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German Pages 424 Year 2018
Krieg in der Geschichte (KRiG)
KRIEG IN DER GESCHICHTE (KRiG) Herausgegeben von Stig Förster · Bernhard R. Kroener · Bernd Wegner · Michael Werner
Band 105
RECHTSGESCHICHTE DER REICHSWEHR 1918–1933
FERDINAND SCHÖNINGH
Patrick Oliver Heinemann
Rechtsgeschichte der Reichswehr 1918–1933
FERDINAND SCHÖNINGH
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT und des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Der Autor:
Dr. jur. Patrick Oliver Heinemann, Hauptmann d. R., Studium der Rechtswissenschaft an der Freien Universität Berlin und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (2007–2012), wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Bayreuth am Lehrstuhl Prof. Dr. Bernd Kannowski (2012–2014), Referendariat am Kammergericht (2014–2016), seit 2017 Rechtsanwalt in Freiburg.
Titelbild:
Ehrenformation der Reichswehr vor dem Reichstagsgebäude in Berlin anlässlich der Feierlichkeiten zum Verfassungstag am 11. August 1929 (Bundesarchiv).
Reihensignet:
Collage unter Verwendung eines Photos von John Heartfield. © The Heartfield Community of Heirs/VG Bild-Kunst, Bonn 1998.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2018 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-506-78785-9
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zum Geleit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. 2. 3. 4. I.
Warum eine Rechtsgeschichte der Reichswehr? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reichswehr als paralegaler Staat im Staate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Entstehung der Weimarer Wehrverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1. Unvollendete Revolution, Ausnahmezustand und Geheimrüstung: Die Entstehung des paralegalen Staats im Staate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der ernüchterte Abschied von der Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Ebert-Groener-Bündnis und die »bolschewistische Gefahr«: Eine frühe Weichenstellung für die spätere Rolle des Militärs . . . . c) Der Versailler Vertrag und die Geheimrüstung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Weichenstellungen der Übergangszeit: Zwischen Kontinuität und Diskontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reichsverfassung und Wehrgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Kapp-Lüttwitz-Putsch: Die Geister, die Noske rief . . . . . . . . . . . b) Reichswehrminister Geßler und der neue Chef der Heeresleitung: Die »Ära Seeckt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Oberbefehl, staatsorganisationsrechtliche Stellung und Spitzengliederung der Reichswehr unter der Weimarer Reichsverfassung und dem Wehrgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II.
15 16 24 26
28 28 30 54 56 62 63 74 99
Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses . . . . . . . . 113 1. Das Laufbahnrecht und das Wehrersatzwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) »Soldat« der Reichswehr: Beibehaltung der Laufbahnen, Beseitigung des »Soldatenstandes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Personalpolitik des Reichswehrministeriums unter den Bedingungen einer Freiwilligenarmee: Geistig-gesellschaftliche Homogenisierung und Abschottung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Söldner, Berufssoldat oder Beamter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vertrag oder einseitig-hoheitlicher Akt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Gelöbnis und Eid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113 113 120 129 132 134
6
Inhaltsverzeichnis
2. Die »Berufspflichten des deutschen Soldaten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Besoldung, Naturalbezüge, Steuervorrechte und Versorgung . . . . . . . 4. Der staatsbürgerliche Unterricht: Republikanisierung der Reichswehr? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Anspruch auf Berufsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Beteiligung durch Vertrauensleute sowie Heeres- und Marinekammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Urlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Anzug und Umgangsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.
138 143 148 152 153 161 164
Politische und bürgerliche Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 1. Grundrechtsdogmatik und besonderes Gewaltverhältnis . . . . . . . . . . . 175 2. Eheschließungsfreiheit: Die Heiratsordnung vom 5. Januar 1922 . . . . 181 3. Gewerbebetriebe und Nebenbeschäftigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 4. Testierfreiheit und Formerleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 5. Wahlrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 6. Zugang zu Ehrenämtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 7. Politische Betätigung, Koalitions- und Versammlungsfreiheit . . . . . . . 203 8. Rezipientenfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 9. Freizügigkeit und Bewegungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 10. Religionsfreiheit und Militärseelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
IV.
Militärstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 1. Die Entstehung der Militärstrafgerichtsordnung von 1898 . . . . . . . . . . 235 2. Der Kampf um die Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit . . . . . . . . . 242 a) Die ad-hoc-Novelle vom Dezember 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 b) Die Militärgerichtsbarkeit in den Verfassungsberatungen . . . . . . . . 243 c) Das Gesetz, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit . . . . 245 3. Kriegs- und Standgerichte im Ausnahmezustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 4. Das Militärstrafgesetzbuch und die Gehorsamspflicht . . . . . . . . . . . . . 257 a) Die Entstehung des MStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 b) Das MStGB und seine Novellen bis zur Frühphase der Republik . . 260 c) Strafbare Handlungen gegen die Pflichten der militärischen Unterordnung (§§ 89–110a MStGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
V.
Das Disziplinarstrafrecht als Prothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1. Die Disziplinarstrafordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 2. Das gescheiterte Wehrmachtdisziplinargesetz von 1922 . . . . . . . . . . . . 295 3. Das Gesetz zur Vereinfachung des Militärstrafrechts von 1926 . . . . . . 302
Inhaltsverzeichnis
VI.
7
Ehrenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 1. Die Blüte der Offizierehre im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Ehre des Offiziers nach der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Wehrberufskammern des gescheiterten Wehrmachtdisziplinargesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die »Wahrung der Ehrenhaftigkeit« durch Seeckt . . . . . . . . . . . . . . . . . .
311 318 321 323
VII. Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 1. Die Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Rechtsweggarantie durch das Wehrgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 2. Beschwerderecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 a) Die Herausbildung des formellen Beschwerderechts im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 b) Das Beschwerderecht in der Übergangszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 c) Die Beschwerdeordnung für die Angehörigen der Wehrmacht vom 15. November 1921 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 VIII. Spätphase und Untergang der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 1. Groener und Schleicher: Rüstungsrepublikaner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 2. Der Hochverrat der Ulmer Reichswehroffiziere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 3. Weimar und Reichswehr in der Transformation: Preußenschlag und »Planspiel Ott« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Literatur und veröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Archivalische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
VORWORT ZUR REIHE »Der Krieg ist nichts als die Fortsetzung der politischen Bestrebungen mit veränderten Mitteln. [...] Durch diesen Grundsatz wird die ganze Kriegsgeschichte verständlich, ohne ihn ist alles voll der größten Absurdität.« Mit diesen Sätzen umriss Carl von Clausewitz im Jahre 1827 sein Verständnis vom Krieg als historisches Phänomen. Er wandte sich damit gegen die zu seiner Zeit und leider auch später weit verbreitete Auffassung, wonach die Geschichte der Kriege in erster Linie aus militärischen Operationen, aus Logistik, Gefechten und Schlachten, aus den Prinzipien von Strategie und Taktik bestünde. Für Clausewitz war Krieg hingegen immer und zu jeder Zeit ein Ausfluss der Politik, die ihn hervorbrachte. Krieg kann demnach nur aus den jeweiligen politischen Verhältnissen heraus verstanden werden, besitzt er doch allenfalls eine eigene Grammatik, niemals jedoch eine eigene Logik. Dieser Einschätzung des Verhältnisses von Krieg und Politik fühlt sich Krieg in der Geschichte grundsätzlich verpflichtet. Die Herausgeber legen also Wert darauf, bei der Untersuchung der Geschichte der Kriege den Blickwinkel nicht durch eine sogenannte militärimmanente Betrachtungsweise verengen zu lassen. Doch hat seit den Zeiten Clausewitz’ der Begriff des Politischen eine erhebliche Ausweitung erfahren. Die moderne Historiographie beschäftigt sich nicht mehr nur mit Außen- und mit Innenpolitik, sondern auch mit der Geschichte von Gesellschaft, Wirtschaft und Technik, mit Kultur- und Mentalitätsgeschichte und, nicht zuletzt, mit der Geschichte der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. All die diesen unterschiedlichen Gebieten eigenen Aspekte haben die Geschichte der Kriege maßgeblich mitbestimmt. Die moderne historiographische Beschäftigung mit dem Phänomen Krieg kann deshalb nicht umhin, sich die methodologische Vielfalt der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft zunutze zu machen. In diesem Sinne ist Krieg in der Geschichte offen für die unterschiedlichsten Ansätze in der Auseinandersetzung mit dem historischen Sujet. Diese methodologische Offenheit bedeutet jedoch auch, dass Krieg im engeren Sinne nicht das alleinige Thema der Reihe sein kann. Die Vorbereitung und nachträgliche »Verarbeitung« von Kriegen gehören genauso dazu wie der gesamte Komplex von Militär und Gesellschaft. Von der Mentalitäts- und Kulturgeschichte militärischer Gewaltanwendung bis hin zur Alltagsgeschichte von Soldaten und Zivilpersonen sollen alle Bereiche einer modernen Militärgeschichte zu Wort kommen. Krieg in der Geschichte beinhaltet demnach auch Militär und Gesellschaft im Frieden. Geschichte in unserem Verständnis umfasst den gesamten Bereich vergangener Realität, soweit sie sich mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft erfassen lässt. In diesem Sinne ist Krieg in der Geschichte (abgekürzte Zitierweise: KRiG) grundsätzlich für Studien zu allen historischen Epochen offen, vom Altertum bis unmittelbar an den Rand der Gegenwart. Darüber hinaus ist Geschichte für uns nicht nur die vergangene Realität des sogenannten Abendlandes. Krieg in der Geschichte be-
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Vorwort zur Reihe
zieht sich deshalb auf Vorgänge und Zusammenhänge in allen historischen Epochen und auf allen Kontinenten. In dieser methodologischen und thematischen Offenheit hoffen wir den spezifischen Charakter unserer Reihe zu gewinnen. Stig Förster Bernhard R. Kroener Bernd Wegner Michael Werner
ZUM GELEIT Die Niederlage 1918 veränderte die Position des Militärs im Staate nicht grundsätzlich. Aus dem System der Doppelspitze unter dem Monarchen wurde die Staat-im-Staate-Position in der Weimarer Republik. Heinemann spricht vom »ernüchterten Abschied von der Monarchie«. Die Reichswehr konnte sich bald auf einen Konsens der »Wehrhaftmachung« bei den Eliten stützen. Die Geschichte dieser Kooperation wird hier ausführlich behandelt wie auch die Entwicklung des Militärstrafverfahrens und des Ehrenschutzes für Offiziere. Heinemann ist eine überzeugende Verbindung von Rechtsgeschichte und politischer Geschichte der Reichswehr gelungen. Freiburg im Breisgau, im Mai 2017
Manfred Messerschmidt
DANK Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth hat das Manuskript zu diesem Buch im Sommersemester 2016 als Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Rechte angenommen. An erster Stelle danke ich meinem Doktorvater, Herrn Professor Bernd Kannowski (Bayreuth), sowie meinem ehemaligen Lehrstuhlkollegen, Herrn Dr. Lucas Wüsthof (Berlin). An unsere gemeinsame Zeit in Freiburg und vor allem in Bayreuth denke ich stets mit Freude zurück. Akademisch wie persönlich hätte ich mir für mein Dissertationsprojekt keine schöneren Arbeitsbedingungen vorstellen können. Für ebenfalls viele gute Hinweise, Ratschläge, kritische Lektüre und das Zweitgutachten bedanke ich mich bei Herrn Professor Diethelm Klippel (Bayreuth). Aus dem Kreise der Familie bin ich besonders zwei Historikern für ausdauernde Kritik, Hinweise und Redaktionsarbeiten zu Dank verpflichtet: meinem Vater, Herrn Oberst Professor Winfried Heinemann (Potsdam und Cottbus), sowie meinem Bruder, Herrn Kieran Heinemann (Cambridge und London). Für wichtige Impulse gleich zu Beginn des Projekts sowie für das Geleitwort danke ich herzlich Herrn Professor Manfred Messerschmidt (Freiburg im Breisgau). Bei meinen zahlreichen Archivrecherchen haben mich besonders Herr Dr. Peter Keller (Bayerisches Kriegsarchiv, München) und Herr Daniel Schneider (Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg im Breisgau) sehr freundlich unterstützt. Ebenso danke ich dem Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Augsburg Herrn Dr. Andreas Dietz, der mich zu Beginn der Arbeit mit umfassendem Recherchematerial versorgt hat. Mein Dank gilt auch den RWalumni, die das Preisgeld für den Carl-Gareis-Preis 2016 gestiftet haben, mit dem diese Arbeit von der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth ausgezeichnet worden ist. Die Drucklegung unterstützt haben zudem das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (Potsdam), die Karl-Theodor-Molinari-Stiftung des Deutschen BundeswehrVerbandes sowie der Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. Danke sage ich auch den Herausgebern, namentlich Herrn Professor Bernd Wegner (Hamburg), für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe »Krieg in der Geschichte« sowie Herrn Dr. Diethard Sawicki und Frau Laura Strysch vom Verlag Ferdinand Schöningh für die geduldige Betreuung und die gute Zusammenarbeit. Meine liebe Frau Milena hat mich während der Arbeit in vielfältiger Hinsicht unterstützt. Ihr widme ich dieses Buch. Staufen im Breisgau, im November 2017
Patrick O. Heinemann
EINLEITUNG »Wie sehr meine Behauptung richtig ist, daß die Reichswehr sich mehr und mehr zu einem Staat im Staate entwickelt hat, zu einem Staate, der seinen eigenen Gesetzen folgt und seine eigene Politik treibt, will ich Ihnen durch Tatsachen beweisen.« Philipp Scheidemann (SPD) am 6. Dezember 1926 vor dem Reichstag1
1. Warum eine Rechtsgeschichte der Reichswehr? Das Jahr 1918 markiert eine Zäsur in der deutschen Geschichte: Mit dem Untergang der Monarchie bot sich eine außergewöhnliche Gelegenheit zur Etablierung einer neuen Staatsform. Diese Chance ist jedoch nur teilweise genutzt worden: Die Dolchstoßlegende belastete die junge Demokratie von Beginn an mit einer schweren Hypothek und erlaubte es den alten Eliten, ihr Versagen auszublenden und das untergegangene Bismarckreich zu verklären. Die Heterogenität der Weimarer Reichsverfassung – schon die Begriffe »Republik« und »Reich« standen in Widerspruch2 – und ihr teilweise ängstliches Festhalten an alten Verfahren und Formen sind hierfür als Ausdruck des damals vorherrschenden politischen Zeitgeistes symptomatisch.3 Das Militär und seine Führung als herausragender Teil der alten Staats- und Gesellschaftsordnung stellten in den Jahren der Umwälzung sowie in den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der Folgejahre einen erheblichen innenpolitischen Machtfaktor dar. Zugleich musste die junge Reichswehr unter den veränderten Bedingungen des Versailler Vertrages und der neuen Weimarer Reichsverfassung ihre Rolle erst finden. Das untergegangene Bismarckreich war zwar einerseits auf (vor allem preußische) Bajonette gegründet, andererseits am Ende jedoch ganz wesentlich durch die Revolte von Flotte und Feldheer zu Fall gebracht worden. Militärfragen waren damit in der jungen Weimarer Republik in einem Maße Staatsfragen, wie es heute undenkbar scheint. Es galt also weiterhin das Paradigma, das der namhafte Verfassungshistoriker Otto Hintze 1906 auf dem Höhepunkt des Wilhelminismus allgemein formuliert hatte: »Alle Staatsverfassung ist ursprünglich Kriegsverfassung, Heeresverfassung.«4 Die Rechtsgeschichte der Reichswehr ist daher zu einem nicht unwesentlichen Teil auch die Geschichte des Scheiterns der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Ebenso offen wie die künftige staatsorganisationsrechtliche Stellung des Militärs war zu Beginn, wie Reichsregierung, Parlament und militärische Führung die solda1 2 3 4
Verhandlungen des Reichstags, Band 391, S. 8577. Zum »Reichsmythos« siehe Winkler, Weg, S. 5–13, 67 f. und 524. Gusy, Reichsverfassung, S. 1–20 und 78 f. Die Heterogenität der WRV stand schon ihren Zeitgenossen vor Augen, siehe nur Schmitt, Grundrechte, S. 582. Hintze, Staat, S. 53.
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Einleitung
tische Rechtsstellung neu justieren würden – eine Frage, die sich im Spannungsverhältnis von Demokratisierung und Liberalisierung einerseits sowie überkommenem Militarismus und notwendiger Disziplinwahrung andererseits bewegte. Konnten und sollten die Soldaten einer »Demokratie ohne Demokraten«5 in Freiheit dienen?
2. Die Reichswehr als paralegaler Staat im Staate Das Verhältnis des Soldaten zum Staat wird vor allem repräsentiert und zwischenmenschlich erfahrbar in der Beziehung zwischen Untergebenem und Vorgesetztem. Im Vorgesetzten begegnet der Soldat seinem Dienstherrn. Diese Beziehung wird wesentlich geprägt vom Prinzip »Befehl und Gehorsam«. Ihm kommt staatstechnisch die Funktion zu, das Primat der Politik in seiner formellen Dimension im Verhältnis von Staat und Truppe abzusichern. Materiell verlangt das Primat der Politik darüber hinaus zwar auch, dass Streitkräfte zu politischen Zwecken eingesetzt werden und ihr Einsatz nicht als Selbstzweck begriffen wird. Das kann das Prinzip »Befehl und Gehorsam« allein zwar nicht gewährleisten. Es sorgt aber im Idealfall dafür, dass die Streitkräfte bis auf das letzte Glied das tun, was die politische Führung von ihnen will. Nur dann kann Krieg die »Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln« sein.6 Grundsätzlich wohnt allen Rechtsnormen das Prinzip von »Befehl und Gehorsam« inne. Die Besonderheit des militärischen Befehls liegt indes in seinen äußerst niedrigen Wirksamkeitsvoraussetzungen bei gleichzeitig weitreichender Bindung. Der Befehl ist also ein normativer Extremfall. Die Pflicht zum Gehorsam gehörte immer schon zu den Kernpflichten des Soldaten. Der Soldat ist damit ein Grenzgänger – auch in rechtlicher Hinsicht. Sein Dienst ist von Extremen gekennzeichnet: Unter bestimmten Bedingungen darf er nicht nur andere Menschen töten, sondern wird dazu von seinem Dienstherrn sogar verpflichtet. Umgekehrt können ihm lebensgefährliche, gar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für ihn selbst tödliche Tätigkeiten befohlen werden: »In keinem anderen [Beruf …] ist das Töten und damit das Bereitsein selbst zu sterben das eigentliche Wesen der Berufspflicht«.7 Aber auch unterhalb dieser existenziellen Schwelle wird und wurde die Freiheit des Soldaten durch das Prinzip »Befehl und Gehorsam« empfindlich beeinträchtigt: Freizügigkeit, Gewissen oder eigene Meinung etwa können wie in kaum einer anderen Staat-Mensch-Beziehung dauerhaft und intensiv betroffen sein. Das Dienstverhältnis des Soldaten ist damit in einzigartiger Weise durch Verbindlichkeit und Endgültigkeit geprägt. Nicht ohne Grund wird sie zumeist durch Eid initiiert und besiegelt. Das Prinzip von »Befehl und Gehorsam« gerät zwangsläufig in einen Konflikt mit anderen Prinzipien. Der Ungehorsam gegenüber dem unmittelbaren Befehl, der 5 6 7
Troeltsch, Aristokratie, S. 50. Clausewitz, Vom Kriege, S. 39. Seeckt, Gedanken, S. 109.
2. Die Reichswehr als paralegaler Staat im Staate
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zugleich einem höherrangigen Prinzip gehorcht, der »Widerspruch aus Loyalität«8 ist gerade als schöpferisches Moment ein wiederkehrender Topos: Sophokles’ Antigone, die sich Kreon widersetzt und ihren Bruder Polyneikes bestattet.9 Jesus Christus, der »dem Vater« gehorcht und dafür den Konflikt mit den jüdischen Autoritäten auf sich nimmt. Ludwig Graf Yorck v. Wartenburg, der ohne die Zustimmung seines Königs Frieden mit Russland schließt und die Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich auslöst.10 Ebenso steht die Gehorsamspflicht des Soldaten in einem Spannungsverhältnis zu seiner persönlichen Freiheit: Verlangt der Staat von ihm die totale Hingabe seines Menschseins, oder »nur« im Ernstfall sein Lebensopfer? Muss der Mensch hier dem Staat sein Leben hingeben?11 Wird der Mensch zum fungiblen und willfährigen Werkzeug des Staates gemacht? Wo bleibt in einer solchen Beziehung Raum für Freiheit? Ein derart asymmetrisches und zugleich verbindliches Staat-Mensch-Verhältnis lohnt die nähere Auseinandersetzung. Die folgende Untersuchung nimmt die Reichswehr als einen paralegalen Staat im Staate wahr. Die Vorstellung von der Reichswehr als einem Staat im Staate ist, wie das Eingangszitat verdeutlicht, schon zu Weimarer Zeiten geläufig gewesen und inzwischen – beinahe als geflügeltes Wort – fest etabliert. In einer neueren Arbeit spricht Rüdiger Bergien in diesem Zusammenhang auch von einem deep state,12 ohne dass damit etwas im Kern Abweichendes gemeint ist. Zwar wird die Figur in letzter Zeit wieder mit dem Verweis in Frage gestellt, die Reichswehr habe sich nicht nur vom Weimarer Staat abgekapselt, sondern ihm zeitweise auch angenähert.13 Neben der banalen Feststellung, dass eine Annäherung von Militär und Republik zwei selbständige Entitäten voraussetzt, gibt es viele weitere Gründe, an diesem griffigen Schlagwort festzuhalten, die sich im weiteren Verlauf der Untersuchung zeigen werden. Hinzu kommt hier das Merkmal der Paralegalität, das vor allem die rechtliche Dimension dieser Figur betont: Zum einen tendierte die Reichswehr dazu, ihre Angelegenheiten nach einem Sonder- oder Nebenrecht zu regeln, das sich von den allgemein etablierten Standards des bürgerlichen Rechtsstaats abhob. Zum anderen beanspruchte das Militär von Weimar in mancher Hinsicht geradezu meta-, also überrechtliche, man könnte teils auch sagen: überhaupt nicht-rechtliche Maßstäbe für sich. Hier sind im Wesentlichen drei Ursachen zu nennen, die auch im weiteren Verlauf noch eine Rolle spielen: 8 9 10 11
12 13
Die Formulierung entlehne ich Mertes, Widerspruch. Zur rechtsmethodischen Analyse der Antigone siehe Hager, Rechtsmethoden, Kapitel »Das Vermächtnis der Antigone«, S. 330–334. Droysen, Leben, Band 1, S. 363–367. Diese Frage stellte sich auch Carl Schmitt: »Der Staat als die maßgebende politische Einheit hat eine ungeheure Befugnis bei sich konzentriert: die Möglichkeit Krieg zu führen und damit offen über das Leben von Menschen zu verfügen. Denn das jus belli enthält eine solche Verfügung; es bedeutet die doppelte Möglichkeit: von Angehörigen des eigenen Volkes Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft zu verlangen, und auf der Feindesseite stehende Menschen zu töten«, Schmitt, Begriff, S. 46 (mit eigenen Hervorhebungen). Bergien, Republik, S. 396. Siehe insbesondere neuerdings Keller, Wehrmacht, S. 10–12.
18
Einleitung
Erstens ssind die überkommene Stellung des preußisch dominierten Militärs im Kaiserreich und sein spezielles Verhältnis zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Revolution zu nennen.14 Die bisherige Rolle des Militärs im Deutschen Reich charakterisierte der nationalliberale Abgeordnete Rudolf v. Bennigsen recht treffend, als er 1874 zum Reichstagsplenum sprach: »Die Kriegsverfassung, die Heereseinrichtung bilden einen so wesentlichen Bestandtheil der Verfassung eines Volkes, eines Staates, sie bilden bis zu einem so hohen Maße das Knochengerüst der Verfassung eines jeden Staates, daß, wenn es nicht gelingt, […] die Heerverfassung und Wehrverfassung einzufügen in die konstitutionelle Verfassung, überhaupt die Konstitution in einem solchen Lande noch keine Wahrheit geworden ist.«15
In wenigen Worten brachte Bennigsen damit das Spannungsverhältnis von Wehrverfassung und Konstitutionalismus, von preußischem Soldatenstaat und nationalem Bürgerstaat zur Sprache. Dieser unentschiedene Dualismus prägte die Verfassungsrealität des Bismarckreiches bis zu seinem Untergang.16 Als Deutscher Kaiser war der preußische Monarch nach der Reichsverfassung der »Oberste Kriegsherr«,17 auch wenn Wilhelm II. diese Stellung im Ersten Weltkrieg faktisch zugunsten der OHL verlor. Alle Offiziere und Soldaten des Heeres wurden jedoch auf ihren jeweiligen Landesherrn (oder den Senat von Hamburg, Bremen oder Lübeck), der nicht notwendig ein Kontingentsherr sein musste, und nicht etwa das Reich (oder wie bei den Beamten auch die Verfassung) vereidigt.18 Die Bismarck’sche Reichsverfassung verlangte lediglich, dass die Gehorsamspflicht gegenüber dem Obersten Kriegsherrn in den Eid aufgenommen wurde.19 Damit war das Dienst- und Treueverhältnis zumindest noch der Idee nach allein auf die Person des jeweiligen Landesherrn, nicht aber auf den Kaiser oder den Kontingentsherrn, und damit auch nicht auf eine politische Funktion oder ein Amt hin ausgerichtet. Das alte Heer kannte also grundsätzlich keine kaiserlichen oder gar Reichsoffiziere, sondern nur Offiziere etwa des bayerischen oder preußischen Königs.20 Dennoch ist klar, dass diese eidestechnische Differenzierung allein der vertrackten Heeresverfassung geschuldet war und im Bewusstsein der allermeisten Soldaten der Kaiser als Oberbefehlshaber den maßgeblichen Bezugspunkt bildete.21 14 15 16
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»Das Heer blieb der Kern des preußischen Staates; es war nicht nur, wie man oft gesagt hat, ein ›Staat im Staate‹; es war der Staat im Staate«, Schmitt, Staatsgefüge, S. 12. Verhandlungen des Reichstags, I. Session 1874, Band 2, S. 754. Sehr treffend Huber, Heer, S. 314–320; siehe auch Schmitt, Staatsgefüge, S. 7–36. Zu den im Detail differierenden Ansichten Hubers und Schmitts über den deutschen Konstitutionalismus siehe die ausführlichen kritischen Anmerkungen bei Grothe, Geschichte, S. 270–286. Der Oberbefehl des Kaisers über Marine und Heer war in Art. 53 Abs. 1 S. 1 und Art. 63 Abs. 1 RV 1871 geregelt. Für einen Überblick über die verschiedenen Eidesformeln siehe Lange, Fahneneid, S. 70–73. Art. 64 Abs. 1 RV 1871. Fielen Landesherrlichkeit und Kontingentsherrlichkeit nicht zusammen, wurde der Fahneneid also nicht dem Kontingentsherrn, sondern dem Landesherrn geleistet. Ein Preuße, der im bayerischen Heer diente, schwor also dem preußischen König, ein Hamburger, Bremer oder Lübecker seinem Senat, gleich wo er diente. Siehe vertiefend Laband, Staatsrecht, Band 4, S. 63 und 75 f. Lange, Fahneneid, S. 82 f.
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Dieses späte Relikt von Vasallentum und lehensrechtlicher Heerfolge kam besonders darin zum Ausdruck, dass der Schwur beim Tod des eidnehmenden Fürsten sofort gegenüber dessen Nachfolger zu erneuern war. Dem Kaiser unmittelbar schworen nur die Offiziere und Soldaten aus dem Reichsland Elsass-Lothringen sowie die Angehörigen der Marine und der Schutztruppen die Treue.22 Schon die reaktionär revidierte Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat von 1850 hatte die Vereidigung der Soldaten auf die Verfassung explizit ausgeschlossen.23 Diesem Verständnis folgend sprach der preußische König und Kaiser in seinen Militärverordnungen ganz selbstverständlich von »meinem Heer«.24 Während der souveräne Monarch sich ab dem 18. Jahrhundert im Sinne eines aufgeklärten Absolutismus auf vielen Gebieten zunehmend auch selbst rechtlich verpflichtet sah, galt dies im Bereich des Militärs für König und Kaiser,25 wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt: Nicht nur war dieses Feld im Sinne einer domaine réservé der parlamentarischen Kontrolle entzogen. Hinzu kam, dass hier noch die ursprünglich angelsächsisch-mittelalterliche,26 später absolutistisch-hobbesianische Idee27 des rex non potest peccare (the king can do no wrong)28 gewissermaßen als »Residuum« 22
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Weitere Ausnahmen waren der Höchstkommandierende eines Kontingents und alle Offiziere, die Truppen mehr als eines Kontingents befehligten sowie alle Festungskommandanten; sie hatten ebenfalls nach Art. 64 Abs. 2 S. 1 und 2 RV 1871 dem Kaiser den Fahneneid zu leisten. Art. 108 der Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31.1.1850 (Preußische Gesetzsammlung 1850, S. 17–35): Die Mitglieder der beiden Kammern und alle Staatsbeamte leisten dem Könige den Eid der Treue und des Gehorsams und beschwören die gewissenhafte Beobachtung der Verfassung. Eine Vereidigung des Heeres auf die Verfassung findet nicht statt.« Siehe nur die Vorrede Wilhelms I. zur Allerhöchsten Verordnung über die Ehrengerichte der Offiziere im Preußischen Heere vom 2.5.1874: »Ich will, daß die heute von Mir vollzogene Verordnung über die Ehrengerichte der Offiziere in Meinem Heere in dem Geiste verstanden und angewendet wird, der Mein Heer von alters her ausgezeichnet hat.« Nach einer beachtlichen zeitgenössischen Auffassung war der Deutsche Kaiser nicht Monarch des Deutschen Reiches; Träger der Souveränität waren vielmehr »die deutschen Fürsten und die Senate der freien Städte in ihrer Gesamtheit«, siehe nur Laband, Staatsrecht, Band 2, S. 97 und 215. Vor dem Hintergrund des Oberbefehls des Kaisers über die Streitkräfte, seiner diesbezüglichen parlamentarischen Unverantwortlichkeit, seiner Kreativfunktion bezüglich der Reichsregierung sowie der Erstreckung von Gottesgnadentum und Erblichkeit auf die Kaiserwürde ist er jedenfalls als (konstitutioneller) Monarch zu betrachten, siehe auch Böckenförde, Zusammenbruch, S. 308–311, der von einer zunehmenden Nationalisierung der Souveränität ausgeht. Das wilhelminische Kaisertum lässt sich auch als »Cäsarismus« im Sinne eines Heerkaisertums deuten, was mit dem hier vertretenen Standpunkt sehr gut zu vereinbaren ist, siehe hierzu Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 335 m. w. N.; i. E. zustimmend auch Huber, Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 999 f. Zu den lehensrechtlichen Wurzeln der Souveränität im Heiligen Römischen Reich siehe Schliesky, Souveränität, S. 60–62; zur Problematik des Souveränitätsbegriffs im Mittelalter Klippel, Staat, S. 103–107. »it follows that whatsoever he doth, can be no injury to any of his subjects; nor ought he to be by any of them accused of injustice. […] and consequently to that which was said last, no man that hath sovereign power can justly be put to death, or otherwise in any manner by his subjects punished”, Hobbes, Leviathan, Teil 2, Kap. 18, S. 90. Rittau, WG-Kommentar, S. 44 (fälschlicherweise als »the knigth can not do wrong«); Marschall v. Bieberstein, Verantwortlichkeit, S. 17; siehe Huber, Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 78 (für Preußen) und S. 990 (für das Kaiserreich), wonach das Militär nicht außerhalb der Verfassung stand, sondern lediglich eine weitere Gewalt im Sinne der Gewaltenteilung darstellte.
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vorherrschte:29 Der König und Kaiser stand – was die Streitkräfte anbetraf – völlig »außerhalb der Gesetze«.30 Paul Laband formulierte es in seinem Staatsrechtslehrbuch so: »Mit dem dargelegten Wesen der [kaiserlichen] Kommandogewalt steht im Einklang, daß die Armee nicht auf die Beobachtung der Verfassung vereidigt wird und militärische Anordnungen des Monarchen keiner Kontrasignatur bedürfen und nicht wie Gesetze und Rechtsverordnungen in gesetzmäßiger Weise verkündet zu werden brauchen.«31 Dass im monarchischen Verfassungsstaat preußischen Zuschnitts einzig militärische Kommandosachen von der Gegenzeichnungspflicht ausgenommen blieben, ging auf Friedrich Wilhelm IV. zurück. Als eine wesentliche Maßnahme der Reaktion hatte er seinem Staatsministerium am 1. Juli 1849 per Erlass den Wegfall der Gegenzeichnung bei Kommandoakten mitgeteilt,32 obschon selbst die oktroyierte preußische Verfassung von 1849 eine solche Exemtion eigentlich nicht vorgesehen hatte.33 Auch im preußischen Verfassungskonflikt der 1860er Jahre, der sich nur vordergründig um den Haushalt gedreht hatte, war das eigentliche Bemühen des Abgeordnetenhauses um eine parlamentarische Kontrolle des Militärs am Widerstand von König und Bismarck gescheitert.34 Die Vorstellung, dass es sich bei der Kommandogewalt gewissermaßen um eine ganz eigene separate Form der Staatsgewalt handelte, erwies sich über Weimar hinaus als äußerst langlebig und widerstandsfähig gegenüber verfassungsrechtlichen Umwälzungen: Noch im Jahr 1967 diskutierte die Staatsrechtslehrertagung intensiv die Frage, ob die Bundeswehr unter dem Grundgesetz der Exekutive zuzurechnen sei oder ob sie wegen ihrer »unmittelbaren staatserhaltenden Funktion« (Peter Lerche)35 eine Einrichtung »besonderer Art« darstelle.36 29
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So auch noch Hegel, Grundlinien, § 139: »[…] so ist der Monarch für alle Regierungshandlungen unverantwortlich.« In Art. 1 des österreichischen Staatsgrundgesetzes über die Ausübung der Regierungs- und der Vollzugsgewalt vom 21.12.1867 hieß es ausdrücklich: »Der Kaiser ist geheiligt, unverletzlich und unverantwortlich.« Carl Schmitt sprach von der »›absolutistischen Dienstgewalt‹ des Obersten Kriegsherrn«, Schmitt, Staatsgefüge, S. 15; siehe auch Marschall v. Bieberstein, Verantwortlichkeit, S. 3 (»jenes Gebiet der Staatstätigkeit, das noch die meisten Anklänge an den Absolutismus aufweist: das Heerwesen.«), S. 374 (»[Die Kommandogewalt …], die man heimlich aus der Erbschaft des Absolutismus herüberzuretten gewußt«). Siehe auch Wehler, Zabern, S. 44–46. Koenigsbeck, Oberbefehl, S. 59; siehe auch v. Kirchenheim, Staatsrecht, S. 343. Laband, Staatsrecht, Band 4, S. 38; Huber, Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 76 f., 1000–1004. Abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 2, S. 8–10. Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 5.12.1848, Preußische Gesetzsammlung 1848, S. 375– 391.; abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 1, S. 484–493. Die oktroyierte Verfassung sprach dem König in Art. 44 zwar den Oberbefehl zu, jedoch war die Gegenzeichnungspflicht dem Wortlaut des Art. 42 nach unbeschränkt. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 324 f. Die nachträgliche Legalisierung der von Bismarck geschaffenen Fakten durch die »Indemnitätsvorlage« kann höchstens als bescheidener Erfolg des Parlaments gewertet werden. Siehe auch Walter, Heeresreformen, S. 21 f. und besonders S. 467–469, der im Ausgang des Verfassungskonflikts die weder parlamentarische noch absolutistische, sondern konstitutionelle Monarchie des Kaiserreiches als »System umgangener Entscheidungen« (Wolfgang J. Mommsen) vorweggenommen sieht. Zur Kontroverse Huber/Schmitt über die Deutung des Verfassungskonflikts siehe die ausführlichen kritischen Anmerkungen bei Grothe, Geschichte, S. 270–286. Lerche, Grundrechte, S. 454 f. Das einschlägige Impulsreferat gab Unruh, Führung, S. 167–173.
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Pointiert gesprochen war das Militär also ursprünglich die persönliche Privatveranstaltung eines niemandem verantwortlichen Monarchen.37 Das setzte sich auch im Verhältnis zwischen Vorgesetztem und Untergebenem fort: »Zwar kann der Vorgesetzte nicht befehlen, was ihm beliebt; er ist vielmehr seinerseits wieder durch Verordnungen, Instruktionen und Befehle seiner Vorgesetzten angewiesen, was er den ihm untergebenen Mannschaften befehlen dürfe und solle. Die Ordnung dieser Verhältnisse ist aber eine innere Angelegenheit der Armee und Marine und nicht von rechtlicher Natur.«38 Dass der Kaiser seine Stellung als Oberbefehlshaber im Ersten Weltkrieg insbesondere wegen der fortschreitenden Technisierung und der immer komplexer werdenden Lagen nur noch nominell wahrnehmen konnte, während die eigentliche Macht bei den Generalen der OHL und ihren Stäben konzentriert war,39 ist in erster Linie eine Frage des Primats der Politik und änderte nichts an der sonderrechtlichen, inneren Konstitution des Militärs.40 Darüber hinaus stand das deutsche Militär aus der Perspektive der Jahreswende 1918/1919 in einem historisch sehr zwiespältigen Verhältnis zu Revolution und demokratischer Staatsform: Bereits 1848, also gerade einmal siebzig Jahre zuvor, hatte der »Kartätschenprinz« und spätere Kaiser Wilhelm I. die Revolution in Preußen niederschießen lassen. König Friedrich Wilhelm IV. resümierte hierzu: »Gegen Demokraten helfen nur Soldaten.«41 Diese traditionelle Revolutionsfeindlichkeit des preußischen Heeres wurde unter den veränderten Bedingungen des Massenheeres mit der Novemberrevolution zwar in Frage gestellt. So bildeten die Streitkräfte im November 1918 selbst den eigentlichen Revolutionsherd. Die Dolchstoßlegende erlaubte jedoch, diese Tatsache zumindest teilweise auszublenden.42 Zudem ließ der Friedensvertrag von Versailles ohnehin kein Massenheer zu, so dass auf die Rekrutierung revolutionsfreundlicher Elemente verzichtet werden konnte und insofern für die Reichswehr jene Bedingungen nicht entstehen konnten, wie sie der Novemberrevolution zu Grunde gelegen hatten. Im Kaiserreich war die Armee ein absolutistisches Rudiment in der konstitutionellen Monarchie gewesen. In der Weimarer Republik soll sie schon nach zeitgenössischer Charakterisierung ein »monarchistischer Rest in einem parlamentarischen Parteienstaat« geblieben sein.43 Das wirft die Frage auf, inwieweit Rechtsvorstellungen aus der Zeit der Monarchie auch noch nach der Novemberrevolution von 1918 37
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E.-W. Böckenförde spricht in diesem Zusammenhang von einem »extrakonstitutionellen Reservat«, siehe Böckenförde, Typ, S. 287–289. Zum Dualismus von preußischem Soldatenstaat und bürgerlichem Verfassungsstaat siehe Schmitt, Staatsgefüge, S. 7, 11 f. und 23; ausführliche kritische Anmerkungen hierzu bei Grothe, Geschichte, S. 270–286. Laband, Staatsrecht, Band 4, S. 156. Instruktiv Epkenhans, Ende, S. 63–74. Wehler, Kaiserreich, S. 213. Brief Friedrich Wilhelms IV. an den Gesandten Freiherrn v. Bunsen vom 7.5.1849, abgedruckt bei Hoke/ Reiter, Quellensammlung, S. 390. Ursprünglich handelt es sich um den Titel einer 1848 anonym veröffentlichten Schrift, die Gustav v. Griesheim zugeschrieben wird. Anders als etwa in Frankreich, den USA und Irland gibt es in Deutschland bis heute keinen identitäts- und einheitsstiftenden republikanisch-militärischen Gründungsmythos. Rabenau, Seeckt, S. 469.
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auf die Reichswehr und insbesondere die staatsorganisationsrechtliche Stellung ihres Oberbefehlshabers, des Reichspräsidenten, einwirkten. Nach der extrakonstitutionellen Stellung des Militärs im Kaiserreich kamen als zweite wesentliche Ursache für den paralegalen Charakter der Reichswehr das weitgehend kompromisslose Zusammengehen von Mehrheitssozialdemokratie und alter Militärelite gleich zu Beginn der Revolution sowie die folgenden, teils sehr blutigen innenpolitischen Machtkämpfe in den frühen Jahren der Weimarer Republik hinzu. Der Ausnahmezustand, der wesentliche Grundrechte außer Kraft setzte, gehörte hier fast schon zur Tagesordnung. Ein gutes Stück weit verlagerte sich der Krieg aus den Schützengräben an die Heimatfront. Seine rechtliche Einhegung war ein vergleichsweise neues Phänomen und setzte sich erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr durch: Die Haager Landkriegsordnung etwa war erst 1907 angenommen worden. Bis zur schrittweisen Etablierung und Akzeptanz des humanitären Völkerrechts hatte sich aber zumindest das zwischen den Kriegsparteien geltende ius in bello weitgehend auf die nüchterne Feststellung beschränkt, dass unter den Waffen die Gesetze schwiegen.44 Zudem hatte der Weltkrieg eine neue antidemokratische Rechte hervorgebracht, die einen autoritären Staat der Zukunft herbeisehnte. So bildete sich ein politisches Klima, das den Nährboden für metarechtliche Vorstellungen bereithielt. Die Legitimität der notfalls gewaltsamen Entscheidung genoss hier den Vorzug gegenüber der Legalität des Rechts. Ein solches »Recht des Stärkeren«, in gewissem Sinne also ein »Rechtsdarwinismus«, kündigte bereits leise die Aufhebung der rechtlichen Ordnung durch die Nationalsozialisten an. Gestützt wurde diese Richtung von prominenten Staatsrechtlern der »konservativen Revolution« wie Carl Schmitt, der mit seinem Ausnahmezustandsdenken eine metarechtliche Logik zu etablieren suchte.45 Hierbei handelte es sich jedenfalls um außerrechtliche Legitimationsvorstellungen, die jenseits der Verfassung lagen. Hinzu kam, dass die konservative Justiz die überwiegend von Seiten der politischen Rechten begangenen Gewalt- und Gräueltaten – etwa im Zuge der Spartakistenaufstände, der Niederschlagung der Münchner Räterepublik, des Kapp-Lüttwitz-Putsches sowie des Ruhraufstands – nur unzureichend und einseitig verfolgte.46 Drittens waren der Versailler Vertrag und die in ihm enthaltenen Rüstungs- und Stärkebeschränkungen eine weitere, wenn auch mittelbare Ursache für die Paralegalisierung der Reichswehr. Rüdiger Bergien hat in einer jüngeren Untersuchung nachgewiesen, dass sich die Reichswehr bei ihren Geheimrüstungsmaßnahmen vor allem ab dem Jahr 1925 auf einen zwar stillschweigenden, aber doch breiten politischen Konsens der »Wehrhaftmachung« von militärischen wie zivilen Eliten stützen 44
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»Silent enim leges inter arma«, so Cicero bei seiner Verteidigungsrede für Titus Annius Milo, siehe Klotz, Cicero, S. 69. Ähnlich bei Grotius, De jure belli ac pacis, Prolegomena § 26 sowie bei Hobbes, De cive, Kapitel 5 Nr. 2. Carl Schmitt rezipierte Thomas Hobbes in erheblichem Ausmaß, siehe nur Schmitt, Begriff, S. 53 und 61; er widmete Hobbes’ Hauptwerk eine umfangreiche Monographie, siehe Schmitt, Leviathan; siehe zu Schmitts Hobbes-Rezeption auch Frankenberg, Staatstechnik, S. 134–136. Siehe nur die zeitgenössische statistische Studie von Gumbel, Mord.
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konnte.47 Die deutsche Gesellschaft sah den Friedensvertrag ohnehin nur bedingt als bindend an, was nicht zuletzt daran lag, dass er unter erheblichen Drohungen der Entente und noch nicht einmal formal auf Augenhöhe mit den Vertretern des Deutschen Reichs zustande gekommen war. Solche Rechtsgeschäfte waren und sind im Zivilrecht kontinentaleuropäischer Tradition wenigstens anfechtbar, wenn nicht von vornherein unwirksam.48 Nach hergebrachtem Verständnis galt das für völkerrechtliche Verträge zwar mit der Einschränkung, dass nur der Zwang gegen einen Unterhändler, nicht aber gegen eine Vertragspartei als solche rechtserheblich sein konnte – eine logische Konsequenz, solange man das ius ad bellum der Staaten praktisch uneingeschränkt anerkannte. Jedoch war es der Versailler Vertrag selbst, der dieser Argumentation die Grundlage entzog, indem er das Recht zum Krieg durch die Gründung des Völkerbundes in erheblichem Maße einzuschränken suchte.49 Es ist daher durchaus verständlich, dass die meisten Deutschen sich an den Vertrag nicht gebunden fühlten.50 Das »Versailler Diktat« zu umgehen und abzustreifen gehörte somit zum politischen Grundton von Weimar. Zu diesem Zweck suchte die Reichswehr schon früh den Kontakt zu paramilitärischen, politisch tendenziell rechtsradikalen Verbänden wie etwa SA und Stahlhelm. Sie standen in der Tradition der Freikorps aus den Anfangsjahren der Republik und sollten als »Schwarze Reichswehr« die personelle Aufwuchsfähigkeit der Streitkräfte im Kriegsfall gewährleisten. Die Reichswehrführung stellte hierzu Geld, Waffen, Munition und Gerät, aber auch Ausbilder und Ausbildungsstätten zur Verfügung. Nach außen hin berief sich der zweite Reichswehrminister, Otto Geßler, dabei immer wieder auf Befehle zum Verbot der Zusammenarbeit mit paramilitärischen Wehrverbänden, die ihm vor allem von Seiten der sozialdemokratischen Opposition abgerungen worden waren.51 Nach innen wurde die Kooperation mit paramilitärischen Formationen (wie etwa, vor allem in Bayern, der SA, zumindest bis zum Hitler-Ludendorff-Putsch) weiter toleriert und finanziert.52 Darüber bereitete die Reichswehr im Geheimen auch die materielle Aufrüstung vor; dabei kam es auch zu einer intensiven Zusammenarbeit mit der Roten Armee. Diese gegen den Versailler Vertrag verstoßenden Aktivitäten der Reichswehr waren auch binnenstaatlich nicht nur mittelbar rechtswidrig wegen Art. 4 WRV, der die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts zu bindenden Be47 48 49 50 51
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Bergien, Republik, S. 17. Siehe für Deutschland § 123 Abs. 1 BGB, für Österreich § 870 ABGB, für Frankreich Art. 1109 CC. Guggenheim/Marek, Verträge, S. 541 f. Siehe heute dagegen Art. 52 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.5.1969, BGBl. 1985 II S. 927–960. Hier spricht der Jurist bei Haffner, Anmerkungen, S. 81 f. Befehl des Reichswehrministers Geßler über die militärische Zusammenarbeit der Reichswehr mit privaten Organisationen vom 22.2.1923, abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 17 f.; siehe auch den Bericht des stellvertretenden bayerischen Bevollmächtigten zum Reichsrat, Ministerialrat Sperr, an das bayerische Staatsministerium des Äußern über eine Erklärung des Reichswehrministers Geßler zur Zusammenarbeit der Reichswehr mit Zeitfreiwilligen- und Selbstschutzformationen vom 27.2.1923, abgedruckt ebenda S. 18 f. Siehe etwa den Befehl des Infanterieführers der 7. (Bayerischen) Division, Generalmajor Ritter v. Epp, über die militärische Ausbildung von Zivilisten vom 1.6.1923, abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 43– 47.
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standteilen des Reichsrechts erklärte.53 Vielmehr hatte die Nationalversammlung ihre Zustimmung zum Friedensvertrag am 16. Juli 1919 durch Verabschiedung eines entsprechenden Transformationsgesetzes gegeben.54 Gegen diese paralegalen Tendenzen kämpfte vornehmlich die politische Linke an. Sie meldete ein starkes Interesse an der Demokratisierung, Republikanisierung und parlamentarischen Kontrolle der Armee an. In gewisser Hinsicht waren hier also zwei entgegengesetzte Strömungen am Werk: Die eine wollte das Militär und seine Soldaten grundsätzlich sonder- oder außerrechtlich behandeln, also die Ausnahme (oder gar den Ausnahmezustand) zur Regel machen. Für dieses Konzept steht maßgeblich der als »Vater der Reichswehr« in die Geschichte eingegangene Generaloberst v. Seeckt, nach dessen Auffassung dem Heer vom Staat »volle Freiheit in seiner Entwicklung und in seinem Eigenleben zu geben [sei], soweit sich diese in den Gesamtkörper [des Staates] einfügen lassen«.55 Die Gegenauffassung wollte die Reichswehr verrechtlichen und an allgemeinrechtsstaatliche Standards annähern, so dass Ausnahmen vom rechtlichen Regelfall a priori als begründungspflichtig angesehen werden sollten. Das Spannungsverhältnis und die Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Lagern aufzuzeigen ist eine wesentliche Aufgabe dieser Untersuchung.
3. Methode Eine rechtshistorische Untersuchung legt ihren Schwerpunkt naturgemäß auf eine Analyse der Rechtsquellen: Hier sind zunächst Gesetze und Vorschriften nicht nur über die Wehrverfassung, sondern auch über den rechtlichen Status des Soldaten zu nennen: seine Pflichten, den Befehl im rechtlichen Sinne, das Vorgesetztenverhältnis, das Wehrdisziplinar- und Strafwesen sowie das materielle Beschwerderecht. Dazu treten die Gesetzgebungsmaterialien und zeitgenössische Literatur. Um die Regelungen zu verstehen, müssen ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln offengelegt und analysiert werden. Insbesondere um das teilweise Fortwirken des monarchistischen Militarismus sichtbar zu machen, arbeitet die Untersuchung die Kontinuitäten und Brüche zum Wehrrecht des Kaiserreichs heraus. Dabei sei schon jetzt auf eine wichtige Zäsur hingewiesen: Die Weimarer Republik verfasste die deutschen Streitkräfte mit der Reichswehr erstmals zentralstaatlich. Ohnehin legt die Untersuchung einen zeitlichen Schwerpunkt auf die Gründungs- und Anfangsjahre von Weimar, da hier die wesentlichen Weichen für das Recht der Reichswehr gestellt wurden. Für die Marine ergingen teils gesonderte Regelungen. Schon wegen dessen überragender personeller Stärke legt die Arbeit jedoch einen Schwerpunkt auf das Heer und geht auf die Marine nur insofern ein, als sich dort bedeutsame Abweichungen ergeben. Rechtsprechung und Rechtspraxis werden zur Analyse nur insofern heran53 54 55
Zu den »allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts« (Art. 4 WRV) zählte man auch den Grundsatz pacta sunt servanda, Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 4, Anm. 2, 4, 8. Gesetz über den Friedensschluß zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 16.7.1919, RGBl. 1919 S. 687–1349. Seeckt, Gedanken, S. 115.
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gezogen, als dies zum Verständnis der Normen und ihrer zeitgenössischen Interpretation hilfreich ist. Der Versuch einer erschöpfenden Justiz-, Rechtsprechungs- und Rechtspraxisgeschichte würde dagegen den Rahmen sprengen und wäre wohl auch zum Scheitern verurteilt. Denn gerade die Tätigkeit der Rechtspflege der Reichswehr ist aufgrund der kriegsbedingten Aktenverluste so gut wie überhaupt nicht dokumentiert – ein Umstand, der bereits im Zuge der bundesrepublikanischen Wehrgesetzgebung der 1950er Jahre auffiel.56 Der Untersuchungszeitraum endet mit der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933. Das sich ab diesem Zeitpunkt grundlegend ändernde Verständnis von Staat, Recht und Militär rechtfertigt eigenständige weitere Untersuchungen unter ganz anderen Vorzeichen, die zum Teil auch schon erfolgt sind.57 Was die Quellenlage anbetrifft, so sind die einschlägigen Normen allesamt in den durchgehend erhalten gebliebenen Gesetz- und Verordnungsblättern oder – was speziell die Vorschriften anbetrifft – als eigenständige Publikationen teils in Bibliotheken, teils in Archiven verfügbar. Das gleiche gilt für alle in den Reichstag und Reichsrat eingebrachten Gesetzentwürfe: Sie sind als Drucksache und ggf. mit Begründung ohne weiteres zugänglich. Anders sieht es hingegen mit dem Schriftverkehr innerhalb der Reichsregierung aus: Während die Akten der Reichskanzlei im Bundesarchiv in Lichterfelde ziemlich gut erhalten und bereits in einer Gesamtedition herausgegeben worden sind, haben britische Bomber die im früheren Heeresarchiv gelagerten Akten – insbesondere des Reichswehrministeriums – kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs beim Luftangriff auf Potsdam in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1945 weit überwiegend vernichtet. Das wenige Erhaltene findet sich vor allem im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg im Breisgau. Dort wie auch im Bayerischen Hauptstaatsarchiv (Abteilung Kriegsarchiv) haben sich zwar nennenswerte Aktenbestände einzelner Truppenteile, Verbände und Kommandobehörden erhalten, die weit überwiegend aus dem Bereich der 7. (Bayerischen) Division stammen und gewisse Einblicke in die Rechtspraxis der Truppe ermöglichen. Sie sind allerdings in Anbetracht der besonderen bayerischen Militärtradition mit einer gewissen Vorsicht zu interpretieren, da sie nicht immer verallgemeinerungsfähige Rückschlüsse auf die ansonsten preußisch dominierte Reichswehr zulassen. Darüber hinaus sind einige Unterlagen des Reichswehrministeriums aus dem Geschäftsverkehr mit dem Auswärtigen Amt, das beispielsweise in Fragen der katholischen Militärseelsorge gegenüber dem Heiligen Stuhl auftrat, im dortigen eigenständigen Politischen Archiv aufbewahrt. Die Entscheidungen des Reichsgerichts schließlich liegen, soweit sie nicht ohnehin in den allgemein bekannten Entscheidungssammlungen veröffentlicht sind, in der Bibliothek des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe vor. 56 57
Baganz, Rechtspfleger, S. 36 Fn. 121. Siehe nur Messerschmidt, Wehrmachtjustiz. Zur Bedeutung der Zäsur von 1933 siehe Winkler, Weimar, S. 595. Der Zäsurcharakter von 1933 für die rein militärische Entwicklung der Reichswehr wird zunehmend bestritten, siehe hierfür etwa Kroener, Mobilmachungsplanungen, S. 71. Hier allerdings kommt es wesentlich auf das Rechts- und Rechtsstaatsverständnis an, für das das Jahr 1933 unzweifelhaft einen Bruch markiert.
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Historisches Recht ist mit den kritisch-deskriptiven Methoden historischer Wissenschaft zu untersuchen: Die zeitgenössische Interpretation und Anwendung von Normen wird ermittelt, kontextualisiert und natürlich auch hinterfragt, nicht aber anhand der hermeneutisch-normativen Methode der Rechtswissenschaft durch eine eigene Interpretation ersetzt. Für das historische Recht kann uns nur die Frage interessieren »Wie war es?«58 und nicht »Wie hätte es gewesen sein sollen?«.
4. Forschungsstand Eine Rechtsgeschichte der Reichswehr ist bisher noch nicht geschrieben worden. Allgemein war und ist das Interesse an der Reichswehrgeschichte nie so groß wie das an der Geschichte der Wehrmacht des Dritten Reiches, zu der die Forschungsliteratur geradezu unüberschaubar geworden ist. Aus der Perspektive des Rechtshistorikers stechen dort die Arbeiten von Manfred Messerschmidt zur Wehrmachtjustiz hervor. Das von dem Archivar Rudolf Absolon in den 1960er Jahren begonnene mehrbändige Werk über das Recht der Wehrmacht enthält zwar umfangreiche Hinweise und Fundstellen auch zum Recht der Reichswehr, hat aber insgesamt mehr den Charakter eines Nachschlagewerks als einer tiefschürfenden Analyse. Die wenigen Juristen, die in ihren Arbeiten die Geschichte der Reichswehr streiften, interessierten sich vor allem für deren staatsrechtliche Aspekte.59 Innerhalb der Standardliteratur findet die Wehrverfassung die meiste Berücksichtigung bei der grundlegenden, jedoch in die Jahre gekommenen Verfassungsgeschichte Ernst Rudolf Hubers, wohingegen jüngere Lehrbücher, wie etwa das von Michael Kotulla, ihr vergleichsweise deutlich weniger Aufmerksamkeit schenken. Als einschlägige Untersuchung neueren Datums ist schließlich Andreas Dietz’ 2011 veröffentlichte Habilitationsschrift über das Primat der Politik in kaiserlicher Armee, Reichswehr, Wehrmacht und Bundeswehr zu nennen. Den ersten wichtigen Anstoß zur historisch-kritischen Auseinandersetzung mit der Reichswehr gab der Zeitzeuge John W. Wheeler-Bennett mit seiner 1953 erstmals erschienenen »Nemesis of Power«. Trotz seiner bisweilen intentionistischen Herangehensweise ist es Wheeler-Bennetts bleibendes Verdienst, die Reichswehr aus dem Schatten der Wehrmacht herausgeführt und insbesondere auf die Bezüge zwischen ihr und dem konservativen Widerstand gegen Hitler aufmerksam gemacht zu haben. Die daraufhin einsetzende Forschung der 1950er und 1960er Jahre beurteilte die Reichswehr eher kritisch bis negativ, wobei für die bundesdeutsche Fachwelt womöglich auch die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik eine gewisse Rolle gespielt hat.60 Hier sind insbesondere die Arbeiten von Wolfgang Sauer (1955) und von Francis L. Carsten (1964) zu nennen. Zeitlich dazwischen fällte Harold J. Gordon mit 58 59 60
Natürlich auch: »Wie kam es?« und »Warum kam es so und nicht anders?«. Für eine frühe, wenn auch rudimentäre Darstellung hierzu siehe Gilsa, Wehrverfassung. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die militärhistorische Forschung der DDR hier keine nennenswerten Früchte getragen hat.
4. Forschungsstand
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seiner zunächst 1957 im englischen Original erschienenen Arbeit ein sehr viel wohlwollenderes Urteil, dem sich auch der konservative Zeitgenosse Hans Meier-Welcker mit seiner 1967 erschienen und bis heute unersetzbaren Seeckt-Biografie in Hinblick auf den Chef der Heeresleitung bis 1926 anschloss. An Noske dagegen ließ Wolfram Wette wiederum kaum ein gutes Haar, als er 1987 seine allerdings ebenso unverzichtbare Biografie über den ersten Reichswehrminister ablieferte. Der 1970 erschienene Beitrag Rainer Wohlfeils zum Handbuch zur deutschen Militärgeschichte bemühte sich dagegen um eine eher vermittelnde Position. Die Dissertation Michael Geyers über »Aufrüstung oder Sicherheit« aus dem Jahr 1980 betonte wiederum die zweite Phase der Reichswehrgeschichte nach Seeckts Abgang 1926 und nahm dabei die sich hier langsam Bahn brechenden Konzepte einer zunehmenden Verschmelzung von zivilem und militärischem Sektor hin zu einem »totalen Wehrstaat« in den Blick. Ein wiederum eher positives Bild zeichnete Johannes Hürter von Reichswehrminister Groener (1928–1932) in seiner 1993 erschienenen biografischen Dissertation, wohingegen William Mulligan 2005 in seiner Arbeit über die Anfangsjahre der Reichswehr unter Walther Reinhardt recht hart mit dem ersten Chef der Heeresleitung ins Gericht ging. Rüdiger Bergien unterzog in seiner breit angelegten Studie über die »bellizistische Republik« aus dem Jahr 2012 die Weimarer Aufrüstungspolitik einer Strukturanalyse und wies dabei auf einen bereits sehr früh angelegten allgemeingesellschaftlichen »Konsens der Wehrhaftmachung« hin. Mit fortschreitendem zeitlichem Abstand scheinen vor allem jüngere Autoren einen auf entsprechender Sachdistanz ruhenden und ergebnisoffenen Blick auf die Reichswehr werfen zu können, der Zeitgenossen der Jahre 1918 bis 1945 vielleicht noch schwerer gefallen sein mag. In diese Kategorie fällt besonders die 2014 erschienene Dissertation Peter Kellers über die Gründungs- und Frühphase der Reichswehr, die sich von einer deterministischen Betrachtungsweise löst und die verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten des Militärs zu Beginn der Republik auslotet. Der unmittelbaren Zeit nach dem Ersten Weltkrieg widmet sich auch die 2016 erschienene Arbeit Mark Jones’, die umfassend darlegt, wie gesellschaftliche Ängste, Gerüchte und propagandistische Falschdarstellungen eine entscheidende Rolle bei der – auch militärischen – Radikalisierung der Innenpolitik zu Anfang der Weimarer Republik spielten. Damit erscheint die Reichswehr zunehmend ambivalent als eine Einrichtung, die zwar einerseits keine große Stütze der parlamentarischen Staatsform, andererseits aber zuletzt der einzige ernstzunehmende innenpolitische Gegner Hitlers war und damit auch im Sinne einer politischen Standortbestimmung zwischen Republik und Nationalsozialismus zu verorten ist.
I. ENTSTEHUNG DER WEIMARER WEHRVERFASSUNG »Da gelten Paragraphen nichts, sondern da gilt lediglich der Erfolg, und der war auf meiner Seite.« Gustav Noske über die Spartakusaufstände am 27. März 1919 vor der Nationalversammlung1
Die Entstehung der Reichswehr und ihrer Wehrverfassung lässt sich nur vor ihrem gesamtpolitisch-historischen Hintergrund verstehen. Sie verlief im Wesentlichen in drei Entwicklungsstadien: erstens eine kurze revolutionäre Phase nach dem 9. November 1918, zweitens eine Phase des (wehr-)konstitutionellen Übergangs vom Februar 1919, als die Nationalversammlung zusammentrat, und drittens schließlich die der endgültigen, auch rechtlichen Festigung, die mit der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung im August 1919 einsetzte und mit dem Wehrgesetz im März 1921 einen vorläufigen Abschluss fand.
1. Unvollendete Revolution, Ausnahmezustand und Geheimrüstung: Die Entstehung des paralegalen Staats im Staate Die Frühphase der Weimarer Republik war gekennzeichnet vom Ende des Ersten Weltkrieges und der Novemberrevolution 1918, von der Auflösung des alten Heeres und der beginnenden Aufstellung von Freiwilligenverbänden (Ende 1918/Anfang 1919) sowie der fortgesetzten innenpolitischen Auseinandersetzung um das staatliche Gewaltmonopol im rechtlichen Ausnahmezustand.2 In diese Zeit fallen wichtige militärpolitische Weichenstellungen, die einerseits die staatsorganisationsrechtliche Stellung der Reichswehr, andererseits die politische wie soziale Konstitution ihres Personalkörpers und damit auch ihren Geist und ihre Kultur als paralegaler Staat im Staate bis zu ihrem Aufgehen in der Wehrmacht dauerhaft geprägt haben.
a) Der ernüchterte Abschied von der Monarchie Die Jahre 1918 und 1919 markieren einen Wendepunkt in der deutschen und europäischen Geschichte. Eine Folge der Niederlage der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg war der endgültige Abschied von der (konstitutionellen) Monarchie als der vorherrschenden Staatsform in Europa. Während Frankreich diesen Schritt bereits erstma1 2
Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 327, S. 854. Kroener, Militär, S. 18.
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lig mit der Revolution der Jahre 1789 bis 1799 vollzogen und das Vereinigte Königreich mit seiner parlamentarischen Monarchie einen Sonderweg beschritten hatten, wurden die imperialen Monarchien der übrigen europäischen Großmächte Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland erst im Zuge der Schlussphase des Ersten Weltkrieges beseitigt.3 Alle diese Umstürze fanden mit großer Wucht und unter dem Eindruck des beendeten Krieges statt. Dabei kam gerade Deutschland zu seiner Republik nicht wie die Jungfrau zum Kinde: Schon vor der Revolution hatte die OHL mit der faktischen Machtübernahme unbewusst selbst am Thron ihres Obersten Kriegsherrn gesägt und das reichsdeutsche Kaisertum endgültig materiell entkernt.4 Am Ende entblößte der stille und weitgehend unwidersprochene Abgang Wilhelms II. lediglich das »Alte und Morsche«, wie Philipp Scheidemann die Monarchie nannte, als er die Republik ausrief. Aber auch der mächtige preußische Generalstab hatte versagt: Die den Aufmarschplanungen Moltkes d.J. zugrundeliegenden strategischen Annahmen hatten sich als grundfalsch erwiesen; ein Sieg war schon im September 1914 in weite Ferne gerückt.5 In Deutschland hatte die Monarchie entscheidend auf der persönlichen Gefolgschaft des Heeres beruht, was besonders eklatant am Vergleich der Revolutionslagen von 1848 und 1918 deutlich wird: Während die preußische Armee die Monarchie in der Märzrevolution rettete, versetzte ihr das Massenheer des Ersten Weltkriegs hingegen mit der kollektiven Aufsagung des Treueids im November 1918 den entscheidenden Todesstoß:6 Die Abdankung des Kaisers und seinen Gang ins Exil erlebten einige Militärs umgekehrt als Fahnenflucht des Monarchen.7 Auch war die OHL, die spätestens seit 1916 Züge einer verdeckten Militärdiktatur aufgewiesen hatte,8 durch die Ende Oktober 1918 von Flotte und Heimatheer ausgehende Revolution zunächst desavouiert worden. Ihr brach die personelle Machtbasis der Mannschaften weg:9 Die sich bildenden Soldatenräte beanspruchten Teilhabe nicht nur an der weiteren politischen Entwicklung, sondern auch Mitbestimmung in Kommandoangelegenheiten, die Abschaffung von Rangab3 4
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Hierzu ausführlich Leonhard, Büchse, S. 895–915. Monarch im klassischen Sinne war der Kaiser ohnehin nur als König von Preußen gewesen. Das Kaisertum der Reichsverfassung von 1871 hatte dagegen nicht wirklich auf der Idee einer gottbegnadeten Herrschaftsperson, sondern auf dem Bund der Fürsten beruht. Der Kaiser war damit im Kern nicht mehr als ein politisches Amt, das dem Präsidium des vorangegangenen Norddeutschen Bundes weitestgehend entsprach. Siehe hierzu bereits die zeitgenössische Darstellung bei Laband, Staatsrecht, Band 2, S. 97 und 215. Heinrich Mann entlarvte dieses Auseinanderfallen von Form und Inhalt literarisch in seinem Roman »Der Untertan«, in dem der Protagonist den Kaiser wiederholt als »persönlichste Persönlichkeit« tituliert, die lediglich eine Rolle spielt; siehe hierzu Wieler, Dilettantismus, S. 281–285. Groß, Mythos, S. 105–119; Leonhard, Büchse, S. 180–182. So erklärte der Erste Generalquartiermeister der OHL, Generalleutnant Wilhelm Groener, dem Kaiser am 09.11.1918: »Das Heer wird unter seinen Führern und Kommandierenden Generalen in Ruhe und Ordnung in die Heimat zurückmarschieren, aber nicht unter dem Befehl Eurer Majestät, denn es steht nicht mehr hinter Eurer Majestät«, Groener, Lebenserinnerungen, S. 460. Siehe auch Lange, Fahneneid, S. 84; Huber, Verfassungsgeschichte, Band 5, S. 675–677; ebenso Böckenförde, Zusammenbruch, S. 310 und 318 f. Schulze, Weimar, S. 111; Schmidt, Heimatheer, S. 433; Lange, Fahneneid, S. 82–85. Schudnagies, Belagerungszustand, S. 198–208; Kroener, Militär, S. 13 f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Band 4, S. 112; Wette, Noske, S. 519; siehe auch schon Laband, Staatsrecht, Band 4, S. 41 f.: »Die Erklärung des Kriegszustandes ist im wesentlichen als die Einführung einer Militärdiktatur zu bezeichnen.« Dietz, Primat, S. 166 f.
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zeichen, Achselstücken, Tressen und Seitengewehren sowie die Wahl der Offiziere durch die Mannschaften.10 Die künftige Rolle des Militärs und die rechtliche Stellung des einzelnen Soldaten in der kommenden Republik waren unter diesen Umständen alles andere als vorhersehbar. Für die sich ebenfalls in Räten formierende Arbeiterbewegung wurde nach dem Vorbild des russischen Bolschewismus eine kommunistische Revolution auch in Deutschland zu einer nicht mehr nur theoretischen Option. Unter diesem Eindruck entledigten sich die alten politischen Führungseliten in der Novemberrevolution geschickt ihrer Verantwortung für ihr kollektives Versagen im Ersten Weltkrieg und die nun folgende »Abwicklung« des Kaiserreiches:11 Am 9. November 1918 verkündete Reichskanzler Prinz Max v. Baden die Abdankung Wilhelms II. von Kaiser- und Königsthron und übertrug gleichzeitig die Regierungsverantwortung auf den Mehrheitssozialdemokraten Friedrich Ebert.12 Die Ernennung des Reichskanzlers (und damit die Übertragung der Regierungsgewalt) war aber nach der grundsätzlich weiterhin gültigen Reichsverfassung dem nun nicht mehr vorhandenen Kaiser vorbehalten. In dieser verfassungsrechtlichen Lücke schuf Max v. Baden mit seinem Schritt daher eine Verfassungswirklichkeit, die von solch folgenreicher normativer Kraft war, dass sie als der genuin revolutionäre Akt der Novemberrevolution gelten kann. Die regierungsunerfahrene Mehrheitssozialdemokratische Partei (MSPD) unter Ebert aber konnte den revolutionären Moment, auf den sie zumindest offiziell so lange hingearbeitet hatte, nicht recht auskosten. Sie sah sich einem Scherbenhaufen gegenüber, für den sie fortan in der öffentlichen Wahrnehmung maßgeblich verantwortlich gemacht wurde13 – ein wesentlicher Geburtsfehler der jungen Republik, waren die Sozialdemokraten doch zu deren wichtigsten Gründern und Trägern berufen.
b) Das Ebert-Groener-Bündnis und die »bolschewistische Gefahr«: Eine frühe Weichenstellung für die spätere Rolle des Militärs Die Fehlkonstruktion eines exekutiven Dualismus von politischer und militärischer Führung, die bereits Ende 1913 anlässlich der »Zabern-Affäre« von Seiten der Linken und Linksliberalen kritisiert worden war14 und auch die Spitzengliederung im Kriege 10 11 12
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Wohlfeil, Heer, S. 11, S. 52 f.; Huber, Dokumente, Band 4, S. 46 f. Friedrich Ebert selbst bezeichnete seine Regierung als »die Konkursverwalter des alten Regimes«, siehe Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 2. Die Regelung des Art. 15 Abs. 1 RV 1871, wonach der Kaiser den Reichskanzler ernannte, war in Anbetracht der Abdankung obsolet geworden. Von einem Verfassungsbruch kann daher nicht wirklich die Rede sein. Kroener, Militär, S. 16. Conrad Haußmann (FVP): »der Staat teilt sich in zwei Hälften, das eine ist das Militär, und der oberste Kriegsherr ist die Spitze dieser Hälfte; das andere ist das Zivilleben, die zweite oberste Spitze ist der Herr Reichskanzler, und über ihm steht, maßgebend für seinen Willen, wieder der oberste Kriegsherr, von dem er abhängig ist«, Verhandlungen des Reichstags, Band 291, S. 6381.
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bestimmt hatte,15 trat mit dem Wegfall des Kaisers als einem mehr schlecht als recht koordinierenden Element nun ganz offen zutage. So markiert die Novemberrevolution auch nur eingeschränkt und eher formell einen Systemwechsel von der Monarchie zur Republik. Zwar hatte der erzkonservative Abgeordnete Elard v. OldenburgJanischau bei der Debatte über den Militärhaushalt 1910 noch überzeugt erklärt: »Der König von Preußen und der Deutsche Kaiser muß jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag!«16 Aber so sehr er hiermit reichsweite Aufmerksamkeit erregt hatte, so sehr die Sozialdemokraten aufs Heftigste widersprochen und seine Fraktionsgenossen ihm ebenso eifrig beigepflichtet hatte – ebenso deutlich war die Auffassung des alten »Janischauers« an der politischen Realität des konstitutionellen Spätwilhelminismus vorbeigegangen. Erst recht darf dann nicht übersehen werden, wie sehr die Kriegsjahre das politische Gefüge des Reiches ganz erheblich verändert hatten. Der Kaiser, der zu Kriegsbeginn noch feierlich inszeniert ins Große Hauptquartier ausgezogen war, hatte dort nämlich die meiste Zeit eigentlich nur jagen oder Karten spielen dürfen, während sich die dort versammelte Generalität nicht ins operative Geschäft pfuschen ließ.17 Besonders in der zweiten Kriegshälfte war die Macht derart bei der OHL konzentriert gewesen, dass sie de facto eine Art verdeckter Militärdiktatur ausgeübt hatte. Gerade in Hinblick auf die verspätete Parlamentarisierung der Reichsverfassung durch die Oktoberreformen 1918 hatten Hindenburg und Ludendorff sogar zeitweise erwogen, ihre Pläne für eine absolute Diktatur des Militärs auch in die offene Tat umzusetzen.18 Die Revolutionslage des November 1918 gefährdete damit in erster Linie die erstarkte Macht des preußisch dominierten Militärs. Reichskanzler Ebert ließ sich in dieser Situation auf ein Machtbündnis, einen Herrschaftskompromiss ein: In einem Telefonat in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1918 schloss er mit dem Ersten Generalquartiermeister und faktischen Chef der OHL, Generalleutnant Wilhelm Groener, das »Ebert-Groener-Bündnis«.19 Maßgeblichen Anteil an Zustandekommen und Durchführung dieses pragmatischen Zusammengehens hatte ein damals schon enger Mitarbeiter Groeners: der von ihm persönlich bestellte Leiter der politischen Abteilung der OHL, Major Kurt v. Schleicher.20 Bereits hier kündigte sich Schleichers mächtiges Wirken im Hintergrund an, das die Reichswehr bis in das Jahr 1933 begleitete. Die OHL, die im Verlauf des Weltkrieges faktisch 15 16 17 18
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Schmidt, Heimatheer, S. 301. Eine Apologie der Trennung von Zivilgewalt und Militärgewalt im Kaiserreich findet sich bei Huber, Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 991. Verhandlungen des Reichstags, II. Session 1910, Band 259, S. 898. Epkenhans, Ende, S. 64 und 69 f. Wehler, Kaiserreich, S. 213; Neugebauer, Grundkurs, Band 2, S. 28. Zu den Oktoberreformen, die das Kaiserreich kurz vor seinem Untergang von einer konstitutionellen in eine parlamentarische Monarchie überführten, siehe Gusy, Reichsverfassung, S. 1–9. Groener, Lebenserinnerungen, S. 467 f.; Dietz, Primat, S. 167–172. Neuerdings vertritt Keller, Wehrmacht, S. 43–45, die These, das Ebert-Groener-Bündnis habe lediglich eine Kooperation nachvollzogen, die bereits dezentral auf unterer Ebene organisiert worden war. Für den hier wesentlichen Aspekt, dass sich die neue Reichsgewalt wesentlich auf diese Kooperation stützte, ist das jedoch von untergeordneter Bedeutung. Vogelsang, Schleicher, S. 19 f.; Plehwe, Schleicher, S. 21 und 24.
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zur Schaltzentrale einer verdeckten, nun aber gebrochenen Militärdiktatur geworden war, sollte das Heer geordnet in die Heimat zurückführen sowie die Grenzen des Reichs (insbesondere im Osten) und die neue provisorische Reichsregierung schützen. Groener schrieb wenige Tage später an seine Frau, er wolle Ebert stützen, »damit der Karren nicht noch weiter nach links rutscht«.21 Ebert wiederum sagte der OHL im Gegenzug die wenigstens vorübergehende Anerkennung des Militärs in seinen überkommenen Strukturen und die Unterstützung bei der Aufrechterhaltung von Disziplin und Ordnung im Heer zu. Gleichzeitig erwartete die OHL von Ebert die Bekämpfung des Bolschewismus und erklärte hierzu auch ihre Einsatzbereitschaft.22 Sicherlich erteilte Groener damit der im Generalstab kursierenden, wenn auch vermutlich wenig aussichtsreichen Idee eine Absage, das Feldheer in einen Heimatfeldzug gegen die als »bolschewistisch« verunglimpfte Revolution zu führen.23 Mit dem Pakt war aber zugleich eine frühe Absage an revolutionäre Forderungen der linken Räte nach einer weitgehenden Beteiligung an Kommandoentscheidungen sowie einer grundlegenden Republikanisierung der Armee verbunden, noch bevor diese überhaupt richtig artikuliert werden konnten.24 Das Abkommen sicherte Eberts provisorischer Regierung die nötige Handlungsfähigkeit und grenzte sie gleichzeitig zum äußerst linken Flügel der Sozialdemokratie ab. Auch wurde durch ein solches »Bündnis auf Augenhöhe«25 zwischen Regierung und OHL zum einen die staatsorganisatorische Doppelspitze von militärischer und politischer Führung zunächst fortgesetzt, zum anderen die spätere Rolle der Reichswehr als »Staat im Staate« vorgezeichnet.26 Hierin kann aber auch eine Fortsetzung der Burgfriedenspolitik der Mehrheitssozialdemokraten im Ersten Weltkrieg erblickt werden, die zur folgenschweren Zerrissenheit der Arbeiterbewegung und Abspaltung der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) führte – ein Bruch, der in Gestalt von SPD und der Partei »Die Linke« bis in die heutige Zeit fortdauert. Umgekehrt nahmen Groener nicht wenige seiner monarchistischen Offizierkameraden noch Jahre später die Haltung übel, die der Generalquartiermeister in den Novembertagen einnahm.27 Es handelte sich also um alles andere als eine Liebesheirat, sondern vielmehr um ein Zweckbündnis. Mit dieser folgenreichen Richtungsentscheidung war die Saat gelegt für das die Gründungsjahre der Republik bestimmende Zusammengehen von »antipluralistischem Notwehr- und Ordnungsdenken der extremen Rechten« mit der »Verteidigung der neuen Verfassung durch die jungen republikanischen Regierungsorgane«.28 Der OHL gelang es in den Monaten nach der Revolution, den erlittenen Gesichtsverlust durch das Streuen der »Dolchstoßlegende«, den Verlust ihrer personellen 21 22 23 24 25 26 27 28
Aus einem Brief Groeners vom 17.11.1918 an sein Frau, zit. nach Groener-Geyer, Groener, S. 117. Müller, Beck, S. 64. Winkler, Weimar, S. 34. Haffner, Revolution, S. 109; Dietz, Primat, S. 169 f. Schulze, Weimar, S. 111 f., vergleicht das Bündnis mit der gegenseitigen Anerkennung zweier souveräner Staaten; a.A. Wette, Noske, S. 264. Auch zeichnet sich hier schon ab, was Bergien als den späteren »Wehrkonsens« der Weimarer Republik bezeichnet; siehe hierzu Bergien, Republik, S. 16–19. Hürter, Groener, S. 219–221. Wirsching, Weltkrieg, S. 300.
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Machtbasis dagegen durch die mit der provisorischen Reichsregierung koordinierte Schaffung der »Freikorps« – die zunächst nur zur Sicherung der Ostgrenzen gedacht waren – wett zu machen.29 Bis zu ihrer endgültigen Auflösung am 20. September 1920 führte sie unter der Bezeichnung »Kommandostelle Kolberg« von Westpommern aus die Operationen des »Grenzschutzes Ost«.30 Die »im Felde unbesiegte« Armee31 konnte auch auf diesem Wege ihre Stellung als Machtfaktor im Staatsgefüge erneuern und bewahren.32 Dabei gab sie sich alle Mühe, nicht mit dem von ihr geführten und verlorenen Weltkrieg assoziiert zu werden. Schon Friedrich Ebert wirkte an der Bildung der Dolchstoßlegende und damit der Diskreditierung der blutjungen Republik mit, als er am 11. Dezember 1918 das heimkehrende Westheer am Brandenburger Tor mit den Worten »Kein Feind hat Euch überwunden!« willkommen hieß. Generalleutnant Groener notierte später in seinen Memoiren: »Die Heeresleitung stellte sich bewußt auf den Standpunkt, die Verantwortung für den Waffenstillstand [von Compiègne] und alle späteren Schritte von sich zu weisen. Sie tat dies, streng juristisch gesehen, nur mit bedingtem Recht, aber es kam mir und meinen Mitarbeitern darauf an, die Waffe blank und den Generalstab für die Zukunft unbelastet zu erhalten.«33
Die arrivierten Mehrheitssozialdemokraten wiederum hatten mit den Verfassungsreformen vom Oktober 1918 und der damit einhergehenden späten Parlamentarisierung des Bismarckreiches eigentlich schon alles erreicht, was sie sich an Staatswandel erträumt hatten. Zwar sprach das grundsätzlich fortgeltende Erfurter Programm von 1891 eine noch stark marxistische Sprache. Eine sozialistische Revolution aber hasste Ebert »wie die Sünde«; sie kam ihm ziemlich ungelegen.34 Noch am 31. Oktober 1918 hatte er im Kreise von Liberalen und Wirtschaftsvertretern auf die Frage der künftigen Staatsform geantwortet: »Sie wollen meine Meinung über die Frage einer Abdankung des Kaisers hören. Ich gebe sie Ihnen gern und ganz offen: Ich bin dafür, dass die deutsche Monarchie bestehen bleibt. Deutschland ist nicht reif für eine Republik, und wir Sozialdemokraten, die dies wissen, fürchten den Augenblick, da die Masse, die Straße, unter dem Einfluss der Unabhängigen die Durchführung unseres Parteiprogramms von uns verlangt und eine Republik fordert.«35
Für Ebert galt damit die alte preußische Devise, die schon gute hundert Jahre zuvor nach der verheerenden Niederlage gegen Napoleon bei Jena und Auerstedt (1806) ausgegeben worden war: »Der König hat eine Bataille verloren. Jetzt ist Ruhe die 29
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Der Rat der Volksbeauftragten erließ hierzu insbesondere das Gesetz zur Bildung einer freiwilligen Volkswehr vom 12.12.1918, RGBl. 1918 S. 1424, das seiner ursprünglichen Intention nach jedoch die Grundlage für republikanische Volkswehren bilden sollte.; siehe auch Huber, Dokumente, Band 4, S. 49–52; Mommsen, Militär, S. 266; Wette, Noske, S. 321–331. Erlass des Reichspräsidenten über die Regelung der Befehlsbefugnisse vom 9.3.1919, AVBl. 1919 S. 207; abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 86. Zur Auflösung der OHL siehe Erlass des Reichswehrministers vom 15.9.1919, HVBl. 1919, S. 148. Friedrich Ebert, Ansprache an die heimkehrenden Truppen, abgedruckt in Wende, Reden, S. 94–96. Kroener, Militär, S. 16; Dietz, Primat, S. 169. Groener, Lebenserinnerungen, S. 466. Baden, Erinnerungen, S. 567. Zit. nach Mühlhausen, Ebert, S. 98.
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erste Bürgerpflicht.«36 Nach der Revolution zog er daher zwei wesentliche Konsequenzen: Erstens verschaffte Ebert sich durch seine Wahl zum Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten am 10. November 1918 vordergründig eine revolutionäre Legitimation und nahm der extremen Linken hierdurch zunächst den Wind aus den Segeln.37 Der im Dezember 1918 in Berlin tagende Reichsrätekongress verabschiedete zwar gegen Eberts Willen die (nach ihren Urhebern aus der Hansestadt benannten) »Hamburger Punkte« – ein radikales Militärreformprogramm. Es enthielt auf der einen Seite eher symbolische Maßnahmen gegen den Militarismus wie das Abschaffen der Rangabzeichen, der Grußpflicht und des Waffentragens außerhalb des Dienstes, auf der anderen Seite aber auch organisatorische Regelungen wie die Wahl der Offiziere durch Unteroffiziere und Mannschaften sowie die Kontrolle der Kommandogewalt durch den Reichsrätekongress. Im Verein mit der OHL verhinderte Ebert jedoch erfolgreich die dauerhafte Umsetzung der »Hamburger Punkte«, was neben der Frage »Nationalversammlung oder Räterepublik?« für das Auseinanderbrechen von MSPD und USPD in der Revolutionsregierung wesentlich mitursächlich wurde.38 Der einzige und bleibende »Erfolg« dieses von der USPD unterstützten Programms bestand in einer noch krasseren Entfremdung von Offizierkorps und Revolution, besonders durch das geforderte und gelegentlich durchgeführte »Abreißen der Schulterstücke« – aus Sicht der stolzen und von hohem Berufsethos durchdrungenen Offiziere ein Affront sondergleichen.39 So müssen diese vordergründig symbolischen Maßnahmen im Nachhinein als besonders unglücklich bewertet werden, erschwerten sie doch maßgeblich die Integration des Offizierkorps in die revolutionären Vorgänge. Die militärische Elite war damit nämlich beleidigt, aber keinesfalls entmachtet worden. Zweitens, doch mindestens genauso wichtig, beanspruchte der mehrheitssozialdemokratische Teil des provisorischen Reichskabinetts alsbald im Rahmen des Ebert-Groener-Bündnisses erstmals die Hilfe der Armee zur gewaltsamen Auseinandersetzung mit seinen politischen Konkurrenten von links: Die Niederschlagung der revoltierenden Volksmarinedivision in den Weihnachtskämpfen um das Berliner Schloss am 23./24. Dezember 1918 bildete dann auch den Anlass für das Ausscheiden 36 37 38 39
So die berühmt gewordenen Worte des Straßenanschlags, den General d. Kav. v. d. Schulenburg-Kehnert als stellvertretender Gouverneur von Berlin nach der verlorenen Schlacht anbringen ließ. Haffner, Revolution, S. 98–103. Die »Hamburger Punkte« des Reichskongresses der Arbeiter- und Soldatenräte vom 18.12.1918 sind abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 46 f. Zur Rechtfertigung des »besonders schmerzlichen« Ablegens der »alten Gradabzeichen« siehe die Äußerungen des preußischen Kriegsministers Oberst Walther Reinhardt am 19.2.1919, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 177. Von einer »schamlosen Behandlung« sprach Max Baerecke (DNVP) am 25.2.1919 im Zuge der ersten Beratung des Gesetzes zur Bildung einer vorläufigen Reichswehr, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 302 f.; nach Julius Aßmann (DVP) handelte es sich nicht bloß um eine »Schneiderfrage«, sondern um »Abzeichen, die zu einem Ehrenkleide gehören«, ebenda S. 311; ähnlich Victor Laverrenz (DNVP): Eine »in den Revolutionstagen angetane Schmach und Entehrung des Offizierskleides«, ebenda S. 330. Noch am 28.1.1921 hatte bei der Beratung des Reichswehrministeriumshaushaltes Ludwig Haas (DDP) »volles Verständnis« dafür, dass »diese Behandlung den Offizieren noch heute weh tut«, Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2337.
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der USPD aus der Revolutionsregierung. Die starke Einbindung des Militärs in die innere Sicherheitsvorsorge der jungen Republik war dabei zumindest prinzipiell keine Geburt der Revolution, sondern schon sehr viel länger vorgezeichnet. Denn anders als gängige Klischees vielleicht vermuten lassen, hatte das Bismarck’sche Kaiserreich über vergleichsweise nur sehr wenig, oft noch ausschließlich kommunal organisierte Polizei verfügt.40 Für den Ernstfall hatte man sich hierbei ganz auf das Militär verlassen, weswegen es nicht von ungefähr kommt, dass die großen Garnisonsorte der preußischen Westprovinzen ringförmig um das von Arbeitern bevölkerte Ruhrgebiet angelegt worden waren. Auch das rechtliche Instrumentarium des Belagerungszustands, von dem noch öfter die Rede sein wird, war ganz auf dieses Konzept zugeschnitten. Ein Novum allerdings stellten die sich formierenden und völlig außerhalb des Einflusses der Soldatenräte stehenden Freikorps dar, mit denen die Ebert’sche Übergangsregierung alsbald zusammenarbeitete. Zwar hat Peter Keller zutreffend auf die Heterogenität der verschiedenen, unter dem Sammelbegriff »Freikorps« firmierenden Freiwilligenverbände hingewiesen, zu denen zumindest anfänglich auch durchaus sozialdemokratische und republikfreundliche Verbände zählten.41 Unbestritten ließ die provisorische Reichsregierung jedoch vorwiegend solche Formationen in die »vorläufige Reichswehr« übernehmen, die ihr zwar einerseits militärfachlich kompetent erschienen, die aber andererseits politisch in weiten Teilen mehr oder weniger weit rechts standen. Sie schlugen im Auftrag der EbertRegierung zahlreiche linksextreme Revolten in Deutschland wie den Spartakusaufstand im Januar, die Berliner Märzkämpfe sowie die Münchner Räterepublik im Mai 1919 blutig nieder.42 In Berlin war über den Jahreswechsel 1918/19 die KPD gegründet worden, die sich im Januar anschickte, die Nationalversammlung zu boykottieren und die provisorische Regierung Ebert zu stürzen, um eine Räterepublik zu errichten.43 Gegen sie kämpften die Regierungstruppen dabei offiziell unter den rechtlichen Bedingungen des fortgeltenden preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand aus dem Jahr 1851,44 in Bayern nach dem Gesetz über den Kriegszustand vom 5. November 40 41 42 43 44
Keller, Wehrmacht, S. 29 f. Der von ihm stattdessen vorgeschlagene Begriff »Regierungstruppen« hilft allerdings nicht, den Begriff »Freikorps« zu präzisieren, siehe Keller, Wehrmacht, S. 51. Nakata, Landesschutz, S. 36; Dietz, Primat, S. 176 f.; Gietinger, Konterrevolutionär, S. 159–163. Winkler, Weimar, S. 55–58. Gesetz über den Belagerungszustand vom 4.6.1851, Preußische Gesetzsammlung 1851, S. 451–456. Die Revolution folgte dem Prinzip der normativen Kontinuität, siehe die Bekanntmachung der preußischen Regierung betreffend das Inkraftbleiben der bestehenden Gesetze und Verordnungen vom 14.11.1918, Preußische Gesetzsammlung 1918, S. 190; ebenso das Übergangsgesetz vom 4.3.1919, RGBl. 1919 S. 285 f. Siehe auch Jung, Paragraphen, S. 56. Auch die alte Vorschrift über den Waffengebrauch des Militärs und seine Mitwirkung zur Unterdrückung innerer Unruhen vom 19.3.1914 (D.V.E. Nr. 6) blieb (durch amtlich nicht verkündete Ergänzungsverfügung des Reichswehrministeriums vom 14.5.1920 fast unverändert) durchgehend in Kraft; siehe Abdruck bei Fuhse, MStGB 1926-Kommentar, Anhang V, S. 259–265. Siehe zur Ergänzungsverfügung auch Akten der Reichskanzlei, Kabinett Müller I, Nr. 14, S. 31–34, Fn. 8. Die Vorschrift trat erst durch Verordnung des Führers über den Waffengebrauch der Wehrmacht vom 17.1.1936 außer Kraft, RGBl. 1936 I S. 39 f.
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1912.45 Die Befehlshaber übernahmen dabei insbesondere die vollziehende Gewalt unter Außerkraftsetzung wesentlicher Grundrechte und Garantien der fortgeltenden Landesverfassungen; erlassene Verbote konnten sie mit Freiheitsstrafen erzwingen. Nach dem preußischen wie dem bayerischen Gesetz traten darüber hinaus für gewisse Straftatbestände automatisch Strafschärfungen ein und es konnten außerordentliche Kriegsgerichte (in Bayern »standrechtliche Gerichte« genannt) gebildet werden.46 Im Bismarckreich hatte Art. 68 RV 1871 dem Kaiser (mit Ausnahme von Bayern) die reichsweite Verhängung des Belagerungszustandes nach preußischem Recht gestattet. Grundlage hierfür war das entsprechende Gesetz vom 4. Juni 185147, das auch als ein Instrument der Reaktion nach den Erfahrungen der revolutionären Jahre 1848/49 gesehen werden muss.48 Hinzu kam die Schutzhaft, ein Rechtsinstitut, das ursprünglich sowohl auf den Belagerungszustand als auch auf das ebenso reaktionäre preußische Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit vom 12. Februar 1850 zurückging.49 Sie war am 4. Dezember 1916 in einem neuen Schutzhaftgesetz reichseinheitlich geregelt worden, das die Anordnung der Haft oder einer Aufenthaltsbeschränkung aufgrund des Kriegs- oder Belagerungszustandes zumindest von Deutschen nur noch dann gestattete, »wenn sie zur Abwendung einer Gefahr für die Sicherheit des Reichs erforderlich« war – was natürlich immer noch ein recht dehnbarer Begriff war.50 Das Regime des Kriegsund Belagerungszustand war schon im Ersten Weltkrieg die rechtliche Stütze der weitreichenden Eingriffe der OHL in das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben gewesen, die im Grunde eine vom Antlitz des Kaisers kaschierte Militärdiktatur bedeutet hatten.51 Nun aber machte die von der MSPD angeführte provisorische Reichsregierung davon selbst in einem Ausmaß Gebrauch, der die Eingriffsintensität der Jahre 1914 bis 1918 bisweilen deutlich überstieg. So liegt in Bezug auf den Januaraufstand von 1919, bei dem die Regierungstruppen den revoltierenden Spartakisten sowohl stärke- als auch ausrüstungsmäßig weit 45
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Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Bayern 1912, S. 1161; abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 3, S. 90–92. Dieses ursprünglich nicht für innere Unruhen vorgesehene Gesetz konnte wegen der seit dem Weltkrieg ununterbrochenen Aufrechterhaltung des Kriegszustandes zur Anwendung gelangen, vgl. Hürten, Reichswehr, S. 7 und 16; siehe auch Schudnagies, Belagerungszustand, S. 49 f. Jung, Paragraphen, S. 51; siehe auch § 5 des Gesetzes über den Belagerungszustand vom 4.6.1851 (Preußische Gesetzsammlung 1851, S. 451–456); Art. 4–8 des bayerischen Gesetzes über den Kriegszustand vom 5.11.1912, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Bayern 1912, S. 1161–1165; zur Rechtslage in Bayern siehe auch Erhard, Gesetz, S. 18–21. Gesetz über den Belagerungszustand vom 4.6.1851, Preußische Gesetzsammlung 1851, S. 451–456. Boldt, Rechtsstaat, S. 68–73. Gesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit vom 12.2.1850, Preußische Gesetzsammlung 1850, S. 45–48. § 1 des Gesetzes, betreffend die Verhaftung und Aufenthaltsbeschränkung auf Grund des Kriegszustandes und Belagerungszustandes vom 4.12.1916, RGBl. 1916 S. 1329–1331. Laband, Staatsrecht, Band 4, S. 41 f.: »Die Erklärung des Kriegszustandes ist im wesentlichen als die Einführung einer Militärdiktatur zu bezeichnen.« Siehe auch Schudnagies, Belagerungszustand, S. 198–208; Hürten, Reichswehr, S. 8; Kroener, Militär, S. 13 f.; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Band 4, S. 112; Wette, Noske, S. 519. Nach Art. 68 RV 1871 galt das preußische Belagerungszustandsgesetz von 1851 im ganzen Reich mit Ausnahme Bayerns; siehe hierzu auch Boldt, Rechtsstaat, S. 116–121 und S. 218–222.
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überlegen waren,52 der Schluss nahe, dass die mehrheitssozialdemokratische Reichsregierung die aufsehenerregende Ermordung der politischen Konkurrenten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht durch rechte Freikorpssoldaten der »Garde-Kavallerie-Schützen-Division« zwar nicht unmittelbar anordnete, jedoch so manches Kabinettsmitglied ihren Tod zumindest billigend in Kauf nahm.53 In den Wochen zuvor hatte besonders auch der Vorwärts die Stimmung gegen die beiden Spartakistenführer aufgepeitscht.54 Nach erster offizieller Darstellung wurde Liebknecht wie so viele »auf der Flucht« aus der Schutzhaft erschossen, was nach der fortgeltenden Vorschrift über den Waffengebrauch des Militärs vom 19. März 1914 auch zulässig gewesen wäre.55 Luxemburg wiederum hatte angeblich ein aufgebrachter Mob gelyncht.56 Am 19. Februar 1919 versuchte der preußische Kriegsminister, Oberst Walther Reinhardt, die Taten mit der Bekämpfung des Bolschewismus zu rechtfertigen und löste damit Tumulte in der Nationalversammlung aus: »[D]ieser Kampf ist unerquicklich, er ist militärisch nicht leicht zu führen und er ist häßlich verschärft durch die tückische bolschewistische Kampfesweise der Ruhestörer, die von ungemein gefährlichen Schwärmern aufgestachelt und angeführt werden. […] Auf diesem Untergrunde vollzog sich die Tötung Frau Luxemburgs und Liebknechts. […] Eine billig denkende Gerechtigkeit muß ganz allgemein auch für diejenigen gelten, die in der täglichen Spannung des Wiederaufloderns der spartakistischen Unruhen bei den Abwehrmaßnahmen kleinere Rechtsformfehler begehen mögen. […] Wir dürfen nicht vergessen, daß Offiziere keine Juristen, Soldaten keine gewiegten Polizeibeamten sind. […] Die Truppe kommt aus jahrelangem Krieg und kann es schwer verstehen, daß ein tückischer Gegner alle Mittel anwenden darf, sie selbst aber die Rechtsform aufs peinlichste bewahren soll.«57
Die Drahtzieher dieser Verbrechen sind hierfür nie strafgerichtlich belangt worden. Lediglich ein Teil der unmittelbaren Täter wurden im Mai 1919 in einem vom selben Freikorps durchgeführten, possenhaften Militärgerichtsverfahren angeklagt.58 Obwohl der Vertreter der Anklage von Mord ausgegangen und teilweise die Todesstrafe gefordert hatte,59 wurde im Ergebnis Oberleutnant Kurt Vogel, der angeblich 52 53 54
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Winkler, Weimar, S. 59. Jones, Weimar, S. 239–245. Jones, Weimar, S. 233 f. und 239–242; ebenso Gietinger, Konterrevolutionär, S. 124 f. und 394, dessen Darstellung zwar stellenweise arg polemisch ausfällt, in Hinblick auf die Agitationen des Vorwärts jedoch stringent ist. Abschnitt I Nr. 1 Abs. 1 Buchstabe c der Vorschrift über den Waffengebrauch des Militärs und seine Mitwirkung zur Unterdrückung innerer Unruhen vom 19.3.1914, D.V.E. Nr. 6; verkürzter Abdruck bei Huber, Dokumente, Band 3, S. 85–88. Zu dieser grundsätzlich auch heute noch gegebenen Befugnis siehe § 15 Abs. 1 Nr. 2–4 des Gesetzes über die Anwendung unmittelbaren Zwanges und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr und verbündeter Streitkräfte sowie zivile Wachpersonen vom 12.8.1965 (BGBl. 1965 I S. 796–799), zuletzt geändert durch Art. 12 des Gesetzes vom 21.12.2007 (BGBl. 2007 I S. 3198–3211). Jones, Weimar, S. 236–238. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 176 f.; Hervorhebung im Original fett. Die Militärgerichtsbarkeit wurde erst durch Gesetz vom 17.8.1920 aufgehoben (RGBl. 1920 S. 1579–1587). Siehe hierzu vor allem Kapitel IV.1 und 2. Siehe Plädoyer und Strafanträge des Kriegsgerichtsrat Paul Jorns (in den Akten als »Jörns«) vom 14.5.1919, BArch PH 8-V/17, fol. 936–968.
