich Puchta ............................................................................... 129 a) Puchtas Rechtsquellenlehre ................................................................... 129 b) Das Lückenproblem .............................................................................. 131 3. Bernhard Windscheid ................................................................................. 132 a) Die Rechtsquellenlehre Windscheids .................................................... 132 b) Der Systemgedanke Windscheids ......................................................... 133 11. Die Germanisten ............................................................................................. 139 1. Karl Friedrich Eichhorn .............................................................................. 140 2. Carl Joseph Anton Mittermaier ................................................................... 143 3. Carl Friedrich Gerber .................................................................................. 146
§ 2 Frankreich
....................................................................................................... 150
I. Die exegetische Schule ................................................................................... 152 1. Locre
....................................................................................................... 152
2. Aubry und Rau ........................................................................................... 153 3. Troplong ..................................................................................................... 155 11. Die Historische Schule .................................................................................... 157 1. Pellegrino Rossi .......................................................................................... 160 2. Henri Klimrath ............................................................................................ 164 3. Du Caurroy de la Croix............................................................................... 167 4. Edouard Delpech ........................................................................................ 167
§ 3 Zusammenfassung .................................................................................................. 168
10
Inhaltsverzeichnis
V. Kapitel Allgemeine RechtsgrundsAtze im Völkerrecht
170
§ 1 Das Statut des Ständigen Internationalen Gerichtshofs ......................................... 173 I. Die Entstehung des Art. 38 des Ständigen Internationalen Gerichtshofs .................................................................................................... 175
§ 2 Allgemeine Rechtsgrundsätze in der schiedsgerichtlichen Judikatur ..................... 179 I. Allgemeine Rechtsgrundsätze in der schiedsgerichtlichen Judikatur vor Erlaß des Art. 38 des Statuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofs ..... 181 11. Die Judikatur nach Erlaß des Art. 38 des Statuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofs .................................................................................. 184
§ 3 Die Literatur zu Art. 38 des Statuts des Ständigen Internationalen Gerichtshofs ... 190 I. Die Literatur zu Art. 38 des Statuts des StIGH ............................................... 190 1. Jean Spiropoulos ......................................................................................... 190 2. WolfCegla.................................................................................................. 192 3. Elfried Härle ............................................................................................... 193 4. Alfred Verdross .......................................................................................... 194 5. Hersch Lauterpacht ..................................................................................... 196 6. Louis Le Fur ............................................................................................... 196 11. Die Literatur zu Art. 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs ............ 197
1. Die Auslegung von Art. 38 Abs. 1 (c) des Statuts des Internationalen Gerichtshofs durch die neuere Literatur............................. 198 a) Hennann Mosler .................................................................................... 199 b) Hugh Thirlway ...................................................................................... 200 2. Die Rolle der Rechtsvergleichung .............................................................. 201 a) RudolfB. Schlesinger ............................................................................ 202 b) Hennann Mosler .................................................................................... 203 c) Kai Hailbronner ..................................................................................... 204 d) Albert Bleckmann .................................................................................. 206
Inhaltsverzeichnis
11
§ 4 Zusanunenfassung .................................................................................................. 207
VI. Kapitel Allgemeine RechtsgrundsAtze im EuropAischen Gemeinschaftsrecht
209
§ 1 Allgemeine Rechtsgrundsätze der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft - Die Entstehungsgeschichte des Art. 215 Abs. 2 EWG-Vertrag ................. 210
I. Die außervertragliche Haftung in Frankreich und Deutschland ...................... 215 1. Die historische Entwicklung der Staatshaftung in Frankreich und Deutschland ................................................................... 216 2. Der "service public" und das "hoheitliche Handeln" .................................. 221 3. Das Verschulden ......................................................................................... 223 4. Der Rechtsweg ........................................................................................... 224 11. Der Vertrag über die Gründung der Gemeinschaft rur Kohle und Stahl... ...... 225 III. Der Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft .......................... 235
§ 2 Die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes zur außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft ...................................................................................... 238 I. Die Judikatur zu Art. 40 EGKS ...................................................................... 239 11. Die Judikatur zu Art. 215 Abs. 2 EWG-Vertrag ............................................. 244 1. Die Schuld (faute) ....................................................................................... 245
§ 3 Die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze ................................................. 253 I. Die Entwicklung von europäischen Grundrechten durch den EuGH ............. 255 11. Die Methode des EuGH .................................................................................. 258
§ 4 Die Begründung der gemeinschaftsrechtlichen Geltung allgemeiner Rechtsgrundsätze durch die Literatur ................................................................................ 264 I. Die Begründung durch das Völkerrecht ......................................................... 264 11. Die Begründung aus dem nationalen Recht... ................................................. 265 III. Begründung aus dem Gemeinschaftsrecht ...................................................... 267
1. Allgemeine Rechtsgrundsätze gern. Art. 215 Abs. 2 EWGV, Art. 188 Abs. 2 EAGV ............................................................................... 267
12
Inhaltsverzeichnis 2. Rechtsgrundsätze aus den Rechtsschutzbestimmungen der Art. 31 EGKSV, 164 EWGV, 136 EAGV ............................................ 268 IV. Allgemeine Rechtsgrundsätze als Bestandteil des gemeinschaftsrechtlichen Richterrechts .......................................................... 268 V. Allgemeine Rechtsgrundsätze als selbständige Rechtsquelle des Gemeinschaftsrechts ................................................................................. 269 VI. Stellungnahme ................................................................................................ 271
§ 5 Die Erkenntnis allgemeiner Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts ......................................................................................... 273 I. Bleckmann ...................................................................................................... 274 11. Akehurst ......................................................................................................... 277 111. Meessen .......................................................................................................... 278
§ 6 Zusammenfassung .................................................................................................. 279
VII. Kapitel
Zusammenfassung
282
Literaturverzeichnis ................................................................................................... 292
Sach- und Personenregister ....................................................................................... 317
Einleitung
Allgemeine Rechtsgrundsätze - Begriffsentwicklung und Funktion in der Europäischen Rechtsgeschichte "Theils sind übrigens auch alle europäischen Staaten in so mannigfaltiger Verbindung, daß in keinem eine Kenntnis von des anderen Rechten für unnütz zu halten ist"l.
Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft fiir Kohle und Stahl im Jahre 1951 und den Brüsseler Verträgen 19582 wurde eine neue Rechtsordnung - das europäische Gemeinschaftsrecht - geschaffen. Die Gemeinschaftsrechtsordnung stellte den Rechtsanwender jedoch schon früh vor Schwierigkeiten: die Gemeinschaftsverträge enthielten vielfach nur einzelne fragmentarische Regelungen; für neue Fragestellungen fehlte es an einem hinreichend dichten Regelungswerk. In der Rechtspraxis des Europäischen Gerichtshofes wuchs rasch die Einsicht, daß das primäre und sekundäre Gemeinschaftsrecht "kein 1 Johann Stephan Pütter, Neuer Versuch einer juristischen Encyclopädie und Methodologie, Göttingen 1767, § 61. 2 Zur Geschichte der europäischen Integration Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Europa: Ein Anfang. Von der Messina-Konferenz zu den Römischen Verträgen 1955-1957. Ausstellungskatalog bearbeitet von den Generalarchiven der Kommission, Brüssel 1985; Klaus Borchardt, Die europäische Einigung. Die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft, Brüssel 1990; Ludolf Herbst, Optionen für den Westen. Vom Marshall-Plan bis zum deutsch-französischen Vertrag, München 1989; ders., Vom Marshall-Plan zur EWG, München 1990; Wi/fried Loth, Der Weg nach Europa, Geschichte der europäischen Integration 1939-1957, Göttingen 1990; ders., Die Anfänge der europäischen Integration 1945-1950, Bonn 1990; Hans Küsters, Die Gründung der EWG, Baden-Baden 1982; ders., Von der EVG zur EWG, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bonn 1983, Nr. 12, S. 3 ff.; Raymond Poidevin, Histoire des debuts de la construction europeenne (1948-1950). Bericht des Kolloquiums in Straßburg 28.-30.11.1984, Brüssel 1984; Gilbert Trausch (Hrsg.), Die Europäische Integration vom Schuman-Plan bis zu den Verträgen von Rom, Baden-Baden 1993; Hans von der Groeben, The European Community. The fonnative years (19581966), Brüsse! 1987; ders., Aufbaujahre der Europäischen Gemeinschaften. Das Ringen um den Gemeinsamen Markt und die Politische Union (1958-1966), Baden-Baden 1982.
14
Einleitung
sich selbst genügendes normatives System" bildeten3 • "Es ist kein Zweifel, daß sich auch in der Rechtsprechung dieser Cour ... ein gewisser Satz an gemeinsamen Regeln, ein Fundus an gemeinsamen Rechtsüberzeugungen ... entwikkein wird, der die europäische Integration weiter vorwärts treibt - eine juristische, rechtshistorische Dynamik wird hier sichtbar"4. Die Worte HaI/steins weisen den Weg, den das Europäische Gemeinschaftsrecht seit dem Pariser Vertrag als "Träger eines europäischen Geistes"S genommen hat. Von Beginn seiner Tätigkeit an sah sich der EuGH mit Rechtsfragen konfrontiert, für die das Gemeinschaftsrecht keine Lösungsmodelle anbot. Erstmals im Jahre 1957, als er über die vertraglich nicht geregelten Voraussetzungen des Widerrufs von Verwaltungsakten zu entscheiden hatte, berief der EuGH im Algera-Urteif' die - für den Bereich der außervertraglichen Haftung in Art. 215 Abs. 2 EGV positiv geregelten - allgemeinen Rechtsgrundsätze als normative Entscheidungsgrundlage1 . Art. 215 EGV gab dem Richter ein juristisches Arbeitsrequisit an die Hand 8, das der Gerichtshof "als Mittel zur Darstellung und Fortentwicklung der Ge3 Jürgen Schwarze, Entwicklungsstufen des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: Bodo Börner/ Hermann Jahrreiß/ Klaus Stern (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Freiheit. Festschrift fllr Carl Carstens, 2 Bde., Köln 1984, S. 259 ff., 260. 4 Walter Hallstein, Diskussionsbeitrag, in: Probleme des Schuman Planes. Eine Diskussion zwischen Prof. Dr. Walter Hallstein, Prof. Dr. Andreas Predöhl und Prof. Dr. Fritz Baade, Kiel 1951, S. l. Hallstein war Mitglied der deutschen Delegation bei den Pariser Verhandlungen und an der Ausarbeitung der EGKS-Vertrages maßgeblich beteiligt. 5 Bernhard Groß/eid! Karen Bi/da, Europäische Rechtsangleichung, in: Zeitschrift für Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht und Europarecht 1992, S. 412 ff., 412. 6 Urteil vom 12.7.1957, RS 7/56, 3/57 bis 7/57, Dineke Algera gegen Gemeinsame Versammlung, Sig. 1957, S. 91 ff. 1 Art. 215 Abs. 2 EWG-Vertrag lautet"Im Bereich der außervertraglichen Haftung ersetzt die Gemeinschaft den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten gemeinsam sind". Eine wortgleiche Formulierung hat Art. 188 Abs. 2 Euratom. 8 Daniel Ewert, Die Funktion der allgemeinen Rechtsgrundsätze im Schadensersatzrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, FrankfurtlMain 1991; Bruno Du Ban, Les principes generaux communs et la responsabilite non contractuelle de la Communaute europeenne, in: Cahiers du droit europeen 1977, S. 397 ff.; Ernst-Werner Fuß, La responsabilite des Communautes Europeens pour le comportement ilh!gal de leurs organes, in: Revue Trimestrielle de droit europeen 1981, S. I ff.; Stuart Lord Mackenzie, The "non-contractual" Iiability of the European Community, in: Common market law review 1975, S. 493.
Einleitung
15
meinsamkeiten des europäischen Rechts zu nutzen gewußt hat"9. Die Formulierung des Art. 215 EGV, mit dem Verweis auf die "allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind", hat eine "Initialzündung"IO gesetzt, nach der der EuGH vertraglich nicht fixierte Materien ausgestalten konnte. Besonders evident ist diese Entwicklung im Rahmen des Grundrechtsschutzes: Die GrUndungsverträge (EGKS-Vertrag, EWG-Vertrag, Euratom-Vertrag) enthielten - bedingt durch die primäre wirtschaftliche Ausrichtung der Gemeinschaft - keine grundrechtlichen Garantien im Sinne des klassischen Verfassungsverständnisses. U Mit zunehmender Ausgestaltung der Gemeinschaftsord-
9 Reiner Schulze, Allgemeine Rechtsgrundsätze und europäisches Privatrecht, in: Zeitschrift für Europäisches Privatrecht, 1994, S. 454. - Kritisch Kirchhof "Die EWG trennt nicht strikt zwischen Rechtsetzung und Rechtsprechung, sondern toleriert Grenzüberschreitungen ihrer Gerichtsbarkeit zwischen Rechtsfortbildung und Rechtsetzung" Paul Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: ders., Stetige Verfassung und politische Erneuerung, Goldbach 1995, S. 280; Wolfgang Denzer-Vanotti, Unzulässige Rechtsfortbildung des Europäischen Gerichtshofs, in: Recht der Internationalen Wirtschaft 1992, S. 733 ff. In der neueren Judikatur hat insbesondere die hier nicht weiter darzustellende Schadensersatzpflicht der Mitgliedstaaten für die Nichtumsetzung von EG-Richtlinien an Bedeutung gewonnen, vgl. hierzu insbesondere das Urteil vom 19.11.1991, Andrea Francovich gegen Italienische Republik, RS C-6, 9)01, Sig. 1991, S. 1-5357 ff.; Urteil des EuGH vom 8.10.1996, verb. RS C-178/94, C188/94, C-189/94, C-190/94, Dillenkofer u.a., in: Neue Juristische Wochenschrift 1996, S. 3141 ff. Dazu Ernst Führich, Gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung wegen verspäteter Umsetzung der EG-Pauschalreise Richtlinie, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1993, S. 725 ff.; Daniel Erasmus Khan, Staatshaftung für verpfuschten Urlaub?, in: Neue Juristische Wochenschrift 1993, S. 2646 ff.; Thomas von Danwitz, Zur Entwicklung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung, in: Juristen Zeitung 1994, S. 335 ff.; Manfred Zuleeg, Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt in der europäischen Integration, in: Juristen Zeitung 1994, S. I ff., 6 f. 10 Jürgen Schwarze spricht in diesem Zusammenhang von einem "Modell charakter" , in: ders., Der Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift 1986, S. 293 ff. 11 Diese Einordnung ist äußerst umstritten. Ein Teil der Literatur sieht als einzelne Vertragsvorschriften mit möglichem Grundrechtsgehalt die Art. 7, 30, 48, 52, 59, 67, 119 sowie 222 EVG an; vgl. dazu Albert Bleckmann, Die Grundrechte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift 1981, S. 255 ff.; Gerd Mayer, Die Einzelperson und das Europäische Recht, in: Neue Juristische Wochenschrift 1976, S. 1557 ff.; Ingolf Pernice, Grundrechtsprobleme im Europäischen Gemeinschaftsrecht - Ein Beitrag zum gemeinschaftsimmanenten Grundrechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof, Baden-Baden 1979; Hans-Werner Rengeling, Der Grundrechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften und die Überprüfung der Ge-
16
Einleitung
nung zu einem Verfassungssystem 12 mußte sich jedoch zwangsläufig die Frage nach umfassenden Grundrechtsgarantien stellen. Die Lösung hierzu mußte unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht gewonnen werden, spätestens seit der endgUltigen Anerkennung des vom EuGH formulierten Standpunktes, daß das Gemeinschaftsrecht eine eigenständige Rechtsordnung darstelle, unabhängig und autonom von nationalen VerfassungsentwUrfen 13. Grundrechte und Grund-
setzgebung, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1982, S. 140 ff. Ein Teil der Literatur geht von "grundrechtsähnlichen" Rechten aus: Gi/bert Gornig, Probleme der Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit rur Rechtsanwälte in der Europäischen Gemeinschaft, in: Neue Juristische Wochenschrift 1989, S. 1120 ff; Jürgen Schwarze Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift 1986, S. 293 ff. Zudem wird die Geltung von Grundrechten im Gemeinschaftsrecht von einem Teil der Literatur grundsätzlich in Frage gestellt. Pescatore begründet dies mit der Entstehungsgeschichte des EGV: Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die in Art. 3 eine Grundrechtsklausel enthielt, sei bei der Abfassung des EWG-Vertrages auf eine solche bewußt verzichtet worden; Pierre Pescatore, Les droits de I' homme et I' integration europeenne, in: Cahiers du droit europeen 1968, S. 629; Kai Bah/mann, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, in: Europarecht 1982, S. 1 ff.; Volkmar Götz, Verfassungsschranken interventionistischer Regulierung nach europäischem Gemeinschaftsrecht im Vergleich mit dem Grundgesetz, in: Juristen Zeitung 1989, S. 1021 ff. Die wohl überwiegende Ansicht geht jedoch von Grundrechtsgarantien in den Verträgen aus, Karl Matthias Meessen, Europäische Grundrechtspolitik, in: Jochen Frowein (Hrsg.), Die Grundrechte in der EG, Baden-Baden 1978, S. 35 ff. 12 Zur Problematik des Verfassungsbegriffs in diesem Zusammenhang Christoph Bai/, Eine Verfassung rur die Europäische Union, in: Europäische Zeitschrift rur Wirtschaftsrecht 1994, S. 257 ff.; Roland Bieber, Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung in der Europäischen Gemeinschaft, in: Rudolf Wildemann (Hrsg.), Staatswerdung Europas? Optionen rur eine Europäische Union, Baden-Baden 1991, S. 393 ff.; Roland Bieber/Jürgen Schwarze, Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 1984; Peter Haeberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift 1991, S. 261 ff.; Ian Harden, The constitution of the European Union, in: Public Law 1994, S. 609 ff.; Thomas Läufer, Zum Stand der Verfassungsdiskussion in der Europäischen Union, in: Albrecht Randelzhofer, Rupert Scholz, Dieter Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift rur Eberhard Grabitz, München 1995, S. 355 ff.; Manfred Zuleeg, Die Verfassung der Europäischen Gemeinschaften in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, in: Der Betriebs-Berater 1994, S. 581 ff. Auch der EuGH geht von der Verfassungsqualität der Gründungsverträge aus: " Dagegen stellt der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft dar", Gutachten 1/91, Sig. 1991, S. 6079,6102. 13 Urteil vom 15. 6. 1964, RS 6/60, Costa/E.N.E.L., Sig. X (1964), S. 1251; dazu auch Gottfried Zieger, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, eine Unter-
Einleitung
17
rechtsschranken konnten somit nicht unmittelbar nationalen Verfassungsordnungen entnommen werden, ein Standpunkt, den auch der EuGH zunächst nachdrücklich bezog, ohne dabei jedoch eine Herleitung aus dem Gemeinschaftsrecht in Betracht zu ziehen l4 . Eine Wende vollzog sich im Jahre 1969 in der Rechtssache StauderiStadt Vlm, als der EuGH die Gemeinschaftsorgane auf "die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte der Person" verpflichtete ls . Eine Präzisierung dieser Formel erfolgte im Jahre 1970 in der Rechtssache Internationale Handelsgesellschaftl6, in der der EuGH zusätzlich forderte, diese gemeinschaftsrechtlich ausgeformten Grundsätze müßten sich in "die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfilgen."17 Diese Urteile markieren den Beginn einer Rechtsprechung, die mittlerweile ein "dichtes Netz von allgemeinen Rechtsgrundsätzen"ll geknüpft hat. Auf diese Weise hat der EuGH heute Kernbereiche eines allgemeinen Verwaltungsrechts l9 sowie des Verfahrensrechts 20 herausgearbeitet und Grundzüge eines Gemeinschaftsprivatrechts angedeutef l. Obwohl die allgemeinen Rechtsgrundsätze heute eine ge-
suchung der Allgemeinen Rechtsgrundsätze, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts 22 (1973), S. 303. 14 Urteil vom 15.7.1960, Ruhrkohlen Verkaufsgesellschaft gegen Hohe Behörde, Verb. RS 36-38/59, 40/59, Sig. 1960, S. 885 ff., 920 - hier ging es um eine Eigentumsgarantie entsprechend Art. 14 GG. IS Urteil vom 12.11.1969, RS 29/60, Stauder gegen Stadt U1m, Sig. 1969, S. 419 ff., 425. 16 Urteil vom 17.12.1970, RS 1l/70, Internationale Handelsgesellschaft gegen Einfuhr- und Vorratsstelle, Sig. XVI (1970), S. 1125 ff. 17 Ebd., S. 1126. 18 Schwarze (Fn. 10), S. 295. 19 Z. Bsp. das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Urteil vom 12. 7. 1962, RS 14/61, Staalfabrieken gegen Hohe Behörde, Sig. VIII (1962), S. 5n ff.; das Rückwirkungsverbot im Urteil vom 15. 7. 1964, RS 100/63, Sig. X (1964), S. 1213 ff.; das Willkürverbot im Urteil vom 1. 3. 1962, RS 25/60, Oe Bruyn gegen Parlament, Sig. VIII (1962), S. 43 ff. 20 Z. Bsp. der Untersuchungsgrundsatz im Urteil vom 14. 2. 1978, RS 27/76, Sig. 1978, S. 207 ff. die Grundsätze "audiatur et aItera pars" sowie "niemand darf Richter in eigener Sache sein" im Urteil vom 24. 1.1990, RS 63/89, Sig. 1991, S. 19 ff. 21 Urteil vom 1.3.1983, RS 250/78, Sig. 1983, S. 421 ff. Vgl. dazu Schulze (Fn. 9), S. 458 ff.; Walter HaUstein, Angleichung des Privat- und Prozeßrechts in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 28 (1964), S. 211 ff.; Peter-Christian MüUer-Graff, Privatrecht und europäisches Gemeinschaftsrecht - Gemeinschaftsprivatrecht, 2. Autl Baden-Baden 1991; ders., Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 2 Jacoby
18
Einleitung
meineuropäische Kategorie des juristischen Denkens22 und ein etabliertes Rechtsfmdungsinstrument in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs sind, hat sich dieser, was die methodische Vorgehensweise betrifft, bisher allenfalls in Andeutungen ergangen23 . Der häufige Verweis auf die "gemeinsame Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten ,,24 oder vereinzelt auf das römische Rechfs erlaubt jedoch den Schluß, daß sich der EuGH zumindest partiell mit seiner Rechtsprechung auf dem Boden eines "common legal heritage of Western Europe"26, einer "lebendigen Rechtstradition"27 glaubt. Mit dieser konsequent praktizierten Form richterlicher Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung gelang es dem EuGH zu verhindern, "daß das sich entwickelnde junge Gemeinschaftsrecht in eine Abhängigkeit von bestimmten nationalen Rechtsvorstellungen geriet'l28. Das Facettenreichtum der Verwendungsweisen der allgemeinen Rechtsgrundsätze in der gemeinschaftsrechtlichen Judikatur offenbart aber auch die methodologischen Schwächen in ihrer Handhabung, die sie einem einheitlichen Definitionsversuch weitgehend entziehen. Der in der Literatur und Rechtsprechung zur Ermittlung des materiellen Gehalts allgemeiner Rechtsgrundsätze angefiihrte Gemeinplatz der "wertenden Rechtsvergleichung"29 stellt sicherlich eine tragende Säule des Erkenntnisvorganges dar.
1993; Winfried Tilmann, Ansätze und Leitlinien für ein europäisches Zivilrecht, Düsseldorf 1979; ders., Zur Entwicklung eines europäischen Zivilrechts, in: Walter lagenburg/Georg Maier-ReimerfThomas Verhoeven (Hrsg.), Festschrift für Walter Oppenhoff, München 1985, S. 495 ff. 22 Schulze (Fn. 9), S. 447. 23 Ergiebiger sind hierzu die Ausführungen der Generalanwälte, vgl. Schulze (Fn. 9), S. 455 in Fn. 59. 24 Urteil vom 26.6.1980, RS 136179, National Panasonic gegen Kommission, Slg. 1980, S. 2033 ff.; Urteil vom 11.7.1989, RS 265/87, Kraftfutter GmbH gegen Hauptzollamt Gronau, Slg. 1989, S. 2237 ff; Urteil vom 13.7.1989, RS 5/88, Wachauf gegen Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft, Slg. 1989, S. 2609 ff. 25 Urteil vom 25. 2. 1969, Rechtssache 23/68, Klomp gegen Inspektie der Belastingen, Slg. XV (1969), S. 43 ff. 26 Henry G. Schermers, ludicial protection in the European Communities, Leiden 1979, S. 24, § 34. 27 Albert Bleckmann, Rechtsetzung und Vollzug des EG-Rechts, in: Manfred A. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts, Loseblattsammlung, München 1994, B.I., Rn. 70. 28 Jürgen Schwarze (Fn. 3), S. 261. 29 Vgl. hierzu Bengt Beutler! Roland Bieber/ Jörn Pipkorn/ Jochen Streit, Die Europäische Union - Rechtsordnung und Politik, 4. Aufl. Baden-Baden 1993, S. 241; Albert Bleckmann, Europarecht: das Recht der Europäischen Gemeinschaft, 5. Aufl. Köln
Einleitung
19
Er erfaßt jedoch nicht jene Zufallsvariabeln, die in dem konkreten Rechtsfmdungsprozeß auf die materielle Ermittlung nicht minder einwirken. Es ist dies insbesondere die personelle Besetzung des Gerichtshofs, die - wie das Beispiel der Ausgestaltung der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft auf der Grundlage des Art. 215 Abs. 2 EGV deutlich macht - in ihrer Bedeutung filr die Gewinnung der allgemeinen Rechtsgrundsätze unterschätzt wird. Die rechtsfortbildende Verwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze durch den Europäischen Gerichtshof und die Dynamik des Gemeinschaftsrechts in den letzten Jahrzehnten hat zudem eine neue Fragestellung eröffnet, die an die gesamteuropäische Tradition des ius commune anknüpft. Es ist dies die Diskussion um ein "Europäisches Privatrecht"30, ein "Ius Commune Europae't31. "Staunend entdecken wir die gemeinsame Europäische Rechtsgeschichte neu"32 - ausgehend von dieser Feststellung wird der Kontinuitätszusammenhang der gemeineuropäischen Zivilrechtstradition und ihre Fruchtbarmachung filr Europa diskutierf 3. Es liegt außerhalb des Untersuchungsfeldes der vorliegenden Arbeit, diese Problematik darzustellen. Sie war aber Anlaß, dem Wirkungs1990, Rn. 313; Heinz-Peter Mansel, Rechtsvergleichung und Europäische Rechtseinheit, in: Juristen Zeitung 1991, S. 529 ff., 530, mwN. 30 Vgl. dazu Ewoud Hondius, Towards a European Civil Code, in: Hartkamp, Hesselink, Hondius u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code, Nijmegen 1994, S. I ff.; Peter-Christian Müller-Graff, Private Law Unification by Means other than Codification, in: ebd., S. 19 ff.; Reinhard Zimmermann, Roman Law and European Legal Unity, in: ebd., S. 65 ff.; Uwe Blaurock, Europäisches Privatrecht, in: Juristen Zeitung 1994, S. 270 ff.; Wilhelm Brauneder, Europäisches Privatrecht - aber was ist es?, in: Zeitschrift rur Neuere Rechtsgeschichte 1993, S. 225 ff.; Rene David, L'avenir des droits europeens: unification ou harmonisation, in: ders., Le droit compare, droits d'hier, droits de demain, Paris 1982, S. 295 ff.; ders., Les methodes de I'unification, in: ebd., S. 304 ff.; Hein Kötz, Rechtsvereinheitlichung - Nutzen, Kosten, Methoden, Ziele, in: Rabels Zeitschrift rur ausländisches und internationales Privatrecht 50 (1986), S. I ff.; ders., Gemeineuropäisches Zivilrecht, in: Herbert Bernstein! Ulrich Drobnig! Hein Kötz (Hrsg.), Festschrift filr Konrad Zweigert, Tübingen 1981, S. 481 ff.; Oie Lando, Principies of European Contract Law, in: Rabels Zeitschrift rur ausländisches und internationales Privatrecht 56 (1992), S. 261 ff.; Filippo Ranieri, Eine Dogmengeschichte des Europäischen Zivilrechts? in: Reiner Schulze (Hrsg.), Vom lus commune bis zum Gemeinschaftsrecht - das Forschungsfeld der Europäischen Rechtsgeschichte, Berlin 1991, S. 89 ff.; Oliver Remien, Illusion und Realität eines europäischen Privatrechts, in: Juristen Zeitung 1992, S. 277 ff.; Peter Ulmer, Vom deutschen zum europäischen Privatrecht?, in: Juristen Zeitung 1992, S. 1 ff. 31 Mansel (Fn. 29), S. 532. 32 Großfeid! Bilda (Fn. 5), S. 426. 33 Daß diese Diskussion noch am Anfang steht weist Schulze (Fn. 9), S. 446 ff. nach.