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Luxemburg erschossen hatte, nur wegen erschwertem Wachverbrechens im Felde in Tateinheit mit Begünstigung während Ausübung des Dienstes, Missbrauch der Dienstgewalt (§ 115 MStGB) und Beiseiteschaffung einer Leiche (§ 367 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2 RStGB) sowie in einem weiteren Fall wegen vorsätzlich unrichtiger Abstattung einer dienstlichen Meldung (§ 139 MStGB) zu einer Gesamtstrafe von zwei Jahren und vier Monaten Gefängnis sowie Dienstentlassung verurteilt. Der eigentliche Todesschütze, Leutnant Hermann Souchon, wurde überhaupt nicht angeklagt und nur als Zeuge geladen. Den geistig minderbemittelten Husaren Otto Runge, der Rosa Luxemburg vor ihrer Ermordung mit dem Gewehrkolben bewusstlos geschlagen hatte, verurteilte das Gericht wiederum »wegen Wachvergehens im Felde,60 wegen versuchten Totschlages in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Missbrauch der Waffe61 in zwei Fällen, begangen in einem Falle auch in Tateinheit mit erschwertem Wachverbrechen im Felde,62 sowie wegen Gebrauchmachens von falschen Urkunden zum Zwecke besseren Fortkommens zu einer Gesamtstrafe von zwei Jahre [sic!] Gefängnis 2 Wochen Haft, 4 Jahren Ehrverlust und Entfernung aus dem Heere«, wobei die Haftstrafe durch die erlittene – wesentlich kürzere – Untersuchungshaft als verbüßt erachtet wurde. Dem Husaren Runge hatte das Gericht »mildernde Umstände wegen versuchten Totschlags in beiden Fällen zugebilligt, ausgehend davon, dass damals im allgemeinen eine grosse Erregung war«. Den Leutnant d. R. Rudolf Liepmann schließlich, der Runge vorübergehend zur Flucht verholfen hatte, verurteilte das Feldkriegsgericht »wegen Anmaßung einer Befehlsbefugnis in Tateinheit mit Begünstigung zu 6 Wochen geschärften Stubenarrestes«.63 Im Übrigen wurden die Angeklagten – insbesondere die unmittelbaren Mörder Liebknechts – in Ermangelung von Beweisen freigesprochen,64 was vor allem auf das manipulative Ermittlungsverfahren unter Leitung des Kriegsgerichtsrats Paul Jorns zurückzuführen war.65 Kurz nach der Urteilsverkündung konnte Vogel unter Mithilfe vermutlich des beisitzenden Rich60 61 62 63
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§ 141 Abs. 1 MStGB. § 55 Nr. 2 Alt. 1 MStGB. § 141 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 55 Nr. 2 Alt. 1 und § 53 MStGB. Urteil des Feldkriegsgerichts der Garde-Kavallerie-Schützen-Division vom 14.5.1919, BArch PH 8-V/17, fol. 1035–1064; in Auszügen abgedruckt bei Hannover/Hannover-Drück, Mord, S. 116–121. Siehe auch Akten der Reichskanzlei, Kabinett Bauer, Nr. 73, S. 289. Zu den Mitangeklagten gehörten Kapitänleutnant Horst v. Pflugk-Harttung, Oberleutnant z. S. Ulrich v. Ritgen, die Leutnante z. S. Heinrich Stiege und Bruno Schulze, Hauptmann Heinz v. Pflugk-Harttung und Hauptmann Weller. Runge behauptete später, seine Aussagen in der Verhandlung habe Jorns zuvor mit ihm abgesprochen; siehe Jones, Weimar, S. 243. Jorns avancierte später zum Reichsanwalt, sein Verhalten im Ermittlungsverfahren gegen die Luxemburg- und Liebknechtmörder wurde 1928/29 zum Gegenstand eines kritischen Zeitungsartikels und einer anschließenden erfolglosen Beleidigungs- und Verleumdungsanklage, bei der das Gericht den Wahrheitsgehalt der ehrenkränkenden Behauptungen im Wesentlichen als wahr erachtete (Amtsgericht Berlin-Mitte, Urteil vom 29.5.1929 – 205 Nr. 1 J. 542.28 –, abgedruckt in: Die Justiz 1928/29, S. 567–595). Siehe auch die folgenden, teils polemischen Darstellungen bei Hannover/Hannover-Drück, Mord, S. 133–178 (158); Gumbel, Mord, S. 11–13; Gietinger, Konterrevolutionär, S. 127–129; vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 5, S. 927 f., der den Jorns-Prozess unerwähnt lässt.
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ters Kapitänleutnant Wilhelm Canaris66 mit einem gefälschten Pass in die Niederlande fliehen.67 Für die Militärpolitik in dieser ersten Phase des innenpolitischen Straßenkampfes steht insbesondere die Person des zunächst revolutionären »Volksbeauftragten für Heer und Marine« und später ersten Reichswehrministers Gustav Noske (MSPD)68 – der »Bluthund«,69 der schon in den Kämpfen zu Beginn des Jahres 1919 Oberbefehlshaber über die Regierungstruppen in und um Berlin gewesen war und somit die politische Verantwortung für die Morde an Luxemburg und Liebknecht trug.70 Seine in diesen Monaten erworbene »Expertise« bildete die Grundlage dafür, dass Ebert ihn wenig später zum ersten Reichswehrminister der Republik ernannte. Noske war am 9. Juli 1868 in Brandenburg an der Havel geboren, hatte Korbflechter gelernt und bis zu seinem Einzug in den Reichstag 1906 als Journalist gearbeitet. Obschon nie Soldat gewesen, hatte er sich als Abgeordneter einen Ruf als Fachmann in Militärfragen erarbeitet, insbesondere der Marine. In Ermangelung eines Ministeriums richtete Noske sich im Januar 1919 mit dem Stab der Garde-Kavallerie-Schützen-Division und dessen Chef, Hauptmann Waldemar Pabst, in Dahlem südwestlich von Berlin ein, von wo aus er die Rekrutierung der Freiwilligenverbände und die Operationen gegen die Spartakisten im Berliner Raum koordinierte. Der Einfluss der konservativen Offiziere auf Lagebild und -bewertung darf dabei nicht unterschätzt werden. Die Nachricht vom Tod Luxemburgs und Liebknechts nahm Noske – anders als so mancher Kabinettskollege – ausgesprochen kühl auf.71 Obwohl der Obermilitäranwalt beim Reichsmilitärgericht die fragwürdigen Feldkriegsgerichtsurteile der Garde-Kavallerie-Schützen-Division in einem Gutachten für durchaus fehlerhaft befunden hatte, bestätigte Noske sie als zuständiger Oberbefehlshaber in Abstimmung mit dem Reichskabinett und verlieh ihnen so Rechtskraft.72 Der von ihm wie 66
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Canaris (Großonkel des Zivilrechtsdogmatikers Claus-Wilhelm Canaris) beteiligte sich später am KappLüttwitz-Putsch und war von 1935–1944 Chef der Wehrmachtsabwehr (zuletzt Admiral), bevor er wegen Verbindungen zum Widerstandskreis um Stauffenberg am 9.4.1945 zusammen mit Dietrich Bonhoeffer hingerichtet wurde. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Scheidemann, Nr. 80, S. 356; Nr. 89, S. 386; Nr. 90, S. 391 f.; Nr. 94, S. 404 f.; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, S. 9; siehe auch Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 199 und 212. Dass Canaris der Fluchthelfer war, schildert Gietinger, Konterrevolutionär, S. 133; ebenso Mueller, Canaris, S. 99; ebenfalls Jones, Weimar, S. 244. Nach Darstellung von Meinl, Heinz, S. 63, war der Fluchthelfer hingegen Friedrich Wilhelm Heinz, der später der fememordenden Organisation Consul von Hermann Ehrhardt beitrat, im Dritten Reich in der Abwehr unter Hans Oster diente, sich dort dem militärischen Widerstand anschloss und nach dem Krieg erfolglos versuchte, einen bundesrepublikanischen Nachrichtendienst gegen die »Organisation Gehlen« (Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes) zu organisieren. Gietinger, Leiche, S. 64; Wette, Noske, S. 351–358. Als Gustav Noske in einer Kabinettssitzung am 6.1.1919 um die Niederschlagung des Spartakusaufstandes ersucht wurde, antwortete er mit den berühmt gewordenen Worten: »Meinetwegen! Einer muss der Bluthund werden, ich scheue die Verantwortung nicht!«; zit. nach Noske, Kiel, S. 68. Huber, Dokumente, Band 4, S. 56 f.; Jones, Weimar, S. 239–245; Wette, Noske, S. 308 f. Wette, Noske, S. 310. Urteilsbestätigungen Noskes an das Reichsmilitärgericht vom 26.10.1919 und 8.3.1920, BArch PH 8-V/8, fol. 34 und 164. Siehe auch Akten der Reichskanzlei, Kabinett Bauer, Nr. 73, S. 290; Noske, Kiel, S. 76. Urteile, die nach vereinfachtem Verfahren »im Felde« ergangen waren, erhielten ihre Rechtskraft
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selbstverständlich praktizierte Einsatz des Militärs im Innern und die sogar über die Kriegsgewohnheiten hinausgehenden Exzesse gegen innenpolitische Gegner73 (para-)militarisierten die junge demokratische Gesellschaft von Beginn an radikal.74 Als Schöpfer der Reichswehr orientierte sich Noske an einem abstrakten »Staatswohl« unter Missachtung des Rechts und prägte auf diese Weise früh das prekäre Verhältnis von Militär und Rechtsstaatsprinzip in der Weimarer Republik. Hiervon können seine autobiographischen Einlassungen zur zügigen Beseitigung der angeschwemmten Luxemburg-Leiche eindrucksvoll Zeugnis ablegen: »War die Beerdigung der Frau Luxemburg in Berlin zu gefährlich, mußte sie anderswo geschehen. … Über die rechtliche Zulässigkeit eines solchen Verfahrens stellte ich Betrachtungen nicht an. Entscheidend für meinen Entschluß konnte nur die Rücksichtnahme auf das Staatswohl sein [...]. Schon am nächsten Tag hatte ich eine Auseinandersetzung mit der beleidigten Justiz, in deren Befugnisse ich eingegriffen hatte.«75
Die Grenzen des Legalen sprengte vor allem der pauschale Schießbefehl, den Noske als militärischer Oberbefehlshaber im Rahmen der folgenden Märzaufstande am 9. des Monats gab:76 »Jede Person, die mit den Waffen in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen.« 77
Als Noske diesen Befehl vier Tage später im Zuge einer Apologie der Nationalversammlung vorlas, erntete er zwar den stürmischen Beifall der Mehrheits- und Rechtsparteien.78 Gleichwohl war dieses Vorgehen vom Rechtsregime des preußischen Belagerungszustandes, das einen zwar sonderrechtlichen, aber immer noch an sich »rechtsstaatlichen, strikt an das Gebot der Verhältnismäßigkeit gebundenen Einsatz« der Armee im Innern ermöglichte, in augenfälliger Weise nicht gedeckt.79 Zwar war das Verhältnismäßigkeitsprinzip noch nicht mit Verfassungsrang ausgestattet. Es hatte sich aber aus dem Polizeirecht kommend bereits als allgemeines Prinzip des Verwaltungsrechts etabliert.80 Auch die (leicht modifiziert) fortgeltende preußische »Vorschrift über den Waffengebrauch des Militärs und seine Mitwirkung zur Unterdrückung innerer Unruhen« vom 19. März 1914 folgte diesem Grundsatz: »Das Militär hat von seinen Waffen nur insoweit Gebrauch zu machen, als es zur Erreichung der
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durch Bestätigung (§ 419 f. MStGO). Die Einholung des Gutachtens war vorgeschrieben nach §§ 424 f. MStGO. Eingehend zur Rechtswidrigkeit des Noske’schen Schießbefehls im Rahmen der Märzkämpfe: Jung, Paragraphen, S. 51–79. Wette, Noske, S. 792. Noske, Erlebtes, S. 85 f. Die Abschrift der Urkunde über die Ernennung Noskes zum »Oberbefehlshaber in den Marken« vom 3.3.1919 findet sich bei BArch R 43-I/680, fol. 5. Erlass des Oberbefehlshabers in den Marken Noske über die Verhängung des Standrechts vom 9.3.1919, Huber, Dokumente, Band 4, S. 100. Siehe auch Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 327, S. 742. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 327, S. 742. Jung, Paragraphen, S. 56 f.; ähnlich Huber, Verfassungsgeschichte, Band 5, S. 1104. Stern, Entstehung, S. 167–169.
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vorstehend angegebenen Zwecke erforderlich ist.«81 Nichtsdestoweniger erließ die Garde-Kavallerie-Schützen-Division unter faktischer Führung ihres Generalstabschefs Hauptmann Waldemar Pabst am 10. März sogar einen über Noske hinausgehenden, verschärften Befehl: »Leitsatz: Wer sich mit Waffen widersetzt oder plündert, gehört sofort an die Mauer. Daß dies geschieht, dafür ist jeder Führer mitverantwortlich. Ferner sind aus Häusern, aus welchen auf die Truppen geschossen wurde, sämtliche Bewohner, ganz gleich, ob sie ihre Schuldlosigkeit beteuern oder nicht, auf die Straße zu stellen und in ihrer Abwesenheit die Häuser nach Waffen zu durchsuchen; verdächtige Persönlichkeiten, bei denen tatsächlich Waffen gefunden werden, zu erschießen.«82
Beide Befehle ermöglichten die sofortige Tötung unter Ausschaltung der eigentlich für den Belagerungszustand vorgesehenen Ausnahmegerichte, so dass eigentlich noch nicht einmal von standrechtlichen Erschießungen die Rede sein konnte.83 Auf den erweiterten Schießbefehl der Garde-Kavallerie-Schützen-Division im Kabinett angesprochen, betonte Noske, dass »eine gar zu strenge Nachforschung nach Übergriffen der bis aufs höchste gereizten, nach den Geboten der Notwehr gehorchenden eigenen Truppen als ungerecht empfunden werde und für die Bereitwilligkeit der Truppen, ihr Leben häufig in Straßenkämpfen mutig zu wagen, schlechte Folgen haben werde«.84 In der Folge erschossen die Regierungstruppen ihnen verdächtige Zivilisten, die zuvor noch nicht einmal in einem summarischen Standgerichtsverfahren verurteilt worden waren, wie es das Gesetz über den Belagerungszustand eigentlich vorschrieb.85 Auf Grundlage dieser Befehle ließ am 11. März der 25-jährige Oberleutnant Otto Marloh (später NSDAP-Funktionär) in Berlin 29 Angehörige der revolutionären, aber in Auflösung befindlichen Volksmarinedivision erschießen. Seine Opfer wählte er aus 300 Matrosen, die er aufgrund von Falschmeldungen anlässlich eines harmlosen Löhnungsappells in der Französischen Str. 32 durch seinen 50 Mann starken Trupp hatte festnehmen lassen. Als Marloh sich von den vielen Matrosen bedroht fühlte, rieten ihm seine Vorgesetzten telefonisch, »in ausgiebigstem Maße von der Waffe Gebrauch zu machen«. Nach den Erschießungen tauchte Marloh auf Anweisung vorübergehend 81
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Abschnitt I Nr. 1 Abs. 3 der Vorschrift über den Waffengebrauch des Militärs und seine Mitwirkung zur Unterdrückung innerer Unruhen vom 19.3.1914, D.V.E. Nr. 6. Abdruck der leicht modifizierten (insoweit aber übereinstimmenden) Fassung bei Fuhse, MStGB 1926-Kommentar, Anhang V, S. 259–265 (260); verkürzt bei Huber, Dokumente, Band 3, S. 85–88. Die ändernde Ergänzungsverfügung des Reichswehrministeriums vom 14.5.1920 – eine Reaktion auf den Ruhrkampf – wurde amtlich nicht verkündet. Siehe hierzu auch Akten der Reichskanzlei, Kabinett Müller I, Nr. 14, S. 31–34, Fn. 8. Die Vorschrift trat erst durch Verordnung des Führers über den Waffengebrauch der Wehrmacht vom 17.1.1936 außer Kraft, RGBl. 1936 I S. 39 f. Zitiert nach Gumbel, Mord, S. 16; fast wortgleich auch Hugo Haase (USPD), dem Noske in seiner ausführlichen Replik nicht widersprach; Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 327, S. 844. Siehe hierzu auch Jones, Weimar, S. 280. Gumbel, Mord, S. 16 f. Siehe vertiefend zu den standrechtlichen Ausnahmegerichten Kapitel IV.3. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Scheidemann, Nr. 17, S. 67 f. §§ 10–15 des Gesetzes über den Belagerungszustand vom 4.6.1851, Preußische Gesetzsammlung 1851, S. 451–456. Das Gesetz sprach von »Kriegsgerichten«, was aber im Kern den (älteren) preußischen Standgerichten entsprach, siehe hierzu Schudnagies, Belagerungszustand, S. 108–125; Boldt, Rechtsstaat, S. 70.
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unter. Erst im Dezember kam es zum Gerichtsverfahren, das Noske jedoch »im Staatsinteresse für unerwünscht« hielt.86 In Anbetracht seiner vielfachen Weltkriegsverwundungen beantragte die Anklage für Marloh lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten vor allem wegen Totschlags und Missbrauchs der Dienstgewalt (§ 115 MStGB).87 Doch das Feldkriegsgericht der Reichswehr-Brigade 3 (vor allem aus der Garde-Kavallerie-Schützen-Division hervorgegangen) verurteilte ihn am 9. Dezember 1919 lediglich wegen unerlaubter Entfernung (§ 64 MStGB) zu drei Monaten Festungshaft und zu 30 Mark Geldstrafe wegen Benutzung gefälschter Urkunden, wobei zwei Monate als bereits durch die Untersuchungshaft verbüßt angerechnet wurden. Zwar stellte die Urteilsbegründung fest, »daß die Erschießungen objektiv unberechtigt waren, daß die Matrosen, die mit Waffen kamen, gültige Waffenscheine besaßen, daß keine Plünderer dabei waren, daß die Lage Marlohs nicht so bedrohlich war, daß er zum Waffengebrauch berechtigt war«. In seinem Glauben, einen rechtmäßigen Dienstbefehl vor sich zu haben, sei er jedoch einem unvermeidbaren Entschuldigungsirrtum nach § 47 MStGB erlegen und habe daher schuldlos gehandelt.88 Der Berliner Politikwissenschaftler Otmar Jung hat darauf hingewiesen, dass trotz alledem die spätere, vor allem westdeutsche öffentliche Wahrnehmung »die Vorgänge des März 1919 […] stillschweigend mit Noske unter ›Abwehr des Bolschewismus‹, für die – nach unguter deutscher Tradition – jedes Mittel recht, wenn nicht schon Rechtens war«, verbuchte.89 Dabei gab Noske schon am 13. März vor der Nationalversammlung offen zu, dass er sich als Oberbefehlshaber längst in metarechtlichen Gefilden wähnte: »Ich lasse mich auf juristische Tüfteleien nicht ein. Wenn in den Straßen Berlins Tausende Menschen die Waffen gegen die Regierung führen, Mörder und Plünderer Orgien feiern, besteht ein Zustand außerhalb jeden Rechts.«90
Wenig später, am 27. März, setzte er hinzu: »Da gelten Paragraphen nichts, sondern da gilt lediglich der Erfolg, und der war auf meiner Seite.«91 Auch wenn Noske für diese Äußerungen abermals den Beifall der Mehrheits- und Rechtsparteien fand – das Gesetz über den preußischen Belagerungszustand sah das genaue Gegenteil vor: Es wollte den Ausnahmefall ja gerade ver- und nicht entrechtlichen. Es war eben nicht so, wie Noskes Parteifreund Wolfgang Heine als preußischer Justizminister glauben machen wollte, dass hier »der Urstand wieder[ge]kehrt [sei], wo Mensch dem Menschen gegenübersteht«.92 Noske aber trachtete unter dem Vorwand der 86 87 88
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Noske, Erlebtes, S. 95. Riess, Mann, S. 103. Zitiert nach Gumbel, Mord, S. 20–22. Ausführlich Hannover/Hannover-Drück, Justiz, S. 45–52, deren Darstellung es jedoch stellenweise leider an kritischer Distanz fehlt. Siehe auch EGK 1919/1, S. 500, sowie die Bemerkungen des Prozessbeobachters Harry Graf Kessler, Tagebuch, Band 7, S. 283. Zu § 47 MStGB siehe Kapitel IV.4 unter Buchstabe c). Jung, Paragraphen, S. 55. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 327, S. 742. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 327, S. 854. Zitiert nach Jung, Paragraphen, S. 58. Dabei zitierte Wolfgang Heine (MSPD) wiederum den Stauffacher aus Schillers Wilhelm Tell, 2. Aufzug, 2. Szene. Unverkennbar ist allerdings auch hier die Nähe zu Hobbes, Menschen, S. 69 (»homo homini lupus«).
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Gefahrenabwehr danach, seine politischen Gegner zu vernichten: »Wahrheit ist, daß in jenen Schreckenstagen Tausende die Frage aufgeworfen hatten, ob denn niemand die Unruhestifter unschädlich mache«, schrieb er im Rückblick auf die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs.93 Wer also aus Noskes Sicht außerhalb des »Gesellschaftsvertrags« stand, war für ihn nicht mehr als ein Wolf, ein geborener Feind – und damit vogelfrei.94 Von einer Art übergesetzlichem Staatsnotstand aber konnte – so man die Kategorie rechtlich überhaupt anerkennen möchte – in Anbetracht des Stärke- und Kräfteverhältnisses von Regierungstruppen zu Aufständischen schon tatsächlich gar keine Rede sein.95 Selbst gemessen an den rechtlichen Maßstäben des (Bürger-)Kriegs erscheint Noskes Vorgehensweise als humanitärer Rückschritt, der insbesondere mit dem in Art. 23 der Haager Landkriegsordnung96 verankerten Gebot der Gefangenenschonung nicht zu vereinbaren war.97 Eine weitere dunkle Episode stellte der Einsatz der in der zunächst »vorläufigen Reichswehr«98 aufgehenden Freikorps gegen die Münchner Räterepublik im April und Mai 1919 dar. Die von den zuständigen Kommandeuren angeordneten oder tolerierten Maßnahmen gingen dabei erneut weit hinaus über das, was kriegszustandsrechtlich zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erlaubt war.99 Sehr aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Lagemeldungen des Oberbefehlshabers des Bayerischen Oberkommandos Möhl (späteres ReichswehrGruppenkommando 4), Generalmajor Arnold Ritter v. Möhl, über die Niederschlagung der Räterepublik in München im Mai 1919. Sie verließen den Duktus militärischer Truppenführung zur Bekämpfung feindlicher, aber immerhin rechtlich anerkannter Kombattanten und vermittelten eher den Eindruck, als ob von Schädlingsbekämpfung die Rede sei: So sprach Möhl unverhohlen von den Stadtteilen Münchens, die er noch »säubern« wollte.100 Auch der pfälzische Regierungspräsident Theodor v. Winterstein schrieb in seinen Berichten an den bayerischen Ministerpräsidenten v. Kahr über den Ruhraufstand im März 1920 von der »Aufgabe der Säuberung des ganzen Ruhrgebiets«.101 Implizit wurden die erschossenen Räterepublika93 94
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Noske, Kapp, S. 76. Jones, Weimar, S. 282–285. Siehe hierzu auch bei Schmitt, Begriff, S. 46 f.: »Diese Notwendigkeit innerstaatlicher Befriedung führt in kritischen Situationen dazu, daß der Staat als politische Einheit von sich aus, solange er besteht, auch den ›innern‹ Feind bestimmt. In allen Staaten gibt es deshalb in irgendeiner Form […] offene oder in generellen Umschreibungen versteckte Arten der Ächtung, des Bannes, der Proskription, Friedloslegung, hors-la-loi-Setzung, mit einem Wort, der innerstaatlichen Feinderklärung.« Jones, Weimar, S. 69 f.; Jung, Paragraphen, S. 65. Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, vom 29.7.1899, RGBl. 1901 S. 423–454. Jung, Paragraphen, S. 58 f. Siehe zur vorläufigen weiter unten in diesem Unterkapitel unter Buchstabe d). Eine ausführliche Darstellung findet sich bei Hillmayr, Terror, S. 120–157. Maßgebliches Rechtsregime war hier das Gesetz über den Kriegszustand vom 5.11.1912 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Bayern 1912, S. 1161–1165), abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 3, S. 90–92, das aber ähnlich wie das preußische Pendant von Maßnahmen nur »zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit« spricht. Bayr. Oberkommando Möhl, I a d Nr. 25601, an das (bayerische) Ministerium für militärische Angelegenheiten, Betreff: Allgemeine Lage zu Min. f. mil. Ang. Nr.3333 a, vom 7.5.1919 (maschinenschriftlicher Entwurf mit handschriftlichen Anmerkungen), BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 48. Schreiben des Regierungspräsidenten Dr. von Winterstein an Seine Exzellenz den Herrn Ministerpräsidenten Dr. von Kahr, Betreff: Reise in das Ruhrgebiet, vom 15.4.1920, S. 3, BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 11.
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ner und Rotarmisten damit als Schmutz, ja als rechtlose Nichtmenschen bezeichnet. Eine ähnliche Haltung vermittelt eine von zynischer Betrübtheit getränkte Meldung des Generalleutnants v. Estorff, Kommandierender General des I. Armeekorps, das im Juli 1919 beim »Grenzschutz Ost« in Schlesien, also im äußeren Kampf zum Schutz des Reichs eingesetzt war:
»Die an sich noch unvollkommene Disziplin des Söldnerheeres ist durch den Fortfall des Zieles der Polenbekämpfung entschieden geschädigt, der Zusammenhalt der Truppe gelockert. […] Die neue Aufgabe der Bekämpfung des inneren Feindes wird niemals einen vollwertigen Ersatz bilden, zumal wenn sie nicht wirklich zielbewußt durchgeführt wird. Es fehlt der Truppe also z. Zt. noch das Bewußtsein eines großen, einigenden Zieles, das ihren sittlichen Wert und inneren Halt hebt.«102
Das I. Armeekorps hatte nach dieser Darstellung seinen »sittlichen Wert und inneren« Halt bisher also aus der »Polenbekämpfung« gezogen – also nicht bloß der Bekämpfung polnischer Kombattanten, sondern gewissermaßen des »Polen an und für sich«.103 Die Bekämpfung des Anderen wurde hier nicht als ultima ratio, sondern als geradezu existenziell sinnstiftendes Moment erlebt.104 Carl Schmitt erhob die Identifizierung des Feindes gar zum Kern des »Begriffs des Politischen« in seiner gleichnamigen, erstmals 1927 erschienen Schrift:
»Die spezifisch politische Unterscheidung […] ist die Unterscheidung von Freund und Feind. […] Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein […]. Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines ›unbeteiligten‹ und daher ›unparteiischen‹ Dritten entschieden werden können. […] Solange ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muß es […] die Unterscheidung von Freund und Feind selber bestimmen. Darin liegt das Wesen seiner politischen Existenz. Hat es nicht mehr die Fähigkeit oder den Willen zu dieser Unterscheidung, so hört es auf, politisch zu existieren. […] Ein Krieg hat seinen Sinn nicht darin, daß er für Ideale oder Rechtsnormen, sondern darin, daß er gegen einen wirklichen Feind geführt wird. […] Entfällt diese Unterscheidung, so entfällt das politische Leben überhaupt. […] Dadurch, daß ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk.«105
Zum rasseideologischen Vernichtungskrieg als Dreh- und Angelpunkt der eigenen »völkischen« Geschichte war es von da nur noch ein kleiner gedanklicher Schritt.106 102
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Meldung des Kommandierenden Generals des I. Armeekorps, Generalleutnant v. Estorff, an das Oberkommando Nord über die drohende Zersetzung der Truppe, vom 28.7.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 185–187. Der Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt Edgar Haniel v. Haimhausen fertigte am 4.8.1919 einen Vermerk für seinen Ressortchef, wo es hieß: »Die Berichte der Zentrale Grenzschutz Ost zeichnen sich im allgemeinen nicht durch Zuverlässigkeit aus: sie bevorzugen Sensationelles und sind ausgesprochen polenfeindlich«, zit. nach Grupp, Außenpolitik, S. 199. Zum »Kampf als perpetuelle Sinnstifung« der Freikorps siehe das entsprechende Kapitel bei Sprenger, Landsknechte, S. 181–208. Von »exkludierenden Feindbildern« und »antislawischen und antibolschewistischen Stereotypen«, die MSPD und Zentrum mit Militär und Deutschnationalen teilten, spricht Bergien, Republik, S. 79. Schmitt, Begriff, S. 26 f., 50 f., 52 und 54. Freilich war der Carl Schmitt des Jahres 1928 noch nicht bei Hitler, insbesondere wenn er betont, dass der Krieg nicht Selbstzweck ist, siehe Schmitt, Begriff, S. 33–35.
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Auf die Grausamkeiten der Regierungstruppen im Frühjahr 1919 angesprochen antwortete Noske mit der Logik des Kajaphas:107 »[L]ieber ein paar Tollköpfe opfern als ein 60-Millionen-Volk«.108 Dabei wandelte er zwar ein Stück weit auch auf den Pfaden preußisch-militärischen Denkens, wonach die schärferen Mittel am schnellsten zum Erfolg führten und daher die humansten seien – was unter den Bedingungen eines Krieges durchaus auch vertretbar scheint.109 Doch beim inneren Einsatz führte diese Abkürzungslogik bei Noske letztlich zum normativen Totalausfall, den er am 27. März 1919 vor der Nationalversammlung in seiner ihm eigenen Schlichtheit auf den Punkt brachte: »Not kennt kein Gebot.«110 In seinem Zivilisationsbruch mit rechtstaatlichen Mindeststandards lag auch ein Keim der wirkmächtigen dezisionistischen Ausnahmezustandslogik Carl Schmitts, die letztlich auf nichts anderes als ein Recht des Stärkeren im Kampf um die politische Existenz hinauslief.111 Dies wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass der katholisch-bürgerliche Schmitt bei seinem Dienst im Münchener Standortkommando im April 1919 mit eigenen Augen erlebt hatte, wie einerseits bayerische Rotarmisten einen neben seinem Schreibtisch stehenden Offizier erschossen, andererseits, wie wenig später die Noske’schen Regierungstruppen die Münchener Räterepublik mit äußerster Grausamkeit niederschlugen – ein geradezu leviathanisches Schlüsselerlebnis.112 So entsprachen Schmitts später im Jahr 1927 niedergelegter »Begriff des Politischen« und dessen Freund-Feind-Schema auch der Logik der Reichswehreinsätze im Innern zur Bekämpfung politischer Gegner: »Die Leistung eines normalen Staates besteht aber vor allem darin, innerhalb des Staates und seines Territoriums eine vollständige Befriedung herbeizuführen, ›Ruhe, Sicherheit und Ordnung‹ herzustellen […]. Diese Notwendigkeit innerstaatlicher Befriedung führt in kritischen Situationen dazu, daß der Staat als politische Einheit von sich aus, solange er besteht, auch den ›innern Feind‹ bestimmt. […] Erklärt ein Teil des Volkes, keinen Feind mehr zu kennen, so stellt er sich nach Lage der Sache auf die Seite der Feinde und hilft ihnen«.113
Im Weltkrieg als Wehrpflichtiger einberufen, hatte Schmitt über Kontakte eine Verwendung fernab der Schützengräben beim stellvertretenden Generalkommando des 107 108 109 110 111
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»Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht«, Joh 11,50. Noske am 28.9.1919 vor Berliner MSPD-Funktionären, Artikel »Einstimmiges Vertrauensvotum für Noske«, Vorwärts vom 29.9.1919 (Morgenausgabe). Kriegsgebrauch, S. 8. Insofern unterscheidet sich ein Stück weit auch das Prinzip der »militärischen Notwendigkeit« im Humanitären Völkerrecht vom binnenstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 327, S. 853. Siehe auch Jung, Paragraphen, S. 65 m. w. N. So begründete Carl Schmitt auch die Möglichkeit eines »legalen Verfassungsbruchs« durch Art. 48 Abs. 2 WRV: »[Die Gegenauffassung] hieße im praktischen Ergebnis nichts anderes, als das einzelne Gesetz über das Ganze der politischen Existenzform zu setzen und Sinn und Zweck des Ausnahmezustandes in sein Gegenteil verkehren«, Schmitt, Verfassungslehre, S. 27; siehe auch Schmitt, Diktatur, S. 215–221. Noack, Schmitt, S. 54; Mehring, Schmitt, S. 108. Zur Verhängung des Belagerungszustandes durch den Reichspräsidenten über Teile des Reiches im April 1919 (RGBl. 1919 S. 391, 429, 637) nach Art. 68 RV 1871 siehe auch das Gutachten des Reichsjustizministers Landsberg vom 5.5.1919, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Scheidemann, Nr. 60, S. 261 f. Schmitt, Begriff, S. 46 und 52.
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I. Bayerischen Armeekorps in München erwirken können, wo er bei der nachrichtendienstlichen Überwachung linksrevolutionärer Bevölkerungskreise mithalf.114 Dabei wurde er auch mit der Abfassung eines Berichtes beauftragt, der die Aufrechterhaltung des ausnahmerechtlichen Kriegszustandregimes weit über das Kriegsende hinaus rechtfertigen sollte und den Grundstock seiner späteren ersten Publikation bildete.115 Eifrig betätigte er sich in den Folgejahren als Apologet einer metarechtlichen Legitimation des Ausnahmezustandes jenseits der Verfassung:116 Aus seiner Sicht galt »trotz aller verfassungsgesetzlichen Bindungen des Staates« für den konstitutionellen bürgerlichen Rechtsstaat »nicht weniger sondern eher noch selbstverständlicher als für jeden andern Staat«, dass sich im Falle eines inneren Angriffs auf dessen Ordnung »der Kampf außerhalb der Verfassung und des Rechts, also mit der Gewalt der Waffen entscheiden« muss.117 Ähnlich wie sein geistiger Urvater Hobbes – der ja ebenfalls unter dem Eindruck des Bürgerkriegs gedacht und geschrieben hatte – als spiritus rector des absolutistischen Polizeistaats in die Geschichte der frühen Neuzeit eingegangen war, so betätigte sich der Schmitt der Weimarer Jahre nun als geistiger Geburtshelfer des modernen Sicherheitsstaats, noch lange bevor von Kontaktsperre und Lauschangriff, von Al Qaida und dem »War on Terror« die Rede war. Im Ausnahmestand aber hörten für ihn nicht nur die normativen Bindungen des Gefahrenabwehr-, sondern auch des Völkerrechts auf, so dass der Reichspräsident in letzter Konsequenz »Städte mit giftigen Gasen belegen [könne], wenn das eben im konkreten Fall zur Wiederherstellung der Sicherheit und Ordnung die erforderliche Maßnahme ist«.118 In Noskes entsprechender Argumentation mit der Staatsräson klaffte aber eine entscheidende Lücke: Indem er den Rechtsstaat im entscheidenden Moment preisgab und dem Sicherheitsstaat opferte, indem er die Freiheitsrechte einer Art »Supergrundrecht auf Sicherheit«119 und damit einer nackten, diffusen Staatsräson unterordnete, blieb völlig offen, für welche Art Staat das Militär und er überhaupt kämpften. Rückblickend erscheint Noske damit als Verteidiger weniger einer rechtlichen Ordnung als der bloßen eigenen Macht. Dass Legalität und Legitimität staatlicher Ordnung sich im Wesentlichen auf (militärische) Machtfragen reduzieren ließen, dachten auch schon die Generalstabsoffiziere, die am 16. Dezember 1918 im Großen Generalstab in Berlin zu einer Besprechung über die politische Lage zusammenkamen. Das Gespräch leiteten die Majore Kurt v. Schleicher und Bodo v. Harbou (letzterer später im militärischen Widerstand gegen Hitler); über die allgemeine 114 115 116 117 118
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Neumann, Schmitt, S. 6. Schmitt, Militärzeit, S. 125; Neumann, Schmitt, S. 30, Fn. 145. Siehe hierzu Hürten, Reichswehr, S. 13 m. w. N.; siehe auch Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, S. 11. Schmitt, Begriff, S. 47. Schmitt, Diktatur, S. 178 f. und 201; er bezog sich dabei auf eine entsprechende Äußerung von Reichsjustizminister Eugen Schiffer (DDP) vom 3.3.1920, der sich seinerseits auf Oskar Cohn (USPD) bezogen hatte, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 332, S. 4637. Von einem »Supergrundrecht auf Sicherheit« sprach der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich im Zusammenhang mit der parlamentarischen Aufarbeitung des NSA-Skandals, »Friedrichs Welt« in Die Welt vom 17.7.2013, Nr. 164, S. 1; siehe aber bereits Isensee, Grundrecht; kritisch hierzu Frankenberg, Staatstechnik, S. 242.
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Stimmung unter den Teilnehmern notierte der teilnehmende Hauptmann Friedrich v. Rabenau (auch er später ein Opfer des NS-Unrechts) wenige Tage danach: »Es fehle den Regierenden jedes Instrument der Macht. Die Sozialdemokraten müßten jetzt am eigenen Leibe erfahren, daß nur Gewalt die Macht und damit das Recht verbürgt.«120 Auch hier sekundierte Schmitt, indem er die entsprechenden staatswissenschaftlichen Reflexionen 1932 nachlieferte: Ihm zufolge bewirkt »über jede Normativität hinaus, der bloße Besitz der staatlichen Macht einen zur normativistischlegalen Macht hinzutretenden zusätzlichen politischen Mehrwert, eine über-legale Prämie auf den legalen Besitz der legalen Macht und auf die Gewinnung der Mehrheit«.121 Diese frühe geistige Nähe Schmitts zum politischen »Mindset« der Reichswehrführung mündete am Ende des Staats von Weimar dann auch in persönliche Beziehungen zum Kreis um Schleicher – doch davon später mehr. Die resultierende Desillusionierung und Traumatisierung der Arbeiterbewegung setzte sich mit den Januarunruhen des Jahres 1920 fort, die am 13. des Monats in dem »Blutbad vor dem Reichstag« kulminierten, der Niederschießung einer Demonstration während der parlamentarischen Verhandlungen zum Betriebsrätegesetz. In diesem Zusammenhang erklärte Reichspräsident Ebert – diesmal für den weit überwiegenden Teil des Reiches – abermals den Ausnahmezustand unter Außerkraftsetzung wesentlicher Grundrechte und übertrug den Militärbefehlshabern die vollziehende Gewalt.122 Diese Maßnahmen stützten sich nun auf Art. 48 Abs. 2 der zwischenzeitlich in Kraft getretenen Weimarer Reichsverfassung. Die dort vorgesehene »Diktatur des Reichspräsidenten« war nach Anlage und Intention der Verfassung zunächst nicht als eine nahtlose Fortsetzung der alten Regelungen über den Kriegs- und Belagerungszustand gedacht gewesen.123 Während jene als untrennbarer Bestandteil der militärischen Kommandogewalt des Kaisers betrachtet worden waren und das preußische Gesetz (das ja nach Art. 68 RV 1871 mit Ausnahme von Bayern reichsweit Anwendung gefunden hatte) sogar einen Automatismus in Gestalt des Übergangs bestimmter, vorher festgelegter Befugnisse auf die Militärbefehlshaber vorgesehen hatte, waren derartige Beschränkungen dem Art. 48 WRV nicht zu entnehmen.124 Vielmehr konnte der Reichspräsident »Maßnahmen aller Art […], Maßnahmen der Gesetzgebung oder Maßnahmen der Verwaltung oder auch rein tatsächliche Maßnahmen und Vorkehrungen« treffen.125 Die Vorschrift unterschied sich insofern in ihrer ursprünglichen Konzeption von dem bisherigen Regime des preußischen Belagerungszustandes in zweierlei Weise: Zum einen waren die Notstandsbefugnisse des Reichspräsidenten im Grunde unbeschränkt.126 Eine strenge parlamentarische Kontrolle der getroffenen Maßnahmen 120 121 122 123 124 125 126
Hürten, Revolution, S. 30. Schmitt, Legalität, S. 33. RGBl. 1919 S. 26, 41 f., 207 f. Hürten, Reichswehr, S. 9. Laband, Staatsrecht, Band 4, S. 41. So Reichsjustizminister Eugen Schiffer (DDP), Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 332, S. 4636. Gusy, Reichsverfassung, S. 109; Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 444; Hürten, Reichswehr, S. 13, m. w. N.; siehe auch die Ausführungen des Berichterstatters v. Delbrück zu Art. 48 WRV: »Solange nun ein
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war nicht vorgesehen; aus Gründen der Zweckmäßigkeit entschied sich die Nationalversammlung, es bei einer Mitteilungspflicht an den Reichstag zu belassen, der im Nachhinein die Außerkraftsetzung verlangen konnte (Art. 48 Abs. 3 WRV). Die parlamentarische Verantwortlichkeit sollte allein durch die allgemeine ministerielle Mitzeichnungspflicht des Art. 50 WRV gewährleistet werden.127 Zutreffend kommentierte der Abgeordnete Haas: »Die meisten Fälle werden sich so abspielen, daß der Reichstag eine Erörterung über die Maßnahmen nicht für notwendig hält.«128 Andererseits waren die Notstandsbefugnisse vom militärischen Oberbefehl gelöst und ließen auch Maßnahmen zu, die nicht zwangsläufig die Übertragung bestimmter Befugnisse auf militärische Oberbefehlshaber im Sinne einer vorübergehenden Militärdiktatur zum Inhalt hatten. So ließ Art. 48 Abs. 2 WRV anstelle dessen beispielsweise auch die Bestellung eines Zivilkommissars zu. Art. 48 Abs. 5 WRV sah zwar die Festlegung des Näheren durch Reichsgesetz vor. Das entsprechende Ausführungsgesetz ist jedoch nie verabschiedet worden.129 Ein Entwurf des Reichsinnenministeriums aus dem Jahr 1925, der insbesondere die zwingende Ernennung von Zivilkommissaren vorsah, welche die Anordnungen des Militärbefehlshabers zur Gültigkeit gegenzeichnen sollten, scheiterte am massiven Widerstand von Reichswehrministerium und Reichspräsident v. Hindenburg.130 In einer informellen Mitteilung des Folgejahres, die nachrichtlich auch an das Büro des Reichspräsidenten und die Reichskanzlei ging, teilte der Reichswehrminister131 dem Reichsinnenminister unter anderem mit: »Nicht auf ein Ausführungsgesetz zum Artikel 48 kommt es an, sondern darauf, durch eine Stärkung der Reichsgewalt in normaler Zeit der Notwendigkeit einer Anwendung des Artikel 48 das Wasser abzugraben.« Dazu schlug der Reichswehrminister eine »Verstärkung der präsidialen Gewalt (Amerika)« sowie eine »Wiedervereinigung der Macht Preußens mit der Reichsgewalt« vor.132 Dass Letzteres nicht zwangsläufig zu einer »Entwicklung Preußens zum Reich« führen musste,133 hatte bereits Bismarck antizipiert, als er sich 1871 gegen die großdeutsche Lösung aussprach und Preußen damit eine dominierende Stellung im Reich einräumen wollte. Der Preußenschlag des Jahres 1932 gab seinen Befürchtungen schließlich Recht: Preußen ging im Reich auf, nicht umgekehrt. Was das Ausführungsgesetz nach Art. 48 Abs. 5 WRV betraf, schlug der Reichswehrminister »als die bei weitem beste Lösung« vor, »die Angelegenheit versanden zu lassen oder bis auf weiteres zu verzögern«.134 Dass dem Reichspräsidenten seine Diktaturbefugnisse aber auch ohne das entsprechende Ausführungsgesetz schon unmittelbar aus Art. 48 WRV zustanden, war
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Reichsgesetz nicht ergangen ist, ist diese Befugnis des Reichspräsidenten eine unbeschränkte«, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 332, S. 4636. Hürten, Reichswehr, S. 10 f. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 2111 f. Stolleis, Geschichte, Band 3, S. 116. Schulz, Demokratie, S. 472–477; Gusy, Reichsverfassung, S. 108. Reichswehrminister war zu diesem Zeitpunkt bereits Otto Geßler (DDP). Akten der Reichskanzlei, Kabinette Marx III/IV, Band 1, Nr. 116, S. 329 f. Denkschrift des Chefs der Heeresleitung, General d. Inf. v. Seeckt, über die Neuordnung des Aufbaus von Reich und Ländern vom 4.2.1924, abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 273–283 (276). Akten der Reichskanzlei, Kabinette Marx III/IV, Band 1, Nr. 116, S. 331.
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im Allgemeinen unbestritten.135 Zumindest nach der verfassungsrechtlichen Ausgangslage waren die Streitkräfte so »aus ihrer früheren Stellung als [alleiniger] innenpolitischer Krisenregulator abgelöst worden und zu einem der verschiedenen Instrumente herabgesunken, die dem Reichsoberhaupt als Hüter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zur Verfügung standen«.136 Insbesondere konnten die örtlichen Militärbefehlshaber, anders als nach altem Recht, den Belagerungszustand nicht mehr selbständig feststellen und provisorisch verhängen. Bei der Erörterung der Grenzen der Militärdiktatur fand die Weimarer Staatsrechtslehre bereits eine gefestigte Praxis vor: Dem Wortlaut des Art. 48 Abs. 2 WRV nach durfte der Reichspräsident nur sieben bestimmte Grundrechte »ganz oder zum Teil außer Kraft setzen«, wobei insbesondere Art. 116 WRV (nulla poena sine lege) nicht zur Disposition gestellt wurde. Gleichwohl ordneten schon die frühesten Art. 48-Maßnahmen Strafbestimmungen oder -Schärfungen an. Den Ausweg fand die Lehre, angeregt durch Carl Schmitt,137 in der Unterscheidung von völliger »Außerkraftsetzung« der genannten und der bloßen »Einschränkung« der übrigen Grundrechte sowie sonstiger Verfassungsbestimmungen.138 Schmitt freilich ging im Folgenden noch weiter: Für ihn war es kein Widerspruch, die Republik im Ausnahmezustand des liberalen Rechtsstaats zu entkleiden, für ihn hätte ein normativ abstrakter Staat sich auch ohne derartige Substanz selbst genügt:139 »Insbesondere sind es die typisch rechtsstaatlichen Normierungen zum Schutz der bürgerlichen Freiheit, die einer zeitweiligen Suspension unterliegen. Sie entspringen nämlich nicht […] dem Prinzip einer politischen Existenzform, sondern enthalten nur Schranken der politischen Betätigung; sie müssen also bei einer Gefährdung der politischen Existenzform als ein Hindernis der staatlichen Selbstverteidigung erscheinen.«140 Wie schon bei Gustav Noske verlangte die Staatsräson bei Schmitt, »daß diese Grundrechte, […] der Kern des bürgerlichen Rechtsstaates, für den außerordentlichen Gesetzgeber des Art. 48 einfach nicht vorhanden sind«.141 Statistisch gesehen erlebte der Art. 48 Abs. 2 WRV im Jahr 1919 fünf, im Jahr 1920 dann 37, 1921 noch 18 und 1922 nur noch acht Anwendungsfälle. Im Krisenjahr 1923 wiederum stieg die Zahl der Notverordnungen auf den Höhepunkt von 42; 1924 machte der Reichspräsident noch dreiundzwanzigmal, im Jahr 1925 schließlich fast gar keinen Gebrauch mehr von ihnen. In den folgenden Jahren der Stabilität bis zur Endpha135 136 137
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Hürten, Reichswehr, S. 12; Schmitt, Diktatur, S. 222, 224. Hürten, Reichswehr, S. 15. Siehe seinen entsprechenden Bericht auf der Staatsrechtslehrertagung in Jena vom April 1924, abgedruckt bei Schmitt, Diktatur, S. 213–259. Zur rechtswissenschaftlichen Debatte über Art. 48 WRV des Jahres 1924 siehe ausführlich Kaiser, Verantwortung, S. 123–138. Gusy, Weimar, S. 68 f.; ders., Reichsverfassung, S. 109 f. Frankenberg, Staatstechnik, S. 139. Schmitt, Verfassungslehre, S. 109 f. Die von ihm entwickelte »Wesensgehaltsgarantie« beschränkte er ausdrücklich auf verfassungsändernde Gesetze nach Art. 76 WRV, siehe hierzu ebenda S. 27, 110, 163 und 177. Schmitt, Legalität, S. 69; siehe auch Schmitt, Diktatur, S. 215–221. Freilich konnte sich Schmitt mit dieser Ansicht im Allgemeinen nicht durchsetzen, siehe hierzu ausführlich Nawiasky, Auslegung, S. 1–55; ebenso (mit Schwerpunkt auf den quasi-gesetzgeberischen Tätigkeiten des Reichspräsidenten) Gusy, Weimar, S. 66–75.
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se wurde auf den Art. 48 Abs. 2 WRV überhaupt nicht mehr zurückgegriffen.142 In den Endjahren der Republik erlangte der Art. 48 Abs. 2 WRV dann wieder herausragende Bedeutung bei der Etablierung der Präsidialkabinette. Allerdings ist bei der Ausübung der Notstandsbefugnisse durch den Reichspräsidenten zwischen der Früh- und Spätphase der Republik ein wesentlicher Unterschied auszumachen: Während in den Krisenjahren die Notstandsvollmachten zur Bewältigung typischer Ausnahmezustände durch Maßnahmen vorrangig exekutivischen Zuschnitts gebraucht wurden, dienten sie in der Spätphase zwischen 1930 und 1933 vielmehr der Ermächtigung zu gesetzgeberischen Zwecken. In Hinblick auf die Reichswehr sind daher primär die frühen Anwendungsfälle des Art. 48 Abs. 2 WRV von Interesse, insofern sie dabei in erheblichem Maße zu Maßnahmen »tatsächlicher« Art eingesetzt worden ist und auf diese Weise eine bedeutende innenpolitische Stellung im Reich festigen konnte, die ihr ursprünglich von der Verfassung jedenfalls nicht zwingend zugedacht worden war.143 Obwohl Art. 48 Abs. 2 WRV also auch die Möglichkeit zu rein zivilen Notstandsmaßnahmen eröffnete, sprachen schon in den Verfassungsberatungen manche Abgeordnete in Verkennung der Unterschiede in diesem Zusammenhang immer noch vom alten »Belagerungszustand«.144 Dies setzte sich dann in der Regierungspraxis fort: Um die Lücke des fehlenden Konkretisierungsgesetzes nach Art. 48 Abs. 5 WRV zu schließen, erarbeitete das Reichskabinett auf Drängen von Reichswehrminister Noske145 im Juli 1919 einen Musterentwurf für zukünftige Notstandsverordnungen nach Art. 48 Abs. 2 WRV,146 der bis auf spätere Detailänderungen bereits die Grundzüge für alle späteren Notverordnungen enthielt und gleichzeitig alle Kennzeichen dessen trug, was zuvor den preußischen Belagerungszustand ausgemacht hatte: Die Außerkraftsetzung von sieben Grundrechten, der Übergang der Exekutivgewalt auf den Reichswehrminister, der sie auf die Militärbefehlshaber übertragen konnte, Strafschärfungen und die Möglichkeit zur Bildung außerordentlicher Gerichte.147 Zwar sollte den Befehlshabern für Angelegenheiten der Zivilverwaltung ein Regierungskommissar beigeordnet werden, doch von einer Übertragung von Befugnissen war nur hinsichtlich des Militärs die Rede.148 Gleichzeitig gingen die von der Reichskanzlei in diesem Zusammenhang verfassten internen Richtlinien wie selbstverständlich davon aus, dass der Reichswehrminister in diesen Angelegenheiten federführend und für ihre Vertretung im Reichstag zuständig sei.149 Ein hiergegen 142 143 144 145 146 147 148 149
Hürten, Reichswehr, S. 14 f. Hürten, Reichswehr, S. 15. So etwa der Abgeordnete Haas, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 2111. Gemeinsame Sitzung des Reichskabinetts mit dem Preußischen Staatsministerium vom 26.6.1919, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Bauer, Nr. 5, S. 18. Entwurf einer Verordnung des Reichspräsidenten aufgrund von Art. 49 der künftigen Reichsverfassung vom 22.7.1919, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Bauer, Nr. 31, S. 138 f. Hürten, Reichswehr, S. 18. Dies war so ähnlich bereits durch eine Allerhöchste Verordnung des Kaisers vom 15.10.1918 vorgesehen, in der Praxis dann aber nie umgesetzt worden; siehe Hürten, Reichswehr, S. 21 f. Richtlinien der Reichskanzlei über das Verfahren und Zuständigkeiten der Reichsregierung bei Maßnahmen des Reichspräsidenten gemäß Art. 48,2 der Reichsverfassung vom 9.12.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 284–286.
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gerichteter Einspruch des neuen Reichsinnenministers Koch von Anfang Januar 1920 wurde wenige Tage später obsolet, als der Reichspräsident am 13. Januar die Mustervorlage für weite Teile des Reichs in Kraft setzte.150 Zwar sahen die internen Richtlinien die Bezeichnung »Ausnahmezustand« entgegen den Bestrebungen Noskes ausdrücklich nicht vor.151 Wenn auch ein solches Institut nun nicht mehr in feste rechtliche Formen gegossen war und die Handhabung des Art. 48 Abs. 2 WRV bei inneren Unruhen prinzipiell flexibel blieb, so hat die fortlaufende Praxis doch dazu beigetragen, dass sich der »Ausnahmezustand« jener Zeit zu einem festen Begriff in Politik und Jurisprudenz entwickelt hat. In der ihm nun zugefallenen Rolle gefiel sich das Militär sichtlich. So teilte das Reichswehr-Gruppenkommando 4 (Bayern) am 13. Juni 1919 dem unterstellten Bereich mit: »Unter dem Schutz der jungen Reichswehr muß eine sinnvolle Neubegründung der innerstaatlichen Verhältnisse unseres Vaterlandes durchgesetzt werden können; erst wenn der Staat wieder Herr im eigenen Hause ist, wird eine Besserung der außenpolitischen Lage möglich werden. Die Reichswehr ist also der Eckpfeiler, an dem die letzten Reste und die ersten Anfänge unseres sozialen, wirtschaftlichen und staatlichen Selbstbestimmungsrechtes festgeknüpft werden müssen.«152
Entsprechend umfassend und tiefgreifend interpretierte Reichswehrminister Noske den Auftrag des Militärs im Ausnahmezustand. So erklärte er etwa in einem Befehl an die mit der vollziehenden Gewalt ausgestatteten Militärbefehlshaber über die Ausübung der Vollmachten vom 30. Januar 1920, also nur wenige Wochen vor dem Kapp-Lüttwitz-Putsch: »Das beste Mittel zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung sind vorbeugende Maßnahmen der Militärbefehlshaber. Dazu gehören: a) die Unterdrückung der Hetzpresse, b) die Festsetzung der Hetzer, c) die Verhinderung jeder Kundgebung und Handlung, die sich gegen den Bestand des Reiches richtet, d) sorgfältige Verteilung und rücksichtsloser Einsatz der militärischen und polizeilichen Kräfte, um jeden Aufruhr im Keime zu ersticken. […] Die Gesundung des Wirtschaftslebens wird am ehesten zu erreichen sein: a) durch Verhinderung und Bekämpfung von Streiks in lebenswichtigen Betrieben, b) durch Hebung der Produktion.«153
Es verblieb hier der Phantasie der Militärbefehlshaber auszulegen, gegen welche »Hetzer« und welche »Hetzpresse« sie so »rücksichtslos« vorzugehen und durch welche konkreten Maßnahmen sie die Produktion zu heben hatten. Die hier vorge150
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Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Artikel 48 Abs. 2 der Reichsverfassung, betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Reichsgebiete mit Ausnahme von Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden und der von ihnen umschlossenen Gebiete nötigen Maßnahmen, vom 13.1.1920, RGBl. 1920 S. 207 f. »Der Ausdruck ›Belagerungs-‹ oder ›Ausnahmezustand‹ ist darin zu vermeiden«, Nr. 2 der Richtlinien der Reichskanzlei über das Verfahren und Zuständigkeiten der Reichsregierung bei Maßnahmen des Reichspräsidenten gemäß Art. 48,2 der Reichsverfassung vom 9.12.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 284–286. Befehl des Reichswehr-Gruppenkommandos 4 über die Bildung und Aufklärung bei den Truppen vom 13.6.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 143–145. Befehl des Reichswehrministers Noske an die mit der vollziehenden Gewalt ausgestatteten Militärbefehlshaber über die Ausübung der Vollmachten, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 325 f.
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schlagenen »vorbeugenden Maßnahmen« gingen jedenfalls weit über die Verfolgung begangener Straftaten oder die Gefahrenabwehr hinaus. Hier wurden vielmehr die Grenzen verwischt zwischen justizieller Repression, die etwa den Prinzipien objektiver Ermittlung sowie der Unschuldsvermutung verpflichtet ist, und polizeilicher Prävention, die notwendig mit einer in gewissen Grenzen berechtigten Verdachtslogik operiert.154 Hinzu kamen die von der vorläufigen Reichswehr errichteten Ausnahmegerichte, von denen später noch eingehend die Rede sein wird.155 Nicht ohne Grund gilt die Vermengung polizeilicher, justizieller und geheimdienstlicher Kompetenzen in ein und derselben staatlichen Organisation als ein Kennzeichen repressiver Regime.156 Unter dem Deckmantel des Schutzes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung mutierte die junge Republik damit vorübergehend zum Sicherheitsstaat, der längst Gefahrenhyperprävention im Sinne von Risikovorsorge betrieb, sich dazu weitreichende Eingriffsbefugnisse anmaßte und schließlich – einem Freund-FeindSchema folgend – eine Logik des militanten Bekämpfungsrechts etablierte.157 Zur Bewältigung derart umfänglicher Aufträge entfaltete die vorläufige Reichswehr auch eine erhebliche inlandsnachrichtendienstliche Tätigkeit, ohne dazu je einen gesetzlichen Auftrag erhalten zu haben.158 Besonders hier wurde der Verdacht zum alles überragenden Prinzip. Dabei hatte die Zuspitzung der Kriterien von nationaler Zugehörigkeit und politischer Loyalität bereits im Weltkrieg begonnen.159 Die Wirren der Nachkriegszeit und die damit einhergehende Verunsicherung der deutschen Gesellschaft bildeten dann den idealen Nährboden für eine Staatstechnik, die ein hobbesianisch-negatives Menschenbild pflegte. Sah man den Nächsten nicht als an und für sich »gut, aber in sich ambivalent«,160 sondern – um mit Carl Schmitt zu sprechen – als ein von Grund auf böses, ».d. h. als keineswegs unproblematisches, sondern als ›gefährliches‹ […] Wesen«, so lag es nahe, das Verdachtsdenken gegen die Mitmenschen zum System zu erheben,161 die eigene Angst wahlweise auf die Bolschewiki, die Moderne oder das Judentum zu projizieren und schließlich nach der »starken Hand« zu rufen.162 Gerade im Zusammenhang mit der inneren Über154 155 156 157 158
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Frankenberg, Staatstechnik, S. 121 und 252. Zur Verdachtslogik vertiefend Mertes, Widerspruch, S. 65–70. Kapitel IV.3. Als historische Beispiele genannt seien die Gestapo und die Stasi. Vertiefend Frankenberg, Staatstechnik, S. 239–242 Hürten, Reichswehr, S. 25 f.; siehe auch den Befehl des Oberbefehlshabers des Reichswehr-Gruppenkommandos 4, Generalmajor v. Möhl, an die unterstellten Brigaden über die Beobachtung der innenpolitischen Lage vom 15.7.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 176 f. Vor allem die Nachrichtenblätter und Stimmungsberichte aus dem Reichswehr-Gruppenkommando 4 sind in Hülle und Fülle bei BayHStA/ Abt. IV RWGrKdo 4 überliefert. Leonhard, Büchse, S. 1002 f. Diese prägnante Zusammenfassung der ignatianisch-christlichen Sicht auf die moralische Kondition der Schöpfung findet sich bei Kiechle, Macht, S. 8. Siehe Schmitt, Begriff, S. 61, wo es vollständig heißt: »Demnach bleibt die merkwürdige und für viele sicher beunruhigende Feststellung, daß alle echten politischen Theorien den Menschen als ›böse‹ voraussetzen, d. h. als keineswegs unproblematisches, sondern als ›gefährliches‹ und dynamisches Wesen betrachten.« Aus den posthum veröffentlichten Tagebüchern sprechen Schmitts Angstneurosen sehr deutlich. Zu Xenophobie und Negatividentität seines Begriffs des Politischen siehe Schmitt, Begriff, S. 27 und 54: »Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein […]. Er ist eben der andere, der Fremde […] Die politische Einheit setzt die reale Möglichkeit des Feindes […] voraus«.
1. Die Entstehung des paralegalen Staats im Staate
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wachung boten sich der Reichswehr Möglichkeiten, diese diffusen Ängste – in strengem Unterschied zum Vorliegen einer bestimmten Gefahr im polizeirechtlichen Sinne – als Grund und Bedingung ihres Tätigwerdens zugleich selbst zu schüren.163 Die unter anderem aus einem weiten Spitzelnetzwerk gezogenen Erkenntnisse mündeten in regelmäßige Berichte an die Reichsregierung, wobei die Möglichkeiten der Einflussnahme auf die innenpolitische Lagebeurteilung nicht unterschätzt werden dürfen.164 So war sich zum Beispiel der Oberbefehlshaber des Reichswehr-Gruppenkommandos 2 (Kassel), Generalleutnant v. Schoeler, nicht zu schade, der Reichsregierung in einer Meldung über die politische Lage vom 6. November 1919 ein umfangreiches sozialpolitisches Programm vorzuschlagen, das nicht etwa unter der gegenwärtigen Gesetzeslage, sondern nur durch die reichsweite Verhängung des Ausnahmezustands durchzusetzen sei.165 Wie sehr sich die Reichswehr als ständiges Organ der inneren Sicherheit sah, belegt auch eine Mitteilung des damaligen Chefs des Truppenamtes und späteren Chefs der Heeresleitung, Generalmajor v. Seeckt, an die Reichswehr-Gruppenkommandos vom 18. Oktober 1919. Dort wies er darauf hin, dass sich der »Ausnahmezustand (Belagerungszustand) […], nachdem die Reichsverfassung in Kraft getreten ist, auf ihren Art. 48« und nicht mehr auf das alte preußische Recht i.V.m. Art. 68 RV 1871 stützt.166 »Militärische Befehlshaber sind daher nicht mehr berechtigt, den Belagerungszustand zu verhängen.« Deswegen seien »Anträge auf Verhängung des Ausnahmezustandes […] von jetzt ab auf dem Dienstwege an das Reichswehrministerium […] zu richten.«167 Hier wird klar, dass nach Vorstellung der Reichswehrführung die politische Initiative zum Ausnahmezustand immer noch beim Militär und nicht etwa bei den Zivilbehörden – insbesondere denen der Länder – zu liegen hatte.168 In der Anlehnung an Modelle und Strukturen der untergegangenen alten Ordnung wurde die Reichswehr also als maßgeblicher Garant des Staatsbestandes und geborenes
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Von einer »Angst der Ängstiger« spricht Frankenberg, Staatstechnik, S. 190–193. Bei innenpolitischen Auseinandersetzungen besteht die Notwendigkeit der notfalls auch tödlichen Dezision nach Schmitt, Begriff, S. 33 und 46 f. Idealiter werden bei dieser Konstruktion die Ängste auf das Staatsmonster, den Leviathan umgelenkt, der in letzter Konsequenz mit seinen repressiven Strafandrohungen den Staat zusammenhält und den maßgeblichen Geltungsgrund seiner rechtlichen Ordnung bildet; Hobbes, Leviathan, Teil 2, Kapitel 28, S. 161. Der Sicherheits- ist damit zugleich immer auch ein Angststaat; siehe hierzu Frankenberg, Staatstechnik, S. 187 f. Hürten, Reichswehr, S. 26. Meldung des Oberbefehlshabers des Reichswehr-Gruppenkommandos 2, Generalleutnant v. Schoeler, an das Reichswehrministerium über die politische Lage vom 6.11.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 265–268. Das preußische Gesetz über den Belagerungszustand von 1851 hatte im Reich nur nach Maßgabe des Art. 68 RV 1871 Anwendung finden können, der jedoch nach Art. 178 Abs. 1 WRV aufgehoben war. Mitteilung des Chefs des Truppenamts, Generalmajor v. Seeckt, an die Reichswehr-Gruppenkommandos über die Rechtslage bei militärischem Einschreiten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit vom 18.10.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 246–248. Siehe auch den Befehl des Reichswehrministeriums über die Anträge der Reichswehr-Gruppenkommandos auf Erlass von Verordnungen des Reichspräsidenten gemäß Art.48 Abs. 2 der Reichsverfassung vom 8.12.1919, abgedruckt ebenda S. 282–284. Über die unitaristischen, also auf die Ausschaltung der Länder gerichteten Bestrebungen der Reichswehr in dieser Hinsicht siehe Hürten, Reichswehr, S. 27–29.
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I. Entstehung der Weimarer Wehrverfassung
Mittel für Maßnahmen des »Ersatzkaisers« nach Art. 48 Abs. 2 WRV begriffen. Diese Rolle wurde erst in den Tagen des Kapp-Lüttwitz-Putsches wieder in Frage gestellt.
c) Der Versailler Vertrag und die Geheimrüstung Als äußere Rahmenbedingung der künftigen Struktur und Ausrichtung der Streitkräfte kam im Juni 1919 der unter erheblichem Druck der Entente geschlossene Versailler Friedensvertrag hinzu,169 der nach Ratifikation durch das Deutsche Reich und die Siegermächte (mit Ausnahme der USA) am 10. Januar 1920 in Kraft trat.170 Er begrenzte den Umfang des Heeres auf 100.000 Mann, davon maximal 4.000 Offiziere (Art. 160 Nr. 1). Der Generalstab war ersatzlos aufzulösen (Art. 160 Nr. 3), die allgemeine Wehrpflicht war entgegen der ursprünglichen Verfassungsintention von Art. 133 Abs. 2 WRV nun dauerhaft abzuschaffen (Art. 173).171 Die Stärke der Marine sollte sich fortan auf je sechs Schlachtschiffe und kleine Kreuzer, je zwölf Zerstörer und Torpedoboote (Art. 181), insgesamt 15.000 Mann, davon 1.500 Offiziere (Art. 183) beschränken. In Konsequenz des uneingeschränkten U-Boot-Krieges war dem Deutschen Reich das Unterhalten einer U-Boot-Waffe (Art. 181) – wie auch von Luftstreitkräften (Art. 198) – gänzlich untersagt. Der Versailler Vertrag sah darüber hinaus erhebliche Rüstungsbeschränkungen vor, insbesondere die Demilitarisierung des Rheinlandes (Art. 42 f.) und die Besetzung des linksrheinischen Staatsgebiets durch die Alliierten für einen Zeitraum bis zu 15 Jahren (Art. 428). Über die Einhaltung dieser Bestimmungen sollte eine Interalliierte MilitärKontrollkommission (Art. 203–210) wachen. Für die psychologische Verfassung von Reichswehr und Reichsmarine wichtig waren die Ausführungen des Artikels betreffend der Kriegsschuld: Art. 227 brandmarkte den Obersten Kriegsherrn Wilhelm II. als Kriegsverbrecher; Art. 231 wies Deutschland die alleinige Verantwortung für sämtliche Kriegsschäden der Siegermächte zu. Angesichts der Aussichtslosigkeit militärischen Widerstandes entschied sich die Reichsregierung zur Unterzeichnung des Vertrages.172 Dabei wiederholte sie den Fehler des Waffenstillstandes von Compiègne vom November 1918, indem sie die unterzeichnende Delegation lediglich aus Zivilisten zusammenstellte und so verhinderte, dass die hauptverantwortlichen militärischen Eliten mit der vom Volk empfundenen Schmach assoziiert wurden.173 Der Umgehung der Versailler Rüstungsbeschränkungen durch Reichsregierung und Reichswehr sind zahlreiche Bücher gewidmet, die Art und Umfang der Geheimrüstung ausführlich schildern,174 weswegen es hier vor allem auf deren rechtliche Aspekte an169 170
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Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 16.7.1919, RGBl. 1919 S. 687–1349; Huber, Dokumente, Band 4, S. 140–147. Bekanntmachung, betreffend die Errichtung des ersten Protokolls über die Niederlegung von Ratifikationsurkunden zu dem Friedensvertrage zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 11.1.1920, RGBl. 1920 S. 31. Bereits bei den Beratungen des Verfassungsausschusses war aber das Wehrpflichtverbot des Friedensvertrags absehbar, siehe Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 512. Siehe hierzu das Telegramm des Chefs der OHL v. Hindenburg an die Reichsregierung vom 17.6.1919 sowie das Telegramm des Ersten Generalquartiermeisters Groener an den Reichspräsidenten Ebert vom 23.6.1919, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 141 f. Noske, Erlebtes, S. 104–109; Dietz, Primat, S. 216; Schulze, Weimar, S. 206. Siehe nur Bergien, Republik; Nakata, Landesschutz.
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kommen soll. Ausgangspunkt bilden zwei wesentliche Konstruktionsfehler des Vertrages, nämlich erstens seine Verhandlung unter Ausschluss der deutschen Delegation und zweitens die Unterzeichnung nach Drohung der Entente mit der Wiederaufnahme der aus deutscher Sicht völlig aussichtslosen Kampfhandlungen. Die Parteien des Friedensvertrages begegneten sich also noch nicht einmal formell auf Augenhöhe; der damit einhergehende Gesichtsverlust Deutschlands war von Seiten der Entente klar beabsichtigt. Allein deswegen schon musste seine »befriedende« Wirkung gering ausfallen. Es entspricht zudem jahrhundertealter europäischer Rechtstradition, dass durch Drohung zustande gekommene Rechtsgeschäfte wenigstens anfechtbar, wenn nicht gar von vornherein unwirksam sind.175 Als entsprechend unverbindlich sah die Mehrheit der politischen Elite im Deutschen Reich den Versailler Vertrag an und fühlte sich zu dessen Bruch legitimiert. Überblickshalber seien an dieser Stelle die »schwarze Reichswehr«, die Rüstungskooperation mit der Sowjetunion sowie die verfassungswidrige Finanzierung derartiger Projekte genannt. Die »schwarze Reichswehr« war eine verdeckte Aufwuchsreserve, die mit Wissen und Willen der Reichsregierung Bewaffnung und Ausrüstung in Verstecken hortete und gegen Art. 159 f., 164 und 169 Versailler Vertrag verstieß.176 Sie bildete sich vor allem aus den im Zuge der Abrüstung nicht in die Reichswehr übernommenen Freikorps und war daher von ihrer ideologischen Gesinnung her tendenziell rechtsrevolutionär geprägt. Die offizielle Reichswehr, vor allem nationalkonservativ geprägt, blieb zu ihr daher trotz regelmäßiger Gestellung von Ausbildungspersonal innerlich in einem ambivalenten Verhältnis. Die Rüstungskooperation mit der Sowjetunion war auch aus dem gemeinsamen Gegensatz zu Polen geboren und damit in gewisser Hinsicht auch ein Vorbote des Hitler-Stalin-Paktes.177 Wie dieser war die Zusammenarbeit mit der Roten Armee aber vor allem ein ideologiefreies Zweckbündnis, das in erster Linie auf der außenpolitischen Isolation von Reich und Sowjetunion beruhte und – das wurde spätestens mit dem Unternehmen Barbarossa klar – keine dauerhafte »Druschba« beider Völker begründete.178 Einen ersten Höhepunkt erreichte die Kooperation im Jahr 1922 mit dem Vertrag von Rapallo. Im Austausch für Wissen und Technik unterhielt die Reichswehr fortan insbesondere eine Flugschule und ein Panzerübungsgelände in Sowjetrussland, während gleichzeitig in Deutschland Truppenmanöver mit Panzerattrappen auf Pkw-Basis abgehalten wurden, was ganz klar gegen Art. 164 Abs. 1, 168 und 171 des Versailler Vertrages verstieß. Diese Aktivitäten organisierte die militärische Führung lange Zeit mit Billigung der Reichsregierung am Parlament vorbei.179 Erst Ende 1926 machte Philipp Scheidemann (SPD) die Kooperation mit der Roten Armee im Reichstag publik und leitete so den Sturz des Kabinetts Marx III ein,180 was dem Verhältnis von Militär und Sozialdemokratie (und damit zugleich von Reichswehr 175 176 177 178 179 180
Siehe § 123 Abs. 1 BGB, § 870 ABGB, Art. 1109 CC. Bergien, Republik, S. 129 f. Winkler, Weg, S. 423. Zeidler, Reichswehr, S. 304–307. Dietz, Primat, S. 227. Rede des Abgeordneten Philipp Scheidemann vor dem Reichstagsplenum am 16.12.1926, Verhandlungen des Reichstags, Band 391, S. 8577–8586.
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und Republik) weiteren Schaden hinzufügte.181 Um die illegalen Rüstungsvorhaben zu finanzieren, animierte die Reichswehrführung schon Anfang 1923 den Kapitän z. S. Walter Lohmann mit der Führung schwarzer Kassen und dem Verkauf von Schiffen, die nach den Bestimmungen des Friedensvertrages eigentlich hätten abgewrackt werden sollen, sowie mit weiteren umfangreichen privatwirtschaftlichen Betätigungen, deren Gewinne vor allem in Waffenkäufe und den Aufbau unterschiedlichster Tarnorganisationen bis hin zu einem Marinenachrichtendienst verwendet wurden.182 Als das Berliner Tageblatt 1927 die »Lohmann-Affäre« enthüllen wollte, drohte die Reichsregierung dem Redakteur mit einer Anzeige wegen Landesverrats, schob die Verantwortung auf Lohmann ab und gab sich unwissend. Zwar drang das Reichswehrministerium im Kabinett mit seinen daraufhin wiederholten Versuchen nicht durch, den Straftatbestand des Landesverrats dahingehend zu erweitern, dass er auch Behauptungen über Tatsachen der Landesregierung erfasste, »die geeignet sind, gegen das Deutsche Reich den Vorwurf seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen zu begründen« – unabhängig davon, ob die Behauptungen gesetzwidrige Zustände bekanntmachten.183 Detaillierte Anfragen, wie etwa die des KPDAbgeordneten Ernst Schneller, wurden im Parlament jedoch stur ignoriert,184 und so gelang es die Angelegenheit mehr und mehr unter den Tisch zu kehren. Fortan wurde sogar auf Vorschlag des Chefs des Rechnungshofes ein geheimer Rüstungshaushalt auf farbigem Papier geführt, der vor Übermittlung des Gesamtetats an den Reichstag aus den Akten herausgenommen wurde.185 Die Reichswehr behandelte diese fortgesetzten Völkerrechts- und Verfassungsbrüche also als offenes Geheimnis und begab sich damit erneut in ein zweifelhaftes Verhältnis zu rechtsstaatlichen Prinzipien, insbesondere der Bindung an Recht und Gesetz.
d) Weichenstellungen der Übergangszeit: Zwischen Kontinuität und Diskontinuität Die Ausgestaltung des Oberbefehls entschied einerseits darüber, ob die Disziplin der Streitkräfte dem Primat der Politik dienen konnte, und andererseits auch darüber, wer diese Politik gestaltete. Schon wegen der wachsenden Bedeutung der Streitkräfte in den revolutionären Auseinandersetzungen beanspruchte der Rat der Volksbeauftragten unter Ebert in Abstimmung mit dem preußischen Kriegsminister Oberst Reinhardt sowie dem Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte am 19. Januar 1919 auf dem Erlassweg den Oberbefehl über die verbliebenen deutschen Streitkräfte. Bis zur Schaffung der (vorläufigen) Reichswehr wurde das nun in Auflösung befindliche 181 182 183
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Bergien, Republik, S. 147 f. Carsten, Reichswehr, S. 311–313. So die wörtliche Formulierung eines Entwurfs, den Geßler am 3.6.1927 und Groener am 3.12.1928 dem Reichskabinett unterbreiteten, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Müller II, Band 1, Nr. 79, S. 284–287 (Fn. 14); siehe ferner Bergien, Republik, S. 155 f.; Hürter, Groener, S. 299–302. Verhandlungen des Reichstags, Band 395, S. 13417 (dort als Phoebus-Affäre bezeichnet). Dietz, Primat, S. 238.
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alte Heer in Abgrenzung zu den Freikorps als »Friedensheer« bezeichnet. Im gleichen Schritt delegierte der Erlass die Ausübung der obersten Kommandogewalt über das »Friedensheer« an den (preußischen) Kriegsminister.186 Das Ministerium wurde damit zum ersten Mal seit 1858 wieder Kommandobehörde – eine Stärkung des Primats der (Zivil-)Politik.187 Dieser Erlass hielt auch am tradierten Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten fest. Das widersprach zwar dem Reichskongress der Arbeiterund Soldatenräte vom Dezember 1918, der in seinen »Hamburger Punkten« unter anderem eine weitgehende Beteiligung der Räte in Kommando- und Beförderungsangelegenheiten gefordert hatte.188 Die Umsetzung dieses (teils allzu utopischen) Reformprogramms scheiterte vor allem am Widerstand Hindenburgs, der seine ablehnende Haltung sämtlichen Armeeoberkommandos telegraphierte. Die provisorische Reichsregierung überzeugte die OHL mit ihrer Einschätzung, dass die »Hamburger Punkte« den geordneten Rückmarsch des Heeres und damit den Waffenstillstand gefährdeten.189 Zugleich war das Festhalten am strengen Gehorsam dem Primat der (Zivil-)Politik jedoch weitaus dienlicher als eine ad-hoc-demokratische Teilhabe der Untergebenen. Andere Innovationen der revolutionären Soldatenräte, wie etwa Beseitigung der alten Schulterstücke oder des außerdienstlichen Tragens von Seitenwaffen, ließ der Erlass der vorläufigen Reichsregierung vorerst noch unangetastet. Weitere staatsorganisatorische Maßnahmen zu Aufbau und Gliederung der Streitkräfte in der kommenden Weimarer Republik traf die Weimarer Nationalversammlung im Frühjahr 1919 (noch vor Verabschiedung der WRV) in drei wichtigen Gesetzen, nämlich erstens dem Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt (GvRG) vom 10. Februar als einer Art »Notverfassung«, sowie zweitens und drittens den Gesetzen über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 6. März (vorerst nur i. S. v. Landstreitkräften) und »vorläufigen Reichsmarine« vom 16. April (GvRW und GvRM nebst Ausführungsverordnungen AVGvRW und AVGvRM). Dazu erließ der Reichswehrminister am 31. März 1919 noch umfangreiche »Ausführungsbestimmungen für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr«, die insbesondere die Streitkräfteorganisation, die Einführung von Vertrauensleuten sowie deren Rechte und Befugnisse, das Disziplinarstrafrecht, das Beschwerderecht, das Laufbahnrecht sowie das Vorgesetztenverhältnis regelten.190 Schon am Namen ist zu erkennen, dass es sich hier um Interimslösungen handelte, die nach § 5 GvRW und § 4 GvRM erst einmal nur bis zum 31. März des Folgejahres in Kraft bleiben sollten. Doch viele ihrer wichtigen Weichenstellungen machte auch der Reichstag später nicht mehr rückgängig; im Übrigen 186
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Erlass der Reichsregierung über die vorläufige Regelung der Kommandogewalt und die Stellung der Soldatenräte im Friedensheer vom 19.1.1919, AVBl. 1919 S. 54 f.; abgedruckt bei Kolb, Zentralrat, S. 442–445; ebenso bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 63–65; siehe auch Huber, Verfassungsgeschichte, Band 5, S. 935– 939; für die Marine sinngemäß in Kraft gesetzt, MVBl. 1919 S. 20. Dietz, Primat, S. 178–180. Huber, Dokumente, Band 4, S. 46 f. Messerschmidt, Militärwesen, S. 492 f.; Schmädeke, Kommandogewalt, S. 30, insbesondere Fn. 63; Schüddekopf, Heer, S. 34–39. Ausführungsbestimmungen für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31.3.1919, AVBl. 1919 S. 263– 282; hierzu war der Reichswehrminister nach §§ 13, 15 AVGvRW ermächtigt.
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gingen spätere Impulse zu Reformen maßgeblich von den konservativen Militäreliten aus und wurden weitgehend reichswehrintern auf dem Verordnungs- und Befehlswege umgesetzt. Als Aufgaben legte § 1 GvRW fest, dass die vorläufige Reichswehr »die Reichsgrenzen schützt, den Anordnungen der Reichsregierung Geltung verschafft und die Ruhe und Ordnung im Innern aufrechterhält.« Die Fokussierung auf Polizeiaufgaben wurde später durch Art. 160 Nr. 1 Versailler Vertrag unterstrichen: »Das Heer ist nur für die Erhaltung der Ordnung innerhalb des deutschen Gebiets und zur Grenzpolizei bestimmt.« Wenngleich die Zielsetzung hier eine Einschränkung und nicht eine Verschiebung der militärischen Aufgabenfelder war, so haben die Schöpfer der Versailler Nachkriegsordnung der Bekämpfung des deutschen Militarismus mit diesem Passus dennoch einen Bärendienst erwiesen. Entsprechend ging die Begründung zum Entwurf des späteren, grundlegenden Wehrgesetzes vom 23. März 1921 wie selbstverständlich davon aus, dass das »Ziel der Wehrgesetzgebung […] sein [muss], dem deutschen Volke die zu seinem Schutz im Innern […] nötige Wehrmacht zu geben«.191 Die unter Noske zur Jahreswende 1918/1919 begonnene Praxis des selbstverständlichen Militäreinsatzes zur Bewältigung innenpolitischer Auseinandersetzungen wurde also mit dem GvRW erstmals in normative Form gegossen und als geborene Aufgabe der Streitkräfte identifiziert. Schon hier zeichnete sich der Trend der Wehrgesetzgebung ab, bereits von Regierung und Militärbehörden Begonnenes zu legalisieren.192 Nach § 8 Abs. 1 GvRG unterstand der vorläufigen Reichsregierung auch die OHL, was zum einen die Beseitigung ihrer früheren Immediatrechte beim Staatsoberhaupt bedeutete. Zum anderen wurden mit der OHL auch die ihr nachgeordneten Grenzschutzverbände und vor allem die Freikorps einer zentralen und zivilen Reichsgewalt unterstellt. Bisher hatte die Reichsregierung nach ihrem Erlass vom 19. Januar 1919 nämlich nur über das in Auflösung befindliche »Friedensheer« verfügen können. Mit der Ermächtigung des Reichspräsidenten in § 1 GvRW, »das bestehende Heer aufzulösen und eine vorläufige Reichswehr zu bilden«, entschied man sich für die organisatorische Diskontinuität von neuem und altem Heer. Dem neuen, von der Nationalversammlung gewählten Reichspräsident Ebert, wurde dabei in § 1 AVGvRW formell das Oberkommando über das nun »vorläufige Reichswehr« genannte Militär der Republik übertragen. Einen weiteren irreversiblen Bruch mit dem föderalen Kontingentheer des Kaisers bedeutete die reichseinheitliche Verfassung des Militärs, wie sie schon im – später für die Gesamtheit der Streitkräfte verwendeten – Begriff »Reichswehr« zum Ausdruck kommt:193 So wurde erstmals ein sowohl für Heer wie Marine einheitlicher Reichswehrminister geschaffen (§ 2 AVGvRW und § 2 AVGvRM) – im Bismarckreich hatte es noch nicht einmal ein zentrales Reichskriegsamt oder dergleichen gegeben. Den Weg für die Zentralisierung der Wehrverfassung hatten die im Februar 1919 begonnenen Verhandlungen zwischen Reich und Bayern, 191 192 193
Entwurf eines Wehrgesetzes nebst Begründung vom 19.1.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 15. Hürten, Heer, S. 85. Nach Ansicht des Abgeordneten Anton Rheinländer (Zentrum) »eine der schönsten Wortprägungen, die wir in der neueren Zeit geschaffen haben«, Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3197.
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Sachsen, Württemberg und Baden frei gemacht, die zu einem Verzicht auf die wesentlichen militärischen Reservatrechte führten und später in die »Weimarer Vereinbarung« mündeten.194 Die Bezeichnung »Reichswehrminister« (statt »Kriegsminister«) verlieh dem Ganzen eine defensive Note.195 Heer und Marine (und nicht wie bisher nur die Flotte) wurden fortan beide nach § 7 AVGvRW und § 7 AVGvRM ausschließlich aus dem Reichsetat ohne Beibringung von Matrikularbeiträgen der Einzelstaaten finanziert.196 Mochte der Reichspräsident in vielerlei Hinsicht die Stellung eines »Ersatzkaisers« einnehmen, so bedurften nach § 8 GvRG alle seine militärischen Anordnungen – anders als die Kommandoakte des früheren Kaisers – der Gegenzeichnung durch den neuen Reichswehrminister, der seinerseits der parlamentarischen Nationalversammlung gegenüber verantwortlich war.197 Mit dem Zivilisten Noske als erstem Reichswehrminister wurde der Anspruch des Primats der Politik gegenüber dem Militär zusätzlich betont.198 Mit dem Reichswehrministerium wurde erstmals in der deutschen Geschichte eine teilstreitkräfteübergreifende Verwaltungsbehörde geschaffen, die aber vor allem zugleich auch Kommandobehörde war und damit eine entsprechend einheitliche Militärpolitik sowie eine Stärkung des Primats der Zivilpolitik ermöglichte. Federführend für dieses nicht unumstrittene Konzept waren der erste Amtsinhaber, Gustav Noske, und der letzte preußische Kriegsminister, Oberst Walther Reinhardt. Besonderen Widerstand erfuhren sie hierbei von dem durch und durch preußischen Generalmajor Hans v. Seeckt, der anders als der Württemberger Reinhardt der neuen Staatsform nicht pragmatisch-konstruktiv, sondern mehr oder weniger offen ablehnend gegenüberstand.199 Die konzeptionellen Rivalen unterschieden sich noch in weiteren Punkten: Der nicht nur dem Dienstgrad nach jüngere Reinhardt hatte im Krieg sehr viel mehr Fronterfahrung sammeln können als Seeckt, dessen Machtbasis wiederum nicht gute Beziehungen in die Politik, sondern das Offizierkorps und hierbei besonders die Generalstabsoffiziere bildeten.200 Noske berief Seeckt zwar zum Vorsitzenden der zum 19. Juli 1919 einberufenen Kommission für die Organisation des Reichswehrministeriums.201 Auf die anfängliche Struktur des Ministeriums hätte Seeckt aber vermutlich sehr viel größeren Einfluss nehmen können, wenn er nicht kurz vor Zusammentritt des Gremiums für längere Zeit an einer »Herzaffektion« erkrankt wäre und sich daher nur durch 194
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Die Weimarer Vereinbarung ist wiedergegeben bei Akten der Reichskanzlei, Kabinett Scheidemann, Nr. 106, S. 439–443, verkürzt bei Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 27–29. Baden war – obwohl kein früherer Kontingentstaat – zu den Verhandlungen in erster Linie deshalb hinzugezogen worden, weil es durch den Kriegsausgang in eine heikle Grenzlage geraten war, zugleich aber auch, um eine gewisse Parität zwischen den süddeutschen Teilstaaten herzustellen, siehe Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 595, Fn. 18. Wohlfeil, Heer, S. 83 f. Vgl. Art. 53 Abs. 3 S. 1 und Art. 64 RV 1871. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 594. Schmädeke, Kommandogewalt, S. 32. Meier-Welcker, Seeckt, S. 251–253; Mühlhausen, Seeckt, S. 39 und 47; Winkler, Weimar, S. 115. Mulligan, Creation, S. 129–132. Diese Kommission ist nicht zu verwechseln mit der Kommission für die Organisation des Friedensheeres, deren Vorsitzender Seeckt ebenfalls war.
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Oberstleutnant Otto Hasse vertreten lassen konnte.202 Das galt insbesondere für die Einrichtung der staatssekretärähnlichen Chefs von Heeresleitung und Admiralität (später in Marineleitung umbenannt), bei deren personeller Besetzung entgegen Seeckts Ambitionen zunächst Reinhardt zum Zuge kam. Seeckt wurde im Ministerium jedoch als Chef des der Heeresleitung unmittelbar unterstehenden Truppenamtes und damit der verdeckten Organisation des an sich nach Art. 160 des Versailler Vertrages verbotenen Generalstabes vorgesehen.203 Seine anfängliche Aversion gegen die Einrichtung eines Chefs der Heeresleitung hatte wohl weniger darauf beruht, dass er eine militärische Spitze als solche konzeptionell ablehnte, als auf der Ablehnung seines Gegenspielers Reinhardt, dem er sich nun unterordnen musste.204 Die von Noske und Reinhardt gewählte Konstruktion eines Reichswehrministeriums als Vereinigung von oberster Kommando- und Verwaltungsbehörde zog vor allem die Lehre aus der Kompetenzzersplitterung des Kaiserreichs, wo die Kommandoführung beim Militär selbst, nämlich beim Großen Generalstab (im Ersten Weltkrieg OHL) gelegen hatte, wogegen den zivilen Kriegsministern der einzelnen Kontingentsstaaten nur die engere Verwaltungskompetenz zugekommen war.205 Bei den Beratungen der Organisationskommission hatte Seeckt dagegen besonderen Wert darauf gelegt, dass im Reichswehrministerium möglichst viel vom Charakter des Großen Generalstabes und der OHL, dagegen möglichst wenig von der Idee des als bürokratisch empfundenen Kriegsministeriums erhalten blieb. Er konnte sich zumindest insofern durchsetzen, als die weit überwiegende Mehrzahl vor allem der herausgehobenen Stellen mit Stabsoffizieren und nicht mit Militärbeamten besetzt wurde. Die Soldaten der vorläufigen Reichswehr mussten nach § 11 AVGvRW und § 11 AVGvRM ein Treuegelöbnis – keinen Eid! – auf »das Reich«, nicht etwa eine bestimmte Staatsform leisten, was dem späteren Selbstverständnis der Armee als Dienerin eines abstrakten Staates sehr zupass kam.206 Nach § 3 GvRW und § 3 GvRM galten die Angehörigen von vorläufiger Reichswehr und vorläufiger Reichsmarine als Heeres- und Marineangehörige »im Sinne der reichsgesetzlichen Vorschriften, insbesondere auch der Versorgungsgesetze«. Schon am 14. November 1919, also nur fünf Tage nach Ausbruch der Revolution, hatte die preußische Regierung klargestellt, dass die bisherigen Gesetze und Verordnungen in Preußen grundsätzlich fortgalten.207 In die gleiche Kerbe schlug das »Übergangsgesetz«, das die Nationalversammlung nur zwei Tage vor dem GvRW verabschiedete: »Die bisherigen Gesetze und Verordnungen des Reichs bleiben bis auf weiteres in Kraft, soweit ihnen nicht dieses Gesetz oder das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 […] entgegen202 203 204 205 206 207
Meier-Welcker, Stellung, S. 151–153. Meier-Welcker, Seeckt, S. 237–239. Carsten, Reichswehr, S. 61 f. Zwei vergleichende Organigramme finden sich bei Mulligan, Creation, S. 128. Müller, Beck, S. 72 f.; Wette, Noske, S. 373 f.; Dietz, Primat, S. 181. Bekanntmachung der preußischen Regierung betreffend das Inkraftbleiben der bestehenden Gesetze und Verordnungen vom 14.11.1918, Preußische Gesetzsammlung 1918, S. 190.
1. Die Entstehung des paralegalen Staats im Staate
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steht. In Kraft bleiben auch alle von dem Rate der Volksbeauftragten oder der Reichsregierung bisher erlassenen und verkündeten Verordnungen.«208 Die Anordnung der normativen Kontinuität war sicher eine der folgenreichsten Entscheidungen für die zukünftigen Streitkräfte: Das gesamte Korpus des kaiserreichlichen Wehrrechts wurde so in die junge Republik unangetastet hinübergerettet, soweit zwischenzeitlich nicht abweichende Bestimmungen ergangen waren. Selbst auf so für das innere Gefüge entscheidenden Gebieten wie dem Militärstraf-, dem Disziplinar- und dem Beschwerderecht war damit der Chance zu konzeptionellen Neuschöpfungen eine Absage erteilt. Zukünftige Änderungswünsche und Reformvorhaben mussten sich fortan erst einmal gegen das weitergeltende Recht durchsetzen. Weder die Gesetzesbegründung noch die langen Plenarberatungen thematisierten diese wegweisende Entscheidung oder stellten sie gar in Frage.209 Stattdessen ergingen sich die Abgeordneten der Nationalversammlungen in gegenseitigen Schuldzuweisungen über die Staatsmisere – eine Debatte, die Noske zutreffend als »entsetzlich beschämend« bezeichnete.210 Die ausdrücklich vorgesehene Übernahme von Freikorps (§ 2 Abs. 1 GvRW und § 2 Abs. 1 GvRM sowie § 8 AVGvRW und § 8 AVGvRM) stellte zudem eine entsprechende personelle Kontinuität her, die sich nach dem Willen des Gesetzgebers auch über die vorläufige Reichswehr hinaus fortsetzen sollte. So legte § 2 Abs. 4 GvRW bereits jetzt fest, dass zumindest die Offiziere und Unteroffiziere »in erster Linie bei Übernahme in die künftige Wehrmacht berücksichtigt werden« sollten.211 Die Rückkehr zur Wehrpflicht war zwar noch nicht durch den Versailler Vertrag verboten worden, jedoch nach der Gesetzesbegründung »infolge technischer Schwierigkeiten zurzeit nicht zuverlässig durchführbar«, weshalb »für die Übergangszeit auf Freiwillige zurückgegriffen werden« sollte, »bis zur endgültigen Entscheidung über die Gestaltung der zukünftigen Wehrmacht des Deutschen Reiches.«212 Das beredte Schweigen all dieser Regelungen zu Soldatenräten bedeutete wiederum eine implizite Absage: Zwar sahen § 4 AVGvRW und § 4 AVGvRM die Wahl von Personalvertretungen vor. Deren Kompetenzen waren allerdings eng begrenzt; von einer Mitbestimmung in Kommandoangelegenheiten oder gar der Wahl der Offiziere war längst keine Rede mehr. Vielmehr verlangten die Abgeordneten der Nationalversammlung mehrheitlich »straffe Disziplin, aber nicht Kadavergehorsam«213 – ohne freilich zu erklären, worin der semantische Unterschied bestehen sollte. Das Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr kam nach § 4 »in Bayern nach näherer Bestimmung des Bündnisvertrags vom 23. November 1870 […], in Württemberg nach näherer Bestimmung der Militärkonvention vom 21./25. November 1870 208 209 210 211 212 213
Übergangsgesetz vom 4.3.1919, RGBl. 1919 S. 285 f. Nationalversammlungsdrucksache 58, S. 47. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 339. Siehe auch die entsprechende Regelung für die Marine bei § 2 Abs. 4 GvRM; Nationalversammlungsdrucksache 58, S. 47. So während der ersten Lesung zum GvRW der Abgeordnete Georg Schöpflin (MSPD), Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 296; ähnlich Adolf Gröber (Zentrum), ebenda S. 298; Ernst Siehr (DDP), ebenda S. 299; Max Baerecke (DNVP), ebenda S. 301.
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I. Entstehung der Weimarer Wehrverfassung
[…] zur Anwendung«.214 Sachsen hatte seine Militärkonvention mit dem preußischen König vom 7. Februar 1867 kurz zuvor aufgekündigt.215 Das für Bayern und Württemberg wichtigste Reservatrecht, nämlich ihr Oberbefehl über das eigene Kontingent, stand ihnen nach den Vereinbarungen von 1870 allerdings nur im Frieden zu. Formal befand sich das Reich aber noch bis zum Inkrafttreten des Friedensvertrages am 10. Januar 1920 im Krieg,216 so dass dieser Vorbehalt weiterhin suspendiert blieb und sowohl Württemberg als auch Bayern ihre Militärhoheit vor Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung nicht mehr zurückerlangten.217 Insofern ist auch die entgegenlautende Ausführungsverordnung der bayerischen Staatsregierung zum GvRW vom 10. Mai 1919 Makulatur geblieben.218 OHL und provisorische Reichsregierung hatten somit erreicht, das Militär zwar nicht in seiner äußerlich-organisatorischen Struktur, dafür aber in seiner inneren rechtlichen Verfasstheit weitgehend unangetastet und als einen tragenden Machtfaktor im Staatsgefüge zu erhalten.219
2. Reichsverfassung und Wehrgesetz Unter der am 14. August 1919 in Kraft getretenen Weimarer Reichsverfassung wurden Struktur und Stellung der neuen Reichswehr schließlich endgültig festgelegt. Schon mit der Entscheidung für eine verfassunggebende Nationalversammlung hatten sich die MSPD unter Ebert und der gemäßigte Teil der USPD im Rat der Volksbeauftragten für eine parlamentarische Staatsform entschieden – gegen den Widerstand des äußerst linken Flügels der USPD und des Spartakusbunds, die eine Räterepublik nach sowjetischem Vorbild favorisierten. In der Nationalversammlung bildeten MSPD, Zentrum und DDP dann die »Weimarer Koalition«, wobei es sich tatsächlich um die alte Reichstagsmehrheit der Weltkriegsjahre handelte, die schon den »Burgfrieden« getragen, in der Endphase des Weltkriegs den Interfraktionellen Ausschuss gebildet und in diesem Koordinationsgremium auf die verspätete Parlamentarisierung des Kaiserreiches im Oktober 1918 hingearbeitet hatte. So überrascht auch nicht, dass sich die WRV zumindest in ihrem staatsorganisationsrechtlichen Teil sehr weitgehend an der parlamentarisierten Verfassung des Kaiserreiches nach den »Oktoberreformen« orientierte, hatte es sich dabei doch um ein Projekt eben jener Parteien 214
215 216
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Militair-Konvention zwischen dem Norddeutschen Bunde und Württemberg vom 21./25.11.1870, BGBl. 1870 S. 658–662 (= Huber, Dokumente, Band 2, S. 339–342); Vertrag, betreffend den Beitritt Bayerns zur Verfassung des Deutschen Bundes, nebst Schlußprotokoll, BGBl. 1871 S. 9–26 (= Huber, Dokumente, Band 2, S. 329–333). Militärkonvention zwischen dem König von Preußen als Bundesfeldherr des Norddeutschen Bundes und dem König von Sachsen vom 7.2.1867, abgedruckt bei Dickmann, Beziehungen, S. 128–132. Bekanntmachung, betreffend die Errichtung des ersten Protokolls über die Niederlegung von Ratifikationsurkunden zu dem Friedensvertrage zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 11.1.1920, RGBl. 1920 S. 31. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 582. § 2 Abs. 1 der Ausführungsverordnung zum Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 10.5.1919, Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1919, S. 166–168. Dietz, Primat, S. 181.
2. Reichsverfassung und Wehrgesetz
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gehandelt. Die Lücke des nach Holland entschwundenen Kaisers füllte nun ein Reichspräsident. Als einen echt republikanischen Wurf wird man die Staatsorganisation der Weimarer Verfassung daher wohl kaum bezeichnen können.220 Nach der OHL hörten zum 1. Oktober 1919 auch die bisherigen Kontingentheere und ihre jeweiligen Kriegsministerien auf zu existieren, womit auch ihr vorübergehendes Nebeneinander mit dem Reichswehrminister endete.221 Alle übrig gebliebenen Verbände der alten Armee gingen endgültig in der vorläufigen Reichswehr auf. Ebenso nahm das neue Reichswehrministerium seine Arbeit auf und bildete von nun an die alleinige militärische Spitzenbehörde im Reich. Gleichzeitig begann nach dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages die Heeresverminderung. Noch im Juli 1919 hatten die gesamten Landstreitkräfte Deutschlands beinahe eine halbe Millionen Soldaten umfasst. Bis zum 15. Mai 1920 nahm die vorläufige Reichswehr ihre Zielstruktur als »Übergangsheer« von zunächst 200.000 Mann ein,222 die Reichswehrminister Geßler als das unabdingbare Minimum zur Aufrechterhaltung von innerer und äußerer Sicherheit ansah. Nachdem die alliierten Regierungen im Juni ultimativ auf der vorgesehenen Reduzierung auf 100.000 Mann bestanden, konnte die Reichsregierung auf der Konferenz von Spa lediglich einen Aufschub bis zum Jahresende erreichen, wobei das Heer bis zum 1. Oktober in einem Zwischenschritt auf 150.000 Mann zu reduzieren war.223 Damit war die Organisation des HunderttausendmannHeeres und seines Ministeriums bereits zum 1. Januar 1921 abgeschlossen, noch bevor das endgültige gesetzliche Fundament der Reichswehr gegossen war. Das Wehrgesetz, das den vorläufigen Abschluss der gesetzgeberischen Tätigkeit bei der Bildung der Reichswehr markierte, wurde erst am 23. März 1921 verabschiedet, also gute anderthalb Jahre nach Inkrafttreten der neuen Reichsverfassung und damit unter ganz anderen Rahmenbedingungen. Das sah man dem Gesetz auch an. In der Zwischenzeit war der Kapp-Lüttwitz-Putsch durchs Land gegangen und die Weimarer Koalition zugunsten einer Mitte-Rechts-Koalition abgewählt worden. Sowohl im Amt des Reichswehrministers als auch beim Chef der Heeresleitung zeigten sich mit Geßler und Seeckt neue Gesichter. Im gerade erst fertig gebildeten Reichswehrministerium brach eine neue Zeit für das deutsche Militär an.
a) Der Kapp-Lüttwitz-Putsch: Die Geister, die Noske rief Die auf die Ratifikation des Versailler Vertrages folgende unfreiwillige Heeresminderung warf unter den Soldaten der vorläufigen Reichswehr existenzielle Fragen auf. Ihnen wurde schnell klar, dass mit der Umsetzung des Versailler Vertrages in Zukunft 220 221
222 223
Gusy, Reichsverfassung, S. 78. Verordnung des Reichspräsidenten betreffend die Übertragung des Oberbefehls über die Wehrmacht des Deutschen Reichs auf den Reichswehrminister vom 20.8.1919, RGBl. 1919 S. 1475. Zur Umsetzung siehe den Erlass des Reichswehrministers über die Auflösung der Kriegsministerien (Reichswehr-Befehlsstellen), der Generalkommandos, Auflösungsstäbe, Abwickelungsstellen usw. des alten Heeres vom 14.9.1919, HVBl. 1919, S. 107. Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 356. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 584 f.; Absolon, Wehrgesetz, S. 65 f.
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nur noch grob jeder fünfte des im Juni 1919 noch 545.000 Mann starken Heeres würde Soldat bleiben können.224 Den Gang auf den ohnehin übersättigten Arbeitsmarkt traten sie mit großer Sorge an, zumal vor allem die jüngeren von ihnen von der Schulbank weg direkt zum Wehrdienst eingezogen worden und entsprechend unqualifiziert waren.225 Das Ausrufen eines Boykotts durch linksgerichtete Organisationen erschwerte die Arbeitsplatzsuche für ehemalige Soldaten, vor allem für Freikorpsangehörige, zusätzlich.226 Sie fühlten sich von der Reichsregierung durch die Annahme des »Schandvertrages« verraten227 und politisierten sich zunehmend antirepublikanisch-rechts.228 Diese »Gärprozesse«229 entluden sich dann erstmals am 21. Juli 1919 mit dem Putschversuch des Garde-Kavallerie-Schützen-Korps,230 das im April aus der Division selben Namens hervorgegangen war und noch im Mai maßgeblich an der blutrünstigen Niederschlagung der Münchner Räterepublik beteiligt gewesen war.231 Aufgrund einer Erkrankung des Kommandierenden Generals, Generalleutnant v. Hofmann, wurde das ca. 60.000 Mann starke Korps zu dieser Zeit de facto von seinem Chef des Stabes, dem politisch ehrgeizigen Hauptmann Pabst, geführt,232 der bereits während des Spartakusaufstandes vom Januar 1919 die Mordaktionen gegen Liebknecht und Luxemburg geleitet hatte – ohne dafür je bestraft worden zu sein.233 Noske wollte das Korps auflösen, nachdem Pabst ihm am 5. Juli 1919 die Errichtung einer Militärdiktatur angeboten hatte.234 Generalmajor Maercker und General d. Inf. Lüttwitz, denen das Vorhaben zwar nicht grundsätzlich unsympathisch war, die es jedoch als wenig erfolgversprechend beurteilten, brachten den Putschversuch im letzten Moment zum Stehen, als Teile von Pabsts Truppen bereits in den Berliner Vororten standen, jedoch bevor die Öffentlichkeit Notiz genommen hatte.235 Nur wenig später, im Frühherbst 1919, probten weite Teile der in Lettland und Litauen gegen die Bolschewiki kämpfenden Freikorps den Aufstand gegen die Reichsregierung, nachdem diese auf Druck der Entente hin die »Baltikumer« zurückbeordert hatte.236 Ende September lief das Gros der Meuterer zur »weißen« Westrussischen Befreiungsarmee über.237 Erst die von der Reichsregierung angeordnete Blo224 225 226 227 228 229
230 231 232 233 234 235 236 237
Wette, Noske, S. 468. Schulze, Weimar, S. 212. Wohlfeil, Heer, S. 96. In einem Schreiben vom 14.2.1920 informierte Noske den Reichskanzler über die »zu nehmende Unruhe« der Truppe, BArch R 43-I/680, fol. 86 f. Wohlfeil, Heer, S. 11, S. 98. Haffner, Revolution, S. 171 f., 193. Siehe etwa die Information von Generalmajor Graf von der Goltz an das Oberkommando Nord vom 11.8.1919 über eine »gefährliche Gärung« bei den »Baltikumern«, abgedruckt bei Könnemann/Schulze, Kapp, S. 20 f. Wette, Noske, S. 516 f. Eine übersichtliche Schilderung über den Gang der Ereignisse in Bayern bietet Haffner, Revolution, S. 176–185; siehe auch Gietinger, Konterrevolutionär, S. 159–163. Wette, Noske, S. 508. Haffner, Revolution, S. 162 f. Wette, Noske, S. 508 f.; Gietinger, Konterrevolutionär, S. 189. Gietinger, Konterrevolutionär, S. 192 f. Keller, Wehrmacht, S. 205. Keller, Wehrmacht, S. 206.
2. Reichsverfassung und Wehrgesetz
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ckade der Nachschubwege, der kalte baltische Winter sowie militärische Erfolge der mit indirekter britischer Unterstützung kämpfenden Balten brachten die Wende. Die meisten deutschen Freiwilligen wurden nach einem durch die Entente vermittelten Waffenstillstand wieder aus der russischen Westarmee herausgelöst und kehrten geschlagen ins Reich zurück.238 Noskes zwielichtige Verbündete begannen sich nun also zunehmend gegen die Republik zu wenden. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildete der Kapp-LüttwitzPutsch im März 1920: Ihm gingen Auseinandersetzungen zwischen dem Oberbefehlshaber des Reichswehr-Gruppenkommandos 1 (Berlin), General d. Inf. v. Lüttwitz, und Reichswehrminister Noske voraus.239 Noske hatte zur Umsetzung des am 10. Januar 1920 in Kraft getretenen Versailler Vertrages am 29. Februar 1920 die Auflösung der »Marinebrigade Ehrhardt« befohlen,240 ein dem Reichswehr-Gruppenkommando 1 unterstehender und äußerst schlagkräftiger »Eliteverband« der vorläufigen Reichswehr. Ihren Namen trug die Brigade nach ihrem Anführer, Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt, der später die fememordende »Organisation Consul« gründete. Ehrhardts Freikorps war bereits an der Niederschlagung der Spartakistenaufstände in Berlin und München beteiligt gewesen und galt als politisch extrem rechts: Es marschierte weiterhin unter der schwarz-weiß-roten Reichskriegsflagge und trug seit Januar 1920 das Hakenkreuz am Stahlhelm.241 Noske selbst hatte diese Truppe ein Jahr zuvor noch in der Nationalversammlung gegen Kritik verteidigt: »[I]ch freue mich konstatieren zu können, daß die Männer, mit denen ich in Kiel ein paar Monate in engster Kameradschaft gearbeitet habe, sich, als die Not des Reichs am höchsten war, in Aufopferungsfähigkeit und in heißer Liebe zu ihrem Lande hinter die Regierung gestellt und ihr wertvolle Dienste geleistet haben.«242 Ein halbes Jahr später, im August 1919, machten mehrere Kommandeure des von Lüttwitz geführten Reichswehr-Gruppenkommandos 1 Vorbehalte gegen den neu zu leistenden Verfassungseid geltend, insbesondere gegen die Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold.243 Lüttwitz hatte in den Wochen vor dem Putsch offen gegen die Heeresminderung opponiert, einen Rechtsschwenk der Regierungspolitik verlangt und Reichspräsident Ebert in Anwesenheit von Reichswehrminister Noske sogar am Abend des 10. März ein entsprechendes Ultimatum gestellt. Die Reichsregierung lehnte seine Forderungen letztmalig ab und bot ihm, wie es bei solchen offenen Friktionen üblich war, den freiwilligen Abschied an. Als das Abschiedsgesuch jedoch nicht wie erwartet am nächsten Morgen eintraf, erließ das Reichswehrministerium einen Befehl, der Lüttwitz des Kommandos enthob und ihn zur Disposition stellte.244 Zur gleichen Zeit begannen die Putschisten mit den letzten 238 239 240 241
242 243 244
Keller, Wehrmacht, S. 209 f. Noske, Kiel, S. 203. Wette, Noske, S. 627. Winkler, Weg, S. 411; Haffner, Revolution, S. 195. Nach der Auffassung von Müller, Beck, S. 72, war der Kapp-Lüttwitz-Putsch weniger von rechtsrevolutionärer denn von restaurativ-monarchistischer Tendenz. Richtigerweise wird man das auch, aber vor allem für die Anführer, weniger für die Gefolgschaft des Putsches annehmen müssen. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 308. Carsten, Reichswehr, S. 68 f. Gordon, Reichswehr, S. 107–113.
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Vorbereitungen. Auch der umtriebige Hauptmann Pabst war hierbei wieder mit von der Partie. Die Haftbefehle, die Noske gegen ihn und Kapp am 11. März ausfertigte,245 konnten jedoch wegen einer undichten Stelle beim Berliner Polizeipräsidenten nicht mehr vollstreckt werden.246 Der Umsturzversuch begann in der Nacht vom zwölften auf den 13. März 1920, als General d. Inf. Walther v. Lüttwitz die Marinebrigade Ehrhardt vom Truppenübungsplatz Döberitz kommend auf Berlin führte und mit ihr in den frühen Morgenstunden das Regierungsviertel besetzte. Noske hatte die Lage falsch eingeschätzt, einen Putsch für unwahrscheinlich gehalten und entsprechend unzureichende Abwehrmaßnahmen getroffen. 247 Die wenigen herbeigeorderten Regimenter verweigerten seinem Befehl zur Verteidigung des Regierungsviertels den Gehorsam – in geistiger Solidarität mit dem Chef des Truppenamtes, Generalmajor Hans v. Seeckt, der in Gegenwart von Noske bei einer nächtlichen Lagebesprechung im Reichswehrministerium die Devise »Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr« ausgab.248 Von den anwesenden Offizieren erklärten sich einzig der Chef der Heeresleitung, Generalmajor Reinhardt, und Noskes Adjutant, der Major Erich v. Gilsa, mit dem Reichswehrminister solidarisch und zum Kampf gegen die Putschisten bereit.249 Der Reichsregierung blieb nichts anderes übrig, als überstürzt nach Dresden zu fliehen, wo sie sich unter den Schutz des von Noske als zuverlässig eingeschätzten Generalmajors Maercker und seiner Truppen begab. Seeckt erkannte die Aussichtslosigkeit des Kapp-Lüttwitz-Putsches früh, ließ sich beurlauben und zog sich in Zivil gekleidet in seine Berliner Privatwohnung zurück, wo er in aller Vorsicht den Gang der Dinge abwartete.250 Der Abschied, um den er am selben Tag beim geflohenen Reichspräsidenten einkam, wurde ihm jedoch erst sehr viel später gewährt.251 Symptomatisch für die innere Verfassung der jungen Reichswehr war das ebenfalls zögerlich-abwartende Verhalten ihrer Kommandeure in dieser Situation:252 Zwar folgten nur wenige dem Ruf der Putschisten, jedoch setzte von den anderen niemand der Revolution von rechts aktiv etwas entgegen.253 Auch Seeckts damaliger Stellvertreter und späterer Nachfolger als Chef der Heeresleitung, Generalmajor Wilhelm Heye, verweigerte Lüttwitz zwar die Gefolgschaft, aber dies war ihm nach seinen späteren biographischen Einlassungen »sehr unangenehm, denn was Lüttwitz als 245
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Rechtsgrundlage war hier § 2 der Ausnahmezustandsverordnung des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 WRV vom 13.1.1920, RGBl. 1920 S. 207 f. Siehe auch die Mitteilungen des Reichswehrministers an das Reichskabinett am 12.3.1920 über das Bevorstehen eines militärischen Putsches, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Bauer, Nr. 186, S. 667 f., insbes. Fn 10. Erger, Kapp, S. 124. Winkler, Weg, S. 409; Gordon, Reichswehr, S. 112; Haffner, Revolution, S. 197–199. »Eine Felddienstübung mit scharfen Patronen zwischen Berlin und Potsdam können wir nicht machen«, zit. nach Erger, Kapp, S. 143. Der genaue Wortlaut der Seeckt’schen Äußerungen lässt sich nur schwer rekonstruieren, siehe hierzu Guske, Denken, S. 188–191. Noske fühlte sich in diesen Stunden von den Reichswehroffizieren, insbesondere Seeckt, »schmählich verraten«, zit. nach Wette, Noske, S. 766. Carsten, Reichswehr, S. 89 f., Fn. 93. Carsten, Reichswehr, S. 91. Meier-Welcker, Seeckt, S. 262 f.; Guske, Denken, S. 193. Mühlhausen, Seeckt, S. 245 f.; Wette, Noske, S. 644. Haffner, Revolution, S. 201.
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endgültiges Ziel erstrebte, war auch mein Herzenswunsch. Aber ich mußte meine schwere Aufgabe pflichtgemäß durchführen, da die Gefahr nahe war, daß als einziges Ergebnis dieses Putsches ein Krieg ausbrechen würde zwischen Reichswehr-Ost und Reichswehr-West zur Freude des triumphierenden Dritten, der Regierung Ebert, die sich rechtzeitig in Sicherheit hatte bringen können.«254 Dass der Umsturzversuch dennoch scheiterte, war letztlich dem umfassenden Generalstreik der Arbeiterschaft zu verdanken, zu dem ein Pressesprecher eigenmächtig im Namen der fliehenden Reichsregierung in letzter Minute aufgerufen hatte.255 Erfolglos versuchte das Kapp-Lüttwitz-Regime, durch zahlreiche standrechtliche Erschießungen streikender Arbeiter der Lage Herr zu werden. Zwar war es der Generalstreik, der die Putschisten letztlich in die Knie zwang. Doch dass die Reichsregierung den Streikaufruf nachträglich faktisch billigte und guthieß, irritierte die Führungszirkel der Reichswehr sehr, die noch in den Monaten zuvor auf Geheiß der Reichsregierung den vermeintlich staatsgefährdenden »Streikterror« bekämpft hatte. Die Autorisierung derart »spartakistischer« Mittel gefährdete andererseits also das staatstragende Zweckbündnis von Militär und Mehrheitssozialdemokratie.256 Schon während der Verhandlungen über den Abbruch des Putsches und die Gewährung von Amnestie suchte die provisorische Reichsregierung Ebert/Bauer wieder den Ausgleich mit den rechten Kräften.257 Auch leugneten Kabinettsmitglieder ihre Mitwirkung am Streikaufruf gegenüber zögerlichen Reichswehrkommandeuren, da diesen wohl nur der bisherige gemeinsame Kampf mit der verfassungsmäßigen Reichsregierung gegen und nicht mit dem streikenden Proletariat zumutbar erschien.258 Reichsjustizminister und Vizekanzler Eugen Schiffer (DDP) bot den Putschisten Pabst und Lüttwitz sogar falsche Pässe und Geld an und empfahl ihnen sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.259 Vor allem stolperte Noske über den Kapp-Lüttwitz-Putsch: Seit längerem waren MSPD-Basis und Arbeiterschaft mit seinem Kurs nicht einverstanden gewesen.260 Nun war er wegen seiner Fehleinschätzung der Sicherheitslage für die eigene Partei endgültig unhaltbar geworden und reichte am 18. März 1920 seinen Rücktritt ein.261 Sein enger Vertrauter Generalmajor Walther Reinhardt, der einzige General, der in den Tagen des Putsches für die Reichsregierung zu kämpfen bereit gewesen war, trat aus Loyalität zu seinem Minister als Chef der Heeresleitung ebenfalls zurück. Er wurde wenige Monate später als Kommandeur der 5. Division (und damit zugleich Befehlshaber des Wehrkreiskommandos V) nach Stuttgart versetzt und zum Generalleutnant befördert. Generalmajor Hans v. Seeckt jedoch, der den Kampf für die 254 255 256 257
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zit. nach Carsten, Reichswehr, S. 91 f. Mit »Regierung Ebert« ist hier das Kabinett Bauer gemeint. Keller, Wehrmacht, S. 244; Wette, Noske, S. 649. Keller, Wehrmacht, S. 245. Siehe die Aufzeichnungen des Reichsinnenministers Koch über die Amnestieverhandlungen des Reichsjustizministers Eugen Schiffer (DDP) mit Kapp, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Bauer, Nr. 211, S. 748– 750. Mühlhausen, Ebert, S. 324 f.; Wette, Noske, S. 652 f. Erger, Kapp, S. 280. Mühlhausen, Ebert, S. 330–334. Wette, Noske, S. 655 und 658; Wohlfeil, Heer, S. 251.
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verfassungsgemäße Regierung offen verweigert hatte, erhielt anstelle seines Abschieds zunächst am 17. März vorübergehend den Befehl über das Reichswehr-Gruppenkommando 1 (das Lüttwitz zuvor inngehabt hatte), dann am 22. März kommissarisch die Aufgaben des Reichswehrministers und danach schließlich, nachdem ein Nachfolger für Noske gefunden war, auf Dauer den Posten des Chefs der Heeresleitung.262 Seeckt und den Kommandeuren der Reichswehr wird man zwar zugutehalten müssen, dass in jenen Tagen Reichswehr tatsächlich nicht auf Reichswehr schoss, ein Bürgerkrieg also zumindest in dieser Richtung ausblieb. Doch gleichzeitig hinterließ der Putsch ein Staatswesen, in dem die entscheidende bewaffnete Macht nicht bereit gewesen war, sich hinter die demokratisch legitimierte Regierung zu stellen. Die Machtfrage, die Kapp und Lüttwitz der parlamentarischen Demokratie in diesen Tagen gestellt hatten, ließ die junge Reichswehr einfach unbeantwortet im Raum stehen. Damit war die Kluft zwischen Republik und Militär vollends offenbar geworden.263 Das hielt die vorläufige Reichsregierung jedoch nicht davon ab, die diskreditierten Freikorps wenig später zur grausamen Niederschlagung des »Ruhraufstandes« sowie von Streiks in Thüringen einzusetzen. Der Generalstreik, den die fliehende Reichsregierung zur Abwehr des Kapp-Lüttwitz-Putsches ausgerufen hatte, war besonders an der Ruhr zunehmend außer Kontrolle geraten: Die von der Reichsregierung enttäuschten Arbeiter forderten jetzt den politischen Lohn für ihren Einsatz, wozu auch die Entlassung Noskes gehörte.264 Einzig die Marinebrigade Ehrhardt kam auf Einspruch der Gewerkschaften bei der Aufstandsunterdrückung nicht zum Einsatz; jedoch zahlte man ihr die versprochene Zulage für das Kapp-Lüttwitz-Unternehmen in Höhe von 7 Mark pro Tag aus. Als sie schließlich unter Buhrufen aus Berlin abmarschieren musste, revanchierte sie sich, indem sie auf dem Pariser Platz in die Menschenmenge feuerte.265 Die an der Ruhr eingesetzten Freikorps kämpften ebenso wenig zimperlich.266 In Thüringen taten sich vor allem Studenten aus Marburg,267 die entgegen Art. 174 f. Versailler Vertrag als Zeitfreiwillige einberufen worden waren, durch ausgewählte Grausamkeit gegenüber der Bevölkerung besonders hervor, unter anderem erschossen sie fünfzehn angeblich Aufständische ohne jedes Verfahren und wurden davon sogar später kriegsgerichtlich freigesprochen.268 Diesen Bürgerkrieg 262
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Mühlhausen, Seeckt, S. 41; Carsten, Reichswehr, S. 103. Zur kommissarischen Übertragung der Geschäfte des Reichswehrminister siehe die Abschrift des entsprechenden Erlasses des Reichspräsidenten vom 22.3.1920, BArch R 43-I/952, fol. 27. Wohlfeil, Heer, S. 253; Wette, Noske, S. 686; Gordon, Reichswehr, S. 147; eine weitere Ansicht interpretiert die Ergebnisse des Kapp-Lüttwitz-Putsches als ein Auseinanderdriften von Militär und Sozialdemokratie, hierzu eingehend Hürten, Kapp-Putsch, S. 34–41; siehe auch Carsten, Reichswehr, S. 109. Winkler, Weg, S. 414; Büttner, Weimar, S. 373; Haffner, Revolution, S. 207–209. Krüger, Brigade, S. 62 f. Schüddekopf, Heer, S. 84, Fn. 281; Gietinger, Konterrevolutionär, S. 220 f. m. w. N. Zur Rekrutierung der Freikorps aus der Studentenschaft siehe Sprenger, Landsknechte, S. 52 f. Zum Verhältnis zwischen der (Schwarzen) Reichswehr und dem Deutschen Hochschulring (DHR)/Hochschulring Deutscher Art (HDA) siehe Meinl, Nationalsozialisten, S. 74. Die »Mörder von Mechterstädt« wurden am 19.6.1920 von einem divisionseigenen Kriegsgericht freigesprochen, das Urteil wurde in der Berufung am 17.12.1920 durch das Schwurgericht Kassel bestätigt (zur Zuständigkeit des Gerichts siehe § 19 Abs. 3 des Gesetzes, betreffend die Aufhebung der Militärgerichts-
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also – gegen links – packten vorläufige Reichsregierung und Reichswehr dann umso entschiedener an. Wie schon im Rahmen der Spartakistenaufstände zu beobachten gewesen war, verschwamm im Rahmen der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zunehmend die Grenze zwischen legitimer Bekämpfung eines Kombattanten und (politischem) Mord – ein weiterer paralegaler Zug der Reichswehrgeschichte. Mit seiner Haltung in den Kapp-Tagen hat Seeckt also keineswegs weiteres Blutvergießen, sondern in erster Linie ein allzu starkes Auseinanderbrechen des rechten Blocks verhindert. Mit Noske verließ eine schillernde Gestalt das Reichswehrministerium, die einerseits die Verantwortung für exzessive Gewalttaten der Regierungstruppen trug, sich andererseits aber ein gewisses Maß an Sachkenntnis und Autorität unter den Offizieren erarbeitet hatte, um dem Primat der Zivilpolitik ein Stück weit Geltung verschaffen zu können. Nicht von ungefähr gab Noske seinem Nachfolger noch auf den Weg, »sich so bald wie möglich Seeckt vom Halse zu schaffen«.269 In dieser Hinsicht hatte sein Untergang durchaus auch eine tragische Seite. Dass die eigene Partei ihm den Rückhalt entzog, mochte aus der Situation nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch durchaus verständlich sein, erwies sich in anderer Hinsicht jedoch als mindestens zwiespältig, wenn nicht gar kurzsichtig: Mit Noskes Weggang verloren die Sozialdemokraten das Wehrressort für die gesamte restliche Zeit der Weimarer Republik, und damit vielleicht die größte der wenigen Chancen zu einer gewissen Republikanisierung der Reichswehr.270 Nur wenige der militärisch Verantwortlichen mussten – unter der tatkräftigen Rückendeckung des inzwischen zum Generalleutnant und Chef der Heeresleitung beförderten Seeckt271 – mit ernsthaften Konsequenzen ihres Handelns rechnen.272 Neben Lüttwitz, den der Reichspräsident unmittelbar nach dem Putsch aus dem Heer entließ,273 musste auch Generalmajor Maercker wegen seines recht undurchsichtigen Verhaltens in diesen Tagen gehen. Die Offiziere der mittleren und jüngeren Generation, die den Staatsstreichversuch teilweise mitgetragen hatten, blieben hingegen verschont. Das traf beispielsweise auch auf Hauptmann Eduard Dietl zu, später Hitlers »Held von Narvik«, der sich gegenüber seinem Bataillonsführer sogar offen dazu bekannte, kurz vor dem Putsch einige bekannte Rädelsführer auf einer Offizierversammlung getroffen zu haben. Seeckt leitete vielmehr eine Säuberung insbesondere derjenigen jungen Offiziere und Mannschaftsdienstgrade ein, die sich in den
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273
barkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587). Siehe hierzu Huber, Verfassungsgeschichte, Band 7, S. 120. Siehe auch die Kritik des Abgeordneten Ludwig Haas (DDP), Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 332, S. 4977; ebenso des Abgeordneten Felix Waldstein (DDP), Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 209 f. Siehe auch Tucholsky, Studentenlied. Noske, Erlebtes, S. 166. Keller, Wehrmacht, S. 281. Wette, Noske, S. 682 f. Schon am 22.3.1920 empfahl Seeckt dem Reichskabinett: »Da Ludendorff sich aktiv nicht beteiligt hat, empfehle ich mit Rücksicht auf die Truppen, nicht jetzt Haftbefehl zu erlassen«, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Bauer, Nr. 209, S. 741; siehe auch Erger, Kapp, S. 294–296; Haffner, Revolution, S. 206 f; Wette, Noske, S. 677–679, 681 f, 684 f.; Carsten, Reichswehr, S. 104 f. Eine Abschrift der Entlassungsurkunde vom 29.3.1920 findet sich bei BArch R 43-I/683, fol. 40.
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Tagen der Krise mit der Reichsregierung solidarisiert hatten – oft mit der Begründung, sie hätten den Befehlen ihrer putschenden Vorgesetzten nicht gehorcht und damit die innere Einheit des Heeres gefährdet.274 Ein Untersuchungsausschuss unter der Leitung des von Ebert hierzu berufenen parlamentarischen Staatssekretärs Christian Stock wurde im Reichswehrministerium schlicht kaltgestellt.275 Aber auch die gerichtliche Aufarbeitung fiel für die Putschisten ausgesprochen milde aus. Den beteiligten Soldaten und Offizieren kam dabei zugute, dass die Militärstrafgerichtsordnung zu dieser Zeit noch galt, so dass für die Verfolgung der von ihnen im Zusammenhang mit dem Putschversuch begangenen Straftaten ausschließlich militärische Dienststellen und Gerichte zuständig waren.276 Das erst am 17. August verabschiedete Gesetz zur Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit trat zwar grundsätzlich erst zum 1. Oktober in Kraft. In Hinblick auf die unzureichende militärgerichtliche Aufarbeitung setzten die Abgeordneten jedoch immerhin durch, dass sich das »Verfahren wegen strafbarer Handlungen, durch welche Leib oder Leben von nicht der Wehrmacht angehörigen Personen verletzt ist, wegen Hoch- und Landesverrats sowie wegen der damit zusammenhängenden strafbaren Handlungen […] sich von der Verkündigung dieses Gesetzes an nach dessen Vorschriften« richtete und damit von diesem Zeitpunkt an der ordentlichen Gerichtsbarkeit überwiesen war.277 Da aber die Ermittlungszuständigkeit bis dahin – also für einen Zeitraum von gut fünf Monaten – allein beim Militär gelegen hatte, dürften die späteren Aussichten der zivilen Strafverfolgungsbehörden äußerst gering gewesen sein, etwaige Ermittlungsdefizite oder Verschleierungen wieder wett zu machen. Umgekehrt hatte die Reichsregierung im »Bielefelder Abkommen« vom 24. März 1920 zunächst denjenigen Arbeitern Amnestie versprochen, die zur Abwehr des Kapp-Lüttwitz-Putsches gewisse Straftaten begangen hatten. Doch die Regierungsvorlage für das Amnestiegesetz ging einen bedeutenden Schritt weiter. Gleich zur Eröffnung der Aussprache im Plenum bemerkte Gustav Radbruch (MSPD): »Wir hatten […] lediglich eine Amnestievorlage für diejenigen verlangt, welche sich in der Bekämpfung des Kapp-Lüttwitz-Putsches strafbarer Handlungen schuldig gemacht haben. Der vorliegende Amnestieantrag geht weiter. Er will Straffreiheit nicht nur den Kapp-Gegnern, sondern auch den Kappisten gewähren.«278 Das Amnestiegesetz vom 4. August 1920 erfasste schließlich auch diejenigen, »die an einem hochverräterischen Unternehmen gegen das Reich mitgewirkt haben, sofern sie nicht Urheber oder Führer des Unternehmens gewesen sind.«279 Immerhin wurden drei Putschbe274 275 276 277
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Keller, Wehrmacht, S. 278 f. Carsten, Reichswehr, S. 106–111; siehe auch Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 419 f.; ebenda Band 347, S. 2194 f. Hierzu und zur unterschiedlichen Haltung Eberts und Geßlers in diesem Zusammenhang siehe Mühlhausen, Ebert, S. 371–375 (373). Siehe hierzu vertiefend Kapitel IV.1. und 2. § 28 Abs. 1 des Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587. Die Aufbereitung des Kapp-Lüttwitz-Putsch war Gegenstand der Debatte über das Aufhebungsgesetz, siehe Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 209 f. Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 522. Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 4.8.1920, RGBl. 1920 S. 1487 f.
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teiligte wegen Hochverrats (§ 81 Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 RStGB280) angeklagt. In seinem Urteil stellte das Reichsgericht zwar immerhin fest, dass das Tatbestandsmerkmal der »Verfassung des Deutschen Reichs« die jeweils gültige und also nicht nur die Bismarck’sche Reichsverfassung schütze.281 Allerdings legte das Gericht bei der Anwendung des Amnestiegesetzes die Begriffe »Urheber oder Führer« so eng aus, dass sogar der angeklagte Conrad v. Wangenheim nicht verurteilt wurde, der zwar als designierter Landwirtschaftsminister nachweislich an Besprechungen des KappKabinetts teilgenommen, aber – was für das Gericht den Ausschlag gab – »keinen Fuß in das Landwirtschaftliche Ministerium gesetzt« hatte. Auch den Schatten-Wirtschaftsminister Georg Schiele sprach das Reichsgericht frei, obwohl er »sich beständig in der Umgebung Kapp’s aufgehalten hat und sogar als sein Vertrauensmann galt, der aber bei alledem doch nur Dienstleistungen von verhältnismäßig untergeordneter Art verrichtet hat«.282 Diese enge Auslegung barg indes auch ein wenig an Plausibilität, hatte der Reichstag doch den Antrag des MSPD-Abgeordneten Radbruch als zu weit gehend abgelehnt, wonach von der Amnestie ausdrücklich auch die »Inhaber eines höheren Staatsamts oder einer höheren Kommandostelle« ausgeschlossen werden sollten, sofern sie sich »dem Unternehmen angeschlossen oder ein solches Amt oder eine solche Kommandostelle zum Zweck der Unterstützung des Unternehmens angenommen« hatten.283 Man wird die Verantwortlichkeit daher auch wesentlich bei den politischen Mehrheitsverhältnissen suchen müssen, die sich nach den ersten Reichstagswahlen ja grundlegend gewandelt hatten.284 Einzig Traugott v. Jagow, der von Kapp zum Innenminister berufen worden war, verurteilte das Reichsgericht lediglich wegen Beihilfe zum Hochverrat zur Mindeststrafe von fünf Jahren Festungshaft, die im Gegensatz zur Zuchthausstrafe als custodia honesta galt. Dazu billigten die Richter ihm im Rahmen der Strafzumessung mildernde Umstände nach § 81 Abs. 2 RStGB zu, da er und seine Kreise der Überzeugung »gewesen sein mögen[!], eine unter dem beherrschenden Einflusse linksradikaler Elemente stehende Regierung wirtschafte das Reich zugrunde« und er sich daher »unter dem Banne irregehender Vaterlandsliebe und eines verführerischen Augenblicks […] dem KappLüttwitz’schen Unternehmen angeschlossen« hätte. Andererseits war das Reichsgericht der Ansicht, dass innerhalb des sich bei Annahme mildernder Umstände ergebenden Strafrahmens über das gesetzliche Mindestmaß der Strafe erheblich hinausgegangen werden musste, denn: »Das Kapp-Unternehmen ist auf der Stuttgarter Tagung der Nationalversammlung am 18. März 1920 mit Recht als ein ›ungeheueres Verbrechen am deutschen Volke‹ gebrandmarkt worden. Es hat alles in Frage gestellt, was seit den Novembertagen 1918 in langer, mühevoller Arbeit zur 280
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§ 81 Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 RStGB: »Wer außer den Fällen des § 80 es unternimmt, die Verfassung des Deutschen Reichs […] gewaltsam zu ändern, […] wird wegen Hochverraths mit lebenslänglichem Zuchthaus oder lebenslänglicher Festungshaft bestraft.« RGSt 56, 259–272 (261). RGSt 56, 259–272 (272). Reichstagsdrucksache 1/331; siehe auch RGSt 56, 259–272 (270). So auch Neusel, Spruchtätigkeit, S. 57 f.; stärker das Reichsgericht kritisierend hingegen Gumbel, Mord, S. 97 f.
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Wiederherstellung des zerrütteten Staatswesens getan und erreicht war. Es mußte unabsehbare politische Folgen nach sich ziehen und hat vieler Orten zum Bürgerkrieg geführt. Seine unheilvollen Nachwirkungen können bis zum heutigen Tage noch nicht als vollständig überwunden angesehen werden.«285 Aber bereits nach der Hälfte der Haftzeit, am 12. Dezember 1924, wurde Jagow von Reichspräsident Ebert begnadigt. Später verklagte er den Freistaat Preußen auf Zahlung seiner Beamtenpension: Die war ihm infolge des Kapp-Lüttwitz-Putsches aufgrund von § 7 des preußischen Disziplinargesetzes286 aberkannt worden, der ipso iure den Verlust von Amt und damit der Pension im Falle einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe länger als einem Jahr anordnete. Während die Vorinstanzen die Klage abgewiesen hatten, siegte Jagow in letzter Instanz vor dem Reichsgericht: § 7 des preußischen Disziplinargesetzes sei – entgegen der damals herrschenden Literaturmeinung – durch § 81 Abs. 3 des später ergangenen RStGB derogiert, da diese Vorschrift den Amtsverlust als mögliche Nebenstrafe zum Hochverrat vorsah. Hier setzte sich das Reichsgericht über §§ 2, 5 des Einführungsgesetzes zum Reichsstrafgesetzbuch287 hinweg, der die Bestrafung mit Amtsentziehung aufgrund von Landesrecht, das – wie nach damaligem Verständnis das Disziplinarrecht – nicht Regelungsgegenstand des RStGB war, weiterhin ausdrücklich erlaubte.288 Ebenfalls nicht strafrechtlich belangt wurde Vizeadmiral Adolf v. Trotha, der sich als Chef der Admiralität (spätere Marineleitung) ohne Zögern auf die Seite der Aufständischen geschlagen hatte. Trotha hatte als Chef des Stabes der Hochseeflotte eine maßgebliche Rolle beim Flottenbefehl vom 24. Oktober 1918 gespielt, der hinter dem Rücken der Reichsregierung einen Verzweiflungsangriff gegen die britische »Grand Fleet« im Ärmelkanal vorgesehen und damit unmittelbar zum Matrosenaufstand und mittelbar zur Revolution in Deutschland geführt hatte. Zwar in Unkenntnis dieser Zusammenhänge, sehr wohl aber im Bewusstsein, dass es sich bei ihm um einen eingefleischten Monarchisten handelte, hatten sich Ebert und Noske im Kabinett für die Berufung Trothas an die Spitze der vorläufigen Reichsmarine eingesetzt, die am 29. März 1919 erfolgt war.289 Damit aber hatten sie den Bock zum Gärtner gemacht. Nach der Flucht der Regierung Ebert aus Berlin nahm Trotha an Kabinettsbesprechungen des Kapp-Regimes teil, stellte sich ihm zur Verfügung und ließ dies den unterstellten Bereich auch mit der Weisung wissen, dass seinen Befehlen weiterhin Folge zu leisten sei.290 Unmittelbar nach dem Scheitern des Putsches enthob 285
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Reichsgericht, Urt. v. 21.12.1921 – C. 11/20 –, S. 55 f. (unveröffentlicht; in der Bibliothek des BGH verfügbar). Die Ausführungen der Urteilsbegründung über die Strafzumessung sind nicht abgedruckt bei RGSt 56, 259–272. Gesetz vom 21.7.1852 betreffend die Dienstvergehen der nichtrichterlichen Beamten, die Versetzung derselben auf eine andere Stelle oder in den Ruhestand, Preußische Gesetzsammlung 1852, S. 465–488. BGBl. 1870 S. 195 f. Ausführlich und m. w. N. Kuhn, Vertrauenskrise, S. 214 f. Zur damaligen Literaturmeinung siehe pars pro toto Dultzig, Disziplinargesetz-Kommentar, S. 61. Mühlhausen, Ebert, S. 379; siehe auch Protokoll der Kabinettssitzung vom 25.3.1919, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Scheidemann, Nr. 2, S. 96. »Ich habe mich mit der Marine der neuen Regierung zur Verfügung gestellt und erwarte, daß die Marine, wie bisher, geschlossen meinen Befehlen folgt«, Weisung des Chefs der Admiralität an die Stationskom-
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Ebert ihn daher am 22. März seines Amtes und beurlaubte ihn bis auf weiteres. Im Zuge der sich anschließenden strafrechtlichen Vorermittlungen gab Trotha sich in vielerlei Hinsicht unwissend und behauptete, durch sein Handeln habe er lediglich die politische Neutralität der Marine bewahren wollen – in Wirklichkeit stürzte er die Marine weniger als anderthalb Jahre nach dem Matrosenaufstand in eine zweite Existenzkrise.291 Die Oberreichsanwaltschaft sah in der Folge von einer Anklageerhebung ab; im Oktober wurde Trotha schließlich ehrenhaft, also unter vollen Bezügen, aus der Reichsmarine entlassen. An einer ernsthaften Verfolgung der im Zusammenhang mit dem Putsch begangenen Straftaten scheint die Justiz ohnehin kein Interesse gehabt zu haben: So hatte sich Kapp noch problemlos etwa vier Wochen in Deutschland aufhalten können, bevor er Mitte April 1920 mit dem Flugzeug nach Schweden floh. Er stellte sich zwar im Frühjahr 1922 der Reichsjustiz, verstarb jedoch schon im Juni desselben Jahres während des laufenden Verfahrens an einer Krebserkrankung. Auch Lüttwitz, dessen Aufenthaltsort der Regierung bekannt gewesen war, floh erst im April 1920 nach Ungarn. Er kehrte aber bereits 1921 nach Deutschland zurück, wo er sich fortan unbehelligt aufhalten und nach eigener Aussage auch mit diversen freilaufenden Mitverschwörern von einst treffen konnte.292 1925 wurde das Verfahren gegen ihn endgültig aufgrund der ersten der »Hindenburg-Amnestien«293 eingestellt,294 die nun auch die Führer und Urheber des Kapp-Lüttwitz-Putsches erfasste. Auch er erstritt sich seine Pension, und zwar rückwirkend von den Putschtagen ab.295 Im Ergebnis wurde also in Reaktion auf einen der für die junge Republik hochgefährlichen Umsturzversuche lediglich eine einzige Person rechtskräftig verurteilt – in krassem Unterschied zur Strafverfolgung etwa im Nachgang zur Münchner Räterepublik vom April 1919, die für die allermeisten Hauptbeteiligten zu Haftstrafen führte.296 Als eine Ursache für derartige Entwicklungen führte Reichsgerichtspräsident Walter Simons später an, der Richter des Kaiserreichs »wollte und konnte im neuen Reich den Geist nicht wechseln.« Dieser Geist wiederum bestand seiner Ansicht nach wesentlich aus »der seelischen Verwachsenheit eines großen Teils der Richter mit dem Heere«.297 Eine weitere Konsequenz aus dem Kapp-Lüttwitz-Putsch war, dass die Handhabung der Notverordnungen nach Art. 48 Abs. 2 WRV überdacht wurde. Immerhin 291
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mandos Kiel und Wilhelmshaven sowie die übrigen Dienststellen der Marine vom 13.3.1920, zitiert nach Rahn, Reichsmarine, S. 54. Siehe auch Trotha, Persönliches, S. 22 f. »Ich war kein politisches Organ der Kapp-Regierung«, Protokolle der Aussagen des Vizeadmirals v. Trotha bei der Voruntersuchung gegen Lüttwitz und Genossen über sein Verhalten beim Kapp-Lüttwitz-Putsch, abgedruckt bei Hürten, Anfänge, S. 32–48 (47). Siehe auch Rahn, Reichsmarine, S. 54 f. Konnemann/Schulze, Kapp, S. 381, Fn. 2. Das Gesetz über Straffreiheit vom 17.8.1925 (RGBl. 1925 I S. 313 f.) wurde parteiübergreifend vom Reichstag beschlossen und sollte vor allem die aufgrund der hohen Anzahl politischer Straftaten in den 1920er Jahren überforderte Justiz entlasten. Beschluß des Staatsgerichtshofes zum Schutze der Republik über die Einstellung des Verfahrens gegen Lüttwitz vom 19.8.1925, abgedruckt bei Könnemann/Schulze, Kapp, S. 596 f. Winkler, Weimar, S. 137. Siehe die Übersicht bei Gumbel, Mord, S. 99–107. Siehe auch Gietinger, Konterrevolutionär, S. 162 f. Rede am 9.11.1926 vor der Juristischen Studiengesellschaft zu München, Rekonstruktion bei Kuhn, Vertrauenskrise, S. 109–115 (113).
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war der Staatsstreichversuch inmitten des bereits am 13. Januar 1920 nach Art. 48 Abs. 2 WRV proklamierten Ausnahmezustands ausgebrochen, der die Übertragung der vollziehenden Gewalt auf die Militärbefehlshaber zur Folge gehabt hatte und damit zunächst – bis zu seiner kurzfristigen Enthebung – auch auf Lüttwitz als den Kommandierenden General des Reichswehr-Gruppenkommandos 1 (Berlin).298 Der Putsch brachte die bisherige Praxis der Einsetzung einer vorrübergehenden Militärdiktatur bei der Reichsregierung erst einmal in Misskredit. Sie entschloss sich daher zu einem (wenn auch nur vorübergehenden) Kurswechsel. Mitte April 1920 hob der Reichspräsident seine Notverordnungen vom Januar auf und übertrug stattdessen vom Reichsinnenminister ernannten Zivilkommissaren die vollziehende Gewalt. Damit hatte das Militär seine innenpolitisch zunächst einigermaßen gefestigte Stellung ein gutes Stück weit wieder verspielt.299 Festzuhalten bleibt, dass die Reichswehr von Beginn an in einem schwierigen Verhältnis zur republikanischen Staatsform stand und außergewöhnliche Rechtsstandards für sich reklamierte. Die Ursachen dafür sind wesentlich in der Kooperation Eberts und Noskes mit den Eliten des kaiserlichen Weltkriegsheeres, im massiven Einsatz des Militärs in bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen unter Außerkraftsetzung wesentlicher Grundrechte sowie in den überzogenen Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages und der daraus resultierenden Geheimrüstung zu suchen.
b) Reichswehrminister Gessler und der neue Chef der Heeresleitung: Die »Ära Seeckt« Als die »Ära Seeckt« wird gemeinhin die Zeit von März 1920 bis Oktober 1926 bezeichnet, in der Generaloberst Hans v. Seeckt als Chef der Heeresleitung amtierte und sich den Ruf als »Vater der Reichswehr« erwarb.300 Einerseits konsolidierte sich die Reichswehr in dieser Zeit als Organisation, andererseits wurde sie gesellschaftlich abgeschottet und blieb in einem ambivalenten Verhältnis zur jungen Republik. Johannes Friedrich Leopold v. Seeckt wurde am 22. April 1866 in Schleswig in das wohl ursprünglich ungarische, seit dem 17. Jahrhundert pommersche Adelsgeschlecht geboren. Als Generalstabsoffizier der Kaiserzeit einerseits von einem starken preußisch-monarchistischem Pflichtethos geprägt, hatte er jedoch als Schüler keine Kadettenanstalt, sondern ein humanistisches Gymnasium besucht – eher eine Ausnahme unter den hohen Offizieren und Generalen seiner Generation.301 Seeckt blieb kinderlos und damit der letzte seines Geschlechts, führte jedoch eine innige Beziehung zu seiner Frau Dorothee. Er galt als gebildet, kühl-humorvoll sowie charisma298
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§ 2 der Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Artikel 48 Abs. 2 der Reichsverfassung, betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Reichsgebiete mit Ausnahme von Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden und der von ihnen umschlossenen Gebiete nötigen Maßnahmen, vom 13.1.1920, RGBl. 1920 S. 207 f. Hürten, Reichswehr, S. 31 f. Zu »Ära Seeckt« siehe schon Gordon, Reichswehr, S. 221–255; ebenso Carsten, Reichswehr, S. 113–271. Meier-Welcker, Seeckt, S. 17.
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tisch. Und doch wirkte er mit seinem Monokel, seinem weißen Schnauzer und seiner sphinxhaften Aura in der Moderne der Weimarer Republik ein bisschen wie ein aus der Zeit gefallenes Fossil. »Seine ganze Struktur des Denkens und Sprechens – seine erbarmungslose Klugheit, sein scharfer, schneidender Wille, die Art, wie er seine Sätze formte, ausgejätet von jeder konventionellen Wendung, frei von jeder gangbaren Münze des Vergleichs, mit einem leichten Einschlag von Fremdworten, die seiner Fontanesprache den Beiklang des Ungewöhnlichen gaben, schieden ihn von den Menschen ab. Es sollte sein Schicksal sein, daß er immer seine eigene Welt in sich herumtrug und immer fremd wirkte, wo er hingestellt war. Er brachte seine Welt unangetastet in das Deutschland der Nachrevolution hinein.« – so die spätere Charakterisierung des Zeitgenossen, Adjutanten und Seeckt-Bewunderers Friedrich v. Rabenau.302 Reichspräsident v. Hindenburg hingegen, der zu Seeckt seit Kriegstagen in einem schwierigen Verhältnis stand, fand ganz andere Worte: »Der Mann verdirbt mir mit seiner Eitelkeit noch das ganze Offizierkorps.« Und für Reichswehrminister Geßler war sein Auftreten »über die gewöhnliche preußische Steifheit hinaus geziert, mitunter sogar komisch«; manchmal habe er »etwas von einer Primadonna« gehabt.303 Als die »heutige, verworrene Zeit« sah Seeckt die freizügigen »Roaring Twenties«, ihren Liberalismus und Individualismus,304 denen er »Hingabe an das Ganze, die immer die Sache über die Person« stellt, entgegensetzte.305 Konzeptionell hingegen war er einigermaßen innovativ und brachte das deutsche Heer nach vorne: So setzte er zum einen die Idee einer Kaderarmee (auch Führerheer genannt) durch, die durch eine überdurchschnittliche Ausbildungshöhe der Offiziere und Unteroffiziere die schnelle personelle Multiplikation der Streitkräfte im Bedarfsfall gewährleisten sollte. Zum anderen verfocht er aus den Erfahrungen des Stellungskrieges heraus ein neues operatives wie taktisches Gleichgewicht der Gefechtselemente Feuer und Bewegung und wurde so zu einem Wegbereiter des Blitzkrieges.306 Mit der parlamentarischen Demokratie fremdelte er Zeit seines Lebens. Gleichwohl schwebte ihm keine Restauration der Monarchie vor – die Monarchisten der 1920er Jahre hatten vor allem das Problem, keinen potentiellen Monarchen präsentieren zu können. Das fing schon damit an, dass Wilhelm II. mit seinem kampflosen Abgang gerade auch in aristokratischen Kreisen sein Gesicht verloren hatte.307 Die Republik sah Seeckt daher als ein bloßes »Zwischenstadium auf dem Wege zu etwas Besserem« an, vermutlich einer Form von nationaler Militärdiktatur.308 Unter Reichswehr302 303 304 305 306 307 308
Rabenau, Seeckt, S. 375. Zu den ausgeprägten Lesegewohnheiten Seeckts siehe ebenda S. 622. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 287 und 300. Erlass des Chefs der Heeresleitung über Erziehung der Offiziere und des Offiziernachwuchses vom 30.8.1924, abgedruckt bei Messerschmidt/Gersdorff, Offiziere, S. 239–241 (239). Erlass des Chefs des Generalstabes an die Generalstabsoffiziere vom 7.7.1919, abgedruckt bei Messerschmidt/Gersdorff, Offiziere, S. 217 f. (218). Corum, Roots, S. 39–43; Meier-Welcker, Seeckt, S. 529 f.; dagegen differenziert und kritisch hinsichtlich des operativen Denkens v. Seeckts neuerdings Groß, Mythos, S. 195; ebenso Strohn, Army, S. 89–106. Hiller v. Gaertringen, Monarchismus, S. 256–258; ders., Beurteilung, S. 144 f.; Malinowski, König, S. 247– 249. Wohlfeil, Heer, S. 135 f. Jedenfalls war Seeckt kein Nationalsozialist, wie Rabenau, Seeckt, S. 621 nachträglich glauben machen wollte.
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minister Geßler (1920–1928) erreichte er in seiner neuen Funktion als Chef der Heeresleitung309 – ein Amt, das ihm Noske zuvor immer verwehrt hatte310 – bis Herbst 1920 sukzessive die Beschneidung der ministeriellen Kompetenzen zu seinen eigenen Gunsten.311 Durch diese Restauration »vom parlamentarischen Ministerium zum unverantwortlichen Kommandostab«312 trug er wesentlich zur Entwicklung der Reichswehr zu einem »Staat im Staate« und der Aushöhlung des Primats der Zivilpolitik bei.313 Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die geheime Rüstungskooperation mit der noch jungen Sowjetunion, die Seeckt ab Anfang 1921314 – ohne vorherige Unterrichtung seines Ministers315 – zur Umgehung der Versailler Rüstungsbeschränkungen einleitete. Als Anschauungsmaterial für das höchst politische Treiben Seeckts, sein Umgehen des ihm vorgesetzten Ministers sowie sein Verhältnis zur demokratisch-legitimierten Regierung überhaupt kann auch sein Erlass vom 31. August 1922 dienen: »Die lügnerische Rede Poincaré’s in Bar-le-Duc316 veranlaßte mich, den Reichskanzler zu einer öffentlichen Entgegnung aufzufordern. Diese ist durch amtliche Kundgebung am 25.8. erfolgt. Da sie aber die Tagespresse nur in Auszügen bringt, lege ich Wert darauf, die Gedankengänge meines Schreibens zur Kenntnis des Heeres zu bringen. Es ist den Offizieren bekannt zu geben. Eine Veröffentlichung in der Presse ist verboten. [Es folgt das Schreiben Seeckts an Reichskanzler Wirth]«317
Damit ist auch die Frage nach der Beziehung Seeckts zur Person des neuen Reichswehrministers angeschnitten. Schon die Suche nach einem Nachfolger für den über den Kapp-Lüttwitz-Putsch zurückgetretenen Noske gestaltete sich im März 1920 wesentlich schwieriger als beim Chef der Heeresleitung. Vor allem in der MSPD zierte man sich: Zu heikel schien der Posten des Reichswehrministers nach dem Kapp-Debakel, zu stark hatte Noske das Amt von der Arbeiterbasis entfremdet. Zunächst betraute die Reichsregierung daher Seeckt, der bereits sein neues Amt als Chef der Heeresleitung angetreten hatte, mit der Führung der Amtsgeschäfte.318 In fast schon logischer Konsequenz zu seinem affektiven Schulterschluss mit der OHL im November 1919 fügte sich, dass Reichspräsident Ebert in der neuerlichen Krise der Kapp309
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Er vertrat den Reichswehrminister in Kommandofragen betreffend das Heer und unterstand ihm unmittelbar, siehe »Denkschrift zum Haushaltsplan für 1919 über die Einrichtung des Reichswehrministeriums« vom 19.9.1919, abgedruckt bei Schmädeke, Kommandogewalt, S. 196–199. Die OHL war am 3.7.1919 aufgelöst worden, siehe Erlass des Reichswehrministers vom 17.7.1919, AVBl. 1919 S. 640. Wette, Noske, S. 543. Auch ansonsten versuchte der »unpolitische Soldat« v. Seeckt in die Innen- und Außenpolitik einzugreifen, siehe nur Wohlfeil, Heer, S. 258 f. Schmädeke, Kommandogewalt, S. 94–101. Wette, Noske, S. 543, 685 f. Zeidler, Reichswehr, S. 51. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 292; Schönrade, Stülpnagel, S. 72; Wohlfeil, Heer, S. 283. In einer Rede vom 24.4.1922 in Bar-le-Duc deutete der französische Ministerpräsident Poincaré eine Militärintervention zur Durchsetzung der Reparationsleistungen an; dabei soll er auch das deutsche Heer beleidigt haben. Siehe auch Akten der Reichskanzlei, Kabinette Wirth I/II, Band 2, Nr. 256, S. 739 f. Reichswehrministerium – Chef der Heeresleitung, Nr. 292/22 pers.T.1 I B. vom 31.8.1922, BArch RH 12-2/22, fol. 405–408. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Bauer, Nr. 209, S. 740, Fn. 8.
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Tage zunächst wohl die Bestellung des bisherigen Chefs der Heeresleitung, Generalmajor Reinhardt, zum Reichswehrminister erwog, der sein Schicksal jedoch untrennbar mit Noske verknüpft wissen wollte und somit ausschied.319 Schließlich ernannte Ebert am 24. März 1920 den bisherigen Wiederaufbauminister Otto Geßler (DDP) – entgegen anfänglichen Bedenken, er sei »zu weich« – zum Nachfolger Noskes und gab dieses Ressort damit für den Rest der Weimarer Zeit aus sozialdemokratischer Hand. Geßler war am 6. Februar 1875 im württembergischen Ludwigsburg als Sohn eines katholischen Unteroffiziers geboren worden. Als kleinbürgerlicher Aufsteiger hatte er sein Jurastudium in Erlangen, Tübingen und Leipzig 1900 mit der Promotion gekrönt. Zunächst war er als Staatsanwalt und Gewerberichter in den bayerischen Justizdienst eingetreten, bevor er 1910 Erster Bürgermeister von Regensburg und 1914 Oberbürgermeister von Nürnberg wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er wegen eines Gehfehlers nicht teilnahm, begründete er unter anderem mit Friedrich Naumann die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP). Sich selbst charakterisierte er Ebert gegenüber offen als – im besten Falle – »Vernunftrepublikaner«. Seine politische Leidenschaft galt ganz klar der konstitutionellen Monarchie.320 Er wurde der letzte Zivilist auf dem Posten des Reichswehrministers vor der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten.321 Der politische Untergang Noskes markierte damit zugleich auch das Ende einer vorsichtigen Annäherung zwischen Militär und Mehrheitssozialdemokratie, die sich in den Jahren 1918 bis 1920 vollzogen hatte. Mit der ersten Reichstagswahl vom 6. Juni 1920, dem folgenden Ausscheiden aus der Regierungskoalition und der zunehmenden Annäherung an die Unabhängigen verlor die MSPD den nötigen Einfluss, ihre gewiss noch mäßigen Reformbestrebungen umzusetzen. Dies kam am stärksten zum Ausdruck am 18. März 1921 in der parlamentarischen Schlussabstimmung über das Wehrgesetz, das den Höhepunkt und vorläufigen Abschluss des gesetzgeberischen Aufbaus der Reichswehr markierte. Das Wehrgesetz vom 23. März 1921 war in vier Abschnitte unterteilt: I. »Gliederung und Befehlsverhältnisse« (§§ 1–11), II. »Landsmannschaft« (§§ 12–17), III. »Pflichten und Rechte der Angehörigen der Wehrmacht« (§§ 18–40) und IV. »Übergangs- und Schlußbestimmungen« (§§ 41–48). Es trat rückwirkend zum 1. Januar in Kraft (§ 48) und spiegelte einerseits die äußeren Bedingungen des Versailler Vertrages, andererseits die politischen Mehrheiten im Reich sowie die Ergebnisse von zwei Jahren parlamentarischen Ringens in Nationalversammlung und Reichstag um die kommende Wehrverfassung wider.322 Mit ersten Skizzen für das kommende Wehrgesetz beschäftigte sich zunächst der »Reichswehrausschuss« unter dem Vorsitz von Oberst Richard v. Pawelsz. Er tagte beim noch bestehenden preußischen Kriegsministerium, das sich zwar wie seine Pendants in Bayern, Sachsen und Württemberg auch mit der Abwicklung des alten preußischen Heeres beschäftigte, aber zusätzlich mit dem 319 320 321 322
Ernst, Nachlaß, S. 67; Akten der Reichskanzlei, Kabinett Bauer, Nr. 213, S. 757; Mühlhausen, Ebert, S. 355. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 70, 130 und 336; Möllers, Geßler, S. 373; Wette, Noske, S. 672 und 675; Mühlhausen, Ebert, S. 355. Groener war Generalleutnant a.D., sowohl Schleicher als auch Blomberg wurden unmittelbar vor ihrer Ernennung unter Verleihung des Charakters eines Generals d. Inf. verabschiedet. Gordon, Reichswehr, S. 164.
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Neuaufbau der Reichswehr beauftragt war und insoweit eine letzte Sonderstellung im Reich einnahm.323 Viele Grundsatzentscheidungen waren bereits in den Gesetzen, Verordnungen und Erlassen zur Errichtung der vorläufigen Reichswehr gefallen. So verkündete Reichspräsident Ebert schon in seinem Tagesbefehl vom 29. Dezember 1920 – also knapp drei Monate vor der Verkündung des Wehrgesetzes: »Mit dem Eintritt ins neue Jahr wird auch die Wehr des deutschen Volkes endgültig gebildet sein.«324 Und auch der Chef der Heeresleitung, Seeckt, begann seine Verfügung über die Grundlagen der Erziehung des Heeres vom 1. Januar 1921 mit den Worten: »Das Reichsheer ist fertig gebildet.«325 Beide brachten zutreffend zum Ausdruck, dass die Reichsregierung bereits auf vielen Gebieten irreversible Zustände geschaffen hatte, die in ihrer normativen Kraft kaum noch durch den Wehrgesetzgeber angetastet werden konnten. Ihre parlamentarisch-gesetzliche Legitimation hinkte den neuen Streitkräften also gewissermaßen hinterher.326 Kurz: Das Wehrgesetz folgte der bereits fertig errichteten Reichswehr, und nicht etwa umgekehrt die Errichtung der Reichswehr dem Willen des Gesetzgebers. Von allen Spitzenmilitärs hatte besonders Seeckt bereits maßgeblichen Einfluss auf die Vorarbeiten zum späteren Wehrgesetz nehmen können: Die Reichsregierung hatte ihn schon am 5. Juli 1919 zum Vorsitzenden der »Vorkommission für die Organisation des Friedensheeres« bestellt, die den Reichswehrausschuss beim preußischen Kriegsministerium ablöste. Sie hatte ausschließlich aus Offizieren des alten Heeres bestanden und bereits Anfang August 1919 Vorschläge insbesondere über die Einschränkungen der politischen Grundfreiheiten für die Soldaten der künftigen Reichswehr gemacht.327 Der ursprüngliche Erstentwurf des Wehrgesetzes war noch in der Amtszeit Noskes und unter maßgeblichem Einfluss des damaligen Chefs der Heeresleitung, Generalmajor Reinhardt, um die Jahreswende 1919/1920 erarbeitet worden.328 Bei diesem anfänglichen Entstehungsprozess holte das Reichswehrministerium bei der Truppe umfangreiche Stellungnahmen ein.329 Die Verabschiedung des Gesetzes verzögerte sich zunächst wegen Streitigkeiten insbesondere mit Bayern über die darin vorgesehenen landsmannschaftlichen Bestimmungen.330 Als nach dem Kapp-Lüttwitz323 324 325 326 327
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Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 584. HVBl. 1920 S. 1033. HVBl. 1920 S. 1041; abgedruckt bei Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 380–382. Von einem »hinkenden Parlamentarismus« der Weimarer Republik spricht Gusy, Reichsverfassung, S. 379. Schreiben der Vorkommission für die Organisation des Friedensheeres an die Armee-Abteilung des preußischen Kriegsministeriums über die künftige Rechtsstellung des Soldaten vom 8.8.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 189 f. So verschickte beispielsweise das Reichswehr-Gruppenkommando 4 mit Schreiben vom 14.11.1919, I Org. Nr. 8110., einen Entwurf an die Referenten des Gruppenkommandos, die unterstellten Brigaden sowie die Landeswerbezentrale, Schreiben und Entwurf bei BayHstA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 103. Ein weiterer Entwurf vom 28.2.1920 findet sich bei den Drucksachen zu den Verhandlungen des Reichsrats, Jahrgang 1920, Nr. 53. Der Schriftverkehr etwa des Reichswehr-Gruppenkommandos 4 hierzu findet sich bei BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 103 und № 327. Siehe in diesem Zusammenhang die »Weimarer Vereinbarung« zwischen Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden vom 10.6.1919, wiedergegeben bei Akten der Reichskanzlei, Kabinett Scheidemann, Nr. 106, S. 439–443, verkürzt bei Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 27–29.
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Putsch die erste Reichstagswahl unter der neuen Reichsverfassung (die eigentlich erst für den Herbst 1920 geplant war) auf Drängen der Rechten vorgezogen wurde, musste das Vorhaben erstmal auf Eis gelegt werden.331 Hilfsweise verlängerte die Nationalversammlung noch die provisorischen Gesetze über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr und vorläufigen Reichsmarine am 31. März 1920 (vor dem Tag ihres Außerkrafttretens) auf unbestimmte Zeit bis zur Ablösung durch das Wehrgesetz.332 In der Reichstagswahl vom 6. Juni 1920 erlitten MSPD und DDP dann eine herbe Niederlage, und die »Weimarer Koalition« verlor für die restliche Dauer der Republik ihre absolute Mehrheit. Die vor allem durch Noske desillusionierte Arbeiterbewegung verpasste den Mehrheitssozialdemokraten beim Urnengang die Quittung für ihren vorübergehenden Schulterschluss mit der Reaktion. Geßler blieb in der nun von DVP, DDP und Zentrum getragenen und von Teilen der MSPD tolerierten Minderheitsregierung Reichswehrminister. Zunächst um im Reichsrat einen Kompromiss zwischen Reich und Ländern über die landsmannschaftlichen Regelungen zu erreichen, brachte die neue bürgerliche Reichsregierung unter Constantin Fehrenbach (Zentrum) einen überarbeiteten Entwurf in den Reichsrat ein.333 Die Behandlung verzögerte sich abermals wegen fortbestehender Differenzen mit den Ländern. Die Zeit drängte jedoch, da Art. 211 des Versailler Vertrages eigentlich eine gesetzliche Umsetzung der Abrüstungsbestimmungen innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten (10. Januar 1920) verlangte. In der Folge musste das Reich mit den Entente-Mächten nachverhandeln. Um das auf der Konferenz von Spa (5.–16. Juli 1920) mit der Entente vereinbarte Abrüstungsprotokoll fristgemäß bis zum 1. September umsetzen zu können, entschied man sich zunächst für ein Rumpfgesetz,334 das der Reichstag am 21. August 1920 als »Gesetz über die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und die Regelung der Dauer der Dienstverpflichtung« verabschiedete.335 Zur weiteren Überarbeitung des Wehrgesetz auf der Grundlage der Vereinbarungen von Spa sowie der Bedürfnisse der Länder berief Reichswehrminister Geßler Anfang November 1920 eine Kommission, in der ausschließlich höhere Offiziere und Reichswehrbeamte konservativer Prägung vertreten war,336 was vor allem 331
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Reichswehrminister Otto Geßler: »Ich beklage es, daß das Wehrgesetz, das vom Kabinett einstimmig verabschiedet war, wegen der Abkürzung der Session Ihnen nicht mehr unterstellt werden konnte«, Plenarsitzung vom 22.4.1920, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5349; siehe auch Akten der Reichskanzlei, Kabinett Fehrenbach, Nr. 102, S. 263, Fn. 7. Gesetz vom 31.3.1920 über die Verlängerung des Gesetzes über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 6.3.1919 und des Gesetzes über die Bildung einer vorläufigen Reichsmarine, RGBl. 1920 S. 850. Drucksachen zu den Verhandlungen des Reichsrats, Jahrgang 1920, Nr. 211 vom 3.7.1920. Zum Kabinettsbeschluss siehe Akten der Reichskanzlei, Kabinett Fehrenbach, Nr. 11, S. 30. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Fehrenbach, Nr. 34, S. 85. RGBl. 1920 S. 1608 f. Siehe den Kabinettsbeschluss zur Kommissionsbestellung vom 2.11.1920 bei Akten der Reichskanzlei, Kabinett Fehrenbach, Nr. 102, S. 264. Der Kommission gehörten an: Die Obersten Friedrich Freiherr Kreß v. Kressenstein (Chef des Wehramtes), Otto Hasse (Chef der Heeresabteilung, T 1) und Ludwig Wurtzbacher (Chef des Heereswaffenamtes), die Oberstleutnante Krall, Rudolf Schniewindt (Abteilungsleiter im Reichswehrministerium) und Karl Ritter v. Prager (Chef des Stabes der 7. (Bayerischen) Division, München), die Majore Friedrich Wilhelm v. Oertzen, Kurt v. Schleicher (Leiter des politischen Referats im Truppenamt des Reichswehrministeriums), v. Rodenberg und Wolfgang Mentzel (Chef des Generalstabes
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von der sozialdemokratischen Opposition moniert wurde.337 Den so bearbeiteten Entwurf brachte die Reichsregierung am 10. November 1920 in den Reichsrat ein.338 Die vorgenommenen Änderungen konzentrierten sich schließlich nicht nur auf den Abschnitt II (»Landsmannschaft«),339 der ohnehin primär symbolischen Charakter haben und aus Sicht der Reichsregierung keinesfalls der Zentralisierung und damit verbundenen Effektivität der Armee entgegenstehen sollte.340 Die Regelungen dieses Abschnitts gingen auf die »Weimarer Vereinbarung« zurück, die Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden nach Verhandlungen von Februar bis Mai 1919 mit der Reichsregierung getroffen hatten.341 Baden war – obwohl kein früherer Kontingentstaat – zu den Verhandlungen in erster Linie deshalb hinzugezogen worden, weil es durch den Kriegsausgang in eine heikle Grenzlage geraten war, zugleich aber auch, um eine gewisse Parität zwischen den süddeutschen Teilstaaten herzustellen.342 Die Weimarer Vereinbarung hatte sich zuvor bereits in Art. 79 S. 2 WRV niedergeschlagen, wonach die »Wehrverfassung des deutschen Volkes […] unter Berücksichtigung der besonderen landsmannschaftlichen Eigenarten durch ein Reichsgesetz einheitlich« zu regeln war. Die landsmannschaftlichen Bestimmungen des Wehrgesetzes sollten nun sicherstellen, dass neben der dominierenden preußischen auch die Traditionen der kleineren alten Kontingentheere Berücksichtigung fanden. Im Vordergrund standen hier also vor allem militärkulturelle Erwägungen. Der DDP-Abgeordnete Ludwig Haas bemerkte etwa in diesem Zusammenhang, dass nach seiner persönlichen Erfahrung im badischen Kontingent des Kaiserheeres »die Truppe badische Grobheiten von einem badischen Offizier schmunzelnd hingenommen hat. Ein hartes Wort aus norddeutschem Munde, das gar kein Schimpfwort war, hat den Mann erregt und gekränkt. Der Dialekt bedeutet unendlich viel.«343 Dementsprechend waren nach § 14 Abs. 1 S. 1 WG in den Ländern »geschlossene Verbände, oder, wo dies nicht möglich ist, kleinere Truppeneinheiten des Reichsheers zu bilden, bei denen in der Regel Führer und Beamte dem Lande entstammen, die Mannschaften, soweit es der Zustrom von Freiwilligen ermöglicht.« Dabei war im Verbandsnamen »neben der Be-
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beim Heereswaffenamt), die Hauptleute Konrad v. Marées (Reichswehrministerium) und Erich Marcks (T 5, Wehrabteilung im Reichswehrministerium), Geheimer Kriegsrat und Ministerialrat Paul Semler (Justitiar im Reichswehrministerium), Geheimer Kriegsrat Ernst Piesczek, Kapitän z. S. Adolf Pfeiffer (Chef der Marinewehrabteilung im Marinekommandoamt, A I), Korvettenkapitän Heinrich Kehrhahn (Marinekommandoamt), der Wirkliche Admiralitätsrat und Ministerialrat Frerich Frerichs (Werftabteilung im Allgemeinen Marineamt, BB), der Geheime Admiralitätsrat und Ministerialrat Theodor Schreiber (Chef der Abteilung für Werftverwaltungsangelegenheiten im Allgemeinen Marineamt, BBV) und der Geheime Admiralitätsrat Schröder; Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2335. Siehe Äußerung des Abgeordneten Georg Schöpflin (MSPD), Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2335. Entwurf eines Wehrgesetzes nebst Begründung vom 10.11.1920, Drucksachen zu den Verhandlungen des Reichsrats, Jahrgang 1920, Nr. 293. Kabinettsbeschluss bezüglich der Änderungen am Wehrgesetzentwurf vom 5.11.1920, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Fehrenbach, Nr. 104, S. 267. Gordon, Reichswehr, S. 165. Die Weimarer Vereinbarung ist wiedergegeben bei Akten der Reichskanzlei, Kabinett Scheidemann, Nr. 106, S. 439–443, verkürzt bei Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 27–29. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 595, Fn. 18. Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3205.
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zeichnung als Reichstruppe gleichzeitig die landsmannschaftliche Zugehörigkeit« zum Ausdruck zu bringen (§ 14 Abs. 3 S. 1 WG). Die Regierung des Freistaates hatte bei den Verhandlungen im Reichsrat sogar erreichen können, dass einzig die bayerische Reichswehr hierbei zwingend »einen in sich geschlossenen Verband des Reichsheers unter einheitlicher Führung« bildete (§ 14 Abs. 1 S. 2 WG). Im Ergebnis konnte die Bildung landsmannschaftlich geschlossener Verbände in Anbetracht der Heeresverminderung tatsächlich nur in Bayern in Gestalt der 7. (Bayerischen) Division realisiert werden, die sämtliche der in Bayern mit Ausnahme der Rheinpfalz stationierten Truppen umfasste. In den Ländern waren »auf ihr Verlangen Landeskommandanten« zu bestellen (§ 12 Abs. 1 S. 1 WG), wobei auch hier durch Abs. 2 S. 1 von vornherein klargestellt wurde: »Der Landeskommandant in Bayern ist zugleich Befehlshaber des bayerischen Verbandes.« Die Landeskommandanten hatten »innerhalb ihres Dienstbereichs die Landesinteressen und insbesondere die landsmannschaftliche Eigenart und die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Länder zu berücksichtigen« (Abs. 1 S. 3) und wurden »durch den Reichspräsidenten auf Vorschlag der Landesregierungen ernannt« (Abs. 1 S. 4). Zwar wurden die Befehlsverhältnisse hierdurch nicht berührt (Abs. 1 S. 2), jedoch war mit der geschlossenen 7. (Bayerischen) Division und ihrem Kommandeur und gleichzeitigem Landeskommandanten in Anbetracht von Art. 48 Abs. 2 WRV ein gewisses Droh- und Konfliktpotential gegeben, da dieser der bayerischen Staatsregierung »bei Gefahr im Verzuge« auch erlaubte, nach Art. 48 Abs. 2 WRV »erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht« einzuschreiten. Insofern ist der stark unitarische Ansatz der WRV durch das Wehrgesetz jedenfalls in Bezug auf Bayern wenn nicht ausgehöhlt, dann doch zumindest gefährdet worden. Sehr engagiert in den parlamentarischen Debatten um das Wehrgesetz zeigte sich der MSPD-Abgeordnete Georg Schöpflin. Mit seinen Forderungen nach Zulassung von Soldatengewerkschaften (ohne Streikrecht) sowie der völligen Preisgabe der landsmannschaftlichen Bestimmungen auf Kosten der bayerischen Partikularwünsche konnte er sich zwar nicht durchsetzen. Jedoch konnte die MSPD in den Ausschussberatungen entgegen dem Widerstand der rechten Parteien gleich zu Beginn in § 1 den Passus verankern, »Die Wehrmacht der Deutschen Republik ist die Reichswehr«.344 Die Mehrheitssozialdemokraten suchten zu dieser Zeit der gemeinsamen Opposition zum Kabinett Fehrenbach bereits die Annäherung an die USPD, die in der Wiedervereinigung beider Parteien im Herbst 1922 ihren Abschluss fand. Neben den bestehenden sachpolitischen Differenzen mit der Regierungskoalition war dies ein parteipolitischer Grund dafür, dass das Wehrgesetz schließlich am 18. März 1921 mit den Stimmen der Rechtsparteien, des Zentrums und der DDP gegen MSPD, USPD und KPD verabschiedet wurde. Es trat nach seinem § 48 rückwirkend zum 1. Januar 1921 in Kraft. Auch wenn man wie Rüdiger Bergien davon ausgeht, dass es über diesen Zeitpunkt hinaus einen parteiübergreifenden »Wehrkonsens« gegeben hat,345 so war dennoch von nun an klar, dass die »ständige Verwirklichung des Weimarer Wehrverfassungsprogramms […] auf elementare Weise von den Parteien 344 345
Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2335–2339; Band 348, S. 3193 f. Bergien, Republik, S. 16–19.
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der bürgerlichen Rechten abhängig geworden« war.346 Mit dem eiligst beschlossenen Gesetz zur Änderung des Wehrgesetzes vom 18. Juni 1921 nahm der Gesetzgeber noch einige klarstellende Änderungen vor, die von der Entente im Rahmen des Londoner Ultimatums gefordert worden waren und die personellen Rüstungsgrenzen betrafen. Zudem wurde ein § 41a eingefügt, der die Entlassung auch jenseits der ansonsten geltenden Vorschriften zuließ, um die vorzeitige Heeresminderung zu erreichen.347 Im Übrigen blieb das Wehrgesetz für die Zeit der Republik aber unverändert. In die »Ära Seeckt« fällt auch das Krisenjahr 1923, das zunächst geprägt wurde durch die Ruhrkrise, also die Besetzung des Ruhrgebietes durch belgisch-französische Streitkräfte zur Durchsetzung der sich aus dem Versailler Vertrag ergebenden Reparationsverpflichtungen des Reiches. Die Reichsregierung beantwortete diese Provokation mit einer – vergeblichen – Politik des »passiven Widerstandes«348 und beauftragte Seeckt mit verzweifelten materiellen, personellen und operativen Vorbereitungen für den Fall, dass »französische Truppen die Grenze des besetzten Raumes überschreiten und weiter nach Osten vorrücken sollten«.349 Insbesondere begann die Reichswehr verstärkt Zeitfreiwillige aus den ehemaligen Freikorps und illegalen Wehrverbänden der Schwarzen Reichswehr einzuberufen – ein klarer Verstoß gegen Art. 174 des Versailler Friedensvertrages, der eine Mindestverpflichtungszeit von zwölf Jahren vorschrieb. Auch konterkarierte die Reichswehrführung so den Sinn und Zweck des Gesetzes zur Durchführung der Artikel 177, 178 des Friedensvertrags vom 22. März 1921, wonach gegen den Friedensvertrag verstoßende Wehrverbände aufzulösen waren.350 Die Fortzahlung der Löhne für die Arbeiter in den stillgelegten Betrieben konnte die Reichsregierung nur durch eine inflationäre Geldpolitik bewerkstelligen, so dass das Reich auch wirtschaftlich unter Druck geriet.351 Ihren Höhepunkt erreichte die Ruhrkrise im März und April mit dem Übergang zum aktiven Widerstand, insbesondere in Form von Sabotageakten durch Kommandotrupps unter der Führung ehemaliger Freikorpsangehöriger, die von der Reichswehr koordiniert wurden.352 Zur Abschreckung verurteilte ein französisches Kriegsgericht einen der Beteiligten, den Nationalsozialisten Albert Leo Schlageter, zum Tode. Er wurde am 26. Mai erschossen und schnell zu einem frühen Märtyrer der völkischen Bewegung.353 Die ab August amtierende Regierung Stresemann sah sich am 26. September gezwungen, den Abbruch des passiven Widerstandes zu verkünden.354 Eine wesentliche Entspannung trat erst im November mit der Währungsreform, dem »Wunder der Rentenmark« ein.355 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355
Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 604. Gesetz zur Änderung des Wehrgesetzes vom 18.6.1921, RGBl. 1921 S. 787; siehe die Beratung und Annahme bei Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 349, S. 3867 f. Winkler, Weg, S. 435. Wohlfeil, Heer, S. 260 f. RGBl. 1921 S. 235 f.; siehe auch Huber, Verfassungsgeschichte, Band 7, S. 175–178. Winkler, Weg, S. 435. Meinl, Nationalsozialisten, S. 66–68. Winkler, Weg, S. 436; Schulze, Weimar, S. 252. Schulze, Weimar, S. 259 f. Winkler, Weg, S. 445–449.
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Das Krisenjahr 1923 war weiterhin gekennzeichnet von linksextremistischen Bestrebungen in den Ländern Sachsen,356 Thüringen und Hamburg357 sowie einer von der rechtskonservativen bayerischen Landesregierung im Herbst 1923 provozierten separatistischen Verfassungskrise.358 Diese parallelen Entwicklungen führten zur Ausrufung des reichsweiten Ausnahmezustandes unter Außerkraftsetzung wesentlicher Grundrechte.359 Bereits am 1. Oktober schlug die Reichswehr einen dilettantischen Putschversuch schwarzer Reichswehrverbände in Spandau und Küstrin unter Führung des bereits zuvor am Kapp-Lüttwitz-Unternehmen beteiligten Majors a.D. Bruno Ernst Buchrucker nieder, den er mit dem in Bayern agierenden Hitler zur Entfesselung einer Volksbewegung koordiniert hatte.360 Die Gefahr rechter Umsturzversuche stand der Reichsregierung damit deutlich vor Augen.361Zugleich wurde in Thüringen eine Reichsaufsicht nach Art. 15 WRV,362 in Sachsen eine Reichsexekution nach Art. 48 WRV erforderlich.363 Der Konflikt mit dem separatistischen Bayern führte ab dem 26. September zur Verhängung des reichsweiten Ausnahmezustandes. Dabei berief der Reichspräsident zunächst Geßler,364 mit dem Hitler-LudendorffPutsch vom 8./9. November schließlich Seeckt zum Inhaber der vollziehenden Gewalt und Oberbefehlshaber der Wehrmacht.365 Der bayerischen Krise war Ende 1922 die Ablösung des bayerischen Landeskommandanten, Generalleutnant Arnold Ritter v. Möhls vorangegangen, den das Reichswehrministerium zu Recht des bayerischen Separatismus‹ bezichtigte. Zum Nachfolger ernannte Reichspräsident Ebert den ebenso separatistisch gestimmten, aber Seeckt-vertrauten Generalleutnant Otto v. Lossow, jedoch ohne den nach § 14 Abs. 1 S. 4 WG erforderlichen Vorschlag der bayerischen Staatsregierung. Erst nachdem Geßler sich beim bayerischen Ministerpräsidenten entschuldigt hatte, teilte der bayerische Ministerrat mit, die Ernennung könne »als einem Vorschlage der Bayer. Regierung entsprechend angesehen werden«.366 Der Konflikt Bayern – Reich gewann erheblich an Schärfe, als Lossow sich im September 1923 in Abstimmung mit der Staatsregierung weigerte, aus Berlin kommende Befehle zum Verbot des Völkischen Beobachters umzusetzen. Zuvor hat356 357 358 359
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Winkler, Weg, S. 442–444; Wohlfeil, Heer, S. 264–266. Wohlfeil, Heer, S. 266 f. Wohlfeil, Heer, S. 267–279. Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Art. 48, Abs. 2 der Reichsverfassung, betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für das Reichsgebiet nötigen Maßnahmen, vom 28.9.1923, RGBl. 1923 I S. 905 f., abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 322 f. Zu Buchrucker in der Schwarzen Reichswehr siehe Bergien, Republik, S. 129 f. m. w. N. Meinl, Nationalsozialisten, S. 73–76. Huber, Dokumente, Band 4, S. 336. Für Sachsen: Huber, Dokumente, Band 4, S. 330 f. Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Artikel 48, Abs. 2 der Reichsverfassung, betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für das Reichsgebiet nötigen Maßnahmen, vom 26.9.1923, RGBl. 1923 I S. 905 f., abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 322 f. Verordnung, betreffend den Oberbefehl über die Wehrmacht und die Ausübung der vollziehenden Gewalt vom 8.11.1923, RGBl. 1923 I S. 1084; siehe auch den Erlass des Chefs der Heeresleitung General d. Inf. v. Seeckt an die Reichswehr vom 9.11.1923, HVBl. 1923 S. 597, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 368 f. Carsten, Reichswehr, S. 180 f.
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te die bayerische Staatsregierung am 26. September in einer Notverordnung,367 gestützt auf Art. 48 Abs. 4 WRV und § 64 der bayerischen Verfassung,368 den Ausnahmezustand für Bayern erklärt und Gustav Ritter v. Kahr zum Generalstaatskommissar mit diktatorischen Vollmachten berufen – einerseits, um Hitler den Wind aus den Segeln zu nehmen, andererseits aus Protest gegen den von Reichskanzler Stresemann angeordneten Abbruch des passiven Widerstands gegen die Ruhrbesetzung. Auch hatte die Notverordnung der bayerischen Staatsregierung nach § 17 Abs. 1 WG die bayerischen Reichswehrtruppenteile unter dem Kommando des bereitwilligen Lossow requiriert. Die Reichsregierung hatte ihn daraufhin seiner Funktionen als Kommandeur der 7. (Bayerischen) Division, territorialer Befehlshaber im Wehrkreis VII und Landeskommandant von Bayern enthoben, der Reichspräsident umgehend nach Art. 48 Abs. 2 WRV den reichsweiten Ausnahmezustand verhängt, was in Bayern zu einem staatsrechtlich unübersichtlichen Nebeneinander von Landes- und Reichsausnahmezustand führte.369 Die bayerische Staatsregierung setzte Lossow jedoch wieder ein und ließ die bayerischen Reichswehrtruppen im Oktober auf sich und den Freistaat vereidigen – ein offener Bruch mit der Reichsverfassung.370 In diesem Zusammenhang muss auch der Hitler-Ludendorff-Putsch im November 1923 gesehen werden, der vor allem daran scheiterte, dass sich die 7. (Bayerische) Division diesmal mehrheitlich auf die Seite des Reichs und gegen die Nationalsozialisten stellte.371 Teile des 19. (Bayerischen) Infanterie-Regiments372 befreiten das Wehrkreiskommando VII, das die Putschisten (unter ihnen der damalige Reichswehr-Hauptmann Ernst Röhm) besetzt hatten. Röhm wurde nach einem ehrenrätlichen Verfahren aus der Reichswehr ausgestoßen.373 Der Offizierlehrgang der Infanterieschule München, der sich in den Putschtagen als unzuverlässig erwiesen hatte, wurde kurzerhand auf den Truppenübungsplatz Ohrdruf verlegt, der Kommandeur und führende Offiziere der Schule mussten ihren Abschied nehmen, andere wurden disziplinarisch belangt. Der spätere Generaloberst Eduard Dietl, der sich als Kompaniechef im 19. (Bayerischen) Infanterie-Regiment Hitler zur Verfügung gestellt hatte, jedoch nicht zum Einsatz gekommen war, entkam nur knapp der Entlassung und wurde ebenfalls zur Infanterieschule nach Ohrdruf versetzt.374 367
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Verordnung der bayerischen Staatsregierung v. Knilling über einstweilige Maßnahmen zum Schutze und zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vom 26.9.1923, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 339 f. Verfassungsurkunde des Freistaates Bayern vom 14.8.1919, Gesetz- und Verordnungs-Blatt für den Freistaat Bayern 1919, S. 531–553. Huber, Dokumente, Band 4, S. 337. Siehe auch die Äußerungen des Reichsjustizministers Radbruch in der Kabinettssitzung vom 27.9.1923, Akten der Reichskanzlei, Kabinette Stresemann I/II, Band 1, Nr. 83, S. 382 f. Insbesondere mit Art. 176 WRV (Eid auf die Reichsverfassung); siehe auch Wohlfeil, Heer, S. 270. Wohlfeil, Heer, S. 276 f. Das 19. (Bayerische) Infanterie-Regiment war aus dem Freikorps Epp hervorgegangen, das 1919 wesentlich an der Niederschlagung der Münchener Räterepublik beteiligt gewesen war. Die Akten zum Ehrenratsverfahren gegen Ernst Röhm finden sich bei BArch RH 37/595. Siehe zum Ehrenratsverfahren auch Kapitel VI. Heinemann, Dietl, S. 101 f.
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In dieser Zeit der Spannung zwischen Reich und Bayern konnte die Reichswehr nach dem Kapp-Desaster des Frühjahres 1920 ihre Stellung als maßgeblicher innenpolitischer Krisenregulator unter der Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 WRV zurückgewinnen. Dabei war dem Reichswehrminister mit der Verordnung vom 28. September 1923 erstmals seit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch wieder die vollziehende Gewalt übertragen worden. Allerdings waren bei dieser Entscheidung wohl vor allem Gründe der Person maßgeblich: So versprach der aus Bayern stammende und der demokratischen Partei angehörige Reichswehrminister Geßler die Beziehungen zu Bayern weniger zu belasten als der mehrheitssozialdemokratische Reichsinnenminister Sollmann.375 Auch behielt bei der Ausschaltung der teils kommunistischen Landesregierung von Sachsen der Reichskanzler Stresemann die Initiative, indem er beim Reichspräsidenten Ende Oktober eine Notverordnung erwirkte, die ihn ermächtigte »Mitglieder der sächsischen Landesregierung und der sächsischen Landes- und Gemeindebehörden ihrer Stellung zu entheben und andere Personen mit der Führung der Dienstgeschäfte zu betrauen«.376 Die Reichswehr blieb insofern also auf die Funktion beschränkt, diese Maßnahmen notfalls mit militärischen Mitteln abzusichern.377 Dass das Regime der Reichswehr im reichsweiten Ausnahmezustand ansonsten bisweilen autoritäre Züge annahm, lässt sich unter anderem an einer Verordnung des Reichswehrministers vom 5. November 1923 ablesen: »In sachlicher Form Kritik an dem Verhalten der Reichswehr zu üben, soll niemandem verwehrt werden. Ich kann aber nicht gestatten, daß das letzte Machtmittel des Staates durch Beschimpfungen oder falsche und irreführende Darstellungen seines Verhaltens in der Öffentlichkeit herabgewürdigt werden. Auf Grund des § 1 der Verordnung des Reichspräsidenten vom 26.9.23 verbiete ich daher alle öffentlichen Beschimpfungen der Reichswehr sowie die öffentliche Verbreitung von unwahren Nachrichten, die geeignet sind, ihr Ansehen in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Zuwiderhandlungen werden nach § 4 der Verordnung vom 26.9.23 bestraft. Zeitungen, die solche Beschimpfungen oder Nachrichten enthalten, sind von dem zuständigen Inhaber der vollziehenden Gewalt auf mindestens drei Tage zu verbieten.«378
Hieran wird deutlich, dass die Reichswehrführung den Ausnahmezustand unter dem Deckmantel des institutionellen Ansehensschutzes zu weit mehr benutzte als zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Auch machte sie abermals exzessiven Gebrauch von der Schutzhaft. Nach Inkrafttreten der neuen Reichsverfassung und ihrem Art. 48 Abs. 2 konnte die Reichswehr ihre Maßnahmen zumindest nicht mehr unmittelbar auf das Rechtsregime des Kriegs- und Belagerungszustandes sowie das darauf fußende Schutzhaftge375 376
377 378
Hürten, Reichswehr, S. 34. Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Artikel 48 Abs. 2 der Reichsverfassung, betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiete des Freistaats Sachsen nötigen Maßnahmen vom 29.10.1923, RGBl. 1923 I S. 995. Hürten, Reichswehr, S. 37 f. Verordnung des Reichswehrministers vom 5.11.1923, abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 348, Fn. 23.
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setz379 aus dem Jahr 1916 stützen.380 Anders als in einigen Fällen zuvor381 hatte der Reichspräsident diesmal auch nicht die analoge Anwendung des bisherigen Schutzhaftgesetzes bei der Verhängung des Ausnahmezustandes nach Art. 48 Abs. 2 WRV angeordnet, worauf der Reichswehrminister in einem Befehl an die ihm unterstellten Militärbefehlshaber ausdrücklich hinwies. Doch Geßler wusste sich zu helfen: Ersatzweise übersandte er ihnen in der Anlage eine »Dienstanweisung über das Verfahren bei Verhaftungen und Aufenthaltsbeschränkungen«, die sich auf die Verordnung des Reichspräsidenten zur Verhängung des Ausnahmezustandes und die darin gestatteten Eingriffe in die persönliche Freiheit berief. Diese »Dienstanweisung« gab im Wesentlichen den Text des Schutzhaftgesetzes von 1916 wortwörtlich wieder.382 Später resümierte das Reichswehrministerium in seiner Denkschrift über den Ausnahmezustand: »Als ein sehr wirksames Mittel zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung hat sich allgemein die Schutzhaft erwiesen. Ihre Durchführung hat bei dem Umfange, welchen die Maßnahme notgedrungen annehmen mußte, die Militärbefehlshaber sowohl was Behandlung und Entscheidung der einzelnen Fälle, wie auch die Unterbringung und Versorgung der Schutzhaft-Gefangenen anlangt, vor außergewöhnliche Aufgaben gestellt und sie naturgemäß heftigen Anfeindungen aus den feindlichen Lagern ausgesetzt. Bei der Anwendung der Maßnahme galt nach den Weisungen des Inhabers der vollziehenden Gewalt allgemein der Grundsatz, den Kreis möglichst eng zu ziehen und von der Schutzhaft nur gegen solche Personen Gebrauch zu machen, die tatsächlich eine ernste Gefahr für die Sicherheit des Reiches oder für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung bildeten. Trotzdem wurden Schutzhaftbefehle gegen insgesamt 3515 Personen – darunter 28 Ausländer – notwendig, und zwar in 3207 von diesen Fällen zur Lahmlegung politischer Umsturzbestrebungen, in 308 Fällen zur vorübergehenden Unschädlichmachung von Wirtschafts-Hyänen.«383
Eine auch im Vergleich zu den Jahren 1918 bis 1920 wesentliche Veränderung in der Handhabung des Art. 48 Abs. 2 WRV trat allerdings mit dem Hitler-LudendorffPutsch vom 8./9. November 1923 ein: In dieser Situation entschied sich Reichspräsident Ebert, nicht den Reichswehrminister, sondern unmittelbar den Chef der Heeresleitung, General d. Inf. v. Seeckt, nach Art. 48 Abs. 2 WRV zum Inhaber der Exekutivgewalt für das gesamte Reichsgebiet und gleichzeitig (anstelle Geßlers) zum Oberbefehlshaber über die gesamte Wehrmacht, also einschließlich der Marine, zu machen, »welcher alle zur Sicherung des Reichs erforderlichen Maßnahmen zu treffen« hatte.384 Seeckt hatte in den Monaten zuvor selbst mit einer Rechtsdiktatur 379 380 381
382 383 384
Gesetz, betreffend die Verhaftung und Aufenthaltsbeschränkung auf Grund des Kriegszustandes und des Belagerungszustandes vom 4.12.1916, RGBl. 1916 S. 1329–1331. Das preußische Gesetz über den Belagerungszustand von 1851 hatte im Reich nur nach Maßgabe des Art. 68 RV 1871 Anwendung finden können, der jedoch nach Art. 178 Abs. 1 WRV aufgehoben war. So z. B. in § 5 der Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Artikel 48 Abs. 2 der Reichsverfassung, betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen, vom 11.4.1920, RGBl. 1920 S. 479 f. Befehl des Reichswehrministers Geßler über Maßnahmen der Militärbefehlshaber im Ausnahmezustand vom 19.10.1923, abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 94 f., siehe für die Dienstanweisung ebendort Fn. 2. Denkschrift des Referats T 1 III (Schleicher) über den militärischen Ausnahmezustand vom 12.8.1924, abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 334–362 (348 f.). Verordnung, betreffend den Oberbefehl über die Wehrmacht und die Ausübung der vollziehenden Gewalt vom 8.11.1923, RGBl. 1923 I S. 1084.
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unter seiner Führung geliebäugelt, sogar schon ein Regierungsprogramm entworfen.385 In Hinblick auf die Krise in Bayern fürchtete er sich am meisten – wie bereits in den Tagen des Kapp-Lüttwitz-Putsches – vor einer Lage, in der die Reichswehr »sich gegen Gesinnungsgenossen für eine ihr wesensfremde Regierung« einsetzen müsste.386 Nun aber sollte Seeckt »alle zur Sicherung des Reiches erforderlichen Maßnahmen treffen« und wurde so zum mächtigsten Mann des Reiches, noch mächtiger als der zuvor mit der vollziehenden Gewalt betraute Reichswehrminister Geßler.387 Ausschlaggebend für diese Entscheidung waren in Berlin eintreffende Meldungen von Kommandeuren der 7. (Bayerischen) Division, die dem Chef der Heeresleitung ihre Loyalität versicherten und sich gegen Hitler und Ludendorff stellten.388 Gleichzeitig aber hatte Seeckt in der maßgeblichen Reichskabinettssitzung vor seiner Ermächtigung klargestellt, er werde – falls es doch zu der befürchteten Revolte der 7. (Bayerischen) Division kommen sollte – bei seiner alten Devise »Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr« bleiben.389 Zwar wurde Seeckt der Lage in Bayern schließlich Herr. Dies war aber vor allem auf den Beschluss der bayerischen Kommandeure zurückzuführen, sich gegen Hitler zu stellen, der mit seiner erpresserischen Vereinnahmung von Kahr und Lossow die Versöhnung von Reich und Bayern unfreiwillig beförderte.390 Durch die Inklusion Seeckts in die Bewältigung der Krise gelang es jedoch, dessen eigenen Diktaturfantasien den Wind aus den Segeln zu nehmen. Zwar war er jetzt auf legalem Wege mächtiger als je zuvor geworden, allerdings war seine Macht auch vor aller Augen an den Zweck gebunden, im Auftrag der Republik gegen jeden drohenden Putschversuch vorzugehen.391 Seeckt hatte freilich selbst darauf hingearbeitet, den Gipfel seiner Macht im Jahr 1923 über Art. 48 Abs. 2 WRV zu erklimmen, der sich vom früheren Recht des Belagerungszustandes ja nicht nur unwesentlich unterschied: Zum einen lag die Entscheidung nun allein beim Reichspräsidenten, wohingegen nach dem preußischen Gesetz von 1851 auch die örtlichen Militärbefehlshaber den Belagerungszustand zumindest provisorisch hatten verhängen können, was damals vor allem den noch vergleichsweise langen Kommunikationswegen zwischen Provinz und Hauptstadt geschuldet gewesen war. Schon nach dem sehr viel jüngeren, erst 1912 verabschiedeten bayerischen Gesetz über den Kriegszustand hatte dieser allein durch königliche Verordnung verhängt werden können; das bayerische Militär war also nicht befugt gewesen, aus eigener Initiative loszuschlagen.392 Zum anderen hatte der Reichsprä385 386 387 388 389 390 391 392
Zu den politischen Ambitionen Seeckts im Krisenjahr 1923 ausführlich Meier-Welcker, Seeckt, S. 389–405; siehe auch Hürten, Reichswehr, S. 38–48; Wohlfeil, Heer, S. 272–276; ebenso Carsten, Reichswehr, S. 199–201. Schüddekopf, Heer, S. 189. Siehe auch die Tagebuchaufzeichnen des Seeckt-Adjutanten v. Selchow bei Akten der Reichskanzlei, Kabinette Stresemann I/II, Band 1, Nr. 83, S. 380, Fn. 10. Carsten, Reichswehr, S. 206. Carsten, Reichswehr, S. 205; Meier-Welcker, Seeckt, S. 406. Meier-Welcker, Seeckt, S. 405 f. Carsten, Reichswehr, S. 202. Rabenau, Seeckt, S. 375 f.; Carsten, Reichswehr, S. 206, 215. Dass diese Inklusion beabsichtigt gewesen ist, wird von Meier-Welcker, Seeckt, S. 414 f., infrage gestellt. Art. 1 des Gesetzes über den Kriegszustand vom 5.11.1912, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Bayern 1912, S. 1161–1165; siehe auch Schudnagies, Belagerungszustand, S. 49 f.
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sident demonstriert, dass er Art. 48 Abs. 2 WRV flexibel handhaben konnte und dieses neue Rechtsregime also nicht zwingend zu einer automatischen Kompetenzverlagerung auf das Militär führen musste. Auch das bayerische Kriegszustandsgesetz hatte im Unterschied zu seinem älteren preußischen Pendant einen solchen ipso-iure-Übergang der vollziehenden Gewalt nicht gekannt.393 Doch bis zum Eintritt der innenpolitische Krise 1923 hatte die Reichswehr bereits entscheidende Teile des ausnahmerechtlichen Terrains zurückerobert, die an das Primat der Zivilpolitik verloren gegangen waren. Wie bereits geschildert, hatte Seeckt als Chef des Truppenamtes schon am 18. Oktober 1919 den Reichswehr-Gruppenkommandos mitgeteilt, dass »Anträge auf Verhängung des Ausnahmezustandes […] von jetzt ab auf dem Dienstwege an das Reichswehrministerium […] zu richten« seien, die Initiative hierzu also durchaus auch vom Militär ausgehen könne.394 Dabei hatte schon die Zabern-Affäre Ende 1913, als preußische Truppen aus eigener Machtvollkommenheit und ohne Rechtsgrundlage etliche Elsässer Bürger, darunter sogar Richter einsperrten, im darauffolgenden Jahr immerhin zu einer revidierten »Vorschrift über den Waffengebrauch des Militärs und seine Mitwirkung zur Unterdrückung innerer Unruhen« geführt, die den Militäreinsatz im Innern nur als ultima ratio auf Anfrage der Zivilbehörden gestattet hatte. Aus eigener Initiative aber durfte das Militär lediglich bei einem bereits verhängten Kriegs- oder Belagerungszustand vorgehen (wobei dieser ja nach dem preußischen Gesetz vom Militärbefehlshaber zumindest vorläufig verhängt werden konnte) oder »wenn in Fällen dringender Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung die Zivilbehörde infolge äußerer Umstände außerstande ist, die Anforderung zu erlassen«.395 Sicherlich bot diese Vorschrift dem Militär noch immer gewisse Interpretations- und damit Usurpationsmöglichkeiten. Für den überkommenen preußischen Soldatenstaat aber hatte sie einen gewissen Fortschritt dargestellt. Seitdem der militärische Ausnahmezustand mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch bei der Reichsregierung in Verruf geraten war, hatte Seeckt in seiner neuen Position als Chef der Heeresleitung offenbar konsequent an einer Restauration dieser innenpolitischen Machtbasis der Reichswehr gearbeitet. Zunächst hatte zwar die Heeresleitung mit einer Ergänzungsverfügung vom 14. Mai 1920 die Passagen in der Vorschrift über den Waffengebrauch gestrichen, die sich auf das fortgefallene Regime des Kriegs- und Belagerungszustandes und den damit verbundenen Automatismus einer Exekutivverlagerung auf Militärbefehlshaber bezogen hatten.396 Der Reichswehr blieb jedoch die Möglichkeit zur ausnahmerechtlichen Initiative bestehen, wenn die Zivilbehörden bei einer dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ord393 394
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Zur Rechtslage in Bayern siehe Erhard, Gesetz, S. 18. Mitteilung des Chefs des Truppenamts, Generalmajor v. Seeckt, an die Reichswehr-Gruppenkommandos über die Rechtslage bei militärischem Einschreiten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit vom 18.10.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 246–248. Abschnitt II Nr. 1–4 der Vorschrift über den Waffengebrauch des Militärs und seine Mitwirkung zur Unterdrückung innerer Unruhen vom 19.3.1914, D.V.E. Nr. 6, verkürzter Abdruck bei Huber, Dokumente, Band 3, S. 85–88. Voss, Haus, S. 264.
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nung verhindert waren. Sowohl zur Prüfung dieser Voraussetzungen als auch, um die von Seeckt angestrebten Initiativanträge zur Verhängung des Ausnahmezustandes nach Art. 48 Abs. 2 WRV einigermaßen begründen zu können, waren vor allem eine zuverlässige Feststellung und Beurteilung der politischen Lage durch die Reichswehrdienststellen erforderlich. Dazu hatte Seeckt die ständige und umfangreiche militärnachrichtendienstliche Aufklärung gegen politisch unliebsame Elemente, die praktisch schon im Zuge der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen um die Münchener Räterepublik und den Ruhraufstand begonnen worden war,397 im Jahr 1920 fest in einem »Sammelheft der Bestimmungen über Verwendung der Wehrmacht im Reichsgebiet bei öffentlichen Notständen und inneren Unruhen« verankert. Bezugspunkt bildete auch hier die alte Vorschrift über den Waffengebrauch, wonach die »Militär- und Zivilbehörden […] sich […] gegenseitig in wichtigen, die öffentliche Ruhe und Ordnung betreffenden Angelegenheiten Mitteilung zu machen« hatten. »Wenn Verhältnisse und Vorgänge« eintraten, »welche die öffentliche Ruhe bedrohende Auftritte voraussehen« ließen, so waren »die Truppenbefehlshaber, insbesondere die Festungskommandanten und der älteste kommandierende Offizier im Orte verpflichtet, den Gang der Ereignisse zu beobachten und die nötigen Vorbereitungen zu treffen«.398 Dieser »Beobachtungsdienst« war nun aber nach den »Erläuterungen zur Vorschrift über den Waffengebrauch« im Sammelheft über die Verwendung der Reichswehr im Innern »bei der jetzigen Lage ständig zu betreiben.« Seine Aufgaben waren: »Schutz des Heeres gegen militärische Überraschungen durch innere Feinde, vorbereitende Aufklärung im Einzelfall bei beabsichtigten Unternehmungen, Verfolgung der Umsturzagitation in der Truppe«. Er durfte jedoch auf »keinen Fall […] zu einer politischen Betätigung militärischer Stellen führen«. Den in der Vorschrift über den Waffengebrauch vorgesehenen Austausch über entsprechende Erkenntnisse schränkten die Erläuterungen dahingehend ein, dass nur noch die Wehrkreiskommandos mit den Zivilbehörden ihres Bezirks in Kontakt treten sollten – der »Beobachtungsdienst« sollte von nun an also auch unter Umgehung der örtlichen Zivilbehörden erfolgen können.399 Die nachrichtendienstliche Tätigkeit der Reichswehr im Innern, die sich in Zeiten der Krise auf ein größeres Netz von Informanten und Spitzeln stützte, fokussierte sich stark einseitig auf politisch linksstehende Kreise und Schichten. So finden sich in den beim Bayerischen Kriegsarchiv überlieferten Beständen des ReichswehrGruppenkommandos 4 Nachrichtenblätter über die Tätigkeiten von MSPD, USPD und KPD in Hülle und Fülle, zu denen auch der junge Hitler als V-Mann seinen be397 398
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Hierzu bereits Kapitel I.1. unter Buchstabe b). Abschnitt II Nr. 2 der Vorschrift über den Waffengebrauch des Militärs und seine Mitwirkung zur Unterdrückung innerer Unruhen vom 19.3.1914, D.V.E. Nr. 6, verkürzter Abdruck bei Huber, Dokumente, Band 3, S. 85–88 (86 f.). Abschnitt I (Erläuterungen zur Vorschrift über den Waffengebrauch) Nr. 2 des Sammelhefts der Bestimmungen über Verwendung der Wehrmacht im Reichsgebiet bei öffentlichen Notständen und inneren Unruhen (V.i.R.), D.V.E. Nr./H. Dv. 469, Teil 2: Die rechtlichen Voraussetzungen zum Einschreiten der Wehrmacht, Neudruck 1924 als konsolidierte Fassung der Ausgabe von 1920 mit Deckblättern vom September 1921.