20
Einleitung
spektrum allgemeiner Rechtsgrundsätze in seiner begriffshistorischen Ausprägung in der europäischen Privatrechtsgeschichte und dem Völkerrecht des 19. und 20. Jahrhunderts nachzugehen. Dies auch in Hinblick darauf, daß - wie neuere Untersuchungen festgestellt haben - bei den Verhandlungen zu den Europäischen Gemeinschaftsverträgen in den Fünfziger Jahren auch historische Vorbilder in die Diskussion mit eingestellt wurden34 . Dabei ist das Anliegen der vorliegenden Arbeit nicht eine Theorie der "Erkenntnis" oder der "Natur" allgemeiner Rechtsgrundsätze und ihres Geltungsgrundes. Denn wie sich die Begründungsmuster für das, was "Recht" ist geändert haben, unterliegen auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze einem Paradigmenwechsel, können Defmitionsund Erkenntnisversuche nur eine Momentaufnahme eines juristischen Zeitabschnitts sein. Bydlinski verdeutlicht dies anband der Formulierungen, die zu § 7 ABGB, der den Rechtsanwender auf die "natürlichen Rechtsgrundsätze" verweist, entwickelt wurden: "Naturrecht", "der hypothetische Wille des Gesetzgebers", "Natur der Sache", "die sozialethischen Normen der sozialen Verbände oder Interessengruppen", "Fundarnentalsätze der Moral" oder "das zu einer bestimmten Zeit herrschende, von den logischen Denkgesetzen getragene Rechtsbewußtsein des Volkes"3s werden als Begründungsversuche hierzu angeführt. Es zeigt sich indes, daß es dennoch gerechtfertigt erscheint, von einem Kontinuitätszusarnmenhang des Wirkungsspektrums allgemeiner Rechtsgrundsätze insofern zu sprechen, als diese stets dann systembildend als Träger einer allgemeinen Rechtsaussage wirken, wenn ein Rechtskreis noch nicht gefestigt ist, sei es systematisch, sachlich oder räumlich. Zwar tun sich innerhalb dieses Gemeinplatzes Unterschiede auf, die insbesondere unter den Vorzeichen der Systementwürfe stehen, in deren Rahmen allgemeine Rechtsgrundsätze zur Anwendung gelangen, doch lassen sich auch hier in der Funktionsweise Gemeinsamkeiten aufzeigen: 1. Mittels Zuweisung einer juristischen Aussage auf die Ebene allgemeiner Rechtsgrundsätze wird diese mit einer Art höheren Normqualität versehen und fmdet so legitimiert unmittelbare Anwendung auf eine Rechtsebene "niederer" Normqualität. Diese Funktionsweise allgemeiner Rechtsgrundsätze fmdet sich insbesondere dort, wo ein bestehender Rechtskreis das anwendbare Recht unter 34 Siehe dazu die Dissertation von Werner Pfoil, Historische Vorbilder und Entwicklung des Rechtsbegriffs der vier Grundfreiheiten im Gemeinschaftsrecht, vorauss. 1996. 35 Zitiert nach Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2.Aufl. Wien 1991, S. 481 ff., 483.
Einleitung
21
Ausschluß bisher verwandter Nonngruppen neu defmiert. Allgemeine Rechtsgrundsätze bieten in diesem Zusammenhang ein Einfalltor filr Rechtssätze des fonnell nicht mehr gültigen Rechtskreises. Diese Wirkungsweise läßt sich etwa im 19. Jahrhundert verstärkt filr Frankreich nachweisen, wo mit Erlaß des Code civil das römische Recht fonnell derogiert wurde, durch die Zuweisung auf die Ebene von maximes oder principes generaux aber weiterhin in das geltende Recht hineinwirken konnte 36 • 2. Die Zuweisung einer rechtlichen Aussage auf die Ebene allgemeiner Rechtsgrundsätze wirkt als Korrektiv und Argumentationshilfe filr ein offensichtlich gewünschtes Ergebnis, das sich aus dem positiven Recht nicht oder nicht eindeutig belegen läßt. Diese Funktion läßt sich insbesondere dort nachweisen, wo die Rechtsanwendung rein system immanent, unter bewußtem Ausschluß außerhalb dieses Systems liegender Nonngruppen zu erfolgen hat. Für diese Verwendungsweise steht im 19. Jahrhundert insbesondere die deutsche Historische Schule37 • Bei Windscheid etwa wird eine Rechtsaussage, die nicht aus den antiken Quellen zu belegen ist und die keine unmittelbare systemimmanente Legitimierung und Begründung erflihrt, als "allgemeiner Grundsatz" bezeichnet, der qua dieser Qualitität Anwendung beanspruchen kann. Noch stärker tritt diese Funktionsweise bei den französischen Protagonisten der Lehren unter dem Einfluß der deutschen Historischen Schule zutage, die das durch historische Operation ennittelte principe general oder, principe dirigeant als mit dem hypothetischen Willen des Gesetzgebers korrelierend betrachten38 • Die so gewonnene Rechtsaussage kann damit unmittelbare Anwendung beanspruchen, ohne die Integrität des Code civil und seinen ausschließlichen Geltungsanspruch in Frage zu stellen 3. Allgemeine Rechtsgrundsätze nehmen eine Brückenfunktion zwischen unterschiedlichen Rechtskreisen ein und dienen der Verbindung grundsätzlich autarker Rechtskreise. Dieser Prozeß vollzieht sich mit einer rechtsschöpferischen Dynamik, an deren Ende oftmals ein Rechtssatz steht, der sich in dieser Fonn weder in dem Ausgangs-, noch in dem Zielkreis findet. Dieses Verwendungs spektrum fmdet sich verstärkt in sich sachlich oder räumlich neu bildenden Rechtskreisen, die - wie etwa das europäische Gemeinschaftsrecht oder das Völkerrecht - kodifikatorisch, vertraglich oder judiziell nur schwach
Vgl. dazu im Einzelnen Kap. 11 und III. Vgl. dazu Kapitel IV. 38 Vgl. hierzu Kapitel IV.
36 37
22
Einleitung
vorgeprägt sind und ihre Regelungsmodelle bereits bestehenden Rechtsordnungen entnehmen. Diese Wirkungsweisen allgemeiner Rechtsgrundsätze sollen im Folgenden anband von sechs Untersuchungszeiträumen aufgezeigt werden: dem Entstehen der nationalen Systementwürfe des droit fran~ais in Frankreich und des ius germanicum in Deutschland seit dem späten 17. Jahrhundert sowie der entstehenden Gesetzgebungswissenschaft des 18. Jahrhunderts (Kapitell), den naturrechtlichen KodifIkationen des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts in Bayern, Preußen, Österreich, Frankreich sowie Baden (Kapitel 2), der Judikatur auf der Grundlage der neuen Gesetzesbücher in Österreich, Preußen und Frankreich (Kapitel 3), der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts unter den Vorzeichen der Historischen Schule und der ecole de I'exegese in Deutschland und Frankreich (Kapitel 4), dem Völkerrecht (Kapitel 5) sowie schließlich dem Europäischen Gemeinschaftsrecht seit dem Pariser Vertrag im Jahre 1951 (Kapitel 6).
I. Kapitel
Allgemeine Rechtsgrundsätze im droit fran~ais und ius germanicum seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert sowie der Gesetzgebungswissenschaft
des 18. Jahrhunderts "Von einer neuen methode, bey der Rechts Gelahrheit die teutschen allgemeinen Gewohnheiten zum Grunde zu legen / und die Römischen Rechte darnach zu conferieren ... Daß an dieser methode nichts mit Fuge getadelt werden könne" 1•
In den Ländern Kontinentaleuropas bildet das gelehrte römisch-kanonische Recht seit dem 16. Jahrhundert die Grundlage der Rechtslehre und der Rechtsprechung. In Deutschland mündet dies in den usus modernus pandectarum 2 • Der usus modernus verliert seine Dominanz mit dem Aufkommen des aufgeklärten Naturrechts im 18. Jahrhunderf. Es ist hier nicht der Ort, diese Ent-
I Christian Thomasius, Summarischer Entwurff Derer Grundlehren die einem Studioso Juris zu wissen und auff Universitäten zu lernen nöthig / nach welchen D. Christian Thomas künfftig / so Gott will Lectiones privatissimas zu Halle in vier unterschiedenen Collegiis anzustellen gesonnen ist, Halle 1699, Cap. VIII Nr. 13 f, S. 173. 2 Helmut Coing, Die europäische Rechtsgeschichte der neueren Zeit als einheitliches Forschungsgebiet, in: ders., Gesammelte Aufsätze zu Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Zivilrecht, 2 Bde., FrankfurtlM. 1982, Bd. 2, S. 67 ff.; ders., Die ursprüngliche Einheit der europäischen Rechtswissenschaft, in: ebd., S. 137 ff.; ders., Die Bedeutung der europäischen Rechtsgeschichte fIlr die Rechtsvergleichung, in: ebd., S. 157 ff.; Werner Hinz, Die Entwicklung des gutgläubigen Fahrniserwerbs in der Epoche des usus modemus und des Naturrechts, Hamburg 1991; Paul Koschaker, Europa und das Römische Recht, 4. Aufl. MünchenlBerlin 1966, S. 233 f; Klaus Luig, Samuel Stryk (16401710) und der "Usus modemus pandectarum", in: Michael Stolleis (Hrsg.), Die Bedeutung der Wörter: Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Festschrift fIlr Sten Gagner, München 1991, S. 219 ff.; Martin Lipp, Die Bedeutung des Naturrechts fIlr die Ausbildung der Allgemeinen Lehren des deutschen Privatrechts, Berlin 1980, S. 96 ff; Hans Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 7. Aufl., Heidelberg 1992, S. 60 ff. 3 Coing, Die Europäische Rechtsgeschichte der neueren Zeit (Fn. 2), S. 88 weist darauf hin, daß es nicht zu einem plötzlichen Kontinuitätsbruch kam, beide Richtungen vielmehr noch lange nebeneinander wirkten.
24
I. Kapitel: Droit fran~ais und ius germanicum
wicklung umfassend darzustellen" doch bleibt ihre Bedeutung als "universell rur große Teile Europas" festzuhalten s. Das Naturrecht wird getragen von dem Streben nach neuen Darstellungsformen des Rechts, und es entwickelt neue Literaturtypen, die auf eine "systematisch-deduktive Behandlung der einzelnen Materien gerichtet sind"6. An den naturrechtlichen Postulaten wird "kritisch, unbefangen und unbelastet durch Traditionen das überkommene Recht, also insbesondere das römische Recht, wie es aus der mittelalterlichen Rechtsentwicklung hervorgegangen und durch den usus modemus gestaltet war, geprüft"'. Damit verbunden ist die Kritik am römischen Recht, die die Juristen zu einheimischen Rechtsquellen sowie deren wissenschaftlicher Bearbeitung hinfUhrt!. Die Fixierung der Juristen auf das Corpus Juris, das seit dem 13. Jahrhundert Gegenstand wissenschaftlicher Arbeiten war, hatte lange Zeit neue Impulse in der rechtswissenschaftlichen Diskussion9 verhindert, diese kamen von naturrechtlicher Seite. Insgesamt handelt es sich somit um eine Zeit, in der der lange fest defmierte Rechtsbereich des römischen Rechts aufgebrochen und unter verschiedenen Aspekten in Frage gestellt wird 10. Die "kritische und spekulative Tendenz der Zeit" bringt frei geschaffene Privatrechtssysteme auf naturrechtlicher Basis hervor, rur die in Deutschland im 18. Jahrhundert beson-
4 Dazu Otto Dann! Diethelm Klippel (Hrsg.), Naturrecht - Spätaufklärung - Revolution, Hamburg 1995; Javier Hervado, Historia de la ciencia dei derecho natural, Pamplona 1987; Michael Nagler, Naturrecht, Rechtspositivismus, positives Recht, FrankfurtlM. 1993; Michael Plohmann, Ludwig Julius Friedrich Höpfner: Naturrecht und positives Privatrecht am Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin 1992; Hans Thieme, Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte, in: ders., Ideengeschichte und Rechtsgeschichte, Gesammelte Werke, KölnlWien 1986, Bd. 2, S. 822 ff.; ders., Die Zeit des späten Naturrechts, in: ebd., S. 633 ff.; Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Autl Göttingen 1990. S Thieme weist nach, in welch mannigfacher Weise der wissenschaftliche Diskurs über die Grenzen hinweg gefilhrt wurde, Das Naturrecht und die Europäische Privatrechtsgeschichte, (Fn. 4), S. 826 ff. 6 Coing, Die europäische Rechtsgeschichte der neueren Zeit (Fn. 2), S. 90. , Coing, Die europäische Rechtsgeschichte der neueren Zeit (Fn. 2), S. 89. B Dazu Klaus Luig, Institutionenlehrbücher des nationalen Rechts, in: lus Commune III (1970), S. 65 ff. 9 Gerhard Dilcher, GesetzgelJUngswissenschaft und Naturrecht, in: Juristen Zeitung 1969, S. I ff., 2. Coing schreibt hierzu:"Für dieses Naturrecht ist es charakteristisch, daß es sich vollkommen von den historischen Quellen und Autoritäten löst und stattdessen eine Rechtsordnung unmittelbar mit Hilfe der Vernunft deduzieren will", Coing, Die ursprüngliche Einheit der europäischen Rechtswissenschaft (Fn. 2), S. 149. 10 So z. Bsp. in systematischer Hinsicht wie bei Leibniz, oder aber in inhaltlicher wie bei den Autoren des ius germanicum.
§ 1 Frankreich
25
ders Christian Wo(ff und seine Schüler verantwortlich zeichnen 11. Es ist dies eine Tendenz, die in den meisten europäischen Ländern ihre Entsprechung fmdet l2 , wobei im vorliegenden Arbeitszusammenhang insbesondere auf Frankreich und Deutschland einzugehen sein wird. Es zeigt sich dabei, daß allgemeine Rechtsgrundsätze mit der beginnenden Synthese des noch unerschlossenen nationalen Rechtsstoffes (des ius germanicum bzw. des droit coutumier) zu einem wichtigen heuristischen Instrument der Ausarbeitung juristischer Aussagen werden - in dem Moment, in dem der ordnende und von bartolistischen Denkmustern gelöste naturrechtliche Systemgedanke hinzutritt. Dabei nimmt wie zu zeigen sein wird - die Entwicklung in Deutschland und Frankreich hier in ihrer materiellen Ausgestaltung durchaus einen unterschiedlichen Verlauf.
§ 1 Frankreich Frankreich ist, was seine Rechtskreise betrim, bis ausgangs des 18. Jahrhunderts zweigeteilt. Im Süden gilt das stark römisch-rechtlich beeinflußte droit ecrit, während der Norden vom französisch-germanischen Gewohnheitsrecht (droit coutumier) geprägt ist l3 • Seit Ende des Mittelalters und verstärkt im 16. Jahrhundert ließ der König die coutumes durch Berufsjuristen niederschreiben und die bereits schriftlich fixierten Gewohnheitsrechte redigil~ren. Die Arbeiten der königlichen Kommission bewirkten nicht nur eine Umgestaltung der lokalen Gewohnheitsrechte nach den Maßstäben von Berufsjuristen l 4, sie fUhrte 11 Vgl. hierzu Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, 2 Bde., München 1985, Bd.l, S. 80 ff.; Ti/man Repgen, Christian Wolff, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Juristen: Ein biographisches Lexikon; von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, München 1995, S. 656 ff. 12 Dazu Luig, Institutionenlehrbücher (Fn. 8). 13 Zur Entstehung allg. Coing, Europäisches Privatrecht (Fn. 11), S. 80 ff.; ZweigertlKötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, l. Aufl. Tübingen 1971, hier 2. Aufl., Tübingen 1984, 2 Bde., Bd.l, S. 88; Koschaker (Fn. 2), S. 142 f. Die Grenzlinie verläuft von der Gironde Mündung parallel zur Loire und zum Genfer See. Zwar hat das Wiederaufblühen des Studiums des römischen Rechts an den mittelalterlichen Universitäten von Toulouse und Montpellier auch nach Norden ausgestrahlt, doch vennag das römische Recht die fanzösisch-gennanischen Gewohnheiten nicht zu überlagern, wie dies etwa in Deutschland geschieht. 14 Jean Coudert, Das Fortleben französischer Gewohnheitsrechte aus dem Ancien regime nach 1804, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Französisches Zivilrecht in Europa während des 19. Jahrhunderts, Berlin 1994, S. 37 ff. Dazu auch J. Yver, Le president Thi-
26
1. Kapitel: Droit fran~ais und ius germanicum
auch rechtsvereinheitlichende Arbeiten durch, "soit par un commun emprunt a une solution romaine, soit par l'emprunt a une coutume voisine ou a une coutume qui jouissait d'un prestige particulier. "IS Der ständige königliche Druck hatte jedoch eine weitere Konsequenz, die Frankreich, was die Rezeption des römischen Rechts betrim, einen anderen Weg nehmen ließ als Deutschland: Die Bedeutung des einheimischen gegenüber dem römischen Recht wurde gestärkt, so daß das römische Recht in geringerem Maße als in Deutschland rezipiert wurde. Dieser Prozeß der umfangreichen Aufzeichnung und Redigierung fand sein Ende erst im ausgehenden 16. Jahrhundert. Ende des 16. Jahrhunderts waren zwar auf diese Weise die wichtigsten coutumes aufgezeichnet, doch blieb die starke Rechtszersplitterung zwischen pays du droit ecrit und pays du droit coutumier bestehen. Im Gegenzug dazu und mit stetig zunehmender Bedeutung des französischen Königs wuchs das Bewußtsein um den unbefriedigenden Zustand des Rechts; eS wurde als notwendig erachtet, ein gemeinfranzösisches Zivilrecht zu entwickeln l6 • Ob dies auf römisch-rechtlicher oder französischer Grundlage geschehen sollte, blieb indes
bault Baillet et la redaction des coutumes (1496-1514), in: Revue historique de droit et etranger 1986, s. 19 ff. IS Jean Gaudemet, Les tendances a I'unification du Droit en France dans les derniers siec1es de l'Aneien Regime, in: La formazione storica dei diritto moderno in Europa, Atti dei terzo congresso della Societa Italiana di storia dei Diritto, 3 Bde., Firenze 1977, Bd. 1, S. 157 ff., 158; zum Ganzen auch Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, 3 Bde., München 1985, Bd. I, S. 118; Luig (Fn. 8), S. 65 ff.; Piano Mortari, La formazione storica dei diritto moderno francese, Dottrina e giurisprudenza dei secolo XVI, in: La formazione storica dei diritto moderno in Europa, Atti dei terzo congresso della Societa Italiana di storia dei Diritto, 3 Bde., Firenze 1977, Bd. 1, S. 195, der darauf hinweist, daß die Überarbeitung der Coutumes nicht nur einen formalen Aspekt implizierte, sondern auch inhaltliche Umgestaltungen bewirkte: "11 regime positivo venne, eioe, a subire mutamenti rilevanti non solo dal punto di vista dei suoi aspetti formali, ma anche da quello dei suo contenuto." 16 Dazu Gaudemet (Fn. 15), S. 157 ff.; Walter Wilhelm, Gesetzgebung und Kodifikation in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert, in: lus Commune I (1967), S. 241 ff. Einen bedeutenden Impuls gab dieser neuen Richtung einer Vereinheitlichung des französischen Rechts Charles Dumoulin (1500 - 1566) mit seinem Hauptwerk Oratio De Concordia Et Unione Consuetudinem Franciae, in: Caroli Molinaei Omia Quae Extant Opera; Vol.lI, Paris 1681. Zu Dumoulin auch Franz Gamillscheg, Der Einfluß DumouIins auf die Entwicklung des Kollisionsrechts, Tübingen 1955; Gert Meyer, Charles Dumoulin, ein flIhrender französischer Rechtsgelehrter, Nürnberg 1956; Piano Mortari (Fn. 15), S. 197 ff. fran~ais
§ 1 Frankreich
27
umstritten 17. Zum zentralen Begriff der Erschließung der neuen Materie des "droit fran~ais" wird die "coutume generale"; allgemeine Rechtsgrundsätze - in Fonn von principes generaux - sind hingegen zunächst kein Bestandteil des rechtsvereinheitlichenden Instrumentariums. Ein Grund hierfUr mag darin liegen, daß diese frühen Institutionenlehrbücher - mangels methodologischer Möglichkeiten - weniger um eine systematische Aufarbeitung als vielmehr um eine kompilatorische Arbeit, d.h. die Zusammentragung eines gewissen Fundus rechtlicher Aussagen aus unterschiedlichsten Quellen, bemüht waren. Zunächst galt es, den Kreis des einzubeziehenden Rechts abzustecken. Erst mit dem Hinzutreten des naturrechtlichen Systemgedankens gewinnen principes generaux oder maximes als systembildendes Element an Bedeutung.
I. Guy Coquille
Eine wichtige frühe Arbeit, die in diese Richtung fUhrt, stammte von Guy Coquille 18 : "11 s'y faut arrester, car nos coustumes sont nostre droict civil, de mesme force & vigeur comme estoit a Rome le droict civil des Romains,,19.
Das römische Recht klammert Coquille zwar bei der Bestimmung des "droict jrancois" aus; ihm kommt jedoch die Rolle der "ratio" ZU und wird so zum Maßstab und Ordnungsfaktor des französischen Rechts erhoben: ".. doncques le droict civil romain n'est pas nostre droict commun & n'a force de loy en France: ains y doit estre allegue seulement pour raison ... Qui fait que les loix faites par les Romains nous doivent semandre a nous ayder, quand les Constitutions & Ordonnances de nos Roys, ou le droict general Francois non escrit, ou nos Coustumes nos defaillent,,20.
17 Dazu Vincenzo Giuzzi, 11 diritto comune in Francia nel XVII secolo, in: Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis 37 (1969), S. 1 ff., hier 5. 18 Guy Coquille, Institution au droict des Francois, l. Aufl. Paris 1607, hier wurde die Ausgabe Paris 1623 verwandt. Zu Coquille Ernst Holthöfer, Guy Coquille, in: Stolleis (Fn. 11), S. 137 ff., der darauf hinweist, daß die Entstehungszeit der Werke Coquilles im Einzelnen unsicher ist; J. Maumigny, Etude sur Guy Coquille, publiciste et jurisconsuite, Paris 1910. 19 Ebd., S. 39. 20 Ebd.
28
I. Kapitel: Droit fran~ais und ius gennanicum
Zudem wird die subsidiäre Geltung des römischen Rechts festgestellt. Eine Systematisierung oder Hierarchisierung juristischer Aussagen fmdet hier allenfalls in Ansatzpunkten statt; Coquille vergleicht unter verschiedenen Aspekten die Bestimmungen der unterschiedlichen coutumes und stellt, wo sich diese Konstellation zufällig ergibt, Übereinstimmwigen fesf 1• Ergibt sich eine hinreichende Übereinstimmung, so bildet die gefundene Aussage die "Coustume generale". Als Beispiel seien Coquilles AusfUhrungen zum retrait, d.h. dem Vorkaufsrecht von Verwandten bei der Veräußerung von Erbschaftsgegenständen (de retraict lignager) angefUhrt: "L'heritage qu'aucun a eu par eschange d' autre heritage, sortit mesme nature pour le retraict, comme auoit I'heritage qu' iI a baille. Paris, article cente-quarante-trois. Sens, article trente-huite.Berry, retraicte, article quatorze. Meleun, article cent quarante-un. Troyes, articles cent cinquante-quatre & de mesme, si par partage d'heritages est aduennue heritage d'autre Iigne;c'est une subrogation introduite par la coustume qui a son effect ample: Et en est la coustume generale en France,,22
Das mangelnde methodologische Instrumentarium und die noch immer enge Einbindung in bartolistische Denkstrukturen23 verhinderten eine systematische Ordnung und Durchdringung des Stoffes; so greift Coquille in dem Fall, in dem sich rur eine bestimmte Frage die Coutume generale wegen zu großer Abweichungen in den einzelnen Gewohnheitsrechten nicht ermitteln läßt, nicht etwa auf eine abstrahierende Lösung zurück, sondern auf die Coutume von Orleans, da diese mit dem römischen Recht als der geschriebenen Vernunft übereinstimme24 • Prinzipien oder maximes, die den Anspruch allgemeiner Geltung erhöben, fmden sich hier nicht. Coquille begreift sowohl das römische Recht
21 Als Beispiel hierzu sei eine Passage aus Coquilles Institutionenlehrbuch zu den "executions sur biens meubles & immeubles" angeführt: Zur Versteigerung schreibt er: "Tous opposans a criees doivent estire domicile au Iieu Oll les criees sont poursuivies: tel domicile esteu ne finit par le mort du Procureur, ou de celuy en la maison duquel est estu le domicile, Paris article 360. Auxerre, article 124. Sens, article 126. adioustant, si I'opposant est estranger, & que a faute d'estire domicile, iI doit estre deboute de son opposition. Troyes, artic. 70, qui dit, de mesme pour I'estranger: Et que, c'est la charge du sergent de faire estire domicile. Tant cela peut estre tenu en general: Car iI n'est pas raison que les criees demeurent en surseance. Ce qui seroit si on ne s~avoit aqui s'adresser.", S. 472 f.; in der hier verwandten Ausgabe sind die Seiten unrichtig gebunden, es wurde aber an der fehlerhaften Paginierung festgehalten. 22 Ebd., S. 381. 23 Andre-Jean Arnaud, Les origines doctrinales du Code civil, Paris 1969, S. 7: "enonce d'un texte, recherche du casus, avis des auctoritates, decision de I'auteur." 24 Dazu Luig (Fn. 8), S. 77.