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scheidenen Beitrag geleistet hat,400 wohingegen über die völkischen Verbände und andere Rechtsgerichtete allenfalls spärlich berichtet wird. Dass das militärische Nachrichtenwesen der Reichswehr auf dem rechten Auge blind war, führte umgekehrt dazu, dass Schauergeschichten über die »bolschewistische Gefahr« in den politischen Lagemeldungen nach Berlin einen entsprechend größeren Raum einnahmen und auf diese Weise Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess über die Verhängung des Ausnahmezustandes nehmen konnten. Rechtliche Schützenhilfe bei der Stärkung der Reichswehr im Ausnahmezustand erhielt Seeckt aber auch vom Reichsgericht, das in mehreren Entscheidungen das preußische Gesetz über den Waffengebrauch des Militairs vom 20. März 1837 für weiterhin anwendbar erklärte,401 dessen § 10 die Vermutung aufstellte, dass »beim Gebrauche der Waffen das Militair innerhalb der Schranken seiner Befugnisse gehandelt habe […] bis das Gegentheil erwiesen ist«. Hinzu kam die Beweisregel, dass die »Angaben derjenigen Personen, welche irgend einer Theilnahme an dem, was das Einschreiten der Militairgewalt herbeigeführt hat, schuldig oder verdächtig sind, […] für sich allein keinen zur Anwendung einer Strafe hinreichenden Beweis für den Mißbrauch der Waffengewalt« gaben.402 Dass es sich bei der Vorschrift über den Waffengebrauch sowie dem in § 17 WG erneuerten Recht zum selbständigen militärischen Losschlagen in besonderen Lagen um ein nicht zu unterschätzendes Machtpotential des Militärs handelte, wird schließlich daran deutlich, dass das nationalsozialistische Wehrgesetz von 1935403 und die neue Verordnung des Führers über den Waffengebrauch von 1936404 die entsprechenden Befugnisse ersatzlos strichen.405 Der Diktator Hitler besaß Instinkt genug, um die Gefahr eines 20. Juli 1944 zu antizipieren, und es überrascht im Nachhinein dann auch nicht, dass die konservative Revolution des Unternehmens »Walküre« einen Putsch der politisierten Waffen-SS vorgaukelte, um sich rechtlich auf die Traditionen des Kriegs- und Belagerungszustandes berufen zu können.406 Die mit Art. 48 Abs. 2 WRV grundsätzlich veränderte verfassungsrechtliche Lage auf dem Gebiet des Ausnahmezustands hatte aber auch das im Reichswehrministerium entworfene und von einer Mitte-Rechts-Mehrheit getragene Wehrgesetz vom 23. März 1921 in einem wichtigen Punkt rückgängig gemacht: Unter den Voraussetzungen des § 17 WG war ein unangefordertes, also selbständiges militärisches Einschreiten »im Falle öffentlicher Notstände oder einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung« nun wieder zulässig, »wenn die Behörden durch höhere Gewalt außerstande gesetzt sein sollten, das militärische Einschreiten herbeizuführen, oder wenn es sich nur um Zurückweisung von Angriffen oder Widersetzlichkeiten gegen Teile der Wehrmacht« handelte. Diese Regelung atmete ganz den Geist der fortgeltenden 400 401
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Kershaw, Hitler, S. 166; Fest, Hitler, S. 123. RGSt 56, 353–355 (354); RGZ 100, 25–28 (28); 111, 1–5 (3 f.). Zustimmend Semler, Wehrgesetz, S. 48 f.; Fuhse, MStGB 1926-Kommentar, § 124 Anm. 6; dagegen ausführlich Liepmann, Aufgaben, S. 27–33; ebenso Rittau, Wehrmacht, S. 229. Gesetz über den Waffengebrauch des Militairs vom 20.3.1837, Preußische Gesetzsammlung 1837, S. 60–62. Wehrgesetz vom 21.5.1935, RGBl. 1935 I S. 609–614. Verordnung über den Waffengebrauch der Wehrmacht vom 17.1.1936, RGBl. 1936 I S. 39 f. Insofern an der bloßen Oberfläche des Verfassungstextes haftend Voss, Haus, S. 267. Heinemann, Widerstand, S. 803–806.
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Vorschrift über den Waffengebrauch aus dem Jahr 1914, nur dass sie jetzt eben in Gesetzesform zementiert war.407 Wie sie in das Wehrgesetz Eingang gefunden hat, lässt sich aufgrund des Aktenverlustes zwar nicht mehr genau nachvollziehen. Erstaunlicherweise taucht das ausnahmerechtlich angehauchte Recht zum selbständigen militärischen Einschreiten aber in keinem der Entwürfe auf, die bis zum KappLüttwitz-Putsch kursiert hatten. Dort war stets nur von der Möglichkeit die Rede gewesen, dass die Zivilbehörden der Länder in Notlagen die Hilfe der örtlichen Reichswehrtruppenteile anfordern können sollten.408 Erst nachdem Seeckt im März 1920 infolge des Kapp-Lüttwitz-Putsches die Heeresleitung übernommen hatte, fand sich in neuerlichen Gesetzesentwürfen an entsprechender Stelle ein Passus, der ein »selbständiges militärisches Eingreifen« unter bestimmten Voraussetzungen zuließ.409 Die noch frischen Erfahrungen mit den konterrevolutionären Reichswehrtruppenteilen von Kapp und Lüttwitz verhinderten ganz offenbar nicht, dass der militärische Ausnahmezustand nur ein Jahr später im Wehrgesetz fröhliche Urständ feiern konnte. Wie sich das Reichswehrministerium auf den militärischen Ausnahmezustand vorbereitete, erhellt das interne »Sammelheft der Bestimmungen über Verwendung der Wehrmacht im Reichsgebiet bei öffentlichen Notständen und inneren Unruhen«, das unter Seeckt in den Jahren 1920 bis 1922 erstmals herausgegeben wurde. Dessen erster Teil, der 1920 erschien, trug den Titel »Vorbereitende Maßnahmen von Kommandobehörden und Truppe. Truppenverwendung«. Aus ihm geht deutlich hervor, zu welchen Maßnahmen die Reichswehr bereit sein wollte. Einleitend hieß es: »Die Wehrmacht eines Landes ist der äußerlich sichtbare Ausdruck seiner Autorität. Heer und Flotte verteidigen das Ansehen und die Macht des Staates gegen den äußeren Feind, haben aber auch die Aufgabe, sie inneren Widersachern gegenüber aufrechtzuerhalten.« Soweit damit die grundsätzliche Möglichkeit eines Einsatzes im Innern angesprochen war, befand sich die Vorschrift in Einklang mit Art. 48 Abs. 2 WRV, der ja die »Hilfe der bewaffneten Macht« sogar als ein zulässiges Mittel typisiert hatte. Zugleich kam hier aber schon ein autoritäres Staatsverständnis zum Ausdruck, das sich auch im nächsten Satz fortsetzte: »Der Einsatz der Wehrmacht und die Anwendung von Waffengewalt bei inneren Unruhen muß stets das letzte Mittel bleiben zur Erzwingung des Gehorsams und der Unterordnung unter den Staat.« Damit war zugleich der Zweck des Einsatzes ausgesprochen: Von Gefahrenabwehr war an dieser prominenten Stelle nicht die Rede, schon gar nicht von Schutz und 407 408
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Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 607. Siehe § 13 des Entwurfs, den das Reichswehr-Gruppenkommando 4 mit Schreiben vom 14.11.1919, I Org. Nr. 8110., an die Referenten des Gruppenkommandos, die unterstellten Brigaden sowie die Landeswerbezentrale verschickte, BayHstA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 103. Ebenso § 15 des Entwurfs eines Reichswehrgesetzes, Reichswehrminister, Nr. 425.12.19.T 5, vom 19.12.1919, BArch R 43-I/609, fol. 2–13. Ebenso § 15 des Entwurfs vom 28.2.1920, Drucksachen zu den Verhandlungen des Reichsrats, Jahrgang 1920, Nr. 53. Erstmals in § 15 des Entwurfs eines Wehrgesetzes vom 10.11.1920, Drucksachen zu den Verhandlungen des Reichsrats, Jahrgang 1920, Nr. 293. Das Reichskabinett beschäftigte sich mit dem Recht des Militärs zum selbständigen Einschreiten und formulierte den Gesetzentwurf an dieser Stelle sprachlich um, siehe den Auszug aus dem Protokoll der Sitzunh des Reichsministeriums vom 5.11.1920, Rk. 11024., BArch R 43-I/609, fol. 164, der behandelte Entwurf findet sich ebenda, fol. 150–158.
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Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung. Es ging in erster Linie um die Staatsautorität, um nackte Macht. Ein solcher Einsatz aber unterlag nicht den polizeirechtlichen Limitierungen, wie sie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorsah: »Wenn aber dieses Mittel nötig ist, dann muß es auch mit aller Energie angewandt werden. Je energischer das Vorgehen der Truppe, um so schneller der Erfolg und um so größer die Aussicht, ohne Blutvergießen den Zweck zu erreichen.«410 Es lebte hier der alte preußische Kriegsgrundsatz fort, wonach die schärferen Mittel am schnellsten zum Erfolg führten und daher die humansten seien.411 Weiter hinten zeigte sich dann noch deutlicher, wessen Blut dieses energische Eingreifen schonen sollte: »Stößt die eingreifende Truppe auf Widerstand, so ist dieser unter Einsatz aller Kampfmittel rücksichtslos zu brechen. […] Nur dadurch kann die Truppe vor unnötigen Verlusten geschützt werden.«412 Konkret hieß das für den Einsatz im urbanen Gelände: Artillerie, Panzerkraftwagen, Minenwerfer, Maschinengewehre, Handgranaten. Auch die Versammlungsfreiheit musste dann zurückstehen: »Menschenansammlungen in den Straßen sind, nach vorhergegangener Aufforderung zum Auseinandergehen, zu zerstreuen. […] Muß von der Waffe Gebrauch gemacht werden, so muß dies wirksam geschehen. Die Hetzer und Führer der Massen halten sich meistens zurück und drängen von hinten; es ist daher wirksam, wenn Leuchtkugeln oder Handgranaten über die Köpfe der Vordern in die von hinten Drängenden geworfen werden.«413 Dagegen galten »[a]ußerhalb der Örtlichkeiten […] die Grundsätze des Bewegungskrieges. Durch frisches Zufassen, wo nötig unter Einsatz von Artillerie und Minenwerfern, ist etwaiger Widerstand schnell zu brechen.« Die Reichswehr wohnte damit ganz bei Carl Schmitt, der im Extremfall auch das Belegen ganzer »Städte mit giftigen Gasen« im Rahmen von Art. 48 Abs. 2 WRV für angemessen erachtete.414 Zurück ins Jahr 1923, in dem Seeckt seine geballte ausnahmerechtliche Macht gleichwohl nicht aus eigener Initiative erreicht, sondern aus Anlass einer reellen Gefahr für das Reich von Ebert nach Art. 48 Abs. 2 WRV übertragen bekommen hatte. Die Ironie lag freilich darin, dass das in § 17 Abs. 1 WG verankerte Requisitionsrecht hierzu unerwartet und mittelbar beigetragen hatte, war es doch die vordergründige Rechtsgrundlage gewesen, anhand derer die Bayerische Staatsregierung die 7. 410
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Nr. 1 des Sammelhefts der Bestimmungen über Verwendung der Wehrmacht im Reichsgebiet bei öffentlichen Notständen und inneren Unruhen (V.i.R.), D.V.E. Nr. 469, Teil 1: Vorbereitende Maßnahmen von Kommandobehörden und Truppe. Truppenverwendung, 1920 (ohne näheres Datum). Kriegsgebrauch, S. 8. Insofern unterscheidet sich ein Stück weit auch das Prinzip der »militärischen Notwendigkeit« im Humanitären Völkerrecht vom binnenstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Nr. 42 des Sammelhefts der Bestimmungen über Verwendung der Wehrmacht im Reichsgebiet bei öffentlichen Notständen und inneren Unruhen (V.i.R.), D.V.E. Nr. 469, Teil 1: Vorbereitende Maßnahmen von Kommandobehörden und Truppe. Truppenverwendung, 1920 (ohne näheres Datum; Hervorhebungen im Original gesperrt). Nr. 43 des Sammelhefts der Bestimmungen über Verwendung der Wehrmacht im Reichsgebiet bei öffentlichen Notständen und inneren Unruhen (V.i.R.), D.V.E. Nr. 469, Teil 1: Vorbereitende Maßnahmen von Kommandobehörden und Truppe. Truppenverwendung, 1920 (ohne näheres Datum). Schmitt, Diktatur, S. 178 f. und 201; er bezog sich dabei auf eine entsprechende Äußerung von Reichsjustizminister Eugen Schiffer (DDP) vom 3.3.1920, der sich seinerseits auf Oskar Cohn (USPD) bezogen hatte, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 332, S. 4637.
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(bayerische) Division für sich in die Pflicht genommen hatte.415 Mit dem erreichten militärischen Ausnahmezustand verband Seeckt ein nicht unerhebliches Sendungsbewusstsein. Zwar hatte schon am 19. Oktober 1923 der Reichswehrminister Geßler die Militärbefehlshaber instruiert: »Der militärische Ausnahmezustand gibt nicht nur das Recht zum Befehl, er schließt auch die Pflicht zur Fürsorge in sich.«416 Auch widersprachen Rechtsprechung und Staatsrechtslehre der recht offenen Auslegung des Art. 48 Abs. 2 WRV seitens der Reichsregierung kaum – vor allem wohl auch, weil sie der Praxis von Beginn an hinterherhinkten.417 Seeckt freilich interpretierte die ihm zugewiesene Aufgabenstellung noch weitaus großzügiger. So hatte er der Truppe schon mit seinem Aufruf vom 4. November 1923 klar gemacht, dass es an ihr sei, »den militärischen Ausnahmezustand so zu handhaben und auszugestalten, daß nicht nur Ruhe und Ordnung in Deutschland herrschen, sondern daß seine Bewohner, in ihrer Existenz sichergestellt, wieder Vertrauen zur Zukunft fassen und seine Jugend in nationaler Begeisterung wieder zur Wehrhaftigkeit drängt«.418 Dieses durchaus politische Programm ging ganz offen über die Limitierungen des Art. 48 Abs. 2 WRV hinaus, »die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen« zu treffen. Eine maßgebliche Rolle dürfte dabei auch der damalige Major Kurt v. Schleicher gespielt haben, der als enger Mitarbeiter des Chefs der Heeresleitung maßgeblichen Anteil an der Gestaltung des Ausnahmezustands hatte und die Zusammenarbeit des Militärs mit zivilen Stellen koordinierte.419 Bereits zu Kriegszeiten hatte sich Schleicher als Leiter der innenpolitischen Abteilung der OHL mit Sozial- und Wirtschaftspolitik beschäftigt; die Sanierung der Wirtschaft gehörte schon von Beginn der Republik an zu seinem politischen Credo,420 für sie hatte er sich als vorrangiges Ziel schon im Dezember 1918 gegenüber Seeckt starkgemacht.421 Die Interpretation des Ausnahmezustandes durch das Militär als weitreichende Fürsorgemaßnahme war dabei gewiss auch vom alten Regime des Belagerungszustands geprägt, dessen ursprünglicher Hauptzweck es ja gewesen war, die Bevölkerung der belagerten Stadt mit Nahrungsmitteln etc. zu versorgen.422 Prägend für die Generalität der Reichswehr waren hier aber auch die Erfahrungen mit der verdeckten Militärdiktatur der dritten OHL in den letzten Weltkriegsjahren. Der politisch ambitionierte Schleicher wie auch der damalige Leiter der Heeresabteilung im Truppenamt (T 1), Oberstleutnant Joachim v. Stülpnagel, versuchten im Winter 1923/24 erfolglos, Seeckt zu einem noch stärkeren Eingreifen in die Politik zu moti415
416 417 418 419 420 421 422
Verordnung der bayerischen Staatsregierung v. Knilling über einstweilige Maßnahmen zum Schutze und zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vom 26.9.1923, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 339 f. Reichswehr und Wirtschaft. Verfügung des Reichswehrministers während des Ausnahmezustandes vom 19.10.1923, abgedruckt bei Schüddekopf, Heer, S. 182–184. Gusy, Weimar, S. 52; Stolleis, Geschichte, Band 3, S. 116. Aufruf des Chefs der Heeresleitung General v. Seeckt an die Reichswehr vom 4.11.1923, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 363 f. = Schüddekopf, Heer, S. 184–186. Pyta, Demokratie, S. 420; Strenge, Schleicher, S. 23–26; Vogelsang, Dokumente, S. 404, Fn. 25. Kilian, Führung, S. 176; Strenge, Schleicher, S. 16 f.; Carsten, Reichswehr, S. 41. Carsten, Reichswehr, S. 25. Darauf weist zutreffend hin Strenge, Schleicher, S. 32–34.
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vieren.423 Sie beide drückten später der Reichswehr der 1920er und frühen 1930er Jahren ihren Stempel auf. Nicht weniger politisch gab der Chef des Truppenamtes Generalmajor Otto Hasse in einer Zusammenfassung über die Beurteilung der inneren Lage vom 7. Dezember 1923 ganz offen das innenpolitische Ziel einer »Wehrhaftmachung des Volkes« aus, »wozu man eine gesunde Volkskraft und Geld« benötige, um mittelbar die Möglichkeit zu eröffnen, »eine Außenpolitik zu treiben, die zu dem von uns Allen erstrebten Endziele, zum freien Groß-Deutschland« führen sollte.424 So kam es zwischen Seeckt und Teilen der Reichsregierung in den Tagen nach dem Hitler-Ludendorff-Putsch immer wieder zu Auseinandersetzungen um die Reichweite seiner Vollmachten. Wie Seeckt einem seiner früheren Vorgesetzten anvertraute, war es für ihn schließlich »eine tolle Zeit, in der ich zu allerlei Tätigkeit komme, für die Sie mich seinerzeit nicht ausgebildet haben. […] Finanzminister habe ich nicht gelernt und werde mir auch keine Freunde machen mit dem mehr als je ungerechten Mammon […] aber was macht der Soldat nicht alles! Heute drucke ich Geld und eine Zeitung.«425 Im Einvernehmen mit dem Reichspräsidenten bedeutete der Reichsfinanzminister Luther dem Inhaber der vollziehenden Gewalt, dass es unter normalen Umständen nicht zu seinen Aufgaben gehöre, sich um wirtschaftliche oder finanzielle Dinge zu kümmern und er auch nicht nach Gutdünken über die Geldmittel des Reiches verfügen könne; im Übrigen habe er sich mit dem je zuständigen Minister abzustimmen.426 Mit Ebert führte Seeckt Streit etwa darüber, ob der Inhaber der vollziehenden Gewalt Reichs- und Landesgesetze ändern oder gar völlig außer Kraft setzen dürfe. Wenn dies auch nach Seeckts Interpretation »zur Sicherung des Reiches erforderlich« sein konnte, so erläuterte ihm der Reichspräsident, dass seine Notverordnung ihn dazu gleichwohl nicht ermächtige. Dennoch entfaltete Seeckt in den folgenden Tagen eine rege Tätigkeit, die sich nicht auf die Gefahrenabwehr beschränkte, sondern vielmehr der Vorbeugung von Krisen jeglicher Art verschrieb: Parteiverbote, Unterdrückung von Streiks und Aussperrungen, Zensur der Presse, die Verhängung von Schutzhaft über mehr als 3500 Personen, die Ausgabe wertbeständigen Notgeldes, Preisregulierungen, Bankkonditionen, die Sicherstellung der Volksernährung, ja sogar eine Neuordnung der Arbeitslosenhilfe sowie die Bekämpfung von »Schlemmerei und Luxus«427 nahm Seeckt in Angriff.428 Die von ihm ergriffenen Maßnahmen können daher »eher mit dem nach freiem moralischen Ermessen vor423 424 425
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427 428
Schönrade, Stülpnagel, S. 121; Zusammenfassung der vom Truppenamt vorgetragenen Beurteilung der inneren Lage vom 7.12.1923, abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 191–196 (196). Schreiben Seeckts an General d. Inf. Richard v. Kraewel vom 12.11.1923, zit. nach Rabenau, Seeckt, S. 382. Kraewel war in den Jahren 1906 bis 1911 Chef des Stabes beim II. Armeekorps, wo Seeckt 1909 bis 1913 als Erster Generalstabsoffizier (Ia) diente. Hürten, Reichswehr, S. 38 f.; Meier-Welcker, Seeckt, S. 409; siehe auch das Schreiben des Reichsfinanzministers Luther an Reichskanzler Stresemann, in dem er eine mündliche Klärung zwischen ihm und Seeckt beim Reichspräsidenten vom 12.11.1923 wiedergibt, bei Akten der Reichskanzlei, Kabinette Stresemann I/ II, Band 2, Nr. 243, S. 1038 f. Denkschrift des Referats T 1 III (Schleicher) über den militärischen Ausnahmezustand vom 12.8.1924, abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 334–362 (362). Meier-Welcker, Seeckt, S. 409, 416; Hürten, Reichswehr, S. 40 f.
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gehenden Polizeiregiment des Ancien Régime verglichen werden […] als mit der Praxis des an die Verhältnismäßigkeit der Mittel gebundenen und auf die Abwehr unmittelbar drohender Gefahren beschränkten Rechtsstaates«.429 Seeckt gab seine diktatorischen Vollmachten erst am 28. Februar 1924, und nicht wie von Ebert zunächst gewünscht, bereits nach vierzehn Tagen wieder ab.430 Viele seiner deutschnationalen Anhänger waren enttäuscht, dass Seeckt den Ausnahmezustand nicht zu einer dauerhaften Veränderung der Reichsverfassung und zur Abkehr von der parlamentarischen Demokratie nutzte.431 Dabei hatte er sich schon als Nachfolger Stresemanns gesehen, mit dem ihn eine Intimfeindschaft verband.432 In einem Brief an den deutschen Botschafter in Washington, Otto Wiedfeldt, hatte er am 4. November 1923 geschrieben: »Mit dem endgültigen Zusammenbruch des Kabinetts Str. muß gerechnet werden. Der Nachfolger muß bereitstehen; denn wir vertragen keine regierungslose Zeit. Er wird mehr sein als ein Nachfolger und muß ein Führer sein zu besserer Zukunft. […] Eine erfolgreiche Regierung mit dem Parlament ist nach Ausscheiden der S.D. [=Sozialdemokraten] ausgeschlossen. Es muß ein kleines Kabinett mit Direktoriums-Charakter und Ausnahme-Vollmachten folgen.«433
Anders als der Reichskanzler, der mit dem Locarno-Vertrag sowie dem Beitritt des Reichs zum Völkerbund eine auf Ausgleich mit den Siegermächten und damit gen Westen gerichtete Politik betrieb, suchte Seeckt eine Intensivierung der Rüstungskooperation mit der Sowjetunion.434 Das machtpolitische Zweckbündnis mit dem innenpolitischen Systemfeind war für ihn, der ja auch die Staatlichkeit des Deutschen Reichs vielmehr überzeitlich-abstrakt als nach der gerade gültigen Verfassung begriff und daher in der Sowjetunion nichts weiter als das ewige alte Russland erblickte, kein Widerspruch.435 Nicht zuletzt handelte er hier in logischer Fortsetzung der Dritten OHL Ludendorffs, die ja ebenfalls aus reinstem Pragmatismus im April 1917 Lenin in einem versiegelten Zug aus der Schweiz durch Deutschland nach Russland hatte schmuggeln lassen.436 Auf einen Annäherungsversuch Stresemanns am 7. September 1923 im Döberitzer Offizierkasino reagierte Seeckt dann mit einem offe429 430 431 432 433 434
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Hürten, Reichswehr, S. 41. Verordnung des Reichspräsidenten über die Aufhebung des militärischen Ausnahmezustandes und die Abwehr staatsfeindlicher Bestrebungen vom 28.2.1924, RGBl. 1924 I S. 152 f.; Hürten, Reichswehr, S. 41 f. Meier-Welcker, Seeckt, S. 412 f.; dagegen, aber in sich widersprüchlich Geßler, Reichswehrpolitik, S. 299. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 299. Abgedruckt bei Akten der Reichskanzlei, Kabinette Stresemann I/II, Band 2, Anhang, Nr. 5, S. 1215. Nach einer Denkschrift Seeckts über »Deutschland und Rußland« vom 4.2.1920 hatte Deutschland nur »im festen Anschluß an ein Groß-Rußland […] die Aussichte auf die Wiedergewinnung seiner Weltmachtstellung«, zit. nach Geyer, Aufrüstung, S. 35. Siehe weiter Guske, Denken, S. 258 f.; Meier-Welcker, Seeckt, S. 391 f.; Kessel, Programm, S. 902–904. Neugebauer, Grundkurs, S. 134; siehe zum Staatsverständnis Seeckts weiter unter Kapitel II.4. Nach einer prominenten Auffassung im Schrifttum lag die Federführung für die Lenin-Reise beim Auswärtigen Amt, siehe nur Hahlweg, Reise, S. 528. Allerdings geht Hahlweg wesentlich von den Akten des Auswärtigen Amtes aus und stellt selbst fest, dass entsprechende Aufzeichnungen Ludendorffs fehlen (ebenda S. 507 f.). Die späteren Distanzierungen Ludendorffs lassen sich durchaus auch auf seine öffentlich propagierte Weltanschauung zurückführen und können daher kaum als Beleg herhalten. Die Beurteilung Hahlwegs – »Der General sah über den militärischen Bereich kaum hinaus.« – ist gerade für den politisch umtriebigen Ludendorff unhaltbar.
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nen Affront, der das Primat der Zivilpolitik völlig beiseite fegte: »Die Reichswehr steht hinter Ihnen, wenn der deutsche Kanzler deutsche Wege geht«, sagte der Chef der Heeresleitung coram publico an Stresemann gerichtet.437 Ende Oktober setzte Seeckt den Reichskanzler mit einer Rücktrittsdrohung weiter unter Druck. Am 5. November sagte er ihm schließlich ins Gesicht: »Sie haben das Vertrauen der Truppe nicht.« Nach dem das Kabinett Stresemann II Ende November auseinandergebrochen war, verwehrte ihm Reichspräsident Ebert zwar den Zugang zum Posten des Reichskanzlers und Reichswehrministers. Seeckt nahm jedoch machtvollen Einfluss auf die Bildung des nachfolgenden Kabinetts Marx:438 »Der Reichspräsident sprach mit Seeckt hierüber am 30. November. Wilhelm Marx akzeptierte Seeckts Vollmachten von vornherein. So wurden sich Marx und der General in einer Aussprache einig.«439 Warum Seeckt schließlich von weitergehenden politischen Unternehmungen Abstand nahm, ist umstritten. Nach einer Auffassung hatte er nie mit dem Gedanken gespielt, gegen Ebert vorzugehen.440 Das entspricht auch der späteren Selbstdarstellung der Reichswehr »als uneigennützige Dienerin von Reich und Regierung«.441 Nach der gegenteiligen Lesart handelte es sich bei den Ereignissen im Herbst 1923 und Winter 1924 vielmehr um eine innenpolitische Machtprobe mit der Zivilpolitik, bei der die Reichswehrführung trotz unabweisbarer Teilerfolge letztendlich den Kürzeren zog und schließlich resignierte.442 So oder so machte der Ausnahmezustand in Bayern jedenfalls das ambivalente Verhältnis der Reichswehr unter Seeckt zur Republik besonders deutlich: Zwar wandte dieser sich als Chef der Heeresleitung wiederholt an die Angehörigen der Reichswehr und warnte sie vor politischer Betätigung,443 denn eine »Reichswehr, in die der Spaltpilz der Politik eingedrungen ist, wird in der Stunde der Gefahr zerbrechen«. Als »unbedingt zuverlässiges Instrument in der Hand ihrer Führer« müsse sie jeder Revolution – »komme sie von links oder rechts« – entgegentreten und einen Bürgerkrieg verhindern.444 Auf die Frage des Reichspräsidenten Ebert aber, wo die Reichswehr denn nun stünde, antwortete ihm Seeckt: »Die Reichswehr steht hinter mir.« Gefragt, ob sie zuverlässig sei, sagte er: »Ob sie zuverlässig ist, weiß ich nicht, aber mir gehorcht sie.«445 Dieser Seeckt’sche »Attentismus«446 fühlte sich nicht der Republik, sondern ganz abstrakt dem »Reich« als einem höheren, ewigen Wesen im Sinne Hegels verbunden und sah die Republik lediglich als Durchgangsstadium zu einem autoritären Staat an, wobei offenblieb, wann und wie die erwartete neue Ordnung 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446
Zit. nach Meier-Welcker, Seeckt, S. 371. Winkler, Weimar, S. 230–232. Meier-Welcker, Seeckt, S. 415. Meier-Welcker, Seeckt, S. 414 f. Hürten, Reichswehr, S. 42 m. w. N. Hürten, Reichswehr, S. 45–48. So z. B. im Befehl des Chefs der Heeresleitung zur Zurückhaltung gegenüber politischen Bestrebungen vom 24.7.1923, abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 58–60. Aufruf des Chefs der Heeresleitung an die Reichswehr vom 4.11.1923, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 363 f. = Schüddekopf, Heer, S. 184–186. Rabenau, Seeckt, S. 341 f. Kroener, Militär, S. 19.
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errichtet werden sollte. Aber auch die »Reichsidee« spielte hier mit hinein, die seit Karl dem Großen eine sakrale, sogar heilsgeschichtliche Dimension entwickelt hatte und in der deutschen Romantik des 19. Jahrhunderts national verklärt worden war. Nach diesem Mythos war Deutschland dazu bestimmt, mehr als bloß ein Nationalstaat unter vielen zu sein.447 Jede von Seeckts Handlungen, mögen sie rückblickend noch so politisch erscheinen, waren aus seiner Sicht nichts anderes als der mehr oder weniger zwingende Dienst an der organisch gewachsenen, überzeitlichen Staatsund Reichsidee, die es durch die Wirren von Weimar zu retten galt. Eine solche Haltung gebar notwendig ein gewissermaßen kritikresistentes Sendungsbewusstsein. Pluralismus und vor allem Parteipolitik erschienen in dieser Gedankenwelt und vor dem Hintergrund der Novemberereignisse notwendig als tendenziell revolutionär und damit die organische Entwicklung des Staatswesens gefährdend. Diese abwartende, ja vielleicht besser erwartende Haltung füllte auch das geistige Vakuum, das der Untergang der Monarchie bei Seeckt und seinen Gesinnungsgenossen hinterlassen hatte.448 Vor allem aber sollte sie dem Militär zunächst einmal relative Autonomie gegenüber der parlamentarischen Staatsform,449 also der bewaffneten Macht eine politische Eigenständigkeit gewähren.450 Umgekehrt versuchte Seeckt die Armee nach Möglichkeit von der modernen Gesellschaft und der parlamentarischen Demokratie abzukapseln. Das kam nicht nur in der Weise zum Ausdruck, wie er das Innenleben der Reichswehr gestaltete (zu denken ist insbesondere an seine Personalpolitik, von der noch später die Rede sein wird), sondern auch in seinem persönlichen Verhalten gegenüber der Öffentlichkeit:451 An republikanischen Staatsakten wie dem Verfassungstag nahm er nach Möglichkeit nicht teil,452 den Reichstag mied er nach Kräften.453 Vielmehr suchte er die Truppe – allerdings auch in Abgrenzung zum rechtsrevolutionären Freikorpsgeist – ganz in den überkommenen Traditionen des Kaiserheeres zu erziehen:454 »Die Republikanisierung der Armee war unmöglich, so lange ich da war.«455 Wie er sein Leitbild vom Verhältnis des Offiziers zur Politik auch für sich selbst verstand, zeigt besonders eindrücklich der Entwurf eines Schrei447 448 449 450 451 452
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Meier-Welcker, Seeckt, S. 629; vgl. dagegen Guske, Denken, S. 91. Zum »Reichsmythos« siehe Winkler, Weg, S. 5–13, 67 f. und 524. Zur Beeinflussung Seeckts durch Hegel’sches Gedankengut siehe Guske, Denken, S. 46 f., 78, 87, 109; neuerdings auch Strohn, Army, S. 92, sowie Schäfer, Blomberg, S. 60. Müller, Beck, S. 72 f. Wohlfeil, Heer, S. 253. Schulze, Weimar, S. 113; Wohlfeil, Heer, S. 254. Wohlfeil, Heer, S. 137 f.; Mühlhausen, Seeckt, S. 253 f., der in Fn 40 daraufhinweist, dass Seeckt entgegen kolportierter Auffassung wenigstens einmal, und zwar im Jahr 1922, an der Verfassungsfeier teilgenommen habe. Georg Schöpflin (MSPD), MdR: »Es könnte Herr v. Seeckt nicht schaden, wenn er auch mal ins Parlament käme und hier hörte, wie die Dinge stehen. Aber er schneidet das Parlament mit derselben Hochmütigkeit, die wir früher in der alten kaiserlichen Armee bei den Herren erlebt haben«, Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3216. Die Chefs von Heeres- und Marineleitung waren zur Vertretung des Ministers gegenüber dem Reichstag nach § 16 Abs. 1 der Geschäftsordnung der Reichsregierung vom 3.5.1924 befugt, abgedruckt bei Akten der Reichskanzlei, Die Kabinette Marx I/II, Band 1, Nr. 105, S. 605–612. Meier-Welcker, Seeckt, S. 524–528. zit. nach Meier-Welcker, Seeckt, S. 541.
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bens an den renitenten bayerischen Generalstaatskommissar Gustav v. Kahr vom 5. November 1923, wenige Tage vor Seeckts Bevollmächtigung nach Art. 48 Abs. 2 WRV: »Die Weimarer Verfassung ist für mich an sich kein noli me tangere, ich habe sie nicht mitgemacht, und sie widerspricht in den grundlegenden Prinzipien meinem politischen Denken. Ich verstehe daher vollkommen, daß Sie ihr den Kampf angesagt haben«.456 Seeckt selbst kann also nicht als unpolitisch im eigentlichen Sinne gelten, und das galt ganz allgemein für diejenigen Offiziere (besonders im Reichswehrministerium, wie z. B. Schleicher) die man früher zum nun verbotenen Generalstab gerechnet hätte, der ja bereits in Gestalt der OHL ebenfalls durchaus politisch gedacht und gehandelt hatte.457 Seeckts Agitation gegen den »Spaltpilz der Politik« forderte also keine politische Totalenthaltsamkeit, sondern galt dem Parteienstaat von Weimar. Er duldete keinen Pluralismus in der Reichswehr und bekämpfte alle geistigen Strömungen, die seinen Vorstellungen zuwiderliefen. Andererseits verbot ihm seine Loyalität zum abstrakten Staat bei aller Abscheu gegenüber dessen parlamentarisch-republikanischer Verfassung – wie schon in den Tagen des Kapp-Lüttwitz-Putsch (»Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr«458) nun auch im Konflikt Reich/Bayern – jede »rechtsrevolutionäre« Unternehmung, die den Bestand des Reiches oder die innere Einheit der bewaffneten Macht gefährdete, was in Seeckts Vorstellungen wohl so ziemlich das Gleiche war.459 Eine persönliche Unterredung mit Hitler über die Krise in Bayern vom 11. März 1923 soll Seeckt mit den Worten zusammengefasst haben: »Im Ziele waren wir uns einig, nur der Weg war verschieden.«460 Auch wenn der Ausspruch im Wortlaut nicht verbürgt ist, so verdeutlicht er eben nicht bloß eine geistige Nähe, sondern eben auch die Distanz Seeckts zu den Nationalsozialisten und die ihm selbst auferlegten Grenzen seiner politischen Ambitionen. In diesem Zusammenhang darf auch nicht übersehen werden, dass es um die Jahreswende 1923/24 völkische und nicht kommunistische Kreise waren, die ein Attentat auf den Reaktionär Seeckt planten.461 Hier kündigte sich bereits früh der geistige Antagonismus an, der das Verhältnis von Generalstab und Nationalsozialismus kennzeichnete und im 20. Juli 1944 seinen späten Höhepunkt fand.462 456
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Schreiben Seeckts an den bayerischen Generalstaatskommissar v. Kahr vom 2.11.1923, Akten der Reichskanzlei, Kabinette Stresemann I/II, Band 2, Anhang, Nr. 4, S. 1211–1215 (1213); ebenfalls abgedruckt bei Schüddekopf, Heer, S. 186–189. Die zitierte Passage taucht allerdings nur im Entwurf, nicht in der abgesandten Fassung auf; siehe Meier-Welcker, Seeckt, S. 395 f. So schrieb Groener schon am 9.7.1919 in sein Tagebuch: »Die Offiziere müssen wieder gehorchen lernen und von der verflixten Politik die Finger lassen; Politik dürfen nur wenige treiben und diese zäh und verschwiegen – nicht nach der Art W. II. [gemeint ist Wilhelm II.]«, zit. nach Carsten, Reichswehr, S. 55. Siehe ebenda zum Verhältnis von Politik und Heeresspitze. Der genaue Wortlaut, nicht jedoch der Sinn ist umstritten. Bei Schüddekopf, Heer, S. 104, bspw. widergegeben als »Es kann doch keine Rede davon sein, daß man Reichswehr gegen Reichswehr kämpfen läßt. Truppe schießt nicht auf Truppe.« »Das Heer verkörpert, aus allen Stämmen und Ständen zusammengesetzt, sinnfällig die nationale Einheit des Staates«, Seeckt, Gedanken, S. 113. Rabenau, Seeckt, S. 348. Ausführlich Chamberlin, Attentatsplan. Hierin sah schon die Gestapo eine der geistigen Wurzeln des 20.7.1944, siehe Jacobsen, Spiegelbild, Band 1, S. 273 f. und 525 f.
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Durch sein umtriebiges Verhalten entfremdete sich Seeckt zunehmend von Geßler, zu dem er stets ein unterkühltes Verhältnis gepflegt hatte. »Mir lag seine ganze Art nicht. Er hat mich nicht gesucht, und ich bin ihm nicht nachgelaufen. So sind wir sechs Jahre nicht miteinander, nicht gegeneinander, aber nebeneinander marschiert«,463 resümierte der damalige Reichswehrminister später in seinen Memoiren. Dass der Chef der Heeresleitung es dem ältesten Sohn des früheren Kronprinzen ohne Rücksprache ermöglicht hatte, am großen Herbstmanöver des Jahres 1926 als gegen den Versailler Vertrag verstoßender Zeitfreiweilliger teilzunehmen (in der Öffentlichkeit scherzhaft »Kronprinzenaffäre«464 genannt), nahm Geßler schließlich zum willkommenen Anlass, seinem Chef der Heeresleitung den Stuhl vor die Tür zu stellen.465 In den Jahren ab 1924 traten sowohl Republik wie Reichswehr in eine Phase der Konsolidierung ein.466 Die Streitkräfte wurden als elitäre Kaderarmee ausgelegt und sollten so in die Lage versetzt werden, im Bedarfsfall ein Mehrfaches der vorhandenen Truppe zu führen.467 Auch das Verbot des deutschen Generalstabes in Art. 160 des Versailler Vertrags wurde umgangen: Er lebte im »Truppenamt« des Reichswehrministeriums fort, sein Nachwuchs wurde fortan auf »Führergehilfenlehrgängen« ausgebildet. Die personelle Aufwuchsfähigkeit wiederum sollte durch Tarnorganisationen gewährleistet werden.468 Zu diesem Zweck suchte die Reichswehrführung die Zusammenarbeit mit paramilitärischen Organisationen und Wehrverbänden, die zumeist aus der Freikorpsbewegung hervorgegangen waren.469 Die geheime materielle Aufrüstung in Kooperation mit der Sowjetunion sowie die Unterhaltung einer vom Geist der Freikorps geprägten »Schwarzen Reichswehr« zementierten die Kultur einer »zweifelhaften Rechtlichkeit«.470
c) Oberbefehl, staatsorganisationsrechtliche Stellung und Spitzengliederung der Reichswehr unter der Weimarer Reichsverfassung und dem Wehrgesetz An den vorläufigen wehrverfassungsrechtlichen Gestaltungen der Nationalversammlung hielt die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 grundsätzlich fest. Das Reich hatte nun die uneingeschränkte Gesetzgebungskompetenz für die Wehrverfassung (Art. 6 Nr. 4 WRV). Das Kontingentheer gehörte damit endgültig der Vergangenheit an, stattdessen war die Verteidigung nun alleinige Reichssache (Art. 79 S. 1 WRV); sie wurde im sechsten Abschnitt der Verfassung »Die Reichsverwal463 464
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Geßler, Reichswehrpolitik, S. 294. Die Zeitgenossen spielten dabei auf die preußische Kronprinzenaffäre von 1730/31 an, als der spätere König Friedrich II. wegen seines Fluchtversuchs in Konflikt mit seinem Vater Friedrich Wilhelm I. geraten war. Schulze, Weimar, S. 117 f.; Wohlfeil, Heer, S. 283 f. Kroener, Militär, S. 20. Schulze, Weimar, S. 116. Dietz, Primat, S. 225–227. Wohlfeil, Heer, S. 261. Schulze, Weimar, S. 116.
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tung« als ein gewöhnlicher Teil davon neben anderen Ressorts genannt – ganz anders als noch im exklusiven neunten Abschnitt der Reichsverfassung von 1871 über das »Reichskriegswesen«. Auch hier zeigte sich also eine Tendenz, von der (extra-)konstitutionellen Sonderstellung des Militärs in der Bismarckmonarchie abzurücken. Sogar der Vertreter des preußischen Kriegsministeriums im Verfassungsausschuss, Oberst Johannes Waitz, war der Ansicht: »Die Erfahrungen, insbesondere auch die des letzten Krieges, haben gezeigt, daß die politische und militärische Leitung des Reichs in einer Hand liegen muß.« Damit hatte sich Waitz vor allem gegen einen Antrag des DVP-Abgeordneten Rudolf Heinze gewandt, der dem Reichspräsidenten lediglich das Recht hatte einräumen wollen, einen militärischen Oberbefehlshaber zu ernennen, ohne darüber hinaus Einfluss nehmen zu können.471 Eine derartige Lösung wäre aber einer Absage an das Primat der Zivilpolitik gleichgekommen. Die Nationalversammlung hingegen teilte das Bedürfnis nach einheitlicher Führung und hatte geglaubt, ihm dadurch genügen zu können, indem Art. 47 WRV dem Reichspräsidenten »den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht des Reiches« übertrug. Die unbeschränkte, reichsweite Befehls- und Kommandogewalt – insbesondere auch über die Truppe in Bayern – war damit (anders als zuvor beim Kaiser) nicht mehr auf Zeiten des Krieges beschränkt. Zwar befand sich das Reich erst mit dem formellen Inkrafttreten des Versailler Vertrages am 10. Januar 1920 im Frieden,472 so dass auch schon in der zwischenkonstitutionellen Zeit der Oberbefehl beim Reich gebündelt geblieben war.473 Ein Wiederaufleben der vorherigen Militärkonventionen und damit des bayerischen Oberbefehls über bayerische Truppen in Friedenszeiten war aber insbesondere durch Art. 47 WRV endgültig ausgeschlossen.474 Auch hierin lag eine starke »Verreichlichung« des Heeres. Die neue Verfassung (Art. 79 S. 2 WRV) wie auch das Wehrgesetz (§§ 12–17 WG) sahen jetzt der »Weimarer Vereinbarung« gemäß nur noch Regelungen vor, die in erster Linie den eigenständigen Militärtraditionen der früheren Kontingentstaaten Rechnung tragen sollten.475 Organisationsrechtlich entschied sich dieser »Kompromiss« allerdings eindeutig für die Unitarisierung der Militärhoheit,476 obschon die landsmannschaftlichen Bestimmungen des Wehrgesetzes noch einmal Zündstoff für den im Jahr 1923 schwelenden Konflikt zwischen Reich und Bayern bargen, da sie in Anbetracht der Heeresverminderung nur dort zu einer geschlossenen 7. (Bayerischen) Division unter dem Kommando eines eigenen Landeskommandanten führten.477 Mit der Oberbefehlsstellung des Reichspräsidenten allein war das Primat der Zivilpolitik allerdings noch nicht hinreichend gesichert: Schließlich hatte schon der 471 472
473 474 475 476 477
Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 284. Bekanntmachung, betreffend die Errichtung des ersten Protokolls über die Niederlegung von Ratifikationsurkunden zu dem Friedensvertrage zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 11.1.1920, RGBl. 1920 S. 31. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 582. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 594. Die Weimarer Vereinbarung ist wiedergegeben bei Akten der Reichskanzlei, Kabinett Scheidemann, Nr. 106, S. 439–443, verkürzt bei Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 27–29. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 596. § 12 Abs. 2 und § 14 Abs. 1 S. 2 WG.
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Kaiser in vergleichbarer Weise die politische und militärische Doppelspitze markiert.478 Das eigentlich Fatale an der Spitzengliederung des Bismarckreiches war vielmehr das Nebeneinander von Reichsregierung und OHL unterhalb des Kaisers gewesen. Dem sollte Art. 50 WRV begegnen, wonach alle »Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten, auch solche auf dem Gebiete der Wehrmacht, […] zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister« bedurften. Bemerkenswert ist, dass der Reichswehrminister an dieser Stelle implizit vorausgesetzt, aber an keiner Stelle der WRV ausdrücklich erwähnt wurde. Während der Beratungen im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung war es zu keiner besonderen Erörterung über die Stellung des Reichswehrministers gekommen. Er sollte somit ein Minister wie jeder andere sein.479 Durch die Gegenzeichnung übernahm der zuständige Reichswehrminister die Verantwortung gegenüber dem Parlament (Art. 50 i.V.m. 56 WRV).480 Trug der Reichskanzler also nicht im Wege seiner Richtlinienkompetenz die Verantwortung, so blieb sie auf dem Gebiet des Militärwesens allein beim Reichswehrminister. Für eine konkrete Befehlsgewalt des Reichspräsidenten war nach alledem kein Raum; vielmehr blieb seine Stellung auf die eines repräsentativen Obersten Befehlshabers reduziert.481 Folgerichtig setzte Reichspräsident Ebert diese Verfassungslage nur neun Tage nach Inkrafttreten der WRV am 20. August 1919 durch die »Verordnung, betreffend die Übertragung des Oberbefehls über die Wehrmacht des Deutschen Reiches auf den Reichswehrminister«482 um: Die Reichsregierung übernahm »von nun an allein« die »Verantwortung für militärische Maßnahmen und Ausgaben« gegenüber dem Reichstag. Durch Erlass über die »Vorläufige Regelung der Befehlsbefugnisse und Arbeitsgebiete der obersten Kommandostellen in der Reichswehr« vom 1. Oktober 1919 unterstrich Noske für den unterstellten Bereich seine Vorgesetztenstellung und dabei insbesondere die Unterordnung der Chefs von Heeresleitung und Admiralität.483 Er bestätigte diese Regelung durch Erlass vom 8. November 1919: »Dem Reichswehrminister nachgeordnet sind der Chef der Heeresleitung und der Chef der Admiralität.«484 All dies bedeutete drei wesentliche Neuerungen gegenüber der Verfassungssituation des Kaiserreichs: Erstens waren aufgrund von Art. 47, 50 WRV (später i.V.m. § 8 Abs. 2 S. 1 und 2 WG) der Reichspräsident und Reichswehrminister als Zivilpolitiker erstmals militärische Vorgesetzte. Im Kaiserreich war die Befehlsgewalt hingegen ausschließlich Militärs und der Krone vorbehalten gewesen.485 Eine Doppelfunktion von Staatsoberhaupt und Oberstem Kriegsherrn sollte in der Republik aber nach dem Willen der 478
479 480 481 482 483 484 485
Das erkannte auch der Vertreter des preußischen Kriegsministeriums im Verfassungsausschuss, Oberst Johannes Waitz, ohne daraus jedoch weitere Konsequenzen zu ziehen, Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 285. Schmädeke, Kommandogewalt, S. 54. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 50 Anm. 1. Schmädeke, Kommandogewalt, S. 55; Hüsing, Wehrverfassung, S. 43. RGBl. 1919 S. 1475. Wiedergegeben bei Schmädeke, Kommandogewalt, S. 199 f. HVBl. 1919, S. 345 f. Dietz, Primat, S. 254.
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Nationalversammlung vermieden werden486 – eine Tendenz also, das Militär als gewöhnlichen Teil der Exekutive und bloßes Mittel der (Zivil-)Politik zu behandeln.487 Zweitens sollte der Reichswehrminister in Anbetracht der Gegenzeichnungspflicht der eigentliche Oberbefehlshaber sein, schließlich verfügte er auch (und nicht der Reichspräsident) über einen militärischen Kommandostab in seinem Ministerium.488 In dieser Funktion war er – anders als die früheren Kriegsminister der Länder, geschweige denn der Generalstab – dem Reichstag in allen Fragen des Militärs verantwortlich.489 Drittens aber kam dem Militär durch die unmittelbare präsidiale Unterstellung nach Art. 47 WRV – in gewisser Hinsicht in Fortführung des Ebert-Groener-Bündnisses – wiederum als einzigem Teil der Exekutive eine Sonderstellung zu.490 Das daher notwendig besondere Kooperationsverhältnis zwischen Reichspräsident und Reichswehrminister äußerte sich insbesondere in einer beispiellosen Kontinuität: So hatten während der gesamten Zeit der Republik über zwanzig Reichsregierungen hinweg nur vier verschiedene Männer das Amt des Reichswehrministers inne (Noske, Geßler, Groener, Schleicher). Insbesondere Hindenburg protegierte das Reichswehrministerium besonders und nahm hier entgegen Art. 53 WRV, der das Vorschlagsrecht dem Reichskanzler zusprach, maßgeblichen Einfluss auf die Besetzung des Ministerpostens.491 Die staatsorganisationsrechtliche Ausgangslage war damit Ausdruck des heterogenen Charakters der Weimarer Reichsverfassung und zugleich des vorherrschenden politischen Zeitgeistes, der sich nicht recht zwischen konstitutioneller Monarchie und parlamentarisch-demokratischer Republik entscheiden konnte. So stellte schon der »Vater der Reichsverfassung«, Hugo Preuß (DDP), am 24. Februar 1919 bei der Begründung der Vorlage des Verfassungsentwurfes mit Bedauern fest: »Der organisatorische Grundgedanke konnte nicht in klarer Einheitlichkeit restlos durchgeführt werden, er hat Abbiegungen, Ausnahmen erleben müssen, er weist jetzt eine etwas gebrochene Linienführung auf. […] Wo aber Brechungen, Ausnahmen, Dinge, die uns auch nicht gefallen, darin enthalten sind, sind sie ohne Ausnahme Erbschaften aus der früheren Verfassung des Kaiserreichs, die Rechte der Einzelstaaten, die Reservatrechte usw.« 492
Diese ursprüngliche Gestaltung des Oberbefehls wurde aber seit dem Rücktritt Noskes in der auf den Kapp-Lüttwitz-Putsch folgenden »Ära Seeckt« in zweierlei Weise weiter nachhaltig ausgehöhlt. So erreichte Seeckt zunächst bereits am 11. August 1920 vom nachfolgenden Reichswehrminister Geßler eine Verordnung »zur Regelung der Befehlsbefugnisse im Reichsheer«,493 die ihm als Chef der Heeresleitung die Komman486 487 488
489 490 491 492 493
Protokolle des Verfassungsausschusses, Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 284; Hüsing, Wehrverfassung, S. 16; zur »Doppelfunktion« des Monarchen siehe Blenk, Kommandogewalt, S. 8 f. Siehe auch die kontroverse Diskussion, die sich hierüber noch auf der Staatsrechtslehrertagung des Jahres 1967 entspann im Anschluss an das Impulsreferat von Unruh, Führung, S. 167–173. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 320. Unverständlich ist daher Hubers Bewertung, dass der Reichspräsident nach der WRV nicht nur nomineller, sondern auch effektiver Oberbefehlshaber sein sollte, ebenda S. 610 f. Schmädeke, Kommandogewalt, S. 59. Dietz, Primat, S. 213. Gusy, Reichsverfassung, S. 184; Hürter, Groener, S. 49 f. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 284. HVBl. 1920 S. 841–848, abgedruckt in Auszügen bei Schmädeke, Kommandogewalt, S. 204.
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dogewalt vertretungshalber übertrug.494 Die Verantwortlichkeit des Reichswehrministers degenerierte so zu einem parlamentarischen »Kugelfang« 495 (Geßler) oder – in den Worten Scheidemanns – zu einem »parlamentarischen Kleidungsstück für einen unverantwortlichen General«.496 In seinen Memoiren vertrat Geßler die bezeichnende Ansicht, »daß die Befehlsgewalt des Reichswehrministers zu den Fiktionen der Weimarer Verfassung gehörte«. Er habe sich deshalb »von Anfang an sorgsam gehütet, eine militärische Rolle spielen zu wollen.« Vielmehr betrachtete er sich »als den ehrlichen Mittler zwischen der sich neu bildenden Staatsgewalt und der Wehrmacht«.497 Hier wird deutlich, dass der Vernunftrepublikaner und Herzensmonarchist Geßler die Zeichen der Zeit nicht zu lesen vermochte.498 Ganz der Wehrverfassung des Wilhelminismus verhaftet, waren zivile Exekutivgewalt und Wehrmacht für ihn zwei paar Schuhe. Das von der Weimarer Reichsverfassung ursprünglich intendierte Verhältnis von Regierung und Militär, also vor allem das Primat der Zivilpolitik, ignorierte, besser vielleicht: verkannte er damit schlicht. Entsprechend führte er sein Amt auch mehr wie die früheren Kriegsminister des alten Kontingentheeres, die sich auf bloße Verwaltungsangelegenheiten hatten beschränken müssen, während die eigentliche Militärpolitik von Kaiser und Generalstab bestimmt worden war. Durch Umstrukturierungen des Reichswehrministeriums unter Kastration des dem Minister zur Verfügung stehenden Apparates gelang es Seeckt dann zunehmend, eben jene militärische Machtkonzentration wiedererstehen zu lassen, die der Versailler Vertrag in Gestalt des Generalstabes eigentlich verboten hatte.499 Schon am 27. Januar 1921 kritisierte Georg Schöpflin (MSPD) im Reichstag: »Ich erachte die jetzige Organisation der Reichswehr an der Spitze für äußerst gefährlich. Die Spitze sieht ja jetzt so aus, daß der Herr Reichswehrminister neben dem Chef der Heeresleitung und der Marineleitung die Spitze ist. Das ist eigentlich der alte Zustand mit neuem Namen: früher der Kriegsminister als reiner Verwaltungsmilitär, dann der große Generalstab, das Militär- und das Marinekabinett. […] Heute nun steht die Situation so: beim Herrn Reichswehrminister ein Chef rechts, ein Chef links, und in der Mitte, so gleichsam von zwei kräftigen Soldatenfäusten gepackt, zappelt der Herr Reichswehrminister als parlamentarischer Prügelknabe. […] Gewiß, Friedrich Schiller meint: Wo das Strenge mit dem Zarten, wo Starkes sich und Mildes paarten, da gibt es einen guten Klang. Ich kann aber nicht behaupten, daß der Klang in der Bendlerstraße, wo das Starke mit dem Milden, wo Seeckt sich mit Geßler paart, der Klang ein allzu guter wäre.«500
Ihren Höhepunkt fanden Seeckts Bestrebungen in der endgültigen Fassung des § 8 Abs. 2 des Wehrgesetzes vom 23. März 1921. Dessen ursprünglicher Entwurf – noch unter Noske entstanden und später von Geßler zurückgezogen501 – lautete: 494 495 496 497 498 499 500 501
Andererseits geht diese Verordnung davon aus, dass der »Chef der Heeresleitung … dem Reichswehrminister unmittelbar unterstellt« ist. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 137. Verhandlungen des Reichstags, Band 345, S. 810. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 132. Zur Haltung Geßlers zur Republik siehe Möllers, Geßler, S. 373 f., der noch nicht einmal die Charakterisierung als Vernunftrepublikaner gelten lassen will. Überzeugend hierzu Schmädeke, Kommandogewalt, S. 94–101; ebenso Carsten, Reichswehr, S. 124 f.; eher wohlwollend gegenüber Seeckt dagegen Meier-Welcker, Stellung, S. 158–160. Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2193 und 2196. Niederschriften über die Verhandlungen des Reichsrats, Jahrgang 1920, 51/24.6.1920, § 633, S. 834.
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I. Entstehung der Weimarer Wehrverfassung »An der Spitze des Reichsheers steht ein General als Chef der Heeresleitung, an der Spitze der Reichsmarine ein Admiral als Chef der Admiralität. Beide sind dem Reichswehrminister als ihrem Vorgesetzten unterstellt.«502
Wesentlich ist hier die Betonung der Unterordnung der Chefs von Heeresleitung und Admiralität unter den Reichswehrminister als »militärischen Vorgesetzten« auch dann, »wenn er nicht dem Soldatenstande angehört«, wie die beigefügte Begründung (S. 20 f.) es ausführt; »Für den Reichspräsidenten folgt dies bereits aus Art. 47 der Reichsverfassung«. Dezidiert anders lautete die spätere Formulierung des § 8 Abs. 2 WG hingegen, die auf einen früheren Entwurf des Reichswehrministeriums unter Seeckt/Geßler vom 3. Juli 1920 zurückgeht:503 »Der Reichspräsident ist oberster Befehlshaber der gesamten Wehrmacht. Unter ihm übt der Reichswehrminister Befehlsgewalt über die gesamte Wehrmacht aus. An der Spitze des Reichsheeres steht ein General als Chef der Heeresleitung, an der Spitze der Reichsmarine ein Admiral als Chef der Marineleitung.«
Die Regelung ist nur auf den ersten Blick ähnlich. In Wahrheit nämlich subordinierte sie den Reichswehrminister – in Abkehr von der Verfassungslage – dem Reichspräsidenten und betonte zugleich dessen Stellung als »oberster Befehlshaber«. Die Unterordnung der beiden »Chefs« unter den Reichswehrminister tauchte hingegen nicht mehr auf; diese standen fortan vielmehr »in einer zunächst merkwürdig bindungslos anmutenden Form als dritte Kraft neben dem Reichspräsidenten und dem Reichswehrminister, die einander klar zugeordnet sind«.504 Reichspräsident Ebert, der zu Seeckt ein vertrauensvolles Verhältnis pflegte, hatte gegenüber Geßler auf seinen verfassungsrechtlich garantierten Oberbefehl gepocht und darauf bestanden, dass er im Wehrgesetz wiederholt würde. Von ihm war also die Initiative zu dieser eigenwilligen Lösung ausgegangen.505 Folgerichtig betonte der angesehene Wehrgesetzkommentar506 des Geheimen Kriegs- und Ministerialrates Paul Semler, der an der Schöpfung des Wehrgesetzes als Justitiar des Reichswehrministeriums maßgeblich beteiligt gewesen war, dass der Reichspräsident damit »die Verfügung über die gesamten militärischen Machtmittel des Reiches« hatte. »Seinen Befehlen haben daher alle militärischen Dienststellen unbedingt Folge zu leisten. Das gilt an sich auch für den Reichswehrminister, der ihm nach Abs. 2 Satz 2 militärisch unterstellt ist.«507 Der sich aufdrängende Konflikt mit der Gegenzeichnungspflicht des Reichspräsidenten nach Art. 50 WRV musste 502 503 504 505 506 507
Entwurf des Reichswehrgesetzes nebst Begründung vom 28.2.1920, Drucksachen zu den Verhandlungen des Reichsrats, Jahrgang 1920, Nr. 53. § 2 Abs. 2 des Entwurfs eines Wehrgesetzes vom 3.7.1920, Drucksachen zu den Verhandlungen des Reichsrats, Jahrgang 1920, Nr. 211 vom 3.7.1920. Siehe auch Schmädeke, Kommandogewalt, S. 102 f. Schmädeke, Kommandogewalt, S. 104. Mühlhausen, Ebert, S. 398. »der führende Kommentar des Reichswehrgesetzes«, Paffrath, Reichswehrsoldat, S. 66. Siehe auch die Anpreisung im HVBl. 1921 S. 456. Semler, WG-Kommentar, S. 28 f.; ganz anders sieht dies etwa an entsprechender Stelle Rittau, WG-Kommentar, S. 44: »Dadurch, daß der Reichswehrminister unter dem Reichspräsidenten den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht ausübt, wird aber ein militärisches Untergebenenverhältnis des Ministers mit der daraus folgenden Gehorsamspflicht nicht begründet«.
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nach Semler »auf verfassungsmäßigem Wege gelöst werden« – ohne dass er eine solche Lösung anbot.508 Immer wieder betonte Semler, dass der Reichspräsident »in allen Angelegenheiten der militärischen Befehlsgewalt in letzter Instanz zuständig« ist. »Dies gilt jedoch nicht für Verwaltungsangelegenheiten. Hier ist der Reichswehrminister nach Artikel 56 Satz 2 [W]RV die letzte Instanz.« Die nach der Bismarck’schen Reichsverfassung in der Praxis ohnehin schwierige Unterscheidung zwischen kontrasignaturlosen Kommandosachen und gegenzeichnungspflichtigen Verwaltungsangelegenheiten wollte schon § 9 Abs. 1 GvRG in der konstitutionellen Zwischenphase beseitigen, ohne dass aber Art. 50 WRV letztlich hieran etwas änderte.509 Die Absicht der Erläuterungen Semlers ist klar: Die repräsentative Funktion des Reichspräsidenten wurde zu einer materiellen Oberbefehlshaberstellung ohne parlamentarische Kontrolle aufgebohrt. Zudem wurde mit der ministeriellen Zuständigkeit zugleich die parlamentarische Kontrolle – wie schon im Kaiserreich – auf Angelegenheiten der Verwaltung zurückgedrängt. In Kommandosachen sollten die Chefs dem Reichswehrminister damit mehr oder weniger gleichgeordnet werden, jedoch eben ohne parlamentarische Verantwortlichkeit.510 Erstaunlicherweise hat die maßgeblich von Seeckt organisierte Spitzengliederung der Reichswehr im Reichstag keinen Widerspruch erfahren. Das aber lässt sich nicht auf einen Mangel an Material zurückführen: Die wesentlichen Dokumente waren den Reichstagsabgeordneten ohne Weiteres zugänglich, so dass eigentlich nur ein Mangel an Sachkenntnis oder Interesse in Betracht kommen. Die Angriffe, die Scheidemann aus der MSPD-Opposition heraus Ende Oktober 1920 gegen die Reichswehrpolitik der neuen Mitte-Rechts-Regierung führte, konzentrierten sich auf Probleme, die für die Demokratisierung der Streitkräfte gewiss nicht völlig unerheblich waren, wie den Personalersatz, die Beteiligungsrechte und die politischen Freiheiten der Soldaten.511 Diese Fragen waren aber alle sekundär gegenüber dem Kernproblem, das der Sozialdemokrat nicht als solches identifizierte: So wäre nämlich die Beseitigung der Seeckt’schen Machtposition die wesentliche Bedingung gewesen, um den Weg zu einer echt republikanischen Armee freizumachen.512 Änderungen an Seeckts Konstruktion brachte erst das Jahr 1926. Hindenburg, der alte kaiserliche Generalfeldmarschall, war im Vorjahr dem im Amt verstorbenen Zivilisten Ebert als Reichspräsident gefolgt.513 Noch am Tage seines Amtsantrittes 508
509 510 511 512 513
a.A. auch hier Rittau, WG-Kommentar, S. 44: »Freilich war die Möglichkeit für den Kaiser der alten Reichsverfassung, verfassungswidrig kontrasignaturlose Armeebefehle zu erteilen, insofern eine viel größere, als er sich dadurch nicht einer Anklage wegen Verfassungsverletzung aussetzte wie der Reichspräsident (Art. 59 [W]RV). Da dieser mithin ohne Gegenzeichnung nicht einmal Exerzierkommandos erteilen kann, … wird in der Tat die eigentliche Truppenführung stets einem Offizier zu überlassen sein.« Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 594. Zur Rechtslage unter der RV 1871 siehe Laband, Staatsrecht, Band 4, S. 35–37; siehe auch Marschall v. Bieberstein, Reichsminister, S. 531. Schmädeke, Kommandogewalt, S. 105 f. Verhandlungen des Reichstags, Band 345, S. 803–813. Ausführlich Schmädeke, Kommandogewalt, S. 146–153. Craig, Armee, S. 456.
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hatte er in seinem Aufruf »An die Wehrmacht«514 keine Zweifel daran aufkommen lassen, dass er seine Stellung als Oberbefehlshaber nicht lediglich als formell verstand.515 Eine neuerliche Verordnung über die »Befehlsbefugnisse im Reichsheer« vom 28. Januar 1926516 beschränkte die verantwortliche Beratungsfunktion des Chefs der Heeresleitung gegenüber dem Reichswehrminister von ehemals »allen Gebieten« auf die »militärischen Angelegenheiten des Heeres« und beseitigte zudem stillschweigend die bisher uneingeschränkte Übertragung der Kommandogewalt.517 Die strukturelle Schwächung des Chefs der Heeresleitung wurde nach dem Fortgang Seeckts durch die Neubesetzung mit dem blassen General d. Inf. Wilhelm Heye personell bestätigt. Seeckts frühere Machtstellung als Chef der Heeresleitung nahm fortan zunehmend Generalmajor Kurt v. Schleicher ein, der ab 1926 zunächst als Chef des neuen Wehrmachtabteilung und dann ab 1929 als Chef des für ihn geschaffenen Ministeramtes wesentliche Kompetenzen an sich ziehen konnte. Dies galt umso mehr, als mit Wilhelm Groener 1928 ein Militär die Nachfolge Geßlers als Reichswehrminister antrat, der Schleicher als engsten Vertrauten schätzte.518 Freilich änderten diese Vorgänge nichts an der durch § 8 WG vorgesehenen Unterordnung des Reichswehrministers unter den Reichspräsidenten unter Ausschaltung der parlamentarischen Kontrolle in Kommandoangelegenheiten. Vielmehr hob der neue Erlass über die Befehlsbefugnisse in enger sprachlicher Anlehnung an § 8 WG diese Unterordnung mehr denn je hervor. In der Tradition des lediglich militärverwaltungstechnisch verantwortlichen preußischen Kriegsministers stellte ein Gutachten der Rechtsabteilung des Reichswehrministeriums vom 12. April 1928 (wenige Monate nach Groeners Amtsantritt) fest, die staatsorganisationsrechtliche Stellung des Ministers sei »eine verschiedene, je nachdem es sich um seine Stellung als Reichminister und Mitglied der aus dem Reichskanzler und den Reichsministern gebildeten Reichsregierung – Art. 52 [W]RV – oder um seine Stellung als Inhaber der Befehlsgewalt über die gesamte Wehrmacht handelt«.519 Aus dieser Schizophrenie folgert das Gutachten – ganz im Sinne der Semler’schen Interpretation von § 8 Wehrgesetz – weiter, »daß der Reichspräsident in rein militärischen Dingen auf dem Gebiete der Kommandogewalt dem Reichsminister als Vorgesetzter gegenübersteht«. In Anbetracht des sich aus dieser Interpretation ergebenden offenen Konflikts mit der ministeriellen Gegenzeichnungspflicht nach Art. 50 WRV schließt das Gutachten: »Es handelt sich also um ein Vorgesetztenverhältnis, bei dem der Untergebene die erteilten Befehle nicht nur nachzuprüfen hat, sondern bei dem auch die Wirksamkeit des Befehls von dem Willen des Untergebenen abhängt und bei dem für die Folgen des Befehls nicht der Befehlende sondern der Befehlsempfänger verantwortlich ist.« Dieser Interpretation des Reichswehrministers als staatsorganisationsrechtlicher Zwitter, also als parlamentarisch verantwortlicher Verwaltungsminister, in Komman514 515 516 517 518 519
HVBl. 1925 S. 43. Schmädeke, Kommandogewalt, S. 113; Wohlfeil, Heer, S. 113 f. HVBl. 1926 S. 9; abgedruckt bei Schmädeke, Kommandogewalt, S. 210. Wohlfeil, Heer, S. 126 f. Schmädeke, Kommandogewalt, S. 181 f. Zitiert nach Schmädeke, Kommandogewalt, S. 116.
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dosachen aber allein dem Reichspräsidenten Untergebener, schlossen sich führende Staatsrechtswissenschaftler der Zeit an.520 Umstritten war in diesem Zusammenhang auch, ob kontrasignaturlose und damit gegen Art. 50 WRV verstoßende Befehle des Reichspräsidenten Verbindlichkeit entfalten konnten. Angesichts des klaren Wortlauts (»bedürfen zur ihrer Gültigkeit«) konnte man bei fehlender Gegenzeichnung eigentlich nur von Ungültigkeit im Sinne von Nichtigkeit ausgehen, so dass sich die Frage nach der Verbindlichkeit eigentlich nicht stellen konnte.521 Der angesehene Anschütz-Kommentar vertrat zu Art. 50 WRV jedoch ganz allgemein die Auffassung, »Gültigkeit« bedeute so viel wie Vollziehbarkeit. Die formelle Gegenzeichnung sei dabei lediglich deklaratorisch, nicht konstitutiv zu verstehen. Zur Vollziehbarkeit und ministeriellen Verantwortlichkeit genüge bereits die stillschweigende Billigung des jeweiligen Ministers.522 Nach einer nicht unbeachtlichen zeitgenössischen Auffassung war aber in Hinblick auf die Reichswehr die »Fehlerhaftigkeit nicht gegengezeichneter Anordnungen oder Verfügungen des Reichspräsidenten […] bedeutungslos, da nach wie vor das ›Sonderrecht‹ für die Wehrmacht gilt, daß für irgendwelche Nachprüfung kein Raum bleibt, wenn ein Vorgesetzter innerhalb des dienstlichen Bereichs etwas befohlen hat, demnach ein Befehl […] unbeschadet seiner staatsrechtlichen Fehlerhaftigkeit verbindlich ist.«523 Die Übertragung der anerkannten, tradierten, jedoch auf einfachem Gesetz basierenden Lehre von der Verbindlichkeit des Befehls524 auf die Kommandogewalt des Reichspräsidenten ermöglichte so eine Aushöhlung der verfassungsrechtlich durch Art. 50 WRV vorgesehenen parlamentarischen Kontrolle. Vom etablierten System der »checks and balances« sollte die Reichswehr also nach dieser Interpretation möglichst ausgenommen werden. Eine weitere Besonderheit des Reichswehrministeriums bestand darin, dass es als einziges Ressort nicht über einen zivilen Staatssekretär verfügte, der zur Vertretung des Ministers in der Gesamtheit seiner Zuständigkeiten befugt war.525 Den insgesamt drei Anläufen, ein solches Amt einzurichten, war aus unterschiedlichen Gründen 520
521 522 523
524 525
Für eine Sonderstellung argumentieren im Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 1, hgg. von Gerhard Anschütz und Richard Thoma, Tübingen 1930: Pohl, Zuständigkeiten, S. 497 f.; Poetzsch-Heffter, Organisation, S. 517 f.; dagegen argumentiert im selben Band: Thoma, Ordnung, S. 508 f. So sahen es Blenk, Kommandogewalt, S. 17 f., 27; Arndt, WRV-Kommentar, Art. 50 Anm. 1; PoetzschHeffter, WRV-Kommentar, Art. 50 Anm. 4; Liepmann, Aufgaben, S. 6, Fn. 3. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 50 Anm. 1; entsprechend Koenigsbeck, Oberbefehl, S. 58. Rittau, WG-Kommentar, S. 43 f.; ihm schließt sich an Helfritz, Besprechung, S. 367. Dagegen wendet sich mit scharfer Kritik Liepmann, Aufgaben, S. 6, Fn. 3: »Das ist unrichtig und in einem für die Praxis bestimmten Nachschlagewerk bedenklich. Ungültige Anordnungen darf und durfte der Soldat nie befolgen. Strafrechtlich genoß er wohl für Ausführung aller Anordnungen des Kaisers, als des höchsten militärischen Vorgesetzten, den Schutz des § 47 MilStrGB., weil jene ihm gegenüber ›Befehle in Dienstsachen‹ waren. […] Diesen mit dem parlamentarischen Prinzip unvereinbaren Zustand hat Art. 50 [W]RV. bewußt […] beseitigt. […] Die auf die Wehrmacht bezüglichen Bestimmungen der [W]RV. sind Gegenstand ständiger Instruktion derselben und nicht ›bedeutungslos‹.« Siehe § 47 S. 2 Nr. 2 MStGB, dazu weiter unten bei Kapitel IV.4. Zur Vertretung der Minister durch Staatssekretäre siehe §§ 16 und 30 der Geschäftsordnung der Reichsregierung vom 3.5.1924, abgedruckt bei Akten der Reichskanzlei, Die Kabinette Marx I/II, Band 1, Nr. 105, S. 605–612.
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kein Erfolg beschieden.526 Zunächst einmal hätte die Einrichtung eines parlamentarischen Staatssekretärs nahegelegen, hatte es doch als Errungenschaft der Revolution vom November 1918 einen parlamentarischen Unterstaatssekretär im preußischen Kriegsministerium gegeben, bis dieses zum 1. Oktober 1919 endgültig aufgelöst worden war.527 Doch bereits Noske wollte in seinem Hause niemanden dulden, der als sein politischer Vertreter die ministerielle Machtposition hätte einschränken können. Zwar wurde der parlamentarische Unterstaatssekretär Albert Grzesinski zunächst formell ins Reichswehrministerium übernommen, jedoch bereits am 16. November 1919 auf den Posten des Leiters des Reichsabwicklungsamtes (zur Verwertung des ehemaligen Heeresguts) abgeschoben.528 Nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch wurde im Reichswehrministerium unter Geßlers Leitung dann ein parlamentarischer Unterstaatssekretär kommissarisch eingeführt,529 der später noch zu einem parlamentarischen Staatssekretär aufgewertet wurde. Dieses Amt bekleidete der Mehrheitssozialdemokrat Christian Stock,530 ihn beschränkte Geßler jedoch alsbald auf die Untersuchung des Putschversuchs und schloss ihn von der politischen Leitung des Ministeriums aus. Schon am 1. September 1920 schied Stock ersatzlos aus dem Amt, ohne eine bedeutende Wirkung entfaltet zu haben.531 Spätere Versuche der Sozialdemokraten, in den Jahren 1926 bis 1929 nach Seeckts Abgang den parlamentarischen Staatssekretär wiederzubeleben, scheiterten an den politischen Mehrheitsverhältnissen sowie am Widerstand insbesondere Schleichers, der in dem für ihn 1929 neugeschaffenen Ministeramt so viele Kompetenzen bündelte, dass er zu einem de-facto-Staatssekretär aufstieg.532 Die Bemühungen der SPD führten lediglich dazu, dass ab 1927 die bisher fiktiv aufrechterhaltene Position eines Staatssekretärs im Reichswehrministerium im Reichshaushalt nicht mehr auftauchte.533 Die Idee eines militärischen Staatssekretärs im Sinne eines Vertreters des Reichswehrministers in Ausübung des Oberbefehls brachte Seeckt im Januar 1920 bei Noske an. In Fortsetzung des alten Dualismus sollten die Verwaltungsangelegenheiten bei einem dem Minister unterstellten »Unterstaatssekretär des Heeres« angesiedelt sein, der auch als ministerieller Berater vertretungshalber in Kabinett und Reichstag hätte erscheinen können. Die Zuständigkeit für sämtliche Kommandosachen sollte 526 527
528 529 530 531 532 533
Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 614 f. Die parlamentarischen Unterstaatssekretäre waren die Mehrheitssozialisten Paul Göhre (November 1918 bis Juni 1919) und Albert Grzesinski (vom 16.6. bis 1.10.1919). Zur Ernennung Grzesinskis siehe Akten der Reichskanzlei, Kabinett Scheidemann, Nr. 112, S. 468. Zur Auflösung siehe die Verordnung des Reichspräsidenten betreffend die Übertragung des Oberbefehls über die Wehrmacht des Deutschen Reichs auf den Reichswehrminister vom 20.8.1919, RGBl. 1919 S. 1475. Zur Umsetzung siehe den Erlass des Reichswehrministers über die Auflösung der Kriegsministerien (Reichswehr-Befehlsstellen), der Generalkommandos, Auflösungsstäbe, Abwickelungsstellen usw. des alten Heeres vom 14.9.1919, HVBl. 1919, S. 107. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 615, Fn. 13. Erlass des Reichswehrministers vom 20.4.1920, MVBl. 1920 S. 185. Die handschriftliche Ernennungsverfügung des Reichskanzlers Müller, Rk. 4287/20., vom 16.4.1920, findet sich bei BArch R 43-I/953, fol. 3. Schmädeke, Kommandogewalt, S. 166–169. Siehe den entsprechenden Kabinettsbeschluss vom 27.2.1929, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Müller II, Band 1, Nr. 137, S. 453 f. Siehe hierzu auch Kapitel VIII.1. Schmädeke, Kommandogewalt, S. 176–184.
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dagegen ein dem Minister verantwortlicher »Kommandierender General der Reichswehr« erhalten. Abgesehen davon, dass wohl weder der Reichspräsident noch der Minister bereit gewesen wären, einen General mit einer solchen Machtfülle auszustatten, führten der Kapp-Lüttwitz-Putsch und der darauffolgende Weggang Noskes dazu, dass Seeckt, nunmehr selbst zum Chef der Heeresleitung aufgestiegen, diesen Teil seines Plans nicht weiter verfolgte.534 In der Folge wurde lediglich und auch nur vorübergehend das Amt eines Staatssekretärs eingerichtet, der ohne Vertretungsbefugnis des Ministers gegenüber Kabinett und Parlament nur für die Heeresverwaltung zuständig war, dabei allerdings unmittelbar dem Hausherrn unterstand und somit den Chefs von Heeres- und Marineleitung gleichgeordnet war. Dieses in den Entwürfen zunächst in Anlehnung an die entsprechende Funktion in der OHL als »Generalquartiermeister«,535 endgültig jedoch als »Chef der Heeresverwaltung« bezeichnete Amt erhielt Generalmajor Hans v. Feldmann, der etatmäßig auf der ausgewiesenen Staatssekretärsstelle geführt und besoldet wurde.536 Unter anderem weil die Marineleitung dagegen die Kompetenz für ihre Verwaltungsangelegenheiten behielt, war die Kollision mit Seeckt vorprogrammiert. Bereits im Herbst 1922 erreichte er, dass v. Feldmann den Abschied erhielt und seine Funktion einem Verwaltungsamt übertragen wurde, das dem Chef der Heeresleitung unterstand und von einem Militärbeamten geleitet wurde.537 Hierbei dürfte ihm die Unterstützung des Chefs der Marineleitung, Admiral Paul Behncke, gewiss gewesen sein, hatte die Reichsregierung doch in den Etatberatungen von 1920, als die Schaffung des Chefs der Heeresverwaltung beschlossen worden war, das Nebeneinander dreier Spitzenfunktionen im Reichsministerium gerügt und zum Ausgleich die baldige Abschaffung der Marineleitung ins Auge gefasst.538 Hintergrund dieser Absichten war vermutlich auch die unweit stärkere Verstrickung der Marine in den Kapp-Lüttwitz-Putsch, die von der Marinebrigade Ehrhardt bis zum Chef der Admiralität v. Trotha gereicht hatte. Im Ergebnis trug das dauerhafte Fehlen eines zivilen Staatssekretärs, der den Reichswehrminister bei seiner Amtsführung hätten entlasten können, dazu bei, dass der verantwortliche Ressortchef des Hauses sich fast ausschließlich auf die ihm zuarbeitenden Militärs stützen musste und zu diesen in entsprechende Abhängigkeit geriet. Dem Primat der Zivilpolitik war auch damit nicht gedient. Für das staatsorganisationsrechtliche Verhältnis der Reichswehr zu den Ländern war auch die Regelung des Requisitionsrechts von Bedeutung. § 17 Abs. 1 WG räumte den Ländern das Recht ein, die Reichswehr im »Falle öffentlicher Notstände oder einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung« zur Hilfeleistung anzufordern, wenn die eigenen Kräfte nicht ausreichten. Allerdings konnte das Wehrkreis- oder Marinestationskommando die Entscheidung des Reichswehrministeriums herbeiführen, wenn es »aus wichtigen militärischen Gründen dem Ersuchen nicht stattgeben zu können« 534 535 536 537 538
Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 615 f. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Müller I, Nr. 137, S. 331 f. Erlass des Reichswehrministers vom 11.12.1920, HVBl. 1920 S. 992; siehe auch den entsprechenden Kabinettsbeschluss bei Akten der Reichskanzlei, Kabinett Fehrenbach, Nr. 92, S. 241. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 616. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Müller I, Nr. 137, S. 332.
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glaubte. Die Inanspruchnahme der Reichswehr durch potentiell sozialdemokratische oder partikularistische Landesregierungen lag aber ganz und gar nicht im Interesse Seeckts, der dem Föderalismus ohnehin abgeneigt war und mittelbar ein Aufgehen des Reichs in einem groß-preußischen Einheitsstaat favorisierte.539 Dementsprechend ordnete die einschlägige Dienstvorschrift an: »Der Begriff der ›wichtigen militärischen Gründe‹ ist nicht zu eng zu fassen, er geht über den Rahmen rein taktischer Betrachtungen hinaus; er umfaßt alle Fragen, die die Manneszucht betreffen, den Geist der Truppe, das Verhältnis zur Bevölkerung und nicht zuletzt auch solche moralischer und psychologischer Natur: das Prestige der Wehrmacht und ihr Ansehen als letzter und wichtigster Ausdruck der Staatsgewalt.«540 Das Reichswehrministerium unter Geßler und Seeckt wollte den Anwendungsbereich des § 17 Abs. 1 WG also durch extensive Auslegung der Ablehnungsgründe möglichst klein halten. Aber auch im Falle einer Requirierung blieb die Befehls- und Kommandogewalt bei den Reichsstellen; die frühere Militärhoheit der Länder lebte nicht wieder auf,541 was freilich nicht verhindern konnte, dass sich die 7. (Bayerische) Division der Reichswehr in der Auseinandersetzung zwischen Bayern und Reich Ende 1923 der vorübergehenden Diktatur des bayerischen Generalstaatskommissars v. Kahr bereitwillig zur Verfügung stellte. Einen für die staatsorganisationsrechtliche Stellung der Reichswehr ebenfalls bedeutenden Passus enthielt § 11 WG. Er bestimmte ganz allgemein: »Das militärische Verordnungsrecht wird vom Reichspräsidenten ausgeübt.« Der ursprüngliche Gesetzesentwurf hatte darüber hinaus noch ausdrücklich das Disziplinarstraf- und das Beschwerderecht sowie die Regeln über Rechte und Pflichten der Vertrauensleute als Bestandteile des präsidialen Militärverordnungsrechtes genannt.542 Dagegen waren bereits im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung zwei MSPD-Anträge gescheitert, die eine parlamentarische Kontrolle des militärischen Verordnungsrechts verfolgten.543 Einem ebenso erfolglosen Antrag im Wehrgesetzgebungsverfahren, diese wesentlichen Materien ausdrücklich der Gesetzgebung vorzubehalten, entgegnete Reichswehrminister Geßler, dass § 11 Wehrgesetz »nur dem selbstverständlichen Gedanken Ausdruck geben wolle, daß, soweit 539
540
541 542 543
Siehe seine Denkschrift über die Neuordnung des Aufbaus von Reich und Ländern vom 4.2.1924, abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 273–283 (276): »Der Weg, den die Neuordnung jetzt gehen muß, führt nicht zu einem Aufgehen Preußens im Reich, sondern zu der Entwicklung Preußens zum Reich.« Siehe auch die Denkschrift des Referats T 1 III (Schleicher) über den militärischen Ausnahmezustand vom 12.8.1924, abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 334–362 (353 f.). Seeckt stand mit seiner Kritik der Bundesstaatlichkeit freilich nicht alleine da, sondern folgte vielmehr zeitgenössischen Debatten, die unter dem Schlagwort »Reichsreform« stattfanden und auch die Berufung eines Ausschusses für Verfassungsund Verwaltungsreform von Reich und Ländern zur Folge hatte, siehe Akten der Reichskanzlei, Kabinett Müller II, Band 1, Nr. 45, S. 161–165. Abschnitt I (Erläuterungen zur Vorschrift über den Waffengebrauch) Nr. 3 des Sammelhefts der Bestimmungen über Verwendung der Wehrmacht im Reichsgebiet bei öffentlichen Notständen und inneren Unruhen (V.i.R.), D.V.E. Nr./H. Dv. 469, Teil 2: Die rechtlichen Voraussetzungen zum Einschreiten der Wehrmacht, Neudruck 1924 als konsolidierte Fassung der Ausgabe von 1920 mit Deckblättern vom September 1921. Semler, WG-Kommentar, S. 48. § 9 des Entwurfs eines Wehrgesetzes vom 19.01.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330. Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 427 f.
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nicht Gesetze im Wege stehen, der Dienstbetrieb im Verordnungswege geregelt werden könne. […] Überhaupt sei es gar nicht der Sinn dieser Bestimmung, die Grenzen der militärischen Verordnungsgewalt gegenüber der Gesetzgebung abzustecken, vielmehr bloß, über ihre Zuständigkeit an den Reichspräsidenten zu bestimmen.«544 Die nach Art. 6 Nr. 4 WRV dem Reich zugewiesenen Materien waren dem parlamentarischen Gesetzgeber durch dieses Verordnungsrecht des Reichspräsidenten zwar nicht für immer entzogen. Freilich stellte schon Geßlers Begründung zum Entwurf eines Wehrgesetzes fest, dass die »Vorschriften über die Handhabung der Manneszucht und die Beschwerdeführung sowie über die Pflichten und Rechte der Vertrauensleute«545 absichtlich nicht durch das Wehrgesetz geregelt wurden: »Wenn sich auch nicht verkennen läßt, daß gerade die Aufrechterhaltung einer straffen Manneszucht in dem künftigen Freiwilligenheer eine der wichtigsten Aufgaben bilden wird, so ist es auf der anderen Seite zu beachten, daß es sich hierbei um die Regelung von Tatbeständen handelt, die in fortwährendem Flusse sind, die also dem praktischen Bedürfnis anpassungsfähig erhalten werden müssen. Daher ist von einer gesetzlichen Festlegung abgesehen und im § 9 [=§ 11 des verabschiedeten Gesetzes, Anm. d. Verf.] dem Reichspräsidenten die Befugnis zur Regelung im Ausführungswege gegeben«.
Aus diesen Worten spricht tiefes Misstrauen gegen die Leistungsfähigkeit parlamentarischer Gesetzgebung. Die Praxis schloss sich Geßler an und untermauerte seine Argumentation mit einem argumentum a fortiore, wie es im bereits genannten Semler-Kommentar zum Ausdruck kommt: »Nach § 47 Absatz 1 [WG] ist der Reichspräsident zum Erlaß von Ausführungsbestimmungen zu diesem Gesetz ermächtigt. Diese Ermächtigung schließt nach dem jetzigen Verfassungsrecht nur noch den Erlaß von Verwaltungsvorschriften, nicht aber auch von Rechtsverordnungen in sich. […] Ausnahmen von dieser Regel bedürfen besonderer gesetzlicher Grundlage. Eine solche Grundlage für den Reichspräsidenten zu schaffen, war der Zweck dieser Vorschrift. Die Zuständigkeit des Reichspräsidenten nach § 47 wird also durch § 11 dahin erweitert, daß er auf dem Gebiete des Wehrwesens auch Rechtsverordnungen erlassen kann, also auch zur einstweiligen Regelung von solchen Verhältnissen zuständig ist, die der Gesetzgeber entweder ausdrücklich einer nachträglichen gesetzlichen Regelung vorbehalten (§ 10 Absatz 3) oder die er zunächst unerledigt gelassen hat. Das militärische Verordnungsrecht umfaßt also auch Tatbestände, die an sich der gesetzlichen Regelung unterliegen würden, z. B.: Vorschriften über die Handhabung der Manneszucht, wegen der darin enthaltenen Freiheitsstrafen (vgl. Artikel 114 Absatz 1 Satz 2 [W]RV), ferner über die einstweilige Enthebung vom Dienst wegen der damit verbundenen vermögensrechtlichen Nachteile oder über das Beschwerdeverfahren usw.«546
Kurz gefasst: Da § 47 Abs. 1 Wehrgesetz ja ohnehin schon den Erlass von internen Verwaltungsvorschriften betreffend den Dienstbetrieb zuließ, sei § 11 Wehrgesetz nur so zu verstehen, dass er darüber hinaus zu allgemeinverbindlichen Rechtsverordnungen betreffend solcher Materien ermächtigte, die an und für sich durch Gesetz geregelt werden mussten.547 Semler erkannte offen an, dass das Wehrgesetz etwa bezüglich der Disziplinarstrafen gar eine Durchbrechung der Reichsverfassung 544 545 546 547
Verhandlungen des Reichstags, Band 366, S. 1290. Entwurf eines Wehrgesetzes nebst Begründung vom 19.1.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 22. Semler, WG-Kommentar, S. 32. So auch die Interpretation von Rittau, WG-Kommentar, S. 48.
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(Art.114 Abs. 1 S. 1 WRV) auf dem präsidialen Verordnungswege ermöglichte. Der Weg über den parlamentarischen Gesetzgeber konnte so auf Gebieten des Wehrwesens umgangen werden, die für die subjektive Rechtsstellung des Soldaten zentral waren: So wurden wie von Geßler angekündigt insbesondere die Disziplinarstraf- und Beschwerdeordnungen, von denen später noch die Rede sein wird, als präsidiale Rechtsverordnungen nach § 11 Wehrgesetz und nicht als parlamentarische Gesetze erlassen. So etwas wie eine »Wesentlichkeitstheorie«, wonach der Gesetzgeber »in grundrechtsrelevanten Bereichen die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen« hat, war unter der WRV nicht etabliert.548 Die Reichswehr nahm also nach dem Wehrgesetz nicht nur eine exekutive, sondern auch eine legislative Ausnahmestellung im Verfassungsgefüge ein; ihr »Sonderrecht« konnte danach in wesentlichen Teilen sogar auf »sonderrechtlichem Wege« gesetzt werden. Die hier bereits angelegte starke Stellung des Reichspräsidenten als militärischer Oberbefehlshaber bei gleichzeitiger Schwächung des parlamentarisch verantwortlichen Reichswehrministers erreichte ihren Schlusspunkt in Gestalt der Präsidialkabinette gegen Ende der Republik freilich auf anderem staatsorganisationsrechtlichem Wege: Durch massiven Missbrauch des Notverordnungsrechts nach Art. 48 Abs. 2 WRV sowie des Rechts zur Auflösung des Reichstages nach Art. 25 Abs. 1 WRV nahm Hindenburg zunehmenden Einfluss auf die Militärpolitik bis hin zur Besetzung des Amts des Reichswehrministers durch seinen Wunschkandidaten General d. Inf. Werner v. Blomberg.549 Der Generalfeldmarschall-Reichspräsident nahm sehr stark die Rolle eines »Ersatzkaisers« ein, der sich auch wieder die beiden Hüte eines Staatsoberhauptes und eines Obersten Kriegsherrn aufsetzte:550 So wurden die von der Reichsverfassung eigentlich nicht vorgesehenen Immediatvorträge des Chefs der Heeresleitung mit seinen führenden militärischen Beratern ohne Beisein des Kanzlers oder Ministers wieder Usus.551 Die Parlamentarisierung des Oberbefehls wurde damit vollends Makulatur. Die Republikanisierung der Streitkräfte war somit auch in staatsorganisationsrechtlicher Hinsicht auf halbem Wege stehen geblieben, wie ihre nur mangelhafte parlamentarische Kontrolle zeigte. Dass sie letztendlich weitgehend scheiterte, lag jedoch weniger an den verfassungsrechtlichen Ausgangsbedingungen als an dem Betreiben Seeckts unter einem schwachen Reichswehrminister.552
548 549 550 551 552
BVerfGE 47, 46 (55). Schäfer, Blomberg, S. 102. Dies erfolgte entgegen Art. 53 WRV, der einen entsprechenden Vorschlag des Reichskanzlers verlangte, siehe auch Kapitel VIII.3. Schüddekopf, Heer, S. 195 f. Foertsch, Schuld, S. 26, 29. Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 610 f.
II. GRUNDLAGEN DES SOLDATISCHEN DIENSTVERHÄLTNISSES »Es ist notwendig, daß wir endlich denkende und urteilsfähige Soldaten bekommen, nicht eine stumpfe Masse, die einfach so hauen und stechen muß, wie es die Offiziere kommandieren. Erst wenn wir denkende und urteilsfähige Soldaten haben, besteht die Gewißheit, daß auch das Volk gegen Ereignisse gefeit ist, die heute die ganze Welt erschüttern.« Bernhard Kuhnt (USPD) am 18. März 1921 vor der Verabschiedung des Wehrgesetzes1
Eine umfassende rechtshistorische Untersuchung der Reichswehr kann nicht bei der Einbettung des Militärs in das staatliche Gefüge von Weimar stehen bleiben, sondern muss auch die Rechtstellung des individuellen Soldaten in den Blick nehmen. Das folgende Kapitel widmet sich daher zunächst den Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses: Wie organisierte die Reichswehr beispielsweise ihr Laufbahnrecht und welche rechtlichen Rahmenbedingungen galten für ihren Personalersatz? Wie und zu wem wurde das Dienstverhältnis begründet, welcher Formen bediente sich das Militär der ersten deutschen Republik hierfür? Zudem stellt sich die Frage, welche Ansprüche etwa auf Besoldung und Urlaub der Soldat hatte. Darüber hinaus behandelt dieses Kapitel die nicht ganz unwichtige Frage der Dienstbezüge im weitesten Sinne. Es wendet sich schließlich einigen Aspekten wie dem Unterrichtswesen, den Vertrauensleuten und den vorgeschriebenen Umgangsformen zu, die für die innere Kultur der Reichswehr von entscheidender Bedeutung waren. Sie bilden den thematischen Übergang zum darauffolgenden Kapitel, das sich der grundrechtlichen Stellung der Reichswehrsoldaten widmet.
1. Das Laufbahnrecht und das Wehrersatzwesen a) »Soldat« der Reichswehr: Beibehaltung der Laufbahnen, Beseitigung des »Soldatenstandes« Die Reichswehr hielt wie bereits die Mehrzahl der Freiwilligenverbände am tradierten Laufbahnsystem fest, das (ähnlich den Beamten) zwischen Mannschaften (einfacher Dienst), Unteroffizieren (mittlerer Dienst) und Offizieren (gehobener und höherer Dienst) unterschied. Das war nicht völlig selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass die Novemberrevolution ursprünglich von der Armee ausgegangen war. In der jungen Sowjetunion etwa waren die Dienstgrade als Sinnbild der zaristi1
Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3219.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
schen Hierarchie zunächst einmal abgeschafft worden.2 Nur sehr vereinzelt regte sich bei den Beratungen des Wehrgesetzes Widerspruch gegen die Beibehaltung der Laufbahnen.3 Während das Wehrrecht des Kaiserreichs noch verschiedene Dienstgrad- und Statusgruppen unter dem Oberbegriff »Personen des Soldatenstandes« zusammenfasste,4 war im neuen Wehrgesetz von 1921 nur noch von »Soldaten« die Rede. Es fasste darunter die »Offiziere aller Gattungen, die Deckoffiziere, Unteroffiziere und Mannschaften« (§ 1 Abs. 1 S. 2 WG). Für die vorläufige Reichswehr war dies bereits durch Erlass vom 6. Dezember 1920 so festgelegt worden.5 An dieser sprachlichen Neufassung erscheinen zwei Aspekte bemerkenswert: Zum einen wurde hier rangklassenübergreifend endgültig der einheitliche Begriff des Soldaten eingeführt, wo man darunter im engeren Sinne, insbesondere im hergebrachten militärischen Sprachgebrauch nur den Mannschaftssoldaten und Unteroffizier, im noch engeren Sinne sogar nur den dienstgradlosen Gemeinen verstanden hatte.6 Dass damit ein allgemeiner Gleichstellungsgedanke verbunden war, gab sogar der ehemalige Generalleutnant Karl v. Schoch als führendes Fraktionsmitglied der DVP in den Beratungen zum Wehrgesetz offen zu.7 Vor allem aber wurde hier zum anderen das Suffix »-stand« und damit eine Reminiszenz ständischer Gesellschaftsordnung beseitigt. Wenn auch mit dieser sprachlichen Änderung allein kein materieller Fortschritt verbunden war, kann hierin doch zumindest ein Akt symbolisch-egalitärer Gesetzgebung gesehen werden.8 In eine ähnlich egalitäre Stoßrichtung wies § 24 WG (wie bereits zuvor § 2 Abs. 3 GvRW9), der allen Angehörigen der Reichswehr nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten und Leistungen den Zugang zu allen Laufbahnen, also den Laufbahnwechsel auch vom Unteroffizier zum Offizier ermöglichen sollte.10 Inwieweit diese Bestimmung jedoch in der Praxis umgesetzt worden ist, wird in einem späteren Abschnitt geschildert. Zusätzlich ordnete § 43 WG an, dass die »Soldaten« als »Personen des Soldatenstandes« im Sinne der bisherigen gesetzlichen Vorschrif2 3 4 5 6 7 8
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10
Die Rote Armee kehrte mit dem Ukas vom 22.9.1935 teilweise zu Dienstgradgruppen zurück, siehe Gosztony, Armee, S. 126 f. Georg Schöpflin (MSPD), Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2337; Wilhelm Koenen (KPD), ebenda S. 2343. Siehe § 38 RMG 1874; § 4 Abs. 1 MStGB 1872. Erlass des Chefs der Heeresleitung über Bezeichnung der Dienstgrade, Dienststellen und Dienststellungen vom 6.12.1920, HVBl. 1920 S. 981–984. »nach dem Sprachgebrauch insbes. der Gemeine«, siehe Soldat, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18, Leipzig und Wien 1909, S. 576. Karl v. Schoch (DVP), Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3222. Entsprechend äußerte sich Otto Geßler in den Beratungen zum Wehrgesetz: »[A]ußerdem spricht der Entwurf von Soldaten, das sind die Offiziere, die Unteroffiziere, und die Mannschaften. In diesem Sinne besteht also gleiches Recht für alle.« Siehe auch Semler, Reichswehrsoldat, S. 5. Siehe dazu die Bestimmungen über Beförderung von Unteroffizieren zu Offizieren, Anlage 8b zu den Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31.3.1919, AVBl. 1919 S. 263–282 (279 f). Siehe aber auch schon § 48 des Entwurfs zu einem Gesetze über die deutsche Wehrverfassung von 1848; ebenso Art. 4 Abs. 1 der Kriegsartikel für das preußische Heer vom 17.10.1902, HVBl. 1902, S. 279–284. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 314–317; Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2338; Semler, WG-Kommentar, S. 82 f.
1. Das Laufbahnrecht und das Wehrersatzwesen
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ten galten, wodurch am Grundsatz der wehrgesetzlichen Kontinuität zum Bismarckreich festgehalten wurde, wie ihn bereits § 3 GvRW angeordnet hatte. Allgemeine Einstellungsvoraussetzung für sämtliche Laufbahnen war der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit (§ 1 Abs. 2 WG).11 Ein Freiwilligenmodell nach Art der Fremdenlegion war damit ausgeschlossen. Entsprechende Rufe sind allerdings auch von keiner Seite erhoben worden. Vielmehr muss der symbolische Zweck der Vorschrift darin gesehen werden, das unter dem Eindruck des Versailler »Schmähfriedens« und der damit einhergehenden Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht immer wieder verbreitete Schreckgespenst eines »undeutschen« Söldnerheeres12 zu vertreiben.13 Die Verpflichtungszeit betrug für Mannschaften und Unteroffiziere in Übereinstimmung mit Art. 174 Abs. 1 des Versailler Vertrages zwölf Jahre (§ 19 Abs. 1 WG).14 Nach Ablauf dieser Dienstzeit sollten sie »in der Regel entlassen werden« (§ 20 Abs. 1 WG). Einer Entlassung während des Verpflichtungszeitraumes hatten die Alliierten enge Grenzen gesetzt, um einer verdeckten Bildung von Personalreserven entgegenzuwirken, wie sie bereits gute hundert Jahre zuvor erfolgreich von Preußen zur Vorbereitung auf die Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich durch das »Krümpersystem« unter Umgehung der Konvention von Paris durchgeführt worden war.15 Überhaupt begrenzte § 29 WG in Umsetzung von Art. 174 Abs. 2 des Versailler Vertrages für alle Laufbahnen die vorzeitigen Entlassungen auf 5 % der Gesamtstärke. Das Reich konnte das Dienstverhältnis nur lösen, sofern der Verpflichtete die erforderliche Eignung und Befähigung nicht mehr besaß (§ 21 Abs. 2 Nr. 1 WG) oder wenn sich nachträglich herausstellte, dass er die Einstellungsvoraussetzungen nicht erfüllte, ein Strafurteil von gewisser Erheblichkeit gegen ihn gefällt wurde oder er gerichtlich für fahnenflüchtig oder unmündig erklärt worden war (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 WG). Eine Lösung auf »Nachsuchen« des Verpflichteten war hingegen nur in »besonders begründeten Fällen« möglich (§ 21 Abs. 1 WG).16 Entgegen dieser eher traditionellen Formulierung handelte es sich um ein richtiges Antragsrecht, das die entscheidende Dienststelle nach pflichtgemäßem Ermessen zu bescheiden hatte und das auf dem Beschwerdeweg, nicht aber gerichtlich verfolgt werden konnte.17 Mit der Beschränkung auf besonders begründete Fälle sollte verhindert werden, dass entsprechend dem »Krümpersystem« der Personalbestand in kurzen Abständen revolviert und so ein Vielfaches der zugelassenen Personalstärke ausgebildet werden konnte. Obschon es sich also um eine Freiwilligenarmee handelte, war eine Lösung des Dienstverhältnisses auch in Fällen, in denen der Verpflichtete nicht das erhoffte Glück im Soldatenberuf gefunden hatte und folglich keine besondere Dienstfreude 11 12 13 14 15 16 17
Siehe auch § 9 Nr. 1 a HEB 1921. Beispielhaft Papke, Rechtsstellung, S. 24 f; auch die Kommunisten wetterten gegen eine »Soldtruppe des Ententekapitals«, siehe auch Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3207. Semler, WG-Kommentar, S. 17–19. So schon für die vorläufige Reichswehr nach § 3 des Gesetzes über die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und die Regelung der Dauer der Dienstverpflichtung vom 21.8.1920, RGBl. 1920 S. 1608 f. Stübig, Wehrverfassung, S. 44. Papke, Rechtsstellung, S. 71 f.; siehe auch § 20 HEB 1921. Semler, WG-Kommentar, S. 68.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
an den Tag legten, nur schwer möglich.18 Die erhöhte Selbstmordrate unter Reichswehrangehörigen wurde insbesondere hiermit in einen Zusammenhang gebracht,19 wenn auch Seeckt nach außen vor allem die seiner Ansicht nach »materialistische Weltanschauung« der Zeit verantwortlich machte20 und sein Nachfolger Heye sie auf »die allgemeine nach dem Kriege in Deutschland entstandene Gemütsstimmung unserer Jugend« zurückführte.21 Zusätzlich erschwerte die enge Begrenzung der Entlassungen es der Reichswehrführung, sich von republikfeindlichem Personal zu trennen. Wie es Harold J. Gordon pointiert formulierte: »Die Ironie will es, daß die Alliierten mit ihrem Versuch, das deutsche Militärsystem zu vernichten, nur dazu beitrugen, es vor seinen Feinden im Inneren zu schützen und ihm relative Bewegungsfreiheit zu verschaffen.«22 Schließlich galt nach § 22 Abs. 2 Buchstabe b WG die Entlassung als erfolgt, »wenn das Dienstverhältnis durch ein auf Entfernung aus dem Reichsheer oder aus der Reichsmarine oder auf Dienstentlassung lautendes Strafurteil oder durch Erkenntnis der Wehrberufskammer vorzeitig gelöst wird, mit dem Tage der Rechtskraft der Entscheidung.«23 Dabei war die Idee von Wehrberufskammern mit einem im heutigen Sinne förmlichen, also gerichtlichen Disziplinarverfahren ein Novum in der Geschichte des deutschen Wehrrechts. Die historischen Vorläufer der heutigen Truppendienstgerichte sollten durch das Wehrmachtdisziplinargesetz etabliert werden. Bis zu dessen Inkrafttreten ermächtigte § 47 Abs. 2 WG als Interimslösung den Reichspräsidenten zur Erweiterung der fristlosen Kündigungsgründe. Schon wenige Tage nach Inkrafttreten des Wehrgesetzes, am 2. April 1921, machte Reichspräsident Ebert hiervon Gebrauch und gestattete die fristlose Kündigung (von Offizieren wie von Unteroffizieren und Mannschaften) auch dann, »wenn Handlungen oder Unterlassungen festgestellt sind, durch die sich die Soldaten der Achtung, die ihre Berufsstellung erfordert, unwürdig erwiesen haben (Unwürdigkeitshandlungen), auch wenn die Unwürdigkeitshandlungen vor dem Eintritt in die Wehrmacht begangen sind.«24 Über derartige Unwürdigkeitshandlungen und gröbere Disziplinverstöße sollten nach der Konzeption des Wehrgesetzes25 und dem 18 19
20
21 22 23 24 25
Geßler, Wehrpflicht, S. 308. Reichswehrminister Geßler in der Haushaltsdebatte vom 9.6.1925, Verhandlungen des Reichstags, Band 385, S. 2189. Siehe bereits die Äußerung des Abgeordneten Martin Loibl (BVP) in der Haushaltsdebatte vom 28.5.1925, ebenda S. 2146. Zur Selbstmordproblematik siehe auch die Äußerungen des Abgeordneten Julius Moses (SPD) in der Haushaltsdebatte vom 27.2.1923, Verhandlungen des Reichstags, Band 358, S. 9901–9903; hierzu die Stellungnahme des Reichswehrministeriums vom 28.2.1923 durch Generaloberstabsarzt Schultzen, ebenda S. 9911; Äußerungen des Abgeordneten Daniel Stücklen (SPD) in der Haushaltsdebatte vom 26.5.1925, Verhandlungen des Reichstags, Band 385, S. 2018 f. So nach Julius Moses (SPD) in einem Erlass vom 24.11.1924, Verhandlungen des Reichstags, Band 385, S. 2184. Übereinstimmend die Schilderung des Seeckt-Erlasses durch Daniel Stücklen (SPD), ebenda S. 2018 f. Ministerbesprechung vom 29.11.1926, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Marx III/IV, Band 1, Nr. 130, S. 377. Gordon, Reichswehr, S. 170. In Bezug auf Strafurteile siehe §§ 30, 31, 32, 34, 35 MStGB; beachte auch § 44 Abs. 1 WG, wonach »die Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes durch Dienstentlassung ersetzt wird.« Verordnung des Reichspräsidenten gem. § 47 Abs. 2 WG über die fristlose Kündigung des Dienstverhältnisses in der Wehrmacht vom 2.4.1921, HVBl. 1921 S. 95. Entwurf eines Wehrgesetzes nebst Begründung vom 19.1.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 18 f.
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Entwurf des Wehrmachtdisziplinargesetzes die zu schaffenden Wehrberufskammern entscheiden und als Konsequenz höhere Disziplinarstrafen als auch die Entlassung verfügen können.26 Sie müssen in gewisser Hinsicht auch als geplante Kompensation für die nach Art. 105 S. 4 WRV in Fortfall gekommene ständische Ehrengerichtsbarkeit der Offiziere gesehen werden, allerdings mit nicht unerheblichen Modifikationen und Einschränkungen: So bemühte sich etwa der Reichsjustizminister Gustav Radbruch bei der Kabinettsberatung des Gesetzesentwurfs insbesondere um Klarstellung, dass die Verweigerung des Zweikampfes durch einen Offizier nicht durch die in den Wehrberufskammern urteilenden Offiziere als Unwürdigkeitsgrund angesehen werden dürfe.27 Das Wehrmachtdisziplinargesetz wurde nach erster Beratung im Reichstagsplenum an den 15. Ausschuss für Militärgerichtsbarkeit überwiesen, wo der Entwurf jedoch unerledigt blieb.28 Die gefundene Interimslösung, also die Zuständigkeit der militärischen Vorgesetzten auch für das Feststellen von Unwürdigkeitshandlungen als fristlosem Kündigungsgrund, wurde so zu einer Dauerlösung. Von der weiteren Handhabung der Kündigungen wegen »Unwürdigkeit« wird später noch im Zusammenhang mit der Abschaffung der Ehrengerichtsbarkeit zu sprechen sein.29 Der Offizierberuf hingegen sollte nach § 25 Abs. 1 S. 1 WG »Lebensberuf« sein:30 Der Anwärter hatte sich zu einer Dienstzeit von 25 Jahren als Offizier zu verpflichten (S. 2) – auch dies eine Vorgabe des Versailler Vertrages (Art. 175 Abs. 2), um der Ausbildung von Reserveoffizieren entgegenzuwirken.31 Die endgültige Auswahl des Offiziernachwuchses erfolgte erst während der Dienstzeit (§ 8 Nr. 11 HEB 1921) aus dem Kreis der Offizieranwärter, so dass der Bewerber sich zunächst bei Diensteintritt als Mannschaftssoldat verpflichten musste.32 Diese Regelung ist nur im Zusammenhang mit der Auflösung der Kadettenanstalten zu verstehen, deren Weiterbetrieb der Versailler Vertrag ebenfalls untersagte (Art. 177)33 – eine Forderung, die schon die Deutsche Revolution von 1848/49 erhoben hatte.34 Sie ermöglichten zuvor eine sich über mehrere Lebensjahre erstreckende sorgfältige Prägung, Aufzucht und Auswahl des Offiziernachwuchses. Nach dem Wegfall dieser Kaderschmieden bestand daher ein Interesse daran, dem Bewerber nicht bereits beim Eintritt in die Reichswehr den Aufstieg in die Offizierlaufbahn zuzusichern. 26 27 28 29 30 31 32 33 34
§ 2 des Entwurfs eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht vom 20.05.1922, Reichstagsdrucksache 1/4443. Akten der Reichskanzlei, Kabinette Wirth I/II, Band 1, Dokument Nr. 209, S. 578–580. Erste Beratung des Entwurfs eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht, Verhandlungen des Reichstags, Band 356, S. 8555–8560. Siehe Kapitel VI.4. Entwurf eines Wehrgesetzes nebst Begründung vom 19.1.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 17. So schon § 3 des Gesetzes über die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und die Regelung der Dauer der Dienstverpflichtung vom 21.8.1920, RGBl. 1920 S. 1608 f. Siehe auch die Begründung zum Entwurf eines Wehrgesetzes vom 19.1.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 16. Petersen, Offizierdienstverhältnis, S. 7; Semler, WG-Kommentar, S. 82 f.; siehe dazu auch die Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3022. § 62 des Entwurfs zu einem Gesetze über die deutsche Wehrverfassung, Frankfurt am Main 1848.
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Nach Ablauf der Verpflichtungszeit konnte der Offizier »seinen Abschied beantragen«, der zu gewähren war, »soweit nicht die dienstlichen Verhältnisse einer sofortigen Entlassung« entgegenstanden (Abs. 2). Beantragte er sie nicht, so blieb er ohne Weiteres Offizier. Eine Entlassung auch innerhalb der Verpflichtungszeit kam für Offiziere von Amts wegen nach dem Wehrgesetz nur bei mangelnder Eignung und Befähigung in Betracht (§ 26 Abs. 1 Buchstaben a und b, Abs. 2 WG). Da aber das geplante Wehrmachtdisziplinargesetz zur Einführung förmlicher Disziplinarverfahren scheiterte, verblieb auch bei den Offizieren nach der bereits angesprochenen Verordnung des Reichspräsidenten die Möglichkeit der fristlosen Kündigung aufgrund von Unwürdigkeitshandlungen.35 Darüber hinaus erklärte die Verordnung des Reichspräsidenten die vergleichsweise weiten Kündigungsgründe für Mannschaften und Unteroffiziere auch auf die Offiziere für anwendbar.36 Auch diese Übergangsregelung hat sich wegen des Scheiterns des Wehrmachtdisziplinargesetzes dauerhaft gehalten. Auf Antrag war ein Ausscheiden ebenfalls wegen mangelnder Eignung und Befähigung möglich, darüber hinaus aber nur in solchen Härtefällen, die einer »wesentlichen Änderung« in »seinen bürgerlichen Verhältnissen« gleichkamen. Das Dienstverhältnis der Offiziere war dadurch allerdings erstmals überhaupt grundlegend rechtlich geregelt worden. Zuvor hatte lediglich ein »persönliches Treueverhältnis« zum Monarchen praeter legem bestanden, dem »ein auf Überlieferung und Übung beruhender Sitten- und Pflichtenkodex« zugrunde gelegen hatte.37 So hatte Wilhelm II. als König von Preußen auch offiziell ganz selbstverständlich von »meinen Offizieren« sprechen können.38 Er hatte sie als »Hüter dieser Tradition« jederzeit einseitig verabschieden, sie hingegen nur um ihre Entlassung »nachsuchen« können. Ein derartiges Verständnis weckt noch Erinnerungen an die personenverbandsstaatliche Heerfolge des Mittelalters:39 Gerade der Inhalt des Vasallentums wurde im Mittelhochdeutschen ja mit dem Begriff der triuwe (= Treue) ausgedrückt.40 Nach dem Untergang der Monarchie konnte hieran freilich nicht angeknüpft werden. Das Offizierdienstverhältnis wurde durch das Wehrgesetz nun auf eine »feste rechtliche Basis« gestellt und unterschied sich grundsätzlich nicht von dem der Mannschaften und Unteroffiziere.41 Zwar konnten die Soldaten der Reichswehr ebenso wenig ihr Dienstverhältnis einseitig durch Kündigung lösen und lediglich in den geschilderten, eng umgrenzten Fällen ihre Entlassung beantragen, über 35 36 37 38
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Siehe hierzu ausführlich Kapitel V.2. Verordnung des Reichspräsidenten gem. § 47 Abs. 2 WG über die fristlose Kündigung des Dienstverhältnisses in der Wehrmacht vom 2.4.1921, HVBl. 1921 S. 95. Semler, WG-Kommentar, S. 85; Petersen, Offizierdienstverhältnis, S. 2. Siehe z. B. die Vorrede Wilhelms II. zur Ergänzungsordre vom 1.1.1897 zur Allerhöchsten Verordnung über die Ehrengerichte der Offiziere im Preußischen Heere vom 2.5.1874: »Ich will, daß Zweikämpfen meiner Offiziere mehr als bisher vorgebeugt wird.« Hierbei sprach er allerdings als preußischer König, da es im Kontingentheer keine kaiserlichen Offiziere gab, siehe auch Laband, Staatsrecht, Band 4, S. 63. Dem preußischen Soldatenstaat sei es gelungen, »den Fahneneid auf den Landesherrn statt auf die Verfassung durchzusetzen und dadurch die Armee als Gefolgschaft eines Führers erscheinen zu lassen«, Schmitt, Staatsgefüge, S. 14; siehe auch Dietz, Offizierdienstrecht, S. 595. Reuter, Vasallität, Sp. 644; Kaufmann, Treue, Sp. 332–334; Weddige, Einführung, S. 164. Semler, WG-Kommentar, S. 85; siehe auch Papke, Rechtsstellung, S. 76.
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die bei den Offizieren nach Art. 46 WRV der Reichspräsident wachte.42 Das aber lag auch wesentlich an den strengen Vorgaben des Versailler Vertrages, die etwas anderes ohnehin nicht gestattet hätten, sollten sie doch der Bildung versteckter Reserven vorbeugen. Mit dem Antritt Hindenburgs als Reichspräsident, der nun auch durch seine Person die staatsorganisationsrechtlich angelegte Stellung als Ersatzkaiser charakterlich ausfüllen konnte, kam es hier aber zu einer Akzentverschiebung. Jetzt saß nicht mehr der Zivilist, Sozialdemokrat und Sattlergeselle Ebert an der Stelle im Staate, wo einst der Oberste Kriegsherr thronte. In einer juristischen Dissertation aus dem Jahr 1939 heißt es rückblickend: »Erst seitdem Generalfeldmarschall von Hindenburg das Amt des Reichspräsidenten übernimmt, entsteht [wieder] eine engere Bindung zwischen der Wehrmacht und ihrem obersten Befehlshaber, eine Bindung, die sich mehr auf der Person, als auf dem Amt des Reichspräsidenten gründet.«43 Auch wenn diese Aussagen im Kontext des Jahres 1939 stehen, erscheint die Aussage plausibel vor dem Hintergrund der konservativen Sozialisierung der Reichswehroffiziere, die den Wegfall der persönlichen Bindung an den Monarchen und die neuerliche Treupflicht zum abstrakten Staat immer als ein gewisses Vakuum interpretiert hatten. Das nüchterne Rechtsverhältnis erhielt also mit Hindenburg zumindest auch wieder den Charakter eines persönlichen Treueverhältnisses. Die Dienstverhältnisse der Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere unterschieden sich grundsätzlich nur nach den oben geschilderten Dienstzeiten. Alle übrigen Abweichungen, wie die Regelung des Vorgesetztenverhältnisses oder die unterschiedliche Besoldung, berührten die grundsätzliche Einheitlichkeit des Dienstverhältnisses nicht.44 Das Wehrrecht des Kaiserreiches hatte dagegen noch zwischen den Statusgruppen der allgemein Wehrpflichtigen (Art. 47 RV 1871), der freiwillig länger dienenden »Kapitulanten« einschließlich der Unteroffiziere, und jenem der Offiziere unterschieden.45 Die neue Einheitlichkeit muss aber weniger als Ausdruck egalitären Gedankenguts denn als notwendige Begleiterscheinung der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht angesehen werden. Angehörige der Reichswehr waren neben den Soldaten auch die »nicht im Waffendienst tätigen Militärbeamten« (§ 1 Abs. 1 Wehrgesetz). Unter diesem im Wehrgesetz nicht festgelegten Begriff waren nach der Anlage B des MStGB 1926 »alle im Heere und in der Marine für das Bedürfnis des Heeres oder der Marine dauernd oder auf Zeit angestellten, nicht zu den Soldaten gehörenden und unter dem Reichswehrminister als Verwaltungschef stehenden Beamten, die einen Militärrang haben«, zu verstehen.46 Entscheidendes »Merkmal ist demnach der Militärrang, das äußere Anzeichen dafür, daß diese Beamten neben ihrem allgemeinen Dienstverhältnisse 42
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Art. 46 WRV: »Der Reichspräsident ernennt und entläßt die Reichsbeamten und die Offiziere, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Er kann das Ernennungs- und Entlassungsrecht durch andere Behörden ausüben lassen.« Seidenberg, Rechtsstellung, S. 25. Papke, Rechtsstellung, S. 76; Semler, WG-Kommentar, S. 57, 85; Paffrath, Reichswehrsoldat, S. 65. Paffrath, Reichswehrsoldat, S. 65; Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 328, S. 1635. Rittau, WG-Kommentar, S. 26; siehe auch die Verordnung des Reichspräsidenten vom 15.05.1920, HVBl. 1920 S. 635.
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als Reichsbeamte auch noch in einem militärischen Dienstverhältnisse stehen. Dieses […] äußert sich darin, daß sie einen militärischen Vorgesetzten haben können, dessen Kommandogewalt sie unterworfen sind, daß sie ferner neben den allgemeinen, für Reichsbeamte gegebenen Disziplinarvorschriften, auch den militärischen Disziplinarbestimmungen unterliegen und daß sie im Kriege sowohl einzelnen Vorschriften des MStGB als auch der Militärgerichtsbarkeit unterworfen sind.«47 Die strikte Trennung von Militär- und Zivilbeamten war von der Interalliierten MilitärKontrollkommission verlangt worden; auch unterlagen die in die militärische Hierarchie eingegliederten Militärbeamten der Personalstärkebegrenzung auf 100.000 Mann (§ 2 WG).48 Sie waren jedoch keine Soldaten im Sinne des § 1 WG und sind daher nicht Gegenstand der weiteren Untersuchung. Aus heutiger Sicht vielleicht bemerkenswert erscheint die Tatsache, dass weder im Wehrgesetz noch in den Heeresergänzungsbestimmungen der Dienst an der Waffe ausdrücklich Männern vorbehalten bleibt – wie es in der Praxis der Fall war. Auch in der einschlägigen Kommentar- und Fachliteratur herrscht hierzu beredtes Schweigen. Daraus ist zu schließen, dass die Vorstellung, Frauen könnten Soldaten sein, wohl derart jenseits des zeitgenössischen Horizonts lag, dass für eine entsprechende rechtliche Klarstellung überhaupt kein Bedarf bestand.
b) Die Personalpolitik des Reichswehrministeriums unter den Bedingungen einer Freiwilligenarmee: Geistiggesellschaftliche Homogenisierung und Abschottung Als weiterer wesentlicher Faktor für die ideologische Konstitution der sich formierenden Reichswehr muss die Personalpolitik Noskes sowie später Geßlers und vor allem Seeckts unter den Bedingungen des Versailler Vertrages gesehen werden. Die durch Art. 173 des Versailler Vertrages vorgeschriebene Abschaffung der Wehrpflicht wurde zunächst durch Gesetz vom 21. August 192049 vorläufig binnenstaatlich umgesetzt und schließlich in § 1 Abs. 3 des Wehrgesetzes vom 23. März 1921 dauerhaft festgeschrieben. Darüber hinaus waren die Bildung von Personalreserven durch Reserveoffiziere, Zeitfreiwillige etc. verboten50 und der Beurlaubtenstand51 aufgehoben. Die Reichswehr war damit eine reine Freiwilligen- und Berufsarmee. Die Anwerbung und Einstellung sollte unabhängig von politischer Gesinnung erfolgen, jedoch sorgte die weitgehend autarke Personalpolitik der Streitkräfte, wie später noch geschildert wird, für »staatstreuen Ersatz im Sinne der 47 48 49 50 51
Semler, WG-Kommentar, S. 20. Detailliert zum Status der Militärbeamten Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 126–145. RGBl. 1920 S. 1608 f. Absolon, Wehrmacht, Band 1, S. 150; Rittau, WG-Kommentar, S. 24; Semler, WG-Kommentar, S. 23. Der Beurlaubtenstand »umfaßt im deutschen Heere alle dienstpflichtigen Personen, welche nicht im aktiven Heere dienen, also alle Offiziere, Ärzte, Beamten und Mannschaften der Reserve, Marinereserve, Ersatzreserve, Land- und Seewehr, sowie die vorläufig in die Heimat beurlaubten Rekruten und Freiwilligen und die zur Disposition der Ersatzbehörden entlassenen Mannschaften«, siehe §§ 56 ff. RMG 1874; siehe auch Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 10; RGBl 1920, S. 133.
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Reichswehrführung«.52 Wegen der Beschränkung des Heeres auf 100.000 Mann durch den Versailler Vertrag kam eine von den Sozialdemokraten bis dato favorisierte Miliz,53 also eine aus Wehrpflichtigen bestehende republikanische Volkswehr im Sinne einer levée en masse, nicht in Frage.54 In den Beratungen zum GvRW musste Noske daher resigniert feststellen, »daß das, was jetzt von den Parteien beantragt wird, keineswegs diesem sozialdemokratischem Ideal auch nur im entferntestem nahekommt.«55 Das ursprünglich von der provisorischen Reichsregierung verfolgte Konzept republikanischer Volkswehren entpuppte sich aufgrund des abermaligen Auseinanderbrechens von USPD und MSPD über die Einberufung der Nationalversammlung und der resultierenden Spaltung der Arbeiterbewegung als nicht belastbar.56 So tendierte Noske dort, wo sich republikanisch gesinnte Freiwilligenverbände gebildet hatten, zu deren Auflösung oder Nichtübernahme in die vorläufige Reichswehr:57 In Anbetracht der »bolschewistischen Gefahr« traute er den revolutionären Soldatenräten nicht über den Weg, sondern hielt die nationalgesinnten Freikorps mit ihren erfahrenen Frontoffizieren für schlagkräftiger in Hinblick auf die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Reich.58 Letztere waren schon früh von Frontsoldatenmythos59 und Führerkult beseelt, die bald auch die SA und später dann die SS prägten.60 So waren ihre Mitglieder in der Regel persönlich auf den jeweiligen Freikorpsführer eingeschworen61. Für den militärischen Zusammenbruch machten sie die Etappe, die Stabs- und sonstigen Truppen hinter der Kampflinie sowie den »nichtswürdigen, fluchwürdigen Verrat« der revoltierenden Heimat verantwortlich62. Aus ihrer Ablehnung für die Republik machten diese »Führer« keinen Hehl63. Was die sozioideologische Zusammensetzung der meisten ihrer Mannschaftssoldaten betrifft, so waren die Träger der Revolution – die breite Masse der einfachen Soldaten, die die Nase voll gehabt hatten vom Krieg – nach dem Rückmarsch des Heeres ganz einfach nach Hause gegangen.64 Übrig geblieben waren bei den Freikorps und sonstigen Freiwilligenverbänden der (vorläufigen) Reichswehr vor allem diejenigen jungen Männer der 52 53
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Absolon, Wehrmacht, Band 1, S. 150 f. Zu den Details der Einstellung siehe Paffrath, Reichswehrsoldat, S. 7–14. Siehe die dritte Forderung des »Erfurter Programms« der SPD von 1891, abgedruckt in: Erich Fleischer (Hg.), Das Erfurter Programm: Ein historisches Dokument, München 1948, S. 93–96; siehe ebenfalls Äußerungen des Abgeordneten Georg Schöpflin (MSPD), Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 438 f. Wette, Noske, S. 365 und 795. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 308. Wette, Noske, S. 321–331; siehe auch das Wie am Beispiel der Republikanischen Schutztruppe in Berlin sowie der Volkswehren in Württemberg, Baden und Bayern geschehen; siehe Wette, Noske, S. 388–398. Nakata, Landesschutz, S. 36. Zuständig für die Entscheidung über die Übernahme von Freiwilligenverbänden in die (vorläufige) Reichswehr war der Reichswehrminister, § 8 Abs. 1 AVGvRW; siehe auch Wette, Noske, S. 297, 321–331 und 794. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 5, S. 817. Wohlfeil, Heer, S. 70. Wette, Noske, S. 321; Haffner, Revolution, S. 171. Pars pro toto die Einlassungen bei Maercker, Kaiserheer, S. 19. Wette, Noske, S. 373; Haffner, Revolution, S. 171 f. Keller, Wehrmacht, S. 54.
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Weltkriegsgeneration, die außer dem Kriegshandwerk nichts gelernt hatten oder – umso gefährlicher – solche, die trotz oder gar wegen ihrer Fronterfahrung eben gern Soldat waren und den Krieg eine tolle Sache fanden65. Die Jüngeren unter den Freikorpskämpfern – vor allem Studenten – wollten nicht selten das verpasste Kriegserlebnis nachholen.66 Die meisten dieser Männer pflegten den schwülen Frontkämpfergeist, von dem später auch der Weltkriegsgefreite Hitler immerzu schwärmte.67 Es war die Geburtsstunde eines neuen Militarismus: Sein preußischer Vorgänger hatte sich mit Hegel voll und ganz der Idee des Staates gewidmet, der als Garant eines wohlgeordneten Gesellschaftslebens vom Militär wesentlich mitgetragen und bestimmt werden sollte. Der neue Militarismus war hingegen nicht etatistisch: Sein Bezugspunkt war in erster Linie nicht der Staat, dem man im Extremfall auch das Todesopfer auf dem Schlachtfeld weihte, sondern das nicht-ideell und ausschließlich rassisch begriffene Volk, das im sozial-darwinistischen Ringen mit dem Feind seinen existenziellen Sinn fand. Die Idee eines »klassenübergreifenden nationalen Sozialismus« war darüber hinaus auch »ausgesprochen politisch, nicht elitär-konservativ wie der traditionelle Militarismus, sondern schon egalitär-nationalistisch«68. Anders als die traditionell-nationalkonservativ eingestellte Strömung, die vor allem in der Führungsetage der Reichswehr tonangebend war und sich entweder still die Monarchie zurücksehnte oder aber – wie Seeckt – die neue Republik pragmatischabwartend akzeptierte, verkörperten diese Elemente offen den Typus des »politischen Soldaten« – so wie eben später tendenziell der SS-Soldat im Vergleich zum Wehrmachtssoldaten.69 Mit der Errichtung der (vorläufigen) Reichswehr ging die Zeit der Freikorps vorbei. Mit Verordnung vom 24. Mai 1921 verbot der Reichspräsident den Zusammenschluss von Personen zu militärischen Verbänden ohne Genehmigung der zuständigen Dienststellen.70 Die radikalsten Kräfte, die nicht übernommen wurden, gingen fortan in den Untergrund und verübten die berüchtigten Fememorde, insbesondere gegen Matthias Erzberger (Zentrum) und Reichsaußenminister Walther Rathenau (DDP).71 65
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»Mit Menschen deren Sinn auf Bürgerwehr-Stadtsoldaten-Nachtwächter-Feuerwehr-Wesen gerichtet ist, also auf Verdienen des Brotes unter behäbigen Umständen, ist uns nicht gedient. Wir brauchen Männer, denen das Kriegshandwerk Freude macht, denen es Freude macht, sich mit einem Gegner zu messen und ihn durch überlegene Geschicklichkeit zu überwinden, bewußte und entschlossene Landsknechte, mit den Ehrbegriffen des Handwerks.« Vertrauliche Anweisung an Werbeoffiziere des Freikorps Epp vom 28.3.1919, zit. Nach Sprenger, Landsknechte, S. 119. Siehe auch Haffner, Revolution, S. 125. Sprenger, Landsknechte, S. 49–54. Zur nachwirkenden Bedeutung der Freikorps im Nationalsozialismus siehe Sprenger, Landsknechte, S. 55–61. Stig Förster unterscheidet insofern bereits für das Kaiserreich zwischen einem konservativen und einem bürgerlichen Militarismus; Förster, Militär, S. 64–66; siehe auch Dietz, Primat, S. 205. Sprenger, Landsknechte, S. 119–126; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, S. 23–41; Dietz, Primat, S. 205, 291 f.; in Bezug speziell auf das Offizierkorps Nakata, Landesschutz, S. 13; für die SS siehe Rohrkamp, Kämpfer, S. 69, 524 f. Die unzureichende Politisierung des Offizierkorps sah bereits die Gestapo als eine wesentliche geistige Ursache für den Widerstand des 20.7.1944, siehe Jacobsen, Spiegelbild, Band 1, S. 273 f. und 525 f. HVBl. 1921 S. 711. Beide wurden von der Organisation Consul ermordet, einer rechtsgerichteten Terrorgruppe unter Führung von Hermann Ehrhardt (ehemaliger Führer der gleichnamigen Marinebrigade).
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Ähnlich verfuhr Noske mit dem Offizierkorps: Er desavouierte den »Republikanischen Führerbund«, einen parteiübergreifenden Zusammenschluss verfassungsund republiktreuer Offiziere, indem er sich von ihm und seinen Zielen öffentlich distanzierte – auf Druck von mehrheitlich monarchistisch gesinnten Generalstabsoffizieren, insbesondere von Seiten des Generals d. Inf. Walther v. Lüttwitz, bevor dieser gegen die Reichsregierung putschte.72 Bei der Auswahl der in die Reichswehr zu übernehmenden Offiziere durfte aus Noskes Sicht die Haltung zur Republik überhaupt keine Rolle spielen; allein militärfachliche Gesichtspunkte und Erfahrung sollten hier den Ausschlag geben – faktisch zugunsten restaurativ-monarchistischer Elemente (v. a. des alten Generalstabes) sowie – allerdings nur in zweiter Linie – des konterrevolutionär-frontkämpferischen Offiziertypus‹ (vorwiegend junge Weltkriegsoffiziere).73 Hierbei nahm insbesondere der nationalkonservative Chef der Heeresleitung Seeckt, der bereits unter Noske als Chef des Truppenamtes fungierte hatte, eine vordergründig »unpolitische« Haltung ein,74 die letztlich aber auf eine einseitige Förderung der traditionellen, an den »Wertvorstellungen des Korps« orientierten Offiziere hinauslief und vor allem bei der Bildung der vorläufigen Reichswehr die Übernahme von Generalstabsoffizieren gegenüber Frontoffizieren bevorzugte.75 Die Zusammensetzung des relativ kleinen Offizierkorps der Reichswehr erreichte so – insbesondere wegen des sehr hohen Anteils von Adligen – einen konservativen Homogenitätsgrad, der sogar den der preußischen Vorkriegsarmee überstieg.76 Von einem überwiegend bürgerlichen Offizierkorps, das sich mit der Republik identifizierte, war man weit entfernt. Auch personell setzte sich die Reichswehr damit als aristokratischer Soldatenstaat preußischen Zuschnitts vom republikanischen Bürgerstaat der Weimarer Republik ab. Selbst die wenigen, zögerlichen Versuche Eberts, auf die Personalpolitik insbesondere im Nachgang zum Kapp-Lüttwitz-Putsch etwa zugunsten republikanisch gesinnter Offiziere Einfluss zu nehmen, wurden im Reichswehrministerium abgeschmettert.77 So gelang es Seeckt auch zu verhindern, dass das aufgrund des Rathenau-Mordes ergangene Republikschutzgesetz vom 21. Juli 1922 und die darin enthaltenen Kündigungsmöglich72
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Wette, Noske, S. 377–388, 793. Siehe v. a. die Erklärung des Reichswehrministers Noske über den Republikanischen Führerbund vom 17.7.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 177–179. Siehe auch das Schreiben des Kommandierenden Generals (sic!) des Reichswehr-Gruppenkommandos 1 (ehemaliges Generalkommando Lüttwitz) an den Reichswehrminister, i.V. gezeichnet von Generalleutnant Heinrich v. Hofmann (Kommandierender General der Garde-Kavallerie-Schützen-Division), Ic № 11103/A 1., vom 11.7.1919, BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 28. Wette, Noske, S. 370, 383. Siehe auch Bald, Offizier, S. 49. Neben diesen beiden Typen wollen einige noch den attentistischen Typus eines Hans v. Seeckt identifizieren. Hier handelt es sich aber lediglich um einen abwartenden Monarchisten. Siehe Müller, Beck, S. 69, 72 f.; ebenso Nakata, Landesschutz, S. 12–15. v. Seeckt suchte selbst in erheblichem Maße Einfluss auf die Politik zu nehmen, wie etwa am Beispiel der Spitzengliederung des Reichswehrministeriums, siehe hierzu Wette, Noske, S. 536–543; Schmädeke, Kommandogewalt, S. 74–83. Kilian, Führung, S. 168–172; Kroener, Militär, S. 19; Schulze, Weimar, S. 119 f.; Wette, Noske, S. 375; Wohlfeil, Heer, S. 97; Dietz, Primat, S. 225 m. w. N. Schulze, Weimar, S. 115; Wette, Noske, S. 376; a.A. Meier-Welcker, Seeckt, S. 525. Mühlhausen, Ebert, S. 376–378.
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keiten wegen Republikfeindlichkeit auch auf die Reichswehrsoldaten erstreckt wurden.78 Diese Effekte wurden noch verstärkt, indem die Durchführung der personalpolitischen Vorgaben wie schon im alten Heer nahezu vollständig den Truppenteilen vor Ort überlassen wurde.79 So befahl der Oberbefehlshaber des Reichswehr-Gruppenkommandos 2, Generalleutnant v. Schoeler, am 3. Oktober 1919: »Wir müssen uns rein halten. Alle unsauberen Persönlichkeiten, alle Anhänger der kommunistischen und Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei müssen rücksichtslos aus der Reichswehr entfernt werden. Auch derjenige macht sich mitschuldig, der im Kameradenkreise einen Feind der Reichswehr […] duldet. Er ist sofort zu entlassen.«80 Interessant ist dabei weniger, dass tendenziell verfassungsfeindliche Parteigänger an sich aus der Reichswehr verstoßen werden sollten, sondern die Einseitigkeit solcher Maßnahmen, die Rechtsradikale in der Reichswehr ungeschoren ließ. Schließlich ist für Schoeler die Verfassungsfeindlichkeit von KPD und Teilen der USPD auch nicht der ausschlaggebende Punkt, sondern dass sie »Feind«, ja Schmutz waren von dem man sich »rein halten« musste. Dementsprechend gab das für Bayern zuständige Wehrkreiskommando VII (München) im Juni 1920 als Marschrichtung für den Unteroffiziernachwuchs aus, dass »ehemalige Mitglieder oder Anhänger von Soldatenräten […] nicht in die Reichswehr aufgenommen werden« durften und »baldigst zu entfernen« waren.81 In Hinblick auf die dezentrale Organisation des Personalersatzes nahmen die am 4. Juni 1921 durch den Reichspräsidenten aufgrund seines Verordnungsrechtes nach § 11 WG erlassenen Heeresergänzungsbestimmungen eine Schlüsselstellung ein. Diese im Reichswehrministerium ausgearbeitete Vorschrift fällt bereits in die Zeit Seeckts und Geßlers. Nach deren § 2 Nr. 2 war die »Werbetätigkeit […] in erster Linie in die Hände der Kompagnie- usw. Chefs zu legen, da diese besonders in der Lage sind, persönliche Beziehungen auszunutzen und unmittelbares Interesse an der Güte des Heeresersatzes haben.« Das bedeutete umgekehrt, dass man sich unmittelbar bei dem Truppenteil bewerben musste, in den man eintreten wollte. Im Ergebnis führte das zu einer Bevorzugung der ländlichen gegenüber den städtischen Freiwilligen.82 Praktisch zählten auch Juden, Sozialisten, Kommunisten und sogar erklärte Demokraten nicht zu den erwünschten Kreisen.83 In der sozialdemokratischen »Breslauer Volkswacht« vom 21. Oktober 1926 kritisierte Reichstagspräsident Paul Löbe (SPD) diesen Zustand als »unhaltbar, wenn sich die Republik 78 79 80
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Gesetz über die Pflichten der Beamten zum Schutze der Republik vom 11.7.1922, RGBl. 1922 I, S. 590–593; siehe auch Carsten, Reichswehr, S. 163. Wette, Noske, S. 374. Befehl des Oberbefehlshabers des Reichswehr-Gruppenkommandos 2, Generalleutnant v. Schoeler, über die Entlassung von Anhängern der KPD und USPD aus dem Heere vom 3.10.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 233 f. Wehrkreiskommando VII, Hpt.Nr.24716/ Ia Nr.4483., Betreff: Monatsberichte, vom 14.6.1920, S. 2, g/Abt. IV, RWGrKdo 4 Nr. 51. Siehe den mündlichen Bericht des Abgeordneten Oskar Hünlich (SPD) über den Haushalt des Reichswehrministeriums, der die Ergebnisse einer Herkunftsstatistik für die ersten drei Quartale 1927 schildert, Verhandlungen des Reichstags, Band 395, S. 13374. Messerschmidt, Juden, S. 55 f.; Craig, Armee, S. 429.
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nicht von ihrer eigenen Reichswehr auf der Nase herumtanzen lassen will.«84 Es könne nicht sein, dass die entscheidenden Stellen vor allem »Rückfrage bei vaterländischen und völkischen Verbänden, bei den Offizieren, in den Korps [=Studentenverbindungen, Anm. d. Verf.] und adligen Sippschaften« nähmen. Diese Kritik erscheint vor allem vor dem Hintergrund der ohnehin starken Kooperation der Reichswehrführung mit paramilitärischen Verbänden (»Schwarze Reichswehr«) durchaus nachvollziehbar. Löbe schlug demgegenüber eine Zentralisierung des Heeresersatzes unter Kontrolle durch »zivile Parlaments-Kommissare« vor. Die anschließenden Debatten im Reichstag fanden teils in Zusammenhang mit den Enthüllungen über die Geheimrüstung durch Philipp Scheidemann (SPD) statt, verliefen äußerst hitzig und dauerten bis Ende März 1927 an.85 General d. Inf. Reinhardt, der frühere Chef der Heeresleitung und zu dieser Zeit Oberbefehlshaber des ReichswehrGruppenkommandos 2 (Kassel), hielt dem Vorstoß Löbes in einem Zeitungsartikel vom 10. Januar 1927 entgegen, dass es nur sehr schwer möglich sei »wehrbegeisterte Männer in ausgesprochenen Linkskreisen zu finden.«86 Hierbei handelte es sich andererseits aber auch um ein Wahrnehmungsproblem der übergroßen Mehrzahl der auswählenden Kompaniechefs: Wenn es ihnen vordergründig allein um Wehrfreudigkeit und nationale Gesinnung ging, sie diese aber pauschal allen links vom Zentrum Stehenden absprachen, so war ihre Personalrekrutierung im Ergebnis eben nicht rein militärfachlich, sondern politisch.87 Reichswehrminister Geßler ließ sich von diesen Forderungen schließlich nicht beirren. In einer Weisung vom 7. September 1926 stellte er fest, dass gegenüber »den in der Öffentlichkeit aufgetretenen Bestrebungen, die Heeresergänzung zu zentralisieren, […] der Herr Chef der Heeresleitung [Seeckt] Wert darauf [legt], daß entsprechend den Heeresergänzungsbestimmungen vom 4. Juni 1921 die Truppenteile und vor allem die Kompagnie- usw. Chefs Träger des Ersatzgeschäfts bleiben.«88 Auch Seeckts Nachfolger, General d. Inf. Wilhelm Heye, bat in einer Ministerbesprechung vom 29. November 1926 »dringend, an der zur Zeit geübten Regelung des Ersatzwesens nichts zu ändern.«89 Zu groß war die Angst vor einem Zugriff der Parteipolitik, vor allem der Linksparteien, auf die Reichswehr. Und so gab der Reichswehrminister das sozio-ideologische Ergebnis seiner vordergründig an rein fachlichen Kriterien orientierten und »unpolitischen« Personalpolitik gegenüber der Öffentlichkeit als bloßen Zufall aus.90 Zusätzlich nahm Geßler den Zeitungsartikel Reinhardts in 84 85
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Artikel »Der Heeresersatz der Reichswehr«, Breslauer Volkswacht vom 21.10.1926, Nr. 246, S. 1 f., abrufbar unter: http://library.fes.de/breslau/volkswacht/pdf/1926/1926-246.pdf (Stand 12.03.2015). Verhandlungen des Reichstags, Band 391, S. 8580, 8586, 8618 f., 8624, 8792, 8808; Band 393, S. 10019, 10027, 10031 f., 10037 f., 10049, 10060–10063, 10080, 10084 f., 10087, 10108 f., 10141 f. . Siehe auch einen entsprechenden Antrag der DDP zum Haushalt des Reichswehrministeriums vom 28.3.1927 (unter B 1 und 2), Reichstagsdrucksache 3/3198. »Der Heeresersatz, von General der Infanterie Reinhardt, Oberbefehlshaber des Gruppenkommandos 2 in Kassel«, Deutsche Allgemeine Zeitung vom 10.1.1927, abgedruckt bei Schüddekopf, Heer, S. 218–220 (220). Carsten, Reichswehr, S. 286. zit. nach Akten der Reichskanzlei, Kabinette Marx III/IV, Band 1, Nr. 96, S. 267, Fn. 6. Akten der Reichskanzlei, Kabinette Marx III/IV, Band 1, Nr. 130, S. 377. Carsten, Reichswehr, S. 278–281.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
Schutz, der einige Volten gegen die SPD und die DDP enthielt, was zu einem Bruch zwischen dem Reichswehrminister und den Führern seiner Partei führte.91 Auch in der Reichskanzlei dachte man nicht anders: »Die Einflußnahme von parlamentarischen Kommissaren auf die Werbetätigkeit, wie sie der Herr Reichstagspräsident Löbe vorschlägt, dürfte m. E. einen Wettstreit der Parteien um die Quote zur Folge haben, die sie zur Reichswehr stellen können, und würde damit die Heeresergänzung, die nur nach den Bedingungen der beruflichen Tüchtigkeit erfolgen sollte, mit der Politik der Parteien verbinden. Ein warnendes Beispiel ist auf diesem Gebiet die österreichische Wehrmacht. Sie ist nach der Revolution nach rein parteipolitischen Grundsätzen in der überwiegenden Mehrzahl aus Angehörigen der sozialistischen Partei aufgebaut worden.« 92
Die neu bearbeiteten Heeresergänzungsbestimmungen vom 9. Dezember 1927 (H. Dv. 477)93 beließen es daher bei diesem Verfahren. Aber auch die egalitäre Verheißung des Parlamentsgesetzes, dass jeder Reichswehrsoldat »den Marschallstab im Tornister trägt«94 (§ 24 WG), die trotz ihrer Verankerung in den früheren Kriegsartikeln von 1902 keinerlei praktische Bedeutung im alten Heer erlangt hatte,95 konnte auf Grundlage der ebenfalls als Verordnung ergangenen Offizierergänzungsbestimmungen in der Praxis ausgehebelt werden. Die Auswahl des Offiziernachwuchses lag nämlich ebenfalls beim Militär selbst und war dezentral organisiert. Über die Zulassung zur Offizieranwärterlaufbahn entschied der jeweilige Regimentskommandeur,96 die fertig ausgebildeten Oberfähnriche mussten vor ihrer Beförderung zum Leutnant nach alter Sitte durch das Offizierkorps ihres Regiments gewählt werden.97 Seeckt bezeichnete dies mit dem Vokabular des Ständestaates als das »alte und schöne Vorrecht« des Offizierkorps »sich selbst zu verjüngen«.98 Auf diese Weise konnte sich das etablierte soziale Milieu problemlos selbst reproduzieren, das gegen Ende des Ersten Weltkriegs vorübergehend bedroht gewesen war, als in Anbetracht der hohen Offizierverluste bisher unerwünschte Kreise in das Offizierkorps einzudringen begonnen hatten.99 Entsprechend stellte eine Dissertation zum Offizierdienstverhältnis aus dem Jahre 1927 lapidar fest: »Von allzu großer praktischer Bedeutung ist 91 92
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Siehe den Briefwechsel Geßlers mit dem Parteivorsitzenden Erich Koch-Weser bei Schüddekopf, Heer, S. 220–227. Aufzeichnung vom 23.10.1926 des Regierungsrates Erwin Planck, Verbindungsmann des Reichswehrministeriums bei der Reichskanzlei, Akten der Reichskanzlei, Kabinette Marx III/IV, Band 1, Nr. 96, S. 266– 269. Verordnung über die Ergänzung des Heeres vom 9.12.1927 (Heeresergänzungsbestimmungen), RGBl. 1927 II S. 1169–1179. Mit geringfügigen Änderungen neu herausgegeben am 29.2.1932, RGBl. 1932 II S. 33–79. Siehe auch HVBl. 1928 S. 141; HVBl. 1929; S. 21, 50, 89, 130, 132; HVBl. 1930 S. 77. So wörtlich in Anlehnung an den Napoleon Bonaparte zugeschriebenen Ausspruch (»Tout soldat français porte dans sa giberne le bâton de maréchal de France«) im Entwurf eines Wehrgesetzes nebst Begründung vom 19.1.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 16. Art. 4 Abs. 1 der Kriegsartikel für das preußische Heer vom 17.10.1902, HVBl. 1902, S. 279–284; siehe aber auch schon § 48 des Entwurfs zu einem Gesetze über die deutsche Wehrverfassung von 1848. Nr. 1 und 11 OEB 1920. Nr. 44 f. OEB 1920. Erlass des Chefs der Heeresleitung vom 20.1.1923 betreffend Erziehung und Behandlung der OffizierAnwärter, abgedruckt bei Messerschmidt/Gersdorff, Offiziere, S. 229–231 (230). Die zunehmende Egalisierung des Offizierkorps erreichte erst der Nationalsozialismus unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs, siehe hierzu umfassend Kroener, Menschenbewirtschaftung, S. 856–878.
1. Das Laufbahnrecht und das Wehrersatzwesen
127
dieser Grundsatz von dem ›Marschallstab im Tornister jedes Soldaten‹ nicht«.100 So dienten im Jahr 1928, also schon neun Jahre nach Gründung der Reichswehr, gerade einmal 117 ehemalige Unteroffiziere als Offizier im Heer, was einem Anteil von etwa 3,5 % am gesamten Offizierkorps entsprach.101 In einer späteren Studie aus dem Jahr 1933 spricht Seeckt auch mehr oder weniger unverhohlen davon, dass dieses Ergebnis ihm sehr zupass kam: »Bei der Formierung des Offizierkorps mußte die Frage nach der Übernahme der aus dem Unteroffizier- und Mannschaftsstande hervorgegangenen Offiziere auftauchen. […] Ihrem längeren Verbleiben und ihrem Aufstieg zu höheren Stellungen stand häufig ihr Lebensalter entgegen, das ihrem Dienstgrad nicht mehr entsprach. Außerdem war es ihnen vielfach nicht möglich, sich neben dem täglichen Dienst noch die für ihre und die nächsthöhere Stelle notwendigen wissenschaftlichen und militärischen Kenntnisse zu erwerben. So löste sich diese Frage ganz von selbst.«102 Grundlage für die Beförderungen der Offiziere bildeten die von Vorgesetzten angelegten Beurteilungen; Mannschaften und Unteroffiziere wurden noch nicht formell beurteilt. Die Beurteilungen lösten die früheren »Personal- und Qualifikationsberichte« des alten Heeres ab.103 Allerdings stimmten sie in einem wichtigen, viel kritisierten Punkt mit diesen überein: So gab es für die Soldaten der Reichswehr (anders als für die Beamten) keine verfassungsrechtliche Garantie auf Einsichtnahme in die eigenen Personalakten.104 Auch das Wehrgesetz räumte den Berufssoldaten kein solches Recht ein. Es stand ihnen nur nach Maßgabe der Dienstvorschriften zu, die hierzu eine klare Ansage machten: »Die Beurteilungen sind lediglich für den Reichswehrminister und den Chef der Heeresleitung bestimmt und dürfen ebensowenig wie die Entwürfe […] dem Beurteilten oder anderen als den nach den Dienstvorschriften berechtigten Behörden oder Personen ohne Genehmigung des Chefs der Heeresleitung zur Einsichtnahme überlassen oder abschriftlich mitgeteilt werden.« Eine Eröffnung und Bekanntgabe sahen die Beurteilungsbestimmungen lediglich mündlich und nur insoweit vor, wie die Beurteilung Aufstellungen enthielt, »die geeignet sind, die weitere militärische Verwendung des Beurteilten ungünstig zu beeinflussen«.105 Zudem war dem Offizier in Hinblick auf die eröffneten Aufstellungen der formelle Beschwerdeweg versperrt.106 Auch in diesem wichtigen personalrechtlichen Aspekt erfuhren die Soldaten der Reichswehr also im Vergleich zu den 100 101 102 103 104
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Petersen, Offizierdienstverhältnis, S. 6 f. Verhandlungen des Reichstags, Band 395, S. 13374; Carsten, Reichswehr, S. 236; Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 32. Seeckt, Reichswehr, S. 70 f. Absolon, Wehrmacht, Band 2, S.84–86 und 306. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 129 Anm. 12. Zur Kritik siehe die Äußerung des Abgeordneten Daniel Stücklen (MSPD), Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 330, S. 3531. Nr. 21 f. der Bestimmungen über Aufstellung und Vorlage der Offizierbeurteilungen (Beurteilungsbestimmungen/B.B.), Dv. Pl. Nr. 291, vom 30.7.1921; im Wesentlichen identisch mit Nr. 22–24 der neuen Beurteilungsbestimmungen (B.B.), H. Dv. 291, vom 9.8.1926; ebenso Abschnitt B Nr. 5 der Bestimmungen über Aufstellung und Vorlage der Beurteilungen der Offiziere des Reichsheeres (B.B.), H. Dv. 291, vom 29.8.1931. Abschnitt A Nr. 4 Buchstabe d der Beschwerdeordnung für die Angehörigen der Wehrmacht (B.O.) vom 15.11.1921 (Neudruck 1929), H. Dv. 3k I (= M. Dv. 15). Siehe zum Beschwerderecht weiter unter Kapitel VII.2.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
übrigen Staatsdienern eine empfindliche Sonderbehandlung. Sie ließ eine intransparente Steuerung anhand von Maßstäben zu, die jenseits der fachlichen und persönlichen Qualifikation lagen und sich insbesondere auf die politische wie sonstige Gesinnung des Beurteilten beziehen konnten. Ein weiteres Indiz für die konservative Ausrichtung der Heeresergänzungsbestimmungen ist schließlich auch der Ausschluss derjenigen von Werbung und Einstellung in die Reichswehr, die »wegen mangelnder Befähigung oder Degradation aus […] dem früheren Heer, der früheren Marine, den früheren Schutztruppen […] ausgeschieden« sind (§ 9 Nr. 1 c HEB 1921).107 Die alten Maßstäbe galten also ungebrochen fort – eine Revolution sieht anders aus. Seeckt gab dies in der bereits angesprochenen Studie auch ungeniert zu: Für die Nachwuchsgewinnung »mußte über bestimmte Grundsätze Klarheit gewonnen werden. Das erste neu zusammengestellte Offizierskorps besaß infolge seiner Herkunft aus der alten Armee eine große Gleichartigkeit im Wesen, in der Erziehung und Denkweise. Diese Übereinstimmung mußte erhalten werden; […] So ergab sich die Aufgabe, den Nachwuchs bei solchen Persönlichkeiten zu suchen, welche entweder die Denkungsweise [sic!], die dem alten Offizierkorps gemeinsam gewesen war, mitbrachten, oder die Aussicht boten, sie sich anzueignen.«108 Der Personalkörper der Reichswehr wurde also hinsichtlich der Mannschaften, Unteroffiziere und teilweise der jüngeren Offiziere vor allem vom Freikorps- und Frontkämpfergeist, bei den übrigen Offizieren von monarchistischem Elitedenken geprägt. Reichswehrminister Geßler erkannte darin aber wie schon sein Vorgänger Noske kein Hindernis, »die Reichswehr zu einem wirklichen Instrument der deutschen Republik zu machen«. In Übereinstimmung mit Seeckts »Attentismus« war er der Ansicht, [a]uch mit monarchistischer Gesinnung sei loyaler Dienst in der Republik vereinbar«, nur »antirepublikanische Äußerungen« seien »im Heere der Republik unzulässig«.109 Einen echten personellen Neuanfang gab es für die Reichswehr damit nicht. So lebte in ihr der wilhelminische Militarismus in verklärter, in Anbetracht des Freikorpsgeistes teils sogar radikalisierter Form fort.110 Das Ende der allgemeinen Wehrpflicht in Verbindung mit der weitgehenden Autarkie des Militärs bei der Rekrutierung führte zu geringerer gesellschaftlicher Durchmischung, zu geistiger Homogenisierung und gesellschaftlicher Abschottung der Reichswehr. Folgt man dem Theorem des demokratischen Friedens,111 dass Demokratien untereinander (fast) keine Kriege führen, so wurde die vom Versailler Vertrag beabsichtigte Demilitarisierung und Befriedung des Deutschen Reiches durch die von ihm vorgeschriebene Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht gerade nicht begünstigt, sondern vielmehr konterkariert, da sie die Integration der Streitkräfte in 107 108 109 110
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Siehe auch Semler, WG-Kommentar, S. 18. Seeckt, Reichswehr, S. 68 f. Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1301; siehe auch die Erwiderung von Kurt Rosenfeld (USPD), Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3201. Um die von Noske selbst behauptete Alternativlosigkeit einer (personellen) Anknüpfung an den preußisch-deutschen Militarismus vor dem Hintergrund einer (vermeintlich) drohenden »bolschewistischen Gefahr« herrscht Streit. Kritisch sehen dies Wette, Noske, S. 790–801, sowie Haffner, Revolution, S. 212–215. Anders hingegen Dietz, Primat, S. 169 f. Wichtig ist hier aber nur, dass eine solche Anknüpfung stattfand. Siehe zum Überblick m. w. N. Rissen-Kappen, Frieden.
1. Das Laufbahnrecht und das Wehrersatzwesen
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den republikanischen Staatsaufbau und ihre Unterordnung unter die demokratisch gewählte Regierung erschwerte. Zumindest im Ergebnis zutreffend bezeichnete der Wehrgesetz-Kommentar Semlers die allgemeine Wehrpflicht als »den demokratischsten aller Grundsätze«.112 Diese tatsächlichen Entwicklungen sind aber auch für das Zustandekommen weiter Teile des Wehrrechts der Weimarer Republik von entscheidender Bedeutung, da die Reichswehr, wie bereits dargestellt, der parlamentarischen Kontrolle weitestgehend entzogen war und ihre inneren Angelegenheiten auch rechtlich selbständig regelte. Je mehr Antirepublikaner also in der Reichswehr dienten, umso antirepublikanischer wurde auch ihr Wehrrecht, insbesondere das Recht des Personalersatzes, wodurch wiederum republiktreue Elemente ferngehalten wurden. Dieser nahezu hermetisch geschlossene, republikfeindliche Teufelskreis war unter der gegebenen Wehrverfassung nur schwer zu durchbrechen.
c) Söldner, Berufssoldat oder Beamter? Die zeitgenössische Literatur problematisierte in auffallender Weise das »Wesen« oder die »Natur« des neuen soldatischen Dienstverhältnisses. Wenn auch die Tauglichkeit dieser Begriffe sehr begrenzt sein mag, so lässt sich ihr historischer Gebrauch doch nicht ignorieren. Am ehesten wird man darunter zeitgenössische Zuschreibungen der Rechtslehre verstehen müssen, die nicht unmittelbar mit rechtlichen Folgerungen verbunden waren, jedoch geeignet sein konnten, der Beurteilung verschiedener Rechtsfragen des Dienstverhältnisses eine gewisse Richtung zu geben, etwa bei der Frage der Analogiefähigkeit anderweitiger Normen. Zunächst einmal setzten sich die Materialien und die Literatur zum Wehrgesetz mit einer frappierenden Häufigkeit mit dem Begriff des Söldners auseinander und grenzten ihn vom Berufssoldaten ab. Dabei gab es, wie bereits oben geschildert, eine fast schon panische Abneigung gegen ein »Söldnerheer«, eine Angst davor »den Schutz von Haus und Hof Männern anzuvertrauen, die ihn für Geld und als einen bloßen Beruf ausüben«.113 Auch in parlamentarischen Debatten trat die Abneigung gegen die Bezeichnung »Söldnerheer« früh zutage,114 obschon auch das Reichsgericht den Begriff wertneutral verwendete.115 Schon auf der ersten Seite zur Begründung des Wehrgesetzes wird darauf eingegangen: »Die allgemeine Wehrpflicht, die natürliche, der geschichtlichen und freiheitlichen Entwicklung des deutschen Volkes entsprechende Wehrverfassung, die jedem Deutschen in Fleisch und Blut übergegangen war, ist gemäß Artikel 173 jenes Vertrags zu ersetzen durch eine an längst überwunden geglaubte Zeiten erinnernde Werbung von langdienenden freiwilligen Soldaten.«116 112 113 114 115 116
Semler, WG-Kommentar, S. 6. Semler, WG-Kommentar, S. 6. Siehe etwa die Äußerungen der Abgeordneten Erich Emminger (BVP), Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2247; Anton Rheinländer (Zentrum), Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3197. RGSt 56, 19. Entwurf eines Wehrgesetzes nebst Begründung vom 19.1.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 15. Eine Entwurfsbegründung aus dem Frühjahr 1920 wurde sogar noch deutlicher: »Es gilt dabei, den schon aus
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
Angespielt wurde hier auf die Organisation des preußischen Militärs vor 1806 und vor den Heeresreformen nach der katastrophalen Niederlage bei Jena und Auerstedt. Als deren wesentliche Errungenschaft in Vorbereitung auf die Befreiungskriege gegen Napoleon galt die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Den Schöpfern des Gesetzes standen aber vor allem die noch frischen Erfahrungen mit den Freikorps und ihrer Freiwilligenanwerbepraxis vor Augen117, die selbst ihre eigenen Führer an die Zeiten Wallensteins erinnerten.118 Im juristischen Schrifttum fanden sich dazu Erläuterungen wie: »Ein Söldnerheer ist eine Truppe, die auf Grund eines Dienstvertrages angeworben ist und keine politisch-ethischen Beziehungen zu dem Staatsoberhaupt oder dem Staate hat, dem sie zu militärischen Dienstleistungen verpflichtet ist. […] Die heutige Wehrmacht [aber] ist kein Heer von Söldnern, die, jedem geregelten Leben abhold, nur die Lust am Waffenhandwerk treibt, sondern ein von sittlichen Idealen erfülltes Volksheer, das nicht den Abschaum, sondern die Besten des Volkes unter seinen Fahnen vereinigt.«119
Aus all diesen Bekundungen folgte für die rechtliche Stellung des Reichswehrsoldaten zunächst einmal nichts. Auch in der Begründung zum Reichsbesoldungsgesetz vom 30. April 1920120 war vom »Söldnerheer« die Rede, ohne dass damit erkennbar mehr beschrieben werden sollte als die auferlegte Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht. Dass sich die tatsächliche Stellung des Reichswehrsoldaten nicht der von Söldnern nach der Gestalt des Dreißigjährigen Krieges angenähert hat, wird man vor allem der gefestigten Militärtradition des 19. Jahrhunderts zuschreiben müssen, die ja in der Reichswehr besonders hochgehalten wurde. Ein »Volksheer« war sie in Anbetracht der Personalergänzungspolitik gleichwohl nicht. In rechtlicher Hinsicht bestand der Unterschied, auch im Vergleich zur französischen Légion étrangère, vor allem darin, dass nur deutsche Staatsangehörige zum Dienst in der Reichswehr zugelassen waren (§ 1 Abs. 2 WG). Auch gingen die Soldaten der Reichswehr nicht einem bloßen »Gelegenheitsjob« nach; wie bei jedem anderen Beruf gingen sie ihr Dienstverhältnis freiwillig und für eine gewisse Dauer zur Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage ein. Dementsprechend führte Art. 129 Abs. 4 WRV auch erstmals den Rechtsbegriff des »Berufssoldaten« ein, der hier allerdings – anders als heute – für sämtliche Soldaten der Reichswehr gebraucht wurde, also auch für die lediglich auf zwölf Jahre Verpflichteten.121
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der Geschichte und aus den Erfahrungen anderer Länder bekannten Gefahren des Söldnersystems entgegenzuarbeiten, die insbesondere in [sic!] Hineinströmen fragwürdiger Existenzen bei der Werbung, dann in der Abstumpfung der lang dienenden Leute und schließlich in der Schwierigkeit ihrer Überführung in das bürgerliche Berufsleben nach vollender [sic!] Dienstzeit zu suchen sind.« – Entwurf eines Reichswehrgesetzes nebst Begründung, Reichswehrministerium, Nr. 36.[unleserlich].20. T 5., vom 7.2.1920, BArch R 43-I/609, fol. 14–35 (26). Papke, Rechtsstellung, S. 24 f. Maercker, Kaiserheer, S. 226. Paffrath, Reichswehrsoldat, S. 64 m. w. N. Begründung vom 26.3.1920 zum Entwurf eines Reichsbesoldungsgesetzes vom 23.3.1920, Nationalversammlungsdrucksache 2471, S. 16. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 129 Anm. 6; Papke, Rechtsstellung, S. 24 f.; Hüsing, Wehrverfassung, S. 30.
1. Das Laufbahnrecht und das Wehrersatzwesen
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Eine ähnliche Diskussion drehte sich um die Frage, inwieweit das Dienstverhältnis des Reichswehrsoldaten demjenigen des Reichsbeamten gleich- oder doch zumindest nahekam. Der Gedanke einer prinzipiellen Identität war bereits von Laband in Bezug auf das Offizierdienstverhältnis im Bismarckreich entwickelt worden, vor allem wegen der im Vergleich zu den Wehrpflichtigen freiwilligen und sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Verpflichtung: »Der Eintritt in den berufsmäßigen Militärdienst ist Eintritt in den berufsmäßigen Staatsdienst; der Offizier ist im juristischen Sinne ein Staatsbeamter […]. Nicht in den Grundsätzen über die Wehrpflicht, sondern in den Grundsätzen des Beamtenrechts sind demnach die allgemeinen Rechtsnormen zu suchen, welche für das Dienstverhältnis der Offiziere usw. maßgebend sind«.122 Die Argumentation Labands muss allerdings vor dem Hintergrund gesehen werden, dass das Offizierdienstverhältnis seiner Zeit – wie bereits erwähnt – rechtlich fast überhaupt nicht geregelt gewesen war und insofern ein Analogiebedürfnis bestand. Davon konnte unter dem Wehrgesetz aber keine Rede mehr sein. Gleichwohl führten einige Stimmen die Argumentation Labands mit Verweis darauf weiter, dass es mit dem Wegfall der Wehrpflicht ausschließlich freiwillige Berufssoldaten gleich welcher Laufbahn gäbe, die in der Konsequenz allesamt als Beamte anzusehen seien.123 Diese Auffassung konnte sich freilich nicht durchsetzen. Schon die separate Aufzählung der Beamten und der Berufssoldaten in Art. 129 Abs. 1 und 2 WRV sowie die Beratungen der Nationalversammlung ließen keinen Zweifel daran, dass Beamte und Soldaten grundsätzlich zwei verschiedene Rechtsbegriffe bleiben sollten.124 Gleichwohl war nicht zu verkennen, dass trotz der kategorischen Verschiedenheit der beiden der Beamte bei der Schaffung des Laufbahn- und Statusrechts der Berufssoldaten nach dem Wehrgesetz gewissermaßen ein Vorbild gewesen war, der Soldat damit zwar nicht als Beamter, aber doch zumindest als beamtenähnlich galt.125 Indem es die Gedanken Labands aufgegriffen hatte, bewirkte das Wehrgesetz jedenfalls eine Verrechtlichung sowie ein Stück weit auch eine Normalisierung und Zivilisierung des Berufssoldaten. Dies erkannte rückblickend ebenso Carl Schmitt – wenn auch spöttisch – im Jahr 1934: »Es ist in höchstem Maße kennzeichnend für die bürgerliche Staatsrechtslehre […], daß sie die ›eigenartigen Beziehungen zwischen dem Soldaten und dem Staat‹ als eine bloße Modifikation des zivilen Beamtenverhältnisses, als ein von diesem nicht wesentlich verschiedenes ›Gewaltverhältnis‹ zu deuten suchte […]. Die öffentlich-rechtliche Theorie trug auf diese Weise dazu bei, den Soldaten in einen zivilen Beamten zu verwandeln, ihm seine spezifische Wesensart zu nehmen und ihn dadurch in das Rechtssystem des bürgerlichen Verfassungsstaates einzubeziehen.«126
Diese Ähnlichkeit darf allerdings nicht überbewertet werden, sie war viel mehr deskriptiver als normativer Natur, aus ihr folgte rechtlich nichts.127 Für das Dienstver122 123 124 125 126 127
Laband, Staatsrecht, Band 4, S. 189. So Paffrath, Reichswehrsoldat, S. 65 f.; Schneider, Polizei, S. 20, Fn. 47. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 1635. Papke, Rechtsstellung, S. 25 f.; Rittau, WG-Kommentar, S. 101; Semler, WG-Kommentar, S. 56 f., 85. Schmitt, Staatsgefüge, S. 13. Ausführliche kritische Anmerkungen hierzu bei Grothe, Geschichte, S. 270–286. Eine ähnlich fruchtlose Diskussion über die Vergleichbarkeit ergab sich auch in der Bundesrepublik, siehe Steinkamm, Probleme, S. 1471–1474 m. w. N.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
hältnis des Soldaten war ausschließlich das Wehrgesetz und nicht das Reichsbeamtengesetz maßgeblich; die partiellen Ähnlichkeiten mit den Beamten enthoben nicht der besonderen rechtlichen Beurteilung des soldatischen Dienstverhältnisses. Auch war die Annäherung nicht Ausdruck eines politischen Willens oder Konzeptes gewesen. Zwar war man sich im Klaren darüber, dass an der Idee eines patrimonialen und überwiegend ideellen Treueverhältnisses wegen des Fortfalls der Monarchie nicht festgehalten werden konnte.128 Jedoch fand man bei der unfreiwilligen Umwandlung des gesamten Personalkörpers in eine Berufsarmee das beamtenrechtliche Vorbild schlicht als einigermaßen passend vor und modifizierte es entsprechend der militärischen Bedürfnisse.129 Dass es überhaupt zu einer rechtlichen Verfestigung des soldatischen Dienstverhältnisses kam, lag vor allem im Interesse der Siegermächte, die zwecks Verhinderung der Bildung versteckter Personalreserven auf eine transparente und klare Regelung des Laufbahnrechts pochten: So veranlasste die Interalliierte Militär-Kontrollkommission durch ihre Note vom 22. April 1921 sogar die erste und zugleich letzte Änderung des Wehrgesetzes vom 18. Juni 1921,130 um beispielsweise sicherzustellen, dass die Dienstzeit nicht erst mit der Aushändigung des Verpflichtungsscheines, sondern bereits mit dem Tage des Dienstantrittes begann und eine versteckte »Probedienstzeit« somit ausgeschlossen wurde.131 So belegen auch die Begründung und die Beratungen zum Entwurf des Wehrgesetzes, dass die Annäherung des Berufssoldatenstatus an das Beamtenverhältnis im Sinne einer festen rechtlichen Basis vor allem in den längeren Verpflichtungszeiten einer Berufsarmee und damit in heteronomen Ursachen begründet lag.132 Für die Konturierung der subjektiven Rechtsstellung sind diese Vergleiche also nur bedingt geeignet, hier kommt es vielmehr auf die einzelnen Regelungen insbesondere des Wehrgesetzes an.
d) Vertrag oder einseitig-hoheitlicher Akt? Eine ähnlich dogmatisierte Diskussion drehte sich um die Frage, inwieweit das Dienstverhältnis einen Vertrag darstellte oder ihm zumindest ein Vertrag zugrunde lag; darüber hinaus, ob und inwieweit die zivilrechtlichen Vorschriften über Verträge darauf Anwendung fänden. Die Frage stellte sich deshalb, weil der Wehrdienst ja fortan ausschließlich freiwillig geleistet werden konnte und daher irgendeine Form von Konsens des Bewerbers verlangt werden musste. Der Monarch als ursprüngliche Bezugsperson des Dienstverhältnisses stand seit dem November 1918 nicht mehr zur Verfügung. Dagegen war die Vorstellung, mit dem Staat unmittelbar einen Vertrag 128 129 130 131 132
Petersen, Offizierdienstverhältnis, S. 4; Semler, WG-Kommentar, S. 85. Semler, WG-Kommentar, S. 57 f. RGBl. 1921 S. 787. Rittau, WG-Kommentar, S. 63 f. Entwurf eines Wehrgesetzes nebst Begründung vom 19.1.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 17: »Der Soldatenberuf ist also für die Mannschaften und Unteroffiziere nur als Durchgangsberuf, für die Offiziere dagegen als Lebensberuf anzusehen und zu bewerten. Aus diesem Grunde ist das Offizierdienstverhältnis […] dem Beamtendienstverhältnis in größerer Weise angenähert als das Dienstverhältnis der Mannschaften und Unteroffiziere«.
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schließen zu können, zumindest der Rechtslehre des frühen 19. Jahrhunderts noch fremd gewesen. Erst die spätere positivistische Staatsrechtlehre insbesondere Carl Friedrich v. Gerbers und Paul Labands konzipierte den Staat als juristische Person in Nachahmung des zivilrechtlichen Personenbegriffs Friedrich Carl v. Savignys, also als einen eigenen Träger von Rechten und Pflichten jenseits der natürlichen Person des Monarchen.133 Gleichwohl folgte noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die wohl überwiegende Auffassung insbesondere Otto Mayer, der die Begründung eines Staatsdienstverhältnisses als einen einseitigen Verwaltungsakt betrachtete, der – wenn überhaupt – lediglich zur Wirksamkeit der Zustimmung des Bediensteten bedurfte.134 Diese Ansicht ist jedoch für das Wehrdienstverhältnis in der Reichswehr nur sehr vereinzelt vertreten worden.135 Ausgangspunkt der Auseinandersetzungen bildete auch hier das Wehrgesetz. In den §§ 20, 21 WG war hinsichtlich des Dienstverhältnisses der Mannschaften und Unteroffiziere von der Verlängerung oder Lösung des Vertrages die Rede. Bei den Offizieren (§§ 25 ff. WG) wurden hingegen ausschließlich die Begriffe »Verpflichtungszeit« (§ 25 Abs. 2 WG) oder »Dauer der Dienstverpflichtung« (§ 26 Abs. 1 WG) verwendet. Aus dieser Unterscheidung konnte wegen der grundsätzlichen Einheitlichkeit der Dienstverhältnisse aber nichts für die Frage nach deren Vertragsqualität gefolgert werden.136 Übereinstimmend ging auch die Begründung zum Entwurf des Wehrgesetzes davon aus, dass jedes Wehrdienstverhältnis auf einem »öffentlichrechtlichen Vertrage« beruhte. Dort kam auch schon zum Ausdruck, was sich später als die herrschende Lehre durchzusetzen vermochte: Die Abstraktion des öffentlichrechtlichen Vertrags, der das Dienstverhältnis begründete, von dem Dienstverhältnis als solchem.137 So heißt es: »Das militärische Dienstverhältnis der Soldaten beginnt jedoch nicht bereits mit dem Abschluß dieses Vertrags, sondern […] erst mit dem Tage des Dienstantritts. Demgemäß ist auch die Beendigung des Dienstverhältnisses von dem Bestande des Vertrages insofern unabhängig, als die Zugehörigkeit zur Wehrmacht in allen Fällen bis zum Ablauf des Entlassungstages dauert«.138 Das Reichsgericht folgerte in einer zivilrechtlichen Entscheidung über die vermögensrechtlichen Ansprüche von Reichswehrangehörigen aus Art. 129 Abs. 4 WRV, der den Soldaten für ihre vermögensrechtlichen Ansprüche aus dem Dienstverhältnis den Rechtsweg garantierte, dass es sich bei dem das Dienstverhältnis begründenden Vertrag nur um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag handeln könne.139 Würde man nämlich von einem privatrechtlichen Vertrag ausgehen, so wäre der Rechtsweg ohnehin gegeben und die Vorschrift somit überflüssig, so das Reichsgericht.140 In einem späteren Strafurteil wiederholte es diese Auffassung und fügte hinzu, dass die allge133 134 135 136 137 138 139 140
Einen guten Überblick gibt Grote, Verfassungsorganstreit, S. 14–24; siehe auch Laband, Staatsrecht, Band 1, S. 94, Fn. 1 m. w. N. Mayer, Lehre, S. 38–42. Diese Auffassung vertrat bereits Gönner, Staatsdienst, S. 153. Petersen, Offizierdienstverhältnis, S. 8–10. Ruckdeschel, Dienstverhältnis, S. 15; Semler, WG-Kommentar, S. 57. Ruckdeschel, Dienstverhältnis, S. 15, 17; Entwurf eines Wehrgesetzes nebst Begründung vom 19.1.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 16. Siehe auch § 32 WG. RGZ 99, 261.
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meinen Vorschriften des BGB zum Zustandekommen von Verträgen anwendbar seien, insofern keine Spezialvorschriften entgegenstünden, wie etwa die Heeresergänzungsbestimmungen hinsichtlich der Form des Vertragsschlusses.141 Die maßgebliche Kommentarliteratur schloss sich dieser Auffassung an.142 Dabei verwies Rittau zusätzlich auf die seiner Ansicht nach nunmehr entsprechend anwendbaren Ausführungen Labands zum Beamtendienstvertrag, der deswegen kein »Kontrakt des Obligationenrechts« sein könne, weil er ein besonderes Gewaltverhältnis begründe.143 Aus der Abstraktion zwischen öffentlich-rechtlichem Vertrag und Dienstverhältnis folgte, dass Inhalt und Umfang der Dienstpflicht nicht Bestandteil des Vertrages, sondern vielmehr objektiv-rechtlicher Natur waren und vor allem einseitig durch den Staat festgelegt werden konnten; ein entsprechender Konsens des Soldaten war selbstverständlich nicht erforderlich.144
e) Gelöbnis und Eid Im Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts trat der Gedanke einer ideellen Verfassungstreue erstmals in Konkurrenz zu der im Mittelalter geborenen, personalen Herrschertreue. Zu einem ersten offenen Konflikt kam es, als der neue König Ernst August von Hannover 1837 kurz nach seiner Inthronisation die Beamten seines Königreichs von der liberalen Verfassung von 1833 entband, was allerdings außerhalb der ihm darin zugeschriebenen Kompetenzen lag. Zu Recht wies der Protest der »Göttinger Sieben« darauf hin, dass der Konstitutionalismus im Ergebnis die Verfassungs- über die Königstreue stellte.145 Die Paulskirchenverfassung von 1849 wiederum suchte speziell für das geplante Reichsheer einen Ausgleich der beiden Prinzipien: »In den Fahneneid ist die Verpflichtung zur Treue gegen das Reichsoberhaupt und die Reichsverfassung an erster Stelle aufzunehmen.«146 Modellbildend für die Situation im Bismarckreich wurde Art. 108 der reaktionär-oktroyierten Verfassung für Preußen vom 31. Januar 1850: »Die Mitglieder der beiden Kammern und alle Staatsbeamte leisten dem Könige den Eid der Treue und des Gehorsams und beschwören die gewissenhafte Beobachtung der Verfassung. Eine Vereidigung des Heeres auf die Verfassung findet nicht statt.«147 Mit der Novemberrevolution von 1918 aber waren die allein auf den Monarchen geleisteten Fahneneide Makulatur geworden; in seiner Abdankungsurkunde entband der Kaiser alle Angehörigen des alten Heeres und der Marine ihres Treueids – 141 142 143 144 145 146 147
RGSt 56, 19. Vergleiche auch den heutigen § 62 VwVfG. Semler, WG-Kommentar, S. 58; Rittau, WG-Kommentar, S. 73. Im Ergebnis zustimmend auch Ruckdeschel, Dienstverhältnis, S. 18 f. Laband, Staatsrecht, Band 1, S. 434. Semler, WG-Kommentar, S. 56; Rittau, WG-Kommentar, S. 76; ausführlich Ruckdeschel, Dienstverhältnis, S. 21–25. Kaufmann, Treue, Sp. 332–334; Huber, Verfassungsgeschichte, Band 2, S. 91–106. § 14 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 28.3.1849, RGBl. 1849 S. 101–147; abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 1, S. 375–396. Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31.1.1850, Preußische Gesetzsammlung 1850, S. 17–35. Siehe auch Art. 64 Abs. 1 RV 1871.
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ein wichtiger Schritt, der in den Novembertagen 1919 Gewissensbisse beim Militär verhinderte und das Zusammengehen mit der Sozialdemokratie erleichterte. Schon am 10. Dezember 1918 ließ Ebert Generalleutnant Arnold Lequis in einer improvisierten Zeremonie im Rathaus Steglitz stellvertretend für das deutsche Heer und unter Bezugnahme auf das Regierungsbündnis mit der OHL ein Treuegelöbnis auf die »einige deutsche Republik« und ihre provisorische Regierung ablegen. Lequis war zu dieser Zeit Kommandierender General eines nach ihm benannten Generalkommandos, das im Raum Berlin für Ruhe und Ordnung im Sinne der OHL sorgen sollte. Die Inpflichtnahme war mit dem Rat der Volksbeauftragten nicht abgesprochen gewesen und wurde insbesondere von Rosa Luxemburg als Machtdemonstration und Drohgebärde Eberts interpretiert.148 Die Freikorps der unmittelbaren Nachrevolutionszeit wiederum fühlten sich primär ihren jeweiligen Führern verpflichtet; auf Geheiß der OHL gelobten sie einheitlich Treue lediglich gegenüber der »vorläufigen Regierung des Reichskanzlers Ebert« und nicht zu einer bestimmten Staatsform.149 Die vorläufige Reichswehr wiederum leistete – noch in Ermangelung einer neuen Reichsverfassung – nach § 11 AVGvRW folgendes Gelöbnis: »Ich gelobe, daß ich mich als tapferer und ehrliebender Soldat verhalte, der Verteidigung des Deutschen Reichs und meines Heimatstaats zu jeder Zeit und an jedem Orte meine ganze Kraft widmen, die vom Volke eingesetzte Regierung schützen und meinen Vorgesetzten Gehorsam leisten will.«
Art. 176 WRV ordnete schließlich an, dass sämtliche Angehörige der »Wehrmacht« auf die Reichsverfassung zu vereidigen waren; gleichzeitig wurde der Reichspräsident zur Regelung des Näheren auf dem Verordnungswege ermächtigt. Auch hier lässt sich die wehrverfassungsrechtliche Inkonsequenz der Gründer von Weimar ablesen: Einerseits machte die Reichsverfassung eine klare Vorgabe zugunsten einer »erweiterten Eidespflicht«, die also auch und vornehmlich die Treue zur Reichsverfassung beinhaltete.150 Andererseits wurde der Eideswortlaut selbst nicht durch die Verfassung vorgegeben oder dem parlamentarischen Gesetzgeber anheimgestellt. Die Zuständigkeit des Reichspräsidenten in dieser Frage kann also als eine erneute Reminiszenz an den Monarchen gedeutet werden. Der Reichspräsident machte von seiner Befugnis mit der Verordnung vom 14. August 1919 Gebrauch.151 Der von den Soldaten der Reichswehr zu leistende Eid lautete von nun an: »Ich schwöre Treue der Reichsverfassung und gelobe, daß ich als tapferer Soldat das Deutsche Reich und seine gesetzmäßigen Einrichtungen jederzeit schützen, dem Reichspräsidenten und meinen Vorgesetzten Gehorsam leisten will.«152
Dieser Eid enthielt somit dreierlei: Erstens die Treue zur Verfassung, zweitens das Bekenntnis zur Dienstpflicht, das Reich und seine Institutionen zu schützen, und 148 149 150 151 152
Gietinger, Konterrevolutionär, S. 77 f. Dietz, Primat, S. 203. Hierbei handelte es sich um einen alten wehrverfassungsrechtlichen Streit, siehe m. w. N. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 598 f. Verordnung des Reichspräsidenten über die Vereidigung der öffentlichen Beamten vom 14.8.1919, RGBl. 1919 S. 1419 f. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Bauer, Nr. 42, S. 177.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
drittens einen Gehorsamseid. Zwischen den so beteuerten Pflichten, vor allem zwischen Verfassungstreue und Gehorsamspflicht, waren selbstverständlich Kollisionen denkbar. Die von Ebert gewählte Formel räumte dabei der Verfassungstreue durch Nennung an erster Stelle bewusst den Vorrang ein.153 Anders als etwa die Gehorsamspflicht war sie allein auch durch Art. 176 WRV dem Inhalt des Fahneneides vorgegeben. Nach einem Ausführungserlass Noskes war die »Vereidigung in würdiger Form, ohne kirchliche Feier zu vollziehen«.154 Gemäß der »Homburger Vereinbarung« vom Februar 1924 zur Beilegung des Konfliktes zwischen dem Reich und Bayern sollte der Eid dahingehend geändert werden, dass er die Treue zur Verfassung des »Heimatstaates« umschloss.155 Allerdings lässt sich der Gebrauch dieser Formel für die Reichswehr nicht nachweisen.156 Die Soldaten leisteten den Eid kurz nach ihrem Eintritt in die Reichswehr in einem nichtöffentlichen Rahmen in der Kaserne; eine öffentliche Vereidigung mit Teilnahme der Bevölkerung und Ansprachen örtlicher politischer Repräsentanten fand wie vor 1914 nicht statt, was aber vor allem der geringen jährlichen Personalergänzung im 100.000 Mann-Heer geschuldet war. Allerdings trug auch dies natürlich nicht zur Integration der Reichswehr in eine republikanische Gesellschaft bei.157 Der Eid wurde auch nicht mehr auf die jeweilige Truppenfahne geleistet – die gab es in der Reichswehr nämlich nicht mehr. Das konnte man zwar als Absage an militärischen Pomp interpretieren. Allerdings wurde den Soldaten umgekehrt auch nicht abgenötigt, ihre Hand zum Schwur etwa auf eine SchwarzRot-Goldene Truppenfahne zu legen, wie Rabenau rückblickend voller Genugtuung in seiner Seeckt-Biographie aus dem Jahr 1940 feststellte.158 Dagegen wurden die Truppenfahnen derjenigen Regimenter des alten Heeres, deren Traditionspflege dem entsprechenden Reichswehrtruppenteil zugewiesen worden war, bei feierlichen Anlässen stets mitgeführt. Für die Reichswehr gab es lediglich eine neue Reichskriegsflagge, die allerdings in sonderbarer Abgrenzung zu den republikanischen Reichsfarben und entgegen ursprünglichen Kabinettsentwürfen an Schwarz-Weiß-Rot festhielt.159 Auch hier hatte sich Geßler dem Druck seines Hauses gebeugt.160 Die im Eid beteuerten Pflichten entstanden jedoch bereits mit dem Zustandekommen des Wehrdienstverhältnisses und nicht erst Kraft des geleisteten Eides. Ihm kam also keine konstitutive, sondern eine lediglich bekräftigende Funktion zu.161 Allerdings führte die Verweigerung der Eidesleistung nach Art. I und II des Gesetzes über die Pflichten der Beamten zum Schutze der Republik vom 21. Juli 1922162 (das – anders als das Reichsbeamtengesetz – sinngemäß auch für Soldaten galt) zur Nichtigkeit des Dienstverhältnisses. »Wiedereingestellte Soldaten oder Beamte« mussten nach 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162
Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 599. HVBl. 1919, S. 80. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 176 Anm. 2 Fn. 2. Wohlfeil, Heer, S. 105; ausführlich Lange, Fahneneid, S. 106 f. Caspar, Tradition, S. 232 f. Rabenau, Seeckt, S. 262, Fn. 1. Verordnung über die deutschen Flaggen vom 11.4.1921, RGBl. 1921 S. 483–485. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Fehrenbach, Nr. 89, S. 235 f.; Nr. 113, S. 285 f. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 176, Rn. 1. RGBl. 1922 I S. 590–593.
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einem Erlass über die Eidesleistung vom 15. April 1923, »auch wenn sie bereits früher als Soldaten oder Beamte nach der Verordnung vom 14. August 1919 […] vereidigt worden« waren, »den vorgeschriebenen Eid vor dem Dienstantritte erneut leisten«.163 Die neugeschaffene Eidesformel stellte in zweifacher Hinsicht einen Traditionsbruch dar. Erstens war an die Stelle eines Treueids zu einer Person die Treue zur Verfassung, ja zum Deutschen Reich als Staat und damit etwas viel Abstrakterem getreten. Entsprechende Bedenken, man könne Treue nur einem Menschen schwören, vermochten sich nicht durchzusetzen.164 Das Fehlen eines persönlichen Treueschwurs wurde aber in gewisser Hinsicht durch die explizite Nennung des Reichspräsidenten im Zusammenhang mit der Gehorsamspflicht kompensiert. Dieser Effekt verstärkte sich noch mit der Wahl Hindenburgs und ging so weit, dass nach seinem Ableben einige Offiziere sogar davon überzeugt waren, ihm den Eid abgelegt zu haben.165 Zweitens war eine religiöse Beteuerungsformel nicht mehr ausdrücklich vorgesehen. Zwar blieb es möglich166 und in der Reichswehr überwiegende Praxis, den Eid mit den Worten »So wahr mir Gotte helfe« zu beschließen. Gleichwohl bildete dies kein Wirksamkeitserfordernis – im Gegenteil: Durch Art. 136 Abs. 4 und Art. 177 WRV war klargestellt, dass niemand zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden konnte. Die Säkularisierung der Eidesformel und die Beseitigung der zwingenden Gewissensbindung durch einen religiösen Bezug führten gar dazu, dass die Eidesqualität in Frage gestellt wurde. Diese Ansicht hinkte aber der bereits im Humanismus begonnenen Trennung von Recht und Religion hinterher. Durch die Verwendung des Begriffes »Eid« in Art. 176 und 177 WRV war klargestellt, dass es sich im rechtlichen Sinne auch dann um einen Eid handelte, wenn ein entsprechender Gottesbezug fehlte. Dennoch darf die enorme Bindungswirkung des Eides zur damaligen Zeit nicht unterschätzt werden: Die weit überwiegend konservativ sozialisierten Reichswehrangehörigen begriffen ihren Fahneneid durchaus noch in einer metaphysischen Weise. Wie wirkmächtig solche Vorstellungen auch über die Zeit der Weimarer Republik hinaus blieben, davon legen die am militärischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligten Offiziere eindrücklich Zeugnis ab: In der Vorbereitung des Attentates vom 20. Juli 1944 setzten sie sich eindringlich mit der Frage auseinander, inwieweit ihre Vereidigung auf den Führer einem Attentat auf diesen entgegenstand.167 Noch 1972 legte einer der beteiligten Offiziere und zwischenzeitlicher Richter am Bundesverfassungsgericht, Fabian v. Schlabrendorff, seine Ansichten über die Bedeutung von Eidesleistungen in einem Sondervotum zur Entscheidung des Gerichts zur Eidesverweigerung aus Glaubensgründen dar: »Wer den Eid unter Anrufung Gottes und den Eid ohne Anrufung Gottes verweigert, verletzt das religiöse unverzichtbare Minimum des Gemeinwesens.«168 Trotz Wegfall seiner 163 164 165 166 167 168
Erlass über die Eidesleistung vom 15.4.1923, HVBl. 1923 S. 170. Dade, Fahneneid, S. 44 f.; Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 176 Anm. 3. Lange, Fahneneid, S. 98. Brand, Gesetze über die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten, RBG § 3 Anm. 4 (S. 29). Hoffmann, Stauffenberg, S. 333; siehe auch Vitzthum, Stauffenberg. BVerfGE 33, 23 (42).
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zwingenden religiösen Rückbindung darf also jedenfalls für die konservativ geprägte Reichswehr die Bedeutung des Eides nicht unterschätzt werden, die Seeckt in seiner rückblickenden Studie über die Reichswehr aus dem Jahr 1933 gleichwohl in völliger Ambivalenz zur Republik interpretierte:169 »Der Staat war ein zu kalter Begriff, um die Wärme der Empfindung hervorzurufen, die eine soldatische Hingabe voraussetzt; die Verfassung, die ein Parlament jeden Tag mit ZweidrittelMajorität ändern kann, war zur Grundlage innerer Verpflichtung nicht geeignet. Es mußte zweierlei vorhanden sein: die eigene, selbsterworbene Auffassung von der Pflicht gegenüber dem Vaterland und die freiwillige Übernahme der Unterordnung aus der eigenen Erkenntnis, daß sie die Grundlage des Heeres ist. […] Dienstverträge und Angestelltenbedingungen schaffen noch kein Treueverhältnis, dessen ein Heer bedarf. Diese Voraussetzungen waren vorhanden und der Eid auf die neue Verpflichtung war die äußere Bekräftigung der inneren Auffassung von der eigenen Pflicht gegen das Vaterland.«170
Wenn man also bedenkt, dass Seeckt als eine der prägendsten Figuren der Reichswehr in seinem Eidverständnis die Verfassungstreue herabwürdigte und stattdessen ein nebulöses Treueverhältnis zum Vaterland sowie die Subordination als bloßen Selbstzweck betonte, wenn also die Entpolitisierung der Reichswehr so weit ging, dass sie auch die auf der Verfassung gründende republikanische Staatsform erfasste, so kann es nicht verwundern, dass der Beseitigung der Republik später kein Widerstand aus der Reichswehr entgegengebracht worden ist und sie als fungibles Werkzeug zum politischen Missbrauch bereitstand.
2. Die »Berufspflichten des deutschen Soldaten« Das einmal begründete Dienstverhältnis wurde inhaltlich durch die »Berufspflichten des deutschen Soldaten« – eine Verordnung des Reichspräsidenten – weiter konkretisiert. Viele der dort katalogartig aufgeführten Pflichten aber waren oder wurden später auch gesetzlich oder durch weitere Verordnungen des Reichspräsidenten näher bestimmt. So war etwa die bedeutendste aller soldatischen Dienstpflichten, die Gehorsamspflicht, bereits durch den Oberbefehl des Reichspräsidenten aus Art. 47 WRV und die bereits angesprochenen Regelungen über die Befehlsbefugnis in § 8 WG vorausgesetzt und damit implizit begründet. Ihr ist an späterer Stelle ein eigenes Kapitel gewidmet.171 Doch auch jenseits der Gehorsamspflicht im engeren Sinne, also gegenüber Befehlen von Vorgesetzten, traf den Soldaten eine Fülle von Einzelpflichten. Sie wurden ab der frühen Neuzeit durch den Monarchen in »Kriegsartikeln« festgelegt, die ursprünglich einmal Bestandteil des landsknechtlichen Söldnervertrages gewesen waren.172 Diese Kriegsartikel behandelten die verschiedenen Pflichten in gewisser Hinsicht negativ in dem Sinne, dass sie ursprünglich vor allem die Bestrafungen bei Pflichtverletzungen regelten. Die letzten Kriegsartikel für das preu169 170 171 172
Lange, Fahneneid, S. 108 f. Seeckt, Reichswehr, S. 67 f. Siehe Kapitel IV.4. Für einen Überblick zu Preußen siehe Absolon, Wehrmacht, Band 1, S. 211–217.
2. Die »Berufspflichten des deutschen Soldaten«
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ßische Heer wurden 1902 von Wilhelm II. erlassen; aber schon dort war Möglichkeit der Bestrafung in Anbetracht des ausgefeilten MStGB von 1872 und der geltenden Disziplinarstrafordnungen nur noch deklaratorisch erwähnt.173 An diese Tradition knüpften die »Berufspflichten des deutschen Soldaten« an, die mit dieser Neubezeichnung dem Umstand Rechnung trugen, dass die Reichswehr eine reine Berufsarmee war. Bemerkenswert ist, dass der parlamentarische Gesetzgeber es 1921 nicht für nötig befand, einen soldatischen Pflichtenkatalog in das Wehrgesetz mit aufzunehmen.174 Die erste Zusammenstellung der »Berufspflichten des deutschen Soldaten« erließ Reichspräsident Ebert in einer Verordnung vom 2. März 1922:175 »Artikel 1. Eingedenk seines hohen Berufs, das Vaterland und seine Verfassung zu schützen, muß der Soldat stets eifrig bemüht sein, seine Pflichten treu und gewissenhaft zu erfüllen. Artikel 2. Das höchste Gut des Soldaten ist die Ehre. Sie ist nicht denkbar ohne Achtung vor der Ehre anderer. Der Soldat muß sich stets bewußt sein, daß Verfehlungen des Einzelnen das Ansehen der gesamten Wehrmacht schädigen. Unwürdige können in der Wehrmacht nicht geduldet werden. Artikel 3. Die unverbrüchliche Wahrung der dem Vaterland gelobten Treue ist die vornehmste Pflicht des Soldaten. Außerdem erfordert sein Beruf vor allem Mut, Tapferkeit, Gehorsam und Kameradschaft. Artikel 4. Die Treue gebietet dem Soldaten, bei allen Vorgängen im Krieg und Frieden mit Aufbietung aller seiner Kräfte, selbst mit Aufopferung seines Lebens, jede Gefahr von seinem Vaterlande abzuwenden. Wer es unternimmt, die Verfassung des Deutschen Reiches oder der deutschen Länder gewaltsam zu ändern, oder wer sein Vaterland oder dessen Geheimnisse dem Feinde verrät, begeht als Hoch- oder Landesverräter schwersten Treubruch. Ebenso bricht die Treue, wer sich der Erfüllung seiner Dienstpflicht durch Selbstverstümmelung, durch Täuschung oder durch Fahnenflucht entzieht. Artikel 5. Die Feigheit ist für den Soldaten besonders schimpflich; niemals darf ihn Furcht vor persönlicher Gefahr an der Erfüllung seiner Berufspflichten hindern. Artikel 6. Der Soldat ist seinen Vorgesetzten Achtung und Gehorsam schuldig. Wer die Vorgesetzten belügt, beleidigt oder tätlich angreift, wer die Achtung verletzt, den Gehorsam verweigert oder sich widersetzt, wer aufwiegelt oder meutert, untergräbt die Manneszucht und wird nach der Schwere seiner Verfehlungen bestraft. Artikel 7. Der Soldat muß mit seinen Kameraden in Eintracht leben. Er darf sie im Kampf, in Not und Gefahr nicht verlassen und muß ihnen nach Kräften helfen, wenn sie seines Beistandes be173
174 175
Kriegsartikel für das preußische Heer vom 17.10.1902, AVBl. 1902 S. 279–284, abgedruckt bei Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 212–217; für die Kaiserliche Marine siehe Kriegsartikel vom 10.1.1903, MVBl. 1903 S. 23–28. Dies geschah erst in der Bundesrepublik durch §§ 6–36 des Soldatengesetzes vom 19.3.1956, BGBl. 1956 I S. 114–127. Berufspflichten des deutschen Soldaten vom 2.3.1922, HVBl. 1922 S. 141 f.; abgedruckt bei Absolon, Wehrmacht, Band 1, S. 171 f.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses dürfen. Besonders soll er seinen jüngeren und unerfahrenen Kameraden als Berater zur Seite stehen und hierdurch ebenso wie durch seine vorbildliche Führung erzieherisch auf sie einwirken. Artikel 8. Der Soldat soll ein bescheidenes und rechtschaffenes Leben führen und Ausschweifungen sowie den Umgang mit schlecht beleumdeten Personen meiden. Er darf weder Schulden machen noch sich dem Trunke oder Spiele ergeben. Begangenes Unrecht muß er wieder gutzumachen suchen. Artikel 9. Der Soldat darf sich politisch nicht betätigen, politischen Vereinen nicht angehören und an politischen Versammlungen nicht teilnehmen. Artikel 10. Der Soldat hat sich bei allen Meldungen und Berichten der strengsten Wahrheit zu befleißigen und über Dienstangelegenheiten, deren Geheimhaltung erforderlich oder von dem Vorgesetzten angeordnet ist, auch nach Entlassung Verschwiegenheit zu beobachten. Zu Pflichtwidrigkeiten darf er sich niemals verleiten lassen. Der Soldat, der sich bestechen läßt, begeht ein schweres Verbrechen. Artikel 11. Der Soldat soll mit allen Kräften bemüht sein, seinen Beruf, namentlich den Gebrauch der Waffen, vollkommen zu erlernen. Den verantwortungsvollen Wachtdienst muß er besonders gewissenhaft ausüben. Seine Dienstgegenstände hat er stets in gutem Zustande zu erhalten. Die Waffen darf er nur in Erfüllung seines Berufes oder in der Notwehr gebrauchen. Artikel 12. Bei mobiler Verwendung darf der Soldat niemals vergessen, daß der Kampf mit der bewaffneten Macht geführt wird. Hab und Gut der friedlichen Bewohner, der Verwundeten, Kranken und Gefangenen stehen unter dem Schutze des Gesetzes, ebenso das Eigentum der Gefallenen. Artikel 13. Gegen Übergriffe oder Mißbrauch der Dienstgewalt, gegen vorschriftswidrige Behandlung, Beleidigungen oder Mißhandlungen durch Vorgesetzte, wird der Soldat nachdrücklich geschützt. Beschwerden stehen ihm bis zur höchsten Stelle offen. Von der Erfüllung seiner Dienstobliegenheiten entbindet ihn jedoch eine eingelegte Beschwerde niemals. Gegen unbegründete Verdächtigungen seiner Ehrenhaftigkeit als Soldat kann er sich dadurch schützen, daß er bei seinem nächsten Disziplinarvorgesetzten das gesetzliche Verfahren gegen sich selbst beantragt. Artikel 14. Soldaten, die ihre Pflicht verletzen, werden bestraft. Geringere Verfehlungen werden disziplinarisch, die schwereren gerichtlich geahndet. Artikel 15. Der rechtschaffene, unverzagte und ehrliebende Soldat darf der Anerkennung und des Wohlwollens seiner Vorgesetzten und der Fürsorge des Reichs bei Dienstunfähigkeit oder beim Ablauf seiner Dienstverpflichtung versichert sein. Nach seinen Fähigkeiten und Leistungen steht ihm der Weg zu den höchsten Stellen offen.«
Wie schon die früheren Kriegsartikel waren die Berufspflichten nach ihrem Erlass unverzüglich der Truppe vorzulesen, allen neuen Rekruten sofort nach der Einstellung und noch vor der Vereidigung. Mindestens einmal im Jahr waren sie erneut zu verlesen und in regelmäßigen Abständen im Unterricht zu behandeln, damit die Soldaten sie verinnerlichten.176 Inhaltlich fällt zunächst auf, dass Art. 1 das »Vater176
Absolon, Wehrmacht, Band 1, S. 172.
2. Die »Berufspflichten des deutschen Soldaten«
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land« vor der »Verfassung« nennt, während der Begriff »Republik« ganz vermieden wird. Im ansonsten beinahe wortgleichen Art. 1 der Kriegsartikel von 1902 war nämlich in umgekehrter Reihenfolge von »Thron und Vaterland« die Rede gewesen. Die neue Formulierung ermöglichte es den Soldaten der Reichswehr, einem Bekenntnis zur parlamentarisch-demokratischen Republik auszuweichen. Überhaupt orientierte sich diese erste Fassung der »Berufspflichten« noch stark an der Tradition und lehnte sich noch in einigen weiteren Passagen wörtlich an die früheren Kriegsartikel von 1902 an. Was wiederum die Strafen für Pflichtverletzungen anbetrifft, so nahmen sie (wie aber bereits 1902) nicht mehr die gleiche zentrale Stellung ein, wie es bei den Kriegsartikeln der Neuzeit der Fall gewesen war. Ihre Nennung war auch in Anbetracht des fortgeltenden MStGB und der jeweiligen Disziplinarstrafordnungen für Heer und Marine nur deklaratorisch. Jedoch fielen die »Berufspflichten« von 1922 mit ihren 15 im Vergleich zu den ehedem 28 Artikeln von 1902 schon sehr viel kürzer aus. Entgegen ihrer Bezeichnung benannten sie aber nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte, wie etwa das Beschwerderecht, das aber bereits durch die Beschwerdeordnung gegeben war. Ohnehin entfalteten sie in vielerlei Hinsicht keine konstitutive Wirkung; sie sollten vor allem als wehrrechtliches »Vademecum« des Soldaten, als erzieherisches Kompendium seiner Rechte und Pflichten dienen: So waren etwa die in Art. 4 genannten Straftaten des Hoch- und Landesverrats selbstverständlich bereits abschließend durch das Reichsstrafgesetzbuch (§§ 81, 87177) normiert. Das Gleiche galt vom Soldaten, »der sich bestechen läßt« und damit ein »schweres Verbrechen« begeht (Art. 10). Auch die Verschwiegenheitspflicht in Art. 10 war bereits durch § 34 WG geregelt.178 Und der Superlativ der »strengsten Wahrheit« entspringt auch nicht einem eher nüchtern-juristischem Sprachduktus (ebenfalls Art. 10). Ebenso wird man den Begriff der »Dienstobliegenheiten« (Art. 13) nicht im juristischtechnischen Sinne verstanden haben.179 Schließlich gab es auch kein »Eigentum der Gefallenen« (Art. 12) im Rechtssinne, da Tote auch damals schon nicht rechtsfähig waren. Gleichwohl sollte man sich vor dem Fehlschluss hüten, die »Berufspflichten« hätten keinerlei rechtliche Bedeutung gehabt. Gerade in einem Punkt, bei denen man es vielleicht am wenigsten vermuten würde, war das Gegenteil der Fall: So berief sich die Praxis der Unwürdigkeitsverfahren vor Ehrenräten180 auf Art. 2 (»Das höchste Gut des Soldaten ist die Ehre.«) und Art. 13 der »Berufspflichten«. Aber gerade auch für das Disziplinarstrafrecht, das selbst keine einzeln normierten Tatbestände, sondern nur die Generalklausel der »Disziplinarübertretung« kannte, konnten die »Berufspflichten« einen – in Anbetracht ihrer Unbestimmtheit gewiss missbrauchs177
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179 180
Siehe auch § 56 MStGB: »Auf eine Person des Soldatenstandes, welche sich eines Hochverraths oder eines Landesverraths schuldig macht, finden die Vorschriften des Deutschen Strafgesetzbuches (§§ 80–93) Anwendung.« § 34 WG: »Die Angehörigen der Wehrmacht haben über Dienstangelegenheiten, deren Geheimhaltung erforderlich oder von den Vorgesetzten abgeordnet ist, Verschwiegenheit zu beobachten, auch nachdem das Dienstverhältnis erloschen ist.« Die Vorschrift entsprach § 11 Reichsbeamtengesetz; sie hatte keinen Vorgänger im RMG 1874. Obliegenheiten sind im juristischen Sinn keine Pflichten gegen andere. Verletzt man sie, so treffen einen nur selbst eventuelle Folgen. Das aber kann hier zweifelsfrei nicht gemeint gewesen sein. Siehe Kapitel VI.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
anfälligen – Anknüpfungspunkt darstellen. Sie stellten als »allgemeine Pflichtenlehre« jedoch keinen »Befehl in Dienstsachen« dar, dessen Nichtbefolgung eine Bestrafung nach den §§ 92–96 MStGB nach sich ziehen konnte, da sie nicht hinreichend »ein bestimmtes, festumgrenztes Tun oder Unterlassen« forderten.181 Am 9. Mai 1930 erließ Reichspräsident Hindenburg revidierte Berufspflichten. Die Neufassung sollte durch die Kürzung redundanter Passagen – insbesondere solcher Punkte, die zwischenzeitlich umfassender durch Vorschrift oder Gesetz geregelt worden waren – für die Soldaten leichter verständlich und besser zu verinnerlichen sein. »Diese Berufspflichten, die heute nur noch wenige Artikel umfassen, aber umso prägnanter und schärfer ausgedrückt sind, werden jedem Angehörigen der deutschen Wehrmacht in Fleisch und Blut übergehen; sie werden ihm täglich auf den Stuben und bei anderen Gelegenheiten vor Augen gehalten«, so Reichswehrminister Groener bei ihrer Vorstellung im Reichstagsplenum.182 Sie lauteten: »Artikel 1. Die Reichswehr ist das Machtmittel der gesetzmäßigen Reichsgewalt. Sie schützt die Grenzen des Deutschen Reichs und seinen Bestand nach außen und innen. Das Deutsche Reich ist eine Republik. Ihrer Verfassung schwört der Soldat die Treue. Die unverbrüchliche Wahrung der dem Vaterland gelobten Treue ist die vornehmste Pflicht des Soldaten. Artikel 2. Die Reichswehr dient dem Staat, nicht den Parteien. Politische Betätigung ist dem Soldaten verboten. Artikel 3. Die Treue gebietet dem Soldaten, im Krieg und im Frieden mit allen seinen Kräften bis zur Opferung des Lebens seine Pflicht zu tun und jede Gefahr von seinem Vaterland abzuwenden. Wer er unternimmt, die Verfassung des Reiches oder der Länder gewaltsam zu ändern, begeht Hochverrat. Wer sein Vaterland oder dessen Geheimnisse verrät, begeht Landesverrat. Artikel 4. Das höchste Gut des Soldaten ist die Ehre. Sie ist nicht denkbar ohne Achtung vor der Ehre anderer. Stolz ist würdig, Überhebung unwürdig. Artikel 5. Der Soldat als Vorgesetzter soll seine Untergebenen als Menschen kennen und achten. Er soll ihnen ein Vorbild sein und sie zu starken und verantwortungsfreudigen Persönlichkeiten erziehen. Gehorsam ist die Grundlage jeder Wehrmacht. Der freiwillige Soldat soll aus Einsicht und Vertrauen gehorchen. Große Leistungen in Krieg und Frieden entstehen nur aus innerer Verbundenheit von Führer und Truppe. Artikel 6. Soldatentreue umschließt die Kameradschaft. Sie bewährt sich im Kampf und in Gefahr. Verfehlungen des Einzelnen schaden dem Ansehen der Gemeinschaft. Artikel 7. Der Beruf des Soldaten fordert Mut und Tapferkeit. Feigheit ist für den Soldaten besonders schimpflich. Artikel 8. Der Soldat sei wahrhaft und unbestechlich, bescheiden und verschwiegen. Ausschweifungen sind seiner unwürdig. 181 182
Fuhse, MStGB 1926-Kommentar, § 92, Anm. 2 und 7. Verhandlungen des Reichstags, Band 428, S. 5229.