§ I Frankreich
29
als auch das französische Gewohnheitsrecht als prinzipiell autarke Rechtskreise mit unterschiedlichem Regelungsgehalt. Dem römischen Recht kommt in diesem Zusammenhang indes eine recht ambivalente Rolle zu. Einerseits stellt es einen Güte- und Ordnungsfaktor dar, wenn die unterschiedlichen Coutumes keine einheitliche Lösung bieten. Dem entspricht die Gleichstellung der "raison de sens commun" mit dem "Droict Romain"2s. Andererseits vermag aber auch das römische Recht nicht eine solche Regelung des droit commun zu derogieren, die Coquille als gerecht und angemessen erscheint: "Si ce n'est es Coustumes ou est permis de donner en precipu & sans rapport. Ce rapport ou collation est pour les faire tous egaux Paris, art. 278; Orleans, art. 272, 27 disent que meubles ou immeubles donnee par pere & mere aleurs enfans, sont reputez estre donnez en auencemens d'hoirie. Lesdits Coustumes se sont estendues a deuiser en particulier de la maniere de ce rapport, & y ont mis des regles grandement equitables & aucunes correspondantes au droict romain,,26.
11. Jerosme Mercier Die Schwierigkeit der Darstellung leitender Prinzipien oder "maximes" betont explizit Jerosme Mercier, für den sich die Coutume generale ebenfalls aus der Summe übereinstimmender Regelungen lokaler Gewohnheitsrechte ergibt, nicht aber aus durch Abstraktion oder Synthese gebildeten inhärenten Rechtssätzen: "De forte denc qu'il est bien difficile d'establir icy des regles & des maximes qui ne recoivent quelque restriction; ne se pouvant pas faire que dans une si grande quantite des Coustumes, que nous avons par example dans ce Royaume de France, toutes s'accordent unaniment en toutes sortes des matieres. C'est aussi ce que nous n'avons point entrepris de faire, nous contentant de rapporter icy qui est le plus general dans ce Royaume & principalement dans l'usage du Parlament de Paris'o21.
Merciers' Darstellung unterscheidet sich von der Coquilles durch die Einbeziehung römischen Rechts, was sich bereits im Titel seines Hauptwerkes "Remarques du droit francois. Sur les instituts de I'Empereur Justinien" ankündigt. Eine Zuweisung auf die Ebene von maximes oder regles generales fmdet 2S Fn. 18, Des tiefs, S. 66. 26 Ebd., Chap. donation. 27 Jerosme Mercier, Remarques du Droit Fran~ois, Paris 1684, S. 2. Zu Mercier auch Luig (Fn. 8), S. 75.
1. Kapitel: Droit fran~ais und ius gennanicum
30
sich nur bei römisch-rechtlichen Sätzen. Zu den Pflichten des Verkäufers beim Verkauf beweglicher Sachen schreibt Merr;:ier: "Et pour ce qui est de la vente des choses meubles, soit que ce soient meubles vifs ou meubles morts, ou toute autre chose, quae constant numero. pondere. mensura. 11 en faut etablir ces maximes generales, 10 Si dans les meubles morts, ou autres choses, quae constant numero, pondere, 6 mensura, l'acheteur & le vendeur s'accordent d'une mesme matiere, par exemple, si le vendeur vend un bassin d'or ... , que l'acheteur I'achete pour tel ... la vente est bonne; que si le bassin se trouve de cuivre ou de quelque autre matiere ... la vente est nulle, quia omnino erratum est in materia, & le vendeur est tenu de rependre son bassin & en tous les depens, dommages & interests des l'acheteur si spe rei emptoe traditionis Juturae. hanc emptor alij additii poenii promiserit I. 9 & 41 tT. de contrahend. empt. & I. Iulianus de actionib. .. .'r28
Im Rahmen der Abhandlung "de donationibus" zitiert er die "maxime filius ergo haeres"29, im Abschnitt zum Erbrecht der Kinder "de legitima adgnatorum successione" die "regle generale paterna paternis, materna maternis". Gewohnheitsrechtliche Regelungen werden an keiner Stelle mit dem Attribut des principe oder der maxime belegt. Ein Grund hierfür mag darin liegen, daß Mercier stets die empirische Verankerung der Coutume in einem Gebiet betont und daraus ihren beschränkten Geltungsanspruch herleitet: "pour ce qui est de la France coustumiere, il faut suivre la disposition differente des Coustumes30 ... la Coustume d'une Province ne s'estend au dela de son territoire"31." Im Ansatz fmdet sich hier zudem bereits die Zuweisung des römischen Rechts - mittels principes generaux oder maximes generales - auf eine höhere Normebene, die Jean Domat endgültig und für das französische Recht wegweisend vollzog.
111. Jean Domat
Wie in allen Staaten Europas, so geht auch in Frankreich der stärkste Antrieb zu einer Rechtserneuerung von den Naturrechtlern aus. Ihre erste Generation Ebd. Kapitel" De emptione & venditione", S. 371. Ebd., S. 142. 30 Ebd., de donationibus, S. 135. 31 Ebd., S. 141. 28
29
§ 1 Frankreich
31
repräsentiert in Frankreich Jean Domaf2, der mit seinem Hauptwerk "Les loix civiles dans leur ordre naturei" (erschienen ab 168933) die Diskussion nachhaltig beeinflußt. Domats genaue Einordnung ist durchaus strittig, so spricht Thieme von einem "Naturrechtler durch und durch"3\ während Arnaud ihn am Wendepunkt der "tentatives d'introduction du rationalisme dans le droit" siehfs. Domat nähert sich seinem Ziel, einen organischen "corps de droit" zusammenzustellen, vom Boden des römischen Rechts, dieses will er aus der allein auf der ratio beruhenden Geltung herauslösen und in das naturrechtliche System einfügen36 . Das gesamte System wurzelt bei Domat in den "Deux premiers principes", dem Liebesgebot zu Gott sowie der Nächstenliebe, die zusammen das christliche Liebesgebot bilden: "11 semble que rien doit etre plus connu des hommes, que les premiers principes des loix qui reglent & la conduite de chacun en particulier, & l'ordre de la societe qu'ils forment ensemble, que ceux meme qui n'ont pas les lumieres de la religion, ou nous apprenons quels sont ces principes, devroient en moins les reconnoitre en eux-memes, puisqu'ils sont graves dans le fond de notre nature'037.
32 Zu Domat vgl. Bernard Baudelot, Un grand jurisconsulte du 17e siecIe: Jean Domat, Paris 1938; Eugene Cauchy, Etudes sur Domat, Paris 1852; Benvenuto Donati, Domat e Vico. Ossia deI si sterna deI diritto universale, Maderata 1923; Ernst Holthäfer, Jean Domat, in: Stolleis (Fn. 11), S. 173 ff; Uwe Jahn, Die "Subtilite du droit romain" bei Jean Domat und Robert Joseph Pothier, München 1971; Paul Koschaker (Fn. 2), S. 122; Giovanni Tarello, Sistemazione e ideologia nelle "Loix civiles" di Jean Domat, in: ders. (Hrsg.), Materiali per una storia della cultura giuridica, 8 Bde., Bologna 1971 1978, Bd. 2, 1972,S. 159 ff. 33 Hier wurde die Ausgabe Paris 1777 verwandt. 34 Thieme, Das Naturrecht (Fn. 4), S. 842. 3S Arnaud (Fn. 23), S. 69. 36 Für Domat ist das Naturrecht "nichts anderes als das auf seine eigenen Prinzipien zurückgeführte römische Recht", Holthäfor (Fn. 32), S. 174. Ein Überblick zu Domats Lehre, die hier nicht Gegenstand der Darstellung sein kann findet sich bei Klaus Luig, Der Geltungsgrund des römischen Rechts im 18. Jahrhundert in Italien, Frankreich und Deutschland, in: La formazione storica deI diritto moderno in Europa, Atti deI terzo congresso della Societa Italiana di storia deI Diritto, 3 Bde., Firenze 1977, Bd. 3, S. 834 ff. 37 Jean Domat, Les loix civiles dans leur ordre natureI, Paris 1777, Traite des loix, Kapitel 1 Nr. 1. Domat definiert diese Prinzipien wie folgt: "Sa religion, qui est l'assemblage des toutes ses loix, n'est autre chose que la lumiere & la voie qui se conduisent acette vie: & sa premiere loi, qui est I'esprit de sa religion, est celle qui lui commande la recherche & l'amour de ce souverain bien, ou il doit s'elever de toutes les forces de son esprit & de son coeur qui sont faits pour le posseder.", Domat, Traite, Kapitel 1 Nr. VI.
32
I. Kapitel: Droit fran~ais und ius gennanicum
Der fehlende Bezug zur christlichen Religion ist es demnach auch, der rur Domat "les regles injustes" des römischen Rechts erklärt: "Ainsi les Romains, qui, entre toutes les nations, ont le plus cultive les loix civiles & qui en ont fait un si grand nombre de tres-justes, s'etoient donne, comme les autres peuples. la licence d'öter la vie, & aleurs esclaves,& aleurs propres enfans... Cette opposition si extreme entre l'equite qui luit dans les loix si justes qu'ont faites les Romains,& l'inhumanite de cette licence, fait bien voir qu'ils ignoroient les sources de la justice meme qu'ils connoissoient, puisqu'ils blessoient si grossierement, par ces loix barbares, I'esprit de ces principes, qui sont les fondemens de tout ce qu'il y a de justice & d'equite dans leurs autres loix,,38.
Innerhalb seines Systems unterscheidet Domat zwei Normebenen, die loa. arbitraires (=loix positives) und die lou: immuables (=loix naturelles). Die lois immuables unterscheiden sich von den lois arbitraires durch ihre Universalität in zeitlicher wie in räumlicher Hinsicht: "Les loix immuables s'appellent ainsi, parce qu'elles sont naturelles & tellement justes toujours, & par-tout qu'aucune autorite ne peut, ni les changer, ni les abolir, & les loix arbitraires sont celles qu'une autorite legitime peut etablir, changer & abolir selon le besoin,,39.
Indes bleiben diese beiden Bereiche weitgehend isoliert nebeneinander stehen, eine Synthese oder die Elaborierung verbindender und verallgemeinernder "principes generaux" fmdet nicht statt. Die Synthese besteht lediglich in der zusammengefaßten Darstellung der beiden Normebenen. Trotz seiner Kritik am römischen Recht, als zum Teil in Widerspruch zu den christlichen Idealen stehend, bestätigt Domat dieses im Ergebnis weitgehend als Teil jener höheren Normebene des droit naturei, indem er jene Materien, die in Frankreich römisch-rechtlich geregelt sind, den loa. naturelles zuweist, während Lehen, Rentenkauf, Retrakt etc. Regelungsgehalt lokaler Gewohnheitsrechte sind, so daß Domat sie als loa. arbitraires klassifiziert: "La seconde cause des loix arbitraires a ete I'invention de certains usages qu'on a cru utiles dans la societe. Ainsi par exemple, on a invente les fiefs, les cens, les rentes constituees a prix d'argent, les tetraits, les substitutions, & d'autres semblables usages, dont I' etablissement a ete arbitraire. Et ces matiers, qui sont de I' invention des hommes & qu' on pourroit appeller par cette raison des matiers arbitraires, sont regles par un vaste detail de loix de meme nature. Ainsi I' on voit dans la societe I' usage de deux sortes de matiers. Car il y en a plusieurs qui sont si naturelles & si essentielles
38 Ebd., Nr. I. 39 Traite, Kap. XI, Nr. Il.
§ I Frankreich
33
aux besoins les plus frequens; qu' elles ont ete toujours en usage dans tous les lieux, comme sont l' echange, le louage, le depöt, le pret cl usage, & plusieurs autres conventions; les tutelIes, les successions, & plusieurs autres matiers,,40.
Diese weitgehende Übereinstimmung der loix naturelles mit dem römischen Recht räumt Domat selbst ein: "Ainsi on voit dans le Droit Romain que, comme la plupart de matiers qui s' y trouvent de nostre usage, sont des matiers naturelles, les regles en sont aussi presque toutes des loix naturelles, qu' au contraire, comme la plupart de matiers de nos coutumes, sont de ces matiers arbitraires ( ... ) dift·erents en divers lieux, & on voit de meme dans les matiers arbitraires qui sont reglees par les ordonnances, que presque toutes leurs regles sont aussi arbitraires"41.
Bemerkenswerterweise ist hierftlr neben dem Aspekt der Rechtseinheit gerade auch die kasuistische Struktur des römischen Rechts ausschlaggebend: "Mais pour les loix naturelles comme nous n'en avons pas le detail que dans les livres du Droit Romain ... "42.
Principes generaux oder maximes generales werden in diesem Kontext von Domat nicht angefilhrt. Träger der raum- und zeitübergreifenden Rechtsgehalte sind - in Gestalt römischen Rechts - die lois immuables. Die von Domat vorgenommene Zuordnung des römischen Rechts in eine das positive - veränderliche - Recht überlagernde normative Schicht wird spätestens bei der Ausarbeitung des Code civil erneut relevant. Domat bereitet in erster Linie "das Material des römischen Rechts rur seine Rolle im Rahmen des positiven französischen Rechts"43 auf. Mit der Zuweisung zu den loix immuables wird es zugleich in eine höhere Normebene transponiert, mit dem Anspruch der Universalität in räumlicher, zeitlicher und systematischer Hinsicht; ein Umstand, der in den Erlaß des Code civil fortwirkte und der die besondere Bedeutung des römischen Rechts rur die Judikatur des 19. Jahrhunderts in Frankreich mitbedingte44 • Domat bedient sich eines unveränderlichen Normvorrates (/oix immuables), der sich, wie oben dargelegt, vorwiegend aus Sätzen des römischen Rechts rekrutiert. So werden nicht nur Legitimationsschwierigkeiten beseitigt, ein in sich geschlossenes deduktives System kann ermittelt werden, Domat "da
40 Ebd., Kap. XI Nr. XII. 41 Ebd., Kap. XI Nr. XVI. Dazu auch Luig (Fn. 36), S. 834. 42 Traite, Kap. 11 Nr. 19. 43 Luig (Fn. 36), S. 839. 44 Dazu unten Kapitel III. 3 Jacoby
1. Kapitel: Droit fran~ais und ius gennanicum
34
al diritto romano - droit ecrit - il valore di norma positiva, dotata di intrinseca razionalita"45.
IV. Robert-Joseph Pothier
Der Quellenproblematik und der Frage der Rechtseinheit in Frankreich verschrieb sich auch Rohert Joseph Pothier während seines wissenschaftlichen Schaffens46 • Pothier nahm damit im 18. Jahrhundert eine zentrale Bedeutung nicht nur filr die Bearbeitung des gemeinen Rechts, sondern auch des römischen Rechts ein. Pothier, geboren in Orleans, wird im Jahre 1720 zum Richter am Präsidialgericht ernannt und hielt dieses Amt bis an sein Lebensende inne. Die forensische Praxis prägte Pothiers' gesamtes wissenschaftliches Werk. Wie auch schon bei Domat, durchzieht die Frage nach dem Verhältnis des römischen Rechts zu dem Gewohnheitsrecht Pothiers' Untersuchungen und bedingt auch die Verwendung von maximes und principes: Pothier erkennt nicht zuletzt durch seine praktische Erfahrung im Richteramt - die Zweiteilung der Rechtskreise in Frankreich an, fUgt aber hinzu, daß das römische Recht außer in Südfrankreich, wo es "pro Jure patrioque" gelte, auch im gewohnheitsrechtlich geprägten Norden Geltung beanspruchen könne47. Ähnlich wie im Ergebnis Domat betrachtet Pothier das römische Recht als mit dem Naturrecht und der equite korrelierend: "Scilicet ars aequi et boni universa, quae ex intimis naturalis rationis visceribus per . altissimas meditationes educta"43.
Zwar negiert Pothier nicht die materielle Eigenständigkeit des droit coutumier, dieses fUgt sich jedoch in den "Gesamtrahmen" des römischen Rechts ein: "Ex eo siquidem cum primitus deducta suerint innumerca quae apud nos obtinent statuta legesquae patriae, ab eo peti etiam necesse est notiones primas definitiones, & generalia quaedam principia eorum fere omnium quae circa varios Juris articulos
Giuzzi (Fn. 17), S. 46. Zu Pothier Luc Henry Dunoyer, Blackstone et Pothier, Paris 1927; Jahn (Fn. 32); Luig (Fn. 36); J. König, Pothier und das römische Recht, Frankfurt 1976. 47 Robert-Joseph Pothier, Pandectae lustinianeae in novum ordinem Digestae: Cum legibus Codicis et Novellis, quae lus pandectarum confinnant, explicant, aut abrogant, Praefatio. 48 Ebd., S. LXVII. 45
46
§ 1 Frankreich
35
decemuntur, sive in Regum nostrorum Edictis, sive in peculiaribus diversarum Galliae regionum Consuetudinibus"49.
Ausgangsmaterial für die Darstellung der einzelnen Institute ist der Rechtskreis, dem die Institute entstammen. D.h. je nach Provenienz überwiegt in der Darstellung römisches Recht oder französisches Gewohnheitsrecht. Indes werden auch solche Institute, die im römischen Recht keine Entsprechung fmden, an römisch-rechtlichen Bezugspunkten - in Gestalt von maximes oder regles de droit - ausgerichtet. Zum Rückkaufsrecht der Verwandten von Nachlaßgegenständen aus der Erbmasse (retrait) stellt Pothier zunächst fest, daß dies eine rein französische Institution sei: "Le retrait lignager ne nous est pas venu du droit romain .... le retrait lignager est donc de pur droit fran~ais"50. Dennoch subsumiert er die gewohnheitsrechtliche Aussage unter einen römisch-rechtlichen Grundsatz, wie etwa zur Natur des Rückkaufs und seiner Abbedingbarkeit: ., ... si l'acheteur declarait, par le contrat, qu'il entend que l'heritage par lui acquis, quelque long temps qu'il demeure par la suite dans sa familie, ne soit pas sujet au droit de retrait lignager, lorsqu'il plaira a celui de ses descendans, qui s'en trouvera en possession, de l'aliener hors de la familie, une teile declaration serait de nul effet, c'est le cas de cette regle de droit: Privatorum conventio juri publico non derogat; I. 45, § 1, ff. de Re. 1..,51
Im Artikel zu den "contrats et actes qui ne sont pas equipollens a vente, ni par consequent sujet au retrait" wird die "maxime: Nemo invitus vendere cogitur" zitiert. Ähnliche Verwendungsweisen durchziehen auch die übrigen "traites ,,52 . Dem liegt ein Verständnis des römischen Rechts zugrunde, das dieses weitgehend mit dem Naturrecht identifiziert. Das Naturrecht aber bildet die eigentlichen Koordinaten, an denen das Gewohnheitsrecht auszurichten isf 3 • Auch
49 Ebd., S. LXVI. Pothier, traite des retraits, in: Oeuvres de Pothier, hier Ausgabe Brüssel 1830, Bd. 2, Nr. 4. 51 Ebd. 52 Vgl. etwa traite de la societe, Nr. 159; traite des servitudes reelles, Nr. 11; Traite des servitudes, Nr. 15; traite des donations, Nr. 110. 53 Diese Vorgehensweise wird an Pothiers' Ausführungen zu Eigentumsübertragung deutlich: Ausgangspunkt ist die Überlegung, ob der Eigentumsübergang in der strengen Form durch die - römische - traditio zu erfolgen hat, oder ob - wie nach Pufendorf - die Einigung bereits den Eigentumsübergang bewirkt. Pothier entscheidet sich für die rö50
36
1. Kapitel: Droit fran~ais und ius gennanicum
wenn Pothier die Überordnung des römischen Rechts gegenüber dem Gewohnheitsrecht weniger deutlich ausspricht als Domat, so werden auch bei Pothier nur Sätze des römischen Rechts mit der Güte von maximes belegt und so mit dem Anspruch sachlicher wie räumlicher Universalität belegt. Im Unterschied zu Domat wird diese Qualität dem römischen Recht aber nicht explizit zugeschrieben; es fehlt gerade an einer methodologischen Einordnung in philosophische Theorien zum Verhaltnis des römischen zum einheimischen Rechf4 •
V.
Fran~ois
Bourjon
Die Bedeutung des Systemgedankens - eingebettet in ein rationalistisches Naturrecht - für die Gewinnung leitender Prinzipien verdeutlicht schließlich Frant;ois Bourjon55 , von dem eine der "plus celebres syntheses anterieures au Code civil"56 stammt. Während Domat und Pothier auf einer romanistischen Grundlage arbeiten, bearbeitet Bourjon französisches Gewohnheitsrecht und hier insbesondere die Coutume von Paris. In seinem "Droit commun de la France" kritisiert er die mangelnde systematische Durchdringung vorhergehender Arbeiten zum Droit Commun57 , das er, entsprechend dem Vorbild Domats für ,das Droit civil (d.h. das römische Recht), ebenfalls in seine "ordre nature I" bringen möchte: " .. reduire la Coutume aux principes et aux decisions; ... diviser le tout de fa~on qu'on trouve sous un meme titre, sous um meme chapitre tous les decisions ... C'est par I'ex-
misch-rechtliche Lösung: "Quoi qu'il en soit de cette question, traitee selon le pur droit naturei, que nous abandonnens a la dispute de l'ecole, le principe du droit romain, que le domaine de propriete dime chose ne peut passer d'une personne a une autre que par une tradition reelle de la chose, etant un principe re~u dans la jurisprudence comme en convient ceux qui sont de I'opinion contraire, nous devons nous y tenir", traite de la domaine de propriete, Nr. 245. Hiervon macht Pothier für den Fall, daß der Erwerber bereits im Besitz der Sache ist, eine Ausnahme, bezeichnet jedoch auch dies als "exception toute naturelle", ebd., S. 246. 54 Luig (Fn. 36) spricht insoweit von einer "persuasive authority", S. 841. 55 Franfois Bourjon, Le droit commun de la France, et la coutume de Paris, reduits en principes, tires des loix, des ordonnances, des arrets, des jurisconsultes & auteurs, & mis dans l'ordre d'un commentaire complet & methodique sur cette coutume, Paris 1747. 56 Arnaud (Fn. 23), S. 159. 57 "Les plans de ses Commentaires se reduisent a deux especes; par les uns, on a suivi la iettre de la coutume, et on I'a commentee dans cet ordre, sans y reunir ce qu'elle supposait", Bourjon, Dissertation (Fn. 55), ohne Paginierung.
§ I Frankreich
37
actitude des decisions qu'on fait voir toutes les matieres, et toutes leurs branches se presenter dans leur ordre, sans peine, sans recherches, et naUre par degres les unes des autres; en UD mot, faire sur le Droit commun de la France, joint avec la Coutume de Paris, dans I'ordre naturel qu'elle doit y occuper, ce que I'exact et le methodique M. Domat a fait sur le Droit civil.. "SI
Bourjon geht von der ursprünglichen Einheit des französischen Gewohnheitsrechts aus: "Dans les commencemens de la domination des Franyais dans les Gaules, les Coutumes qu'ils y avoient apportes etoient uniformes"s9. Diese ursprüngliche Einheit bildete die "loi generale", d.h. eine für das gesamte Volk einheitliche und verbindliche Rechtsaussage, die erst durch politische und historische Prozesse aufgelöst wurde: "si leur uniformite eut toujours subsiste, elles seroient plutot parvenues fection, aleur incorporation avec la portion adoptee de la loi generale"6O.
a leur per-
Die "loi generale" aber bezeichnet nichts anderes als die "equite naturelle"61. So wie für Domat gerade die intensive wissenschaftliche Bearbeitung des römischen Rechts und dessen Abstraktionskraft Indiz rur dessen überpositive Geltung ist, ist für Bourjon derselbe Aspekt für den überpositiven Geltungsanspruch der Coutume von Paris ausschlaggebend: "On regarde la Coutume de Paris, comme une des coutumes mieux redigees, cependant comme les autres, elle suppose une loi generale"62.
Hinsichtlich der methodisch - systematischen Darstellung ist es Bourjons Anliegen, aus den Bestimmungen der Coutumes Prinzipien und allgemeine Grundsätze zu extrahieren. Dem liegt offenbar die Auffassung zugrunde, daß die Coutume zwar einserseits die loi generale63 in sich trage, die konkreten rechtlichen Ausprägungen aber andererseits nicht notwendig mit dieser korrelieren: "Reduisse la Coutume & toutes les suppositions qu'elle fait, aux principes & decisions, parce que les principes rapproches sont plus consequens & plus sensibles ... lors'qu' une majesteuse simplicite leur est naturelle; reduction d'ailleurs sans laquelle il seroit impossible de parvenir au point de vue general qui est I'aime de lajustice".
Ebd. Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 4.