3. Besoldung, Naturalbezüge, Steuervorrechte
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Artikel 9. Gegen Unrecht, vorschriftswidrige Behandlung und unbegründete Verdächtigung seiner Ehrenhaftigkeit wird der Soldat geschützt. Beschwerden stehen ihm bis zur höchsten Stelle offen. Artikel 10. Soldaten, die ihre Pflicht verletzen, werden bestraft. Unwürdige können in der Wehrmacht nicht geduldet werden. Der rechtschaffene, unverzagte und ehrliebende Soldat darf der Anerkennung und des Wohlwollens seiner Vorgesetzten sicher sein. Das Reich wird für ihn sorgen. Nach seinen Fähigkeiten und Leistungen steht ihm der Weg zu den höchsten Stellen offen.«183
Neben der Kürzung auf nunmehr noch zehn Artikel fällt vor allem die ausdrückliche Bezeichnung des Deutschen Reiches als »Republik« in Art. 1 auf: Ein Zeugnis des konservativen »Vernunftrepublikaners« Wilhelm Groener, der 1928 Geßler im Amt des Reichswehrministers beerbt hatte und mithilfe des Seeckt-Nachfolgers Heye versuchte, die Reichswehr stärker an die verfassungsmäßige Staatsform heranzuführen.184 Zugleich wird aber auch wie selbstverständlich die Aufgabe der Reichswehr genannt, den Bestand des Reiches nicht nur nach außen, sondern auch nach innen zu schützen, noch ganz im Einklang mit der hohen Aufgabe, die nach Seeckts Vorstellungen der Reichswehr zuteilwurde: »Im Innern verkörpert das Heer den Staatswillen und die Staatsmacht gegenüber allen staatsfeindlichen Bestrebungen und erfüllt damit die Aufgabe, dem Ganzen staatliche Ordnung und Sicherheit zu gewähren.«185
3. Besoldung, Naturalbezüge, Steuervorrechte und Versorgung Die Regelung der Besoldung der Reichswehrsoldaten erfolgte in drei wesentlichen Etappen. Zunächst ermächtigte § 15 AVGvRW den Reichswehrminister, die Besoldung der Soldaten der vorläufigen Reichswehr auf dem Verordnungswege übergangsweise im Einvernehmen mit dem preußischen Kriegsminister sowie dem Reichsminister der Finanzen zu regeln.186 Doch bald schon verabschiedete die Nationalversammlung in einem nächsten Schritt das Reichsbesoldungsgesetz vom 30. April 1920,187 also zu einem Zeitpunkt, da das Wehrgesetz noch nicht verabschiedet und die Reichswehr noch eine »vorläufige« war. Dessen Vorgänger, das Reichsbesoldungsgesetz aus dem Jahre 1909,188 hatte neben der Besoldung der Beamten nur die der Offiziere und Unteroffiziere geregelt, die Besoldung der meist aufgrund der allgemeinen Wehrpflicht 183 184 185 186 187 188
Berufspflichten des deutschen Soldaten vom 9.5.1930, HVBl. 1930 S. 75; abgedruckt mit Anmerkungen bei Absolon, Wehrmacht, Band 1, S. 172 f. Caspar, Tradition, S. 232. Seeckt, Gedanken, S. 114 (mit eigenen Hervorhebungen). Siehe hierzu die Gebührnisordnung, Anlage 1 zu den Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31.3.1919, AVBl. 1919 S. 263–282 (268–270). Reichsbesoldungsgesetz vom 30.4.1920, RGBl. 1920 S. 805–839. Reichsbesoldungsgesetz vom 15.7.1909, RGBl. 1909 S. 573–660.
144
II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
dienenden Mannschaften jedoch nicht.189 Wegen der in Anbetracht des Versailler Vertrages erforderlichen Umwandlung in ein Berufsheer ordnete das neue Gesetz daher konsequent erstmals die Besoldung sämtlicher Soldaten. Diese setzte sich zusammen aus Grundgehalt, Ortszuschlag, Kinder- und Teuerungszuschlägen. Das Grundgehalt richtete sich nach den jeweiligen Besoldungsordnungen und wurde anhand des Besoldungsdienstalters berechnet, das bei Soldaten regelmäßig mit dem Tag der Beförderung, bei den Militärbeamten mit dem Tag der Anstellung in der jeweiligen planmäßigen Stelle begann.190 Gleich in § 1 wurde klargestellt, dass die Reichswehrsoldaten »in gleicher Weise« wie die Beamten »nach den Vorschriften dieses Gesetzes abgefunden« wurden. Auch hier erfolgte also – von einigen Spezialregelungen abgesehen – eine starke Annäherung an das zivile Beamtendienstverhältnis. Insbesondere wurden nach § 2 die Soldaten in Bezug auf ihr Grundgehalt zusammen mit den übrigen Beamten in die Besoldungsordnung A (aufsteigende Gehälter) eingereiht. »Dem Zuge der Zeit nach Vereinfachung und sozialem Ausgleich entsprechend sollen alle gleich zu bewertenden Gruppen von Beamten durch sämtliche Verwaltungen hindurch mit Einschluß der Soldaten der Wehrmacht in dieselbe Besoldungsgruppe eingestellt werden«, so die Gesetzesbegründung.191 Bei der Einreihung der Soldaten war einerseits berücksichtigt worden, »daß diese nicht auf Lebenszeit angestellt, sondern nur auf 12 oder 25 Jahre verpflichtet werden. […] Ferner fiel die teilweise Beschränkung der bürgerlichen und persönlichen Freiheiten sowie die Notwendigkeit ins Gewicht, durch gute wirtschaftliche Lebensbedingungen den Zug zum freiwilligen Eintritt in das Söldnerheer [sic!] zu beleben«. Auf der anderen Seite wollte man berücksichtigen, »daß die Soldaten frühzeitig angestellt werden, geringere Kosten für ihre Vorbildung als die Beamten aufzuwenden haben« und außerdem einige steuerliche Vergünstigungen und besondere Naturalbezüge genossen.192 Die übrigen, generellen Neuerungen des neuen Reichsbesoldungsgesetzes gegenüber dem Gesetz aus dem Jahr 1909 betrafen die Beamtenschaft gleichermaßen und stellten besoldungsrechtliche Detailfragen dar. Wichtig ist hier nur die abermalige Gleichstellung der Soldaten mit den Beamten. Dieses Besoldungsgesetz wurde erstmals durch Gesetz vom 17. Dezember 1920 geändert.193 Wie bei den Beamten wurden dabei viele Dienstgrade um eine Besoldungsstufe höher in der Besoldungsordnung A eingereiht. Im Zusammenhang mit der Entstehung des Änderungsgesetzes tauchte auch die Idee einer eigenen Besoldungsordnung für die Soldaten, wenn nicht gar eines eigenen Besoldungsgesetzes auf.194 Allerdings mussten sich zum 1. Januar 1921 nach dem Versailler Vertrag alle Soldaten entscheiden, ob sie sich auf zwölf oder 25 Jahre verpflich189
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Grundlage einer einheitlichen Besoldung über alle Kontingente hinweg war Art. 62 RV 1871 gewesen, wonach die Heeresausgaben insgesamt zwar aus dem Reichsetat finanziert, jedoch von den Bundesstaaten durch Matrikularbeiträge ersetzt worden waren. Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 264. Begründung vom 26.3.1920 zum Entwurf eines Reichsbesoldungsgesetzes vom 23.3.1920, Nationalversammlungsdrucksache 2471, S. 14. Begründung vom 26.3.1920 zum Entwurf eines Reichsbesoldungsgesetzes vom 23.3.1920, Nationalversammlungsdrucksache 2471, S. 16. Gesetz, betreffend Änderungen des Besoldungsgesetzes vom 30.4.1920, RGBl. 1920 S. 2075–2101. So etwa die Abgeordnete Luise Zietz (USPD), Verhandlungen des Reichstags, Band 351, S. 4956.
3. Besoldung, Naturalbezüge, Steuervorrechte
145
ten wollten. Der Entwurf einer besonderen Besoldungsordnung war jedoch nicht rechtzeitig zu bewerkstelligen, und man wollte die Verpflichtungsverhandlungen mit dem bestehenden Personalkörper nicht dadurch belasten, dass man den Soldaten keine verbindliche Zusage über ihre künftige Besoldung würde machen können.195 Das Reichsbesoldungsgesetz aus dem Jahr 1920 erfuhr schließlich insbesondere im Zusammenhang mit der Hyperinflation der Jahre 1922/1923 regelmäßige Anpassungen, besonders hinsichtlich des Grundgehaltes.196 Insgesamt wurde das Besoldungsniveau im Vergleich zum Kaiserreich deutlich angehoben, was eine zwingende Folge des Abschiedes von der allgemeinen Wehrpflicht und der Einrichtung einer Berufsarmee war: Die Reichswehr konkurrierte nunmehr mit anderen Arbeitgebern auf dem Arbeitsmarkt.197 Allerdings wurde ab Mitte der 1920er Jahre die Besoldung der unteren Dienstgrade, vor allem der neueingestellten Mannschaften sowie der jungen Offiziere, parteiübergreifend als ungenügend kritisiert.198 Die besoldungsrechtliche Gleichstellung mit den Beamten wurde erst mit der Neufassung des Reichsbesoldungsgesetzes im Jahre 1927 ein Stück weit rückgängig gemacht.199 Zwar bestimmte dessen § 1 Abs. 2 noch immer, dass die »Soldaten der Wehrmacht […], soweit dieses Gesetz nicht etwas anderes bestimmt, wie die planmäßigen Beamten besoldet« werden. Aber schon in § 2 wurde die wesentliche Änderung zum Ausdruck gebracht, dass die Soldaten jetzt hinsichtlich ihres Grundgehaltes aus der überarbeiteten Besoldungsordnung A (aufsteigende Gehälter) ausgenommen waren und in eine eigene Besoldungsordnung C überführt wurden. Letztere stellte eine Art Mischform dar, bei der einigen Dienstgraden feste, anderen wiederum aufsteigende Grundgehälter zugeordnet waren. Aus Sicht der Reichsregierung passten die »Besoldungsordnungen der Beamten […] für die Wehrmacht schon deshalb nicht, weil sie die einzelnen Dienstgrade verhältnismäßig viel kürzere Zeit innehaben, als die Beamten in ihren Besoldungsgruppen verbleiben. Dienstgrade, die nicht mehr als zwei oder drei Jahre versehen werden, müssen zweckmäßigerweise mit festen Gehältern ausgestattet werden; die Besoldungsgruppen für Dienstgrade, in denen die Soldaten längere Zeit festgehalten werden, müssen aufsteigende Gehälter erhalten, aber – der tatsächlichen Dienstzeit entsprechend – mit kürzeren Aufrückungszeiten als die Besoldungsgruppen der Beamten.«200 Die Soldaten waren damit den Beamten also lediglich noch in den Grundprinzipien des Besoldungsrech195 196 197
198
199 200
Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Reichsbesoldungsgesetzes vom 30.4.1920, Reichstagsdrucksache 1/601, S. 9. Einen guten Überblick vermittelt das alphabetische Sachverzeichnis des RGBl. 1923 I S. 11, Stichwort »Besoldung«. »Bekam damals der Leutnant nur ein Taschengeld, so hat er heute Bezüge, die es ihm ermöglichen, von seinem Einkommen auch leben zu können.« – Abgeordneter Daniel Stücklen (MSPD) im Rahmen des Berichts des Haushaltsausschusses zum Haushalt des Reichswehrministeriums für das Rechnungsjahr 1920, Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2190. Siehe beispielhaft die Plenardebatte zum Haushalt des Reichswehrministeriums für die Rechnungsjahre 1924 und 1925, Band 385, S. 2017 (Abgeordneter Daniel Stücklen, SPD), S. 2027 (Abgeordneter Otto Schmidt-Hannover, DNVP), S. 2053 (Abgeordneter Ludwig Haas, DDP). Reichsbesoldungsgesetz vom 16.12.1927, RGBl. 1927 I S. 349–355. Entwurf eines Reichsbesoldungsgesetzes nebst Begründung vom 14.10.1927, Reichstagsdrucksache 3/3656, S. 184.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
tes, aber nicht mehr in der Höhe der eigentlichen Besoldung gleichgestellt. Diese Neuregelung hat in den langen und ausführlichen Beratungen des Reichstages keine besondere Beachtung gefunden. Einzig Abgeordnete von SPD und KPD verwiesen vereinzelt auf den Umstand, dass die Besoldung der höheren Offiziere teilweise deutlich angehoben worden, die der einfachen Schützen und Gefreiten hingegen unverändert geblieben war.201 Darüber hinaus machte Erwin Torgler (KPD) auf die Gefahr aufmerksam, dass die Soldaten künftig nicht notwendig von einer Erhöhung der Beamtengehälter profitieren würden.202 Diese Befürchtung hat sich zwar nicht realisiert. Allerdings waren die Soldaten in gleicher Weise wie die Beamten von den später durch das Kabinett Brüning im Zuge der Weltwirtschaftskrise auf dem Notverordnungswege angeordneten Gehaltskürzungen betroffen.203 Nach dem Besoldungsgesetz von 1927 setzten sich die Bezüge nunmehr aus Grundgehalt, Wohnungsgeldzuschuss, Kinderzuschlägen und Zulagen zusammen. Dabei ersetzte der Wohnungsgeldzuschuss den bisherigen Ortszuschlag; die Ungleichheit der Lebenshaltungskosten wurde besoldungsrechtlich fortan also nur noch hinsichtlich der Unterkunftsausgaben berücksichtigt. Bei der Neuordnung des Besoldungsrechtes und der Einreihung in die Besoldungsordnung A für aufsteigende Gehälter im Jahr 1920 waren die Steuervorteile und Naturalbezüge der Soldaten in der Gesetzesbegründung als berücksichtigenswert genannt worden. Was die Steuervorteile anbetrifft, war es jedoch zu einer erheblichen Veränderung zum Rechtszustand des Kaiserreichs gekommen. Nach § 46 des Reichs-Militärgesetzes vom 2. Mai 1874 (RMG 1874)204 war das Einkommen der Mannschaften und Unteroffiziere, im Falle der Mobilmachung sämtlicher Angehörigen des aktiven Heeres bei der Veranlagung sowie der Erhebung von Steuern außer Betracht zu lassen. Dagegen war das Einkommen der Soldaten nach § 39 Abs. 2 WG nur bei Mobilmachung von mindestens einem Monat steuerfrei. Die USPDFraktion kritisierte, dass dieses letzte Steuerprivileg den Ausnahmezustand finanziell attraktiv für die Reichswehr gestalte. Außerdem würden viele Arbeiter tagtäglich ebenso nicht ganz unerheblichen Gefahren ausgesetzt, ohne dass jemand auf den Gedanken käme, sie deshalb steuerlich zu privilegieren.205 Eine ursprünglich vorgesehene Privilegierung von zur See fahrenden Marinesoldaten überlebte die parlamentarischen Beratungen nicht.206 Der Fortfall der Steuerprivilegien wurde mit »der wirtschaftlichen Not des Vaterlandes« sowie mit der im Vergleich zum Kaiserreich deutlichen Anhebung des Grundeinkommens begründet.207 Allerdings waren nicht unerhebliche Naturalbezüge sowie die an deren Stelle gewährten Entschädigungen nach § 39 Abs. 1 201 202 203 204 205 206 207
Max Seppel (SPD), Verhandlungen des Reichstags, Band 394, S. 11996. Erwin Torgler (KPD), Verhandlungen des Reichstags, Band 394, S. 12010. RGBl. 1930 I S. 517–604 (522); RGBl. 1931 I S. 279–314 (282); RGBl. 1931 I S. 537–568 (538). RGBl. 1874 S. 45–64. Siehe Äußerungen des Abgeordneten Bernhard Kuhnt (USPD), Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3220. § 35 Abs. 2 des Entwurfs eines Wehrgesetzes nebst Begründung vom 19.01.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330. Begründung zum Entwurf eines Wehrgesetzes vom 19.1.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 21; Begründung vom 26.3.1920 zum Entwurf eines Reichsbesoldungsgesetzes vom 23.3.1920, Nationalversammlungsdrucksache 2471, S. 17.
3. Besoldung, Naturalbezüge, Steuervorrechte
147
WG von der Einkommensteuer befreit.208 Zu diesen gehörten nach § 19 Abs. 2–4 des Besoldungsgesetzes vom 30. April 1920209 die freie Dienstbekleidung für Mannschaften und Unteroffiziere, die für die Offiziere bis einschließlich zum Dienstgrad Oberst an deren Stelle gewährte Abnutzungsentschädigung als auch die freie Heilfürsorge für alle Soldaten bis einschließlich zum Dienstgrad Oberst und ihre Ehefrauen und Kinder.210 Generale hingegen mussten die Heilbehandlungskosten für sich und ihre Angehörigen selbst tragen und sich entsprechend privat versichern, konnten sich dafür aber auch ihre Ärzte frei wählen. Die kostenlose Heilfürsorge darf man sich schließlich nicht sonderlich luxuriös vorstellen: So umfasste die freie ärztliche Behandlung von Angehörigen durch den Truppenarzt erst von 1928 an »auch die unentgeltliche Lieferung der unentbehrlichen Arznei- und Verbandsmittel«.211 Die entsprechenden Kosten für »normale Geburten« mussten auch dann noch selbst getragen werden, da Geburten nicht zu den Erkrankungsfällen zählten.212 Für die nach § 19 Abs. 7 des Besoldungsgesetzes vom 30. April 1920 gewährte »Verpflegung und kasernenmäßige Unterkunft« wurden allerdings nach Maßgabe des Reichshaushaltsplans gewisse Beträge einbehalten,213 woran § 20 des Besoldungsgesetzes vom 16. Dezember 1927 im Wesentlichen inhaltsgleich festhielt.214 Erst ab 1932 erhielten sämtliche Dienstgrade der Reichswehr mitsamt ihren Familienangehörigen Zugang zu kostenloser Heilfürsorge durch das militärische Sanitätswesen.215 »Die Versorgung der ausgeschiedenen Soldaten und ihrer Hinterbliebenen« wiederum richtete sich nach § 28 WG »in allen Fällen nach den Vorschriften des Wehrmachtversorgungsgesetzes«, das dem Wehrgesetz im August 1921 folgte.216 Schon weil der Beruf des Soldaten anders als der des Beamten jedenfalls für die Unteroffiziere und Mannschaften und damit die Masse der Reichswehrangehörigen kein Lebensberuf war, mussten die Regelungen vom allgemeinen Reichsversorgungsgesetz für die Beam208 209 210 211 212 213
214
215 216
Siehe auch § 12 Nr. 8 des Einkommenssteuergesetzes vom 29.3.1920, RGBl. 1920 S. 359–378, sowie § 19 Abs. 7 des Reichsbesoldungsgesetzes vom 30.4.1920, RGBl. 1920 S. 805–839. RGBl. 1920 S. 805–839. Siehe auch die Bestimmungen über die Heilfürsorge (rückwirkend vom 1.4.1920 ab) vom 16.10.1920, HVBl. 1920 S. 905–909. Nr. 5 der Zusätze vom 16.3.1928 zu den Ausführungsbestimmungen zum Reichsbesoldungsgesetz vom 16.12.1927, HVBl. 1928 S. 28. Verfügung der Heeresleitung über Durchschnittskosten für Lazarettbehandlung vom 4.3.1929, HVBl. 1929 S. 22. Siehe auch den Erlass über die Neuregelung der Unterkunftsabzüge vom 16.4.1922, HVBl. 1922 S. 167–172 (171): »Die Angehörigen der Wehrmacht sollen grundsätzlich, sei es durch Selbsteinmietung, sei es durch den Unterkunftabzug, die Kosten für ein Unterkommen tragen«. Besoldungsgesetz vom 16.12.1927, RGBl. 1927 I S. 349–355. Durch ein redaktionelles Versehen wurde in § 20 Abs. 3 die Besoldungsgruppe der Schützen und Matrosen (C 22) nicht erwähnt, siehe die Berichtigung bei RGBl. 1928 I S. 62. Rebentisch, Gesundheit, S. 21. Siehe auch Neufassung der Heilfürsorgebestimmungen für die Familienangehörigen der Wehrmacht vom 16.1.1932, HVBl. 1932 S. 9 f. Gesetz über die Versorgung der Angehörigen des Reichsheers und der Reichsmarine sowie ihrer Hinterbliebenen (Wehrmachtversorgungsgesetz) vom 4.8.1921, RGBl. 1921 S. 993–1020, geändert durch Gesetze vom 22.06.1923, RGBl. 1923 I S. 409 f., vom 31.7.1925, RGBl. 1925 I S. 161–162, S. 349–362, S. 389 f., sowie durch die nach Art. 48 Abs. 2 WRV erlassene Verordnung des Reichspräsidenten zur Verbesserung der Zivilversorgung vom 4.11.1932, RGBl. 1932 I S. 521.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
ten des Reiches abweichen. Den ausgeschiedenen Unteroffizieren und Mannschaften standen dabei insbesondere Übergangsgebührnisse, eine einmalige Umzugsbeihilfe und ein »Zivildienstschein« zu, der ihnen gewisse Vorrechte bei der Beschäftigung im zivilen öffentlichen Dienst einräumte (§§ 1–30 Wehrmachtversorgungsgesetz).217 Eine dauerhafte Pensionierung fand dagegen nicht statt. Mit einem darüber hinausgehenden Gesetzesentwurf, der die Versorgung derjenigen Offiziere und Unteroffiziere besonders regeln sollte, die wegen des Londoner Ultimatums vom Mai 1921 entlassen werden mussten, setzte sich Geßler im Reichskabinett nicht durch.218 Nach dem Soldatenversicherungsgesetz vom 31. Mai 1922 konnten die an sich Versicherungsfreiheit genießenden Zeitsoldaten auf Antrag freiwillig in der gesetzlichen Invaliden- oder Angestelltenversicherung versichert werden, wobei die Beiträge je zur Hälfte vom Versicherungsnehmer und vom Dienstherrn getragen wurden.219 Anders war dies nur bei den Offizieren, deren Beruf ja Lebensberuf sein sollte (§ 25 Abs. 1 S. 1 WG). Ihnen stand nach dem Ausscheiden wie den Beamten insbesondere ein lebenslanges Ruhegehalt zu (§§ 31–73 Wehrmachtversorgungsgesetz). Von der Möglichkeit der freiwilligen Mitgliedschaft in der Invaliden- oder Angestelltenversicherung machte jedoch nur eine verschwindend geringe Zahl der Soldaten Gebrauch. So waren selbst 1929, also inmitten der Weltwirtschaftskrise, lediglich 36 Soldaten in der Invaliden- und 128 Soldaten in der Angestelltenversicherung gemeldet. Hintergrund für die geringe Inanspruchnahme war, dass die weit überwiegende Zahl der Zeitsoldaten eine Weiterbeschäftigung als Beamter anstrebte und im Hinblick auf die damit einhergehenden Pensionsansprüche eine freiwillige Versicherung für überflüssig hielt.220
4. Der staatsbürgerliche Unterricht: Republikanisierung der Reichswehr? »Es ist eben so: In der Monarchie ist eine starke Armee nur möglich, wenn sie monarchisch ist, und in der Republik ist eine starke Armee nur möglich, wenn sie republikanisch ist.« Ludwig Haas (DDP) am 14. März 1928 vor dem Reichstag221
Schon § 2 Abs. 1 GvRW besagte, dass die (vorläufige) Reichswehr auf »demokratischer Grundlage« gebildet werden sollte. Aus dem Gesamtzusammenhang des GvRW wird deutlich, dass damit nicht eine Aussage über die Kommandoführung, 217 218
219 220 221
Vorbild war hier der »Zivilversorgungsschein« für Kapitulanten nach §§ 15–23 des Mannschaftsversorgungsgesetzes vom 31.5.1906 (RGBl. 1906 S. 593–614) gewesen. Entwurf eines Gesetzes über die Versorgung der infolge der Annahme des Ultimatums der Verbandsstaaten vom 5.5.1921 entlassenen Soldaten des Reichsheeres (Ultimatumsversorgungsgesetz), BArch R 43I/609, fol. 217–218. Siehe auch den Auszug aus dem Protokoll der Sitzungs des Reichsministeriums vom 9.12.1921, Rk. 111547., ebenda fol. 220. Gesetz über die Invalidenversicherung und die Angestelltenversicherung der Soldaten (Soldatenversicherungsgesetz) vom 31.5.1922, RGBl. 1922 I S. 542. Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 297–299. Verhandlungen des Reichstags, Band 395, S. 13404.
4. Republikanisierung der Reichswehr?
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sondern eher eine Inpflichtnahme der vorläufigen Reichswehr für die Demokratie zu verstehen war. Zutreffend wies Alfred Henke (USPD) allerdings bei den Beratungen der Nationalversammlung zum GvRW darauf hin, dass weder im Rest des Gesetzes noch in der Begründung zum Entwurf222 deutlich wurde, was genau unter dieser demokratischen Grundlage, besonders im Unterschied zum Heer von vor 1914, zu verstehen war.223 § 35 WG hingegen schrieb dann schon etwas konkreter vor, dass die Ausbildung der Soldaten sich auch »auf ihre staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Verpflichtungen im Kriege und Frieden« erstrecken sollte. Dieser Passus war erst im Zuge der parlamentarischen Ausschussberatungen auf Antrag eines Mehrheitssozialdemokraten hineingeraten und auf einhellige Zustimmung gestoßen;224 der ursprüngliche Entwurf der konservativen Ministerialkommission hatte dieses Element hingegen nicht vorgesehen.225 Die Notwendigkeit, die Soldaten über ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen aufzuklären, ergab sich aus Sicht der Ausschussmitglieder vor allem aus dem Haager Abkommen, durch das sich die Vertragsmächte verpflichtet hatten, »ihren Landheeren Verhaltensmaßregeln zu geben, welche der dem vorliegenden Abkommen beigefügten Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkriegs entsprechen«.226 Hinsichtlich des staatsbürgerlichen Unterrichts war bereits im Ausschuss auf die Gefahr des Missbrauchs hingewiesen worden, wie man ihn etwa am ausdrücklichen Beispiel des »vaterländischen Unterrichts« in der Spätphase des Ersten Weltkrieges erlebt hatte. Hierbei hatte es sich um eine propagandistische Durchhaltekampagne der OHL gehandelt. »Diese Gefahr sei nur dadurch zu bekämpfen, daß die Lehrer der Staatsbürgerkunde sämtlich zunächst an zentralen Kursen der vom Reichswehrminister geschilderten Art teilnehmen müßten«, so der antragstellende Mehrheitssozialdemokrat in den Ausschussberatungen.227 Von deutschnationaler Seite wurde die Idee eines staatsbürgerlichen Unterrichts mit dem Argument begrüßt, dass dem Soldaten auf diese Weise ein Einsehen in »die Notwendigkeit seiner politischen Neutralität« beigebracht werden könne. Der Idee nach handelte es sich trotz der auch sprachlichen Nähe also mitnichten um die Art staatsbürgerlichen Unterricht, die heute für die Bundeswehr durch § 33 Soldatengesetz228 vorgeschrieben ist und die im Übrigen politische und historische Bildung mit umfasst.229 So beschränkte sich der staatsbürgerliche Unterricht der Reichswehr im Unterschied zu dem der heutigen Bundeswehr ausschließlich auf die »staatsbürgerlichen Verpflichtungen« – was allerdings auch damit in Zusammenhang gebracht werden kann, dass entsprechende staatsbürgerliche Rechte, wie später noch ausführlich behandelt wird, kaum vorhanden waren. 222 223 224 225 226 227 228 229
Nationalversammlungsdrucksache 58. Alfred Henke (USPD), Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 306. Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1295. Wohlfeil, Heer, S. 107. RGBl. 1910 S. 107–132 (124). Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1295. Soldatengesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 30.5.2005 (BGBl. 2005 I S. 1482–1509), geändert durch Art. 8 des Gesetzes vom 28.8.2013 (BGBl. 2013 I S. 3386–3392). Stauf, SG-Kommentar, § 33, Rn. 1.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
Dass der staatsbürgerliche Unterricht nicht zu einem Instrument der Republikanisierung der Reichswehr geworden ist, lässt sich zum einen daran ablesen, wie oberflächlich noch der Kommentar von Martin Rittau aus dem Jahr 1926 den § 35 WG behandelt.230 Dort wird lediglich auf die Gesetzgebungsgeschichte verwiesen; Angaben zu Dienstvorschriften, Richtlinien oder Erlassen, welche die nähere Ausgestaltung des Unterrichts zum Gegenstand hätten, sucht man vergebens. Eine nähere Konzeption ist also im Reichswehrministerium wohl lange nicht ersonnen worden. Zwar hatte Reichswehrminister Noske schon im November 1919 auf zwei Seiten »Leitsätze für den Unterricht über Berufspflichten der Wehrmacht« herausgegeben.231 Diese beschäftigten sich allerdings in salbungsvoll-pathetischen Worten mit dem soldatischen Ethos zum Wohle von Volk und Vaterland, und nicht mit einer bestimmten Staatsform, dem die Pflicht galt: Aus dem Geist »selbstloser Hingabe« sollte der Wiederaufbau der Wehrmacht erfolgen, »aus ihm entspringe Manneszucht, Tatenfreudigkeit und Rücksichtslosigkeit gegen die eigene Person«. In dieselbe Richtung wiesen die zu Jahresbeginn 1921 vom Chef der Heeresleitung, General d. Inf. v. Seeckt, erlassenen »Grundlagen der Erziehung des Heeres«,232 die ganze Textpassagen aus der Vorrede Wilhelms I. zur Ehrengerichtsordnung vom 2. Mai 1874233 übernahm. Erst 1931, also schon unter Wilhelm Groener als Reichswehrminister und Kurt v. Schleicher als seinem Chef des Ministeramtes, gab die Heeresleitung erstmals einen »Leitfaden für Erziehung und Unterricht« heraus. Dieser Leitfaden legte ganz deutlich die Vermittlung eines abstrakt-etatistischen Aufopferungskultes nahe; so hieß es im einleitenden Teil A unter der Überschrift »Staat und Wehrmacht« etwa: »Man kann den Sinn des Staates nur verstehen, wenn man seine Bedeutung für den Sinn des Lebens überhaupt erfaßt. […] Von Natur steht jeder Mensch von seiner Geburt an in einer Gemeinschaft. Seine sittliche Haltung besteht zuerst in einem Opfer, das der einzelne seiner Gemeinschaft bringt, in der Anerkennung, daß diese höher steht als der einzelne Mensch.«234 Und weiter: »Der Staat ist das dem einzelnen übergeordnete Ganze, dem die praktische sittliche Tätigkeit seiner Bürger gelten soll; er hat das Recht, diese Tätigkeit von ihnen zu verlangen, und die Pflicht, sie sittlich zu erziehen. […] Der Soldat ist also ein lebenswichtiger, unentbehrlicher Diener des Staates. Aber er ist mehr: Im Soldatenberuf findet die sittliche Idee des Staates erst ihre höchste Erfüllung.«235. In diesem Sinne schritt der Leitfaden munter fort, auch Volten gegen den Pazifismus wurden nicht ausgespart:236 »Der Soldat kann nicht Pazifist sein. Er muß die Bedeutung des Pazifismus würdigen. Er darf sich jedoch in seinem Beruf nicht beirren lassen. Er weiß, daß die Nation das höhere Recht hat als der einzelne 230 231 232
233 234 235 236
Rittau, WG-Kommentar, S. 117 f. Leitsätze für den Unterricht über Berufspflichten der Wehrmacht vom 15.11.1919, HVBl. 1919, S. 377 f. Erlass des Chefs der Heeresleitung über die Grundlagen der Erziehung des Heeres vom 1.1.1921, HVBl. 1920 S. 1041 f.; abgedruckt bei Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 380–382; ebenso bei Messerschmidt/Gersdorff, Offiziere, S. 224–226. Allerhöchste Verordnung über die Ehrengerichte der Offiziere im Preußischen Heere (Ehr.V.) vom 2.5.1874 und Ergänzungsordre vom 1.1.1897 (Erg.O.), Neudruck 1910, D.V.E. Nr. 362. Leitfaden für Erziehung und Unterricht, Teil A, S. 4 f. Leitfaden für Erziehung und Unterricht, Teil A, S. 6 f. Leitfaden für Erziehung und Unterricht, Teil A, S. 9 f.
4. Republikanisierung der Reichswehr?
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Mensch, und daß der Tod auf dem Schlachtfeld dem sittlichen Sinn des Lebens dient.« Erst gegen Ende des Lehrstücks über »Staat und Wehrmacht« liest man, fast schon beiläufig, dass es sich beim Deutschen Reich um eine »demokratische Republik« handelt.237 Auch wenn dieser Leitfaden noch nicht ganz dem befürchteten Missbrauch gleichkommt, wie man ihn im Ersten Weltkrieg in Gestalt des »vaterländischen Unterrichts« erlebt hatte, so wurde jedenfalls die grundsätzlich gegebene Möglichkeit einer Annäherung der Reichswehr an die demokratisch-republikanische Staatsform auf dem Wege des staatsbürgerlichen Unterrichts ganz offenkundig nicht wahrgenommen. Das entsprach auch dem Blick Geßlers auf den Weimarer Staat: »So selbstverständlich es war, auf dem gegebenen Boden der Verfassung zu stehen, so gestehe ich doch offen, daß ich, je länger die Zeit fortschritt, desto weniger dem Irrglauben verfiel, diese Republik mit ihrer nicht funktionierenden Demokratie sei ewig und das letzte Wort deutscher Staatsgeschichte; in der Überzeugung, daß hier einmal eine Änderung eintreten werde und müsse, war ich mit beiden Chefs [der Heeres- und Marineleitung] einig«.238 Entsprechend wollte Seeckt vor allem das überkommene Ethos des Offizierkorps wie eine luftdichte Kulturkonserve möglichst unangetastet durch die als Übergangserscheinung angesehene Parteiendemokratie in einen zu errichtenden Heerstaat retten: »Nicht zum Staat im Staat soll das Heer werden, sondern im Staat dienend aufgehen und selbst zum reinsten Abbild des Staates werden. […] Das Heer dient dem Staat, nur dem Staat; denn es ist der Staat.«239 Dieser Zukunftsstaat wurde als national, autoritär und hegelianisch-überhöht erwartet. In ihm sollte dem Militär und ganz besonders seinen Offizieren ein fester Platz, ja besser: ein gesicherter Stand an der Spitze zukommen. Bis zu seinem Kommen sollte das Militär als Keimzelle für einen »neuen Staat« im Verborgenen schlummern. Insoweit stand die Reichswehr unter Seeckt in geistiger Nähe zur Strömung der »konservativen Revolution« mit ihren antiliberalen, antiegalitären und elitärfaschistisch-ständischen Staats- und Gesellschaftsentwürfen, die in dem Klima relativer Orientierungslosigkeit entstanden, die so manch traditioneller Geist seit dem Untergang der Monarchie verspürte.240 Was auf Weimar folgte, erfüllte diese Erwartungen nur zum Teil: Zwar absorbierte das »Dritte Reich« viele Gedanken der konservativen Revolution und konnte so eine erhebliche Anziehungskraft auf die entsprechenden Kreise ausüben. Doch als Synthese des Nationalismus mit dem Sozialismus standen die pöbelhaft-egalitären Elemente der neuen Massenbewegung in gehörigem Widerspruch zu elitärem Standesdünkel.241 Diese Widersprüchlichkeit konnte der Nationalsozialismus bis zuletzt nur überbrücken, nicht beseitigen. So hallen der abstrakt-etatistische Adventismus Seeckts und der sakrale Mythos vom Reich ein Stück weit auch in dem Stefan-George-Wort nach, das Stauffenberg in der 237 238 239 240 241
Leitfaden für Erziehung und Unterricht, Teil A, S. 12. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 292. Seeckt, Gedanken, S. 113, 116 (mit eigenen Hervorhebungen). Als bekannte Vertreter seien genannt: Stefan George, Carl Schmitt, Ernst Jünger, Ernst v. Salomon, Oswald Spengler, Martin Niemöller. Heinemann, Widerstand, S. 744 und 768.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
Nacht auf den 21. Juli 1944 seinem Exekutionskommando entgegengerufen haben soll: »Es lebe das geheime Deutschland!«242 Nicht zuletzt zielte das Unternehmen Walküre – der Versuch einer im wahrsten Sinne des Wortes zutiefst »konservativen Revolution« – mit der Proklamation des Ausnahmezustandes weniger auf die Errichtung einer bestimmten politischen Existenzform ab, als – ganz schmittianisch – auf die Rettung der politischen Existenz des Reiches an sich.
5. Anspruch auf Berufsförderung Nach § 23 WG sollte den »Unteroffizieren und Mannschaften […] während ihrer Dienstzeit eine vorbereitende Ausbildung für den Übergang in bürgerliche Berufe« gewährt werden. Die Vorschrift erfasste die Offiziere nicht, da für diese der Soldatenberuf ja Lebensberuf sein sollte und insofern für gewöhnlich kein Bedürfnis bestand, sie in den zivilen Arbeitsmarkt zu integrieren. Bemerkenswert ist hier die Verwendung des Begriffes »bürgerliche Berufe«, gewissermaßen in Abgrenzung zum Soldatenberuf, der also gerade nicht als bürgerlich verstanden wurde. Da es sich um eine Soll-Vorschrift handelte, bestand im Regelfall ein Anspruch auf Berufsförderung. Lediglich in atypischen Konstellationen konnte Berufsförderung aus zwingenden Gründen nach pflichtgemäßem Ermessen verweigert werden. Allerdings sind aus der Literatur keine Fälle bekannt, in welchen Soldaten diesen Anspruch klageweise durchgesetzt hätten. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass die Gewährung von Berufsförderung im Allgemeinen nicht strittig gewesen ist. Die Einzelheiten wurden durch die jeweiligen Chefs von Heer und Marine im Erlasswege geregelt. Das Heer unterhielt zum einen eine Heeresfachschule für Verwaltung und Wirtschaft, deren dreijährige Unterstufe alle Unteroffiziere und Mannschaften besuchen mussten, »soweit sie nicht Abiturienten oder Schulentlassene einer sechs- oder mehrstufigen höheren Lehranstalt« waren oder die Vorprüfung für Offizieranwärter bestanden hatten.243 Eine Befreiung war auch dann möglich, wenn in einer Vorprüfung zu Beginn des Unterrichts eine über das Ziel der Unterstufe hinausgehende Bildung nachgewiesen wurde. Mannschaften und Unteroffiziere, welche die Beamtenlaufbahn anstrebten, konnten bei entsprechenden Leistungen an weiteren Fortbildungsmaßnahmen der Verwaltungs- und Wirtschaftsfachschule teilnehmen. Daneben standen noch die Heeresfachschulen für Landwirtschaft, für Forstwissenschaft, für Gewerbe und Technik sowie die Heereshandwerkerschulen für weitere Aus- und Weiterbildung, teilweise unter der Bedingung entsprechender Vorqualifikation, zur Verfügung. In den Ländern Sachsen, Bayern und Preußen waren die Zeugnisse dieser Anstalten der bestandenen Gesellen- und Meisterprüfung als gleichwertig anerkannt. Ein freiwilliger Verzicht auf weitere Berufsförderung nach Abschluss der Un242
243
Der genaue Wortlaut ist umstritten; nach der Gegenauffassung hat Stauffenberg das »heilige« oder »geheiligte« Deutschland gemeint; siehe Heinemann, Widerstand, S. 891. Unbestritten ist jedoch seine Mitgliedschaft im und Prägung durch den Stefan-George-Kreis. Hierzu und im Weiteren ausführlich Rittau, WG-Kommentar, S. 94–100.
6. Die Beteiligung durch Vertrauensleute
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terstufe war nur nach eingehender Berufsberatung durch den Kompaniechef, den Truppenunterrichtsleiter sowie den Fürsorgeoffizier möglich. Der Verzicht war schriftlich zu erklären und mit einem Vermerk über die vorherige Beratung zur Personalakte zu nehmen. Die Marine wiederum unterhielt je eine Marinefachschule für Verwaltung und Wirtschaft sowie für Gewerbe und Technik.
6. Die Beteiligung durch Vertrauensleute sowie Heeres- und Marinekammer Das Wehrgesetz schrieb in § 9 die Wahl von Vertrauensleuten in den Streitkräften erstmals gesetzlich vor. Dieses wehrgeschichtliche Novum war in gewisser Hinsicht ein verkümmertes Relikt der revolutionären Soldatenräte. So formulierte der am Entwurf des Gesetzes über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr maßgeblich beteiligte Oberstleutnant Richard v. Pawelsz in den Gesetzesberatungen: »Die Reichswehr wird auf demokratischer Grundlage aufgebaut werden. Die jetzigen Soldatenräte werden als Vertrauensleute in ihr fortleben.«244 Gleichzeitig erteilte die Weimarer Koalition der Nationalversammlung mit dem GvRW einer Beteiligung der Räte an der Befehlsgebung eine klare Absage.245 Ihre dauerhafte Institutionalisierung und weitgehende Teilhabe schien in den Augen der Weimarer Koalition destabilisierend für die Disziplin und damit als Gefahr für das Primat der Politik. In den Worten von Reichswehrminister Noske in der ersten Lesung des Gesetzes zur Bildung einer vorläufigen Reichswehr hieß dies: »Soldatenräte mit sehr weitgehenden politischen Rechten auszustatten […], wäre nach meiner Überzeugung gerade vom demokratisch-politischen Standpunkt das bedenklichste, was man sich vorzustellen vermag. Soldatenräte in einer derartigen Freiwilligentruppe etwa nach dem Schlagwort: ›Alle politische Macht den Soldatenräten‹, bedeutete ja die politische Macht in Deutschland einer Truppe ausliefern, die dann leicht Neigung verspüren könnte, sich zu einer Prätorianergarde auszuwachsen. […] Es muß darauf geachtet werden, daß in diesen Freiwilligentruppen straffste Mannszucht und tadellose Disziplin geübt wird.« Die Soldaten sollten nur insoweit ein Mitbestimmungsrecht erhalten, wie sich das »mit der Verwendungsfähigkeit, der Schlagkraft, der Geschlossenheit der Truppe vereinbaren läßt«.246 Modellbildend für diesen Kompromiss zwischen der für ein effektives Primat der Politik erforderlichen Disziplin einerseits und einer Mitbestimmung der Soldaten andererseits wurde das Freiwillige Landesjägerkorps unter Generalmajor Maercker. Diese Formation hatte sich in den Januar- und Frühjahrsunruhen des Jahres 1919 als regierungstreu erwiesen, indem sie insbesondere die revoltierenden Soldatenräte in 244 245
246
Zit. nach Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 306. Siehe auch die entsprechende Äußerung des preußischen Kriegsministers Reinhardt am 19.2.1919 vor der Nationalversammlung, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 177. Reichswehrminister Gustav Noske (MSPD), Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 309.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
Halle und Magdeburg entmachtete. Auch übernahm das Korps die Bewachung der Weimarer Nationalversammlung und schlug sich während des Kapp-Lüttwitz-Putsches nach einigem Zögern auf die Seite der Regierung Ebert. In dem grundlegenden Befehl Nr. 1 für das Freiwillige Landesjägerkorps vom 14. Dezember 1918 führte Maercker gleich unter Punkt 4 die Institution der Vertrauensleute ein: »Vertrauensleute. Sie sollen ein Bindeglied sein zwischen Vorgesetzten und Untergebenen. Sie unterstützen den Vorgesetzten bei Aufrechterhaltung der Manneszucht; sie bringen Wünsche und Klagen der Truppe vor den Führer. Je edler die Truppe ist und je inniger Truppe und Führer miteinander verwachsen sind, um so seltener wird die vermittelnde Tätigkeit der Vertrauensleute nötig sein. Zu den besonderen Aufgaben der Vertrauensleute gehört: a) Sie verwalten allen Privatbesitz der Truppe gemeinsam mit dem Zahlmeister. b) Sie sind vom Führer heranzuziehen in allen Fragen der Verpflegung und der Truppenwohlfahrt sowie bei allen Urlaubsfragen. c) Sie sind verpflichtet, für Kameraden, die sich über einen Vorgesetzten beschweren wollen, die Beschwerde zu führen. d) Sie stellen Richterpersonal zu Standgerichten. Die Vertrauensleute dürfen, um die Manneszucht nicht zu gefährden, diese Aufgaben nicht überschreiten. Insbesondere stehen ihnen keine Befugnisse in Kommandoangelegenheiten zu.«247
Das GvRW sah keine konkreten Regelungen über Rechtsstellung und Aufgaben der Vertrauensleute vor. Allerdings ordnete die AVGvRW vom 3. März 1919 in § 4 die Mitwirkung von »gewählten Vertretern« bei Fragen der Truppenfürsorge und des Urlaubs sowie bei Beschwerdeangelegenheiten an; der Reichswehrminister wurde in der gleichen Vorschrift zum Erlass näherer Bestimmungen insbesondere über die Form der Vertretung, den Umfang ihrer Tätigkeit sowie das Wahlverfahren ermächtigt. Als Anlagen zu den Ausführungsbestimmungen für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31. März 1919 erließ Reichswehrminister Noske eine Wahlordnung und eine Dienstanweisung für Vertrauensleute,248 wobei die Anlehnung an das »Modell Maercker« teilweise bis in den Wortlaut auffällt. Der ursprüngliche Wehrgesetzentwurf, den eine Kommission aus konservativen Juristen und Offizieren des Reichswehrministeriums unter Geßler erarbeitet hatte, hatte auf die Vertrauensleute lediglich indirekt Bezug genommen, indem er in § 9 dem Reichspräsidenten die Regelung des Näheren als Bestandteil seines militärischen Verordnungsrechtes auftrug.249 Im Zuge der Ausschussberatungen erhielt das Verordnungsrecht seine spätere allgemeine Form ohne Nennung einzelner Materien; das Institut der Vertrauensleute wurde dagegen aufgewertet, in einem eigenen Paragraphen genannt und überstand in dieser Form auch die zweite und dritte Lesung im 247
248 249
Grundlegender Befehl Nr. 1 für das Freiwillige Landesjägerkorps vom 14.12.1918, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 50 f.; ebenso bei Ritter/Miller, Revolution, S. 142; sowie bei Maercker, Kaiserheer, S. 45–47. Anlagen 2 und 3 zu den Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31.3.1919, AVBl. 1919 S. 263–282 (270–272). § 9 des Entwurfs eines Wehrgesetzes vom 19.1.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330.
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Plenum. Und so bestimmte § 9 WG schließlich: »Für alle Kommandobehörden und Truppeneinheiten sind Vertrauensleute zu wählen.« Mit dieser doch recht allgemein gehaltenen Regelung waren die Vertrauensleute zwar gesetzlich garantiert, nicht jedoch ihre Aufgaben und ihre Rechtsstellung. Anträge insbesondere von USPD-Abgeordneten, das Wahlrecht der Vertrauensleute gesetzlich festzulegen, scheiterten vor allem am Widerstand der bürgerlichen und rechten Regierungsparteien.250 Sie verwiesen insbesondere auf die noch zu sammelnden praktischen Erfahrungen, wollten dem Reichswehrminister bei der näheren Ausgestaltung freie Hand lassen und nur dann gesetzgeberisch tätig werden, wenn diese Entwicklungen dem Parlament nicht genehm sein würden.251 Zudem wurde – auch von der MSPD – die großräumige Dislozierung der immer kleiner werdenden Armee als komplizierte Herausforderung bei der Regelung des Wahlrechts der Vertrauensleute betrachtet.252 Im Ergebnis blieben die bereits in der wehrverfassungsrechtlichen Übergangszeit entstandene Wahlordnung wie auch die Dienstanweisung unverändert in Kraft, bis die Nationalsozialisten durch das zweite Gesetz zur Änderung des Wehrgesetzes am 20. Juli 1933 das Institut der Vertrauensleute schließlich beseitigten.253 Nach den einleitenden Worten des Erlasses aus dem Frühjahr 1919 sollten die Vertrauensleute »das Bindeglied zwischen Führer und Truppe sein und ein festes Band des Vertrauens und der Kameradschaft um Führer und Untergebene schlingen.« Das Recht des einzelnen Soldaten, sich mit »Klagen und Wünschen unmittelbar an seinen Führer zu wenden« sollte durch die Einrichtung der Vertrauensleute jedoch unberührt bleiben. Sie sollten ferner »für die Rechte und Wünsche der Gemeinschaft und des Einzelnen« eintreten, »indem sie Wünsche und Anregungen aus der von ihnen vertretenen Truppe entgegennehmen und zur Kenntnis des Führers bringen«. Allerdings stellte der Erlass auch besonders in Abgrenzung zu den Soldatenräten klar: »Eine Befehlsgewalt in ihrer Eigenschaft als Vertrauensleute haben sie nicht.« Die Tätigkeit der Vertrauensleute war nach dem Erlass ehrenamtlich, sie nahmen grundsätzlich am Dienst teil und sollten nur im Bedarfsfall, also nicht regelmäßig zusammentreten, waren dann aber vom Dienst freizustellen. Außerdem unterlagen sie einer Verschwiegenheitspflicht in allen vertraulichen, geheimen und persönlichen Angelegenheiten, von denen sie im Rahmen ihrer Tätigkeit Kenntnis erlangten. Sie sollten nach dem Erlass bei folgenden Materien mitwirken: »5. […] bei Verpflegungsangelegenheiten. Die Vertrauensleute überzeugen sich, wie die Speisen zubereitet und ausgegeben und wie die Nahrungsmittel verwaltet werden. Sie überwachen den Marketenderei- und Kantinenbetrieb und haben das Recht, sich durch Einblick in die Kassenbücher zu überzeugen, wie die Marketenderei- und Kantinengelder verwendet werden;
250
251 252 253
Bericht des 25. Ausschusses über den Entwurf eines Wehrgesetzes, Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1304; Abänderungsanträge zur zweiten Beratung des Entwurfs eines Wehrgesetzes der Abgeordneten Kurt Rosenfeld, Bernhard Kuhnt und Ernst Däumig (alle USPD), Reichstagsdrucksache 1/1685; Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3202 und 3225. Anton Rheinländer (Zentrum),Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3197; ebenda Ludwig Haas (DDP), S. 3206. Georg Schöpflin (MSPD), Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3193. RGBl. 1933 I S. 526 f.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses bei Unterbringungsangelegenheiten und bei Aufrechterhaltung der Sauberkeit und Ordnung in Wohn- und Speiseräumen, auch in Marketendereien und Kantinen; ihre Mitwirkung bei Disziplinarbestrafungen, Beschwerden und Urlaubsangelegenheiten wird durch besondere Verordnung geregelt;254 […] bei der Entscheidung von Anträgen auf vorzeitige Lösung des Dienstvertrages.«255
Wahlberechtigt waren nach der einschlägigen Wahlordnung alle Angehörigen der Wehrmacht, wählbar alle Wahlberechtigten mit Ausnahme der Disziplinarvorgesetzten und ihrer Stellvertreter sowie aller Personen, die gerichtlich degradiert worden waren.256 Gewählt wurde nicht nach Rangklassen getrennt, weshalb auch die Offiziere zumindest nicht a priori vom Institut der Vertrauensleute ausgeschlossen blieben. Allerdings lassen die Bestimmungen darauf schließen, dass es sich hier um keine Einrichtung handelte, die der Interessenvertretung der Offiziere in gleicher Weise dienen sollte: So hatte sich der Wahlvorstand ausschließlich aus Mannschaften und Unteroffizieren zusammenzusetzen (Nr. 10); um eine einigermaßen faire Repräsentation zu gewährleisten, musste zudem auf je drei Vertrauensleute mindestens ein Unteroffizier und ein Mannschaftssoldat kommen – von einer Mindestanzahl von Offizieren war hingegen keine Rede.257 Über die Vertrauensleute hinaus wurden die Soldaten der Reichswehr noch durch die Heeres- und die Marinekammer beim Reichswehrministerium vertreten, die in gewisser Hinsicht die eingeschränkte Koalitionsfreiheit der Soldaten258 kompensieren sollten259 und als historische Vorgänger des heutigen Gesamtvertrauenspersonenausschusses der Bundeswehr gelten können.260 Bereits in der Übergangszeit zwischen Revolution und neuer Wehrverfassung waren sie auf Anregung des ersten Chefs der Heeresleitung, Generalmajor Walther Reinhardt, als Zugeständnis an die Revolution eingerichtet worden.261 Ihre ursprüngliche rechtliche Grundlage bildete die Verordnung des Reichspräsidenten über die Einrichtung einer vorläufigen Heeres- und einer vorläufigen Marinekammer vom 3. Juni 1920.262 Es handelte sich um 254
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Die Beteiligung der Vertrauensleute in Beschwerde- und Disziplinarangelegenheiten wurde, wie vom Erlass vorgesehen, im Rahmen der Disziplinarstraf- und der Beschwerdeordnung geregelt und wird in den Kapiteln V und VII.2. näher erläutert. Nr. 5 Buchstabe d betraf die Mitwirkung im Militärgerichtsverfahren, die aber mit dem Gesetz, betreffend die Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920 (RGBl. 1920 S. 1579–1587) außer an Bord von Kriegsschiffen (und im für die Reichswehr nie eingetretenen Kriegsfall) Makulatur wurde. Siehe auch Kapitel IV.2. Nr. 1 der Wahlordnung für Vertrauensleute, Anlage 2 zu den Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31.3.1919, AVBl. 1919 S. 263–282 (270 f.). Anders der heutige § 2 Soldatenbeteiligungsgesetz (BGBl. 1997 I S. 766–778), wonach Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere getrennt ihre Vertrauensleute wählen. Siehe hierzu Kapitel III.7. Semler, WG-Kommentar, S. 31; Reichswehrminister Otto Geßler (DDP), Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3195. §§ 35–47 Soldatenbeteiligungsgesetz, BGBl. 1997 I S. 766–778. Rabenau, Seeckt, S. 256. Verordnung des Reichspräsidenten über die Einrichtung einer vorläufigen Heeres- und einer vorläufigen Marinekammer vom 03.06.1920, HVBl. 1920 S. 519 f.
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zwei Gremien, die sich aus gewählten Vertretern der Soldaten zusammensetzten und dem Reichswehrminister beratend zur Verfügung stehen sollten. Sie tagten jeweils in einem Hauptausschuss und fünf bis sechs Sonderausschüssen und wurden in der Regel zu höchstens dreitätigen Beratungen jeweils durch den Chef der Heeres- oder Marineleitung oder auf Antrag eines Vorsitzenden nach Berlin einberufen. Bei wichtigen Fragen, die die gesamte Reichswehr betrafen, konnte der Reichswehrminister beide Kammern auch zu einer gemeinsamen Sitzung zusammenrufen (Nr. 1).263 Die Tätigkeit der beiden Kammern sollte sich der Verordnung nach auf »die Mitwirkung bei der Bearbeitung von Gesetzesvorlagen, die sich auf die Wehrmacht beziehen« sowie »die Begutachtung von Wünschen und Anregungen der Wehrmacht grundsätzlicher Art« (Nr. 2) erstrecken. So hatten sich die Kammern beispielsweise mit der neuen Disziplinarstrafordnung zu befassen.264 Hinsichtlich ihrer Zusammensetzung waren die Offiziere überproportional stark vertreten: So standen den 13 Unteroffizieren und 29 Mannschaften insgesamt 25 Offiziere (Sanitäts- und Veterinäroffiziere mit eingerechnet) gegenüber (Nr. 4). Gemäß den vom Reichswehrminister erlassenen Ausführungsbestimmungen waren einerseits die Offiziere, bei den Unteroffizieren und Mannschaften hingegen nur die Vertrauensleute wahlberechtigt, die jeweils mindestens schon drei Jahre der Reichswehr angehörten.265 Gewählt wurde nach den verschiedenen Dienstgrad- und Laufbahngruppen getrennt.266 Der Kabinettsentwurf des Wehrgesetzes sah dann zwar schon die allgemeine gesetzliche Garantie dieser Einrichtungen vor, jedoch ohne weitere Details mit Ausnahme des geheimen Wahlrechts.267 Dass die Kammern überhaupt in das Wehrgesetz aufgenommen wurden, verdankten sie Reinhardt, der sie bereits während Seeckts krankheitsbedingter Abwesenheit in den Kommissionsentwurf von 1919 eingebracht hatte.268 Während der Kabinettsberatungen hatte man die späteren ausführlichen Plenardebatten über die Einrichtung der Heeres- und der Marinekammer bereits antizipiert und vorsorglich die ursprünglich vorgesehene Unterstellung unter die Chefs der Heeres- und Marineleitung gestrichen.269 Im Zuge der parlamentarischen Ausschussberatungen wie263
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Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers vom 8.6.1920 zur Verordnung des Reichspräsidenten über die Einrichtung einer vorläufigen Heeres- und einer vorläufigen Marinekammer vom 14.9.1920, HVBl. 1920 S. 520; siehe auch Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 520 f. So jedenfalls den Äußerungen des Abgeordneten Georg Schöpflin (MSPD) zufolge, siehe Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3194. Abschnitt III Nr. 9. der Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers zur Verordnung über die Einrichtung einer vorläufigen Heeres- und einer vorläufigen Marinekammer vom 8.6.1920, HVBl. 1920 S. 520–523. Mannschaften wählten also Mannschaften, Unteroffiziere nur Unteroffiziere, usw.; daneben wurden die Sanitäts-, Veterinär-, Feuerwerksoffiziere usw. nur von ihren jeweiligen Laufbahngruppen gewählt. § 8 des Entwurfs eines Wehrgesetzes vom 19.1.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330. Meier-Welcker, Seeckt, S. 308. »Das Kabinett ging bei den vorgenommenen Änderungen von der Auffassung aus, daß die Heeres- und Marinekammer dem Reichswehrminister unterstehen, dem die weitere innerdienstliche Regelung obliegt. Diese im Gesetz zum Ausdruck zu bringen, wurde für unnötig und unzweckmäßig gehalten«, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Fehrenbach, Nr. 102, S. 263 f. Zur ausführlichen Debatte über die Einrichtung von Heeres- und Marinekammer siehe die zweite und dritte Beratung des Entwurfs Wehrgesetzes, Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3191–3227.
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derum scheiterten verschiedene Anträge, die unter anderem das Verhältniswahlsystem, eine vierjährige Wahlperiode oder aber die Öffentlichkeit der Kammersitzungen vorsahen.270 Der Einführung der Verhältniswahl wurde von Seiten der DVP entgegengehalten, dass hierdurch die Offiziere in der Kammer marginalisiert würden und ihre besondere Stellung nicht mehr hinreichend zum Ausdruck käme, was gleichzeitig dem »ständischen Charakter der Kammern« widerspräche. Gegen die genaue Bestimmung des Wahlsystems sowie der Wahlperiode führte Reichswehrminister Geßler auch hier wie bei den Vertrauensleuten die Problematik der starken »örtlichen Dezentralisation der Truppeneinheiten« an. Der Ausschuss erweiterte die ursprüngliche Entwurfsfassung jedoch um drei Absätze. Zum einen wurde die unmittelbare Unterstellung der Kammern unter den zivilen Reichswehrminister garantiert, was ihre Ansiedlung unterhalb der Chefs von Heeres- und Marineleitung verhindern sollte. Des Weiteren sollten die genaue Verfassung und Zuständigkeit der Kammern durch ein künftiges Reichsgesetz geregelt werden. Gegenüber Anträgen der Linksfraktionen, das alles bereits im Wehrgesetz zu regeln, rechtfertigte sich Reichswehrminister Geßler später im Reichstagsplenum damit, dass »es uns heute noch an Erfahrungen auf diesem Gebiet fehlt; wir müssen öfter mal sehen, wie sich das ganze Gefüge zusammenpaßt. […] Heute eine Bindung vorzunehmen, würde ich für verfrüht halten.«271 Drittens schließlich fügte der Ausschuss einen Absatz hinzu, wonach die Beschlüsse der Kammern »dem Reichswehrminister und dem Reichstag unverzüglich zur Kenntnis zu bringen« waren272 – eine Forderung, die schon die Heereskammer selbst erhoben hatte.273 Diese letzte Passage wurde jedoch auf erfolgreichen Antrag von Abgeordneten von Zentrum, BVP, DVP und DDP in zweiter Lesung wieder gestrichen, was zum einen mit dem Bedürfnis, die Flut der Drucksachen einzudämmen, zum anderen mit staatsorganisationsrechtlichen Bedenken begründet wurde.274 Dadurch erfuhr das Institut eine Schwächung, die nicht von vornherein angelegt war. So war Reichswehrminister Geßler noch 1920 im Reichstagsplenum in Bezug auf den Erstentwurf des Wehrgesetzes davon ausgegangen, dass »[w]enn schon dem Heere das aktive Wahlrecht genommen werden mußte aus den Lebensbedürfnissen des Heeres heraus, dann war Ihnen [dem Reichstag] zugleich der Vorschlag gemacht worden, eine Heereskammer zu schaffen, die beruhen sollte auf dem allgemeinen Wahlrecht, indem das Heer in der Lage gewesen wäre, die Berufsfragen und die Fragen, die nun einmal zum Leben des Heeres gehören, in geordneter Weise dem Parlament gegenüber zu vertreten.«275 Initiativen, den Kammermitgliedern gesetzliche Indemnität zuzusichern,276 sowie Anträge der MSPD und USPD, das Wahlrecht doch noch genauer festzulegen,277 fanden keine 270 271 272 273 274 275 276 277
Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1290 und 1303 f. Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3195 f. Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1303 f. Artikel »Achtung, Gefahr!«, Vorwärts vom 20.10.1920 (Abendausgabe). Reichstagsdrucksache 1/1721; Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3225. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5349. Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3194–3197, 3202 f., 3205. Reichstagsdrucksachen 1/1685 und 1/1686.
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Mehrheit. Im Übrigen überlebte die im Ausschuss gefundene Fassung auch die dritte Lesung im Plenum und erlangte schließlich als § 10 WG Gesetzeskraft. Die institutionelle Verankerung von Heeres- und Marinekammer im Wehrgesetz empfand Seeckt nach der Schilderung Rabenaus als »peinlich«.278 In den folgenden Jahren unternahm er als Chef der Heeresleitung alles, um die Heereskammer zu einer wirklichen Tätigkeit nicht kommen zu lassen, und leitete unverzüglich ihren Abbau ein:279 »Er gestattete ihr kaum die Tätigkeit einer obersten Küchenkommission«, so der Seeckt-Biograph Rabenau.280 Bereits im Herbst 1920, also noch vor der Verabschiedung des Wehrgesetzes, hatte der »Vorwärts« ein Schreiben Seeckts an Generalleutnant Ernst v. Eisenhart-Rothe281 veröffentlicht, in dem seine ablehnende Haltung unmissverständlich zum Ausdruck kam, und das Philipp Scheidemann (MSPD) genüsslich im Reichstagsplenum zitierte:282 »Aus den mir gemachten Mitteilungen entnehme ich, daß die erste Versammlung der Wehrkammer keinen glücklichen Verlauf genommen hat. Ich bitte, bei der nächsten Versammlung folgendes zu berücksichtigen: 1. Es ist mit Strenge darauf zu halten, daß alle parlamentarischen Formen eingeschränkt oder vermieden werden. Dagegen hat die Versammlung durchaus unter Beachtung militärischer Formen zu verlaufen. Die Versammlung ist Dienst. Eine andere Art militärischer Tätigkeit gibt es nicht. Es wird erforderlich sein, diesen Standpunkt bei Eröffnung der nächsten Versammlung klarzustellen. Damit entfällt auch die Anrede ›meine Herren‹, falls sie gebraucht sein sollte. 2. Die Beratungsgegenstände werden von der Heeresleitung bestimmt. Kommen aus der Versammlung Wünsche auf Besprechung anderer Gegenstände, so ist hierfür die Genehmigung der Heeresleitung erforderlich. Ausdrücke wie Tagesordnung usw. sind zu vermeiden. 3. Abstimmungen, wie sie vorgenommen sind, sind ganz überflüssig. Die Versammlung hat kein Beschlußrecht, sondern nur eine beratende Aufgabe. Die Ansichten der Truppe können auch ohne Abstimmung festgestellt werden. Die Mehrzahl von Stimmen ist dafür gleichgültig, sondern es kommt darauf an, alle Stimmen zu hören. […] 4. Die Hauptarbeit muß in die Ausschüsse verlegt werden. Vollsitzungen sind zu beschränken; sie führen nur zu unfruchtbaren Debatten. […] 7. Nicht der Minister, sondern der Chef der Heeresleitung beruft die Kammer und bestimmt den Beratungsstoff bzw. trifft Entscheidungen. Die Heereskammer hat kein Recht, unmittelbar vom Minister gehört zu werden. Nur im Fall gemeinsamer Beratungen der Heeresund Marinekammer beruft der Minister beide Kammern. […] Von vorstehendem bitte ich […] den Vorsitzenden Generalleutnant v. Bergmann abschriftlich zu verständigen.«283
Nachdem die Heereskammer vom 29. September bis 1. Oktober 1920 in Berlin den (zweiten) Kabinettsentwurf des Wehrgesetzes beraten hatte, veröffentlichte das Reichswehrministerium keine Pressemitteilung über das Ergebnis der Tagung. Nach Darstellung des »Vorwärts« hatte sich die Kammer mehrheitlich gegen die »reaktionären Bestimmungen des Gesetzesentwurfs« gewandt;284 ihre Änderungsvorschlä278 279 280 281 282 283
284
Rabenau, Seeckt, S. 256. Carsten, Reichswehr, S. 126. Rabenau, Seeckt, S. 257. Damals Inspekteur im Reichswehrministerium für das Erziehungs- und Bildungswesen (In 1). Verhandlungen des Reichstags, Band 345, S. 807. Artikel »Die Strammsteh-Kammer!«, Vorwärts vom 3.9.1920. Die unmittelbare Unterstellung der Heeresund Marinekammer unter den Reichswehrminister erfolgte erst, wie bereits oben dargestellt, durch § 10 Abs. 2 WG. Artikel »Achtung, Gefahr!«, Vorwärts vom 20.10.1920 (Abendausgabe).
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ge wurden jedoch nicht in den Entwurf aufgenommen, der ab Oktober im Reichstag behandelt wurde. Einzig in der mit dem »Flaggenstreit« zusammenhängenden und Ende 1920 diskutierten Frage, welche Farben die Mützenkokarden der Reichswehr haben sollten, erlangte die Heereskammer eine gewisse Bedeutung. So schloss sie sich mit den Stimmen der in ihr vertretenen Unteroffiziere und Mannschaften – entgegen der Stimmung in der Truppe – der Auffassung des Reichswehrministers an, die Farben entsprechend der neuen Nationalflagge Schwarz-Rot-Gold und nicht die alten Reichsfarben Schwarz-Weiß-Rot zu wählen. Auch wenn sich die neue Kokarde mit ihrem als »Pleitegeier« verhöhnten schwarz-rot-goldenen Reichsadler erst langsam durchsetzte, so erwies sich das Votum der Heereskammer als eine Stütze für Reichswehrminister Geßler.285 Seeckt aber empfand die Einführung der neuen Kokarde als persönliche Niederlage:286 »Wie es zu einer Abstimmung über die Nationalkokarde kommen konnte, ist mir völlig unverständlich. […] Es ist bedauerlich, daß in die erste Versammlung bereits politische Momente durch die Frage der Nationalkokarde hineingetragen sind. Solche Fragen müssen unbedingt ausgeschaltet bleiben, damit die Verhandlungen sich in den Grenzen halten, die von der Heeresleitung beabsichtigt sind.«287 So wurde auch das Gesetz, das Verfassung und Zuständigkeiten der Kammern genau regeln sollte, auf Seeckts Betreiben niemals realisiert.288 Einen fertigen und dem Haushaltsausschuss noch im Februar 1925 angekündigten Entwurf brachte Geßler unter dem Einfluss des Chefs der Heeresleitung nicht in das Gesetzgebungsverfahren ein, zu sehr fürchteten sie beide eine unliebsame Ausdehnung der Kompetenzen der Kammern unter dem Einfluss der sozialistischen Parteien.289 Im Ergebnis blieb damit auch hier die vom Reichspräsidenten erlassene Verordnung über die Einrichtung einer vorläufigen Heeres- und einer vorläufigen Marinekammer auf Dauer in Kraft.290 Das im März 1921 folgende Wehrgesetz derogierte diese Regelungen nur in einem wesentlichen Punkt:291 Bei den Ausschussberatungen errangen die Sozialdemokraten einen kleinen Teilerfolg gegen Seeckt, indem sie durchsetzten, dass die Heeres- und die Marinekammer nicht den Chefs von Heeres- und Marineleitung, sondern dem Reichswehrminister formell unterstellt wurden (§ 10 Abs. 2 WG).292 Zusammenfassend lässt sich sowohl für die Vertrauensleute als auch für die Heeres- und die Marinekammer feststellen, dass es dem Gesetzgeber gegenüber den 285 286 287 288 289
290 291 292
Carsten, Reichswehr, S. 129–133; Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 609 f.; siehe auch Hürten, Anfänge, S. 223, 229 f. Rabenau, Seeckt, S. 262, Fn. 1. Artikel »Die Strammsteh-Kammer!«, Vorwärts vom 3.9.1920. Siehe dagegen heute das Soldatenbeteiligungsgesetz, BGBl. 1997 I S. 766–778. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 609. Zur Ankündigung Geßlers siehe Verhandlungen des Ausschusses für den Reichshaushalt, III. Wahlperiode 1924, 19. Sitzung vom 18.2.1925, S. 9. In den überlieferten Akten der Reichskanzlei findet sich noch nicht mal ein Hinweis darauf, dass der Reichswehrminister den Entwurf überhaupt dem Kabinett vorlegte. Verordnung des Reichspräsidenten über die Einrichtung einer vorläufigen Heeres- und einer vorläufigen Marinekammer vom 3.6.1920, HVBl. 1920 S. 519 f. Semler, WG-Kommentar, S. 32. Bericht des 25. Ausschusses über den Entwurf eines Wehrgesetzes, Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1303 f.
7. Urlaub
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ursprünglichen Soldatenräten gelungen war, die Beteiligungsrechte der Soldaten auf Bereiche zurückzudrängen, in denen sie die prinzipiell hierarchische Struktur des Militärs nicht infrage stellten. Auch wenn gelegentlich in diesem Zusammenhang von »demokratischem Geist« die Rede war – die Reichswehr wurde nicht demokratisch organisiert. Nur auf diese Weise aber konnte sie in den Dienst einer parlamentarischen Demokratie gestellt und das Primat der Politik abgesichert werden. In der Revolution hatten die Soldatenräte Politik gemacht, und genau das sollte jetzt aufhören. Auf der anderen Seite verhinderten fehlender politischer Wille und der Einfluss Seeckts eine genaue gesetzliche Festlegung des Verfahrens und des Umfangs der Soldatenbeteiligungsrechte jenseits ihrer grundsätzlichen Institutionalisierung in Gestalt von Vertrauensleuten und Heeres- sowie Marinekammer. So gelang es der Reichswehrführung, die in § 10 WG geschaffene Zielsetzung des parlamentarischen Gesetzgebers erfolgreich zu unterminieren. Vielmehr blieb es auf Dauer bei den Exekutivverordnungen der wehrverfassungsrechtlichen Übergangszeit, denen es an der unmittelbaren parlamentarischen Legitimation mangelte. Die Beteiligungsrechte der Soldaten waren daher schon in einer schwachen Ausgangsposition, insofern ihre konkrete Ausgestaltung im Wesentlichen in das Belieben der Exekutive gestellt war.
7. Urlaub Der Anspruch des Soldaten auf Urlaub war nicht durch Gesetz, ja noch nicht einmal durch Verordnung des Reichspräsidenten geregelt. Zunächst bestimmte der Reichswehrminister im Einvernehmen mit den Chefs von Heeres- und Marineleitung – jeweils in unmittelbarem Anschluss an die Ausführungsverordnungen zu den Gesetzen über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr und Reichsmarine – den Urlaubsanspruch im Frieden auf je 14 Tage in den ersten beiden Dienstjahren, danach 24 Tage jährlich bis zum achten Dienstjahr, vom neunten bis sechzehnten Dienstjahr 30 und danach 35 Tage jährlich.293 Doch schon am 15. Mai 1920 erließ Seeckt als Chef der Heeresleitung für das Heer eine neue, sehr viel ausführlichere Urlaubsordnung.294 In Details wurden die Akzente verschoben: Hieß es früher, die »Vertrauensleute bringen Wünsche der von ihnen vertretenen Mannschaften und Unteroffiziere hinsichtlich des […] Urlaubs zur Kenntnis der Vorgesetzten«, so machte Seeckt daraus ein »können […] vorbringen«.295 Nach der neuen Urlaubsordnung konnte Urlaub grundsätzlich nach »jedem Ort des Deutschen Reichs, nach Orten des vom Feindbund besetzten deutschen Gebietes und nach dem Garnisonort des Urlaubers erteilt werden«. Dagegen musste »Urlaub nach dem Ausland« vom Reichswehrminister 293
294 295
Urlaubsordnung für die vorläufige Reichswehr, Anlage 6 zu den Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31.3.1919, AVBl. 1919 S.263–282 (276 f.); Urlaubsordnung für die vorläufige Reichsmarine, Anlage 5 zu den Organisatorischen Bestimmungen über die Bildung einer vorläufigen Reichsmarine vom 27.5.1919, MVBl. 1919 S. 195–212 (206 f.). Urlaubsordnung für das Reichsheer vom 15.5.1920, HVBl. 1920 S. 475–479. Abschnitt IV Nr. 5 der Urlaubsordnung für das Reichsheer vom 15.5.1920, HVBl. 1920 S. 475–479.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
genehmigt werden.296 Erst später gab es hier gewisse Erleichterungen und nur noch Urlaubsanträge nach »Frankreich, England [gemeint ist wohl das Vereinigte Königreich, Anm. d.Verf], Belgien, Rußland und nach außereuropäischen Staaten« waren dem Allgemeinen Truppenamt des Reichswehrministeriums vorzulegen.297 Der Urlaub wurde damit immer nach einem bestimmten Ort erteilt; es stand dem Beurlaubten also der Vorschrift nach nicht frei, pauschal Urlaub zu nehmen und dann spontan zu entscheiden, wohin die Reise gehen sollte. Die Urlaubsordnung unterschied zwischen Erholungs-, Sport-, Sonder- sowie Tages- und Nachturlaub, wobei nur auf den Erholungsurlaub ein Anspruch bestand.298 An Erholungsurlaub standen den Soldaten bis zum vollendeten zweiten Dienstjahr 14 Tage, vom dritten bis zum achten Dienstjahr 21, vom neunten bis zum zwölften 28, vom 13. bis zum 20. Dienstjahr 35 und vom 21. Dienstjahr an 45 Tage Erholungsurlaub jährlich zu. Die innerhalb des Urlaubszeitraums liegenden Sonntage wurden dabei mitgerechnet.299 Nicht auf den Erholungsurlaub angerechnet wurden dagegen die Reisetage wobei jedoch »Reiseziele, die innerhalb eines halben Tages erreicht werden, überhaupt nicht in Anrechnung zu bringen« waren. Bis zu 20 Tage Sporturlaub pro Jahr wiederum konnten für »Sport außerhalb des Standorts, zur Ausübung der Jagd oder für mehrtägige Wanderungen« gewährt werden. Sonderurlaub wurde »in besonders begründeten dringenden Fällen (z. B. unaufschiebbare Familienangelegenheiten, Wiederherstellung der Gesundheit)«, aber auch als »Belohnung für hervorragende Leistungen, […] anlässlich der hohen kirchlichen Feiertage (Ostern, Pfingsten, Weihnachten)« sowie zur »Hilfeleistung bei unaufschiebbaren landwirtschaftlichen Arbeiten – z. B. Einbringen der Ernte (Ernteurlaub) –« gegeben. Schließlich konnte Sonderurlaub noch »zu fremdsprachlichen Studien ins Ausland« gewährt werden.300 Anders als der Sporturlaub konnte dieser Sonderurlaub jedoch von »Fall zu Fall« nach Ermessen des »für die Genehmigung des Urlaubs zuständigen Vorgesetzten« auf den Erholungsurlaub angerechnet werden. Zuständig für die Gewährung von Erholungs- und Sporturlaub war bei Mannschaften und Unteroffizieren der jeweilige Disziplinarvorgesetzte, bei Offizieren der Regimentskommandeur oder Kommandeur eines selbständigen Truppenteils.301 Beim Sonderurlaub wiederum war die Zuständigkeit abhängig von der jeweiligen Länge.302 Aber selbst im Urlaub war der Soldat strengen Regeln unterworfen. So hatte sich der Soldat bei einer Aufenthaltsdauer von mehr als 24 Stunden nach den Bestimmungen der Standortsdienst-Vorschrift am Urlaubsort in Uniform zu melden: 296 297 298 299 300 301 302
Abschnitt I der Urlaubsordnung für das Reichsheer vom 15.5.1920, HVBl. 1920 S. 475–479. Erlass vom 7.11.1924, HVBl. 1924 S. 113. Abschnitte I und II der Urlaubsordnung für das Reichsheer vom 15.5.1920, HVBl. 1920 S. 475–479. Das lässt sich daraus schließen, dass auch außerhalb des Erholungsurlaubes zum Verlassen der Garnisongrenze an Sonntagen gesonderter Tagesurlaub beantragt werden musste. Hier könnte ein nicht näher nachvollziehbarer Zusammenhang zu den geheimen Rüstungskooperationen mit der Sowjetunion bestehen. Abschnitt III Nr. 1 und 2 der Urlaubsordnung für das Reichsheer vom 15.5.1920, HVBl. 1920 S. 475–479. Abschnitt III Nr. 3 der Urlaubsordnung für das Reichsheer vom 15.5.1920, HVBl. 1920 S. 475–479.
7. Urlaub
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»Beurlaubte Soldaten melden sich am Urlaubsorte, der Standort ist, innerhalb der ersten 48 Stunden nach dem Eintreffen beim Standortältesten, in sonstigen Orten bei der Ortsbehörde und lassen die Meldung auf dem Urlaubsschein vermerken. Die Truppe stellt nach Rückkehr des Urlaubers fest, ob die Meldung am Urlaubsorte stattgefunden hat.«303
Dass der Begriff des Urlaubs damals nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine räumliche Komponente hatte, zeigte sich auch am Beispiel des Tagesurlaubs. Hierunter verstand die Urlaubsordnung die Sonn- und Feiertage einschließlich der diesen Tagen vorausgehenden Nachmittage, an denen der Soldat die Garnisongrenze verlassen wollte. Das bedeutete umgekehrt, dass der Soldat ohne Tagesurlaub am Wochenende nicht die Garnisongrenze verlassen durfte. Die Erteilung stand im Ermessen des nächsten Disziplinarvorgesetzten; gleiches galt für den Nachturlaub, mit dem ein Soldat vom Zapfenstreich befreit werden konnten, also von der Pflicht zur Anwesenheit in der Kasernenunterkunft unter Einhaltung der Nacht- und Bettruhe (regelmäßig ab 22 Uhr). Ihm unterlagen »alle Mannschaften mit einer geringeren als zweijährigen Dienstzeit«.304 Der Tages- und Nachturlaub wurde zwar nicht auf den sonstigen Urlaub angerechnet, jedoch bestand darauf auch kein Anspruch. Die Einleitung zur Standortdienst-Vorschrift von 1925 stellte hierzu klar: »Die Standortältesten bestimmen die Grenzen der Umgebung des Standorts (Standortbezirk), innerhalb deren die Angehörigen der Wehrmacht Bewegungsfreiheit in ihrer dienstfreien Zeit und bei Tages- und Nachturlaub haben.«305 Verstöße konnten im Einzelfall sogar als unerlaubte Abwesenheit (§ 64 MStGB) militärstrafrechtlich oder zumindest disziplinarrechtlich geahndet werden. Die Urlaubsverordnung stellte für den Tages- und Nachturlaub jedoch auch klar: »Es ist verboten, einen ganzen Verband durch Urlaubsentziehung für Verfehlungen eines einzelnen büßen zu lassen.«306 Die Urlaubsordnung wurde erst 1932 wieder als H. Dv. 17 (Verordnung über den Urlaub der Soldaten der Wehrmacht) neu herausgegeben, ohne dass sich dabei grundsätzliche Änderungen ergaben.307 Die recht strikten Regelungen dienten unter verschiedenen Gesichtspunkten der Erhaltung der Schlagkraft der Truppe: Die traditionelle Einrichtung des Zapfenstreichs war zwar eine recht einschneidende Fürsorgemaßnahme, die allerdings unter den Bedingungen der in Gemeinschaftsunterkünften untergebrachten jungen, männlichen Mannschaften wohl unerlässlich war, um eine einigermaßen erholsame Nachtruhe zu gewährleisten. Die zwingende Angabe des Urlaubsortes oder aber das Erfordernis eines besonderen Tagesurlaubs zum Verlassen der Garnisongrenze lassen sich jedoch nur verstehen, wenn man sich die damaligen Kommunikationsmöglichkeiten vor Augen führt. Um wie das preußische Heer des 19. Jahrhunderts ein 303
304 305 306 307
Teil II Abschnitt B Nr. 4 (siehe auch Nr. 5 und 9) des Entwurfs der Standortsdienst-Vorschrift (H. Dv. 131), genehmigt am 31.3.1922. Die überarbeitete Ausgabe von 1925 verlangte die Meldung erst bei Aufenthalt von mehr als drei Tagen und erlaubte den Offizieren, bloß schriftlich Meldung zu erstatten, siehe Teil II Abschnitt K Nr. 11 f. der Standortdienst-Vorschrift, H. Dv. 131, vom 24.4.1925. Abschnitt V der Urlaubsordnung für das Reichsheer vom 15.5.1920, HVBl. 1920 S. 475–479. Nr. 3 der Einleitung der Standortdienst-Vorschrift, H. Dv. 131, vom 24.4.1925. Abschnitt II Nr. 4 der Urlaubsordnung für das Reichsheer vom 15.5.1920, HVBl. 1920 S. 475–479. Siehe die Ankündigung bei HVBl. 1932 S. 124.
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Garant der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder – anders ausgedrückt – ein innenpolitischer Machtfaktor sein zu können, musste die Reichswehr in der Lage sein, ihre Soldaten möglichst kurzfristig zu alarmieren und so die Truppe zügig in Bereitschaft zu versetzen.308 Diesem Bedürfnis konnte naturgemäß am besten Rechnung getragen werden, wenn der Soldat auch am Wochenende die Garnisonsgrenze nicht verließ oder aber zumindest angab, wo er sich während seines Tages- oder Erholungsurlaub aufhielt. Die Besonderheiten des Soldatenberufs waren in dieser Hinsicht also weniger gewillkürt, als in der Natur der Sache begründet.
8. Anzug und Umgangsformen »Ich habe mir die Kleiderordnung angesehen. Wenn Sie zusammenzählen, was im Maximum so ein Reichswehrsoldat an Litzen, an Bändern, an Haken, an Knöpfen sich anhängen kann, verzeihen Sie mir: wenn er dann noch den Stahlhelm aufsetzt, dann sieht er aus wie Paris in der ›Schönen Helena‹.« Georg Schöpflin (MSPD) am 27. Januar 1921 vor dem Reichstag309
Die Wahl seiner Kleidung war dem Reichswehrsoldaten nicht freigestellt, sondern im Gegenteil umfassend und für alle Lebenslagen vorgeschrieben. Detailliert wurden das Aussehen der Uniform und die Anzugarten für die verschiedenen Anlässe und Dienstverrichtungen geregelt. Seit der Zeit der Landsknechte bis zum Untergang des Kaiserreichs war die Uniform der Soldaten stark auf ihre repräsentative Rolle ausgelegt gewesen. Entsprechend grell und aufwendig hatten die Kleidungsstücke ausgesehen; der Volksmund hatte das Wort vom »bunten Rock« geprägt. Das Bild der Uniform wandelte sich radikal im industrialisierten Weltkrieg: War das preußische Kontingent 1914 noch mit (getarnten) Pickelhauben ausgezogen, so kehrten die Soldaten 1918 mit Stahlhelm zurück. Der feldgraue Waffenrock des Krieges bestimmte dann auch das Bild der Freikorps und der (vorläufigen) Reichswehr, was einerseits dem Geist der entbehrungsreichen Anfangsjahre entsprach, andererseits die Uniform des Schützengrabens dauerhaft in der »friedlichen« Gesellschaft der 1920er Jahre verankerte. Während die ursprünglichen Freikorpsuniformen mit ihren individuellen Abzeichen ein ganz eigenes Kapitel bildeten, so waren die Uniformen des »Friedensheeres« und dann der vorläufigen Reichswehr bewusst einfach gehalten. Ein Erlass vom 19. Januar 1919 des als Reichsregierung fungierenden Rats der Volksbeauftragten unter Ebert schuf sowohl die Schulterstücke und Achselklappen zugunsten von »behelfsmäßigen« Ärmelabzeichen als auch das Tragen von Seitenwaffen im Standort außerhalb des Dienstes ab.310 Den Worten des preußischen 308
309 310
Siehe hierzu auch Anhang B der Anleitung zur Herstellung der Marschbereitschaft des Reichsheeres, Sonderbestimmungen für die Erhöhung der Schlagkraft des Reichsheeres in besonderen Fällen, vom 21.10.1930, BArch RH 1/14, fol. 82–151 (83 f.), der eine Alarmierungszeit von 24 Stunden (statt bis dahin drei Tagen) vorsah. Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2195. Nr. 1, 3–6 der vorläufigen Bestimmungen über Bekleidung und Anzug im Friedensheer vom 19.1.1919, AVBl. 1919 S. 56 f.; abgedruckt bei Kolb, Zentralrat, S. 446 f.
8. Anzug und Umgangsformen
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Kriegsministers Reinhardt gegenüber der Nationalversammlung zufolge waren die neuen Abzeichen bewusst »schmucklos; sie sind aber den heutigen bitteren Tagen der Not und der schleichenden Fremdherrschaft angemessen«.311 Dabei handelte sich aber in erster Linie um eine teilweise Konzession an den Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte, dessen ansonsten recht erfolglosen »Hamburger Punkte« vom 18. Dezember 1918 gefordert hatten: »Als Symbol der Zertrümmerung des Militarismus und der Abschaffung des Kadavergehorsams werden die Entfernung aller Rangabzeichen angeordnet und das außerdienstliche Waffentragen verboten.«312 In diesem Geist wurde den Soldaten zu dieser Übergangszeit das Tragen von Zivilkleidung außerhalb des Dienstes weitestgehend freigestellt – ein Schritt hin zu einer Zivilisierung der Streitkräfte: In den Kontingentheeren des untergegangenen Kaiserreichs war dies den Soldaten nur in absoluten Ausnahmefällen erlaubt gewesen.313 An diesen Regelungen hielten Reichspräsident Ebert und Reichswehrminister Noske im Wesentlichen unverändert auch für die vorläufige Reichswehr mit dem Erlass und den Bestimmungen über die Bekleidung und Ausrüstung vom 5. Mai 1919 fest, jedoch erforderte das Tragen von Zivil nun schon die Genehmigung der Vorgesetzte.314 In der Praxis wurde das dann beispielsweise so interpretiert: »Im Interesse der Reichswehr und der Förderung der Mannszucht« ersuchte der Stadtkommandant von München »nach folgenden Gesichtspunkten zu verfahren: […] Das Tragen der Uniform ist für Reichswehrangehörige auch außerhalb des Dienstes die Regel, das Anlegen bürgerlicher Kleidung die Ausnahme, die besonderer Genehmigung des zuständigen Disziplinarvorgesetzten bedarf. […] Anlaß zur Erteilung dieser Genehmigung wird in der Regel nur gegeben sein […] bei Urlaub und Ausflügen […] bei Krankheit und während der Genesungszeit […] zu Sportzwecken […] in besonders begründeten Fällen z. B. Arbeit im Heimgarten, Teilnahme an Volkstrachtenfesten u.s.w. […] Über die erteilte Erlaubnis ist jeweils ein schriftlicher Ausweis auszustellen, der dem Kasernenposten vorzuzeigen ist.«315 Ohne einen solchen Ausweis endete der Ausflug in Zivil also bereits am Wachlokal. Wäre es nach der USPD gegangen, so wäre ein »Recht auf Zivilkleidung außerhalb des Dienstes« auch Teil des Wehrgesetzes geworden. Ihre Abgeordneten hatten im Zuge der Ausschussberatungen den Antrag gestellt, einen neuen Paragraphen einzufügen: »Das Tragen von Zivilkleidung ist allen Soldaten außerhalb des Dienstes gestattet. Außerhalb des Dienstes dürfen die Soldaten keine Waffen tragen.«316 Unter Waffen waren hier vor allem die Seitenwaffen zu verstehen, die im Weltkrieg zwar stark an Bedeutung eingebüßt hatten, aber wie eh und je gerne in der Öffentlichkeit getragen wurden. Nach Ansicht von Bernhard Kuhnt (USPD) würde man »durch das 311 312 313 314 315 316
Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 177. Nr. 2 der »Hamburger Punkte«, beschlossen vom Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands am 18.12.1918, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 46 f. Schlicht/Kraus, Reichswehr, S. 59. Erlass des Reichspräsidenten und Bestimmungen des Reichswehrministers über die Bekleidung und Ausrüstung der vorläufigen Reichswehr vom 5.5.1919, AVBl. 1919 S. 475–483. Kommandantur der Landeshauptstadt München, Nr. 7717/I., Betreff: Tragen bürgerlicher Kleidung, vom 2.12.1920, BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 585. Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1298.
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Festhalten daran, daß die Soldaten auch außerhalb der Dienstzeit die Uniform zu tragen haben, […] jede Assimilation zwischen Zivil und Soldaten verhindern« wollen. »Gerade das Tragen der Waffen muß aufreizend wirken gegenüber der Bevölkerung.«317 Diese Aussagen müssen auch vor dem Hintergrund der »ZabernAffäre« gesehen werden, die Ende 1913 eine innenpolitische Krise im Kaiserreich ausgelöst hatte: Der im elsässischen Zabern stationierte, noch 19-jährige Leutnant v. Forstner hatte damals einen Arbeiter mit seinem Säbel niedergestreckt, nachdem man ihn zuvor wegen öffentlich gewordener frankreich- und elsassfeindlicher Äußerungen gemaßregelt hatte und er deshalb zum Spott der örtlichen Bevölkerung geworden war. Das Kaiserhaus und besonders der Kronprinz hatten sich in der ganzen Angelegenheit sehr ungeschickt verhalten.318 Gegen den Antrag der Unabhängigen wendete sich die DDP mit der Begründung, »die Fragen des Zivil- und Waffentragens seien nicht bedeutsam genug, um im Wehrgesetz behandelt zu werden, der Wehrminister müsse sie im Verordnungsweg unter parlamentarischer Kontrolle regeln.« Neben diesem mehr formellem Einwand sei aber vor allem »auf den berechtigten Stolz der Soldaten auf Uniform und Waffe Rücksicht zu nehmen und es sei unangebracht, jungen, erst eingestellten Soldaten sofort das Ziviltragen zu gestatten.« Die Deutschnationalen pflichteten bei: »Das Waffentragen außer Dienst sei unter den jetzigen Verhältnissen schon aus Gründen der Notwehr geboten. Das Ziviltragen könne nicht bedingungslos, sondern nur für ältere Soldaten zugelassen werden, es mache den Eindruck, als werde es lediglich zu dem Zwecke verlangt, den unbemerkten Versuch politischer Versammlungen zu ermöglichen.« Außerdem stünde es in der Berufsarmee nunmehr jedermann frei, »ob er sich den damit verbundenen Einschränkungen seiner Freiheit unterwerfen wolle.«319 Das war zwar soweit richtig, bedeutete aber im Umkehrschluss, dass die Reichswehr für diejenigen unattraktiv gemacht wurde, die gerne auch mal »Zivil« tragen und damit im Wortsinne als Bürger in der Gesellschaft herumlaufen wollten. Da die USPD allerdings ebenso in dieser Frage keine Mehrheit fand, wurde ihr Antrag verworfen. Und so konnte das Reichswehrministerium unter Geßler und Seeckt die Fragen der Uniform und des Waffentragens in der Tat auf dem schlichten Verordnungsweg regeln. Schon vor Verabschiedung des Wehrgesetzes am 18. März 1921 hatten Reichspräsident und Reichswehrminister am 22. Dezember des Vorjahres Bestimmungen über das Aussehen der Heeresuniform erlassen, die im Grundsatz bis 1945 prägend blie317 318
319
Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3219. Der Kronprinz hatte Forstner mit den berüchtigten Worten in Schutz genommen: »Immer feste druff!« Siehe vertiefend Wehler, Zabern, S. 33 f. Die wichtigste Konsequenz aus der Zabern-Affäre war, dass am 19.3.1914 eine überarbeitete Vorschrift über den Waffengebrauch des Militärs und seine Mitwirkung zur Unterdrückung innerer Unruhen (D.V.E. Nr. 6) erschien, die ein Einschreiten des Militärs nur auf Anforderungen der Zivilbehörden oder Gefahr in Verzug gestattete. Die Vorschrift galt in der Reichswehr mit nur geringfügigen Modifikationen fort; Abdruck der leicht modifizierten Fassung bei Fuhse, MStGB 1926-Kommentar, Anhang V, S. 259–265; verkürzt bei Huber, Dokumente, Band 3, S. 85–88. Die Ergänzungsverfügung des Reichswehrministeriums vom 14.5.1920 wurde amtlich nicht verkündet. Die Vorschrift trat erst durch Verordnung des Führers über den Waffengebrauch der Wehrmacht vom 17.1.1936 außer Kraft, RGBl. 1936 I S. 39 f. Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1300.
8. Anzug und Umgangsformen
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ben.320 Zwar kehrten bunter Rock und Epauletten nicht zurück. Bis auf wenige Details, wie etwa die Beibehaltung der neuen republikanischen Adlerkokarde,321 entschied sich das Reichswehrministerium aber für Schnitte und vor allem Dienstgradabzeichen, wie sie sich zu Kaisers Zeiten im Feld bewährt hatten. Die Rückkehr der Achselstücke begründete Reichswehrminister Geßler mit »praktischen Erwägungen«: Die Ärmelabzeichen würden sich leichter abnutzen und seien deshalb teurer.322 Zug um Zug differenzierten sich auch die Uniformen von Mannschaften, Unteroffizieren und Offizieren wieder aus, wie etwa am Beispiel versilberter Kragenspiegel (auch »Doppellitzen«) für Offiziere; eine Praxis, die meist nachträglich durch entsprechende Erlasse positiv sanktioniert wurde.323 Zum richtigen Politikum wurde aber allein die Kokardenfrage, da sich vor allem bayerische Truppenteile weiterhin zu Schwarz-Weiß-Rot bekannten und erst nach längerem Widerstand dazu gebracht werden konnten, den schwarz-rot-goldenen Adler an ihre Mützen zu stecken. Dabei war die Frage der Reichsfarben eigentlich bereits durch Art. 3 S. 1 WRV entschieden, auf den die Soldaten ihren Eid ja ebenso geleistet hatten. Doch die Farben des Kaiserreichs hatten für konservative Gemüter einen hohen Stellenwert: Die revoltierenden Truppen hatten im November 1919 von ihren Mützen die Kokarden gerissen, weil ihr Schwarz-Weiß-Rot das Sinnbild all dessen war, wofür man jahrelang gekämpft hatte – und zu kämpfen nicht mehr bereit gewesen war. Damit verkörperten Schwarz, Rot und Gold für die politische Rechte umgekehrt in gewisser Hinsicht den »Dolchstoß«, weswegen sie beim »übriggebliebenen« Militär ganz besonders unbeliebt waren. Die Revolte gegen die neue Kokarde ging aus vom Kommandeur der 7. (Bayerischen) Division, Generalleutnant v. Möhl. Zur Untermauerung seiner Position ließ er im unterstellten Bereich eine Befragung der Truppe zu ihren Präferenzen in dieser Frage durchführen.324 Der Kommandeur des Schützen-Regiments 42 stellte es seinen Kompaniechefs dabei sogar frei, »inwieweit sie ihre Mannschaften bezüglich der Kokardenfrage durch Belehrung beeinflussen wollen« – eine kaum verhüllte Aufforderung.325 Die Truppe sprach sich ziemlich einhellig gegen »Schwarz-Rot-Gelb« aus, wie die Farben in vielen dienstlichen Schreiben verunglimpft wurden. Während Geßler und Seeckt also vorgaben, eine »unpolitische« Reichswehr zu schaffen, in der die kleinste politische Agitation eigentlich verboten war, zogen sie jedoch keine disziplinarischen Konsequenzen daraus, dass führende Offiziere in der hochpolitischen Frage der Nationalfarben ihre Truppe gegen Verfassung und Reichsregierung aufwiegelten.326 320 321 322 323 324 325 326
Bestimmungen über die Bekleidung und Ausrüstung des Reichsheeres vom 22.12.1920, HVBl. 1920 S. 1013– 1028. Bestimmungen über die Reichskokarde vom 29.9.1919, HVBl. 1919 Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2221; siehe auch die Begründung in der Ankündigung der »neuen« Uniform vom 22.2.1920, HVBl. 1920 S. 239. Schlicht/Kraus, Reichswehr, S. 243. Befehl des Führers der Reichswehr-Schützen-Brigade 21, Oberst v. Epp, Ia-Nr. 21900 vom 11.9.1920, BArch RH 37/782, fol. 118; abgedruckt bei Hürten, Anfänge, S. 223 f. Befehl des Kommandeurs des Schützen-Regiments 42, Oberst v. Haack, Nr. 187 g vom 15.9.1920, BArch RH 37/782, fol. 119. Meier-Welcker, Seeckt, S. 304; Carsten, Reichswehr, S. 128–133.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
An der »neuen« Uniform wurden die Orden und Ehrenzeichen der untergegangenen Monarchien ganz selbstverständlich weitergetragen.327 Neue durften eigentlich nach Art. 109 Abs. 4 WRV »vom Staat nicht verliehen werden.« Diese Regelung stand in engem systematischem Zusammenhang mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in Art. 109 Abs. 1 S. 1 WRV. Sie war Ausdruck des egalitären Gedankens, dass die Republik nicht Einzelne vor anderen auszeichnen sollte. Auch hier kann man wie in Bezug auf die Frage der Reichsfragen trefflich streiten, ob nicht die ein oder andere sentimentale Nebelkerze es den Konservativen erleichtert hätte, sich in die neue Ordnung zu integrieren. Immerhin hat auch die französische Republik es stets verstanden, sich mit traditionellen Formen in Szene zu setzen und so eine emotionale Bindung hervorzurufen. Die Reichswehr scherte sich jedenfalls nicht um das Ordensverbot und schuf stattdessen »Erinnerungsabzeichen«, die für besondere Leistungen im Krieg verliehen wurden.328 Sie verstießen zwar nicht gegen den Wortlaut, sehr wohl aber gegen Sinn und Zweck des Ordensverbotes. Ebenso wurden die alten Kriegsauszeichnungen, wie z. B. das Eiserne Kreuz, noch bis Ende des Jahres 1924 nachverliehen.329 So setzte sich die Reichswehr auch hier nonchalant über die Verfassung hinweg. Die Fragen des Zivil- und Waffentragens wurden im Juli 1921 durch Vorschrift geregelt. Danach konnten Disziplinarvorgesetzte vom Bataillonskommandeur aufwärts das Tragen von Zivilkleidung genehmigen – was im Umkehrschluss hieß, dass es grundsätzlich verboten war. Ohne besondere Genehmigung war das Ziviltragen nur erlaubt »1. auf Urlaub (außer Stadturlaub), 2. bei Ausübung der Jagd und des außerdienstlichen Sportes jeder Art, 3. bei Ausflügen, Wanderungen usw. außerhalb des Standortes, 4. bei Ausübung der Praxis der Sanitäts- und Veterinäroffiziere.« Außerhalb des Dienstes hatte der Soldat auf der Straße Uniform »stets mit Seitenwaffe, Offiziere und Unteroffiziere mit Handschuhen«, zu tragen.330 Das Tragen dienstlicher und privater Schusswaffen außerhalb des Dienstes (mit Ausnahme der Jagd) wurde sogar erst im März 1926 verboten; der nächste Disziplinarvorgesetzte konnte jedoch weiterhin Ausnahmen genehmigen.331 Teilweise Erleichterungen in Bezug auf das Ziviltragen kamen mit der überarbeiteten Anzugordnung von 1929: Danach durften Generale und Stabsoffiziere (also ab Major) ohne besondere Genehmigung »bürgerliche Kleidung« tragen, wobei sie sich nach den Grundsätzen zu richten hatten, nach denen für die übrigen Soldaten die Genehmigung zum Tragen von Zivil erteilt werden durfte. Diese war im Dienst »auf begründete Ausnahmefälle zu beschränken«. Ohne weiteres durfte Zivil in den bereits 1921 festgelegten Fällen, bei Offizieren auch auf Dienstreisen getragen werden. Außer Dienst durfte ferner 327 328 329 330 331
Abschnitt D Teil IV Nr. 28 der Anzugordnung für das Reichsheer (H.A.O.), H. Dv. 122, von 1929; in Kraft gesetzt durch Verfügung vom 1.3.1929, HVBl. 1929 S. 22. Bspw. das Erinnerungsabzeichen für die ehemaligen Besatzungen deutscher Kampfwagen, HVBl. 1921 S. 299 f. MVBl. 1925 S. 114. Entwurf zur Anzugordnung (A.O.), H. Dv. 122, von 1922, Abschnitt D Teil III Nr. 23 f.; in Kraft getreten durch Verfügung vom 13.7.1921 bei HVBl. 1921 S. 299. Bestimmungen über das Tragen von Schusswaffen in der Reichswehr, HVBl. 1926 S. 27.
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»der Disziplinarvorgesetzte das Tragen bürgerlicher Kleidung im Standortbezirk widerruflich genehmigen: 1. für die Dauer: Heeresangehörigen vom Feldwebel an aufwärts oder mit mehr als zwölfjähriger Dienstzeit, die nach seiner Überzeugung keinen Mißbrauch befürchten lassen, 2. von Fall zu Fall: den übrigen Heeresangehörigen bei entsprechender Begründung, z. B. Geldersparnis, Gartenarbeit, gewerbliche Tätigkeit«. Zivil durfte jedoch ausdrücklich niemals getragen werden »bei Geselligkeit, außer im kleinen Kreise naher Bekannter.«332 Damit wurde Vorschrift, was Bernhard Kuhnt (USPD) bereits 1921 bei den Debatten zum Wehrgesetz befürchtet hatte: »Wir wissen, daß die Offiziere tausendfache Gelegenheit haben, sich in ihren Privatwohnungen und sonstwo politisch zu betätigen, daß sie auch alle politischen Versammlungen besuchen können, indem sie sich einfach Zivilzeug anlegen.«333 Zum Vergleich: Den preußischen Polizeibeamten war das Tragen von Zivil außer Dienst grundsätzlich gestattet.334 Das Privatleben der allermeisten Soldaten aber war so allein schon bekleidungstechnisch weitgehend durchmilitarisiert. Aber nicht nur bei den Uniformen kehrte die Reichswehr ein gutes Stück weit zur vorrevolutionären »Normalität« zurück. Im »alten Heer« war die Ausführung des militärischen Grußes sehr diffizil geregelt gewesen: Unteroffiziere und Mannschaften hatten sämtliche Offiziere, die in ihrer Kompanie Dienst taten oder ihnen als Chef oder Kommandeur vorgesetzt waren, sowie Feldmarschälle und Mitglieder des königlichen Hauses durch schlichtes »Frontmachen«, im Volksmund auch als »Aufspritzen« bezeichnet, die »Ehrenbezeugung« zu erweisen. Durch die stramme Körperhaltung sollte die Unterwürfigkeit demonstriert werden. Dagegen durften nur die Offiziere immer mit dem Anlegen der flachen Hand an die Kopfbedeckung (zurück-) grüßen. Im Übrigen galt: Rangklassenhöhere wurden in gleicher Weise mit der Hand gegrüßt. In der Praxis bedeutete das, dass Mannschaften und Unteroffiziere vor ihren Offizieren frontmachten – andere bekamen sie ja kaum zu sehen – und Offiziere (auch untereinander) durch Anlegen der Hand grüßten. Mit der Revolution wurde die bisherige Grußpflicht faktisch abgeschafft, nicht wenige Stimmen auf der politischen Linken setzten sich im Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte für die Beibehaltung einer freiwilligen Grußpraxis ein. Das »Aufspritzen« war so sehr ein Sinnbild für den preußisch-deutschen Militarismus gewesen, dass die Debatte über die zukünftige Form des militärischen Grußes die politischen Eliten beschäftigte.335 Dabei gelang es Kriegsminister Reinhardt, den Zentralrat von einer abgeschwächten Grußpflicht zu überzeugen.336 In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Erlass über die »vorläufige Regelung der Kommandogewalt und die Stellung der Soldatenräte im Friedensheer« – was die Bedeutung noch einmal unterstreicht – legte die 332 333 334 335 336
Abschnitt D Teil III Nr. 23 f der Anzugordnung für das Reichsheer (H.A.O.), H. Dv. 122, von 1929; in Kraft gesetzt durch Verfügung vom 1.3.1929, HVBl. 1929 S. 22. Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3219; ähnlich Georg Schöpflin (MSPD), ebenda S. 3214. Bekleidungsvorschrift für die Polizei und Landjägerei in Preußen, Teil I (Anzugsordnung), Abschnitt F Nr. 56; siehe auch Ministerialblatt für die preußische innere Verwaltung 1932, S. 393. Sehr anschaulich ist die Szene, in der Paul Bäumer auf Fronturlaub von einem Major wegen Verletzung der Grußpflicht getadelt wird, bei Remarque, Im Westen nichts Neues, S. 164–166. Protokoll der Zentralratssitzung mit Kriegsminister Reinhardt vom 17.1.1919, abgedruckt ebenda S. 432– 440.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
provisorische Reichsregierung per Verordnung vom 19. Januar 1919 die neue Grußregelung fest: »Einen einseitigen Grußzwang des Untergebenen gegenüber dem Vorgesetzten gibt es nicht mehr. Dagegen besteht für beide die Pflicht, sich gegenseitig zu grüßen, wobei der Jüngere und im Dienstgrad Niedere dem Älteren zuvorkommen muß. Die Grußpflicht ruht im Weichbild größerer Städte, in belebten öffentlichen Räumlichkeiten, wie innerhalb aller Menschenansammlungen. […] Der Gruß wird beim Anzug ohne Gewehr und mit der Kopfbedeckung von allen Heeresangehörigen dadurch erwiesen, daß sie sich ansehen und die rechte Hand an die Kopfbedeckung legen und dabei eine gute männliche Haltung einnehmen. Die anderen Formen des Einzelgrußes mit Kopfbedeckung und ohne Gewehr, das Frontmachen, Stillstehen und Vorbeigehen in gerader Haltung sind abgeschafft.«337
Die Grußpflicht war damit erstmals einheitlich für alle Dienstgrade. Reinhardt bewies großes Geschick, als er dem Zentralrat die grundsätzliche Wiedereinführung der Grußpflicht mit der Betonung ihrer Gegenseitigkeit schmackhaft machte. Dabei handelte es sich nämlich um gar keine Neuerung: Schon nach den alten Vorschriften hatten Vorgesetzte den Gruß zu erwidern.338 Allerdings hatte die Praxis natürlich so ausgesehen, dass das Einfordern des Grußes für einen Untergebenen allein aufgrund des starken hierarchischen Gefälles sehr viel schwieriger als für einen Vorgesetzten gewesen war. Wie sollte es da im kommenden Heer anders sein? Die neue Grußregelung wurde für die (vorläufige) Reichswehr durch erneute Verordnung des Reichspräsidenten vom 29. Mai 1919 zwar in ihren Grundzügen bestätigt. Eine erste wesentliche Erweiterung fand allerdings dahingehend statt, dass Offiziere und Unteroffiziere untereinander zum Grüßen verpflichtet wurden; die Mannschaften sollten es ihnen »zur Bekundung der Kameradschaft« gleichtun. Aber nicht nur Vorgesetzte, sondern auch jeder Dienstgradhöhere war von nun an zu grüßen. Da man nach dem Inkrafttreten des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt nicht mehr auf die Soldatenräte Rücksicht zu nehmen brauchte, konnte auch das »Frontmachen« unter Reichswehrminister Noske ungeniert zurückkehren: »Nur beim Anzug mit Gewehr, ohne Kopfbedeckung oder bei Behinderung der rechten Hand wird der Gruß dem Vorgesetzten usw. gegenüber durch Stillstehen, Stillsitzen oder Vorbeigehen in gerader Haltung und freies Ansehen erwiesen.« Mit den »Vorgesetzten usw.« waren aber schon der Systematik nach nicht etwa die Untergebenen, sondern eben die übrigen Dienstgradhöheren gemeint, die ja nun auch zu grüßen waren. Schließlich trugen Offiziere ja grundsätzlich ohnehin kein Gewehr, sondern höchstens Pistole. Mit dieser Änderung war auch die revolutionäre Egalität der Grußvorschriften beseitigt. Man bemerke auch: Der Gruß war durch »freies Ansehen« zu erweisen – die Bestimmungen erstreckten sich also bis hin zum Gesichtsausdruck, der Körper des Soldaten wurde bis in Details der Kommandogewalt unterworfen. Umgekehrt wurden die ursprünglichen Ausnahmen der Grußpflicht zurückgebildet: Nur noch »bei größeren Menschenansammlungen unter freiem Himmel und in Versammlungslokalen« außerhalb von militärischen Liegenschaften ruhte die Gruß337 338
Vorläufige Bestimmungen über den militärischen Gruß im Friedensheer vom 19.1.1919, AVBl. 1919 S. 57. II. Teil, Nr. 184 der Garnisondienst-Vorschrift, D.V.E. Nr. 131, vom 15.3.1902.
8. Anzug und Umgangsformen
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pflicht – nicht mehr jedoch im »Weichbild größerer Städte«.339 Die tradierten Umgangsformen konnten so auch wieder in die Großstädte und damit in angestammte Arbeiterreviere zurückkehren. So nimmt es nicht Wunder, dass Kurt Tucholsky Ende 1920 die Zustände in der Reichswehr kritisierte: »Noch herrscht da der schlechte preußische Ton: Anrede des Vorgesetzten in der dritten Person, das ›Aufspritzen‹, wenn ein Achselstück naht; der neue Reichswehrgruß, der den Mannschaften erlaubt, den Vorgesetzten stets durch den Mützengruß seine Ehrenbezeugungen zu machen, ist in vielen Garnisonen verboten, wo man vorzieht, den Mann nach wie vor wie eine Holzpuppe strammstehen zu lassen.«340
Die Frage nach der Grußpflicht nahm teilweise sogar außenpolitische Bedeutung an: Mit Verfügung vom 10. April 1920 änderte Seeckt die im übrigen fortgeltenden Grußbestimmungen341 der Garnisondienst-Vorschrift von 1902 dahingehend, dass eine »Grußpflicht deutscher Militärpersonen gegenüber Militärpersonen der Verbandsstaaten« nicht mehr bestand.342 Weitere Details regelte dann von August 1920 an die »Vorschrift über Ehrenbezeugungen«,343 bis schließlich 1922 die neue Standortsdienst-Vorschrift unter der Verantwortung Seeckts mit vielen weiteren Detailvorschriften über den Gruß (geschlossene Abteilungen, mit Waffen, in Fahrzeugen, zu Pferde etc.) die Entwicklung der Grußpflicht für die Reichswehr weitgehend abschloss.344 Auch im Übrigen lehnte sie sich so weit wie möglich an die alte Garnisondienst-Vorschrift von 1902 an. Die revolutionäre Egalität der Formvorschriften wurde dort noch weiter eingeschränkt, insbesondere war bei »Meldungen und Gesprächen mit Vorgesetzten […] die rechte Hand nach Erweisen der E. [=Ehrenbezeugung] kurz herunterzunehmen, die militärische Haltung jedoch beizubehalten.« Besonders für eine Berufsarmee erstaunlich stumpf, verstockt und wenig souverän ordnete der Chef der Heeresleitung die militärischen Formen in der Moderne der Weimarer Republik: »Im Innern aller Verkehrsmittel (Eisen-, Straßenbahnen usw.), in Gasthäusern, Kantinen, Theatern, Wartesälen, Gartenwirtschaften usw. sind E. nur dann zu erweisen, wenn der Vorgesetzte und der Untergebene sich auf Grußweite nähern. Hier wird der Lage entsprechend die E. durch Anlegen der Hand an die Kopfbedeckung und durch Stillstehen oder Stillsitzen unter Blickwendung nach dem Vorgesetzten erwiesen.« Noch dazu waren Offiziere in Zivil, »sofern sie dem betr. Wehrmachtsangehörigen durch den dienstlichen Verkehr bekannt sind, ebenfalls zu grüßen.« Umgekehrt hatten Wehrmachtsangehörige in Zivilkleidung »den ihnen 339 340 341 342
343 344
Bestimmungen über den militärischen Gruß vom 29.5.1919, AVBl. 1919 S. 485 f. (mit eigenen Hervorhebungen). Tucholsky, Reichswehrsoldaten, S. 486. Siehe Schreiben des Reichswehrministeriums, Chef der Heeresleitung, Nr. 2385 4.21 T.2., Betr.: Garnisondienst-Vorschrift, vom 17.5.1921, BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 585. Regelung des militärischen Grußes gegenüber Militärpersonen der Verbandsstaaten vom 10.4.1920, HVBl. 1920 S. 371. Zur Fortgeltung der Garnisondienst-Vorschrift, D.V.E. Nr. 131, vom 15.3.1902, siehe Verfügung des Chefs der Heeresleitung vom 17.5.1921 betreffend Garnisondienst-Vorschrift, BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 585. Als Anlage II zur Ausbildungsvorschrift für die Fußtruppen im Kriege in Kraft getreten, HVBl. 1920 S. 788. Entwurf der Standortsdienst-Vorschrift, H. Dv. 131, genehmigt am 31.3.1922; siehe auch die Mitteilung vom 17.4.1922 bei HVBl. 1922 S. 172 f.
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II. Grundlagen des soldatischen Dienstverhältnisses
bekannten Wehrmachtsangehörigen, soweit sie diesen gegenüber zum Gruße verpflichtet sind, E. durch Abnehmen der Kopfbedeckung« zu erweisen.345 Schon bei den Beratungen des Zentralrats der Arbeiter- und Soldaten hatte Kriegsminister Reinhardt darauf hingewiesen: »Es ist selbstverständlich: wenn der Gruß als ein Zwang aufgestellt wird, dann muß auch eine Bestrafung eingesetzt werden, wenn der Gruß unterbleibt.«346 Schließlich waren die angesprochenen Verordnungen allesamt »Befehle in Dienstsachen« militärischer Vorgesetzter, deren Nichtbefolgung nach § 92 MStGB als Ungehorsam disziplinar oder gerichtlich bestraft werden konnte. Darauf wies das preußische Kriegsministerium schon am 2. Juli 1919 in einem Rundschreiben hin, das Minister Reinhardt und Unterstaatssekretär Albert Grzesinski (MSPD) unterzeichneten.347 So hielt auch das Reichsgericht im Februar 1922 eine vorinstanzliche Verurteilung aufrecht wegen Achtungsverletzung (§ 89 MStGB) in Tateinheit mit Ungehorsam (§ 92 MStGB) und Gehorsamsverweigerung (§ 94 MStGB) in einem Fall, wo ein Offizierstellvertreter (also ein Unteroffizier in Offiziersfunktion) einem Offizier den Gruß verweigert hatte.348 Ein umgekehrter Fall, in dem ein Vorgesetzter wegen Verletzung der Grußpflicht verurteilt wurde, ist hingegen nicht bekannt. Auch ansonsten wandelten sich die militärischen Umgangsformen nur geringfügig: Offiziere wurden für gewöhnlich im Schriftverkehr von jedermann als »Hochwohlgeboren« adressiert, Vorgesetzte in der dritten Person Plural ohne »Sie« und nur mit »Herr« und Dienstgrad angesprochen (»Herr Hauptmann, ich bitte Herrn Hauptmann um Urlaub.«).349 Der »Reibert«, ein offiziöses Lehrbuch für den Dienstunterricht der Mannschaften und Unteroffiziere, das nach seinem ursprünglichen Autor Oberst Dr. iur. Wilhelm Reibert benannt ist und bis heute fortgeführt wird, belehrte in seiner Erstausgabe von 1929: »Ferner hat der Soldat im Gespräch mit seinen Vorgesetzten eine gute militärische Haltung zu bewahren. Im Gespräch läßt er zunächst den Vorgesetzten reden, und dann antwortet er in kurzen, knappen, vollständigen Sätzen, ohne umständliche Höflichkeitsformen und Phrasen. Im allgemeinen antwortet er nur, wenn er gefragt wird. Während des Gesprächs ist dem Vorgesetzten scharf (ohne jegliche unnatürliche Übertreibung) in die Augen zu sehen. Die Fragen sind laut und deutlich, aber ohne zu schreien, zu beantworten.«350
345 346 347 348 349
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Teil II Abschnitt C Nr. 3, 4 und 20 des Entwurfs der Standortsdienst-Vorschrift, H. Dv. 131, genehmigt am 31.3.1922. Protokoll der Sitzung des Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte mit Kriegsminister Reinhardt vom 17.1.1919, abgedruckt bei Kolb, Zentralrat. S. 432–440 (439). Rundschreiben des preußischen Kriegsministeriums betreffend militärischen Gruß vom 2.7.1919, BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 20. Reichsgericht, Urt. v. 21.2.1922 – IV 1554/21 – (unveröffentlicht; in der Bibliothek des BGH verfügbar); siehe auch die Mitteilung bei DStrZ 1922, S. 244. Das beseitigten erst die Nationalsozialisten, siehe den Befehl des Kommandierenden Generals des VII. Armeekorps vom 3.5.1937 (Nr. 4365 geh.), der Bezug nimmt auf einen Befehl des Oberbefehlshaber des Heeres vom 27.4.1937 (Nr. 1346/37 g Allg H IV a), BArch RH 37/312. Reibert, Dienstunterricht, S. 30.
8. Anzug und Umgangsformen
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Sogar das tradierte »Burschenwesen«351 blieb zunächst unangetastet: »Pferdewärter sind zur persönlichen Bedienung der Offiziere usw. [=Sanitätsoffiziere] mitbestimmt. Jedem unberittenen Offizier steht 1 Mann (Bursche) zur persönlichen Bedienung zu. Die Burschen sind in den Stellenansätzen für Mannschaften mitenthalten[…]. Die Zahlung der Burschenentschädigung darf nur stattfinden, wenn ein Pferdewärter oder ein Mann nicht gestellt wird.«352 Vielmehr unter dem äußeren Druck der Heeresverminderung als aus innerer Überzeugung wurde allerdings im Mai 1920 der »Aufwartedienst« gegenüber Offizieren auf Übungen von mehr als 24 Stunden beschränkt. Auch das ersatzweise Burschengeld entfiel nach dem Besoldungsgesetz vom 30. April 1920, sehr zum Leidwesen der Offiziere.353 Noch im Juli 1921 monierten ihre Vertreter in der Heereskammer erfolglos den Fortfall dieser alten Institution, doch eine Aufzeichnung der Sitzung hielt fest: »Keine Besserung möglich gegenüber dem bisherigen Modus.«354 Eine der wenigen weiteren Änderungen war die Abschaffung der Anrede »Exzellenz« für Generale im Jahr 1927.355 Auch in Hinblick auf militärische Zeremonien besann man sich vor allem auf Bewährtes: Wurde der Große Zapfenstreich in der Standortsdienst-Vorschrift von 1922 im Gegensatz zur Garnisondienst-Vorschrift aus dem Jahr 1902 nicht mehr ausdrücklich genannt, so kehrte er in der überarbeiteten Ausgabe von 1925 in alter Form zurück.356 Zusammengefasst zeichneten sich in der Reichswehr also auch in Fragen von Symbolik, Form und Stil stark restaurative Tendenzen ab. Teils ignorierte man unverhohlen Sinn und Zweck der Verfassung (wie mit der Einführung der »Erinnerungsabzeichen«), teils brach man schlicht die revolutionären Vereinbarungen und schleifte so die mühsam eroberten Bastionen der Egalität.
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Siehe II. Teil, Nr. 206–213 der Garnisondienst-Vorschrift, D.V.E. Nr. 131, vom 15.3.1902. Nr. 31 der Ausführungsbestimmungen zum Haushalt der Verwaltung des Reichsheeres für das II. Rechnungshalbjahr 1919 (1.10.1919 bis 31.3.1920) vom 13.12.1919, HVBl. 1919, S. 511–523 (517). Reichsbesoldungsgesetz vom 30.4.1920, RGBl. 1920 S. 805–839; siehe vor allem den Erlass des Chefs der Heeresleitung zur Burschenentschädigung vom 21.5.1920, HVBl. 1920 S. 487. 19. (Bayerisches) Infanterie-Regiment, Unverbindliche Mitteilungen über das Ergebnis der letzten Tagung der Heereskammer, datiert auf den 18.7.1921, BArch RH 37/782. HVBl. 1927 S. 136; HVBl. 1928 S. 8. Teil II Abschnitt H der Standortdienst-Vorschrift, H. Dv. 131, vom 24.4.1925.
III. POLITISCHE UND BÜRGERLICHE GRUNDRECHTE »Es ist durchaus unmöglich den Soldaten zu trennen in einen Soldaten im Dienst und einen Soldaten außerhalb des Dienstes. Der Soldat soll ganz Soldat sein, und ich glaube, daß eine Armee, die sich innerlich so fühlte, daß sie nur im Dienste Soldat und außerhalb des Dienstes Bürger ist, den Ansprüchen an eine Armee, wie sie sein soll, nicht gewachsen sein wird.« Alexander v. Puttkamer (Nationalliberale Partei) am 19. März 1869 vor dem Reichstag des Norddeutschen Bundes anlässlich der Plenardebatte zum Wahlgesetz1
Die Weimarer Reichsverfassung war – wenn man von der nie in Vollzug gesetzten Paulskirchenverfassung absieht – die erste reichsdeutsche Verfassung, die einen Grundrechtskatalog enthielt, wohingegen die Bismarck’sche Reichsverfassung von 1871 sich auf die Staatsorganisation beschränkt hatte. Dieser Katalog bildete – anders als im Bonner Grundgesetz – den zweiten Teil der Verfassung, war mit »Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen« überschrieben und betonte so die Wechselwirkungen und das Aufeinanderbezogensein von Recht und Pflicht, von Freiheit und Grenze.2 Dieser zweite Teil der WRV enthielt zum einen klassische, der liberalbürgerlichen Agenda folgende Freiheitsgrundrechte im Sinne von Abwehrrechten des Bürgers gegen den Staat sowie politische Partizipationsgrundrechte. Dabei hatte sich die verfassunggebende Nationalversammlung vor allem und zum Teil bis in den Wortlaut hinein an der Paulskirchenverfassung orientiert. Zum anderen enthielt der Grundrechtsteil der WRV aber als wesentliche staatsrechtliche Neuerungen auch Programmsätze, die vor allem die Ordnung der Gesellschaft betrafen, wie sie in den Abschnitten »Das Gemeinschaftsleben«, »Religion und Religionsgesellschaften«, »Bildung und Schule« und »Das Wirtschaftsleben« zum Ausdruck kamen.3 Die klassisch-liberalen Freiheiten erhielten hierdurch eine soziale Dimension, die individuellen Grundrechte wurden in Bezug gesetzt zur Gesellschaft und das in Freiheit gesetzte Individuum zugleich sozial verpflichtet. Die Idee eines Sozialstaats war damit erstmal in die Verfassung eingewoben. Für die rechtliche Stellung des Soldaten aber sind aus diesem Verfassungskonglomerat neben den politischen Partizipationsgrundrechten in erster Linie die individuellen Freiheitsgrundrechte klassischen Zuschnitts als »Grundrechte im engeren Sinne« bedeutsam.4 Sie waren im Kaiserreich entweder nur von den jeweiligen Landesverfassungen oder auf Reichsebene lediglich einfachgesetzlich anerkannt 1 2 3 4
Plenardebatte zum Reichswahlgesetz 1869, Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, Session 1869, Band 1, S. 162. »Freiheit als beständige, gesicherte Freiheit gibt es erst durch Recht und im Recht, das Grenzen zieht«, Böckenförde, Recht, S. 234. Maßgeblich hat dies erkannt Schmitt, Verfassungslehre, S. 163–166. Siehe auch Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 365 f. Schmitt, Grundrechte, S. 591.
1. Grundrechtsdogmatik und besonderes Gewaltverhältnis
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gewesen.5 Erst ab diesem Zeitpunkt war personale Freiheit als normative Kategorie von der Reichsverfassung anerkannt. Mit der Erhebung von Grundrechten in den Reichsverfassungsrang ergab sich zugleich die Notwendigkeit ihrer intensiven dogmatischen Verarbeitung, die allerdings erst recht spät – in der zweiten Hälfte der Republik – einsetzte.6 Auch wenn die Weimarer Reichsverfassung also einen grundrechtlichen Meilenstein darstellt, ist hierin ein wesentlicher Grund zu sehen, weshalb sich auch unter ihr die Konfliktlinien zwischen den Erfordernissen des soldatischen Dienstes einerseits und personaler Freiheit andererseits in der juristischen Praxis nicht wesentlich anders oder deutlicher abzeichneten.
1. Grundrechtsdogmatik und besonderes Gewaltverhältnis Zunächst einmal setzte sich die Auffassung durch, dass es sich bei diesen »Grundrechten im engeren Sinne« um subjektive Rechte des Bürgers gegen den Staat und nicht bloß um politische Programmsätze handelte.7 Hierzu waren im späten Kaiserreich auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts wesentliche Vorarbeiten etwa durch Georg Jellinek und Ottmar Bühler geleistet worden.8 Diese griffen insbesondere Gerhard Anschütz und Richard Thoma als Vertreter der rechtspositivistischen Strömung einerseits sowie Carl Schmitt als Antipositivist andererseits auf und entwickelten sie für die Grundrechtsdogmatik weiter.9 Die positivistische Strömung der damaligen Staatsrechtslehrer betonte dabei die prinzipielle Abänderbarkeit der Grundrechte.10 Dagegen ging die prominent von Schmitt vertretene Richtung von einer unberührbaren, vorrechtlichen Qualität der Freiheitsgrundrechte aus,11 die sie zu einer objektiven (Werte-)Ordnung fortentwickelte, um sie entgegen ihrem historischem Ursprung nun nicht mehr einem absolutistischen Herrscher, sondern – vor allem im Rahmen der richterlichen Anwendung des einfachen Gesetzes – auch einem parlamentarischen Gesetzgeber entgegenzuhalten.12 Entscheidend ist aber die beiden Richtungen gemeinsame Erkenntnis, dass zwischen Grundrecht und beschränken5 6 7 8 9 10 11
12
Stolleis, Geschichte, Band 2, S. 371 f. Gusy, Reichsverfassung, S. 275 f. Stolleis, Geschichte, Band 3, S. 110. Jellinek, System; Bühler, Rechte. Anschütz, WRV-Kommentar, Vorbem. zum zweiten Hauptteil, S. 506; Thoma, System, S. 618–623; ders., Bedeutung, S. 19; Schmitt, Verfassungslehre, S. 164. Thoma, Bedeutung, S. 38–47. »Für einen wissenschaftlich brauchbaren Begriff muss daran festgehalten werden, daß Grundrechte im bürgerlichen Rechtsstaat nur solche Rechte sind, die als vor- und überstaatliche Rechte gelten können, die der Staat nicht nach Maßgabe seiner Gesetze verleiht, sondern als vor ihm gegeben anerkennt und schützt und in welche er nur in einem prinzipiell meßbaren Umfang und nur in einem geregelten Verfahren eingreifen darf«, Schmitt, Verfassungslehre, S. 163.; siehe auch ders., Inhalt, S. 600 f. Hier liegt auch der Keim der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, siehe ebenda S. 592. Dagegen Thoma, Bedeutung, S. 50–53. Gusy, Reichsverfassung, S. 276; Stolleis, Geschichte, Band 3, S. 111 f.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
dem Gesetz eine Wechselwirkung stattfinden musste.13 Ebenso setzte sich die Auffassung durch, dass das einfache Gesetz und vor allem seine unbestimmten Rechtsbegriffe »grundrechtsoptimierend« auszulegen seien,14 was deswegen von entscheidender Bedeutung für die Grundrechtswirkung war, als die WRV keine Verfassungsgerichtsbarkeit und damit insbesondere nicht die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde vorsah. Grundrechtsschutz konnte also nur vor der traditionellen Gerichtsbarkeit oder gar nicht stattfinden, wenn auch die Reichweite des richterlichen Prüfungsrechtes und damit das Verhältnis von erster und dritter Gewalt umstritten blieben.15 Immerhin erklärte sich das Reichsgericht in seinem Urteil zum Aufwertungsgesetz vom 4. November 1925 für befugt, die Verfassungsmäßigkeit von Reichsgesetzen inzident zu prüfen.16 Entwürfe für ein »Gesetz über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Reichsrechts« aus den Jahren 1926 und 1928 blieben im Rechtsausschuss stecken.17 Sie hatten eine abstrakte Normenkontrolle auf Antrag von mehr als einem Drittel des Reichstags oder Reichsrats sowie eine gerichtliches Vorlageverfahren zur konkreten Normenkontrolle vorgesehen und hätten damit eine prozessuale Stärkung des Verfassungsrechts zur Folge gehabt.18 Damit war aber auch das praktische Bedürfnis nach dogmatischer Durchdringung der Grundrechte wesentlich geringer als später unter dem Grundgesetz. Für die Einschränkbarkeit der unter Gesetzesvorbehalt stehenden Grundrechte waren auch noch keine prinzipiellen verfassungsrechtlichen Grenzen allgemein anerkannt wie etwa der heute wichtige Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.19 Er hatte sich zwar aus dem Polizeirecht kommend als generelles Prinzip des Verwaltungsrechts in Hinblick auf einzelne Maßnahmen etabliert, wurde aber noch nicht als Maßstab zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit grundrechtseinschränkender Gesetze herangezogen. Gerade in Hinblick auf den allgemeinen Gesetzesvorbehalt für das soldatische Dienstverhältnis in Art. 133 Abs. 2 S. 2 WRV, wonach das Wehrgesetz bestimmte, »wieweit für Angehörige der Wehrmacht zur Erfüllung ihrer Aufgaben und zur Erhaltung der Manneszucht einzelne Grundrechte einzuschränken sind«, fand also keine Zweck-Mittel-Relation statt. Dabei wäre mit der Bezugnahme auf den Zweck der Einschränkung (»zur Erfüllung ihrer Aufgaben und zur Erhaltung der Manneszucht«) eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bereits im Wortlaut angelegt gewesen. Auch der Verfassungsausschuss der Nationalversammlung sah den Gesetzesvorbehalt als in sich unbeschränkt und behandelte sein Für und Wider dement13 14 15 16 17 18
19
Schmitt, Verfassungslehre, S. 166. Siehe auch Schmitt, Grundrechte, S. 600. Gusy, Reichsverfassung, S. 276; Stolleis, Geschichte, Band 3, S. 112 f. RGZ 111, 320 (323). Zum damaligen Streit um das richterliche Prüfungsrecht siehe Gusy, Reichsverfassung, S. 216–220; Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 560–567. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 70 Anm. 5 a.E.; siehe auch Verhandlungen des Reichstags, Band 392, S. 9951; Band 423, S. 405. §§ 1 und 6 des Entwurfs eines Gesetzes über die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Reichsrechts vom 11.12.1926, Reichstagsdrucksache 3/2855; siehe auch den gleichlautenden Entwurf vom 16.10.1928, Reichstagsdrucksache 4/382. Stern, Entstehung, S. 167. Anerkannt waren nur qualifizierte Gesetzesvorbehalte wie etwa bei der Meinungs- und Pressefreiheit in Art. 118 Abs. 1 WRV (»innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze«).
1. Grundrechtsdogmatik und besonderes Gewaltverhältnis
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sprechend auch im Sinne einer grundrechtlichen Alles-oder-Nichts-Frage. Die Abgeordneten übersahen, dass schon die Verfassung allgemeine Vorgaben hätte treffen können zur Ausdifferenzierung der widerstreitenden, je für sich berechtigten Bedürfnisse nach persönlicher Freiheit des Soldaten einerseits und der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte andererseits. Diese Aufgabe legten sie allein in die Hände des Wehrgesetzgebers, dem damit allerdings auch die Möglichkeit eröffnet war, über Art. 133 Abs. 2 S. 2 WRV den Grundrechtsstatus des Soldaten extrem zu relativieren.20 Das Grundrechtsverständnis steckte also noch in den Kinderschuhen und beschäftigte in erster Linie die Lehre. Sie leistete hier zwar erhebliche Vorarbeit, die das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht später rezipierten. Von einer auch durch die Rechtsprechung gefestigten, in wesentlichen Zügen anerkannten Dogmatik war die Weimarer Republik aber noch weit entfernt. Trotz der äußerlichen Ähnlichkeit grundrechtlicher Bestimmungen in WRV und GG unterschieden sich Grundrechtsverständnis und Grundrechtsschutz also ganz erheblich von dem, was in der späteren Bundesrepublik vom Bundesverfassungsgericht entwickelt wurde und heute als allgemein anerkannt gilt. Zum Umstand der allgemein erst im Aufbruch befindlichen Grundrechtsdogmatik gesellte sich für die Rechtsstellung der Soldaten indes noch eine ältere, sehr viel entscheidendere Lehre: das besondere Gewaltverhältnis. Seine »Formung […] ist die Tat Otto Mayers« und geht auf sein 1895 erstmals erschienenes Lehrbuch zum Deutschen Staatsrecht zurück.21 In der 1924 erschienenen 3. Auflage beschrieb Otto Mayer einerseits das allgemeine Gewaltverhältnis als »die umfassende rechtliche Abhängigkeit […], in welcher der Untertan zum Staat steht«. Unter einem besonderen Gewaltverhältnis andererseits verstand Mayer »die verschärfte Abhängigkeit, welche zugunsten eines bestimmten Zwecks öffentlicher Verwaltung begründet wird für alle Einzelnen, die in den vorgesehenen besonderen Zusammenhang treten«.22 Diese Vorstellung ging also davon aus, dass jeder Mensch zunächst einmal in einem allgemeinen Gewaltverhältnis zum Staat stand, das im Kern noch dem lehensrechtlichen Prinzip von »Treue und Gehorsam gegen Schutz und Schirm« folgte.23 Der Mensch war in diesem Sinne gewaltunterworfen, im wahrsten Sinne des Wortes »Subjekt«, er war Untertan.24 Das besondere Gewaltverhältnis zeichnete sich demgegenüber durch eine Intensivierung dieser Charakteristika aus. Der stärkeren Einschränkung der persönlichen Freiheit und der gesteigerten Gehorsamspflicht des Unterworfenen entsprach – zumindest der Idee nach – eine besondere Fürsorge des Staates. Mayer schuf damit einen deskriptiven verwaltungsrechtlichen Sammelbegriff für derart gekennzeichnete Staat-Bürger-Verhältnisse wie sie auch schon lange vorher bestanden hatten.25 Als prägnanteste Beispiele seien hier genannt das militärische wie das Beamtendienstverhältnis sowie die Anstaltsverhältnisse insbesondere in Schulen, 20 21 22 23 24 25
Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 504, 512–514. Loschelder, Gewaltverhältnis, S. 7 m. w. N. Mayer, Verwaltungsrecht, Band 1, S. 101 f. Nach Schmitt, Begriff, S. 53, ist »das protego ergo obligo […] das cogito ergo sum des Staates«. Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund siehe Wenninger, Geschichte, S. 172–190. Zur Übersicht siehe Wenninger, Geschichte, S. 13–32.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
Universitäten und Gefängnissen. Jedoch bildeten die besonderen Gewaltverhältnisse keinesfalls pauschal – trotz ihrer gesteigerten Pflichtenbindung – ein »Feld schranken- und maßstabsloser Disposition der Verwaltung über die Freiheit der Betroffenen«.26 Wo auch immer die Grenze im Einzelnen gezogen wurde – es handelte sich grundsätzlich nicht um einen rechtsfreien Raum: »Der Dienstvorgesetzte kann auch auf Grund des Gewaltverhältnisses nicht schlechthin befehlen, was er will. Die Befugnis dazu hat ihre rechtlichen Grenzen, innerhalb derer die Geltendmachung sich halten muß.«27 Das kann allerdings nicht in gleicher Weise für das Verständnis des Militärdienstverhältnisses am Ende des Kaiserreichs aufrechterhalten werden. So bemerkte immerhin der liberal-positivistische Paul Laband, dass die »Ordnung [… des Verhältnisses zwischen Vorgesetztem und Untergebenem] eine innere Angelegenheit der Armee und Marine und nicht von rechtlicher Natur [ist]. Das Rechtsverhältnis zwischen dem seine aktive Dienstpflicht erfüllenden Untertan und der Staatsgewalt ist lediglich durch den Satz gegeben, daß der erstere allen dienstlichen Befehlen Gehorsam schuldig ist.«28 Das Rechtliche in dieser Beziehung erschöpfte sich für Laband also in der Gehorsamspflicht. Erst nach dem Inkrafttreten der WRV aber wurde die zunächst deskriptive Kategorie des besonderen Gewaltverhältnisses von der Staatsrechtslehre auch zu einem normativen Institut der Grundrechtsdogmatik transformiert, das der Legitimation von Grundrechtseinschränkungen diente. Getreu der Devise »Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht«,29 bemühte sich der weit überwiegende Teil der Lehre darum, die einmal etablierte Kategorie des besonderen Gewaltverhältnisses in die Republik hinüberzuretten und in die Grundrechtsordnung der WRV einzupassen.30 Dabei wurde aber zunächst einmal deutlich, dass die WRV Verallgemeinerungen über die Geltung und Wirkung der Grundrechte in den bisher anerkannten besonderen Gewaltverhältnissen nicht zuließ. So bestimmte Art. 130 Abs. 2 WRV: »Allen Beamten wird die Freiheit ihrer politischen Gesinnung und die Vereinigungsfreiheit gewährleistet.« Daraus folgerte etwa Carl Schmitt, dass es sich hierbei nicht um eine deklaratorische Feststellung ohnehin geltender Grundrechte handelte, die eine »prinzipiell unbegrenzte Freiheitssphäre« voraussetzen, sondern um »verfassungsgesetzlich normierte Sonderbestimmungen in Verbindung mit […der] institutionellen Garantie [des Berufsbeamtentums]«. Denn schließlich gingen grundsätzlich die »Statuspflichten des Beamten […] den Garantien der Vereinigungsfreiheit und der Freiheit der politischen Gesinnung durchaus vor«.31 Ähnlich folgerte Richard Thoma: »Mir scheint, daß in der Regel und im Zweifel die Grundrechte – mögen sie nun eine Freiheit oder ein Recht verbürgen, mögen sie in 26 27
28 29 30 31
Loschelder, Gewaltverhältnis, S. 115; ebenso Merten, Grundrechte, S. 60; dagegen Mayer, Verwaltungsrecht, Band 2, S. 184; siehe auch Merten, Grundrechte, S. 60; vgl. BVerfGE 33, 10 f., wo von einer »unerträglichen Unbestimmtheit« und die »Grundrechte beliebig oder nach Ermessen« einschränkend die Rede ist; ebenso Wenninger, Geschichte, S. 172: »Eine Theorie, welche durch die Annahme eines rechtssatz- und gesetzesfreien Raumes gekennzeichnet ist«. Laband, Staatsrecht, Band 4, S. 156 f. »Groß Neues ist ja seit 1914 und 1917 nicht nachzutragen. ›Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht‹«, so Otto Mayer im Vorwort vom 29.8.1923 zur 3. Auflage von Staatsrecht, Band 1. Wenninger, Geschichte, S. 191–194. Schmitt, Verfassungslehre, S. 182.
1. Grundrechtsdogmatik und besonderes Gewaltverhältnis
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der Verfassungsurkunde oder in einem jener freiheitlichen Reichsgesetze stehen – nur auf das allgemeine Gewaltverhältnis gemünzt sind. Dies ist der Normalfall.«32 Nur ausnahmsweise – wie etwa durch Art. 130 Abs. 2 WRV angeordnet – sollten Grundrechte im besonderen Gewaltverhältnis gelten, ansonsten griff nach Thoma also eine Vermutung für deren Nichtgeltung. Diese Sichtweise – immerhin eines in der rechtspositivistischen Tradition stehenden Staatsrechtslehrers – erscheint zumindest für das Wehrdienstverhältnis wenig nachvollziehbar in Anbetracht des Wortlautes von Art. 133 Abs. 2 S. 2 WRV, wo es hieß: »[Das Wehrgesetz] bestimmt auch, wieweit für Angehörige der Wehrmacht zur Erfüllung ihrer Aufgaben und zur Erhaltung der Manneszucht einzelne Grundrechte einzuschränken sind.« Schon eine am Wortlaut orientierte Auslegung der Vorschrift müsste den Schluss nahelegen, dass die WRV von der grundsätzlichen Geltung der Grundrechte für die Angehörigen der Wehrmacht ausging und daher bewusst Vorkehrungen für deren Einschränkung traf.33 Doch schon die Protokolle des Verfassungsausschusses belegen, dass dessen Abgeordnete nicht sauber zwischen Beschränkung, Nichtgeltung und Außerkraftsetzung differenzierten.34 Die verfassungsrechtliche Kommentarliteratur verwies zu Art. 133 Abs. 2 S. 2 WRV lediglich auf die einschränkenden Paragraphen im Wehrgesetz, ohne die Frage der Grundrechtsgeltung im Dienstverhältnis an sich zu problematisieren.35 Einzig aus dem Wiener Kreis um Hans Kelsens »Reine Rechtslehre« kam grundsätzliche Kritik an der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis.36 So schrieb Adolf Merkl 1927 in seinem Lehrbuch zum Allgemeinen Verwaltungsrecht: »Es ist schlechterdings nicht einzusehen, wodurch sich die als ›allgemeine‹ und ›besondere‹ unterschiedenen Pflichten unterscheiden als durch den belanglosen Unterschied im Umfange des Kreises der Verpflichteten. […] Warum also in die Ferne schweifen, Gewaltverhältnisse aller Art und gar für alle Fälle eine allgemeine Untertanenpflicht konstruieren, um für die verschiedenen öffentlichen Pflichten die gewünschten Grundlagen zu finden, statt sich mit der Feststellung der naheliegenden gesetzlichen Grundlagen zu bescheiden, die nach dem Legalitätsprinzip als Voraussetzung rechtlicher Pflicht erforderlich, aber auch genügend sind?«37
Diese grundsätzliche Ablehnung der Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis kann aber keinesfalls als im Deutschen Reich maßgeblich angesehen werden. Vielmehr überdauerte die Figur auch noch das Dritte Reich und wurde als Grundrechtsschranke erst 1972 durch die Strafgefangenenentscheidung des Bundesverfassungsrechts endgültig aufgegeben.38 Die noch junge Grundrechtslehre einerseits, die fehlende judizielle Praxis in Ermangelung eines verfassungsgerichtlichen Rechtsbehelfs der Individualverfassungsbeschwerde andererseits ließen eine einigermaßen gefestigte und zumindest in ihrem Kernbestand unbestrittene Grundrechtsdogmatik in der 32 33 34 35 36 37 38
Thoma, Grundrechte, S. 206 f. Siehe hierzu auch den im Wortlaut ähnlichen Art. 17a GG und die entsprechende Auslegung bei Dürig in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 17a, Rn. 1. Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 504, 512–514. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 133 Anm. 3; Arndt, WRV-Kommentar, Art. 133 Anm. 2; Poetzsch-Heffter, WRV-Kommentar, Art. 133 Anm. 3. Wenninger, Geschichte, S. 197–204 m. w. N. Merkl, Verwaltungsrecht, S. 132. BVerfGE 33, 1.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
Weimarer Republik nicht entstehen. Auf der Staatsrechtslehrertagung von 1927 stellte Rudolf Smend fest: »Die Notwendigkeit immer neuer Inangriffnahme des Problems der Bedeutung der Grundrechte überhaupt wird deutlich an den beiden Verlegenheiten, in denen sich die herrschende Auslegung der Grundrechte befindet. Die eine besteht in dem Mißverhältnis zwischen dem offenkundigen großen Bedeutungsanspruch, mit dem die Grundrechte […] auftreten, und der anscheinend sehr geringen wirklichen Bedeutung, die sorgfältige juristische Einzeluntersuchung für sie in Anspruch nehmen kann […] Die andere Schwierigkeit liegt im Verhältnis vieler Grundrechte zu den sogenannten besonderen Gewaltverhältnissen – in der Frage, wie sich gegenüber dem apodiktischen Allgemeingeltungsanspruch vieler Grundrechte […] die notwendige Wahrung der ›besonderen Pflichtverhältnisse‹ begründen lasse.«39
Die wehrrechtliche Kommentarliteratur erkannte zumindest an, dass es sich bei einzelnen Bestimmungen des Wehrgesetzes um Eingriffe in Grundrechte handelte. Diese hielt sie jedoch mit einfachem Verweis auf den wehrgesetzlichen Schrankenvorbehalt in Art. 133 Abs. 2 S. 2 WRV für zulässig. Grundrechtsdogmatische Grenzen der Einschränkbarkeit wurden auch hier nicht angesprochen; die Vorschrift wurde also mehr oder weniger als Blankovorbehalt interpretiert.40 Als allgemeine Auffassung lässt sich damit lediglich festhalten, dass die Grundrechte im Wehrdienstverhältnis wenn überhaupt, dann nur abgeschwächt galten, oder zumindest ihre Beschränkung aufgrund des besonderen Gewaltverhältnisses geringeren Anforderungen unterlag. Auch grundrechtlich wurde das Wehrdienstverhältnis also a priori nach Sondermaßstäben beurteilt – wie auch immer diese konkret aussehen sollten. Die grundrechtliche Position der Reichswehrsoldaten zu beschreiben fällt daher schwer, sie kann schließlich nicht mit den Mitteln der heutigen Dogmatik gelingen: Wo Grundrechte nicht gelten, kann schließlich auch nicht in sie eingegriffen werden. Es ist hier auch nicht der Ort, die (fehlende) übergreifende normative Theorie für die Grundrechtssituation des Reichswehrsoldaten unter der WRV nachzuliefern. In Anbetracht dessen werden hier einfach diejenigen Normen untersucht, die Sachverhalte für Soldaten regelten, die im »Normalfall« in den Schutzbereich eines Weimarer Grundrechtes fielen. Das waren zunächst die von Art. 133 Abs. 2 S. 2 WRV angesprochenen Regelungen des Wehrgesetzes.41 Schließlich war so etwas wie eine »Wesentlichkeitstheorie«, wonach der Gesetzgeber »in grundrechtsrelevanten Bereichen die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen« hat,42 unter der WRV nicht etabliert. So gab es über formelle Gesetze hinaus etliche Rechtsverordnungen, die für die Grundrechtssituation des Soldaten entscheidende Wirkungen hatten. Dem Beschwerde-, Disziplinar- und Militärstrafrecht sind dabei an späterer Stelle wegen ihrer herausragenden – auch grundrechtlichen – Bedeutung gesonderte Kapitel gewidmet. 39 40 41 42
Smend, Recht, S. 44 f. Semler, WG-Kommentar, S. 101; Rittau, WG-Kommentar, S. 121. Siehe auch den historischen Vorläufer in Art. 39 der Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31.1.1850 (Preußische Gesetzsammlung 1850, S. 17–35). BVerfGE 47, 46 (55).
2. Eheschließungsfreiheit
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2. Eheschliessungsfreiheit: Die Heiratsordnung vom 5. Januar 1922 Art. 119 Abs. 1 WRV bestimmte: »Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und der Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter.« Nach überwiegender Verfassungsinterpretation handelte es sich hier um eine »Institutsgarantie«,43 die Änderungen am Familienrecht und Eingriffe in das Grundrecht nicht grundsätzlich ausschloss, jedoch das Rechtsinstitut gegen völlige Abschaffung schützte und einen bestimmten Kernbereich unantastbar ließ.44 Dazu sollten die Monogamie, ein Minimum an Formzwang für Eingehung und Auflösung, aber auch ein Mindestmaß an Rechtsunterschied zwischen »ehelichen und außerehelichen« Kindern zählen.45 Das historische BGB ging in den §§ 1303–1322 von dem Grundsatz der Eheschließungsfreiheit aus, der lediglich durch allgemeine Ehehindernisse (wie Geschäftsunfähigkeit, Eheunmündigkeit) und Eheverbote (z. B. Verwandten- oder Verschwägertenehe, Doppelehe; siehe insbesondere § 1310 BGB) eingeschränkt wurde. Doch stellte § 1315 Abs. 1 BGB für Militärpersonen (§ 4 Abs. MStGB i.V.m. §§ 43, 1 Abs. 1 S. 3 WG.) ein besonderes aufschiebendes Ehehindernis in Gestalt eines Erlaubnisvorbehaltes auf: »Militärpersonen […] dürfen nicht ohne die vorgeschriebene Erlaubniß eine Ehe eingehen.« Ein Verstoß gegen dieses aufschiebende Ehehindernis, also die Eingehung der Zivilehe ohne vorherige Einholung der Erlaubnis war unter den Nichtigkeits- und Anfechtungsgründen (§ 1323 und § 1330 BGB) nicht genannt und führte daher nicht zur Unwirksamkeit der Ehe.46 Jedoch wurden bei vorsätzlichem Verstoß zum einen der Standesbeamte mit Geldstrafe (§ 69 Personenstandsgesetz47), zum anderen der heiratende Soldat mit Festungshaft bis zu drei Monaten bestraft, zugleich konnte auf Dienstentlassung erkannt werden (§§ 150 Abs. 1, 30 Nr. 2 MStGB).48 Der Erlaubnisvorbehalt diente damit ausschließlich dem Schutz dienstlicher Interessen; aus familienrechtlicher Sicht haftete der Ehe also kein Makel an. Doch kann davon ausgegangen werden, dass die Strafandrohung eine hinreichend verhaltensdeterminierende Wirkung dahingehend entfaltet hat, dass der Soldat grundsätzlich nicht ohne Erlaubnis heiratete; insbesondere, da mit der drohenden Entlassung wohl regelmäßig seine wirtschaftliche Existenz vernichtet und er somit nicht zum Unterhalt der ehelichen Lebensgemeinschaft imstande gewesen wäre. 43 44 45 46 47 48
Der Begriff wurde erstmals (und in Bezug auf Art. 119 Abs. 1 WRV) geprägt durch Schmitt, Grundrechte, S. 596. Anschütz, WRV-Kommentar, Vorbem. zum Zweiten Hauptteil, Nr. 8. Und das trotz des Gleichstellungsauftrages aus Art. 121 WRV, siehe Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 119, Anm. 1. Rittau, WG-Kommentar, S. 110 f. Siehe auch § 150 Abs. 2 MStGB: »Auf die Rechtsgültigkeit der geschlossenen Ehe ist der Mangel der dienstlichen Genehmigung ohne Einfluß.« Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung vom 6.2.1875, RGBl. 1875 S. 23–40. Siehe auch die Änderung der Vorschrift durch Art. 46 § 55 Abs. 4 EGBGB. Für die Militärbeamten kam nur eine Disziplinarbestrafung in Frage, §§ 153, 154 MStGB, siehe auch Semler, WG-Kommentar, S. 94; ebenso Rittau, WG-Kommentar, S. 110.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
Die der Eheschließungsfreiheit entgegenstehenden dienstlichen Interessen und ihr Schutz wurden durch das Wehrgesetz und vor allem die Heiratsordnung konkretisiert, die die Erteilung der Heiratserlaubnis regelte. Das Wehrgesetz zunächst hielt in § 31 Buchstabe b an dem tradierten Erlaubnisvorbehalt für alle Angehörigen der Wehrmacht – also auch für die Militärbeamten (§ 1 WG) – fest, wie er zuvor auch in § 40 RMG 1874 verankert gewesen war,49 und bestimmte darüber hinaus, dass die Erlaubnis »in der Regel nicht vor Vollendung des 27. Lebensjahres erteilt« werden sollte.50 Ein Entwurf aus dem Frühjahr 1920, der noch unter Noske und Reinhardt ausgearbeitet worden war, hatte hingegen noch vorgesehen, dass »die Genehmigung […] in der Regel nicht vor dem siebenten Dienstjahr erteilt« werden sollte.51 Geht man von einem Eintrittsalter von 19 Jahren aus, dann wäre der Soldat in seinem siebten Dienstjahr also erst 25 gewesen und hätte entsprechend früher heiraten können. Die von Reichswehrminister Geßler berufene Gesetzeskommission konservativer Offiziere und juristischer Ministerialbeamter gab dem § 31 Buchstabe b WG dann seine spätere Form.52 Ein Antrag, die Verheiratung nach Vollendung des 27. Lebensjahres ganz erlaubnisfrei zu stellen, scheiterte in den parlamentarischen Ausschussberatungen.53 Reichswehrminister Geßler bemerkte dazu, »das Erfordernis der Genehmigung solle Kautelen schaffen gegen ungeeignete Heiraten und müsse deshalb auch nach dem 27. Lebensjahr gelten«.54 In sämtlichen Plenarberatungen zum Wehrgesetz wurde der Heiratserlaubnisvorbehalt nicht thematisiert, so dass insofern ein recht breiter politischer Konsens angenommen werden kann.55 Bei der Heiratsordnung wiederum handelte es sich um eine Rechtsverordnung, zu deren Erlass nach § 47 Abs. 1 WG der Reichspräsident unter Zustimmung des Reichsrates ermächtigt war.56 Vom Reichswehrministerium unter Geßler ausgearbeitet und am 5. Januar 1922 von Reichspräsident Ebert ausgefertigt blieb sie (bis auf einige unwichtige Detailänderungen bei den Zuständigkeiten) die gesamte Weimarer Republik 49 50
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56
»Die Militärpersonen des Friedensstandes bedürfen zu ihrer Verheirathung der Genehmigung ihrer Vorgesetzten.« Für die wehrverfassungsrechtliche Übergangszeit sollte bei Anwendung der bisherigen Regelungen dem geplanten Mindestalter Rechnung getragen werden, siehe Mitteilung des Reichsarbeitsministers Braun vom 3.11.1920, HVBl. 1920 S. 959. § 29 des Entwurfs des Reichswehrgesetzes nebst Begründung vom 28.2.1920, Drucksachen zu den Verhandlungen des Reichsrats, Jahrgang 1920, Nr. 53. Siehe auch das Protokoll zum entsprechenden Kabinettsbeschluss vom 13.2.1920 bei BArch R 43-I/609, fol. 81. In den Entwürfen davor sollte sich die Entscheidung weder am Dienstalter noch am Lebensalter orientieren, siehe § 30 des Entwurfs eines Reichswehrgesetzes, Reichswehrminister, Nr. 425.12.19.T 5, vom 19.12.1919, BArch R 43-I, fol. 2–13. Eine Aufzählung der Kommissionsmitglieder findet sich bei Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2335. Die Materialien geben keinen Aufschluss darüber, wer den Antrag stellte. Bericht des 25. Ausschusses über den Entwurf eines Wehrgesetzes, Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1293. Erste Beratung des Wehrgesetzes, Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2335–2345; zweite und dritte Beratung des Wehrgesetzes, Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3191–3227. Erst im Jahr 1922 übte Wendelin Thomas (KPD) eine grundsätzliche Kritik, Verhandlungen des Reichstags, Band 353, S. 6279. Das Erfordernis der Reichsratszustimmung begründete der Entwurf des Wehrgesetzes damit, dass Interessen der Länder betroffen seien, Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 25.
2. Eheschließungsfreiheit
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hindurch in Kraft.57 Sie ersetzte die zunächst noch fortgeltenden landesrechtlichen Regelungen für die einzelnen Kontingentheere58 und orientierte sich inhaltlich ganz wesentlich an preußischen Vorbildern, die bis zum Allgemeinen Landrecht von 1794 zurückreichten.59 Offiziere hatten den Antrag auf Erteilung der Heiratserlaubnis an ihren Regimentskommandeur oder Schiffskommandanten zu richten; die Entscheidung traf der Reichswehrminister. Unteroffiziere und Mannschaften mussten ihre Anträge an ihren nächsten Disziplinarvorgesetzten richten; über sie entschied der »nächste mindestens mit Disziplinarstrafgewalt eines Bataillonskommandeurs ausgestattete Vorgesetzte«. Militärbeamte wiederum richteten ihre Anträge an den nach dem Reichsbeamtengesetz nächsthöheren Disziplinarvorgesetzten, über die dann der Reichswehrminister entschied. Sollte in einem besonders begründeten Ausnahmefall einem unter 27-jährigen die Heiratserlaubnis erteilt werden, so war, soweit nicht dem Reichswehrminister selbst die Entscheidung vorbehalten war, die Dienststelle zuständig, die dem ansonsten zuständigen Vorgesetzten übergeordnet war. Begründet wurde die grundsätzliche Altersbeschränkung etwa im Entwurf des Wehrgesetzes damit, dass die »Verwaltung […] auf die Zahl der Verheirateten in der Wehrmacht einen maßgebenden Einfluß ausüben können« müsse. Auch wies Reichswehrminister Geßler in den Ausschussberatungen daraufhin, dass die Regelungen mit der »Kasernierungsfrage« zusammenhingen60 – schließlich waren Mannschaften und Unteroffiziere, ob verheiratet oder nicht, grundsätzlich kasernenpflichtig.61 Der Semler’sche Wehrgesetz-Kommentar ergänzte hierzu, dass »in den Kasernen sonst nicht genügend Verheirateten-Wohnungen bereitgestellt werden können und die Zahl der außerhalb der Kaserne Wohnenden naturgemäß niedrig gehalten werden muß«.62 Die Altersgrenze scheint aber nicht völlig aus der Luft gegriffen worden zu sein: So belief sich das durchschnittliche Erstheiratsalter für Männer von 1920 bis 1933 recht konstant auf etwa 27,5 Jahre.63 Weitere Voraussetzungen für die Erteilung der Heiratserlaubnis waren: »a) daß der Antragsteller wie auch die Braut schuldenfrei sind, und b) daß die Führung des Haushalts in geldlicher Hinsicht gesichert ist. 57 58
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Verordnung des Reichspräsidenten über das Heiraten der Angehörigen der Wehrmacht vom 5.1.1922, HVBl. 1922 S. 51–54; Änderungen bei HVBl. 1925 S. 39; HVBl. 1926 S. 35. Siehe z. B. die Verordnung über das Heirathen der Militärpersonen des Preußischen Heeres und der Preußischen Landgendarmerie (Heiraths-Verordnung) vom 25.5.1902, Berlin 1902; Erleichterungen und Vereinfachungen durch Verordnung des preußischen Kriegsministeriums vom 7.6.1919, AVBl. 1919 S. 540 f. § 34 I 1 PrALR: »Officiere, welche in wirklichen Kriegsdiensten stehen, können ohne königliche Erlaubniß nicht heirathen.«; § 35 I 1 PrALR: »Bey Unterofficieren, Soldaten, und allen, welche gleich diesen zur Fahne geschworen haben, wird die Einwilligung des Chefs oder Commandeurs von dem Regimente, Bataillon oder Corps, zu welchem sie gehören, erfordert.« Bericht des 25. Ausschusses über den Entwurf eines Wehrgesetzes, Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1294. Nr. 89 der fortgeltenden (preußischen) Garnison-Verwaltungsordnung (GVO.) vom 4.9.1913, Teile 1, D.V.E. Nr./H. Dv. 303, Berlin 1913. Siehe auch Kapitel III.9. Semler, WG-Kommentar, S. 93. Auch verheiratete Unteroffiziere und Mannschaften waren zum Wohnen in der Kaserne verpflichtet, siehe Kapitel III.9. Rothenbacher, Familienstatistik, S. 72.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte Im übrigen soll die zukünftige Ehefrau eines jeden Angehörigen der Wehrmacht einen einwandfreien Ruf genießen, selbst achtbar sein und einer achtbaren Familie angehören.«
Schon bei den ersten beiden Punkten ging es nicht wirklich um die Fürsorge gegenüber den heiratenden Soldaten. Sie sollten vielmehr sicherstellen, dass der verheiratete Soldat in seinem Dienst nicht allzu sehr durch außerdienstliche finanzielle Belastungen beeinträchtigt wurde. Darüber hinaus sollten sie (wie vor allem die letzte Voraussetzung) auch das Ansehen des Soldaten und seines Berufsstandes sichern, indem das öffentliche Bild eines verschuldeten oder aus sonstigen Gründen zum Unterhalt von Ehe und Familie unfähigen Soldaten vermieden wurde. Hier wurden besonders an Offiziere erhöhte Anforderungen gestellt, die sich aus den tradierten Ehrvorstellungen ergaben. Nach einer ergänzenden Ausführungsbestimmung des Reichswehrministers vom 18. März 1926 kam es bei der Beurteilung der Frage nach der Sicherung der Haushaltsführung in geldlicher Hinsicht darauf an, »ob nach den persönlichen Verhältnissen der Verlobten hinsichtlich Vorhandensein der ersten Einrichtung, Einkommen, Lebensansprüchen und Charakteranlagen im Zusammenhalt mit den örtlichen Lebensgepflogenheiten die Aussicht besteht, daß die beabsichtigte Ehe der Berufsstellung des Soldaten oder Militärbeamten nicht abträglich sein wird.«64 Hierzu muss man aber auch den historischen Hintergrund sehen: Im gerade untergegangen Zeitalter der großen (konstitutionellen) Monarchien Europas hatten junge Männer mit dem Offizierpatent die Eintrittskarte zur höheren Gesellschaft erworben. Schon der junge Leutnant war – im Gegensatz zu selbst sozial hochgestellten Bürgerlichen – grundsätzlich hoffähig gewesen. Die Ausgaben für ein standesgemäßes Leben hatten jedoch die Einkünfte aus Besoldung etc. regelmäßig bei weitem überstiegen; das Glücksspiel bildete traditionell einen Zeitvertreib besonders für jüngere Offiziere und wurde von Reichswehrminister Noske bereits am 21. August 1919 innerhalb wie außerhalb militärischer Einrichtungen bei Androhung von Disziplinarstrafe verboten.65 Jedoch lag in diesem exklusiven Lebenswandel oft auch der einzige Ausweg aus der wirtschaftlichen Misere des jungen Offiziers: Die Hoffnung auf Vermählung mit einer Dame aus gutem und vor allem wohlhabendem Hause. Nach einer erläuternden Anlage zur Heiratsordnung sollte allerdings bezüglich der Voraussetzung der finanziellen Sicherstellung der Haushaltsführung grundsätzlich davon ausgegangen werden, »daß die Besoldung auch in den unteren Stufen der 64 65
HVBl. 1926 S. 35. Erlass des Reichswehrministers über Glücksspiel in der Truppe vom 17.8.1919, AVBl. 1919 S. 721. Siehe als literarische Beispiele den jungen russischen Offizier Graf Wronski in Tolstoi, Anna Karenina, S. 458–462, wie auch die Spielsucht und Schuldenmacherei junger österreichischer Offiziere bei Schnitzler, Lieutenant Gustl, S. 9 f.; Roth, Radetzkymarsch, Kapitel 17, S. 299–323; ebenso die Vorschriften der §§ 678–603 I 11 PrALR, die eine Überschuldung der Militärpersonen, v. a. der Subalternoffiziere (Leutnante), verhindern sollten; siehe auch die entsprechenden Vorschriften im PrAGB (Vorentwurf zum PrALR), wo die Darlehensaufnahme durch Offiziere noch liberalisiert war, jedoch im PrALR auf königlichen Befehl genehmigungspflichtig wurde. Siehe weiter das Glücksspielverbot für Unteroffiziere und Gemeine in Art. 50 der preußischen Kriegsartikel vom 27.6.1844, Preußische Gesetzsammlung 1844, S. 276–286. Spielschulden waren nach gemeinem, österreichischem, und preußischem Recht sowie nach § 762 BGB nicht klagbar, doch fühlten sich nicht wenige Offiziere bei Nichtbegleichung solcher »Ehrenschulden« zum Selbstmord gezwungen.
2. Eheschließungsfreiheit
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niederen Besoldungsgruppen zur schuldenfreien Führung eines Haushalts ausreicht, wenn die Beschaffung der ersten Einrichtung insoweit sichergestellt ist, daß die Besoldung des Ehemanns nicht mehr wesentlich dazu herangezogen werden braucht« – gedacht war hier an Mitgift und Aussteuer.66 Hintergrund war hier, dass sich bei der Besoldung im Vergleich zum »alten Heer« einiges getan hatte: »Bekam damals der Leutnant nur ein Taschengeld, so hat er heute Bezüge, die es ihm ermöglichen, von seinem Einkommen auch leben zu können.«67 Und doch wandte sich General d. Inf. Hans v. Seeckt als Chef der Heeresleitung in einem Erlass vom 25. März 1925 warnend an das Offizierkorps, nachdem ihm bekannt geworden war, dass einige Offiziere sich überschuldet, ein jüngerer Offizier sich deshalb gar erschossen hatte.68 Auch sparte Seeckt nicht mit Rat, in welchen Becken der junge Offizier zu fischen hatte. In einem Erlass, der jedem Offizier gegen Unterschrift bekannt zu geben war, lehrte er: »Der Umgang mit der wahrhaft gebildeten Frau aus gutem Hause soll vom jungen Offizier als Ehre und zugleich edelste Förderung seiner selbst empfunden und erstrebt werden; Geistes- und Herzensbildung, Taktgefühl und Formengewandtheit finden hier die beste Pflege. In solchen Gesellschaftskreisen wird sich der Offizier auch seine Lebensgefährtin zu suchen haben; er möge bedenken, daß ihre Persönlichkeit – wenn auch nicht sogleich fühlbar – doch im Laufe der Berufsjahre von so bestimmendem Einfluß auf seine inneren und äußeren Verhältnisse werden kann, daß Rückwirkungen auf das dienstliche Gebiet vielfach nicht ausbleiben.«69 Zu diesem Frauenideal Seeckts gehört aber auch die im selben wie in anderen Erlassen ähnlich mitgeteilte Auffassung: »Der Mann trägt grundsätzlich die Verantwortung für die Haltung seiner Frau« oder »Die Verantwortung für die Handlungsweise seiner Frau hat der Offizier selbstverständlich zu tragen«.70 Für Offiziere und Militärbeamte galten auch noch verschärfte Regeln: Sie hatten nach den Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers »zur Vermeidung späterer Enttäuschungen wegen versagter Erlaubnis zur Eheschließung in ihrem eigenen Interesse vor Veröffentlichung ihrer Verlobung die Zustimmung des […] Vorgesetzten einzuholen«.71 Über all diese Heiratserlaubnisvoraussetzungen, die immerhin das Privatleben der Betroffenen in sensiblen Punkten betrafen, hatte der Vorgesetzte, bei dem der Antrag auf 66
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Anlage 2 zur Verordnung des Reichspräsidenten über das Heiraten der Angehörigen der Wehrmacht vom 5.1.1922, HVBl. 1922 S. 51–54 (53). Die politische Linke unkte regelmäßig über die gute Bezahlung der Reichswehrsoldaten, siehe nur Tucholsky, Kehrseite, S. 307. Abgeordneter Daniel Stücklen (MSPD) im Rahmen des Berichts des Haushaltsausschusses zum Haushalt des Reichswehrministeriums für das Rechnungsjahr 1920, Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2190. »Es gibt nur einen Weg, der auf die Dauer vor Schuldenmachen bewahrt: Anpassung der Bedürfnisse auf die Einnahmen«, Erlass des Chefs der Heeresleitung vom 25.3.1925, abgedruckt bei Messerschmidt/Gersdorff, Offiziere, S. 242 f. Erlass des Chefs der Heeresleitung vom 30.8.1924, abgedruckt bei Messerschmidt/Gersdorff, Offiziere, S. 239–241 (240). Erlass des Chefs der Heeresleitung vom 5.5.1924, abgedruckt bei Messerschmidt/Gersdorff, Offiziere, S. 238. Nr. 4 der Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers zur Heiratsordnung vom 31.1.1922, HVBl. 1922 S. 53 f.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
Erteilung der Heiratserlaubnis eingereicht wurde, Ermittlungen anzustellen und deren Ergebnisse zusammen mit dem Antrag in Gestalt eines Vorlageberichtes einzureichen. Der durch § 1315 BGB und § 31 WG vorgeschriebene Erlaubnisvorbehalt sowie die Regelungen der Heiratsordnung atmeten insgesamt – jenseits der praktischen Erwägungen in Hinblick auf die Unterkunftsfrage – einen durchaus patriarchalisch-ständischen Geist, der vor allem im Zusammenhang mit den übrigen Regelungen des zeitgenössischen Familienrechtes deutlich wird. Zum einen musste das Mindestalter von 27 Jahren dazu führen, dass der weit überwiegende Anteil der Soldaten, vor allem der Mannschaften und Unteroffiziere, unverheiratet war. So hatten von ihnen etwa im Jahr 1930 nur 19,6 % eine Ehe eingehen können.72 Es wäre aber wohl naiv zu glauben, dass dies die Mehrzahl der Soldaten bis zum Erreichen des 27. Lebensjahres von jeglicher romantischer und sexueller Beziehung abhielt. Lediglich das Eingehen der rechtlichen Verbindlichkeiten, die aus der Ehe erwuchsen, konnte insoweit verhindert werden. Dabei muss man sich insbesondere vor Augen halten, dass nach dem damaligen Familienrecht der Mann für ein uneheliches Kind nur eingeschränkt unterhaltspflichtig war (§ 1708 BGB) und ein uneheliches Kind auch nicht gesetzlich erbte (§ 1924 Abs. 1 i.V.m. § 1589 Abs. 2 BGB). So hielten sich 1930 die 14.381 ehelichen mit den 12.358 unehelichen Kindern der Reichswehrangehörigen beinahe die Waage.73 Für uneheliche Kinder wurde Kinderzuschlag nur ausgezahlt, wenn der Soldat für dessen Unterhalt zu sorgen hatte und die Vaterschaft gerichtlich festgestellt oder durch Urkunde anerkannt worden war. Die Reichswehr ließ ihn in diesen Fällen unmittelbar an den Vormund des Kindes auszahlen, so dass die Soldaten auch in entsprechenden Unterhaltsfragen weitgehend unbehelligt blieben.74 Auch galt noch das Verbot der religiösen Vorausheirat (§ 67 Personenstandsgesetz), so dass ein Soldat auch nicht auf diesem Wege seine voreheliche Beziehung zumindest moralisch legitimieren konnte. Vor dem 27. Lebensjahr aber als alternative Lebensweise im offenen Konkubinat zu leben, konnte die Reichswehrangehörigen – vor allem die Offiziere – in Konflikt mit ihrem konservativen Umfeld bringen und vor allem in den frühen Jahren der Reichswehr ein dienstliches Verfahren in Ehrensachen zur Folge haben, an dessen Ende nicht selten die unfreiwillige Entlassung stand.75 Unter Seeckts Nachfolger, General d. Inf. Heye, scheint es immerhin zu einer gewissen Liberalisierung in der Praxis gekommen zu sein, die auch eine nachträgliche Legitimierung unehelicher Kinder ermöglichte. So verzeichnet das Protokoll einer Besprechung mit der Generalität am 1. November 1928: 72 73 74
75
Kroener, Fromm, S. 203 f. Kroener, Fromm, S. 204. § 16 des Reichsbesoldungsgesetzes vom 30.4.1920, RGBl. 1920 S. 805–839; Nr. 174 Abs. 2 und Nr. 187 der Ausführungsbestimmungen zum Besoldungsgesetz (Besoldungsvorschriften) vom 16.6.1920, RGBl. 1920 S. 1263–1326; Erlass des Reichswehrministeriums vom 16.7.1919, AVBl. 1919 S. 645 f. Siehe auch § 14 des Reichsbesoldungsgesetzes vom 16.12.1927, RGBl. 1927 I S. 349–355; Nr. 67 Abs. 7 der Ausführungsbestimmungen zum Besoldungsgesetz (Besoldungsvorschriften) vom 16.12.1927, Reichsbesoldungsblatt 1928 S. 33–49. Siehe auch Kapitel 1.
2. Eheschließungsfreiheit
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»Uneheliche Kinder sind kein Grund, Heiratserlaubnis zu verweigern. Auch nicht, wenn Braut von kommunistischen Eltern kommt, aber getrennt von ihnen lebt und selbst anständige Ansichten hat. Wenn Braut selbst anständige Gesinnung hat und ordentlich ist, Heiratserlaubnis erteilen.«76
Die sexuellen Beziehungen der Soldaten waren somit vor Erreichen des 27. Lebensjahres notwendig unverbindlich; der Soldat konnte sich einer Frau gegenüber also auch in gewisser Hinsicht bequem auf den Erlaubnisvorbehalt berufen; schließlich hatte er es in der Hand, den Antrag überhaupt zu stellen. Es erscheint daher nur schwer vorstellbar, dass sich »ehrbare« Frauen mit Soldaten regelmäßig vor Erreichen des heiratsfähigen Alters einließen. Umgekehrt ging die Heiratsordnung jedoch davon aus, dass der Soldat, insbesondere der Offizier, im heiratsfähigen Alter grundsätzlich in der Lage gewesen ist, eine »achtbare« Frau aus »gutem Hause« zu ehelichen. Das wiederum bedeutete aber – zumindest als stillschweigende Prämisse von Gesetzgeber und Reichswehrführung – dass ein vor Erreichen des 27. Lebensjahres notwendig unverbindliches (und im Verborgenen geführtes) sexuelles Beziehungsleben dem Ruf des Soldaten keinen Abbruch tat – in gewisser Hinsicht also eine Doppelmoral. Die damit einhergehende Gefahr von Geschlechtskrankheiten war auch Thema im Reichstagsplenum und wurde dort vom Reichswehrministerium nicht bestritten.77 Zum anderen aber fand eine umgekehrte Prüfung, ob etwa auch der Soldat aus gutem Hause und achtbar war, offenkundig nicht statt, da das ja ohnehin bereits bei seiner Einstellung vorausgesetzt worden war. Die Regelungen der im Reichswehrministerium erarbeiteten Heiratsordnung machen jedoch auch deutlich, wie sehr die Reichswehr und ihre politische Führung noch von berufsständischen Vorstellungswelten der Vormoderne geprägt waren: Die dienstliche Reglementierung einer so höchstpersönlichen Angelegenheit wie der Auswahl der Braut dokumentiert ein ganzheitliches Selbstverständnis und Selbstbild vom Soldatenberuf, wie es auch schon in den oben erwähnten Erziehungsleitsätzen Seeckts zum Ausdruck kam.78 Wer Soldat war, sollte sich mit dieser Berufswahl in einem Maße identifizieren und darüber definieren, wie es für weite Teile einer industrialisierten Gesellschaft – mit immer stärkerer Entfremdung von Arbeit, Produkt und Person sowie zunehmender Ausdifferenzierung von Lebensbereichen – nicht mehr selbstverständlich war. Gegen die Ablehnung des Antrags auf Erteilung der Heiratserlaubnis stand dem Soldaten der Beschwerdeweg offen (§ 31 WG). Das Verfahren richtete sich jedoch 76 77
78
Protokoll der Besprechung Chef H.L. mit den Generalen, am 1.XI.28 im Offizier-Heim Döberitz in Anschluß an den Kampfschullehrgang, BArch RH 1/11, fol. 165 f. Julius Moses (MSPD) und Wendelin Thomas (KPD) in der Haushaltsdebatte vom 15.3.1922, Verhandlungen des Reichstags, Band 353, S. 6278–6280. Siehe auch Moses’ Äußerungen in der Haushaltsdebatte vom 27.2.1923, Verhandlungen des Reichstags, Band 358, S. 9900; Stellungnahme des Reichswehrministeriums vom 28.2.1923 durch Generaloberstabsarzt Schultzen, ebenda S. 9911. »Jeder Angehörige [der Reichswehr] muß sich bewußt sein, daß er in und außer Dienst Vertreter und Mitträger der Reichsgewalt ist«, Erlass des Chefs der Heeresleitung über die Grundlagen der Erziehung des Heeres vom 1.1.1921, HVBl. 1920 S. 1041 f.; abgedruckt bei Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 380–382; ebenso bei Messerschmidt/Gersdorff, Offiziere, S. 224–226.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
nicht nach der allgemeinen Beschwerdeordnung;79 die Beschwerde war beim nächsten Disziplinarvorgesetzten einzureichen und auf dem Dienstweg dem zur Entscheidung über die Heiratserlaubnis zuständigen Vorgesetzten zuzuleiten.80 Bei der Prüfung der Voraussetzungen, insbesondere der Soll-Vorschrift über den Leumund der zu ehelichenden Frau, musste der entscheidende Vorgesetzte indes auch die Auswirkungen einer ablehnenden Entscheidung auf die individuelle Moral des antragführenden Soldaten fürsorglich berücksichtigen, was gegen eine allzu strenge oder gar willkürliche Handhabung sprach. Ohnehin wird die Heiratsordnung ihre Wirkung vor allem dahingehend entfaltet haben, dass die Soldaten in aller Regel von vornherein nur um die Heiratserlaubnis einkamen, wenn sie eine »achtbare« Frau gefunden und ihre finanziellen Verhältnisse geregelt hatten. So ermahnte Seeckt in einem Erlass vom 17. Februar 1926 die unterstellten Befehlshaber und Kommandeure: »Es ist vorgekommen, daß Offiziere die Genehmigung zur Veröffentlichung ihrer Verlobung oder zur Heirat mit Damen erbeten haben, gegen die die verantwortlichen Vorgesetzten pflichtgemäß Bedenken zu meiner Kenntnis bringen mußten. […] Über Offiziere, die in dieser Beziehung das nötige Verantwortungsgefühl vermissen lassen, ist mir auf dem Dienstwege unter Stellungnahme der Vorgesetzten zu berichten.«81 Wurde der Antrag auf Erteilung der Heiratserlaubnis jedoch positiv beschieden, so erhielt der Soldat den ersehnten »Heiratserlaubnisschein«, den er dem Standesbeamten schließlich zur Eheschließung vorzulegen hatte.82 Einem ganzheitlichen Berufsverständnis folgend unterlagen damit selbst Kernbereiche des Privaten der dienstlichen Beaufsichtigung und Reglementierung. Darin kam die Erwartungshaltung zum Ausdruck, dass der Soldat (und erst recht der Offizier) im ganz traditionellen Sinne einer Berufung folgte und nicht lediglich eine Erwerbstätigkeit, einen »Job« suchte. Während sich die nach der industriellen Revolution zunehmend differenzierte Arbeitswelt nun auch in der fortschreitenden Moderne der 1920er immer mehr vom Privatleben segregierte, konnten der Soldat sowie in besonderem Maße der Offizier auch nach Dienstschluss und am Wochenende ihrer beruflichen Rolle kaum entfliehen. Ein gutes Stück weit hallte hier noch das lutherische Berufsethos nach, das in der äußeren Tätigkeit (vocatio externa) zugleich den Vollzug einer moralischen Verinnerlichung (vocatio interna) sehen wollte, die nicht voneinander getrennt werden sollten.83 Beruf, Stand, soziales Milieu und Prestige hatten in größtmöglichem Einklang zu stehen mit dem außerdienstlichen Verhalten, insbesondere der Wahl von Ehegattin und politischer Auffassung. Der Ausspruch, der Soldat (Offizier, Beamter usw.) sei »immer im Dienst«, ist ein bis heute verbreiteter, wenn auch banaler Reflex dieses Selbstverständnisses.84 79 80 81 82 83 84
Dies war lediglich in den Anfangsjahren so, zumindest 1921 noch nach Semler, WG-Kommentar, S. 94. Abschnitt A Nr. 4 Buchstabe c der Beschwerdeordnung für die Angehörigen der Wehrmacht (B.O.) vom 15.11.1921 (Neudruck 1929), H. Dv. 3k I (= M. Dv. 15); siehe auch Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 540 f. Reichswehrministerium – Der Chef der Heeresleitung, Nr. 1279/2.26 P A (2) vom 17.2.1926, BArch RH 122/22, fol. 817. Rittau, WG-Kommentar, S. 110. Sehr instruktiv hierzu Holl, Geschichte. Die junge Bundeswehr kannte zwar keine Heiratsordnung mehr, allerdings sollten die Soldaten anfänglich vor Eingehung der Ehe Rücksprache mit ihren Disziplinarvorgesetzten halten, da bei schlecht beleumun-
3. Gewerbebetriebe und Nebenbeschäftigungen
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3. Gewerbebetriebe und Nebenbeschäftigungen Nach § 31 Buchstabe a WG bedurften die Angehörigen der Wehrmacht der Genehmigung ihrer Vorgesetzten »zum Betrieb eines Gewerbes für sich und innerhalb der Dienstgebäude auch für die Hausstandsmitglieder sowie zur Übernahme einer mit einer Vergütung verbundenen Nebenbeschäftigung«. Die Vorschrift war in ihren wesentlichen Zügen inhaltsgleich mit der Vorgängervorschrift des § 43 RMG 1874, die jedoch nur die Gewerbebetriebe erfasst hatte.85 Sie war zusammen mit dem Inhalt eines die Details regelnden Erlasses in regelmäßigen Abständen als Dienstbefehl bekanntzugeben, so dass ein entsprechender Ungehorsam disziplinar oder sogar gerichtlich sanktioniert werden konnte.86 Der Hauptzweck der Vorschrift bestand darin, dass der Wehrmachtangehörige »seine ganze Person und Kräfte in den Staatsdienst stellen, also regelmäßig jeder anderen Beschäftigung entsagen, auch alles vermeiden soll, was mit dem Ansehen seiner dienstlichen Stellung unvereinbar ist oder mit seinen Dienstpflichten in Widerspruch treten kann«.87 Zu unterscheiden waren hier zunächst einmal Gewerbebetrieb und Nebenbeschäftigung. Der Begriff des Gewerbebetriebes deckte sich mit dem der Gewerbeordnung.88 Der Betrieb eines Gewerbes lag vor, »wenn eine erlaubte Berufs- oder Erwerbsart mit der Absicht des Erwerbes und fortgesetzt (berufsmäßig) ausgeübt« wurde.89 Die Gewerbefreiheit war im Kaiserreich einfachgesetzlich vor allem durch die Gewerbeordnung geschützt gewesen, die jedoch in ihrem § 12 Abs. 2 bereits von Beschränkungen für Soldaten ausging.90 Nach Art. 151 Abs. 3 WRV wurde die »Freiheit des Handels und Gewerbes […] nach Maßgabe der Reichsgesetze gewährleistet«. Eine inhaltliche Änderung des materiellen Schutzgehaltes fand dadurch jedoch nicht statt, gerade weil die maßgeblichen Reichsgesetze (Handelsgesetzbuch91 und Gewerbeordnung), auf die die Vorschrift rekurrierte, in der Weimarer Republik im Kern unverändert fortgalten.92 Wohnte der Wehrmachtangehörige in einem Dienstgebäude, so bedurfte auch der Gewerbebetrieb eines Hausstandsangehörigen innerhalb dieses Gebäudes der Genehmigung. Der Begriff der Hausstandsangehörigen beschränkte sich nicht auf
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deter Gattin disziplinare Konsequenzen gezogen werden könnten, siehe den Erlass »Führung und Ausbildung – Heirat von Soldaten« vom 10.1.1958, Fü B I 4 – Az 35-05-01, VMBl. 1958 S. 95. § 43 RMG 1874: »Zum Betriebe eines Gewerbes bedürfen die Militärpersonen des Friedensstandes für sich und für die in Dienstgebäuden bei ihnen wohnenden Mitglieder ihres Hausstandes der Erlaubniß ihrer Vorgesetzten, insofern nicht das Gewerbe mit der Bewirthschaftung eines ihnen gehörigen ländlichen Grundstückes verbunden ist.« Erlass des Reichswehrministeriums vom 19.7.1921 (HVBl. 1921 S. 312), siehe auch Erlasse vom 7.11.1924 (HVBl. 1924 S. 113) und 26.4.1926 (HVBl. 1926 S. 49). Semler, WG-Kommentar, S. 92. Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21.6.1869, Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1869, S. 245–282. Rittau, WG-Kommentar, S. 106. »Diejenigen Beschränkungen, welche in Betreff des Gewerbebetriebes für Personen des Soldaten- und Beamtenstandes, sowie deren Angehörigen bestehen, werden durch das gegenwärtige Gesetz nicht berührt.« Handelsgesetzbuch vom 10.5.1897, RGBl. 1897 S. 219–436. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 151, Anm. 4.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
Familienmitglieder, sondern umfasste auch weitere im Hausstand lebende Personen wie Hausangestellte etc.93 Diese Regelung konnte wiederum nicht den Zweck verfolgen, die Kräfte des Wehrmachtangehörigen weitestgehend auf den Dienst zu konzentrieren. Ihr Sinn muss vielmehr darin bestanden haben, einen Eingriff in die Gewerbefreiheit des nicht den Prinzipien von Befehl und Gehorsam unterliegenden Hauspersonals zu ermöglichen, um unliebsame Gewerbebetriebe innerhalb des Kasernenareals oder sonstiger dienstlicher Wohngebäude auszuschließen. Fortgefallen war jedoch die bisher nach § 43 RMG 1874 geltende Ausnahme für die Bewirtschaftung eigener landwirtschaftlicher Grundstücke, die vor allem den großgrundbesitzenden Junkern zugutegekommen war. Zwar wurden die Land- und Forstwirtschaft sowie Jagd, Fischerei und Viehzucht fortan nicht mehr zu den genehmigungspflichtigen Gewerbebetrieben der Wehrmachtangehörigen gezählt – sie rechnete man zu den Nebenbeschäftigungen.94 Im Gegensatz zum früheren § 43 RMG 1874 machte § 31 Buchstabe a WG in Entsprechung der beamtenrechtlichen Vorschrift des § 16 Reichsbeamtengesetz95 jedoch auch eine Nebenbeschäftigung für Soldaten genehmigungspflichtig. Dieser Wandel war der erzwungenen Schaffung des Berufsheeres geschuldet. Die Frage von Nebentätigkeiten hatte bei Offizieren bis dahin allenfalls standesrechtliche Bedeutung haben können und gegebenenfalls von einem Ehrengericht beurteilt werden müssen. Die zwangsrekrutierten Soldaten der früheren Wehrpflichtarmeen wiederum hatten lediglich einen geringfügigen Wehrsold erhalten. Mit der Professionalisierung der Streitkräfte und der damit einhergehenden Verbesserung der Besoldungslage für sämtliche Dienstgrade bestand kein Grund mehr, die Soldaten gegenüber den Beamten zu privilegieren und ihnen die Ausübung von Nebenbeschäftigungen nicht von vornherein unter Erlaubnisvorbehalt zu stellen. Dies galt einmal mehr, als sich die Besoldung der Berufssoldaten an den Bezügen der Beamten orientierte.96 Entsprechend inhaltsgleich mit dem Beamtenrecht galt als Nebenbeschäftigung »jede neben dem Hauptamt übernommene Tätigkeit im öffentlichen sowohl wie im Privatdienst. Ob die Vergütung in Geld oder anderen Leistungen besteht, ist gleichgültig«.97 Nach dem Erlass des Reichswehrministers vom 19. Juli 1921 sollte die Genehmigung einer Nebenbeschäftigung nur im Ausnahmefall »in Rücksicht auf die zivilen Erwerbskreise« erteilt werden – also neben der Konzentration der Arbeitskraft ein zusätzlicher Aspekt, der verständlich wird, wenn man die Vielzahl von gut ausgebildeten Handwerkern und nicht zuletzt Musikern bedenkt, die als Mannschaften und Unteroffiziere in der Reichswehr ihren Dienst versahen.98 Das »Recht 93 94 95
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Semler, WG-Kommentar, S. 92. Rittau, WG-Kommentar, S. 106. »Kein Reichsbeamter darf ohne vorgängige Genehmigung der obersten Reichsbehörde ein Nebenamt oder eine Nebenbeschäftigung, mit welcher eine fortlaufende Remuneration verbunden ist, übernehmen oder ein Gewerbe betreiben.« – § 16 des Gesetzes, betreffend die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten, vom 31.3.1873, RGBl. 1873 S. 61–90. Hierzu bereits Kapitel II.3. Rittau, WG-Kommentar, S. 107. Siehe auch die Bestimmungen für die außerdienstliche öffentliche Musiktätigkeit der Militärmusikmeister, HVBl. 1921 S. 300–302; ebenso die kleine Anfrage des Abgeordneten Fritz Kunert (USPD) bezüglich
4. Testierfreiheit und Formerleichterungen
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der Sanitäts- und Veterinäroffiziere auf Ausübung von Zivilpraxis« wurde dadurch jedoch nicht berührt; ebenso konnte den Handwerksmeistern der Truppe das Arbeiten für andere Reichswehrangehörige ohne weiteres gestattet werden.99 Ausdrücklich wurden jedoch die Vermittlung von Darlehen und Versicherungen sowie der Absatz von Waren im Auftrage von Unternehmen etc. in der Truppe untersagt; ebenso verboten war das Sammeln (etwa durch Abzüge in der Besoldung) und Abführen von Beiträgen ohne Erlaubnis des Bataillons- usw. Kommandeurs oder Schiffskommandanten.100 Gegen die Verweigerung der beantragten Genehmigung stand dem Soldaten gem. § 33 S. 3 WG die – zunächst noch formelle101 – Beschwerde zu, wohingegen sie nach dem Neudruck der Beschwerdeordnung von 1929 nicht als solche zu behandeln, »sondern beim nächsten Disziplinarvorgesetzten anzubringen und auf dem Dienstwege mit Stellungnahme der Zwischenvorgesetzten dem zur Entscheidung zuständigen Vorgesetzten« zuzuleiten war.102 Die Erlaubnisvorbehalte für Gewerbebetriebe und Nebenbeschäftigungen zeigen, dass sich das Militär unter den Bedingungen des verhassten Versailler Vertrages allen atavistischen Rechtsreflexen zum Trotz auch weiterentwickelte. Die zunehmende Professionalisierung der Streitkräfte spielte dabei eine maßgebliche Rolle und führte zu einer Annäherung an das Beamtendienstverhältnis, das hier als naheliegendes Vorbild diente. Die Veränderungen überdauerten nicht selten die Wiedereinführungen der Wehrpflicht in den 1930er und 1950er Jahren: So benötigen auch die Soldaten der Bundeswehr seit jeher für bestimmte Nebentätigkeiten eine Genehmigung.103
4. Testierfreiheit und Formerleichterungen Nach Art. 154 Abs. 1 WRV wurde das »Erbrecht […] nach Maßgabe des bürgerlichen Rechtes gewährleistet«; auch hier handelte es sich in Anbetracht des Rekurses auf das einfache Gesetz um eine Institutsgarantie.104 Die Testierfreiheit war in den §§ 1937 ff. und 2064 ff. BGB verankert. Dabei sah § 2231 BGB die Errichtung des Tes-
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der Konkurrenz von Berufs- und Militärmusikern und die entsprechende Beantwortung durch den Vertreter des Reichswehrministeriums, Verhandlungen des Reichstags, Band 346, S. 1761 f. Siehe ebenso den erfolglosen Antrag des Abgeordneten Hermann Müller (MSPD) zum Haushalt des Reichswehrministeriums für das Rechnungsjahr 1920, Reichstagsdrucksache 1/1368; Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2323, sowie die Äußerungen des Abgeordneten Bernhard Kuhnt (USPD), Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3220. HVBl. 1921 S. 312.; Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 540. Rittau, WG-Kommentar, S. 107. So zumindest noch 1921 nach Semler, WG-Kommentar, S. 94. Abschnitt A Nr. 4 Buchstabe c der Beschwerdeordnung für die Angehörigen der Wehrmacht (B.O.) vom 15.11.1921 (Neudruck 1929), H. Dv. 3k I (= M. Dv. 15). Siehe § 20 des Soldatengesetzes vom 19.3.1956, BGBl. 1956 I S. 114–127. Allerdings ist die Genehmigung in der Regel zu erteilen, wenn dienstliche Interessen nicht entgegenstehen. Einige Nebentätigkeiten, wie etwa schriftstellerische, wissenschaftliche, künstlerische oder Vortragstätigkeiten, sind genehmigungsfrei, darüber hinaus – ähnlich wie nach dem RMG 1874 – »die Verwaltung eigenen oder der Nutznießung des Soldaten unterliegenden Vermögens«. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 154; siehe ebenda auch Vorbem. zum Zweiten Hauptteil, Nr. 8.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
tamentes in ordentlicher Form »1. vor einem Richter oder vor einem Notar, 2. durch eine von dem Erblasser unter Angabe des Ortes und Tages eigenhändig geschriebene und unterschriebene Erklärung« vor. Hinsichtlich der eigenhändigen Errichtung galten also im Vergleich zum heutigen Recht strengere Formvorschriften – so enthält der entsprechende § 2247 des heutigen BGB die Aufnahme von Zeit und Ort in die eigenhändige Erklärung nur noch als Soll-Vorschrift. Die §§ 2249–2252 BGB regelten im Weiteren die Errichtung von außerordentlichen Nottestamenten. Dass damit jedoch nicht die »Militärtestamente« geregelt werden sollten, ging schon aus einem Umkehrschluss zu § 2251 BGB hervor, der hinsichtlich der Errichtung eines Testamentes auf einem Schiff außerhalb deutscher Häfen die Fahrzeuge der Kaiserlichen Marine ausdrücklich ausnahm. Als solche galten auch nicht die »Kriegstestamente«, bei denen es sich um ordentliche öffentliche Testamente im Sinne des BGB handelte, die jedoch von Militärpersonen im Felde statt vor den Amtsgerichten auch vor (Ober-)Kriegsgerichtsräten erklärt werden konnten.105 Die Errichtung von außerordentlichen »Militärtestamenten« durch formerleichterte letztwillige Verfügungen war bei Inkrafttreten des BGB vielmehr durch § 44 RMG 1874 i.Vm. Art. 44 EGBGB geregelt, an denen sich auch die Nachfolgevorschrift des Wehrgesetzes maßgeblich orientierte.106 So konnten nach § 38 Nr. 1 WG »letztwillige Verfügungen in erleichterter Form (Militärtestamente)« allgemein nur in Kriegszeiten und »in Friedenszeiten in solchen Bezirken, in denen Maßnahmen gemäß Artikel 48 der Reichsverfassung unter Heranziehung der Wehrmacht getroffen« waren, errichtet werden. Zum Personenkreis, die unter diesen Umständen Militärtestamente errichten konnten, zählten zunächst einmal die Angehörigen der Reichswehr sowie die nach dem MStGB den »Militärgesetzen unterworfenen Personen« (§ 38 Nr. 2 Buchstabe a WG). Dazu gehörten sowohl »alle Personen, welche sich in irgend einem Dienst- oder Vertragsverhältnisse bei dem kriegführenden Heere befinden, oder sonst sich bei demselben aufhalten oder ihm folgen« (Heeresgefolge, § 155 MStGB) als auch »Ausländische Offiziere, welche zu dem kriegführenden Heere zugelassen sind« (§ 157 MStGB). Ebenso genossen die Kriegsgefangenen und Geiseln in der Hand des Feindes (§ 38 Nr. 2 Buchstabe b WG) sowie sämtliche »Personen, die zur Besatzung eines in Dienst gestellten Schiffes oder sonstigen Fahrzeugs der Reichsmarine gehören, sowie […] andere an Bord genommene und daselbst befindliche Personen, solange sich das Fahrzeug außerhalb eines inländischen Hafens befindet« (§ 38 Nr. 2 Buchstabe c WG) die in § 31 Nr. 3 WG näher beschriebenen Formerleichterungen. Nach diesen Formvorschriften waren Militärtestamente zunächst schon gültig errichtet, »wenn sie vom Erblasser eigenhändig geschrieben und unterschrieben« waren (§ 38 Nr. 3 Buchstabe a WG) – eine heutige Selbstverständlichkeit, in Anbetracht der bereits erwähnten (und im Vergleich zum heutigen Recht strengeren) Vorschrift des damaligen § 2231 Nr. 2 BGB aber eine Formerleichterung. Des Weiteren waren letztwillige Verfügungen auch dann gültig, »wenn sie vom Erblasser und zwei Zeugen oder einem 105
106
§ 1 Nr. 1 und § 2 des Gesetzes vom 28.05.1901, RGBl. 1901 S. 185–188; zur Zuständigkeit der Amtsgerichte siehe § 167 des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit in der vom 01.01.1900 an geltenden Fassung, RGBl. 1898 S. 771–809. Semler, WG-Kommentar, S. 118.