S8
S9
1. Kapitel: Droit fran~ais und ius gerrnanicum
38
§ 2 Deutschland Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gewinnt die wissenschaftliche Bearbeitung des deutschen Rechts mehr Raum. Das deutsche Recht stellte allerdings im Gegensatz zum römischen eine recht diffuse Ansammlung verschiedenster Partikularrechte dar, die ohne äußere Ordnung nebeneinander standen. Zum Ordnungsfaktor der Systemerrichtung des deutschen Privatrechts werden die naturrechtlichen Systementwürfe64 • Thieme weist nicht zu Unrecht darauf hin, daß die stärker pragmatische Ausrichtung der Wissenschaft vom lus Germanicum dieser Entwicklung durchaus Vorschub leistete. Um es mit einem anderen Wort Thiemes zu beschreiben: "Die nationale und territoriale Differenzierung des europäischen Gemeinrechts ... segelte auch in Deutschland ... unter der Flagge des Naturrechts"65.
I. Johann Stephan POtter
Ein Protagonist dieser Richtung ist der Göttinger Gelehrte Johann Stephan Pütter66 , der bereits der späten Epoche des Naturrechts angehört. Seine Bedeu-
tung filr die Rechtsentwicklung in Deutschland manifestierte sich in mehreren Bereichen: Neben der wissenschaftlichen Bearbeitung deutschrechtlicher Quellen war er einer der "großen Weichensteller in der Systemgeschichte der
Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts (Fn. 4), S. 672. Thieme, Naturrecht und Roemisches Recht, in: Gesammelte Schriften (Fn. 4), Bd. 11, S. 727. 66 Pütter (1725-1807) war ein erster Exponent der "Göttinger Schule", die sich insbesondere durch ihren Pragmatismus und ihr Systemstreben auszeichnete. zu Pütter vgl. Wilhelm Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan PUtter aus Iserlohn, Göttingen 1975; Klaus Luig, Johann Stephan PUtter, in: Stol/eis (Fn. 11), S. 504 ff.; Heinrich Marx, Die juristische Methode der Rechtsfindung aus der Natur der Sache, Göttingen 1967; Wol/gang Neusüß, Gesunde Vernunft und Natur der Sache. Studien zur Juristischen Argumentation im 18. Jahrhundert, Berlin 1970, S. 76 ff.; Schlosser (Fn.2), S. 134; Roderich Stintzingl Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft,3 Bde., München 1880 ff., hier Bd.1I1/1, München 1910, S.331 ff.; Hans-U1rich Stühler, Die Diskussion um die Erneuerung der Rechtswissenschaft, Berlin 1978, S. 114 ff. 64
65
§ 2 Deutschland
39
deutschen Rechtswissenschaft"67. Eines seiner bedeutendsten Werke erscheint 1757 unter dem Titel "Entwurf einer Juristischen Encyclopädie", 1767 in erweiterter zweiter Auflage unter dem Titel "Neuer Versuch einer Juristischen Encyclopädie und Methodologie"6B. Hauptzweck des Werkes war die - heute so selbstverständliche - Trennung der Rechtsmassen nach ihren Materien. In der Encyclopädie legt er auch seinen Systementwurf dar: Es entspricht dem Geist der Zeit, an die Spitze eines jeglichen juristischen Systems das Naturrrecht zu stellen: "Unter allen Theilen der Rechtsgelehrsamkeit gebührt die erste Stelle dem Rechte der Natur, weil solches keinen andem Theil der Rechte voraussetzt, und hingegen zu allen übrigen die allgemeinen Begriffe und Grundsätze enthält,,69.
Obwohl Pütter selbst in Halle noch bei Christian Woljf Vorlesungen zum Naturrecht gehört hatte, will er darunter nicht jenes spekulative Naturrecht WoljJscher Prägung verstanden wissen70, das in erster Linie durch "metaphysisch-logische Spekulation"71 gewonnen wird. Indes scheint es, daß er mit dieser Aussage, das Naturrecht enthalte die "allgemeinen Begriffe und Grundsätze des Rechts"72, eher der zeitgenössischen juristischen Hermeneutik eine - in dieser Zeit durchaus selbstverständliche - Referenz erweisen wollte: Denn diese "allgemeinen Grundsätze" vermögen letztlich nichts gegen das Gesetz oder eine anerkannte Gewohnheit auszurichten: "Bey allen positiven Rechten bestehet das Wesentliche in der Kenntniß dessen, was die Gesetze verordnen, oder was Gewohnheit oder Herkommen mit sich bringet. Je mehr sich aber ein positives Recht der Vollkommenheit nähert, je eher läßt es sich in ein System von richtigen Begriffen und Sätzen bringen, deren Vergleichung in der so
Ehel (Fn. 66), S. 60. Zu dem Buch Ehel (Fn. 66), S. 62 ff. 69 Johann Stephan Pütter, Neuer Versuch einer Juristischen Encyclopädie und Methodologie, Göttingen 1767, IV. Hauptstück, Von der in der Rechtsgelehrsamkeit selbsten zu gebrauchenden Methode überhaupt und von dem mit dem Rechte der Natur und der Politik zu machenden Anfang, § 118, kursiv v. Verf. 70 So ausdrücklich in der Litteratur des Teutschen Staatsrechts, 4 Bde., Göttingen 1776, Bd. I, § 253, S. 444: "Nur das war gefehlt, das manche jetzt solche Wahrheiten, die man aus ganz anderen Quellen schöpfen muß, bloß philosophisch und am Ende meist nur aus angenommenen Begriffen und Sätzen demonstrieren wollten, indem zu einer gründlichen Wissenschaft es ihnen genug zu seyn schien, wenn eine Reihe von Begriffen und Sätzen in gewissen Zusammenhang geknüpft und in das äußerliche Gewand eines sogenannten Beweises eingehüllet wäre" . 71 Neusüß (Fn. 66), S. 77. 72 Pütter (Fn. 69), § 118. 67
68
40
I. Kapitel: Droit fran~ais und ius gennanicum
genannten Analogie des Rechts eine neue Art von Rechtsquellen abgeben kann ... Und in Fällen, wo es sowohl an Gesetzen als Gewohnheits = Rechten fehlet, müssen seIbst positive Rechte oft durch allgemeine Grundsätze des Rechts der Natur ergänzet werden. Allein so lange irgend etwas aus Gesetzen oder Gewohnheits = Rechten erörtert werden kann, so müssen solche immer das Hauptstück ausmachen,t13.
Die Grundsätze des Naturrechts bilden das Ideal einer Gesetzgebung, sie müssen ihr "ein Heiligthum" sein, vermögen sie aber nicht außer Kraft zu setzen oder auch nur zu korrigieren 74 . Ein Rückgriff auf die "allgemeinen Grundsätze des Naturrechts" ist daher nur bei Versagen aller anderen Erkenntnismöglichkeiten zulässig: "Nur da, wo Gesetze schweigen, wo Herkommen oder Gewohnheit mangelt, und wo selbsten die Analogie des positiven Rechts aufhört, findet eine Erörterung aus allgemeinen Grundsätzen des Natur- und Völkerrechts statt. Im System, das sich der Rechtsgelehrte von seinem positiven Rechte bildet, kann er dem ungeachtet von seiner allgemeinen Erkenntniß Gebrauch genug machen'07S.
Über die Bedeutung der "allgemeinen Grundsätze" als ein "Heiligthum der Gesetzgebung" hinaus, gewinnen diese in einem zweiten Bereich - dem des deutschen Rechts - an Relevanz; bei der Gewinnung deutsch-rechtlicher juristischer Aussagen aus den unterschiedlichen partikularen Gewohnheitsrechten: "Unumgänglich wird dazu erfordert, erst eine Anzahl solcher Fälle, wie sie durch Gesetze oder Gewohnheitsrechte entschieden sind, in Reihen zu stellen, wie sie auch gewissen Fächern Ähnlichkeiten zusammengehören; damit andere ähnliche oder entgegenstehende Fälle zu vergleichen; über die Veranlassung und den wahren Grund ... nachzudenken ... um daraus erst eine richtige Bestimmung der darunter zum Grunde liegenden allgemeinen Grundsätze herauszubringen"76.
73 Ebd., V. Hauptstück, § 120, kursiv v. Verf. 74 "Billig wird als Grundsatz in Abhandlungen aller positiven Rechte festgesetzt: daß, solange etwas aus Quellen, die denselben eigen sind, d.i. aus Gesetzen oder damit gleichgültigen Gewohnheits- oder Observanzrechten, erörtert weerden kann, solche niemals hindangesetzt oder mit schlüpfrigen Beweisgründen angenommener Begriffe und venneintlich demonstrierter Sätze verwechselt werden sollen", Pütter, Encyclopädie, I. Aufl., § 64. Den Prinzipien des Naturrechts billigt Pütter eine Bedeutung nur zu," um Rechtspraxis und Nonnenbestand ordnen zu können, nicht um das positive Recht zu ersetzen", Luig (Fn. 66), S. 505. 7S Ebd., § 65, kursiv v. Verf. 76 Ebd., S.4, kursiv v. Verf.
§ 2 Deutschland
41
Ausgangspunkt Pütters' Überlegungen ist die These, daß das gemeine deutsche Privatrecht nicht bereits per se Geltung besitze77 • Die Rechtsbücher seien kein positives Recht, das Reichsrecht untauglich zur Systembildung und die Partikularrechte verftlgten nur über einen begrenzten räumlichen Geltungsbereich. Das gemeine deutsche Privatrecht könne daher nur in der wissenschaftlichen Theorie gebildet werden, und zwar durch Analogie und Abstraktion78. Diese "induktive Verfahrensweise"79 der Gewinnung der allgemeinen Grundsätze weist Pütter den Rechtsgelehrten ZU80. Die so gefundenen Rechtssätze bezeichnet er in Anlehnung an die Naturwissenschaften als "Hypothesen"8). Indes sind diese Hypothesen nicht unumstößlich, handelt es sich doch um Sätze, "die man nicht völlig als ungezweifelte Wahrheiten beweisen kann, die man aber aus erheblichen Gründen einstweilen rur wahr annimmt, bis man in der Folge etwa eines besseren belehrt wird."'2 Die praktische Relevanz dieser Methode wirkt sich vor allem auf das deutsche Privatrecht aus, dem sich so gemeinsame Grundsätze entnehmen lassen. "Pütter hat als erster das Problem erkannt, das sich aus dem Umstand ergab, daß die Quellen des deutschen Rechts größtenteils partikulärer Natur waren, es also einer Methode bedurfte, aus diesen Bruchstücken gemeindeutsche, territoriale Lücken schließende Rechtssätze zu gewinnen"83. Es ist dies indes ein Gedankengang, den schon andere Rechtswissenschaftier des 18. Jahrhunderts (wie etwa Heineccius oder Beyer) vorgezeichnet hatten, indem sie die Möglichkeit der Konstruierbarkeit des gemeinen deutschen Rechts zugrunde legten84 . In diesem Zusammenhang werden "allgemeine Grundsätze" zu einem wesentlichen systembildenden
77
71.
Pütter, Elementa juris germanici privati hodierni, Göttingen 1748, §§ 52, 66, 70,
78 Dazu Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts (Fn. 4), S. 709. Stühler (Fn. 66), S. 117. 80 Pütter, Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürstenrechte, 2 Bde., Göttingen 17771779, Bd. I, S. 4, 5. 8) "Ohne solche Hypothesen würden die Kenntnisse unseres Zeitalters in der Physik, Astronomie und Philosophie unstreitig bey weitem noch nicht so aufgeklärt seyn, als sie wirklich sind" Pütter (Fn. 80), S. 6. 82 Ebd., S. 6. 13 Ebel(Fn. 66), S. 85; "So zeigen sich doch Spuhren genug, daß die damaligen Gewohnheitsrechte in ganz Teutschland viel übereinstimmendes gehabt, deren Erörterung aber die Schwierigkeit hat ... daß eine mühsam sorgflHtige Vergleichung einer unzehligen Menge Urkunden dazu gehöret". Pütter (Fn. 69), § 61. 84 Dazu auch Hans Schlosser, Das "wissenschaftliche Prinzip" der germanistischen Privatrechtssysteme, in: Gerd Kleinheyer/ Paul Mikat (Hrsg.), Gedächtnisschrift Hermann Conrad, Paderborn 1979, S. 498. 79
42
1. Kapitel: Droit fran~ais und ius gennanicum
Konstrukt, derer sich PUtter in zwei unterschiedlichen Kontexten bedient: "Allgemeine Grundsätze" als Teil einer höheren Normebene, die das positive Recht überlagert und ergänzt, sind uns bereits bei Domat begegnet, auch wenn Pütter ihnen letztlich weniger Raum gewährt. Sie stellen ein gesetzgeberisches Ideal und - bei Versagen aller positiven Rechte und der Analogie - auch eine Erkenntnisquelle des Rechts dar. In der praktischen Anwendung kommt ihnen aber wohl nur eine recht untergeordnete Relevanz zu. Dies deckt sich auch mit einer Analyse der Gutachtertätigkeit Pütters: Wie Ehel in seiner Untersuchung nachgewiesen hat, fmdet in Pütters' Rechtsgutachten nicht eine Entscheidung ihre ausschließliche Stütze im Naturrecht oder einem "allgemeinen Grundsatz des Naturrechts". Eine Erwähnung fmdet sich allenfalls an den Stellen, an denen eine Begründung aus dem positiven Recht unsicher scheint, hier wird die getroffene Entscheidung als "mit den Grundsätzen des Naturrechts übereinstimmend" bezeichnet85 . Bedeutender ist jedoch das zweite Wirkungsspektrum allgemeiner Grundsätze bei Pütter, welches bei der wissenschaftlichen Systematisierung des gemeinen deutschen Rechts relevant wird: Im Bereich des "deutschen" Rechts, des ius germanicum, fehlte "ein auch nur annähernd gleich umfassender Apparat positiv geltender Normen"86. Das deutsche Recht stellte sich vielmehr als ein Konglomerat verschiedenster und teilweise einander widersprechender Rechtsbücher, Reichsgesetze und Partikularrechte dar, das - wollte es dem geschlossenen römischen Recht entgegentreten - eines Ordnungsprinzips und der Systematisierung bedurfte. Auch die Praxis verlangte nach einer "wissenschaftlichen, generalisierenden Verarbeitung"87. Hier nun werden die mittels Analogie aus den Partikular- und Gewohnheitsrechten gebildeten "allgemeinen Grundsätze" zum Fundament des Lehrgebäudes. Eine in sich heterogene und unsystematische Rechtsmasse wird auf allgemeine Grundsätze zurückgefilhrt; diese wirken als Träger der allgemeinen Rechtsaussage systembildend fiir einen Rechtskreis.
85 Dazu Ehel (Fn. 66), S. 77. 86 Marx (Fn. 66), S. 57. 87
Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts (Fn. 4), S. 681.
§ 2 Deutschland
43
11. Johann Friedrich Reitemeier
Johann Friedrich Reitemeier (1755-1839) gehörte wie Pütter der sog. Göttinger Schule anl l • Seine Verdienste liegen vor allem in den Arbeiten zu einer neuen Systematisierung des Rechtsstoffes, verbunden mit der Einbeziehung der Rechtsgeschichte 89 . Sein bedeutendstes Werk, die Encyclopädie und Geschichte der Rechte in DeutschlarufO, trägt diesem Anliegen Rechnung91 . Bewußt vollzieht er die Abkehr von der strengen naturwissenschaftlichen Methode: "Man hat, wie es scheint, alles aus den Grundsätzen des natürlichen Rechts entwikkein zu können geglaubt, und ist in dieser Vorstellung zu sehr über die eigentlichen Gränzen desselben hinausgegangen"92.
In seiner "Encyclopädie" unterscheidet er zwei Normbereiche, das Naturrecht und das positive Recht, den "Abstracten" und den "individuellen" Teil des Rechts. "Der erstere ist ein Stück der Philosophie und enthält die allgemeinen und zu allen Zeiten unveränderlichen Sätze; der zweyte gehört eigentlich zur Geschichte und ist ein Inbegriff der individuellen, nach Ort, Zeit und anderen Eigenschaften veränderlichen Sätze"93. Dieser "abstracte" Teil des Rechts (den Reitemeier synonym mit "Naturrecht" benutzt) bildet die "allgemeinen Grundsätze". Diese müssen aus "den Vorschriften der Vernunft und des Gewissens abgeleitet werden"94 und sind "vom geschichtlichen Geschehen losgelöst"95. Die 88 Zu Reitemeier Arno Buschmann, Enzyklopädie und Recht, in: Gerhard Köbler (Hrsg.), Wege europäischer Rechtsgeschichte, Festschrift für Karl Kroeschell, FrankfurtlM. 1987, S. 29 ff.; Dilcher (Fn. 9), S. I ff.; Gerd Kleinheyerl Jan Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, l. Aufl. Karlsruhe 1976, hier 3. Aufl. Karlsruhe 1989, S. 359; Stühler (Fn. 66), S. 119 ff.; Hans Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts (Fn. 4), S. 645. 89 Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts (Fn. 4), S. 646 f. Reitemeier unterschied sich von Pütter insbesondere dadurch, daß er die "rechtliche Systematik höher" schätzte, Lars Björne, Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert, Ebelsbach 1984, S.23. 90 Johann Friedrich Reitemeier, EncycJopädie und Geschichte der Rechte in Deutschland, Göttingen 1785. 91 "Ob man diese Wissenschaft bereits in ihrem vollen Umfange bearbeitet, nach ihrer Natur methodisch behandelt und in einer unverbesserlichen Sprache vorgetragen hat, dies sind Fragen, welche der Ausspruch des Kenners nicht zum Lobe der Wissenschaft beantworten wird", Reitemeier, EncycJopädie (Fn. 90), Vorrede, S. XI, XII. 92 Reitemeier, Allgemeines Deutsches Gesetzbuch aus den unveränderten brauchbaren Materialien des gemeinen Rechts in Deutschland, Frankfurt/Oder 1802, Vorrede, S. IV. 93 Reitemeier, EncycJopädie (Fn. 90), Vorrede, S. XVIII. 94 Ebd., S. XVII.
I. Kapitel: Droit fran~ais und ius gennanicum
44
allgemeinen Grundsätze reichen jedoch nicht aus, "den Geist der Gesetze vollständig zu entdecken"96. Dies ist ein Vorwurf, den er den Naturrechtlern entgegenhält: "Es war daher nicht der rechte Weg eingeschlagen, wenn man vonnals die Gründe der Römischen Gesetze aus den allgemeinen Grundsätzen und zwar allein aus dem strengen Naturrecht ableiten wollte,,97.
Diese "Naturalisten" hätten lediglich in der Jurisprudenz "den Philosophen gespielt"98. Vielmehr sei fUr die Entwicklung der Rechtswissenschaft der Blick auf die "Gründe der Gesetze" zu richten, "die aus den individuellen Lagen und Beschaffenheiten der Staaten" resultierten99 • In seiner Darlegung der EntstehungsgrUnde des positiven Rechts stellt er - in z. T. expliziter Anlehnung an Montesquieu - auf den gesellschaftlichen Zustand ab lOo• "So bald aber Gesellschaften entstehen, so bilden sich, nach der Verschiedenheit des Locals, der Größe, der Wohlhabenheit, der Verfassung, der Religion, der Sitten und Cultur in diesen Gesellschaften, ungleiche und immer veränderliche Lagen und Verhältnisse und eben daher auch ungleiche und veränderliche Gesetze, die nicht immer ganz nach den Grundsätzen des allgemeinen, abstracten Rechts bestimmt werden können, sondern nach der jedesmaligen Beschaffenheit der individuellen Lagen und nach den Regeln einer dieser Lagen angemessenen Politik abgefaßt werden müssen"IOI.
Die Einordnung Reitemeiers gestaltet sich problematisch: Ungerechtfertigt erscheint die Einschätzung Landsbergs lO2 , Reitemeier stehe "noch ganz unter der Herrschaft des Naturrechts". Zwar unterscheidet auch Reitemeier noch zwei Normbereiche, den naturrechtlichen (=abstrakten) und den positivrechtlichen (=individuellen), doch bedient er sich keines material geschlossenen Naturrechtssystems lO3 • Auch vermögen die allgemeinen Grundsätze des Naturrechts kein vollständiges rechtswissenschaftliches System zu erstellen, dazu ist stets erforderlich, auch auf den individuellen Teil des Rechts Bezug zu nehmen:
Buschmann (Fn. 88), S. 43. Reitemeier, Encyclopädie (Fn. 90), Vorrede, S. XVIII. 97 Ebd., XVIII. 91 Ebd. 99 Ebd. 100 Dazu Stühler (Fn. 66), S. 121. 101 Reitemeier, Encyclopädie (Fn. 90), Vorrede, S. XIX. 102 Stintzing/ Landsberg III/I, S. 498. 103 Stühler (Fn. 66), S. 121. 95
96
§ 2 Deutschland
45
"auf die Gründe (der Gesetze), die aus den individuellen Lagen und Beschaffenheiten der Staaten auf die Bestimmung der Gesetze wirken"I04. Auf diese Weise lassen sich auch dem positiven Recht allgemeine Grundsätze entnehmen: "Man gehe in dieser Absicht auf den ersten Zustand der Gesellschaften zurück und beobachte die allmählichen Veränderungen in denselben mit den Ursachen, welche diese Veränderungen hervorbrachten. Denn auf diesem Wege werden sich sichere Grundsätze entdecken lassen, aus denen man die Eigenheiten der Gesetzgebungen bey allen Völkern und zu allen Zeiten erklären kann"lOs. Durch historische Betrachtung und die "Lehre von den drei Ständen"I06 erhält
Reitemeier so allgemeine Grundsätze des positiven Rechts. Mit den Regeln des abstrakten Rechts ist diese Ebene nicht mehr zu erfassen, "Verschiedenheit des Locals ... , Wohlhabenheit ... , Verfassung ... , Religion ... , Sitten und Cultur" bedingen "ungleiche und immer veränderliche Lagen und Verhältnisse und eben daher auch ungleiche und veränderliche Gesetze, die nicht mehr ganz nach den Grundsätzen des allgemeinen, abstracten Rechts bestimmt werden können, sondern nach der jedesmaligen Beschaffenheit der individuellen Lagen ... "107. Insgesamt läßt Reitemeier diese allgemeinen Grundsätze jedoch recht unbestimmt. Die beiden Grundsätze des positiven Privatrechts, die er in seinem 1806 erschienenen Werk "Über Gesetzgebung, insbesondere in den Deutschen Erblanden" anfilhrt, lauten: "Jeder kann Privatrechte erwerben, insofern dies die Gesetze nicht beschränken"IOI sowie "Jeder hat, sofern die Gesetze keine Einschränkung machen, den freien und ausschließlichen Genuß der rechtmäßig erworbenen Privatrechte"I09.
Reitemeier steht rur eine Epoche, in der sich die Wendung von der "Deduktion zur Empirie" vollzieht llo . Die Protagonisten dieser Richtung voll104 Reitemeier, Encyclopädie (Fn. 90), Vorrede, S. XVIII; "... nicht mehr die herauspräparierte Regel, sondern ihre Einbettung in Zeit und Ort interessiert." Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts (Fn. 4), S. 644. lOS Reitemeier, Encyclopädie (Fn. 90), Vorrede, S. XXI. 106 Stühler (Fn. 66), S. 121; Buschmann (Fn. 88), S. 39. Reitemeier nennt den "Stand der Freyheit oder der außergesellschaftliche", den "Stand der Familie" sowie den "Stand der bürgerlichen Gesellschaft" oder "den öffentlichen Stand", Encyclopädie (Fn. 90), S. XVIII. 107 Reitemeier, Encyclopädie (Fn. 90), Vorrede, S. XIX. 101 Reitemeier, Über Gesetzgebung, insbesondere in den deutschen Reichsstaaten, Göttingen 1806, S. 92. 109 Ebd., S. 93.
46
1. Kapitel: Droit fran~ais und ius germanicum
ziehen eine Synthese zwischen Naturrecht und historischer Empirie. Auch die Reitmeiersehe Konzeption der "abstracten" Gründe des Rechts stammt noch aus
einem naturrechtlichen Kontext, indes aus einem bereits stark relativierten. So weist Stühler 111 daraufhin, daß sich die zwei genannten "Grundsätze des positiven Rechts" lediglich formal defmieren lassen, nicht jedoch inhaltlich. Diese Aufgabe bleibt dem Gesetzgeber überlassen. Eine solche inhaltliche Fassung hätte wohl auch nicht dem Anliegen Reitemeiers entsprochen. Unmittelbares Anliegen der "Encyclopädie" war zunächst eine Neuorganisation des Studiums und - damit einhergehend - die Überwindung der traditionellen Lehrart, die die Materien des römischen, deutschen und kanonischen Rechts gesondert behandelte. Nach dem Vorbild der französischen Encyclopädie ll2 sollten "alle Wissenschaften und Künste in ein umfassendes logisches und historisches System" gebracht werden, "um so eine Art 'Genealogie' oder 'Stammbaum', der sich aus ihrer inneren Verwandtschaft selbst ableitet, zu erstellen"1I3. In diesem System kommt es zu einer engen Genese der abstrakten mit der individuellen Normebene; aus vorher selbständigen Disziplinen werden nunmehr Bestandteile einer geschlossenen, systematisch geordneten Rechtswissenschaft; "Allgemeine Grundsätze" werden im Laufe dieses Prozesses zum systembildenden Konstrukt, induktiv abgeleitet aus dem positiven Recht oder aber aus den "Vorschriften der Vernunft und des Gewissens".
111. Justus Friedrich Runde
Einer der bedeutendsten Systemtheoretiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts, der besonders um die die Wissenschaft des deutschen Privatrechts bemüht war, ist Justus Friedrich Runde(l741-1804)114. Runde war als Professor in Kassel und Göttingen tätig und beschritt mit der konsequenten Rechtsgewinnung aus der "Natur der Sache" methodisch neue Wege. 1791 erschien die erste Auflage der "Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechts". Mit diesem
110 Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts (Fn. 4), S. 646. 111 Stühler (Fn. 66), S. 123. 112 Dazu Ernst Cramer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, S. 263 ff. 113 Buschmann (Fn. 88), S. 45. 114 Zu Runde vgl. Neusüß (Fn. 66), S. 93 ff.; Kleinheyer/ Schröder (Fn. 88), S. 348; Stintzing/ Landsberg (Fn. 66), Bd. 11111, S. 451 ff.; Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts (Fn. 4), S. 684.
§ 2 Deutschland
47
Werk wurde auf dem Gebiet des gemeinen deutschen Rechts ein neuer Abschnitt eröffnet. In der Vorrede übt Runde Kritik an der bisherigen Darstellung des gemeinen deutschen Rechts und stellt dem sein Programm gegenüber: "Meine Absicht bey dieser Arbeit geht weiter und ist auf nichts Geringeres gerichtet, als auf eine gänzliche Refonn der bisher gewöhnlichen Behandlungsart" IIS. Bestand die bisherige Vorgehensweise darin, Rechtssätze oder -grundsätze durch den Vergleich der "besonderen Provinzial- und Stadtgesetze,,116 zu gewinnen, so billigt Runde dieser Methode allenfalls Nutzen zu, um "ganz unerwartete Aufschlüsse über die Entstehung und endliche Ausbildung gewisser heutzutage gangbarer Rechtsgrundsätze"ll7 zu erhalten. Nicht geeignet ist diese Vorgehensweise jedoch mit dem Bestreben, ein "System practischer Rechtsgrundsätze"118 auszuarbeiten: "Sollte überdem auf diesem Wege noch etwas zweckmässiges ausgerichtet werden, so müßten solche Statuten und Landesordnungen, aus deren Übereinstimmung man allgemeine Rechtsgrundsätze fonniren will, nicht einzeln - nicht bey halben und ganzen dutzenden, sondern bey hunderten angefilhrt ... werden"1I9.
Runde ist nach eigener Aussage um ein System bemüht, das auf "allgemeine Grundsätze gerichtet ist, die zugleich als Einleitung in das durch eigenen Fleiß hernach leicht zu unternehmende Studium der besonderen Privatrechte einzelner Lande und Orte dienen können"120. Anders als noch Pütter lehnt er das Auffmden der "allgemeinen Rechtsgrundsätze" mittels Analogie jedoch ab: "Jede besonderen Entscheidungsnonnen enthalten nämlich lauter positive Vorschriften. Wenn ihrer auch neunundneunzig übereinstimmen, so ist die daraus fonnierte
IIS Justus Friedrich Runde, Grundsätze des allgemeinen deutschen Privatrechts, l.Auft. Göttingen 1791, Vorrede, S. VII. 116 Ebd., Vorrede, S. VIII. 117 Ebd., Vorrede, S. VIII. 118 Ebd., Vorrede, S. IX. 119 Ebd., Vorrede, S. X. Das deutsche Privatrecht definiert er wie folgt:"Nach all dem läßt sich folgender Begriff des deutschen Privatrechts fonniren: Es ist der Inbegriff der ursprünglich deutschen Gesetze und Gewohnheiten, nach welchem Rechte und Verbindlichkeiten in Privatverhältnissen und Privatgeschllften bestimmt sind. Die Kenntniß der hieraus abzuziehenden Rechtsgrundsätze macht die deutsche Privatrechtsgelehrsamkeit aus", ebd., § 6, kursiv v. Verf. 120 Ebd., Vorrede, S. XII.
1. Kapitel: Droit fran~ais und ius germanicum
48
Regel dennoch in dem hundertsten Lande oder Stadt kein Gesetz und es würde Torheit sein, daraus ... eine gemein gültige rechtliche Ausflucht zu formieren" 121. Damit ist einer Analogie die Grundlage entzogen; da die deutschen Landesund Gewohnheitsrechte als positives Recht eingefUhrt wurden, können sie nur in ihrem Geltungsbereich Wirkung beanspruchen, eine Ausdehnung auf andere Gebiete verbietet sich indes. Dennoch sieht sich auch Runde vor das Problem der Quellenvielfalt gestellt. Was setzt nun Runde der Pütter'schen Methode der Rechtsfmdung mittels Analogie entgegen? Eine Antwort gibt er selbst in seinen Ausfilhrungen zu den "Quellen des heutigen deutschen Privatrechts". Als solche gibt er an: 1) die allgemeinen deutschen Reichsgesetze.. 2) die allgemeinen Landesordnungen.. 3) die Stadtrechte.. 4) Ursprünglich deutsche Gewohnheitsrechte... 5) wo alles dieses nichts bestimmt, da sind allgemeine, aus der Natur der Sache selbst abgezogene Rechtsgrundsätze als Hauptquelle des gemeinen deutschen Privatrechts
zu betrachten .. 122
Runde bedient sich keiner eindeutigen Terminologie, so spricht er von "Rechtsgrundsätzen aus der Natur der Sache", oder aber von "Grundsätzen aus der Natur der Sache". Eindeutig kommt diesen aber eine eigene Rechtsquellenqualität ZU123. Ihre Normqualität bemißt sich nach Naturrecht: "Was in Ermangelung solcher positiven gemeinen deutschen Rechte aus der Natur der
Sache oder eines den Deutschen eigenen, durch Gesetze, Gewohnheiten oder Vertrag unter Privatpersonen anerkannten Rechtsinstituts richtig gefolgert werden kann, ist ebenfalls so gemein gültig und geltend als die gesunde Vernunft und hat bei Entscheidung der Streitigkeiten wie andere Grundsätze eines hypothetischen Naturrechts in jedem Falle Anwendung, wo es an positiven Bestimmungen fehlt,,124. Auch Runde bedient sich somit eines hypothetischen, relativen Naturrechts; hypothetisch insofern, als es "an bestimmte Zustände der menschlichen Gesellschaft anknüpft und diese zu seiner Entstehung voraussetzt"12S; relativ, als es mit dem Wandel dieser Voraussetzungen ebenfalls Veränderungen unterliegtl26.
121 Ebd., S. IX. 122 Ebd., 11. Hauptstück, 3. Abschn., § 40, kursiv v. Verf. 123 Ebd., § 80. 124 Ebd., § 80. 12S Marx (Fn. 66), S. \02. 126 Zum Ganzen auch Thieme, Die Zeit des späten Naturechts (Fn. 4) S. 684 ff.
§ 3 Italien
49
Auch die allgemeinen (Rechts-) Grundsätze sind in dieses hypothetische Naturrecht eingebettet und folglich ebenso wandelbar. Rundes methodisch wichtigstes Element sind die Grundsätze aus der Natur der Sache, denen er eine eigene Rechtsquellenqualität beim ißt. Das auf einen konkreten Sachverhalt angewandte und aus einem hypothetischen Naturrecht vernünftig Gefolgerte wird positives Recht, so wie der aus einem Partikularrechtssatz gemäß der Natur der Sache gefundene Rechtsgrundsatz dort gemeines Recht ist, wo "der Gegenstand vorhanden ist, auf den er sich bezieht" 127.
§ 3 Italien Von einer "italienischen Entwicklung" in der Zeit des Ancien Regime zu sprechen bereitet Schwierigkeiten, denn den Begriff des "Italienischen Rechts" kannte man im 18. Jahrhundert nicht, nicht nur bedingt durch die territoriale Zersplitterung, sondern durch die Tatsache, daß es keine Statutar- oder Partikularrechte gab, die nicht auf römisch-rechtlicher Grundlage beruhten l28 •
I. Gaetano Filangieri
Es soll daher an dieser Stelle auf das Werk des Neapolitaners Gaetano Filangieri eingegangen werden, der in rechtstheoretischer Hinsicht mit seinem Hauptwerk "La scienza della legislazione" (1780 erstmals in Neapel erschienen) die Gesetzgebungswissenschaft des späten 18. Jahrhunderts nachhaltig beeinflußte l29 • Filangieri ist einer der bedeutendsten Vertreter der neapolitanischen Aufklärung, zugleich aber auch in die europäische Diskussion eingebet-
Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts (Fn. 4), S. 684. Luig (Fn. 8), S. 94. 129 Hier wurde die von Vittorio Frosini, Gaetano Filangieri, La scienza della legislazione, Textausgabe mit Einleitung von Frosini, Rom 1984 editierte Ausgabe benutzt. Vgl. zu Filangieri auch Paolo Becchi, Die Anfänge der Wirkungsgeschichte Filangieris in Deutschland, Saarbrücken 1982; Sergio Cotta, Gaetano Filangieri e il problema della legge, Torino 1954; ders., Montesquieu e Filangieri, in: Revue internationale de Philosophie IX (1955); Peter Fritzsche/ Lutz R6ssner, Der neapolitanische Aufklärer Gaetano Filangieri: Erziehung-Politik-Friedliche Revolution, Braunschweig 1988; P. Gentile, L'opera di Gaetano Filangieri, Bologna 1914. 127
128
4 Jacoby
1. Kapitel: Droit fran~ais und ius germanieum
50
tet 130• Politisch versteht er sich - als Anhänger des aufgeklärten Absolutismus als Reformator l3l , der die "pacifica rivoluzione" anstrebt und dazu einen umfangreichen Plan entwirft. Filangieris Scienza della legislazione bietet daher unter mancherlei Aspekten Anlaß zur Diskussion; das Werk umfaßt nicht nur juristische Materien, sondern beschäftigt sich auch mit der Ökonomie (economia), Politik (politica) und Erziehung (educazione), entwirft somit eine Art "politica deI diritto"132. Methodisch steht er Montesquieu nahe, was auch in der häufigen Bezugnahme Filangieris auf den französischen Juristen zum Ausdruck kommt, jedoch mit einem Unterschied: "Montesquieu eerea in questi rapporti 10 spirito delle leggi, ed io vi eereo le regole" 133
Montesquieu sucht den Geist der Gesetze, den esprit des lois zu erkunden, Filangieri ihre Regeln, es geht ihm weniger um die Deskription eines Zustandes als um die Mittel seiner Beeinflussung und Veränderung. Rössner bezeichnet Filangieris Ansatz als einen "technologischen", "Gesetze sind ihm ein Mittel zur Beeinflussung bzw. Verbesserung der Situation der Menschen und der Gesellschaft; die Gesetzgebungswissenschaft war fUr ihn ... eine technologische Wissenschaft, innerhalb derer erörtert und begründet wird, welche Mittel als technologisch effektiv angesehen werden können, um die Situation der Menschen und der Gesellschaft gemäß festgesetzter Zielrichtungen beeinflussen zu können"134. In diesem empirisch-technischen Regelwerk, das er in der scienza della legislazione entwirft, spielen oberste Grundsätze als "oggetto unico ed universale della legislazione dedotto dall'origine delle societa civili" eine tragende Rolle l3s . Hauptziel Filangieris ist das Erreichen freier und glücklicher Lebensbedingungen fUr alle Menschen, rur die er zwei zentrale Komponenten ausmacht, die Erhaltung (conservazione) und die Ruhe oder Sicherheit (tranquillita): " Qualunque fosse 10 stato degli uomini prima della formazione delle societA eivili, quaIunque fosse I'epoea di questi riunioni, qualunque la loro primitiva eostituzione, qualunque il piano sul quale esse furono foggiate, non si pub dubitare ehe una fu la
130
Cotta, Gaetano Filangieri (Fn. 129), S. 36; Rössner (Fn. 129), S. 21.
132
Frosini (Fn. 129), S. XXII.
131 Rössner (Fn. 129), S. 22.
133 Filangieri (Fn. 129), piano raggionato dell'opera, S. 26. 134
13S
Rössner (Fn. 129), S. 34. Filangieri (Fn. 129), S. 47.
§ 3 Italien
SI
causa che le produsse, uno il principio che le fece nascere: I'amore della conservazione edella tranquillita" 136. Dies sind nach Filangieri "l'oggetto unico ed universale della legislazione"137 und müssen von jeder Gesetzgebung befolgt werden, die das gesellschaftliche Ideal anstrebt. Im 2. Kapitel filhrt Filangieri sodann aus "di cio che si com-
prende sotto il principio generale della tranquillitA edella conservazione, e de risultati che ne derivano"l3B: "La conservazione riguarda I'esistenza, e la tranquillita riguarda la sicurezza"l39. Diesem "principio universale della conservazione edella tranquillitii' ist jeder Gesetzgeber verpflichtet und "ogni parte della legislazione sani dunque destinata a recare alla societA uno di questi benificii". Um die conservazione und tranquillita zu wahren, müssen nach Filangieri mehrere Voraussetzungen gegeben sein: "Der Mensch kann sich nicht ohne Mittel erhalten, auch kann er nicht in Ruhe leben, wenn er nicht davor sicher sein kann, beeinträchtigt zu werden. Daher muß die Möglichkeit gegeben sein, im Wohlstand zu leben, die Freiheit zu erweitern, das Eigentum zu vermehren und zu erhalten. Es muß ohne Mühe möglich sein, sich die notwendigen Lebensmittel zu verschaffen und die nützlichen Güter zu erlangen, die das Leben angenehm machen. Es muß Vertrauen in die Regierung, in die Behörden und in die Mitbürger bestehen, und es muß Sicherheit dahingehend gegeben sein, keine Nachteile zu erfahren, wenn man sich innerhalb der Vorschriften der Gesetze bewegt. Diese Grundsätze ergeben sich aus dem universalen Grundsatz, Erhaltung und Ruhe zu befördern. Jeder Teil der Gesetzgebung muß somit einem dieser Grundsätze entsprechen, und jedes Gesetz, das der Gesellschaft nicht eine der aufgezählten Wohltaten bringt, ist daher nutzlos" 140.
Ebd., S. 47. 137 Ebd., S. 49. 138 Ebd., S. SO. 139 Ebd., S. 59. 140 Deutsche Übersetzung von Rössner, S. 39. Filangieri schreibt im Italienischen: "Ma I'uomo non pub conservarsi senza mezzi, ne pub esser tranquiIIo, se non e sicuro di non poter esser molestato. PossibilitA dunque d'esistere, e d'esistere con agio; Iibertfl d'accrescere, migliorare e conservare la sua proprietA; facilitA nell'aquisto de'generi neccessarj 0 utili nel comodo della vita; confidenza nel governo; confidenza ne'magistrati; confidenza negli altri cittadini; sicurezza di non poter esser turbato, operando secondo il dettame delle leggi, questi sono i risultati dei principio universale della conservazione edella tranquillitA. Ogni parte della legislazione deve dunque corrispondere ad uno di questi risultati. Ogni legge, che non reca alla societA uno di questi beneficj, e dunque inutile", Piano raggionato, S. 25. 136
52
1. Kapitel: Droit fran~ais und ius germanicum
Es ist dies einer der Hauptverdienste Filangieris, die Erkenntnis, daß es zur gesellschaftlichen Planung der Nonnierung aller Lebensbereiche bedarf'41. Was die konkrete Ausgestaltung der Nonnbereiche betriffi, so unterscheidet Filangieri zwei Bereiche, die nach ihrer "Güte" (bonta) unterschieden werden. Um gerechte Gesetze zu erhalten, sind zwei Nonnebenen zu beachten: Die erste bezeichnet er als die "bonta assoluta", d.h. Gesetze mit universeller Güte und Gültigkeit, die in " annonia co'principii universali della morale, comuni a tutte le nazioni, a tutti i govemi, ed adattabili in tutti i climi" stehen. Dieses "diritto di natura" enthält "i principii immutabili di cio che e giusto ed equo in tutti i casi,,142. Als Beispiel hierzu nennt er "che i prodotti deI suolo coltivato da un altro non gli possono appartenere senza il consenso deI proprietario" 143. Ebenfalls Gegenstand der "bontä assoluta" ist filr Filangieri die "rivelazione" (die geoffenbarte Religion) als "10 svilippo e la modificazione de principii universaU della morale"I44. Die zweite Nonnebene bezeichnet er als die bonta relativa (Gesetze relativer Güte), d.h. die konkreten Umstände, die die Gesetzgebung bestimmen. Die Gesetze relativer Güte müssen den klimatischen, politischen, religiösen und ökonomischen Verhältnissen des Landes, in dem sie zur Anwendung kommen sollen, angemessen sein. Um dies zu verdeutlichen, stellt er zwei Beispiele gegenüber: "Un legislatore odia le ricchezze, bandisce dalla sua repubblica I'oro e I'argento, proibisce iI commercio, procura di stabil ire una ineguagllianza di condizioni, e per conservarls regola le doti e dirige le successioni"14S. "Un legislatore d'un altra repubblica, separata dalla prima da un spazio di poche leghe, pensa tutto all'opposto"I46. Dennoch sei es nicht möglich, festzustellen, welche der beiden Gesetzgebungen die bessere sei, da dies von den konkreten Umständen abhänge, "il rappor-
141 Cotta, Gaetano Filangieri (Fn. 129) schreibt: "Rispetto agli altri iIIuministi Filangieri ha la giusta consapevolezza di aver affrontato iI problema della legislazione in tutta la sua organicitA, di aveme ddelineata tutta I'architettura essenziale. Ed e questa senza dubbio iI suo merito principale: I'aver portato con estrema coerenza I'esigenza normativa in tutti i settori della vita sociale. ", S. 62. 142 Ebd., S. 55. 143 Ebd. 144 Ebd., S. 58. 14S Ebd., S. 62. 146 Ebd., S. 63.
§ 4 Zusammenfassung
53
to tra le leggi, e 10 stato della nazione che le riceve,,14'. Insgesamt ist festzuhalten, daß Filangieri über einen Nonnbereich der regole generali bzw. principi universali verfUgt, dem er universelle Anwendbarkeit zuspricht.
§ 4 Zusammenfassung Die Verbindung nationaler juristischer Systementwürfe mit den Postulaten des rationalistischen Naturrechts fand im 18. Jahrhundert gleichennaßen in Deutschland und in Frankreich statt. In beiden Rechtskreisen wurden allgemeine Rechtsgrundsätze, principes generaux oder maximes generales zum Medium der Ausarbeitung juristischer Aussagen eines sich neu bildenden Rechtskreises. In Frankreich fUhrte dies über die Zusammenfassung des römischen mit einheimischem Gewohnheitsrecht, wobei insbesondere das römische Recht mit dem Anspruch universeller Geltung - in zeitlicher, sachlicher und räumlicher Hinsicht - versehen wurde und mittels der Zuweisung zu maximes, principes oder lois immuables überpositive Geltung beanspruchen konnte. Demgegenüber nahm die Entwicklung in Deutschland, schon wegen des unterschiedlichen Verständnisses des Geltungsgrundes des römischen Rechts, einen anderen Verlauf; römisches und deutsches Recht standen zumeist eher getrennt nebeneinander. Allgemeine Grundsätze oder Rechtsgrundsätze wurden im Bereich des ius germanicum zu einem wichtigen system- und synthesebildenden Konstrukt, das der Homogenisierung eines an sich heterogenen Rechtskreises diente. Innerhalb dieses Entwicklungsstranges unterlagen aber auch die "allgemeinen Rechtsgrundsätze" einem Wandel: Pütter extrahiert sie mittels Analogie aus einer vorgegebenen Nonn; die Gewinnung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ist also an das Vorhandensein einer nonnativen Regelung geknüpft. Es gelang Pütter nicht, aus der historischen Analyse zu abstrahieren und ein allgemeingültiges System zu entwerfen; seine durch Abstraktion oder Analogie gewonnenen Grundsätze bestimmen sich rein empirisch. Runde gelingt es, mit der Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze aus der Natur der Sache auch den nicht nonnativ vorgeprägten Bereich zu erfassen. Damit entfällt zugleich die Legitimationsschwierigkeit, der das Püttersche System ausgesetzt ist, das nur von einem vorgegebenen und geschichtlich bewiesenen Rechtssatz Ausgang nehmen konnte. 14' Ebd. Gentile (Fn. 129) zitiert zum "genio dei popolo" ein Beispiel Filangieris: "11 francese, vivace, facile all'invenzione, raffinato al gusto ... Lo spagnolo invece, ruvido, onesto, attaccato e fedele ai suoi usi secolari", S. 18.
54
1. Kapitel: Droit fran~ais und ius gennanicum
Die entstehende Gesetzgebungswissenschaft, filr die beispielhaft Reitemeier und Fi[angieri angefUhrt wurden, bedient sich eines Stammes an allgemeinen Grundsätzen oder principi generali als oberste Güte- und Ordnungsfaktoren, denen - als Ausfluß des aufklärerischen Gesellschaftsentwurfes - jede Gesetzgebung unterworfen ist.
Il. Kapitel
Die naturrechtlichen Kodifikationen "Gift ne'troni non si paria d'altro che di leggi e di legislazione. Gift in favore di questa porzione dell'umanita, che I'Europa contiene, una pacifica rivoluzione si prepara"·.
Aus dem Bündnis des Vernunftrechts mit der Aufklärung erwächst gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Kodifikationsbewegung2 • Die aufklärerische Kritik beinhaltet die Forderung nach gesellschaftlicher Erneuerung, die das Überkommene beseitigen und eine neue Ordnung an seine Stelle setzen soll, die dem Gesellschaftsentwurf des Naturrechts entspricht. Die Herrschaft der Vernunft bei der gesellschaftlichen Neuorganisation scheint der Aufklärung nur durch neue und umfassende Gesetze zu sichern zu sein. "Die Rechtsideale der Aufklärung fUhren mithin mit die Notwendigkeit zur Aktivität des Gesetzgebers. Denn er, der Gesetzgeber, und nicht der Richter ist das Werkzeug, mit dem die Vernunft den Neubau der menschlichen Gesellschaft vollzieht.") Der • Gaetano Filangieri, La scienza della legislazione, Introduzione, Neapel 1708, S. 5, hier zitiert nach der von Vittorio Frosini, Rom 1984 editierten Textausgabe. 2 Allgemein zu methodischen Fragestellungen der Kodifikationsgeschichte Reiner Schulze, Geschichte der neueren vorkonstitutionellen Gesetzgebung, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 98 (1981), S. 157 ff. ) Helmut Coing, Savignys rechtspolitische und methodische Anschauungen in ihrer Bedeutung für die gegenwärtige deutsche Rechtswissenschaft, in: ders., Gesammelte Aufsätze, 2 Bde., FrankfurtlM. 1982, Bd. 1, S. 178 ff., 180. Die Tätigkeit des Richters beschränkte sich somit auf eine "kognitive Handlung, auf eine bloße Subsumtion", ders .. Zur Vorgeschichte der Kodifikation: Die Diskussion um die Kodifikation im 17. und 18. Jahrhundert, in: La formazione storica dei diritto modemo in Europa, Atti dei terzo congresso della Societa Italiana di storia dei Diritto, 3 Bde., Firenze 1977, Bd. 3, S. 805 f. ; vgl. dazu auch Guido Astuti, La codificazione dei diritto civile, in: La formazione storica dei diritto modemo in Europa, Atti dei terzo congresso della Societa Italiana di storia dei Diritto, 3 Bde., Firenze 1977, Bd. 3, S. 847 ff.; Pio Caroni, Stichwort "Kodifikation" , in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 1978, Sp. 915; Reiner Schulze, Französisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Französisches Zivilrecht in Europa während des 19. Jahrhunderts, Berlin 1994, S. 1 ff., 18 ff. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 324 ff.; ders., Aufstieg, Blüte und Krisis der Kodifika-
56
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen
"Zauberstab der Gesetzgebung" wird zum Mittel rur die Verwirklichung sozialer Gestaltungsentwürfe4 • Neben die inhaltlichen Forderungen an die neuen Gesetzgebungen, die im wesentlichen die gesellschaftliche Neuplanung postulierens, treten technisch-juristische Anforderungen, die die formellen Kategorien bestimmen. Wenn mit Hilfe des Gesetzes die Staatsgewalt der bürgerlichen Gesellschaft zu maximalem Glück verhelfen sollte, so mußte gewährleistet sein, daß die Gesetze eine möglichst genaue Anwendung erfuhren. Der Gedanke der richterlichen Rechtsfortbildung ist der Aufklärung daher weitgehend fremd6 ; der Rechtsspruch des Richters wird zum "Machtspruch degeneriert"7. Andererseits wußte man um die Unzulänglichkeiten eines Gesetzbuches und die Unmöglichkeit, jede sich stellende rechtliche Frage von vorneherein zu erfassen. Die Lösung des Problems lag in den Rechtsfindungsregeln, die den Richter auf die "natürlichen Rechtsgrundsätze", die "Grundsätze des Gesetzbuches" oder die "principes generaux" verwiesen. In dem vorliegenden Arbeitszusammenhang ist dabei insbesondere das Spannungsfeld von Interesse, in dem
tionsidee, in: Festschrift für Gustav Boehmer, Bonn 1954, S. 43 ff. Damit verbunden ist die Nationalisierung der Rechtswissenschaft: "Les codes du 1ge siecle n'ont pas ete le produit du nationalisme juridique, mais celui de I'Ecole du droit nature!. 11 est paradoxal que la codification, qui devait marquer le triomphe de cette Ecole, ait engendre une generation de juristes nationalistes, strictement positivistes ... " Rene David, L'avenir des Droits Europeens: Unification ou Harmonisation, in: ders., Le Droit Compare: Droits d'hier, droits de demain, Paris 1982, S. 295 ff., 298. 4 Schulze, Französisches Recht (Fn. 3), S. 20. S Hierzu zählen insbesondere die Arbeiten von Filangieri, La scienza della legislazione, Neapel 1780; Charles Secondat de Montesquieu, De l'esprit des lois, Paris 1748; Mably, De la legislation ou principes des lois, Paris 1776; Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene, 1746; Jeremy Bentham, A fragment on government, I. Aufl. London 1776; ders., Codification proposal, adressed by Jeremy Bentham to all nations professing liberal opinions, London 1822. Zu Bentham Julius Hatschek, Bentham und die Geschlossenheit des Rechtssystem. Eine Kritik und ein Versuch, in: Archiv für öffentliches Recht 24 (1909), S. 442 ff.; 26 (1910), S. 458 ff. Insgesamt zu dieser Epoche Detlev Merten (Hrsg.), Montesquieu. Vorträge und Diskussionsbeiträge der 57. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1989 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1989. 6 Coing, Savignys rechtspolitische und methodische Anschauungen (Fn. 3) S. 180. 7 Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1986, S. 39. Allgemein dazu Christian-Friedrich Menger, Moderner Staat und Rechtsprechung, in: Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Bd. 361, Tübingen 1968.
§ 1 Bayern
57
sich die Forderung nach einer klaren Gesetzesabfassung - frei von Kasuistik8 und der Möglichkeit ft1r den Richter, auch rechtsfortbildend zu arbeiten - und dem rechtsstaatlichen Gedanken der strikten Bindung des Richters an das Gesetz andererseits9 bewegten. Dies waren die beiden Pole, die bei den Gesetzgebungsarbeiten die Diskussion um die al/gemeinen Rechtsgrundsätze bestimmten.
§ 1 Bayern Den Übergang zum naturrechtlichen KodifIkationszeitalter markierte der bayrische Codex Maximilianeus Bavaricus CMUs (CMBC)IO. Die bayrische Gesetzgebung jener Zeit ist besonders von einem Mann geprägt, Wiguläus Aloysius Kreittmayr ll • Bereits seit den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts liefen in Bayern KodifIkationsprojekte, aus denen 1751 der Codex Juris havarici criminaUs l2 hervorging, ein noch ganz in der gemeinrechtlichen Tradition
8 Montesquieu, De l'esprit des lois, Livre XXIX, Chapitre XVI: "Le style en doit etre concis ... Le style des lois doit etre simple ... les lois ne doivent etre point subtiles; e1les sont faites pour des gens de mediocre entendement: elles ne sont point un art de logique, mais la raison simple d'un pere de familie". 9 "Mais les juges de la nation ne sont ... que la bouche qui prononce les paroIes de la loi, des etres inanimes qui n'en peuvent moderer ni la force, ni la rigeur", Montesquieu, De l'esprit des loix, livre XI, chapitre VI. 10 Die genaue Klassifizierung ist teilweise strittig, so spricht Wieacker von einem "Vorläufer des naturrechtlichen Kodifikationsstils (Fn. 3), S. 326. Astuti (Fn. 3) weist darauf hin, daß der Codex Maximilianeus "riproduceva nella sostanza il diritto territoriale vigente in Baviera", S. 858. 11 Zu Kreittmayr Eisenhart, ADB 17 (1883), S. 366 ff.; H. Rall, NDB 12 (1980), S.741 ff.; ders., Kreittmayr. Persönlichkeit, Werk und Fortwirkung, in: Zeitschrift fUr Bayrische Landesgeschichte 42 (1979), S. 47 ff.; Jan Schröderl Gerd Kleinheyer, Deutsche Juristen aus fUnf Jahrhunderten, 3. Aufl., Heidelberg 1989, S. 153 ff.; Stintzingl Landsberg Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 3 Bde., München 1880 ff., Bd. IIlfl, München 1910, S. 142 im Anhang; Michael Stolleis, Wigulaeus Xaverius Aloysius Ktreittmayr, in: ders., (Hrsg.), Juristen: ein biographisches Lexikon; von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 1995, S. 361. 12 Dazu Hans Schlosser, Der Gesetzgeber Kreittmayr und die Aufklärung in Kurbayern, in: Wiguläus Xaver Aloys Freiherr von Kreittmayr 1705-1790. Festschrift zum 200. Todestag, hg. v. Historischen Verein fUr Oberbayern, Richard Bauer, Hans Schlosser, München 1991, S. 1 ff., bes. S. 11; ders., Kritik an den Entwürfen des Freiherrn von Kreittmayr zum "Codex Maximilianeus", in: Georg Klingenberg, Michael Rainer,
58
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen
stehendes Gesetzbuch. 1753 folgte der Codex Juris bavarici judicialis, eine Zivilprozeßordnung und 1756 schließlich der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis l3 • Besonders letzterer, der hier Gegenstand der Untersuchung sein wird, trägt die Handschrift Kreittmayrs l4 • Der CMBC weist bereits einige jener Charakteristika auf, die in den folgenden Jahren die Gesetzgebungen in Frankreich, Österreich, Preußen und Baden bestimmen sollten, so z. Bsp. den "Vernunftglauben der neuen Zeit"15, oder die "zuversichtliche Gesamtplariung". Landsberg spricht von einem Gestzgebungswerk, "wie es in solcher Geschlossenheit, Einheitlichkeit, Vollständigkeit auszufUhren kaum einem Gesetzgeber je vergönnt gewesen ist"16. Aus dieser Sicht liegt eine Einordnung an den Beginn des naturrechtlichen KodifIkationszeitalters nahe. Andere modeme naturrechtliche Postulate fmden im CMBC hingegen keinen oder nur einen untergeordneten Niederschlag. Das Anliegen einer gesellschaftlichen Neuplanung kommt hier nicht zum Tragen, vielmehr sollte die Vielzahl der Rechtsquellen vereinheitlicht l7 und eine leistungsfähige "durchgehende Justiz Administration"18 geschaffen werden. Kreittmayr selbst bezeichnet den CMBC als "dieses heilsamste Werk, welches bereits vor tausend Jahren von König Dagoberto in Bayrn angefangen, von Theodone, Carolo Magno, Ludovico Bavaro, Maximiliano I. und andern glorreichsten Nachfolgern ... fortgesetzt, endlich aber unter höchstgedacht Ihro ChurfUrstlicher...Regierung so glücklich becrönt und vollendet worden ist. "19. Winiger betont, daß es diese "historische Kontinuität" sei, die den CMBC von den nachfolgenden KodifIkationen abhebe20 • Insgesamt erscheint eine Einordnung in die üblichen Schemata nur schwer möglich. Kreittmayr selbst gab an, der Codex "enthalte eben nicht viel Neues" und man
Herwig Stiegler (Hrsg.), Vestigia Iuris Romani, Festschrift für Gunter Wesener, Graz 1992, S. 395 ff. l3 Zur Gesetzgebungsgeschichte in Bayern im 18. Jahrhundert Schlosser, Kritik (Fn 12) mit weiteren Nachweisen. 14 Dazu Sten Gagner, Die Wissenschaft des gemeinen Rechts und der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, in: Coingl Wilhelm (Hrsg.), Die Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, 6 Bde., FrankfurtlM. 1974, Bd. 1, S. 1 ff. 15 Wieacker (Fn. 3), S. 327. 16 Stintzingl Landsberg (Fn. 11), S. 223. 17 So Wieacker (Fn. 3), S. 326. 18 Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem, 5 Bde., München MDCCLVIII, Bd. 1, Vorrede, S. 2. 19 Ebd. 20 Benidict Winiger, Das rationale Ptlichtenrecht Christian Wolffs, Berlin 1992, S.294.
§ 1 Bayern
59
sei bei "Verfertigung des Codicis Civilis nicht gern gegen den Strohm geschwommen"21. Dennoch lassen sich auch neue Ansätze nicht verkennen wie etwa der Rekurs auf die Grundforderung des rationalistischen Naturrechts, der Mensch solle "seiner Natur gemäß leben"22 . So fmden sich zwar im 1. Teil, 2. Kapitel § 9 der Anmerkungen an den Postulaten des rationalistischen Naturrechts ausgerichtete Rahmenbedingungen, doch werden diese "auf der wichtigsten Ebene der Nonnierung konkreter Rechtsfragen nicht eingelöst'l23. Besondere Bedeutungen kommt Kreittmayrs "Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem" zu, die er in engem Zusammenhang mit dem CMBC verstanden haben will und nach denen eine "Einheitswissenschaft des geltenden Rechts"24 vorgelegt werden25 soll. Kreittmayr selbst spricht von dem CMBC als einer: "Collation und Vergleichung des natürlichen mit dem Bürgerlichen, des Römischund Ausländischen mit dem Deutsch - und Einheimischen, des gemeinen mit dem Statutarischen, und endlich des alt- und mittleren mit dem allerneust- und dermaligen Chur- Bayrischen Landrecht,,26.
Schlosser bezeichnet die "Anmerkungen" als "das eigentliche, die Rechtssätze innerlich tragende und sie verbindende dogmatisch-theoretische Gerüst'027.
Wie auch in den nachfolgenden Kodiflkationen in Österreich, Preußen und Frankreich war sich auch der bayrische Gesetzgeber bewußt, "daß die Kodifikation des Rechts zusammen mit einer Reorganisation des Justizwesens zu einer Objektivierung der Rechtsidee fUhren mußte, die aber nur dann verantwortbar erschien, wenn das Ineinandergreifen des Räderwerks von Gesetzgebung und Rechtsprechung störungsfrei funktionierte"28. Dazu behalf man sich zunächst mit mehr oder weniger rigiden Interpretationsvorschriften29, die erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts einem weiteren richterlichen Funktionsbild wichen.
21 Anmerkungen I. Teil, 3. Kap. § 3 n. 2. 22 Ebd., § 4 n. 5. 23 Hans Schlosser, Der Gesetzgeber Kreittmayr (Fn. 12), S. 27 mit Beispielen. 24 Gagner (Fn. 14), S. 2 25 Zur Bedeutung der Anmerkungen auch Winiger (Fn. 20), S. 296. 26 Anmerkungen, Vorrede. 27 Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 6. Autl., S. 93. 28 Clausdieter Schott, Methodenvorstellungen im Gesetzeswerk Kreittmayrs, in: Wiguläus Xaver Aloys Kreittmayr (Fn. 12), S. 159. 29 Vgl. dazu die Gesetzgebungsgeschichte in Österreich.
60
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen I. Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis
Der CMBC enthält im 1. Teil 1. Kap. eingehende Interpretationsvorschriften: §9. Deutliche Gesetze und Ordnungen soll man·lmo nicht auszulegen suchen, sondern die Worte bey ihrer gewöhnlich- und Landläufiger Bedeutung ohne Verdrehung belassen. Dunkel oder zweifelhafte hingegen werden 2do entweder durch Rechtsgelehrte oder durch den Gebrauch oder den Gesetzgebern selbst ausgelegt, die erste Interpretation heißt doctrinalis, die andere usualis, die dritte authentica et legalis. Zu der letztem soll man 3tio erst alsdann schreiten, wenn die zwey erste zu Behebung des obwaltenden großen Zweifels in Thesi nicht hinreichen.
§1O. Bei der Doctrinalauslegung werden Imo zweifelhafte Worte ex mente et ratione legibus erklärt. 2do wird das Gesetz von einem hierin benannten Specialfall auf andere unbekannte Fälle aus der nämlichen oder stärkeren ration sowohl in Strafen als sonst ausgedehnt, hingegen aber 3tio ein in allzu generellen terminis lautende Ordnung in besonderen Fällen eingeschränkt, wenn offenbar und augenscheinlich ist, daß Ratio legis vollkommen und gänzlich hierin cessiert. Alle übrige bei denen Rechtsgelehrten findige Regeln sind 4to entweder von keinem Nutzen oder unter obigen schon begriffen. "
Die Doktrinalauslegung wird wiederum unterteilt in eine Interpretatio declarativa, extensiva und restrictiva. Besonders erstere ist hier von Interesse: Die Auslegung "declarativam" hat sich hiernach zunächst am Wort des Gesetzes "ex mente & ratione legibus" zu orientieren30, "nachdeme man aber in Gesätzen selten viel raisonirt, sondern nur kurz befthlet, so muß die Ursach, welche Legislatorem bewogen hat, zuförderist in Principiis domesticis & particularibus" gesucht werden. Kreittmayr bezeichnet damit die "Verfassung des Staates ... Genie des Volkes, ... Fontibus legem'l3l. Sind auch diese Prinzipien nicht zu ermitteln, "so kommt man auf principia communia, welche ultimat in Jure Naturae bestehen '032. Eine Auslegung nach den Allgemeinen Grundsätzen des Naturrechts soll demnach zulässig sein. Kreittmayr belegt dies mit der BegrUndung33 , "Daß das römische Recht theils ex rationibus Civilibus, theils naturalibus gesammelt seye, da nemlich unter den ersten keine andere, als rationes domesticae & particulares, welche dem Römischen Staat allein eigen wa-
Kreittmayr (Fn. 18), Bd. I, 1. Kap. § X. Ebd. 32 Ebd., kursiv v. Verf. 33 § 4.1. de 1. & 1. 30
31
§ 1 Bayern
61
ren, unter den letzteren aber omnibus gentibus communes verstanden seynd"34. Gleiches soll filr die Interpretation zweifelhafter Statuten gelten35 . Der Rekurs auf die Grundsätze des Naturrechts wird jedoch insofern relativiert, als es sich nicht um einen höheren Normvorrat handelt, sondern um eine Interpretationsanleitung im Rahmen eines bestehenden Gesetzestextes. Daß es sich zudem im Ergebnis vorwiegend um Sätze des römischen Rechts zu handeln scheint, die mit den principia communia bezeichnet werden, zeigen die AusfUhrungen Kreittmayers zum Recht des Eigentums und zum Recht des Besitzes in den Anmerkungen: Das Eigentum wird in den Kapiteln zwei bis vier des zweiten Teils des CMBC geregelt. Zum VerfUgungsrecht des Eigentümers schreibt Kreittmayr: "Wer das jus disponendi hat, der hat auch jus rem conservandi, samt der Befugnis, alle zu diesem Zwecke dienliche Mittel zu ergreifen. Engau eil L.2.§.55. qui enim habetjus adfinem. habetjus ad media. Aus diesem General-Principio kan ich z.B. mein Haus, Hof oder Feld mit Zäunen, Gräben ... vor Wild und anderen Schaden bewahren,,36.
Zum Beweis stützt er sich auf Engau, einen Autor des gemeinen Rechts 37, und entnimmt diesem Gedanken ein "General-Principio". Ähnliches ist beim Recht des Besitzes zu beobachten: in § VII n. 3 werden Lauterbach, Collegium theoretico-practicum pandectarum sowie Stryks Specimen usus modernus pandectarum als Belege angeführt: 34 Ebd. 35 "Vor diesem war zwar die allgemeine Sprach der Juristen, daß man zweifelhafte Statuta nach dem Sinn des Römischen Rechts auszudeuten, und hiernach einzuschränken, oder zu erweitern, jene aber, welche demselben entgegen wären, strictissime zu interpretieren, und als odiosa niemal in Consequenz zu ziehen hätte. Woraus eben das Axioma entstanden ist: Statuta sunt sterilia, nec pariunt sicut mulae. Die offenbare Grundlosigkeit und Absurdität aber von dieser irrigen Lehr, welche nur von den alten Legisten jenseits der Alpen ausgebrütet worden ist...daß solche nunmehr auch unser Codex gänzlich verwirft, und statt derselben die Regul vorschreibt, daß man mit Auslegung zweifelhafter Statuten ebenso, wie bei anderen Gesätzen ohne Unterschied verfahren soll. Da wir nun bereits oben ... unter anderen regulis rectae Interpretationis auch diese vernommen haben, daß man Rationem legis ex principiis domesticis und ex historia Juris zu ergründen suchen soll, so folgt ganz natürlich, daß in Interpretatione Statutorum zuvörderist auf den Originem Statuti, und ob solche in Jure Romano oder Germanico stecke, zu sehen seye. Erstenfalls ist die Auslegung des zweifelhaften Statuti ex Jure Romano der Vernunft ganz gemäß, weil das principium domesticurn gleichfalls darin steckt." Kreittmayr (Fn. 18), Bd. I, § XIII, Nr. 6. 36 Kreittmayr (Fn. 18) Bd. 2, zweytes Capitul § VI 3. (von dem Eigenthume). 37 Ebd.
62
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen
"Durch den Tod des Constituenten oder Constitutarii wird hirinfalls nichts geändert, vis enim eonstituti transit aetive & passive ad haeredes. Lauterb. §21 Stryk §20. eum aliis. worin also das Constitutum von der in § vo Seq.q.n.l. statuirten General-Regul, quod possessio non transeat ad haeredes, abweicht,,38.
Auch im Recht des Besitzschutzes (2. Teil, 5. Kap. §§ X-XII), das ebenfalls römisch-gemeinrechtlich geprägt ist, wird auf die Grundsätze des römischen Rechts als "Principiis generalibus" verwiesen: "Allein die natürlichist = und ungezwungneste Methode, welche man bereits in Cod. Jud. D.4.§.2 in not. g. cirea Aetiones überhaupt, folglich auch quo ad luterdicta & Actiones possessorias festgesetzt hat, ist wohl diese, da man von den letztem allhier nur die Generalia vortragt, Specialia hingegen bey jeder Materie, wo sie einschlagen, besonders anbringt, da zumalen die meiste von obrecensirten Interdictis specialibus gar nichts besonders in sich halten, sondern lediglich auf Principiis generalibus beruhen, welche wir unten de Remediis aequirendae. retinendae. vel reeuperendae possessionis zu vernehmen haben werden, derowegen sie auch der Mühe nicht lohnen, daß man denseIbe eigene Tituln in Corpore Juris anweiset,,39.
Insgesamt handelt es sich bei den hier herausgegriffenen Beispielen allesamt um Bereiche, in denen der CMBC klar die Lehren des römisch-gemeinen Rechts wiedergibt. Kreittmayr und mit ihm der CMBC war eben gerade nicht "ein Gegner des römischen Rechts" 40 , das Gesetzbuch stellt vielmehr eine "Kompilation des gemeinen Privatrechts seiner Zeit" 41 dar. Principia generalia oder General-Reguln bezeichnen in diesem Zusammenhang Grundsätze des römischen Rechts.
38 Kreittmayr (Fn. 18), Bd. 2, fünftes Capitul § VII 3. (Von dem Inhaben oder Possessions-Recht). 39 Ebd., § X.2. 40 So L. Hammermeyer, in: Handbuch der bayerischen Geschichte, hg. v. M. Spindler, Bd. 11, München 1969, S. 1079. 41 Gunter Wesener, Kreittmayrs Zivilkodex in dogmengeschichtlicher Sicht, in: Wiguläus Xaver Aloys Freiherr von Kreittmayr (Fn. 12), S. 99.
§ 2 Österreich
63
§ 2 Österreich § 7 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches lautet: "Läßt sich ein Rechtsfall weder aus den Worten noch aus dem natürlichen Sinne des Gesetzes entscheiden, so muß auf ähnliche, in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle und auf die GrUnde anderer, damit verwandten Gesetzen Rücksicht genommen werden. Bleibt der Rechtsfall dennoch zweifelhaft, so muß solcher mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und reiflich erwogenen Umstände nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden werden".
Diese Formulierung, die den Richter an das Naturrecht als Rechtsquelle verweist, war das Ergebnis eines gesetzgeberischen Prozesses, der Mitte des 18. Jahrhunderts mit einem noch gänzlich konträren Bild der richterlichen Befugnisse begann. Die KodifIkationsarbeiten, die 1811 in Österreich schließlich in das ABGB münden sollten, stehen am Ende einer Diskussion, die ihren Anfang bereits im 17. Jahrhundert nahm. 1671 regte Gottfried Wilhelm Leibniz42 , der als Reichshofratsmitglied auch in Wien wirkte, eine gesamtstaatliche Vereinheitlichung des Rechts der Länder und Nationen der Habsburger Monarchie an. Konkrete Formen nahm dieses Unterfangen aber erst nach 1749, nach der Zentralisierung der Justizverwaltung, an. 1753 setzt die Kaiserin Maria Theresia eine Kompilationshotkommission43 ein, die bei Aufnahme ihrer Tätigkeit am 5. November 1753 in Brünn ihr Programm mit der Feststellung umriß "es sollen die heilsamsten Ländergesetze gegeneinander gehalten, das Natürlichste und Billigste
42 Dazu Hans Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Heidelberg 1992, S. 474; Schlosser (Fn. 27), S. 111; zu der Kodifikationsidee Leibniz' vgl. Klaus Luig, Die Rolle des deutschen Rechts in Leibniz Kodifikationsplänen, in: lus Commune V, S. 56 ff. 43 Allgemein zur Kodifikationsgeschichte in Österreich Wilhelm Brauneder, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der österreichischen Monarchie von 1811, in: Gutenberg-Jahrbuch 1987, S. 205 ff.; ders., Vernünftiges Recht als überregionales Recht; Die Rechtsvereinheitlichung der österreichischen Zivilrechtskodifikationen 1786-1797-1811, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, S. 121 ff.; Philipp Harras von Harrasowsky, Geschichte der Codifikation des österreich ischen Civilrechts, Frankfurt 1968, hier bes. S. 38 ff.; Zum Codex Theresianus Werner Ogris, Recht und Staat bei Maria Theresia, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 1981, S. 1 ff.; Kurt Ebert, Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Ein Beitrag zur Zeit des späten Naturrechts in Österreich, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 1966, S. 104 ff.; Astuti (Fn. 3), S. 861.
64
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen
ausgewählet, der Abgang nach der gesunden Vernunft, dem allgemeinen Naturund Völkerrecht ergänzet, nach Bedürfniß neue Satzungen vorgeschlagen und sogestalt die Länderrechte, ohne allen Vorurtheil ftlr eines oder das andere, in Gleichförmigkeit gebracht werden"404. Es sollte kein neues, "aus der Vernunft abgeleitetes"4s Gesetzbuch erarbeitet werden, vielmehr sollten die Landesrechte einer Harmonisierung zugefUhrt werden und nur bei Lückenhaftigkeit durch Naturrecht ergänzt werden. Die Kompilationskommission war sich der Unterschiede zwischen den Partikularrechten bewußt und fUhrte dies auf die "Verschiedenheit der Sitten und Gewerbe"46 zurück. Daraufhin wurde folgende Vorgehensweise festgelegt: "Wann ein Unterschied zwischen denen Länderrechten vorkommet, ist auf dessen Ursprung zu sehen, und damit solcher entdecket werde, soweit als möglich hinauf zu gehen, bis auf ein Hauptprincipium gelanget werde, worinnen die zum Augenmerk habenden Länderrechte entweder ausdrücklich übereinkommen oder wenigstens nichts enthalten, so diesem Principio entgegen wären. Ein solches Hauptprincipium ist unstrittig für den natürlichsten und billigsten Grundsatz zu halten und wird offenbar in dem Natur- und Völkerrechte gegründet sein,,4'.
Aus Sätzen des Gewohnheitsrechts werden induktiv Prinzipien gebildet, die als Ausfluß des Naturrechts qualifiziert werden. Das Kommissionsmitglied Ho/ger sprach dies explizit aus, das Gewohnheitsrecht sei in der Regel "von dem allgemeinen Natur- und Völkerrechte abgeleitet"48. Dem liegt ein Naturrechtsverständnis zugrunde, das das Naturrecht als "rationales Ordnungs- und Ausleseprinzip"49 versteht, nicht aber als etwas "Abstraktes, apriori Konzipiertes, welches dem überlieferten Rechtsgut entgegengestellt wird, sondern größtenteils den Hauptprinzipien des heimischen Rechts, des gemeinen Rechts ... immanent" isfo. Die Landesrechte sollten nicht um ihrer selbst willen einer
44 Zitiert nach Harrasowsky, Codex Theresianus, herausgegeben und mit Anmerkungen versehen, Bd. I, Wien 1883, S. 3. Dazu Katarzyna S6jka-Zielinska, L'equite et les codes civils du XIXe siede, in: La formazione storica dei diritto modemo in Europa, 3 Bde., Firenze 1974, Bd. 2, S. 995 ff., 999. 4S Brauneder, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (Fn. 43), S. 220; Hans von Voltellini, Der Codex Theresianus im österreichischen Staatsrat, in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des ABGB, S. 3 ff. 46 Harrasowsky (Fn. 43), S. 63. 4' Zitiert nach Harrasowsky (Fn. 44) I, S. 17, kursiv v. Verf. 41 Ebd., S. 19. 49 Ebert (Fn. 43), S. 109. so Ebd.
§ 2 Österreich
65
Vereinheitlichung zugeftlhrt werden, aus ihnen wie aus anderen "diversen Materialien" galt es, "ein logisches Gesetzbuch zu konstruieren"sl. Der erste Teil des Codex Theresianus (Cn wird 1758 vorgelegt, die folgenden Teile (die sich über insges. 8 Bände erstreckten), konnten erst 1766 von dem Hofrat Johann Bernhard von Zenclrer vorgelegt werdens2 . Der erste Teil des CT enhält in Caput 1 § 5 Rechtsfmdungsregelungen S3 , die ein "ängstlich enges Funktionsbild des Richters" entwerfen: 81. Jedermann ist an die ausdrücklichen Worte Unserer Gesetzen und ihrem wahren und allgemein üblichen Verstand gebunden. Niemandem ist dahero gestattet, sich einer rechtskräftigen Ausdeutung Unserer Gesetzen anzumaßen, noch unter dem Vorwand eines Unterschieds zwischen den Worten und dem Sinne des Gesetzes solche auf einerlei Weise zu erweiteren oder einzuschränken. 82. Wir verbieten auch allen Richteren, unter dem nichtigen Vorwand einer von der Schärfe der Rechten unterschiedenen Billigkeit von der klaren Vorschrift Unserer Gesetzen im Mindesten abzugehen. 84. Woferne aber dem Richter ein Zweifel vorfiele, ob ein vorkommender Fall in dem Gesetz begriffen seie oder nicht, oder da ihme das Gesetz selbst dunkel schiene, oder ganz besondere und sehr erhebliche Bedenken der Beobachtung des Gesetzes entgegen stünden, so ist die maßgebige Erklärung des Gesetzes allemal bei Uns anzusuchen. 85. Damit Wir jedoch nicht ohne Noth mit Belehrungen über den Verstand Unserer Gesetzen behelligt werden, so gestatten und wollen Wir gnädigst, daß, wann entweder ein bei Gericht anhängiger, in dem Gesetz nicht wörtlich ausgedrückter Fall in allen fürwaltenden Umständen und in der ganzen Beschaffenheit der Sache mit einem in dem Gesetz ausdrücklich entschiedenen Fall vollkommen übereinstimmte und somit die Bewandtniß beider Fällen einerlei wäre, oder Unsere höchste Willensmeinung aus der im Gesetz klar ausgedrückten Ursache, daß Wir alle nicht buchstäblich berührte Fälle von der nämliche Beschaffenhait gleichfalle unter dem Gesetz begriffen haben wollen, offenbar erhellete, der Richter sodann ohne fernerer Anfrage oder Anstand fiirgehen möge und solle.
Diese sehr restriktive Regelung, die keinen Raum filr eine Interpretation oder Auslegung der Gesetze ließ, entsprach der Forderung der frühen Gesetzgebungswissenschaft des 18. Jahrhunderts, "daß der Richter strikt an das Gesetz gebunden sein und nur den Gedanken des Gesetzes vor dem konkreten Fall
Brauneder, Vernünftiges Recht (Fn. 43), S. 131. Dazu Brauneder, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (Fn. 43), S.212. S3 Zum Ganzen Schott, Rechtsgrundsätze und Gesetzeskorrektur, Berlin 1975.
SI
S2
S Jacoby
66
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen
aussprechen solle"54. Diese Angst vor richterlicher Willkür wird umso verständlicher, wenn man bedenkt, daß die Interpretation selbst als eine eigenständige Rechtsquelle verstanden wurde55 : "Nicht weniger sollen alle Ausdeutungen und Erweiterung der Einschränkung Unserer Gesetzen durch Gewohnheiten außer dem Fall, wo das Gesetz sich auf wohl hergebrachte Landesverfassungen, Gebräuche und Gewohnheiten ausdrücklich beziehet, je und allzeit verboten, unkräftig und nichtig sein, und vielmehr die Vorschützung solcher unstandhafter Gewohnheiten wider die klare und buchstäbliche Vorschrift der Gesetzen nach richterlichen Ermessen bestrafet werden,,56.
Bemerkenswert ist hierbei, daß dieses richterliche Funktionsbild, so wie es Eingang in den CT gefunden hatte, keineswegs unumstritten war. So stellte das Mitglied der Kompilations-Kommission Ho/ger fest, "daß in den österreichischen Ländern bei der Anwendung eines Gesetzes auch der Sinn und die Motive der Gesetze nach allgemeinen Grundsätzen erwogen werden, daß man übrigens auch zur Verminderung der Behelligung durch Anfragen von der Analogie mit Zuhilfenahme der Doctrin oder natürlichen Billigkeit Gebrauch mache"57. Diese Unterscheidung in der Interpretation nach "Wortlaut" einerseits und "Sinn des Gesetzes" andererseits wurde von der Revisions Kommission entschieden zurückgewiesen. Mit einer solchen Unterscheidung werde richterlicher Willkür Vorschub geleistet, zudem sei die "Redaction des Gesetzes" so beschaffen, daß Sinn und Wortlaut des Gesetzes nicht divergierten 5B . Dies mag seine Stütze auch darin fmden, daß die Kommission per se davon ausging, materiell naturrechtliche Prinzipien formuliert zu haben. Wie der Text des CT zeigt, konnte sich die Revisions-Kommission mit ihrer Ansicht durchsetzen. Der CT erwies sich insgesamt als Gesetzbuch unbrauchbar; durch seinen Umfang entsprach er eher einem "Lehrbuch des gemeinen Rechts der damaligen Zeit"59, als daß er den Erfordernissen einer zeitgemäßen KodifIkation gerecht wurde. Kaiserin Maria Theresia befahl mit Handschreiben vom 4. 8. 1772 erneut eine Umarbeitung, wobei insbesondere zu beachten sei, daß sich 54 Coing, Zur Vorgeschichte der Kodifikation (Fn. 3), S. 815; Hermann Conrad, Richter und Gesetz im Übergang vom Absolutismus zum Verfassungsstaat, Graz 1971. 55 Dazu Brauneder, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (Fn. 43), S. 220. 56 Codex Theresianus I I §V 83. 57 Zitiert nach Harrasowsky (Fn. 44), Bd. 1, S. 50 Anm. 29. 58 Ebd.; vgl. auch ders. (Fn. 43), S. 70. 59 Moritz von Wellerspacher, Das Naturrecht und das ABGB, in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, 2 Bde., Wien 1911, Bd. I, S. 173 ff., 178.
§ 2 Österreich
67
die Gesetze nicht an den "römischen Rechten" orientieren sollten, "sondern überall die natürliche Billigkeit zum Grunde gelegt" werde 60 • Mit der Neufassung des CT wurde 1771 der Staatsratsconcipist Johann Bernhard Horten beauftragt61 , der noch im selben Jahr einen Entwurf vorlegte, der, leicht abgeändert, 1786 als Josephinisches Gesetzbuch veröffentlicht wurde. Mit dem Josephinischen Gesetzbuch war der "Höhepunkt judizieller Restriktion erreicht"62. Der hier in Betracht kommende §33 63 normierte erneut eine sklavische Bindung des Richters an den Gesetzeswortlaut und erlaubte eine (bescheidene) Analogie nur in "vollkommen gleichen" Fällen64 • Auch diese Bestimmung war in den Beratungen der Kompilations-Kommission außerordentlich strittig: Das Kommissionsmitglied Goldegg etwa erkannte durchaus die Unmöglichkeit einer allumfassenden und abschließenden gesetzlichen Regelung; vielmehr gebe es stets eine Reihe von Fällen, die "entweder aus der Ursach oder Sinn des Gesetzes oder Combination der Gesetzen selbst oder aus denen allgemeinen Grundregeln" zu entscheiden seien65 . Indes lehnte die Kommission auch diesen Vorschlag ab, da die Befugnis des Richters zur Interpretatio legis die "ganze bei Verfassung des neuen Gesetzes gehegte Absicht"66 vereiteln könne. Die Unzulänglichkeiten des neuen Gesetzbuches veranlaßten 1790 Kaiser Leopold II. eine neue Kommission unter dem Vorsitz des Wiener Professors für Naturrecht und Geschichte des Römischen Rechts Carl Anton Freiherr von Martini67 einzusetzen. Die Arbeiten mündeten 1796 in den "Urentwurf', der 1797 als "Bürgerliches Gesetzbuch für Westgalizien" in Kraft gesetzt wurde68 • Dieser
60
Zitiert nach Wellerspacher (Fn. 59) S. 178.
61 Dazu Harrasowsky (Fn. 44) I, S. 125 ff.; Brauneder, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (Fn. 43), S. 213. 62 Schott (Fn. 53), S. 29. 63 § 33 (I. Teil, I. Caput) lautete: "Wenn aber dem Richter ein Zweifel vorfiele, ob ein vorkommender Fall in dem Gesetz begriffen sei oder nicht, wenn ihm das Gesetz dunkel schiene oder ganz besondere und sehr erhebliche Bedenken der Beobachtung desselben entgegen stünden, so solle die Belehrung allezeit von uns gesuchet werden ... " 64 Dazu Harrasowsky (Fn. 43), S. BI, S. 146. 65 Harrasowsky (Fn. 44) IV, S. 22 Anm. 17. 66 Ebd. 67 Zu Martini F. Klein-Bruckschwager, Karl Anton von Martini in der Zeit des späten Naturrechts, in: Kurt Bussmann, Nikolaus Grass (Hrsg.), Festschrift für Karl Haff, Innsbruck 1950, S. 120 ff. 68 Abgedruckt bei Julius Olner, Der Ur-Entwurf und die Berathungsprotokolle des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, 2 Bde., Wien 1889, hier in Bd. I; dazu auch Brauneder, Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (Fn. 43), S. 214.
68
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen
Entwurf vennochte endlich die starre Wortbindung zu überwinden. §19 des von Martini vorgelegten Entwurfs lautete: "Findet aber der Richter einen Rechtsfall durch die Worte des Gesetzes nicht geradezu entschieden, so muß er in seinem Urtheile auf den natürlichen Sinn des Gesetzes, er muß ferner auf die Gründe anderer damit verwandten Gesetze, und auf ähnliche im Gesetz bestimmt entschiedene Fälle Rücksicht nehmen: bleibt ihm der Rechtsfall nach allem diesem noch zweifelhaft, so muß er ihn mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten, und reiflich erwogenen Sachumstände nach den allgemeinen und natürlichen Rechtsgrundsätzen entscheiden. ,,69
Ende 1797 wurde die Arbeit durch eine neue Gesetzgebungskommission fortgesetzt. Der grundsätzliche Wandel, der schon die Fassung des § 19 des Martinisehen Entwurfs ennöglicht hatte, wird in der Eröffnungsrede Zeillers am 21.Dezember 1801 vor der k.k. Hofkommission in Gesetzessachen deutlich: "Die bürgerlichen Gesetze müssen ... vollständig sein. Es müsse sich kein Rechtsfall ereignen können, der sich nicht aus dem Gesetzbuch und den darin enthaltenen Vorschriften entscheiden ließe. Diese Forderung sei unläugbar die schwerste, und jede Gesetzgebung müsse daran scheitern, wenn sie sich vorsetzet, alle Fälle durch den Buchstaben des Gesetzes zu erschöpfen; wenn sie die Richter an die buchstäbliche Anwendung der Gesetze bindet; wenn sie ihnen alle, obgleich in dem Geiste des Gesetzes und in allgemeinen Rechtsprinzipien gegründete Auslegung verbietet: kurz, wenn sie sich vorsetzt, die Richter in Recht sprechende Maschinen zu verwandeln"'o.
In der ersten Beratung am 4. Januar 1802 fmdet die Fonnulierung des §19 eine erneute Umgestaltung. Kontroverser Diskussionspunkt ist die Fonnulierung "allgemeine und natürliche Rechtsgrundsätze". Von Mitgliedern der Universität Innsbruck wird die BefUrchtung vorgetragen, "daß unter dem Ausdrukke: 'allgemeine Rechtsgrundsätze' leicht jene des gemeinen oder römischen Rechtes verstanden werden könnten'·". Dieser Ansicht schließt sich auch die Hofkommission an, so daß im Ergebnis die Worte "allgemein und" weggelassen wurden72. Daß eine zu extensive richterliche Rechtsschöpfungsbefugnis Zei/ler dennoch suspekt erschien, zeigen seine Äußerungen zu der Neugestaltung des § 19: Ebenfalls im Jahre 1797 wurde der Entwurf Landständen, Justizkollegien und Fakultäten zur Begutachtung vorgelegt. Von Interesse ist hier insbesondere das Votum der Freiburger Fakultät, dazu Schott (Fn. 53), S. 16 ff. 69 Kursiv v. Verf. '0 Abgedruckt bei Olner (Fn. 68) I, S. 6. ,. Ebd., S. 23. 72 Ebd., S. 24.
§ 2 Österreich
69
"Wenn ein Gericht zufolge des § 19 des Gesetzbuches einen Rechtsfall nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entscheidet und dieses Urteil keinem weiteren Rechtszuge unterliegt ... so hat es einen solchen Rechtsfall in einem bündigen Auszuge sammt dem Urtheile und dem Entscheidungsgrunde am Schlusse des Jahres der Hofkommission in Gesetzessachen einzusenden". Dieses Erfordernis begründet er wie folgt:
"I. Um die Gerichte sodann zu belehren, dafem sie einen Fall zu voreilig nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden hätten, welcher noch nach dem positiven Gesetze hätte entschieden werden können, 2. um dieselben eben durch diese Kontrolle zu beschränken 3. um die Lücken, welche auf solche Art am sichersten aufgedeckt werden, allmälig in die Gesetzgebung zu ergänzen"73. Die revidierte Fassung des § 19 nach der I. Lesung lautete nun: "Findet aber der Richter einen Rechtsfall durch die Worte des Gesetzes nicht geradezu entschieden, so muß er auf den natürlichen Sinn des Gesetzes, er muß ferner auf die Gründe anderer damit verwandter Gesetze und auf ähnliche im Gesetze bestimmt entschiedene Fälle Rücksicht nehmen: bleibt ihm der Rechtsfall nach allem diesem noch zweifelhaft, so muß er ihn mit Hinsicht auf die sorgflUtig gesammelten und reiflich erwogenen Sachumstände nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entscheiden,,74.
1807 ging der Entwurf in die 2. Lesung, in der er ohne größere Diskussion seine endgültige Textausfonnung fand, die schließlich auch in den § 7 ABGB übernommen werden sollte. "Läßt sich ein Rechtsfall weder aus den Worten noch aus dem natürlichen Sinne eines Gesetzes entscheiden, so muß auf ähnliche, in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle und auf die Gründe anderer damit verwandten Gesetzen Rücksicht genommen werden. Bleibt der Rechtsfall dennoch zweifelhaft, so muß solcher mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und reiflich erwogenen Umstände nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden werden". Die Fassung des § 7 ABGB eröffnet so dem Wortlaut nach ein Einfalltor für das Naturrecht im Sinne einer autonomen Rechtsquelle, die einen höheren Nonnvorrat bereitstellt. Die eingangs zitierten Worte des Kommissionsmitglieds
Holger7S verdeutlichen aber auch den Bedeutungswandel, der sich um
73 Ebd, S. 23. 74 Abgedr. ebd. 7S Vgl. Fn. 48.
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen
70
den Begriff der natürlichen Rechtsgrundsätze vollzog. Schimmerte dort noch die Auffassung durch, das Naturrecht sei zumindest auch Träger materialer Prinzipien des Gewohnheitsrechts, so distanzieren sich die späteren Redaktoren von dieser Haltung. Unzweifelhaft ist mit der Textfassung des § 7 aber der absolutistische Ansatz vom refere legislatif6 überwunden und eine "gesunde Grundlage ... rur die Fortbildung des Rechts" geschaffen 77 • Dennoch ist das besondere Spannungsfeld naturrechtlicher Postulate, in dem sich auch der § 7 ABGB bewegt, nicht zu übersehen. Dem Streben nach Vollständigkeit Wolffscher Prägung, das filr den Richter als Gesetzesanwender nur die Rolle eines "Entscheidungsautomaten"78 vorsah, steht die spätnaturrechtliche Forderung nach einer klar und allgemein gefaßten Gesetzessprache entgegen. Zeiller ist sich dessen bewußt wenn er in seinem Kommentar zum ABGB schreibt: "Je mehr der Gesetzgeber der Deutlichkeit willen zu specielleren Regeln über die mannigfaltigsten Rechthandlungen sich herab läßt, desto mehr werden die Gesetze vervielfliltigt, um so schwerer kann man sie sich vergegenwärtigen und umso minder reichen sie zur Umfassung des ganzen Rechtsgebietes zu. Je mehr er dagegen die besonderen Vorschriften durch abstractere und allgemeinere entbehrlich zu machen beflißen ist, un so eher läuft er Gefahr, daß die Gesetze nicht begriffen, daß sie auf verschiedene Weise ausgelegt, angewendet, und die Rechtsstreitigkeiten vermehret werden't79.
§ 3 Preußen Die Gesetzgebungsgeschichte in Preußen vollzog sich ähnlich der in Österreich. Auch hier stand am Ende der Gesetzgebungsarbeiten eine Norm, die in § 49 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht den Richter auf die "allgemeinen Grundsätze des Gesetzes" verwies.
Zum refere legislatif Conrad (Fn. 54), S. 21. Wellerspacher (Fn. 59), S. 183. Dazu auch Stanislaus Dniestrzanski, Die natürlichen Rechtsgrundsätze, in: Festschrift zur Jahrhundertfeier des ABGB (Fn. 58), S. 3 ff. 78 Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, in: ders., Ideengeschichte und Rechtsgeschichte, Gesammelte Werke, KölnlWien 1986, 2 Bde., hier Bd. 2, S. 1 ff. 79 Franz von Zeiller, Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch, 1. Bd., Wien 1811. 76
77
§ 3 Preußen
71
1746 beauftragt Friedrich II. 80 den Staatsminister Samue/ Freiherr von Coccejill , ein "deutsches allgemeines Landrecht, welches sich blos auf die Vernunft und die Landesverfassungen gründet" anzufertigen. 1749/51 erscheint sein Entwurf eines Gesetzbuches mit dem Titel "Projekt des Corporis Juris Fridericiani ... worinnen das Römische Recht in eine natürliche Ordnung und richtiges Systema, nach denen dreyen Objecten juris gebracht: Die General - principia, welche in der Vernunft gegründet sind, bey einem jeden Objecto festgesetzt und die nötigen conclusiones ... " In der Vorrede geht Cocceji auf das Lückenproblem ein: "Die Vernunft lehret uns, daß, wann bei einer jeden Materie derer Gesetze General Principia festgesetzt werden, unter sotanen Principiis alle Casus begriffen sind, auf welche die ratio sotaner Principiorum applicable ist: Es gehöret also hauptsächlich zu dem Amte eines cordaten Richters, in denen specialiter nicht decidierten Fällen zu untersuchen, ob und wie weit dieselbe zu denen Principiis generalibus gehören, das ist, ob eadem ratio legis vorhanden sei"l2.
Trotz dieser Ausftlhrungen Coccejis entspricht der Entwurf inhaltlich eher dem älteren naturrechtlich-systematisch-deduktiven Stil, der dem Ideal eines lus certum mit universaler Geltung nacheifert und ein äußerst enges richterliches Funktionsbild entwirftB3 • Pars I, Lib I, Tit 11 § 7: "Wenn denn auch keinem Richter freistehen soll, dieses Unser Landrecht, wann es zweifelhaftig zu sein scheinet, zu interpretieren oder argumento legis allerhand exceptiones, limitationes oder Amplicationes nach Gefallen und öfters ex aequitate cerebrina zu fingieren.
80 Allgemein dazu Hermann Conrad, Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794, Köln 1958; Hans Hattenhauer, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, 2. Aufl. Neuwied 1994; Reinhart Kosel/ek, Preußen zwischen Reform und Revolution: Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848,2. Aufl. Stuttgart 1975; Schlosser (Fn. 27), S. 94; Andreas Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, FrankfurtlM. 1993; Hans Thieme (Fn. 78), S. 701 ff.; ders., Die preußische Kodifikation, in: Ideengeschichte und Rechtsgeschichte, Bd. 11, S. 695 ff.; Wolfgang Wagner, Die Wissenschaft des gemeinen römischen Rechts und das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten, in: Coing/ Wilhelm (Hrsg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert (Fn. 14), Bd. 1, S. 119 ff.; Astuti (Fn. 3), S. 858 ff. 81 Zu Cocceji Stintzing/ Landsberg (Fn. 11), III/l, S. 215 ff. 82 Cocceji, Vorrede, S. 13. 83 Thieme, Die preußische Kodifikation (Fn. 80), S. 695 ff.
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen
72
Wenn aber eadem ratio legis vorhanden, so verstehet sich von selbsten, daß es zu dem Amt eines cordaten Richters gehöret, die Gesetze auf alle Fälle, wo eadem ratio militiert, zu appliciren und zu extendieren, weil es ohnmöglich ist, alle Special - Casus anzuführen und zu decidiren.
In dieses Bild fügt sich auch das Verbot der Kommentierung und wissenschaftlichen Bearbeitung in §§ 9, 10. Dieser augenfällige Unterschied zwischen jenen Eckpfeilern seines Projekts, die Cocceji in seiner Vorrede setzt und der restriktiven Ausgestaltung, die jene im Text fmden, mag damit zu erklären sein, "daß der Verfasser in seiner Vorrede lediglich die geläufigen hermeneutischen Regeln des Usus modernus referiert"14. Das Projekt erlangte niemals Gesetzeskraft, lediglich das Ehe- und Familienrecht wurde partiell in Kraft gesetzt. Der Tod Coccejis und der Siebenjährige Krieg bedeuteten das endgültige Aus für das Gesetzgebungswerk. 1780 werden die Arbeiten wieder aufgenommen und münden schließlich 1781 in das Corpus Juris Friedericianum. Dessen Hauptredaktoren Carmer, Svarez und Klein stehen noch in der Tradition der Wol.fJ'schen Naturrechtsschule8', haben jedoch bereits die Loslösung von deren mathematischer Methode vollzogenl6 • Daß auch im CJF das Richterbild äußerst eng gesteckt ist, entspricht der Vorgabe Friedrich II., die dieser in der Kabinettsordre vom 14. April 1780 machte: "Dagegen werde ich aber nicht gestatten, daß irgendein Richter, Collegium oder StatMinistre die Gesetze zu interpretiren, auszudehnen oder einzuschränken ... sich einfallen lasse; sondern es muß, wenn sich in der Folge Zweifel oder Mängel an den Gesetzen ... finden, der Gesetz-Commission davon Nachricht gegeben"87.
Der die Gesetzeslücke regelnde § 7 (Pars I Cap 13) bedeutet im Vergleich zu § 7 des Projekts von Cocceji eine weitere Verschärfung, da von nun an nicht einmal mehr die Zweckerstreckung gestattet sein sollteBI. Mit der Veröffentlichung des Entwurfes wurden eine Reihe von Juristen und VerwaltungsfachleuSchott (Fn. 53), S. 38. Ebd. Allgemein zum Corpus Juris Fridericianum Schwennicke (Fn. 80), S. 17 ff. 86 Daß eine Einordnung außerordentlich schwierig ist, verdeutlicht Thieme, Die preußische Kodifikation (Fn. 80); zu den Genannten vgl. auch Hans Hattenhauer (Fn. 80), S. 12. 87 Entwurf eines allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten, Erster Theil, Berlin 1784. 88 § 7: "Wird aber über eine Rechtsfrage gestritten, weIche nach Befinden der Pluralität des Collegii nach den vorhandenen Gesetzen gar nicht oder nicht deutlich genug entschieden ist, so muß darüber bei der Gesetz-Commission angefragt ... werden". 84
U
§ 3 Preußen
73
ten um eine gutachterliche Stellungnahme gebeten, sogenannte Monitd 9 , darunter z.Bsp. Darjes, Nettelbladt, Pütter, von Selchow oder Höpjner. Ein großer Einfluß auf die weiteren Arbeiten wird heute allgemein dem badischen Verwaltungsjuristen Schlosser'l zugestanden, der zwar nicht um eine gutachterliche Äußerung angegangen wurde, sich in seinen "Briefen über die Gesetzgebung" aber dennoch dazu äußerte: "Und da dieses Gesetzbuch den Richter, blos an Worte, Zusammenhang und Gegenstand der Gesetze bindet, auch so wenige bestimmte Definitionen der rechtlichen Wesen gibt, so haben die Richter nicht einmal das Hilfsmittel, aus dem nächsten Zweck, Sinn und Grund des Gesetzes, dasselbe zu suppleiren"91.
Diese Anregungen Schlossers dürften wohl einen nicht zu unterschätzenden Einfluß ausgeübt haben92, denn das AGB enthält nunmehr bzgl. des Interpretationsproblems und des Richterbildes eine neuartige, weiterreichende Konzeption: § 53 Findet der Richter kein Gesetz, welches zur Entscheidung des streitigen Falles dienen könnte, so muß er zwar nach den in dem Gesetzbuche angenommenen allgemeinen Grundsätzen und nach den wegen ähnlicher Fälle vorhandenen Verordnungen seiner besten Einsicht gemäß erkennen.
Rekurriert der Richter auf jene "Allgemeinen Grundsätze", so hat er dies ferner gern. § 54 AGB dem "Chef der Justiz" anzuzeigen. In dieser Regelung zeigt sich eine Abweichung von der ansonsten recht parallelen Entwicklung in Österreich: Der preußische Gesetzgeber verweist seine Richter auf die "Allgemeinen Grundsätze des Gesetzbuches", nicht hingegen auf jene des Naturrechts. Den allgemeinen Grundsätzen kommt keine außerhalb des Gesetzbuchs stehende Rechtsquellenbedeutung zu. Den geistigen Hintergrund dieser Wende zeigt die Korrespondenz zwischen dem Großkanzler v. Carmer und dem schlesischen Justizminister v. Dankelmann, einem vehementen Gegner der KodifIkation93 . In einem Antwortschreiben vom 8. November 1793 geht v. Carmer auf die Pro39 Dazu Hattenhauer (Fn. 80), S. 21; Schwennicke (Fn. 80), S. 29 ff. 90 Zu Schlosser Lars Björne, Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert, Ebelsbach 1985, S. 31 f.; Reiner Schulze, Johann Georg Schlosser und die Idee eines reinen Zivilrechts - Gesetzbuchs, in: Zeitschrift rur Historische Forschung 6 (1979), S. 317 ff. 91 Johann Georg Schlosser, Briefe über die Gesetzgebung überhaupt, und den Entwurf des preußischen Gesetzbuchs insbesondere, Frankfurt 1789, S. 334. 92 Schott (Fn. 53), S. 40. 93 Ein Teil dieser Korrespondenz ist abgedruckt bei Thieme, Die preußische Kodifikation (Fn. 80), Anhang, 757 ff.
74
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen
blematik der Rechtsfmdungsregeln ein. Darin erkennt er an, "daß es nicht möglich ist, für alle einzelnen Fälle Gesetze zu geben, und daß nur allzu oft Handlungen und Umstände eintreten, die nicht nach positiven Vorschriften, sondern nur nach richtigen Herleitungen und aus Begriffen und Principiis oder nach der Analogie beurteilt und entschieden werden müssen"94. Dabei sei jedoch zu beachten, "daß jeder Mensch, d.h. auch jeder Richter, seine eigne Logic" habe: "Eine uneingeschränkte Verweisung auf das Jus naturale würde folglich auf die größte Ungewißheit der Rechte, und auf schwankende Willkühr in den Entscheidungen filhren"9S. Carmer will unter den "Allgemeinen Rechtsgrundsätzen" LS.d. § 53 AGB somit nachweislich nicht jene des Naturrechts verstanden wissen. Es wird dies erklärlich vor dem rechtsphilosophischen Hintergrund der Redaktoren, der insbesondere in den späten Jahren des 18. Jahrhunderts von einer Abkehr von der Wo/fJ'schen Schule mit ihrer Konzeption von "apriorisch gegebenen Begriffen"96 geprägt ist. Die Regelung des § 53 AGB wurde wörtlich in den § 49 der einleitenden Bestimmungen des ALR übernommen. Die Gesetzgebungsgeschichte vollzog sich in Preußen zwar ähnlich der in Österreich, am Ende stehen jedoch zwei dem Text nach sehr unterschiedliche Regelungen. Verweist § 7 ABGB auf "die natürlichen Grundsätze", so sind es in § 49 Einl. ALR die "Grundsätze des Gesetzbuches". Die dem Wortlaut nach restriktivere Konzeption des ALR erklärt sich wohl in erster Linie aus den unterschiedlichen Auffassungen der Hauptredaktoren, Carl Gottlieb Svarez und Franz von Zeiller. Im Gegensatz zu Österreich war für Preußen das "Dogma vom Willen des Gesetzgebers"97 in weit höherem Maße verbindlich. Für Svarez umfaßte dieses Dogma nicht nur das ius leges ferendi und abrogandi sondern auch das ius leges declarandl'18. Der Ausgestaltung der Rechtsfindungsregeln kam daher in hohem Maße auch rechtspolitische Bedeutung zu, "concernant le rapport entre le h~gislateur et le juge ... notamment, du referee legislatif qui reservait l'interpn~tation de la loi uniquement ä celui qui l'avait promulge"99. Die Angst der preußischen Gesetz94 Ebd., S. 761. Ebd., S. 760. So Thieme (Fn. 80), S. 365. 97 Conrad (Fn. 80), S. 16. 98 Dies betont er ausdrücklich in seinen Kronprinzenvorträgen Svarez, Vorträge über Recht und Staat, hg. v. Conrad/Kleinheyer, Opladen 1960, S. 13. 99 S6jka-Zielinska (Fn. 44), S. 1000. § 49 der Ein!. ALR zeigt besonders deutlich die "Mechanismen, derer sich der absolutistische Staat bei der praktischen Durchsetzung seines Gesetzgebungsmonopols bedient: Einerseits die Einschärfung der unbedingten 9S
96
§ 4 Frankreich
75
geber vor richterlicher Willkür ruhrt zu der stark kasuistischen Ausgestaltung des ALR sowie seiner Entwürfe, die 1786 Friedrich den Großen zu der Bemerkung veranlaßten " es ist aber sehr Dicke, und gesetze müssen Kurtz und nicht Weitläuftig seindt"loo. Svarez äußert sich zu dieser Kritik und räumt ein, daß es ein großes Übel sei, "wenn die Sammlung der Gesetze zur Last vieler Kamele anschwillt und also die Unmöglichkeit eintritt, daß der Bürger des Staats die Norm seiner Handlungen kenne und zu befolgen imstande sei." Das preußische Gesetzbuch baue dem jedoch vor, indem es von "Grundsätzen" ausgehe, aus denen "mit Hilfe einer bloßen natürlichen Logik sichere und zuverlässige Folgerungen rur die einzelnen Fälle hergeleitet werden können"lol. Es ist dies genau die Konzeption des § 49 Einl. ALR, die Svarez hier bereits 1788 beschreibt. Sie mag einen Komprorniß dargestellt haben zwischen der Lehre vom Willen des Gesetzgebers, dem sich die preußischen KodifIkatoren in höherem Maße verpflichtet filhlten als die Österreicher lO2 und der Einsicht, daß es ein lückenloses Gesetzbuch nicht geben kann. So kritisierte auch Franz von Zeiller dasALR: "Immer war man zugleich besorgt, die gefährliche Klippe einer ängstlichen, weitschweifigen und doch nie befriedigenden Kasuistik zu vermeiden, von der man weder das römische noch das preußische Gesetzbuch freisprechen kann. In diesen Fehler der Gesetzgebung muß man notwendig verfallen, wenn man so, wie das preußische Gesetzbuch, den Richter an eine buchstäbliche Anwendung des Gesetzes binden und ihn in eine rechtsprechende Maschine verwandeln will'oI03.
§ 4 Frankreich Seit dem Mittelalter und verstärkt seit dem 16. Jahrhundert war man in Frankreich um eine schriftliche Fixierung des Rechts bemüht. Die Couturnes wurden aufgezeichnet und von Berufsjuristen redigiert; daneben kamen
Verbindlichkeit des Gesetzesbefehls durch Verpflichtung zur strikten Interpretation, andererseits die Verhinderung richterlicher Rechtssetzung unter dem Vorwand von Lücken oder Unklarheiten der Gesetzgebung", Schwennicke (Fn. 80), S. 271. 100 Zitiert nach Hans Thieme, earl Gottlieb Svarez in Schlesien, Berlin und anderswo, in: Juristen Jahrbuch 1965, S. 66. 101 Svarez (Fn. 98), S. 627 ff. 102 Hans Müller, Zur Geschichte der bindenden Gesetzesauslegung, Berlin 1939, S. 21 tf.; Hans Hattenhauer, Preußens Richter und das Gesetz (1786-1814), in: ders., (Hrsg.), Das nach friderizianische Preußen 1786-1806, Heidelberg 1988, S. 37 ff. 103 Abgedruckt bei Olner (Fn. 68), Bd. 2, S. 273.
76
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen
die ebenfalls schriftlich niedergelegten königlichen Ordonnanzen zur Anwendung. Dennoch blieb dem Ancien Regime die Rechtseinheit verwehrt. Erst die Revolution von 1789 legte den Grundstein rur eine neue Rechtsordnung und erhob die Kodifikation zum Programm der revolutionären Gesetzgebung. Nach der Konstituierung der Verfassungsgebenden Versammlung (1789) und der Machtübernahme Napoleons wird in Frankreich die Notwendigkeit eines einheitlichen Zivilgesetzbuches immer deutlicher. Die Errungenschaften der Revolution harren auch auf dem Gebiet des Rechts ihrer Konsolidierung. Dem neu zu schaffenden Code civil sollte daher die Aufgabe zufallen, "das Zivilrecht entsprechend den Bedürfnissen einer bürgerlichen, in ihren Grundstrukturen nicht mehr ständischen und nicht mehr feudalen Gesellschaft umfassend und dauerhaft in einem sytematisch geschlossenen Rechtsstext" festzulegen lO4 • Bei den ersten Entwürfen ist der Konventspräsident und spätere Justizminister Jean-Jacques Regis Cambaceres federftlhrend lOs • Cambaceres legt in den Jahren 1793-1796 drei Entwürfe vor, die jedoch allesamt vom Rat der Fünfhundert abgelehnt werden. Von Interesse bleibt jedoch der Discours preliminaire von Cambaceres zum 3. Projekt, in dem er die Grundfesten des Projektes beschreibt, die auch tur die noch folgenden Entwürfe ihre Gültigkeit behalten sollten: "La Oll les juges ne sont point legislateurs, iI ne suffit pas d'assurer I'autorite des lois par la justice: iI faut encore qu'elles soient disposees de maniere a en ecarter la doute par la c1arte, a en prevenir les exceptions par la prevoyance. Ainsi, sans aspirer atout dire, le legislateur doit poser des principes feconds qui puissent d'avance resoudre beaucoup de doutes, et saisir des developpemens qui laissent subsister peu de questions" 106.
104 Schulze (Fn. 3), S. 15. Zu den sozialen und politischen Implikationen der Entwicklungsgeschichte des Code civil, die hier nicht Gegenstand der Darstellung sein kann vgl. Shael Herman, From philosophers to legislators, from legislators to gods: the french civil code as secular scripture, in: University of IIIenois law Review 1984, S. 597 ff.; Heinz Mohnhaupt, Revolution, Reform, Restauration. Formen der Veränderung von Recht und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988; Rolf Reichardtl Eberhard Schmitt, Die französische Revolution - Umbruch oder Kontinuität? in: Zeitschrift rur Historische Forschung 1980, S. 257 ff. lOS Dazu Schlosser (Fn. 27), S. 107; Konrad Zweigertl Hein Kötz, Einruhrung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Tübingen 1984, Bd. I, S. 94 ff.; Astuti (Fn. 3), S. 861 ff. 106 Cambaceres, Discours preliminaire au Conseil de Cinq Cents, Messidor an IV, abgedruckt bei Antoine Fenet, Recueil Complet des travaux preparatoires du Code Civil,
§ 4 Frankreich
77
Dennoch werden die KodifIkationsarbeiten erst unter dem Konsulat erfolgversprechend wieder aufgenommen l07 • Mit den vorbereitenden Arbeiten wird eine Kommission, bestehend aus Tronchet, Bigot-Preameneu, Maleville und PortaUs, beauftragt. Aus ihren Arbeiten geht bereits am 24 thermidor an VIII ein erster Entwurf hervor. Die in diesem Zusammenhang interessierenden Regelungen lauten: Livre preliminaire, titre V, de I'application et de I'interpretation des lois: Art. 5: Quand une loi est claire, il ne faut point en eluder la lettre sous pretexte d'en penetrer I'esprit; et dans I'application d'une loi obscure, on doit preferer le sens le plus naturel et celui qui est le moins defecteux dans l'execution. Art. 11: Dans les matieres civiles, le juge a defaux de loi precise, est un ministre d'equite. L'equite est le retour a la loi naturelle ou aux usages re~us dans le silence de la loi positive lOB.
Eine erläuternde Darstellung dieser Regelung enthält die Rede PortaUs' zu diesem Entwurf. Gleich zu Beginn weist er den Anspruch einer möglichst allumfassenden Gesetzgebung zurück; "tout simplifier, est une operation sur laquelle on a besoin de s'entendre. Tout prevoir, est un but qu'il est impossible d'atteindre. ,,109 "Un code, quelque parait il puisse paraitre, n'est pas plutot acheve, que mille questions inattendues viennent s'offrir au magistrat. Car les lois, une fois redigees, demeurent teiles qu'elles ont ete ecrites. Les hommes, au contraire, ne se reposent jamais ... "110
Aus dieser Begrenztheit des positiven Rechts ergibt sich das Erfordernis weiterer Quellen des Rechts: "Quoique I'on fasse, les lois positives ne sauraient jamais entierement remplacer I'usage de la raison naturelle dans les affaires de la vie." 111
15 Bde., Paris 1826, Bd. I, S. 141. Die Entwürfe Cambaceres erfuhren in der Folge zum Teil erhebliche Umarbeitungen, die vorliegend jedoch nicht Gegenstand der Untersuchung sein können. Dazu S6jka-Zielinska (Fn. 44), S. 999. 107 Dazu allg. Jean Locre, Geist des Gesetzbuches Napoleons, aus der Verhandlung geschöpft, 4 Bde., Gießen 1808, Bd. 1, S. 72 ff. 108 Abgedr. bei Fenet (Fn. 106), Bd. 2, S. 7. 109 Ders. (Fn. 106), Bd. 1, S. 467. 110 Ebd., S. 409. 111 Ebd., S. 409.
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen
78
Zwangsläufig ergebe sich daraus die Unmöglichkeit einer Erfassung aller Lebenssachverhalte durch das Gesetzbuch, vielmehr seien diese der "discussion des hommes instruits" und der "arbitrage des juges"l12 überlassen. Damit korreliert eine Gesetzgebung, die gekennzeichnet ist, "de fixer ... les maximes generales du droit, d'etablir des principes feconds au consequences, et non de descendre dans le detail des questions qui peuvent naitre sur chaque matiere"113. Daß damit letztendlich das Naturrecht gemeint ist, stellt Portalis ebenfalls klar: "Quand on n'est dirige par rien de ce qui est etabli ou connu, quand il s'agit d'un fait absolument nouveau, on remonte aux principes du droit naturel. Car si la prevoyance des legislateurs est limitee, la nature est infinie" 114 . Die Kommission steckt in diesem Entwurf somit ein recht weites richterliches Funktionsbild ab, das den Rekurs auf die Prinzipien des Naturrechts ebenso zuläßt wie es eine Vorlagepflicht an die Legislative (wie in den preußischen und frühen österreichischen Entwürfen) ablehnt. Dieser erste Entwurf wurde umfangreichen Gutachten unterworfenilS (so wurden der Kassationshof und die Appellationsgerichte um Stellungnahmen gebeten) und letztlich verworfen. Am 23. Juli 1801 wird mit der Ausarbeitung eines zweiten Entwurfes zu den Einleitungsbestimmungen begonnen. Der Einleitungsteil enthält nunmehr neun Artikel, von denen zwei dem Richteramt gewidmet sind: Art. 6: Il est defendu aux juges d'interpreter les lois par voie de disposition generale et
reglementaire. Art. 7: Le juge qui refusera de juger, sous pretexte de silence, de I'obscurite, ou de
l'insuffisance de la loi, se rendra coupable de deni de justice l16 .
Diese Regelungen wurden in die Neuredaktion vom 2. August 1801 wortgleich übernommen. Es fehlt hier der ausdrückliche Verweis auf die Billigkeit, wie noch im ersten, von Portalis' vorgestellten Entwurf. Art. 6 der Neufassung enthielt aber auf übereinstimmenden Vorschlag der Redaktoren nicht nur das Rechtsverweigerungsverbot, sondern ordnete in den Fällen der "obscurite de la loi" zugleich den Verweis auf das natürliche Recht an. In der Sitzung vom 2. August 180 I bringt H Roederer den Einwand, daß dem Richter so zu viel Spielraum gewährt sei und belegt dies mit einem Beispiel:
Ebd., S. 470. 113 Ebd. 114 Ebd., S. 471, kursiv v. Verf. l1S Abgedr. bei Fenet (Fn. 106), Bde 11 - V. 116 F enet (Fn. 106), Bd. VI, S. 15. 112
§ 4 Frankreich
79
".. si le Code civil ne contenait point des dispositions sur la successibilite de l'etranger, et qu'un etranger revendiquat la succession d'un Francais son parent, le tribunal devant lequella cause serait portee serait autorisee, par la redaction de l'article a decider en legislateur une question politique de la plus haute importance"lI7.
Dieser Einwand Roederers wird von den übrigen Kommissionsmitgliedern zurückgewiesen: "Peu de causes sont susceptibles d'etre decidees d'apres une loi, d'apres un texte precis: C'est par les principes generaux, par la doctrine, par la science du droit, qu'on a toujours prononce sur la plupart des contestations" 118.
Das Kommissionsmitglied Tronchet entkräftet das Beispiel Roederers mit dem Hinweis darauf, daß in einem solchen Falle "Ie juge prononcerait, d'apres les principes generaux, sur I'etat de I'etranger, lesquels, refusant a I'etranger les droits civils, le rendent incapable de succeder"1I9. Im 3. Entwurf vom 22. August 1801 lautet die endgültige Formulierung dann: Art. 6: Le juge qui refusera de juger, sous pretexte du silence, de I'obscurite ou de I'insuffisance de la loi, pourra etre poursuivi comme coupable de deni de justice.
Portalis stellt am 24. November 1801 das Projekt dem Corps legislatif vor und bestätigt die Auffassung der Kommission bzgl. Art. 6: "11 y avait des juges avant qu'iI y a eut des lois; ces juges, dans ce temps d'ignorance et de grossierete, etaient des ministres d'equite entre les hommes; ils se sont encore quand ils ne sont point diriges par les lois ecrites" 120.
Dennoch wird der Entwurf nach langen Diskussionen von dem Corps legislatifm in der Sitzung vom 15. Dezember 1801 abgelehnt, im Jahre 1802 als Projekt jedoch wieder aufgenommen. Erneut ist es Portalis, der die endgültige Redaktion vorstellt: Art. 4: Le juge qui refusera de juger sous pretexte du silence, de l'obscurite ou de l'insuffisance de la loi, pourra etre poursuivi comme coupable de deni de justice.
Ebd., S. 23. Antwort Portalis, ebd. 119 Ebd., kursiv v. Verf. 120 Ebd., S. 51. 121 Abgedr. bei Fenet (Fn. 106), Bd. VI. 111 118
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen
80
In dieser Fassung wird Art. 4 am 15. 3. 1803 promulgiert. In seiner Rede wiederholt PortaUs z.T. wörtlich seine Formulierung zur Verteidigung des ersten Entwurfes: "11 est donc necessairement une foule de circonstances dans lesquelles un juge se trouve sans loi. 11 faut donc laisser alors un juge la faculte de suppteer a la loi par les lumieres naturelles de la droiture et du bon sens"l22.
Die zwangsweise entstehenden Lücken des positiven Rechts zu schließen, erachtet PortaUs die Billigkeit als tauglich: "Alors I'equite n'est, dans le magistrat, que le coup - d'oeil d'une raison exercee par I'observation, et dirigee par I'experience. Mais tout cela n'est relatif qu'a I'equite morale, et non acette equite judiciaire dont les jurisconsults romains se sont occupes, et qui peut etre define un retour a la loi naturelle, dans le silence, I'obscurite ou I'insuffisance des lois positives" 123.
Das französische Gesetzbuch sah somit, obwohl es den Richter nicht ausdrücklich auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze verwies, von Beginn der Redaktionsarbeiten zum Code civil einen weiteren richterlichen Gestaltungsspielraum vor als dies in Österreich oder Preußen der Fall war. Vorgesehen war nach den Worten PortaUs der Rekurs auf die "principes du droit naturei"; welches Naturrechtsverständnis er seinen Ausführungen zugrunde legte, geht aus den Discours Preliminaires indes nicht klar hervor. Die Verwendung der principes generaux bzw. principes du droit nature I (die terminologisch nicht klar unterschieden wurden), erklärt sich jedoch in zweierlei Hinsicht: Die Redaktoren des Code civil standen - trotz aller gesellschaftlicher und politischer Umbrüche, die die französische Revolution gebracht hatte - in der rechtswissenschaftlichen Tradition eines Domat und Pothier, deren Werke in den Erlaß des Code civil fortwirkten 124. Wie aber bereits oben dargelegt, identifiziert Domat
Ebd., S. 359. Ebd., S. 360. 124 Wieacker (Fn. 3), S. 341, der einzelne Wirkungsspektren insbesondere Pothiers nachweist; Von Pothier wird in diesem Zusammenhang auch als "pere du Code civil" gesprochen, Schulze (Fn. 3), S. 12; vgl. dazu auch Antonio Grilli, Das linksrheinische Partikularrecht und das römische Recht in der Rechtsprechung der Cour d'Appel / Cour Imperial de Treves nach 1804, in: Schulze, S. 67 ff., 71; Andreas Schwarze, Zur Entstehung des modemen Pandektensystems, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 42, S. 578 ff. spricht von Domats "Les lois civiles dans leur ordre naturel" als einem "sehr einflußvollen ... Werk", S. 583. 122 123
§ 5 Baden
81
das römische Recht als ein wesentliches Element des Naturrechts 125 und weist es so abstrahiert einer höheren Normebene zu. Die Theorie des römischen Rechts als Teil jenes höheren Normbereichs wird aber auch von den Redaktoren des Code civil im Rahmen der Verhandlungen im Staatsrat zitiert126 • Der Verweis auf die "principes de la loi naturelle" implizierte somit zumindest auch den Rekurs auf römisches Recht, dessen Geltung in Frankreich mit Erlaß des Code civil formell beendet war 127 • Hinzutritt eine eher rechtspolitische Funktion; so hat Wilhelm nachgewiesen, daß besonders in den frühen Entwürfen des Code civil "la nature" "als Maßstab der Kritik am bestehenden Recht" diente, "dies entsprach der allgemeinen polemischen Funktion, die diese Formel in der aufklärerisch-politischen Auseinandersetzung mit der alten Ordnung erhalten hatte"l28.
§ 5 Baden Die revolutionären Umwälzungen in Frankreich bedeuteten auch rur die europäischen Staaten, die im unmittelbaren französischen Einflußbereich standen eine Art "kopernikanische Wende", Diese manifestierte sich nicht zuletzt in der Adaption der revolutionären und nachrevolutionären Gesetzgebung, die vom französischen Mutterland in den besetzten Gebieten unmittelbar eingeftlhrt, in den formell unabhängigen, aber unter französischem Einfluß stehenden Staaten des Rheinbundes - zu dem auch das Großherzogtum Baden seit 1806 gehörte - von den einzelnen Staaten umgesetzt wurde.
12S "Ce n'est meme que ce Droit naturel que nous considerons dans le Droit Romain et qui fait que nous en recevons les regles qui sont de I'equite naturelle et qui par cette raison ne sont pas seulement de notre usage, mais ont partout leur autorite." , Jean Domal, Le Droit public suite des Lois Civiles dans leur ordre nature I, Luxembourg 1702,
S.7.
126 Porlalis, Discours preliminaire prononce lors de la presentation du projet de commission du gouvernement, ler pluviose an 9, in: Fran~ois Ewald (Hrsg.), La Naissance du Code civil, Paris 1989, S. 51. 127 "Les lois romaines, les ordonnances, les couturnes generales ou locales, les status, les reglements cessent d'avoir force de loi ... ", Gesetz vom 30. Ventöse an XII, art. 7. 121 Waller Wilhelm, Gesetzgebung und Kodifikation in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ius Commune I (1967), S. 241 ff., 267.
6 Jacoby
82
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen
Das Rezeptionsprogramm in Baden l29 trug jedoch nicht nur dem nachdrücklichen Wunsch Napoleons, das Großherzogtum möge den Code civil einführen, Rechnung 130. Es war zugleich von einem politischen Kalkül getragen, das ebenso wie das französische Gesetzbuch - die Kodifikation als Mittel gesellschaftlicher und sozialer Gestaltung verstand. Fehrenbach hat daraufhingewiesen, daß in Baden - anders als etwa in Westphalen oder Berg, wo die Rechstrefonn einher ging mit der Sozialrefonn - von Anfang an das "Bestreben nach Rechtsrefonn" vorherrschend war l3l • Demgegenüber trat die gesellschaftliche Neuplanung in den Hintergrund: Durch Zusätze - insgesamt über 500, die dem Code civil beigefügt wurden - wurde die alte Feudalverfassung in das neue Gesetzbuch übernommen. So enthielten die Zusatzartikel Regelungen über Fronpflichtigkeiten, Zehnten, Güten und Erbpflichtigkeiten. Vor diesem Hintergrund ist auch die Rechtsfmdungsregel des in diesem Zusammenhang interessierenden Art. 4a zu sehen, der - wie zu zeigen sein wird - über die technischjuristische Funktion der Rechtsfindung hinaus möglicherweise Ausdruck jenes Unterfangens war, Teile der alten Feudalverfassung und Prinzipien des Gemeinrechts in die "neue Zeit" hinüberzuretten. Ausgangs des 18. Jahrhunderts präsentiert sich das Großherzogturn Baden als ein Konglomerat verschiedenster Stadt- und Landrechte 132. Die KodifIkationsbestrebungen, die bereits Mitte des 18. Jahrhunderts eingesetzt hatten, erschöpften sich stets in unverbindlichen Vorschlägen und führten zu keinem fruchtbaren Ergebnis 133 • Die Arbeiten an einem rechtsvereinheitlichenden Ge-
129 Grilli (Fn. 124), S. 67. Zum Einfluß des Code civil in Europa vgl. auch den Sammelband von Schulze (Fn. 3), der Beiträge enthält zu Deutschland (Grilli, Lingelbach, Schubert, Koch), Niederlande (Moormann van Kappen), Italien (Beneduce), Polen (Litynski), Spanien (Clavero) und England (Samuel). 130 "Je desire que vous ecrivez egalement ... a mes charges d'affaires pres le prince primat et les Grands-Ducs de Hesse-Darmstadt et de Bade pour leur prescrire de faire insunations legeres et non ecrites pour que le Code Napoleon soit adopte comme loi civile de leurs etats en supprimant toutes les coutumes et se bornant au seul Code Napoleon, Correspondance de Napoleon 1., Paris 1864, Bd. XVI, S. 126, abgedruckt bei Willy Andreas, Die Einfllhrung des Code Napoleon in Baden, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 31 (1910), S. 189 ff., S. 194 Anm. I 131 Elisabeth Fehrenbach, Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht, 3. Aufl. Göttingen 1983, S. 104. 132 Dazu Cesar Barazetti, Einfllhrung in das französische Zivilrecht, Heidelberg 1889, § 6. 133 Julius Federer, Beiträge zur Geschichte des Badischen Landrechts, in: Baden im 19. und 20. Jahrhundert, Karlsruhe 1948, S. 88.
§ 5 Baden
83
setzbuch werden erst 1806 intensiviert wieder aufgenommen, als das Breisgau an das Großherzogtum flillt und durch ein Gesetzbuch enger an das Stammland angebunden werden so1P 34 • Schon in diesem Stadium flillt der Blick des mit der Redaktion betrauten Staatsrats Nikolaus Friedrich Brauer auf das französische Gesetzbuch 13S • Aus dieser Liebäugelei wird nach der Unterzeichnung der Rheinbundakte eine politische Notwendigkeit. Dem Ansinnen Napoleons nach "insunations legeres" kommt man in Baden, wohl auch aus Gründen politischer Opportunität, umgehend nach l36 • So kommt es am 5. Juli 1808 zur Einberufung einer Gesetzgebungskommission, die ein Zivilgesetzbuch für Baden auf Grundlage des Code Napoleon (CN) ausarbeiten soll. Zum Vorsitzenden dieser Kommission wird Nikolaus Friedrich Brauer berufen. Bereits zu Beginn des Jahres 1809 veröffentlicht die Kommission eine Übersetzung des CN, versetzt mit Zusätzen als "Badisches Landrecht", das endgültig jedoch erst am 1.1. 1810 in Kraft tritt137 • Die offizielle Bezeichnung "Code Napoleon mit Zusätzen und Handelsgesetzen als Landrecht für das Grossherzogtum Baden" ist insofern irreführend, als das Gesetzbuch im Vergleich zu dem französischen Urtext eine Reihe von Abänderungen enthält. Die für das vorliegende Thema bedeutendste Regelung findet sich in Art. 4a: "Der Richter, wo ihm ein bestimmter Ausspruch des Gesetzes mangelt, muß auf Grund und Zweck des Gesetzes, so weit sie aus ihm selbst erkennbar sind, sodann auf den Geist des Gesetzbuchs, wie er aus der Zusammenstimmung seiner einzelnen Verfügungen hervorgeht, nachmahis auf die Rechtsähnlichkeit, die aus einzelnen Verfiigungen über verwandte Gegenstände zu entnehmen ist, letzIich auf die Angaben des natürlichen Rechts über einen solchen Fall seine Entscheidung finden". Es handelt sich hier dem Wortlaut nach um eine Regelung, die das Richterbild des CN durchbricht 138 • Aufschluß über den Hintergrund der Regelung geben Brauers "Erläuterungen über den Code Napoleon und die großherzog-
Dazu Federer (Fn. 133), S. 95. Dazu Fehrenbach (Fn. 131), S. 105. 136 Federer vermutet, daß damit eine Demonstration politischer Selbständigkeit be-
134 135
zweckt werden sollte, da man sich nicht dem Ruf als "unterthänig, wenn nicht dem Namen, doch der Tat nach" aussetzen wollte - so die Worte Bauers, abgedr. bei Federer (Fn. 133), S. 98. 137 Zur Redaktionsgeschichte ausflIhrlieh Andreas (Fn. 130), S. 214 ff.; Barazetti (Fn. 132), § 6. 138 Die Formulierung des Badischen Ladrechts ist dabei möglicherweise von den parallel laufenden Textierungen des österreichischen und französischen Entwurfes beeinflußt, dazu Schott (Fn. 53), S. 57 Anm. 57.
84
2. Kapitel: Die naturrechtlichen Kodifikationen
lich Badische bürgerliche Gesetzgebung, Karlsruhe 1809", die mit einiger Berechtigung als "Wille des Gesetzgebers" betrachtet werden können J39 • Brauer erklärt den Zusatz des Art. 4a insbesondere in Hinblick auf das Spruchgebot des Art. 4 CN und der durch die Rezeption des französischen Rechts besonderen Problematik, mit der sich die Richterschaft konfrontiert sieht: "Die neue Gesezgebung nimmt dem Richter al1e längstgewohnten Entscheidungsquel1en, römisches und kanonisches Recht, unter denen jenes besonders ihm desto weher thun muß je mehr einzeln erarbeitete Fäl1e darinn vorlagen, und je leichter er also für jeden Fal1 ein rechtsähnliches Beyspiel...darinn vorfand, oft auch nur vorzufinden kurzsichtig wähnte. Dafllr gibt sie ihm eine Sammlung von Grundsätzen, die so fruchtbar an Folgerungen sie auch immer seyen, dennoch für den ersten Anblick eine Menge vorkommender Rechtsflil1e unbestimmt lassen. In diesem Gedränge dem Richter sagen, was der vierte Satz aussprach, er müsse sprechen und dürfe nicht anfragen, mag Manchem hart erscheinen. Deswegen gibt unser Zusaz an die Hand, wie der Richter sich in solcher Verlegenheit zu benehmen habe,,140.
Der Richter kann sich somit nach Art. 4a auf drei Generalklauseln stützen, den "Geist des Gesetzbuchs", die "Rechtsähnlichkeit" sowie das "natürliche Recht". Den Geist des Gesetzbuches" bezeichnet Brauer als den einzelnen Titel, "welcher von dem fraglichen Rechtsgeschäfte handelt. Was mit diesem Blick aus solchem Satz folgerichtig abgeleitet werden kann, das dar fund sol I er, als im Saz enthalten ansehen, versteht sich, so lang es ni