5. Wahlrecht
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oberen Beamten der Wehrmacht107 oder einem Offizier eigenhändig unterschrieben« waren (§ 38 Nr. 3 Buchstabe b WG) oder aber, »wenn über die mündliche Erklärung des Erblassers von einem oberen Beamten der Wehrmacht oder einem Offizier unter Zuziehung zweier Zeugen oder noch eines oberen Beamten der Wehrmacht oder Offiziers eine schriftliche Verhandlung aufgenommen, dem Erblasser vorgelesen, vom ihm genehmigt und von den oberen Beamten der Wehrmacht oder dem Offizier und den Zeugen – oder dem weiteren oberen Beamten der Wehrmacht oder Offizier – unterschrieben« war (§ 38 Nr. 3 Buchstabe c WG). Da diese vom bürgerlichen Recht abweichenden Formerleichterungen nur unter außergewöhnlichen Lagen wirksam waren, handelte es sich nicht um eine willkürliche Bevorzugung der Soldaten. Vielmehr glichen sie die besonderen Belastungen aus, denen die Truppe in Krieg und Ausnahmezustand regelmäßig ausgesetzt war. So sollte insbesondere die Möglichkeit zur mündlichen Testierung wohl weniger den Analphabeten zugutekommen, von denen es in der professionalisierten Reichswehr ohnehin nur vergleichbar wenige gegeben haben dürfte. Hierbei war vor allem an Situationen gedacht, in denen Schwerverwundete rein physisch oder zeitlich nicht mehr in der Lage waren, ein nach bürgerlichen Maßstäben formwirksames Testament zu errichten. Die Geltungsdauer derartiger Militärtestamente war deshalb auch auf ein Jahr ab dem Ablauf des Tages beschränkt, an dem für den Erblasser der Kriegsfall oder die Maßnahmen nach Art. 48 WRV aufhörten, wobei nach § 38 Nr. 2 Buchstabe g WG sowohl der Wiedereintritt eines der beiden Fälle als auch die »Unfähigkeit des Erblassers zur Errichtung einer anderen letztwilligen Verfügung« (Bewusstlosigkeit, Siechtum etc.) die Verjährung hemmten. Nach Ablauf dieser Zeit aber konnte und sollte der Reichswehrsoldat wie jeder andere Bürger nach den Vorschriften des BGB testieren. Dass es sich bei dieser speziellen Form des Nottestaments um kein Reichswehrspezifikum handelte, zeigt zum einen der Blick auf ältere Vorbilder, die weit über die unmittelbaren Vorgängervorschriften des Reichsmilitärgesetzes von 1874 zurückgehen: So kannte schon das römische ius militare ein testamentum militis.108 Zum anderen schließlich ist der Gedanke von Nottestamenten auch dem allgemeinen Zivilrecht nicht fremd (siehe nur §§ 2249–2252 BGB).109
5. Wahlrecht Eine besonders empfindliche Einschränkung seiner staatsbürgerlichen Stellung musste der Soldat beim Wahlrecht hinnehmen. Zunächst ein Rückblick: Die Frankfurter Nationalversammlung hatte den Soldaten bei den Wahlen zur zweiten Kammer, dem »Volkshaus«, sowohl das aktive wie das passive Wahlrecht zugestehen 107 108 109
Der Begriff wurde durch Ausführungsverordnung des Reichspräsidenten vom 11.01.1923 näher bestimmt, HVBl. 1923 S. 46 sowie MVBl. 1923 S. 37. Hierzu neuerdings umfassend Meyer-Hermann, Testamentum. Nach heutiger Rechtslage gibt es kein spezielles Soldatentestament mehr; es greifen in diesen Konstellationen die allgemeinen Vorschriften über Nottestamente.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
wollen.110 Auch in Preußen hatte den Soldaten das Wahlrecht unter der reaktionärrevidierten Verfassung von 1850 grundsätzlich zugestanden. Erst das Wahlgesetz von 1869 hatte den »Personen des Soldatenstandes« bei den Wahlen zum Reichstag des Norddeutschen Bundes, später dann des Bismarck’schen Kaiserreichs lediglich das passive Wahlrecht zugestanden.111 Als berühmtes Beispiel kann Generalfeldmarschall Moltke d.Ä. gelten, der seit 1867 zugleich Abgeordneter des Reichstages und Chef des Großen Generalstabes gewesen war. Das Reichsmilitärgesetz von 1874 hatte dann auch das aktive Wahlrecht bei Landes- und Kommunalwahlen sowie sonstigen Abstimmungen beseitigt. Diese geschichtlichen Hintergründe waren den frühen Weimarer Parlamentariern durchaus bewusst: So wies Oskar Cohn (USPD) im Zusammenhang mit der Frage nach der Einschränkbarkeit von Grundrechten der Soldaten darauf hin, die Beschneidung des Wahlrechts insbesondere zum preußischen Abgeordnetenhaus sei eine Reaktion (im wahrsten Sinne des Wortes) auf den preußischen Verfassungskonflikt der 1860er Jahre gewesen, bei dem die Soldaten wesentlich zur Mehrheit der gegen den König und Bismarck opponierenden Fortschrittspartei beigetragen hätten.112 Dagegen waren die »Personen des Soldatenstandes« nach der Wahlverordnung vom 30. November 1918, die der damals noch von MSPD und USPD gemeinsam geführte Rat der Volksbeauftragten erlassen hatte, ausdrücklich berechtigt, an der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 aktiv teilzunehmen; Gleiches galt in diesem Zusammenhang für politische Versammlungen und Vereine.113 Durch die gleichzeitige Senkung des Wahlalters auf 20 Jahre erhielt damit die Mehrzahl der Soldaten erstmals das volle Wahlrecht. In Großbritannien hatte man den »Servicemen« sogar schon vor Kriegsende mit dem »Representation of the People Act« vom 6. Februar 1918 das aktive Wahlrecht zugesprochen – eine Maßnahme, die in Anbetracht einerseits der Leistungen der britischen Soldaten im Kampf um die Behauptung des Vereinigten Königreichs, anderseits der roten Revolution in Russland, mit parteienübergreifender Einhelligkeit im Parlament beschlossen worden war. In ihrem grundlegenden Erlass über die »vorläufige Regelung der Kommandogewalt und die Stellung der Soldatenräte im Friedensheer«, der am Tag der Nationalversammlungswahl in Kraft trat, hatte der als provisorische Reichsregierung fungierende Rat der Vollzugsbeauftragten unter Ebert (nach dem Bruch mit der USPD nur noch mit MSPD-Politikern besetzt) den deutschen Soldaten noch die Erhaltung ihres vollen Wahlrechtes versprochen.114 Das aktive Wahlrecht wurde ihnen aber bereits 110 111 112 113 114
§§ 1, 2 und 5 des Reichsgesetzes über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause vom 12.4.1849, RGBl. 1849 S. 79–83. § 49 Abs. 1 S. 1 RMG 1874 sowie §§ 2 und 4 des Wahlgesetzes für den Reichstag des Norddeutschen Bundes vom 31.5.1869, BGBl. 1869 S. 145–148. Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 512 f. § 3 der Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung vom 30.11.1918, RGBl. 1918 S. 1345–1352. Nr. 12 des Erlasses der Reichsregierung über die vorläufige Regelung der Kommandogewalt und die Stellung der Soldatenräte im Friedensheer vom 19.1.1919, AVBl. 1919 S. 54 f.; abgedruckt bei Kolb, Zentralrat, S. 442–445; ebenso bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 63–65; für die Marine sinngemäß in Kraft gesetzt, MVBl. 1919 S. 20.
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für die folgenden Reichstagswahlen und Wahlen des Reichspräsidenten durch § 2 Abs. 2 des Reichswahlgesetzes vom 27. April 1920 wieder genommen, wonach dessen Ausübung »für die Soldaten während der Dauer der Zugehörigkeit zur Wehrmacht« ruhte.115 Wahlrechtlich befanden sich die Soldaten damit in erstaunlicher Gesellschaft: Ausgeschlossen vom Wahlrecht war nämlich nach § 2 Abs. 1, »wer entmündigt ist oder unter vorläufiger Vormundschaft oder wegen geistigen Gebrechens unter Pflegschaft steht« sowie »wer rechtskräftig durch Richterspruch die bürgerlichen Ehrenrechte verloren hat«. Darüber hinaus waren nach § 2 Abs. 3 Personen in der Ausübung ihres Wahlrechts behindert, »die wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht sind, ferner Straf- und Untersuchungsgefangene sowie Personen, die infolge gerichtlicher oder polizeilicher Anordnung in Verwahrung gehalten werden. Ausgenommen sind Personen, die sich aus politischen Gründen in Schutzhaft befinden.« Die Gesetzesbegründung verwies hinsichtlich der Ausnahme der Soldaten vom aktiven Wahlrecht auf die entsprechende Regelung im Erstentwurf des Wehrgesetzes vom 28. Februar 1920, das allerdings erst ein knappes Jahr später endgültig verabschiedet wurde.116 Die Beschneidung des Wahlrechts für die Soldaten ging schon auf die Ära Noske-Reinhardt zurück und war also nicht etwa erst eine Lehre aus dem Kapp-Lüttwitz-Putsch. Vor allem muss der Ausschluss der Soldaten vom aktiven Wahlrecht als Teil einer Politik der Entpolitisierung der Reichswehr gesehen werden, die auch in den Folgejahren unter Geßler-Seeckt fortgeführt wurde. Auch hier wandelte die Reichswehrführung konzeptionell ganz auf den Pfaden des Bismarckreiches: Damals schon hatte das Militär sich als extrakonstitutionelle Gewalt aus dem parlamentarischen Politikbetrieb möglichst heraushalten sollen. In der bewegten Zeit des Umbruchs schien dieser Ansatz der Mehrheit der Nationalversammlung aktueller denn je, um die Zuverlässigkeit der vorläufigen Reichswehr sicherzustellen. Schon die von Seeckt geleitete Vorkommission für die Organisation des Friedensheeres hatte sich am 8. August 1919 gegen jegliche politische Betätigung und insbesondere das Wahlrecht der Soldaten ausgesprochen. Nur »wenn das nicht zu erreichen ist«, wollte die Kommission die politische Betätigung wenigstens auf das aktive Wahlrecht beschränkt sehen117 weil die Vorstellung von wahlkämpfenden Soldatenkandidaten für sie eine noch weitaus größere Disziplingefahr darstellte. Die Abgeordneten der Nationalversammlungen diskutierten die Frage des Soldatenwahlrechts bei der Beratung des Reichswahlgesetzes durchaus kontrovers; die »Weimarer Koalition« selbst war in der Frage gespalten. Die vorgetragenen Argumente waren dabei mehr oder weniger identisch schon 115
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Reichswahlgesetz vom 27.4.1920, RGBl. 1920 S. 627–635; siehe auch HVBl. 1920 S. 475. Nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Wahl des Reichspräsidenten vom 4.5.1920 richtete sich das Wahlrecht bei der Reichspräsidentenwahl nach dem Wahlrecht bei den Reichstagswahlen, RGBl. 1920 S. 849–850. Entwurf eines Reichswahlgesetzes nebst Begründung, Nationalversammlungsdrucksache 2490, S. 2753; der erste in das Gesetzgebungsverfahren eingebrachte, jedoch unerledigt gebliebene Entwurf eines »Reichswehrgesetzes« vom 28.2.1920 findet sich bei den Drucksachen zu den Verhandlungen des Reichsrats, Jahrgang 1920, Nr. 53. Schreiben der Vorkommission für die Organisation des Friedensheeres an die Armee-Abteilung des preußischen Kriegsministeriums über die künftige Rechtsstellung des Soldaten vom 8.8.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 189 f.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
bei der Debatte des Reichswahlgesetzes von 1869 aufgetaucht.118 Bei der Plenarberatung des Reichswahlgesetzes am 22.4.1920 äußerte der neue Reichswehrminister Geßler: »Die Behandlung der Sache leidet darunter, daß wir uns bei der Abstimmung über ein Wahlgesetz über die Frage zu unterhalten haben, wie es mit der Politik künftig im Heere zu halten sei. Ich beklage es, daß das Wehrgesetz [...] wegen der Abkürzung der Session Ihnen nicht mehr unterstellt werden konnte. Darin war beabsichtigt, die ganze Frage grundsätzlich im Sinne einer Entpolitisierung des Heeres zur Entscheidung zu bringen.«119
Unter Politik wurde dabei vor allem Parteipolitik, also der politische Pluralismus verstanden. Ihn und den mit ihm einhergehenden politischen Meinungskampf identifizierten die Mitte-Rechts-Parteien als Gefahr für die Disziplin und – damit einhergehend – die Kontrollierbarkeit der Truppe durch die Reichsregierung. Besonders nach dem Kapp-Lüttwitz-Unternehmen fürchteten sie eine »Prätorianergarde«, von der die Regierung in Abhängigkeit geraten könnte.120 »Den Soldaten das Stimmrecht zu geben, heißt, den Offizieren das Stimmrecht zu geben«, so Conrad Haußmann (DDP), der damit auf die Gefahr hinweisen wollte, dass Vorgesetzte die Wahlentscheidung ihrer Untergebenen durch die Befehlsgewalt manipulieren könnten.121 Unterstützung fand Geßlers Haltung auch bei den Offizieren der jungen Reichswehr, denen jedoch mehr die Festigung des strengen Gehorsams als das Primat der Zivilpolitik am Herzen lag. Dagegen wollten vor allem die USPD und die MSPD durch die Belassung politischer Freiheiten und damit durch Partizipation an der errungenen Republik – auch um den Preis einer möglichen Disziplingefährdung – einen staatsbürgerlich aufgeklärten Reichswehrsoldaten erreichen, der allerdings der Republik nicht blind, sondern aus innerer Einsicht und Überzeugung gehorchte. Dabei konnte es der politischen Linken keineswegs darum gehen, bei den Soldaten kurzfristig Stimmen zu fangen, da »wahrscheinlich ein überwiegender Teil von ihnen für die extremste deutsch-nationale Richtung stimmen würde«122 und sie erst recht nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch »keine Veranlassung […hatte, sich] mit besonderer Wärme und besonderer Liebe für die Reichswehr ins Zeug zu legen«.123 Für ein aktives Wahlrecht der Soldaten fand sich allerdings keine parlamentarische Mehrheit. Der schließlich Gesetz gewordene § 36 Abs. 3 WG orientierte sich inhaltlich eindeutig an der Vorgängervorschrift des § 49 Abs. 1 S. 1 RMG 1874. Über die Bestimmungen des Reichswahlgesetzes hinaus nahm 118 119 120
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Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, Session 1869, Band 1, S. 157–166. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5349. Siehe Arthur von Posadowsky-Wehner (DNVP), der von »Prätorianertum« sprach, Verhandlungen der Nationalversammlung, Band 333, S. 5348. Schon in der Debatte von 1869 war vom »Prätorianerheer« die Rede gewesen, Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, Session 1869, Band 1, S. 159. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5347. Simon Katzenstein (MSPD), Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5353. Entsprechend schon Eduard Lasker (Nationalliberale Partei) bei der Plenardebatte zum Reichswahlgesetz von 1869, Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, Session 1869, Band 1, S. 159. Emil Eichhorn (USPD), Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5341.
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er den Soldaten124 der Reichswehr auch das aktive Wahlrecht bei Landes- und Gemeindewahlen sowie zur Teilnahme an Abstimmungen auf Reichs-, Landes- und Gemeindeebene. Das passive Wahlrecht blieb hingegen in jeder Hinsicht unangetastet; für die Reichs- und Landeswahlen galt es als ohnehin durch Art. 39 WRV garantiert, der für einen sich zur Wahl stellenden Soldaten die entsprechende Freistellung vom Dienst garantierte.125 Anscheinend erkannte man hier für Eingriffe in die Grundrechtsposition von Soldaten aufgrund von Art. 133 Abs. 2 S. 2 WRV ausnahmsweise so etwas wie eine verfassungsimmanente Schranke an. Ein früher Entwurf hatte sogar den Soldaten, »die zur Vorbereitung ihrer Wahl für den Reichstag oder einen Landtag beurlaubt sind«, gestatten wollen »für diese Zeit politischen Vereinen« anzugehören und »politische Versammlungen [zu] besuchen«.126 Zur Begründung der Wahlrechtseinschränkung gab der ursprüngliche – noch unter Noske ausgearbeitete – Entwurf an: »Sehr weitgehend, wenn auch im wesentlichen mit dem bisherigen Rechte […] übereinstimmend, könnte dagegen infolge der veränderten innenpolitischen Anschauungen auf den ersten Blick die Bestimmung des Abs. 3 erscheinen […]. Wenn man die Ausübung dieser Rechte den Soldaten beläßt, so wird man auch agitatorische Einflüsse auf sie und politische Bewegungen in ihren eigenen Kreisen mit Erfolg nicht hindern können. Sie werden wohl vor dem Kasernentore haltmachen, aber durch die Soldaten, sowohl Offiziere wie Unteroffiziere und Mannschaften, in den dienstlichen Bereich, auf den Exerzierplatz und in die Kasernenstuben hinübergetragen werden. Solange das Wahlrecht nicht ruht, kann der Soldat nicht gehindert werden, sich nicht nur eine politische Anschauung zu bilden, sondern sich auch einer Partei anzuschließen. Dazu aber muß er Versammlungen besuchen und sich mit anderen über Parteipolitik aussprechen können. Und damit ist dem Geiste der Zersetzung in der Wehrmacht Tür und Tor geöffnet. Die Waffe wird schartig und unbrauchbar. Nur durch volle Durchführung des Grundsatzes, daß die Wehrmacht über den Parteien steht und daher am politischen Kampfe nicht teilnimmt, kann das erreicht werden, was zum Wohle des Ganzen unbedingt erforderlich ist, dem Reiche eine in allen Lagen ergebene und zuverlässige Macht zur Durchführung der Anordnungen der Regierung zu sichern.«127
Anders als die Gesetzesbegründung glauben machen wollte, trat aber im Vergleich zum Rechtszustand des Kaiserreichs im praktischen Ergebnis in doppelter Hinsicht eine verschärfte wahlrechtliche Ungleichbehandlung der Soldaten ein: Zum einen hatte das Wahlalter für die Reichstagswahlen im Kaiserreich noch 25 Jahre betragen, so dass die weit überwiegende Mehrzahl der Soldaten als junge Wehrpflichtige schon aus diesem Grund nicht wahlberechtigt gewesen war.128 Nur ein geringer Anteil der 124 125
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Die Militärbeamten wurden hiervon wie bereits beim Reichswahlgesetz von 1920 nicht erfasst. Siehe auch die Richtlinien des Reichswehrministeriums zur Befreiung von Soldaten, Beamten, Angestellten und Arbeitern vom Dienst behufs Übernahme öffentlicher Ehrenämter, HVBl. 1921 S. 220. § 4 des Reichswahlgesetzes vom 27.4.1920 (RGBl. 1920 S. 627–635) verlangte jedoch ein passives Wahlalter von 25 Jahren und eine Reichsangehörigkeit von mindestens einem Jahr; siehe auch Semler, WG-Kommentar, S. 108 f.; ebenso die Ausführungen des Reichswehrministers Geßler bei der ersten Beratung des Wehrgesetzes, Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2340. § 33 Abs. 4 des Entwurfs eines Reichswehrgesetzes, Reichswehrminister, Nr. 425.12.19.T 5, vom 19.12.1919, BArch R 43-I/609, fol. 2–13. Entwurf des Reichswehrgesetzes nebst Begründung vom 28.2.1920, Drucksachen zu den Verhandlungen des Reichsrats, Jahrgang 1920, Nr. 53, S. 18 f. § 1 des Wahlgesetzes für den Reichstag des Norddeutschen Bundes vom 31.5.1869, BGBl. 1869, S. 145–148. Darauf wies schon Moltke d. Ä. hin, Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, Session 1869, Band 1, S. 161.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
Streitkräfteangehörigen war damals also von dem besonderen Wahlausschlussgrund betroffen gewesen. Von den Änderungen bei den Wahlen zur Nationalversammlung wurde beim neuen Reichswahlgesetz jedoch das auf 20 Jahre gesenkte Wahlalter für die Reichstagswahlen beibehalten, so dass die Soldaten in der entsprechenden Altersgruppe von nun an grundsätzlich wahlberechtigt gewesen wären.129 Zum anderen blieben sämtliche Reichswehrsoldaten wegen der Mindestverpflichtungsdauer von zwölf Jahren nun wesentlich länger vom Wahlrecht ausgeschlossen als die Mehrzahl der Angehörigen des ehemaligen Wehrpflichtheeres.130 Aus der Gesetzesbegründung darf auch nicht der Schluss gezogen werden, die Beschneidung des aktiven Wahlrechts für Soldaten sei als ein Teil des Maßnahmenpaketes hin zu einer »unpolitischen« und damit angeblich zuverlässigeren Reichswehr allein im Interesse des Primats der Zivilpolitik erfolgt. Die Tatsache, dass von Seiten des Reichswehrministeriums der damalige Chef des Stabes im Truppenamt unter Führung von Hans v. Seeckt, Oberst Wilhelm Heye, der Abteilungsleiter T5 (Wehrabteilung) Major Friedbert Lademann sowie der bereits früher erwähnte Geheime Kriegsrat Paul Semler als Regierungskommissare im Reichstag für den Entwurf des Reichswahlgesetzes verantwortlich zeichneten, zeugt nicht unbedingt von einer Unterordnung des Militärs unter den Willen der Politik in dieser Angelegenheit, sondern vielmehr von einem weiteren Ausdruck von Skepsis der Reichswehreliten gegenüber dem Parlamentarismus.131 Gegen die Beschneidung des aktiven Wahlrechts bei den Reichstagswahlen legten Lore Agnes (USPD) und Genossen einen Abänderungsantrag zum Reichswahlgesetz vor, der vorsah, den § 2 Abs. 2 Reichswahlgesetz ersatzlos zu streichen.132 In der parlamentarischen Beratung machte ihr Fraktionskollege Emil Eichhorn auf die Gefahr aufmerksam, dass eine entpolitisierte eben auch eine politisch unaufgeklärte und damit missbrauchsanfällige Reichswehr zur Folge haben könne. Er sprach hier am 22. April 1920 ganz bewusst vor dem Hintergrund des einen Monat zurückliegenden Kapp-Lüttwitz-Putsches. Insbesondere die konservative Landbevölkerung, aus der sich vor allem der Mannschafts- und Unteroffizierstand rekrutierte, sei »politisch rückständig« und daher dem Einfluss ihrer durchaus politisch denkenden Offiziere ausgeliefert.133 Das war insofern plausibel, als der moderne Generalstabsoffizier gar nicht umhin kam, »in seiner Tätigkeit auch politische, wirtschaftliche und soziale Aspekte zu berücksichtigen«.134 Ein Kollege aus der Fraktion der Mehrheitssozialdemokraten, Richard Schmidt, machte wiederum deutlich, dass die Beseitigung des aktiven Wahl129 130 131 132 133 134
§ 1 des Reichswahlgesetzes vom 27.4.1920, RGBl. 1920 S. 627–635. Darauf wies zutreffend hin Emil Eichhorn (USPD), Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5341. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 332, S. 5032. Nationalversammlungsdrucksache 2731. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5341. Siehe hierzu auch Craig, Armee, S. 429. Hürter, Heerführer, S. 98. Das sah auch Seeckt nicht anders: »Daß der Offizier Verständnis gewonnen hat für die Fragen der Öffentlichkeit, daß er Teil nimmt am politischen Leben des Volkes, ist ein Fortschritt unserer Zeit«, Erlass des Chefs des Generalstabes an die Generalstabsoffiziere vom 7.7.1919, abgedruckt bei Messerschmidt/Gersdorff, Offiziere, S. 217 f. (218).
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rechts die Armee unattraktiv für überzeugte Republikaner mache, da »mit der Annahme des [§ 2] Abs. 2 den Soldaten etwas genommen wird, was sie jetzt besitzen. Die Soldaten haben zu einem großen Teil im Januar 1919 bereits [bei den Wahlen zur Nationalversammlung] gewählt. […] Ein erheblicher Teil des heutigen Heeres wird schon auf Grund des Friedensvertrages entlassen. […] Es ist deswegen wenig klug gehandelt, wenn man den Leuten jetzt das Wahlrecht nimmt. […] In der gegenwärtigen schwierigen Situation braucht man jeden Mann, soll man niemand verärgern, der treu zur Demokratie und zu unserer jungen Republik steht.« Seiner Ansicht nach war es ohnehin eine Illusion zu glauben, die Soldaten würden durch die Vorenthaltung des aktiven Wahlrechts von einer politischen Meinungsbildung abgehalten: »Im übrigen bringt man dadurch die Politik nicht aus den Kasernen heraus, daß man den Soldaten das Wahlrecht nimmt; dafür sorgt schon die ganze Zusammensetzung des Heeres. Wir haben heute nicht mehr die jungen Burschen von 20 Jahren im Heer. Ein großer Teil des Heeres besteht aus gereifteren älteren Leuten, die schon wiederholt gewählt haben, die politisch tätig waren. Und diesen Leuten will man plötzlich das Wahlrecht nehmen? Sie lesen Zeitungen und pflegen politische Diskussionen in den Kasernen. Man kann doch gar nicht verhindern, daß schließlich die Wellen der Wahlagitation auch bis in die Kasernen dringen.«135
Dieser Auffassung trat auch sein MSPD-Fraktionskollege Simon Katzenstein bei; seiner Ansicht nach würde die Entpolitisierung der Reichswehr eine Fiktion bleiben: »Ein entpolitisiertes Heer haben wir nicht und haben wir niemals gehabt.« So sei es den Sozialdemokraten schon im Alten Heer – trotz Verweigerung des aktiven Soldatenwahlrechts und angeblicher politischer Neutralität – übel ergangen, und auch der »vaterländische Unterricht« des Ersten Weltkriegs sei keineswegs politisch neutral gewesen.136 Conrad Haußmann wiederum von der DDP-Fraktion, welche die Beschneidung des Wahlrechtes mittrug, rechtfertigte die Abkehr vom aktiven Soldatenwahlrecht damit, dass dessen Einführung bei der Nationalversammlungswahl »eine Notwendigkeit [gewesen] war; denn damals kam ein Heer von 9 Millionen Mann aus dem Feindesland zurück und war zu einem großen Teil noch nicht demobilisiert. Dieser außerordentlichen Zahl und dem ›Volk in Waffen‹, das aus dem Kriege nach unerhörten Strapazen zurückkehrte, das Recht zur Anteilnahme am politischen Leben als ein kleines Zeichen der außerordentlichen Dankbarkeit des Vaterlandes damals zu geben, war ein politisch richtiger Akt. Jetzt aber haben wir es nur noch mit einem kleinen Bruchteil zu tun, der nicht mehr aus der allgemeinen Wehrpflicht hervorgeht, bestehend aus Männern, die sich dem Dienste des Vaterlandes als Soldaten zuwenden«. Indem Haußmann den Eingriff in das Wahlrecht bagatellisierte, verkannte er zugleich dessen mögliche Auswirkungen auf die politische Verfasstheit und Zuverlässigkeit der Reichswehr, die aber als Machtfaktor – gerade mit Rückblick auf den gerade vergangenen Kapp-Lüttwitz-Putsch – schlichtweg nicht zu bagatellisieren war. Arthur v. Posadowsky-Wehner wiederum war sich als deutschnationaler 135 136
Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5346. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5353. Dies wurde auch von der DDP nicht bestritten, die insofern »Versäumnisse während des Krieges« einräumte, Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 294.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
Abgeordneter nicht zu schade, den Vergleich mit Frankreich zu bemühen,137 wo die Armee nicht ohne Grund den Spitznamen »la Grande Muette« (die große Schweigsame) trug und Soldaten erst am 17. August 1945 das aktive Wahlrecht erhielten.138 Aber nicht nur auf der Linken, sondern auch auf der extremen Rechten fanden sich Stimmen, die für ein aktives Wahlrecht der Soldaten warben, wie etwa Albrecht v. Graefe von der DNVP, der 1922 die »Deutschvölkische Freiheitspartei« mitgründete und sich 1923 am Hitler-Ludendorff-Putsch beteiligte. Seiner Wahrnehmung nach wollte die Reichsregierung »mit einer gewissen brutalen Konsequenz nicht sowohl die Entpolitisierung, als die Demokratisierung der Armee und des Offizierkorps durchführen«. An die Regierungsbank gewandt sagte er, er sähe »in der Beseitigung des Wahlrechts und in Ihrer Methode sogenannter Entpolitisierung nur einen Schutz für die Bestrebungen, die Sie parteipolitisch in der Armee betreiben wollen, und dagegen möchte ich die Armee in diesem Momente schützen«.139 So wurde die Mehrheit des Hauses in der Wahrnehmung des Reichswehrministers Geßler bestätigt, »daß sich auch hier die Extreme berühren, die den politischen Kampf auch in der Reichswehr ausfechten wollen, […was] eigentlich alle diejenigen erst recht vorsichtig machen [müsste], denen daran liegt, daß die Reichswehr ein neutrales Element ist, das seine vornehmste Aufgabe in dem Schutz von Recht, Verfassung und äußerer Ruhe und Ordnung sieht«.140 Bei dieser Gleichsetzung handelte es sich aber um eine Fehleinschätzung, da zumindest die gemäßigte Linke mit der Zubilligung des Wahlrechts ja eigentlich das gleiche Ziel wie die politische Mitte erreichen wollte – eine der Republik und ihrem Schutz zuverlässig und treu dienende Armee – wohingegen die harte Rechte offenkundig das Gegenteil wollte, wenn sie die »Demokratisierung der Armee und des Offizierkorps« (im Sinne einer Annäherung an die neue Staatsform) ablehnte. Dass Geßler sich in der Wehrrechtspolitik der neuen Republik ein wenig hilf- und konzeptionslos bewegte und sich nicht immer von Denkmustern des untergangenen Kaiserreiches zu befreien vermochte, belegt auch sein »Schlussplädoyer« in der Debatte zum Reichswahlgesetz: »Die Reichswehr wird es nicht als capitis deminutio empfinden, wenn ihr das aktive Wahlrecht jetzt nicht zusteht. Sie hat dafür ein anderes Recht, das den übrigen Staatsbürgern nicht zusteht: sie trägt Waffen.«141
Wenn aber das Recht, Waffen zu tragen, die Kompensation für die Verweigerung der politischen Partizipationsrechte darstellen sollte, so implizierte Geßler damit gewissermaßen, dass die Reichswehr und ihre Soldaten nicht wie alle anderen Staatsbürger durch Wahlen, sondern durch Waffen auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen konnte. Jedoch war ein Nebeneinander von parlamentarischer und militärischer Staatsgewalt bereits die (bittere) Erfahrung des Kaiserreiches gewesen, die 137 138 139 140 141
Arthur von Posadowsky-Wehner (DNVP) spricht irrigerweise von »la grande silencieuse«, Verhandlungen der Nationalversammlung, Band 333, S. 5348. Ordonnance Nr. 45-1839 du 17 août 1945, Journal Officiel 1945, S. 5157. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5348. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5350. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5350.
6. Zugang zu Ehrenämtern
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schließlich in der dritten OHL unter Ludendorff mit ihren militärdiktatorischen Zügen kulminiert hatte. Geßler war offenbar nicht imstande, daraus unter den grundlegend anderen Vorzeichen einer parlamentarischen Demokratie die militärkonzeptionellen Konsequenzen zu ziehen. In seiner Vorstellungswelt artikulierte das Militär seine politischen Interessen eben immer noch auf andere Weise als der gewöhnliche Staatsbürger. Als Argument gegen das aktive Soldatenwahlrecht wurde auch immer wieder vorgebracht, ein »staatsbürgerlicher Unterricht« könne ebenso gewährleisten, dass die Soldaten »sich in Zukunft nicht mehr zu revolutionären Zwecken mißbrauchen lassen« – ein Trugschluss, wenn man die schale Praxis des staatsbürgerlichen Unterrichts in der Reichswehr trotz seiner Verankerung im Wehrgesetz betrachtet.142 Nicht zuletzt wies Emil Eichhorn (USPD) auf den Widerspruch hin, dass anderen Vollzugsbeamten die aktive Teilnahme an Wahlen ohne Weiteres gestattet war, obschon insbesondere die paramilitärische Sicherheitspolizei eine auch im Vergleich zur Reichswehr nicht unbeträchtliche bewaffnete Macht im Staat darstellte.143 Mit knapper Mehrheit stimmten die Abgeordneten der Nationalversammlung schließlich für die Annahme des § 2 Abs. 2 Reichswahlgesetz und damit gegen ein aktives Wahlrecht der Soldaten.144 Ein knappes Jahr später, bei der Beratung des Wehrgesetzes, das den Soldaten schließlich noch das aktive Wahlrecht bei Landesund Gemeindewahlen sowie bei Abstimmungen nahm, konzentrierte sich die Debatte auf die übrige politische Betätigungsfreiheit der Soldaten, von der im Folgenden noch die Rede sein wird. Der Entzug des aktiven Wahlrechts aber war da schon eine ausgemachte Sache.145 In seinem Zeitungsartikel »Reichswehrsoldaten zweiter Klasse« vom 15. November 1920 fasste Kurt Tucholsky es mit den treffenden Worten zusammen: »Man hat den Soldaten das Wahlrecht genommen und sie damit auf eine Stufe mit den Zuchthäuslern gestellt«.146
6. Zugang zu Ehrenämtern Art. 128 Abs. 1 WRV garantierte: »Alle Staatsbürger ohne Unterschied sind nach Maßgabe der Gesetze und entsprechend ihrer Befähigung und ihren Leistungen zu den öffentlichen Ämtern zuzulassen.« Auch in Anbetracht des erneuten Rückgriffs auf die Bestimmungen des einfachen Gesetzes befand Anschütz in seinem Kommentar: »Die praktische Bedeutung des Abs. 1 darf nicht zu hoch angeschlagen werden. Denn das Recht […] auf freie Auswahl unter den befähigten Anwärtern auf ein Amt ist durch die Vorschrift nicht geschmälert.«147 Aber immerhin wurde hier ein besonde142 143 144 145 146 147
Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5346, 5350. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5346, 5351. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5374. Nur sehr vereinzelt wurde die Frage gestreift, wie etwa von Franz Künstler (USPD) bei der ersten Beratung des Wehrgesetzes am 3.2.1920, Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2341. Tucholsky, Reichswehrsoldaten, S. 488. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 128, Anm. 2.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
rer Gleichheitssatz in der Verfassung verankert.148 Unter dem Begriff des öffentlichen Amtes waren hier sowohl die Ämter von Reich und Ländern als auch der Gebietskörperschaften, also der Gemeinden und Kommunalverbände, und damit auch die Ehrenämter zu verstehen.149 Daneben hatte nach Art. 132 WRV jeder Deutsche »nach Maßgabe der Gesetze die Pflicht zur Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeiten«, wie etwa das Schöffen- und Geschworenenamt (§ 31 und § 84 GVG). Die nach den einfachen Gesetzen bestehenden Pflichten, aber auch das entsprechende Recht zur Übernahme von Ehrenämtern wurde durch § 33 WG für die »Angehörigen der Wehrmacht« (§ 1 WG) eingeschränkt. So durften sie nicht nur eine Vormund- oder Pflegschaft (§§ 1373, 1792, 1896, 1911–1914 BGB) sowie eine Beistandstätigkeit (§§ 1687, 1777 Abs. 3 BGB), sondern auch eine ehrenamtliche Pflichttätigkeit im Reichs-, Landesoder Gemeindedienst ablehnen (§ 33 S. 1 WG). Die Vorgängervorschrift des § 47 RMG 1874 hatte hingegen die »Annahme von Aemtern in der Verwaltung und Vertretung der kirchlichen oder politischen Gemeinden und weiteren Kommunalverbände« unter Genehmigungsvorbehalt gestellt. Mit der neuen Vorschrift war die Übernahme eines Ehrenamtes in einer Kirchengemeinde liberalisiert, zugleich aber auch die Ebenbürtigkeit mit staatlichen Ehrenämtern beseitigt und damit der fortschreitenden Trennung von Staat und Kirche unter der neuen Reichsverfassung Rechnung getragen. Ehrenämter in Kommunalverbänden wurden zwar nicht mehr explizit aufgeführt, jedoch sprechen Sinn und Zweck sowie die Aufzählung »Reichs-, Landesund Gemeindedienst« stark dafür, dass man sie zu letzterem zählte. Die Ehrenämter im Reichs- und Landesdienst wurden anders als noch bei § 47 RMG 1874 deshalb mit aufgeführt, weil nach dem ursprünglichen § 34 Nr. 9 GVG »dem aktiven Heere oder aktiven Marine angehörende Militärpersonen« ohnehin nicht zu Schöffen (oder Geschworenen, § 85 Abs. 2 GVG) hatten bestellt werden sollen und es sich hierbei um den typischen Fall eines solchen Ehrenamtes handelte. Die Vorschrift war jedoch durch das Gesetz zur Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit vom 17. August 1920 beseitigt worden, um den Soldaten nach Wegfall der Militärjustiz auch den Zugang zum Schöffenamt bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu eröffnen.150 Das Wehrgesetz blieb aber nicht dabei stehen, den Soldaten das Recht einzuräumen, eines der aufgeführten Ämter abzulehnen. Wollten Soldaten eine solche Verpflichtung gleichwohl übernehmen, bedurften sie dazu der Genehmigung des Vorgesetzten, die nunmehr aber nur »aus zwingenden dienstlichen Gründen versagt werden« konnte (§ 33 S. 2 WG). Welche Gründe »zwingend« waren, wurde aber wohl recht weit interpretiert: Nach Semler konnte der Vorgesetzte die Genehmigung bereits verweigern, »wenn die Ausübung des Amtes oder der ehrenamtlichen Tätigkeit mit den dienstlichen Verrichtungen […] nach seinem pflichtmäßigen Ermessen nicht vereinbar ist«.151 Damit aber blieb es im Kern – von den Ehrenämtern in Kirchengemeinden abgesehen – bei dem Erlaubnisvorbehalt, wie es ihn schon zu Kaisers Zeiten gegeben hatte 148 149 150 151
Poetzsch-Heffter, WRV-Kommentar, Art. 128, Anm. 1. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 128, Anm. 7. Art. II § 3 Abs. 2 des Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587. Semler, WG-Kommentar, S. 99.
7. Politische Betätigung
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– nur dass er eben in S. 1 zunächst im freundlichen Gewand eines Ablehnungsrechts daherkam. Gegen die Verweigerung der beantragten Genehmigung stand dem Soldaten gemäß § 33 S. 3 WG der Beschwerdeweg nach der Beschwerdeordnung zu.152 Das Amt eines (Reichstags-)Abgeordneten galt zwar noch in der Weimarer Republik als Ehrenamt, für das man kein Gehalt, sondern eine Entschädigung erhielt (Art. 40 WRV).153 Daraus folgerte der Wehrgesetzkommentar Rittaus, dass ein Reichswehrangehöriger also auch der Genehmigung seines Vorgesetzten bedurfte, um seiner Aufnahme in den Wahlvorschlag zustimmen zu können.154 Dagegen hielt der die Haltung des Reichswehrministeriums widerspiegelnde Kommentar des Geheimen Kriegsrates Semler die Abgeordnetentätigkeit nicht für genehmigungspflichtig und verwies dazu auf Art. 39 WRV wonach »Angehörige der Wehrmacht […] zur Ausübung ihres Amtes als Mitglied des Reichstages oder eines Landtages keines Urlaubs« bedurften.155 In Anbetracht der Autorität dieser Auffassung wird man annehmen müssen, dass Reichswehrangehörige um eine Genehmigung ihrer Vorgesetzten zur bloßen Bewerbung um ein Abgeordnetenmandat zwar nicht einkommen mussten. Doch wie sich ein Soldat um ein solches Amt überhaupt bewerben und hierfür insbesondere Wahlkampf treiben können sollte, war in Anbetracht seiner kaum vorhandenen politischen Betätigungsfreiheit die sehr viel entscheidendere Frage.
7. Politische Betätigung, Koalitions- und Versammlungsfreiheit Die Freiheit der Reichswehrsoldaten unterlag noch weitergehenden Einschränkungen, die sich aus §§ 36 und 37 WG ergaben und ihre politische Betätigung, ihre Koalitions- wie auch ihre Versammlungsfreiheit betrafen. Sie sind als Teil des damaligen gesetzgeberischen Leitbilds einer »unpolitischen« Reichswehr zu sehen, das gesetzgeberisch bereits mit dem Reichswahlgesetz im Frühjahr 1920 in Angriff genommen wurde und konzeptionell zurückgeht auf die Vorarbeiten zum Wehrgesetz unter Reichswehrminister Noske und seinem Chef der Heeresleitung, Generalmajor Reinhardt. Bereits in einem Erlass vom 12. Juni 1919 hatten sie angeordnet: »1. Das Vorgesetztenverhältnis, die Dienstgewalt, die Diensträume und -plätze, die dienstlichen Schreib- und Druckmittel und dienstlichen Sachen jeder Art dürfen zu Zwecken parteipolitischer Betätigung von Angehörigen der Reichswehr nicht ausgenutzt werden. 2. Offiziere, Beamte, Unteroffiziere und Mannschaften der Reichswehr dürfen sich nicht zu parteipolitischen Versammlungen oder Vereinen innerhalb der Reichswehrverbände zusammenschließen; jeder einzelne darf dagegen Mitglied einer politischen Partei oder eines wie immer gearteten außerhalb der Reichswehr stehenden Vereins sein, soweit dessen Zwecke nicht 152 153 154 155
Semler, WG-Kommentar, S. 99. Siehe zum Beschwerderecht weiter unter Kapitel VII.2. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 40, Anm. 2. § 15 Reichswahlgesetz vom 6.3.1924, RGBl. 1924 I S. 159–167. Siehe auch die Kommentierung von Rittau, WG-Kommentar, S. 115. Semler, WG-Kommentar, S. 99.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder in Widerspruch mit der von den Reichswehrangehörigen eingenommenen Treupflicht stehen. 3. Die Bildung nichtpolitischer Vereine und Zusammenschlüsse innerhalb der Reichswehr durch und unter Reichswehrangehörigen ist von den Vorstandsmitgliedern unter Angabe des Zweckes der Vereine usw. dem Vorgesetzten zu melden. Die Bildung geheimer Vereine ist verboten.«156
Bemerkenswert ist, dass hier ganz deutlich von parteipolitischer Betätigung die Rede war. In diesem Zusammenhang muss man sich die überlieferte Rolle der Parteien im Bismarck’schen Kaiserreich vor Augen führen: Sie waren über ihre Abgeordneten weder in Preußen noch im Reich an der Regierungsbildung beteiligt gewesen, da weder dem preußischen Landtag noch dem Reichstag eine Kreativfunktion zugekommen war. Mit Ausnahme des Zentrumspolitikers v. Hertling war während der gesamten Kaiserzeit kein einziger Reichskanzler Mitglied einer Partei gewesen. Die Parteien waren daher traditionell in erster Linie Vereine zur Regierungskritik und -kontrolle. Zudem kannten weder die Bismarck’sche noch die Weimarer Reichsverfassung eine Fünf-Prozent-Hürde, so dass die parlamentarische Parteienlandschaft weitaus zersplitterter war als das heute gewöhnlich der Fall ist. Auch wenn sich ihre Rolle in der Novemberrevolution grundlegend geändert hatte, haftete dem Pluralismus der Parteien in Teilen der öffentlichen Wahrnehmung – besonders auf Seiten der Rechten – das Stigma einer zermürbenden, endlosen und unproduktiven Zerstrittenheit an. Das gescheiterte Paulskirchenexperiment siebzig Jahre zuvor erschien aus dieser Perspektive unproduktiv, das Phänomen der Parteien in ihrer Gesamtheit alles andere als staatstragend, sondern im Zweifel eher staatsgefährdend. Abermals drängt sich die Verwandtschaft solchen Denkens mit den Vertretern der »konservativen Revolution«, namentlich Carl Schmitt auf, der das fünfte Kapitel seiner berühmten Studie » Der Begriff des Politischen« überschrieb mit »Der Staat als Form der politischen Einheit, durch den Pluralismus in Frage gestellt«.157 Doch auch ein vergleichsweise moderater Geist wie der ehrwürdige Staatsrechtslehrer Heinrich Triepel, der sich später als völlig immun gegen den Nationalsozialismus erwies, befand in einer Rede anlässlich einer akademischen Feier der Berliner Universität am 3. August 1927, dass »die Parteiherrschaft und der Parteienstaat als eine Entartung des staatlichen Körpers erscheint«. Es sei daher denkbar, »und viele sehen dies schon im Werden, daß sich eine Veredelung der ›egalitären‹ Demokratie durch ihre Umwandlung in einer Führeroligarchie vollzieht«.158 Die geistige Nähe zum Seeckt’schen »Attentismus«, der sich einer überzeitlich-abstrakten Staatsidee verpflichtet fühlte, die konkrete Weimarer Staatsverfassung als Durchgangsstadium sah und den »neuen Staat« abwartete, ist unübersehbar.159 Nur eine Minderheit juristischer Köpfe wie etwa Hans Kelsen brandmarkte die Parteienfeindschaft als »eine schlecht verhüllte Feindschaft gegen die Demokratie«.160 156 157 158 159 160
Erlass des Reichswehrministers und preußischen Kriegsministers über die Ausübung des Vereins- und Versammlungsrechts in der Reichswehr vom 12.6.1919, AVBl. 1919 S. 539. Schmitt, Begriff, S. 37–45. Triepel, Staatsverfassung, S. 29 f. Siehe zum Seeckt’schen »Attentismus« auch Kapitel I.2. unter Buchstabe b). Kelsen, Wesen, S. 20. Siehe hierzu auch Neumann, Schmitt, S. 216–219.
7. Politische Betätigung
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Auch das Inkrafttreten der neuen Reichsverfassung und ihrer Grundrechte am 11. August änderte an dem so früh festgelegten politischen Status der Soldaten nichts: So verfügte das Reichswehrministerium im Dezember 1919 unter Bezugnahme auf den Erlass vom 12. Juni, dass etwa die Mitgliedschaft in der USPD einen Entlassungsgrund darstellte.161 Zwar sympathisierte ein starker linker Flügel der Unabhängigen zu dieser Zeit mit der gewiss verfassungsfeindlichen KPD. Andererseits endete die politische Toleranz damit unmittelbar links von den Sozialdemokraten, die selbst in der Regierung saßen. Linksoppositionelle durfte es also schon in der vorläufigen Reichswehr nicht geben. Mit ihrem Erlass hatten Noske und Reinhardt abermals, gestützt allein auf ihre Kommandogewalt, in einem sensiblen Punkt erste Akzente gesetzt, noch bevor der parlamentarische Gesetzgeber auch nur einen Federstrich vorgenommen hatte. Auch Seeckt hatte schon in seiner Verwendung als Chef des Truppenamtes im Reichswehrministerium im Jahr 1919 die Generalstabsoffiziere in mehreren Aufrufen ermahnt, sich aus der Politik herauszuhalten.162 Die von ihm geleitete Vorkommission für die Organisation des Friedensheeres hatte bereits im August Vorschläge unterbreitet, den Soldaten möglichst jede politische Betätigung zu verbieten sowie insbesondere ihre Koalitions- und Versammlungsfreiheit auf ein Minimum zu beschränken.163 Vor allem der Gesetz gewordene § 36 WG sollte, wie es der Wehrgesetzkommentar Semlers ausdrückte, »der Politisierung der Wehrmacht entgegenwirken. Das Ziel ist, die Wehrmacht über die Parteien zu stellen, sie dem politischen Parteigetriebe zu entziehen, sie zu entpolitisieren oder richtiger, zu neutralisieren.«164 Zunächst einmal durften sich die Soldaten – die Militärbeamten waren hiervon nicht erfasst165 – nach § 36 Abs. 1 S. 1 WG »politisch nicht betätigen«, was einen Eingriff in einen Teilbereich der von Art. 118 Abs. 1 S. 1 WRV für Deutsche geschützten Meinungsfreiheit bedeutete. Zwar besagte S. 2, dass den Grundrechtsträger an diesem Recht »kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis« hindern durfte – worunter auch die öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnisse verstanden wurden. Die Frage, ob damit dem wehrgesetzlichen Schrankenvorbehalt aus Art. 133 Abs. 2 S. 2 WRV vielleicht verfassungsimmanente Grenzen gesetzt sein konnten, wurde in der Literatur jedoch nicht aufgeworfen. Anschütz vertrat in seinem Kommentar lediglich die Ansicht, der Satz bedürfe einer einschränkenden Auslegung: So sei disziplinari161
162
163
164 165
Siehe Schreiben des Reichswehr-Gruppenkommandos 4 an den unterstellten Bereich (Nr.18988/9309 I Org.) vom 20.12.1919, das den Inhalt einer Verfügung des Reichswehrministeriums (Nr.3973 T 1 A 3) mitteilt, BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 20. Ein Befehl zur Entlassung von USPD- und KPD-Anhängern erging für den unterstellten Bereich des Reichswehr-Gruppenkommandos 2 (Kassel) schon am 3.10.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 233 f. Erlass des Chefs des Generalstabes, Generalmajor v. Seeckt, an die Generalstabsoffiziere vom 7.7.1919, abgedruckt bei Meier-Welcker, Offiziere, S. 217 f.; Erlass des Chefs des Allgemeinen Truppenamtes, Generalmajor v. Seeckt, an die Generalstabsoffiziere vom 18.10.1919, abgedruckt ebenda S. 220–222. Schreiben der Vorkommission für die Organisation des Friedensheeres an die Armee-Abteilung des preußischen Kriegsministeriums über die künftige Rechtsstellung des Soldaten vom 8.8.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 189 f. Semler, WG-Kommentar, S. 102. Siehe auch Rittau, WG-Kommentar, S. 116 f.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
sches Einschreiten gegen Beamte auch dann möglich, wenn die entsprechende Meinungsäußerung »nichts anderes ist als eine Verletzung der Amtsverschwiegenheit«. Eine disziplinarische Bestrafung des Beamten sei hingegen nicht möglich, »bloß deshalb, weil er eine Meinung geäußert hat«. Genau diese Möglichkeit eröffnete aber § 36 Abs. 1 S. 1 WG gegenüber den Soldaten.166 Das Verbot der politischen Betätigung hatte keinen entsprechenden Vorgänger im RMG 1874 und stellte somit eine Verschärfung gegenüber dem Rechtszustand des Kaiserreiches dar. Unter politischer Betätigung verstand der Kommentar Semlers »die vorsätzliche Kundgebung einer politischen Gesinnung mit dem Ziele, auf andere einen politischen Einfluß auszuüben«.167 Bei den Ausschussberatungen wurde von verschiedener Seite der Begriff der politischen Betätigung mit politischer Agitation widerspruchslos gleichgesetzt.168 Politische Unterhaltungen (zumindest außerhalb des Dienstes) sowie Lektüre und Austausch von Zeitungen sollten jedenfalls nicht darunter fallen.169 Schon etwas konkreter rekurrierte der Kommentar von Martin Rittau auf eine – im Kern bis heute gültige170 – Definition des Preußischen Oberverwaltungsgerichtes, wonach die Betätigung dann politisch sei, »wenn sie darauf hinausgeht, auf Angelegenheiten des Staates einzuwirken und zu diesem Behufe die Gesetzgebung und die Verwaltungsorgane in Tätigkeit zu setzen«.171 Davon waren auch außenpolitische Äußerungen umfasst, also in der Regel »solche, die das Verhältnis des Deutschen Reiches zu anderen Staaten berühren«.172 Nach einem Urteil des Reichsgerichts vom 20. August 1924 gehörte zur politischen Betätigung »– mag man im übrigen den Begriff enger oder weiter fassen – unter anderem jede auf Gegenstände des staatsbürgerlichen Lebens gerichtete Einwirkung, die sich an die politischen Machtfaktoren, also vornehmlich an Regierung oder Volksvertretung wendet.« Unter diese Definition fielen regelmäßig auch Petitionen, obschon nach Art. 126 WRV jeder Deutsche das Recht hatte, »sich schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständige Behörde oder an die Volksvertretung zu wenden.« Die im Ergebnis mehr oder weniger völlige Beseitigung des Petitionsrechtes war jedoch nach Ansicht des Gerichts im Zusammenhang mit dem wehrverfassungsrechtlichen Schrankenvorbehalt des Art. 133 Abs. 2 S. 2 WRV zulässig.173 Die alte Rechtsparömie »Supplizieren und Wassertrinken sind jedem gestattet« galt für Soldaten der Reichswehr also nicht.174 Für Militärbeamte war hingegen das Verbot der politischen Betä166 167 168 169 170 171 172 173 174
Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 118, Anm. 5. Semler, WG-Kommentar, S. 103. Bericht des 25. Ausschusses über den Entwurf eines Wehrgesetzes, Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1294, 1296, 1306. Bericht des 25. Ausschusses über den Entwurf eines Wehrgesetzes, Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1294 und 1301. BVerwGE 43, 162 (164); Walz/Eichen/Sohm, SG-Kommentar, § 15 Rn. 30. Rittau, WG-Kommentar, S. 118; siehe auch Preußisches Oberverwaltungsgericht, Urt. v. 16.2.1909 – I 287 –, GA 1909, 326–328. Semler, WG-Kommentar, S. 103. RGSt 58, 274 f. Siehe auch Fuhse, MStGO 1926-Kommentar, § 101, Anm. 4. Für eine Vielzahl an Nachweisen des Sprichwortes siehe Neuhaus, Supplizieren, S. 476 Fn. 4.
7. Politische Betätigung
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tigung nach § 36 Abs. 1 S. 2 WG auf den dienstlichen Bereich beschränkt.175 Der Dienstbereich war dabei jedoch nicht nur im örtlichen, sondern auch im übertragenen Sinne zu verstehen, also so weit wie die dienstlichen Beziehungen reichten und Wirkung ausübten.176 Der ursprüngliche Entwurf hatte noch die Beschränkung des Verbots der politischen Betätigung auf den Dienstbereich auch für die Soldaten vorgesehen. Dieses Erfordernis wurde auch von Seiten der MSPD nicht bestritten. Gegen den Widerstand der Sozialdemokraten und auf Initiative der Deutschnationalen aber wurde das Verbot für die Soldaten auf sämtliche Lebensbereiche erstreckt, auch Geßler schloss sich dem Gedanken an.177 Die MSPD argumentierte vergeblich mit der beamtenähnlichen Stellung der Berufssoldaten und wies darauf hin, dass es für die vielfach außerhalb der Kaserne lebenden Offiziere im Vergleich zu den Mannschaften wesentlich einfacher sei, das Verbot zu umgehen.178 Die Beschränkung des Verbots auf den Dienstbetrieb blieb für die Militärbeamten konsequenterweise schon deswegen bestehen, da sie im Übrigen auch anders als die Soldaten eine grundsätzlich unbeschränkte Wahl-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit genossen.179 Prekär gestaltete sich auch die Vereinigungsfreiheit der Soldaten. Bereits am 12. Februar 1920 (also ein gutes Jahr vor Inkrafttreten des Wehrgesetzes) hatte Noske allein auf der Grundlage seiner Kommandogewalt befohlen: »Verbote der Zugehörigkeit von Wehrmachtsangehörigen zu irgendwelcher Richtung sind begründet, wenn aus der Zugehörigkeit Gefahr für die Manneszucht und den Zusammenhalt der Truppe erwächst. So ist z. B. Zugehörigkeit zu einer Partei, die offen bekennt, auf den Sturz der jetzigen Regierung außerhalb der durch die Verfassung gegebenen Wege hinzuarbeiten (U.S.P.D., K.P.D.), unvereinbar mit der Zugehörigkeit zur Wehrmacht.«180
Auch wenn die Begründung nachvollziehbar erscheint, so muss doch gleichzeitig berücksichtigt werden, dass USPD und KPD immerhin erlaubte und parlamentarisch vertretene Parteien waren. Außerdem war die Aufzählung nur beispielhaft und nicht abschließend: Der Befehl ließ jedes Verbot der Zugehörigkeit zu, sofern eine »Gefahr für die Manneszucht und den Zusammenhalt der Truppe« bestand – beide Begriffe eröffneten einen weiten Interpretationsrahmen. Die endgültige Regelung traf dann § 36 Abs. 2 Alt. 1 WG, wonach »die Zugehörigkeit zu politischen Vereinen […] verboten« war – eine Regelung, die aus dem Kaiserreich übernommen wurde181 und das 175 176 177 178
179 180 181
§ 36 Abs. 1 S. 2 WG: »Innerhalb des Dienstbereichs ist eine solche Betätigung auch den Militärbeamten untersagt.« Semler, WG-Kommentar, S. 104. Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1294, 1306, 1315. Bericht des 25. Ausschusses über den Entwurf eines Wehrgesetzes, Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1294; siehe auch Äußerung des Abgeordneten Bernhard Kuhnt (USPD) im Zuge der zweiten Beratung des Wehrgesetzes, Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3219. Semler, WG-Kommentar, S. 104. Befehl des Reichswehrministers Noske über die Zugehörigkeit von Militärpersonen zu Vereinen und zum Republikanischen Führerbund vom 12.2.1920, abgedrückt bei Hürten, Revolution, S. 334 f. § 49 Abs. 2 Alt. 1 RMG 1874: »Die Theilnahme an politischen Vereinen […] ist den zum aktiven Heere gehörigen Militärpersonen untersagt.«
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
erstmals verfassungsrechtlich verankerte Grundrecht auf Koalitionsfreiheit182 aus Art. 159 WRV183 einschränkte. Unter einem Verein wurde »ein für längere Dauer bestimmter Zusammenschluß mehrerer Personen zur Verfolgung gemeinsamer Zwecke unter einheitlicher Leitung« verstanden, wobei es auf die genaue Rechtsform hier nicht ankam.184 Als politisch galt nach § 3 des Reichsvereinsgesetzes185 ein Verein, »der eine Einwirkung auf politische Angelegenheiten bezweckt«.186 Was als »politisch« galt wurde hier in Übereinstimmung mit § 36 Abs. 1 S. 1 WG (Verbot der politischen Betätigung) bestimmt.187 Maßgeblich waren nicht allein die in der Satzung ausgewiesenen Satzungszwecke, sondern auch die tatsächlichen Tätigkeiten, auch wenn diese in Widerspruch mit der Vereinssatzung standen.188 »Jedoch ist der in der Satzung angegebene Zweck auch dann als Vereinszweck anzunehmen, wenn der Verein ihn tatsächlich nicht betätigt. Ein Verein, der nach seinem Satzungszweck ein politischer ist, bleibt also auch dann politisch, wenn er den in der Satzung angegebenen Zweck nicht ausübt.«189 Unter die politischen Vereine fielen demnach zunächst einmal alle Parteien. Aber schon weil § 17a des Reichsvereinsgesetzes die Gewerkschaften als politische Vereine behandelte, war den Soldaten eine Mitgliedschaft auch in ihnen verboten.190 Die Vorschriften des Reichsvereinsgesetzes waren aber nicht in jeder Hinsicht maßgeblich: So durften die Soldaten auch nicht in »Wahlvereinen« Mitglied sein. Darunter verstand man Vereine, »die nur vorübergehend während der Wahlen im Auftrage der Wahlberechtigten sich zur Vorbereitung, Leitung und Durchführung der Wahlen zusammenschließen«; sie galten zwar nach § 4 des Reichswahlgesetzes vereinsrechtlich nicht als politische Vereine, sehr wohl aber im wehrrechtlichen Sinne.191 Umgekehrt war den Soldaten die Mitgliedschaft in nichtpolitischen Vereinen ausdrücklich erlaubt, »sofern nicht die Zugehörigkeit zu einem solchen Verein aus Gründen der militärischen Zucht und Ordnung verboten wird« (§ 37 Abs. 1 S. 1 WG). Die Zuständigkeit für ein Verbot lag ausschließlich beim jeweiligen Wehrkreis- oder Marinestationskommando (§ 37 Abs. 1 S. 2 WG), wobei der Reichswehrminister die alleinige Zuständigkeit an sich ziehen konnte (§ 37 Abs. 3 WG). Entsprechende Verbote erfolgten etwa für den »Reichswirtschaftsverband derzeitiger und ehemaliger Berufssoldaten«, der sich zuvörderst den wirtschaftlichen Fragen der Soldaten zuwandte. Ihm gehörten vor allem republikanisch 182
183
184 185 186 187 188 189 190 191
Zuvor war die Koalitionsfreiheit nur einfachgesetzlich im Rahmen von § 152 der Reichsgewerbeordnung (Neubekanntmachnung vom 1.7.1883, RGBl. 1883 S. 177–240) gewährleistet; sie galt damit nur für die unter die Gewerbeordnung fallenden Arbeitnehmer. »Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Alle Abreden und Maßnahmen, welche diese Freiheit einzuschränken oder zu behindern suchen, sind rechtswidrig.« Semler, WG-Kommentar, S. 105. Reichsvereinsgesetz vom 19.4.1908, RGBl. 1908 S. 151–157, geändert durch Gesetz vom 26.6.1916, RGBl. 1916 S. 635. Rittau, WG-Kommentar, S. 119; Semler, WG-Kommentar, S. 105. Semler, WG-Kommentar, S. 103 und 105. Rittau, WG-Kommentar, S. 119. Semler, WG-Kommentar, S. 106. Rittau, WG-Kommentar, S. 119, Semler, WG-Kommentar, S. 106. Semler, WG-Kommentar, S. 107.
7. Politische Betätigung
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gesinnte Mannschaften und Unteroffiziere an; die Teilnahme an seinen Versammlungen wurde durch Reichswehrminister Geßler teilweise schon vor Inkrafttreten des Wehrgesetzes anlässlich entsprechender Stellungnahmen des Verbandes zu dessen Entwurf verboten.192 Jedoch wurde andererseits auch die Mitgliedschaft beispielsweise zum deutschnational geprägten »Deutschen Offizierbund« untersagt, der unter anderen Hermann Göring zu seinen prominenten Mitgliedern zählte. Das Reichswehrministerium führte eine umfangreiche und gelegentlich aktualisierte Liste über Vereine, in denen den Soldaten eine Mitgliedschaft verboten war.193 Ein Verbot durfte sich nur gegen Vereine, nicht gegen einzelne Soldaten richten, und musste mit den Erfordernissen von Zucht und Ordnung konkret begründet werden; eine bloße Wiederholung des Gesetzeswortlauts genügte nicht. Es war dem Verein unter Angabe von Gründen schriftlich mitzuteilen (§ 37 Abs. 1 S. 3 WG). Es war nicht erforderlich, dass ein Soldat dem Verein bereits beigetreten war; präventive Mitgliedschaftsverbote waren also zulässig. Als Rechtsbehelf stand dem Soldaten die Beschwerde nach der Beschwerdeordnung zu (§ 37 Abs. 2 WG), allerdings nach Semler mit der Einschränkung, dass nicht der Reichspräsident, sondern bereits der Reichswehrminister immer die letzte Instanz bildete, da »es sich bei diesen Verboten häufig um Maßnahmen politischer Tragweite handeln wird, für die der verantwortliche Minister ausschließlich und allein einzustehen hat«. Für reichsweite Mitgliedschaftsverbote, die der Reichswehrminister erlassen oder bestätigt hatte, war somit außer der parlamentarischen Verantwortlichkeit überhaupt keine Beschwerdemöglichkeit gegeben.194 Schließlich war den Soldaten nach § 36 Abs. 2 Alt. 2 WG die Teilnahme an politischen Versammlungen verboten, was wiederum ihr Grundrecht aus Art. 123 Abs. 1 WRV empfindlich einschränkte. Auch hier hatte es eine inhaltsgleiche Vorschrift schon im Kaiserreich gegeben.195 Hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals »politisch« galten die gleichen Grundsätze wie schon beim Verbot der politischen Betätigung und Vereinigung.196 Das Verbot griff »gleichgültig, ob der Besuch in Zivil oder in Uniform erfolgen soll, ob es sich um eine öffentliche oder eine nichtöffentliche Versammlung handelt«.197 Für den Fall, dass die Versammlung während des Verlaufs wider Erwarten einen politischen Charakter annahm, musste der Soldat die Versammlung verlassen, »sobald ihm dies erkennbar« wurde.198 Das Recht zur Teilnahme an nichtpolitischen Versammlungen folgte wiederum aus dem insofern unbe192 193
194 195 196 197 198
Siehe Äußerungen des Abgeordneten Georg Schöpflin (MSPD), Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 2194, 2197. Anlage zu einer Verfügung des Reichswehrministers vom 20.4.1925, BArch R 43-I/685, fol. 347–353; Neufassung der Liste in der Anlage zur Verfügung des Reichswehrministers vom 28.4.1927, BArch R 43-I/686, fol. 257–260. Rittau, WG-Kommentar, S. 123; Semler, WG-Kommentar, S. 113 f. § 49 Abs. 2 Alt. 2 RMG 1874: »Die Theilnahme an politischen […] Versammlungen ist den zum aktiven Heere gehörigen Militärpersonen untersagt.« Semler, WG-Kommentar, S. 107. Semler, WG-Kommentar, S. 107; ebenso Rittau, WG-Kommentar, S. 120. Verbot der Teilnahme an politischen Versammlungen und der Zugehörigkeit zu politischen Vereinen durch den Reichswehrminister vom 1.4.1921, HVBl. 1921 S. 103 f.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
schränkten Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 123 Abs. 1 WRV). Auch wenn es hierzu keine besondere Vorschrift im Wehrgesetz gab, blieb außerdem die Möglichkeit, durch einfachen Befehl auf Grundlage der Kommandogewalt die Teilnahme an Versammlungen nichtpolitischer Vereine zu verbieten, auch wenn deren Mitgliedschaft Soldaten nicht verboten war, sofern durch sie die »militärische Zucht und Ordnung gefährdet werde«.199 Für reine Soldatenversammlungen und -vereinigungen nichtpolitischer Art folgten allerdings aus § 37 Abs. 4 S. 1 WG noch zusätzliche Einschränkungen. Zwar sagte die Vorschrift dem Wortlaut nach aus, dass »Soldaten eines Standorts, eines Truppenteils oder der Besatzung eines Schiffes oder Schiffsverbandes […] sich untereinander versammeln und vereinigen« durften. Die Vorschrift wurde aber so gelesen, dass es eben nur »den Soldaten eines Standortes« etc. erlaubt war, sich zu versammeln und zu vereinigen. Der gegenteiligen Lesart eines MSPD-Abgeordneten, wonach insbesondere reine Soldatenvereinigungen über den Standort etc. hinaus grundsätzlich erlaubt seien, widersprach Reichswehrminister Geßler in den Ausschussberatungen.200 Semler wiederum begründete die Auffassung seines Ministers nachvollziehbar damit, dass es sich bei der Vorschrift vor dem Hintergrund der allgemeinen Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sinnvoll nur um eine Beschränkung handeln konnte.201 Die besondere Einschränkung begründete er damit, »daß Verbände über diesen Bereich hinaus Gefahren in sich bergen, die um so schwerer wiegen, als sich derartige Organisationen nicht mehr mit gleicher Sicherheit überwachen lassen, wie dies bei örtlichen Vereinigungen der Fall ist«.202 Aber selbst örtliche Soldatenversammlungen und -vereinigungen blieben nicht vollständig liberalisiert: »Zeit und Ort der Versammlung und die Gründung einer Vereinigung« mussten rechtzeitig dem zuständigen Vorgesetzten gemeldet werden, der sie verbieten konnte, »sofern sie mit dem Dienstbetrieb oder der militärischen Zucht und Ordnung unvereinbar« waren (§ 37 WG Abs. 4 S. 2 und 3 WG).203 Eine theoretische Ausnahme vom Verbot der politischen Betätigung und der Teilnahme an politischen Versammlungen ergab sich jedoch im Zusammenhang mit dem passiven Wahlrecht der Soldaten, das in Art. 39 WRV vorausgesetzt und durch das Reichswahlgesetz eingeräumt wurde.204 Um es nicht völlig auszuhöhlen, erkannte die Kommentarliteratur hier die Freiheit politischer Betätigung an, »soweit es zur Wahrnehmung dieser Rechte erforderlich« war.205 Freilich blieb die praktische Bedeutung dieser Ausnahme verschwindend gering. Nur in einem einzigen Fall hat ein aktiver Reichswehrsoldat sich erfolgreich um ein Reichstagsmandat beworben: Mit den Wahlen vom 31. Juli 1932 zog Heinrich August Knickmann für die NSDAP als 199 200 201 202 203 204 205
So Reichswehrminister Geßler im Zuge der Ausschussberatungen, Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1301; siehe auch Rittau, WG-Kommentar, S. 124. Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1301. Rittau, WG-Kommentar, S. 122; Semler, WG-Kommentar, S. 111 f. Semler, WG-Kommentar, S. 114 f. »Rechtzeitig« hieß bei Vereinigungen vor oder wenigstens unmittelbar nach deren Gründung, Semler, WG-Kommentar, S. 115. Siehe oben bei Kapitel III.5. Semler, WG-Kommentar, S. 103–105; ebenso Rittau, WG-Kommentar, S. 121.
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Abgeordneter des Wahlkreises 17 (Westfalen Nord) in den 6. Deutschen Reichstag ein. Doch noch während des Wahlkampfes wurde Knickmann am »15. Juli 1932 auf eigenen Wunsch entlassen«.206 Somit ist in der gesamten Zeit der Weimarer Republik zumindest kein aktiver Reichswehrsoldat Mitglied des Reichstages gewesen. Dagegen erscheint zumindest bemerkenswert, dass die vielen ehemaligen Offiziere (der alten wie der neuen Streitkräfte), die sich erfolgreich um ein Reichstagsmandat beworben hatten, mit großer Mehrheit den Fraktionen der DNVP oder NSDAP angehörten.207 Reichswehrminister Geßler sprach das Verbot der Teilnahme an politischen Versammlungen und der Zugehörigkeit zu politischen Vereinen kurz nach Inkrafttreten des Wehrgesetzes zusätzlich in einem Erlass vom 1. April 1921 mit näheren Detailanweisungen aus.208 Sinn und Zweck dieser Maßnahme war es, durch Wiederholung der gesetzlichen Regelungen als »Befehl in Dienstsachen« durch den Reichswehrminister als militärischem Vorgesetzten (§ 8 Abs. 2 WG) bei Verstößen die Möglichkeit der Bestrafung als Ungehorsam (§ 92 MStGB) zu eröffnen.209 Eine ganz besondere Schärfe erhielten die weitreichenden Eingriffe des Wehrgesetzes in die politischen Grundfreiheiten der Soldaten aber erst im Zusammenspiel mit dem unverändert fortgeltenden § 101 MStGB aus dem Jahr 1872: »(1) Wer unbefugt eine Versammlung von Personen des Soldatenstandes behufs Berathung über militärische Angelegenheiten oder Einrichtungen veranstaltet, oder zu einer gemeinsamen Vorstellung oder Beschwerde über solche Angelegenheiten oder Einrichtungen Unterschriften sammelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft; zugleich kann auf Dienstentlassung erkannt werden. (2) Die an einer solchen Versammlung, Vorstellung oder Beschwerde Betheiligten werden mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten bestraft.«
Daraus ergab sich nach dem maßgeblichen Kommentar Wilhelm Fuhses vor dem Hintergrund der wehrgesetzlichen Bestimmungen eine Strafbarkeit für Soldatenversammlungen, die zumindest auch über militärische Angelegenheiten oder Einrichtungen berieten, »wenn die Versammlung a) zugleich einen politischen Charakter hat […], b) über einen Standort, einen Truppenteil, die Besatzung eines Schiffes oder Schiffsverbandes hinausgeht, c) sich zwar innerhalb dieser Grenzen (zu b) hält, Zeit und Ort ihrer Abhaltung aber dem zuständigen Vorgesetzten […] nicht gemeldet, oder die Abhaltung von diesem verboten worden ist.«210 Was wiederum »militärische Angelegenheiten oder Einrichtungen« sein sollten, dazu schwieg der Kommentar. Dass das Merkmal sehr dehnbar ist, muss wohl kaum erwähnt werden. In Hinblick auf die unter Strafe gestellten gemeinsamen Vorstellungen und Beschwerden ent206 207
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Reichstagshandbuch 1932, Eintrag Abgeordneter Knickmann, S. 129. Zu diesem Ergebnis führte eine Auswertung der von der Bayerischen Staatsbibliothek zur Verfügung gestellten Reichstagsabgeordnetendatenbank. Seeckt hingegen wurde nach seinem Ausscheiden mit der Reichstagswahl vom 14.9.1930 Abgeordneter der nationalliberalen DVP. Verbot der Teilnahme an politischen Versammlungen und der Zugehörigkeit zu politischen Vereinen durch den Reichswehrminister vom 1.4.1921, HVBl. 1921 S. 103 f. Fuhse, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 8 Buchstabe g. Siehe auch Kapitel IV.4 unter Buchstabe c). Fuhse, MStGB 1926-Kommentar, S. 110.
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schied das Reichsgericht, dass hierunter nicht nur die nach der Beschwerdeordnung unzulässigen gemeinschaftlichen Beschwerden zu verstehen seien. Im konkreten Fall hatten mehrere Soldaten gemeinschaftlich eine Petition verfasst. Nach Ansicht des Gerichts fielen die eigentlich nach Art. 126 WRV geschützten »Bitten und Beschwerden an die zuständige Behörde oder an die Volksvertretung« sowohl unter den Beschwerdebegriff des § 101 MStGB als auch unter das Verbot der politischen Betätigung aus § 36 Abs. 1 S. 1 WG, mit der Folge, dass gemeinschaftliche Petitionen von Soldaten regelmäßig strafbar waren. Eingaben einzelner Soldaten konnten jedoch stets als unzulässige politische Betätigung disziplinarrechtlich geahndet werden. Ein solcher Eingriff in die Petitionsfreiheit war aber nach Ansicht des Reichsgerichts von Art. 133 Abs. 2 S. 2 WRV gedeckt.211 Auch hier zeigte sich ganz konkret, wie die weite Auslegung von Straftatbeständen zusammen mit einem Grundrechtsverständnis, das verfassungsrechtliche Schrankenvorbehalte nahezu uferlos anwandte, zu einer krassen Relativierung soldatischer Freiheitsrechte jenseits der ohnehin prekären einfachgesetzlichen Ausgangslage führen konnte. Summa summarum führte das Wehrgesetz für die Soldaten der Reichswehr zu weitreichenden Eingriffen und Eingriffsmöglichkeiten in ihre politischen Grundfreiheiten. Insbesondere der Ausschluss vom aktiven Wahlrecht wie auch das Verbot der Zugehörigkeit zu politischen Vereinen gingen dabei bereits mehr oder weniger unverändert auf das Kaiserreich zurück. Die Verwendung weitgehend unbestimmter Rechtsbegriffe wie »militärische Zucht und Ordnung« als Voraussetzung für weitere Eingriffe höhlten die politische Freiheit des Reichswehrsoldaten zusätzlich aus. Hinzu kam die Strafandrohung des wiederum recht offenen § 101 MStGB. Die staatsbürgerliche Stellung des Reichswehrsoldaten unterschied sich damit in ganz erheblicher Weise vom Rest des Volkes. Der Reichswehrminister und sein Chef der Heeresleitung sahen die Notwendigkeit hierfür in ihrem Konzept einer »unpolitischen Reichswehr« begründet.212 Geßler war sich auch nicht zu schade, offen zuzugeben, dass Seeckt hier der eigentliche spiritus rector war. Das Protokoll der Ausschussberatungen zum Wehrgesetz hielt fest: »Zur Veranschaulichung des Standpunkts, den die maßgebenden Instanzen einer solchen Politisierung des Heeres gegenüber einnähmen, verlas der Reichswehrminister den Erlaß des Chefs der Heeresleitung vom 26. Februar 1921.«213 Als »maßgebende Instanz« hätte man sich aber eigentlich den Reichswehrminister selbst vorgestellt. Auch im Reichstagsplenum gab Geßler in dieser Hinsicht eine schwache Figur ab, als er bei der Debatte zu den wehrgesetzlichen Einschränkungen der politischen Grundrechte sagte: »Ich habe mich bemüht, mein Amt so unpolitisch wie möglich zu verwalten, als man es nur verwalten kann, weil ich der Auffassung bin, daß gerade der Wehrminister selbst in politischen Dingen sich die größte Zurückhaltung auferlegen soll, wenn er das von seinem Ressort verlangt.«214 Noch offener konnte das Primat der Zivilpolitik nicht kapitulieren. Dass 211 212 213 214
RGSt 58, 274 f. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 139. Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1295. Siehe auch Befehl des Chefs der Heeresleitung über die politische Zuverlässigkeit des Reichsheeres vom 26.2.1921, abgedruckt bei Hürten, Anfänge, S. 244 f. Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 3216.
7. Politische Betätigung
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Geßler seinen Regierungsauftrag hier offenbar völlig verkannte, hielt ihm treffenderweise direkt im Anschluss der USPD-Abgeordnete Bernhard Kuhnt entgegen: »Wenn sich der Herr Wehrminister, soweit das überhaupt möglich ist, der Politik enthält, so treiben seine Herren um so deutlicher und klarer Politik.«215 Zwar bestritt keine Seite (außer vielleicht der KPD) das Bedürfnis nach einer politisch neutralen, über den Parteien stehenden Reichswehr.216 Doch die Regelungen des Wehrgesetzes gingen darüber einen wesentlichen Schritt hinaus: Sie forderten nicht allein die politische Neutralität der Institution, sondern die zumindest äußerliche Neutralisierung der Person.217 In einer Situation aber, wo das Bekenntnis zur Republik keineswegs den common sense darstellte und als politisches Statement verstanden werden konnte, spielte dieses Konzept denjenigen in die Hände, die an der bestehenden politischen Einstellung der Reichswehrsoldaten nicht viel ändern und die innere Distanz zur Republik aufrechterhalten wollten. Den entsprechenden Homogenitätsgrad konnte die Reichswehrführung ja vor allem durch ihre bereits beschriebene Personalpolitik absichern. Außerdem nutzte die Reichswehrführung (wie bereits beschrieben) den staatsbürgerlichen Unterricht, um ihr tradiertes Verständnis von Militär, Volk und Staat zu vermitteln. Schon 1919 hatte die Nachrichtenabteilung des bayerischen Reichswehr-Gruppenkommandos 4 Aufklärungs- und Propagandakommandos aufgestellt, um die heimkehrenden Kriegsgefangenen in den Auffanglagern politisch – also vor allem antibolschewistisch – »aufzuklären«.218 In diesem Zusammenhang war es auch die bayerische Reichswehr, die im August 1919 erstmals das rhetorische Talent des Gefreiten Adolf Hitler entdeckte, ihn auf Vortragsreisen zur Truppe schickte und so seinen Entschluss vom Vorjahr beförderte, »Politiker zu werden«.219 In die Frühphase der Reichswehr fällt auch die Erfindung des »(ost-)jüdischen Bolschewismus«:220 So strich Generalmajor v. Möhl in einem Lagebericht über die Niederschlagung der Münchener Räterepublik heraus, »wie landfremd die ganze bolschewistische Bewegung tatsächlich ist«.221 Als er sich am 4. Juni 1919 an die bayerische Staatsregierung mit der Aufforderung wandte, den vom Standgericht zum Tode verurteilten Anführer der Räterepublik, Eugen Leviné, nicht zu begnadigen, sprach er von dem in Russland geborenen Juden und badischen Staatsbürger als einem »fremdblütigen, nicht bayerischen Abenteurer«, bei dessen Begnadigung sich in der Truppe der Eindruck aufdrängen müsste, dass sein Leben 215 216 217 218
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Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 3218. Siehe die entsprechenden Äußerungen der Kommunisten in den Ausschussberatungen zum Wehrgesetz, Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1295 f., 1301. In den Eingangserläuterungen zu § 36 WG ist bei Semler, WG-Kommentar, S. 102, auch von »neutralisieren« die Rede. Siehe Befehl des Reichswehr-Gruppenkommandos 4 über die Bildung und Aufklärung bei den Truppen vom 13.6.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 143–145. Siehe auch die Weisung für die Propaganda unter den Truppen des Feldheeres (nach dem 21.11.1918), abgedruckt ebenda S. 4–6. Kershaw, Hitler, S. 165–169. Siehe auch undatiertes »Verzeichnis von Propagandaleuten« mit Nennung Hitlers bei lfd. Nr. 52 bei BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 315. Gietinger, Konterrevolutionär, S. 119 f. Bayr. Oberkommando Möhl, I a d Nr. 25601, an das (bayerische) Ministerium für militärische Angelegenheiten, Betreff: Allgemeine Lage zu Min. f. mil. Ang. Nr.3333 a, vom 7.5.1919 (maschinenschriftlicher Entwurf mit handschriftlichen Anmerkungen), BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 48.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
durch eine Begnadigung »höher gewertet« würde »als das Blut zahlreicher Deutscher«.222 Der Antrag auf Begnadigung scheiterte an Stimmengleichheit bei Abwesenheit des Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann (MSPD); am 5. Juni 1919 wurde Leviné im Gefängnis Stadelheim erschossen.223 Bei der im Anschluss einsetzenden, umfangreichen nachrichtdienstlichen Überwachung vermerkten die zahlreichen Akten gelegentlich auch, dass es sich bei dem einen oder anderen Spartakisten um einen Juden handelte.224 Offiziell aber war eine politische Betätigung von Soldaten (wie bereits im Kaiserreich) auch in der wehrverfassungsrechtlichen Übergangsphase schon unerwünscht.225 So ist die Interpretation erlaubt, dass sich das entsprechende Verbot des Wehrgesetzes vor allem gegen jeden Dissens mit den Ansichten der Reichswehrführung richten sollte. Der Reichswehrsoldat hatte also auch politisch zu gehorchen. Richtig ist zwar, dass die Reichswehr jedenfalls nach dem Hitler-Ludendorff-Putsch keine offenen Ausflüge mehr in die politischen Extreme unternahm – nicht nach rechts, schon gar nicht nach links. Aber jedes Abweichen von der herrschenden nationalkonservativen Linie, und sei es auch nur in Form eines allzu starken republikanischen Bekenntnisses, konnte leicht als unzulässige politische Agitation gebrandmarkt werden. In dieser hochpolitischen Zeit verlagerte sich der verbotene offene Diskurs so aber notgedrungen ins Obskure; der politisch denkende Offizier musste im Dunkeln munkeln, fernab der Öffentlichkeit. Das Vorhaben einer völligen politischen Neutralisierung musste sich ohnehin auf das forum externum beschränken: Dass eine totale innerliche Neutralisierung der Reichswehrsoldaten illusorisch sein würde und auch nicht beabsichtigt sei, bestätigte Geßler in den Beratungen zum Wehrgesetz. Damit galt zwar: Die Gedanken sind frei. Doch dürfen die Wechselwirkungen und Interdependenzen nicht übersehen werden: Schließlich neigt der auf die Gemeinschaft hingeordnete Mensch dazu, seine inneren Ansichten nach außen zu teilen, und umgekehrt, seine Ansichten im Austausch mit anderen zu bilden. Innere und äußere Meinungsfreiheit lassen sich so zwar gedanklich, nicht aber praktisch trennen, sind sie doch beide aufeinander bezogen. Für Geßler aber folgte aus der Beschränkung der politischen Meinungsfreiheit auf das forum internum noch eine weitaus drastischere Konsequenz: So sei es wegen der gedanklichen Freiheit »jedem unbenommen, die Veränderung der Staatsform auf verfassungsmäßigem Wege zu wünschen.« Ein namentlich nicht genannter DNVP-Abgeordneter pflichtete ihm bei, »die Verpflichtung des Soldaten werde durch den Eid begründet, der Eid laute nicht auf die Republik, sondern auf die Verfassung. Da die Verfassung selbst den Weg zu ihrer Änderung durch Volkswillen weise, verpflichtet der Eid auf die Verfassung nur zur Ablehnung jedes 222
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Schreiben des Oberbefehlshabers des Reichswehr-Gruppenkommandos 4, Generalmajor v. Möhl, an den bayerischen Minister für militärische Angelegenheiten, Schneppenhorst, über eine Begnadigung Levinés vom 4.6.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 135 f. Hürten, Revolution, S. 136 Fn. 2. Siehe z. B. das Nachrichtenblatt Nr.9 der Gruppe Deetjen, Ia/Ic Nr.755/Einz.155 (Geheim!), Generalkommando Oven, Tgb.Nr.349 5 19, vom 12.5.1919, BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 153. Siehe nur Schreiben der Vorkommission für die Organisation des Friedensheeres an die Armee-Abteilung des preußischen Kriegsministeriums über die künftige Rechtsstellung des Soldaten vom 8.8.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 189 f. Siehe weiter Kapitel III.7.
8. Rezipientenfreiheit
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gewaltsamen Umsturzes der Republik.«226 Hier wird nicht nur deutlich, dass die illusorische Totalabstraktion von innerer und äußerlicher Meinungsfreiheit darauf verzichten konnte, den Soldaten eine auch nur annähernd vergleichbare Treue zur republikanischen Verfassung abzuverlangen, wie ehedem der Monarch zu seiner Person. Vielmehr war es von einem solchen Verfassungsverständnis zum »Legalitätseid« Adolf Hitlers gedanklich nur noch ein kleiner Schritt. So erscheint es rückblickend wie eine Fügung, dass es gerade der Hochverratsprozess gegen junge, für den Nationalsozialismus offen sympathisierende Offiziere des 5. Artillerie-Regiments im Herbst 1930 war, in dem Hitler als Zeuge schwor, die »Machtergreifung« auf »verfassungsmäßigem« Weg über das Parlament anzustreben.227 Ein »Instrument der Republik« (Geßler) konnte aus der Reichswehr mit dem Konzept der §§ 36 und 37 WG jedenfalls nicht gemacht werden.228 Der spätere Reichswehrminister Groener – selbst alles andere als links eingestellt – schrieb rückblickend im April 1931 an einen Freund: »Die Auswahl der Offizieranwärter in der Seecktschen Zeit hatte gar nicht meinen Beifall, er hat seinen Untergebenen Rätsel über seine eigene Überzeugung aufgegeben, und mancher davon wird gedacht haben, so etwas rechtsradikale Gesinnung ist geeignet, beim obersten Vorgesetzten gut Wetter zu machen trotz aller scharfen Befehle, die er tatsächlich erlassen hat, die aber niemand ernst genommen hat.«229 Es kann daher auch nicht überraschen, dass diejenigen Reichswehroffiziere, die später in die Politik gingen, dies weit überwiegend für eine der Rechtsparteien taten.230
8. Rezipientenfreiheit Mit der Beseitigung des aktiven Wahlrechts, dem Verbot politischer Betätigung sowie der eingeschränkten Koalitions- und Versammlungsfreiheit hatte sich das wehrgesetzgeberische Maßnahmenpaket zur Schaffung der »unpolitischen« Reichswehr jedoch noch nicht erschöpft. So sah das Wehrgesetz auch noch die Möglichkeit zur Einschränkung dessen vor, was man heute unter »Rezipientenfreiheit« oder auch »Informationsfreiheit« versteht.231 Damit ist das Recht gemeint, sich ungehindert aus frei verfügbaren Quellen zu informieren. Es handelt sich also um das Gegenstück zur Pressefreiheit, die zwar als Teil der Meinungsfreiheit in Art. 118 Abs. 1 WRV gewährleistet wurde, jedoch nur die Verbreitung der Medien, nicht aber den Zugang zu ihnen schützte. Ein solches Recht hätte man allenfalls aus Art. 118 Abs. 2 WRV ableiten 226 227
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Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1301. Bucher, Reichswehrprozeß, S. 257, 262 f. und 270. Hitler nutzte den Prozess als Bühne und gab gleichzeitig zu Protokoll, nach der legalen Machtübernahme würden »auch Köpfe rollen«, ebenda S. 260. Siehe weiter unter Kapitel VIII.2. Verhandlungen des Reichstags, Band 347, S. 3216. Groener-Geyer, Groener, S. 279 f. Die Rede von Seeckt als dem »obersten Vorgesetzten« zeigt einmal mehr, wie wenig Groener das Primat der Zivilpolitik unter der WRV verinnerlicht hatte. Siehe Fn. 1175. Unter »Informationsfreiheit« wird allerdings auch das Recht auf Einsichtnahme staatlicher Informationen verstanden, weswegen hier von »Rezipientenfreiheit« die Rede ist.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
können; er sprach aus, dass außer für Lichtspiele eine Zensur nicht stattfinden durfte, und dass daneben nur »zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig« waren. Diesen Schutz vor Zensur bezog die Kommentarliteratur jedoch nur auf die Medientreibenden, nicht auf die Rezipienten232 – ein wesentlicher Grund, weswegen der Grundgesetzgeber nach den Erfahrungen unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft die Rezipientenfreiheit explizit mit in den Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG mit aufnahm. Das heißt aber nicht umgekehrt, dass es eine solche Freiheit überhaupt nicht gab. Auch in Weimar war zunächst einmal grundsätzlich erlaubt, was nicht verboten war.233 So darf § 36 Abs. 4 S. 1 WG, wonach die Angehörigen der Reichswehr das Recht hatten, »nach freier Wahl Zeitungen zu halten«, nicht so interpretiert werden, dass hier etwas Zusätzliches gewährt wurde. Sinn und Zweck der Vorschrift war es vielmehr zu verhindern, dass den Soldaten durch einfachen Befehl des Vorgesetzten das Halten bestimmter Zeitungen verboten werden konnte. Die Agitation im Kameradenkreis durch Verteilen politischer Zeitungen blieb aber weiterhin im Sinne von § 36 Abs. 1 WG verboten.234 Die Initiative zu dieser gesetzlichen Klarstellung war von der USPD in den Ausschussberatungen zum Wehrgesetz ausgegangen; ihr war auch Reichswehrminister Geßler beigetreten.235 In diesem Sinne bestimmte § 36 Abs. 4 S. 2 WG weiter: »Der Reichswehrminister kann bestimmte Zeitungen verbieten, sofern ihr Inhalt die militärische Zucht und Ordnung oder die Aufrechterhaltung der Verfassung gefährdet.« Gemeint war damit in erster Linie: nur der Reichswehrminister, also nicht jeder x-beliebige Vorgesetzte. Auch die MSPD begrüßte diese Einschränkung.236 Wichtig war hier vor allem, dass die Möglichkeit des Verbots an eine Disziplin- oder Verfassungsgefährdung gekoppelt wurde, und nicht an den politischen Charakter einer Zeitung. Im Gegenteil: »Militärische Ordnung sei nur unter urteilsfähigen Menschen denkbar, Urteilsfähigkeit nur bei jemandem, der sich selbst ein Urteil bilden könne«, so gibt das Protokoll einen USPD-Abgeordneten wieder. Damit wird deutlich, dass die Ausschussmitglieder sich der Gefahr einer geistigen Abschottung der Reichswehr sehr wohl bewusst waren. Es galt also die Devise: Politik – nein, Möglichkeit zur politischen Bildung – ja. »Gegen Zeitungen gibt es nur ein Gegenmittel: andere Zeitungen«, so ein MSPD-Abgeordneter im Ausschuss.237 Das war zwar richtig – unter den gewöhnlichen Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie. Im Gegenzug blieb nämlich fraglich, weshalb der einfache, meist aus ländlichen Regionen stammende Soldat, 232 233
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Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 118, Anm. 6; Poetzsch-Heffter, WRV-Kommentar, Art. 118, Anm. 9. Ob die WRV eine allgemeine Handlungsfreiheit (im Sinne eines Grundrechts) garantierte, war umstritten; siehe Gusy, Reichsverfassung, S. 295. Zustimmend Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 114, Anm. 1: »Freiheit vom Staat, sie besteht in der rechtlichen Möglichkeit, alles tun zu dürfen, was kein Gesetz verbietet.« Auch nach Carl Schmitt gab es »eine prinzipiell unbegrenzte Freiheitssphäre des einzelnen und eine prinzipiell begrenzte, meßbare und kontrollierbare Eingriffsmöglichkeit des Staates«, siehe Schmitt, Verfassungslehre, S. 164; siehe ebendort auch S. 175. Semler, WG-Kommentar, S. 109. Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1295 f. Siehe Äußerungen von Georg Schöpflin (MSPD), Verhandlungen des Reichstags, Band 348, S. 3214. Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1296.
9. Freizügigkeit und Bewegungsfreiheit
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der ohne aktives Wahlrecht jeder Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Politik beraubt blieb, ein besonderes Interesse an umfassender politischer Bildung haben sollte. So ging nach einer Meldung des Generalmajors v. Möhl vom 14. Juni 1920 die politische Stimmung in den bayerischen Truppenteilen der Reichswehr »ziemlich übereinstimmend dahin, daß kein wesentliches Interesse in politischen Tagesfragen besteht. Bei einer Truppe, die sicher in der Hand ihrer Offiziere ist, kann politische Gleichgültigkeit im allgemeinen nur als erwünscht bezeichnet werden.«238 Umso mehr blühte in der Weimarer Republik das Genre der Militärzeitschriften auf.239 Gegen das Verbot einer Zeitung gab es kein Rechtsmittel, »da der Reichswehrminister in erster und letzter Instanz« entschied.240 Die Bedeutung des § 36 Abs. 4 S. 2 WG (Zeitungsverbote des Reichswehrministers) wurde auch dadurch geschmälert, dass verfassungsfeindliche Zeitungen bereits regelmäßig durch den Reichspräsidenten auf der Grundlage von Art. 48 WRV reichsweit verboten wurden.241 Nicht zuletzt muss gesehen werden, dass das Tatbestandsmerkmal der »militärischen Zucht und Ordnung« sicherlich auch missbrauchsanfällig war. Reichswehrminister Geßler jedenfalls gelobte vor dem Hohen Haus: »Ich bin kein Freund von Zeitungsverboten, und ich habe – trösten sie sich – nur einmal den ›Miesbacher Anzeiger‹ verboten.«242
9. Freizügigkeit und Bewegungsfreiheit In Art. 111 Abs. 1 WRV wurde allen Deutschen »Freizügigkeit im ganzen Reiche« zugesprochen. Hierunter wurde im Wesentlichen unumstritten das Recht verstanden, sich an jedem beliebigen Ort des Reichs aufzuhalten sowie das Recht auf freien Zug, freie Wohn- und Aufenthaltsortswahl, aber auch wirtschaftliche Freizügigkeit.243 Über den genauen Inhalt von Art. 114 Abs. 1 WRV herrschte hingegen größte Uneinigkeit. Er bestimmte: »Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Eine Beeinträchtigung oder Entziehung der persönlichen Freiheit durch die öffentliche Gewalt ist nur auf Grund von Gesetzen zulässig.« Umstritten war, ob damit eine allgemeine Handlungsfreiheit gemeint war oder sich die Garantie auf eine körperliche Freiheit beschränkte.244 Manche sahen hierin sogar nur den Schutz der Fortbewegungsfreiheit im Sinne von habeas corpus.245 Erblickte man in Art. 114 Abs. 1 WRV eher eine Spezial- denn eine General238
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Zusammenfassung der monatlichen Stimmungsberichte im unterstellten Bereich durch den Befehlshaber Wehrkreiskommando VII, Hpt.Nr.24716/Ia Nr.4483, Betreff: Monatsberichte, vom 14.6.1920, BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 51. Siehe hierzu umfassend Haller, Militärzeitschriften. Semler, WG-Kommentar, S. 109. So verweist Rittau, WG-Kommentar, S. 122 auf die Verordnung des Reichspräsidenten vom 29.8.1921, RGBl. 1921 S. 123 f. Verhandlungen des Reichstags, Band 357, S. 9268. Der Miesbacher Anzeiger war eine bayerische, antisemitisch-katholische Zeitung, die nach dem Ersten Weltkrieg überregionale Bedeutung erlangte. Gusy, Reichsverfassung, S. 297 f. Für Ersteres Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 114, Anm. 1; Schmitt, Verfassungslehre, S. 164, 175. Dagegen Mannheim, Freiheitsschutz, S. 322–324. Zum Überblick m. w. N. Gusy, Reichsverfassung, S. 295. Mannheim, Freiheitsschutz, S. 316.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
freiheit, dann stellte sich noch die zusätzliche Frage nach dem Verhältnis insbesondere zur Freizügigkeit (Art. 111 Abs. 1 WRV) sowie zur Auswanderungsfreiheit (Art. 112 Abs. 1 WRV).246 Auch in diesem fundamentalen Punkt der Grundrechtsinterpretation kristallisierte sich in der Weimarer Republik also kein fester und einigermaßen unbestrittener Kernbestand heraus. Jeder Versuch, diese Fragen nachträglich zu entscheiden, ist müßig. Indes gab es für die Reichswehrsoldaten eine ganze Reihe von einschneidenden Regelungen, die ihre Freizügigkeit sowie die Möglichkeit betrafen, sich körperlich zu bestimmten Orten und Räumlichkeiten zu bewegen. Sie werden hier geschildert unabhängig von der im Nachhinein schlichtweg nicht mehr zu klärenden Frage, ob und in welches genaue Grundrecht der WRV sie eingriffen. Dabei sticht als erstes die umfangreiche Kasernierung der Reichswehrsoldaten ins Auge, also ihre Pflicht zum Wohnen innerhalb militärischer Liegenschaften. Auch hier folgte die Reichswehr dem Grundsatz der normativen Kontinuität und wandte die (preußische) Garnison-Verwaltungsordnung vom 4. September 1913247 weiter an.248 Sie wurde erst gute zwanzig Jahre später im Nationalsozialismus durch die Wehrmachtverwaltungsvorschrift vom 31. Mai 1935 ersetzt. Das Wehrgesetz nahm auf die Kasernierung der Soldaten überhaupt keinen Bezug; sie wurde wohl als selbstverständlich vorausgesetzt. Auch diese nicht unerhebliche Freiheitseinschränkung wurde also nicht durch parlamentarisches Gesetz, sondern durch eine Vorschrift aus dem Bismarckreich und ergänzende oder ändernde Einzelerlasse des Reichswehrministeriums geregelt. Die Pflicht zum Wohnen in der Kaserne war in der Garnison-Verwaltungsordnung (Teil I) vor allem in den Nr. 85–96 festgelegt. Danach hatten zunächst einmal diejenigen »Gehaltsempfänger, für welche im Etat besondere Gebührnisse zur Selbstbeschaffung der Unterkunft (für ihre Person, Pferde oder Geschäftszimmer) ausgeworfen sind, […] keinen Anspruch auf Naturalgewährung der Unterkunft« (Nr. 86). Sie galten als »Selbstmieter« oder »Selbsteingemietete« (Nr. 92). »Alle andern Heeresangehörigen« waren dagegen »quartierberechtigt, d. h. sie haben Anspruch auf Naturalgewährung der Unterkunft; doch kann statt dessen in Einzelfällen die Gewährung von Selbstmietergebührnissen eintreten« (Nr. 87). »Für die in Natur gewährte […] kasernenmäßige Unterkunft« wurden »den Angehörigen der Wehrmacht« auf Grundlage des Reichsbesoldungsgesetzes von 1920 »Beträge in einer durch den Reichshaushaltsplan festzusetzenden Höhe einbehalten«249; nach dem Reichsbesoldungsgesetz von 1927 fiel für die unverheirateten Mannschaften und Unteroffiziere ganz einfach der ansonsten gewährte Wohnungsgeldzuschuss weg.250 »Zum Beziehen 246 247 248
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Mannheim, Freiheitsschutz, S. 322–324. (Preußische) Garnison-Verwaltungsordnung (GVO.) vom 4.9.1913, Teile 1 bis 3, D.V.E. Nr./H. Dv. 303, 303a, 303b. »Das Nähere hierüber wird durch besondere Dienstanweisung bestimmt, die an Stelle der bisherigen Garnison-Verwaltungsordnungen tritt. Bis zum Erlaß dieser Vorschrift finden die Bestimmungen der Preußischen Garnisonverwaltungsordnung vom 4. September 1913 auch unter den veränderten Verhältnissen sinngemäße Anwendung«, Erlass über Organisationsänderungen infolge des Vollzugs des Ultimatums der Verbandstaaten vom 2.10.1921, HVBl. 1921 S. 447–449 (449). § 19 Abs. 5 des Reichsbesoldungsgesetzes vom 30.4.1920, RGBl. 1920 S. 805–839; siehe auch § 19 Abs. 4 Reichsbesoldungsgesetzes vom 16.12.1927, RGBl. 1927 I S. 349–355. § 9 Abs. 3 des Reichsbesoldungsgesetzes vom 16.12.1927, RGBl. 1927 I S. 349–355.
9. Freizügigkeit und Bewegungsfreiheit
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der im Standort vorhandenen Kasernenwohnungen und Kasernenquartiere« waren jedoch verpflichtet: Unverheiratete Offiziere vom Hauptmann abwärts, entsprechend unverheiratete Ober- und Assistenzärzte sowie Oberveterinäre und Veterinäre, und schließlich alle Unteroffiziere und Mannschaften251 (Nr. 89). Kasernenquartiere und -wohnungen waren nach Nr. 91 alle »reichseignen oder aus Reichsmitteln (dauernd oder vorübergehend) ermieteten Unterkunftsräume für die zu [Nr.] 89 bezeichneten Personen«. Das galt »ohne Rücksicht darauf, ob sie sich innerhalb oder außerhalb eines Kasernengrundstücks befinden, und ob sie in einem Mannschaftshaus, Familienhaus oder in irgend einer andern Garnisonanstalt« lagen. Regelmäßig aber befanden sich diese Wohnungen natürlich – schon dem Namen nach – in Kasernen. »Alle so untergebrachten Personen« galten »als kaserniert« (Nr. 90). Davon zu unterscheiden waren Dienstwohnungen, die das Reich im Rahmen der Möglichkeiten den nichtkasernenpflichtigen »Selbstmietern« zuwies, also vor allem den verheirateten Offizieren und allen Stabsoffizieren. Unabhängig davon, ob der »Begünstigte« die zugewiesene Dienstwohnung in Anspruch nahm, wurde sein Ortszuschlag (nach dem Reichsbesoldungsgesetz von 1920) oder sein Wohngeldzuschuss (nach dem Reichsbesoldungsgesetz von 1927) erheblich gekürzt.252 So konnte der Dienstherr auch hier einen über die Besoldung vermittelten Einfluss auf die Wohnungswahl der an sich nicht kasernierten Soldaten ausüben. Für Kasernierte wie für Selbstmieter hielten die Kasernen damaliger Zeit noch eine Vielzahl verschiedener Unterkunftsmöglichkeiten bereit: Von der kargen Gemeinschaftsunterkunft über Wohnungen für Verheiratete – mit und ohne Familie – bis hin zur Kommandeursvilla. Bedingt durch die Umstrukturierung zum Berufsheer wurde aber der Bedarf an Verheiratetenunterkünften für Mannschaften und Unteroffiziere – trotz der grundsätzlichen Heiratsaltersgrenze von 27 Jahren – sehr viel höher. Die Reichswehrführung reagierte auf den anfänglichen Mangel an entsprechenden Kasernenwohnungen, indem sie bereits in der Gebührnisordnung vom 31. März 1919 den Regimentskommandeuren die Möglichkeit einräumte, den Unteroffizieren und Mannschaften auf Antrag die Selbsteinmietung zu gestatten, wobei jedoch verheiratete Unteroffiziere »auf Antrag möglichst in den Kasernen unterzubringen« waren.253 Ein Erlass des Reichswehrministeriums vom 16. April 1922 gestattete dann die Selbsteinmietung von Verheirateten sowie von Leutnanten und Hauptleuten auf Antrag beim zuständigen (Regiments-)Kommandeur nur noch, »wenn das Fehlen einer entsprechenden Wohnung [=Verheirateten- oder Familienwohnung] oder des dienstgradmäßigen Quartiers innerhalb des Standortes vom Unterkunftsamt schriftlich bestätigt worden« war.254 Insgesamt aber sollte die Kaserne für den durchschnittlichen Reichswehrangehörigen und – sofern vorhanden 251 252
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Mit Ausnahme der verheirateten Unterzahlmeister, Musikmeister, Unterärzte, Unterveterinäre, Unterapotheker und Unterinspektoren. »Ortszuschlag« nach § 12 Abs. 1 und § 13 Abs. 1 des Reichsbesoldungsgesetzes vom 30.4.1920, RGBl. 1920, S. 805–839; später »Wohnungsgeldzuschuß« nach § 9 Abs. 1 und § 11 des Reichsbesoldungsgesetzes vom 16.12.1927, RGBl. 1927 I S. 349–355. Gebührnisordnung, Anlage 1 zu den Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31.3.1919, AVBl. 1919 S. 263–282 (268–270). Erlass über die Neuregelung der Unterkunftsabzüge vom 16.4.1922, HVBl. 1922 S. 167–172 (172).
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
– seine Familie wie zuvor im Kaiserreich (und ganz anders als heute) den Lebensmittelpunkt bilden. Die Garnison-Verwaltungsordnung regelte das abgeschottete Kasernenleben wie ein kleines Reststück des absolutistischen »Policey-Staats«, wovon der Abschnitt über die Gartenbewirtschaftung pars pro toto Zeugnis ablegen kann: So war die »Unterhaltung der mit Dienstwohnungen überwiesenen Gärten […] Sache der Nutznießer«, insbesondere durften »das Verschneiden der Bäume, Rosen, Spaliere und Hecken sowie das Entraupen derselben nicht für fiskalische Rechnung durch Arbeiter der Heeresverwaltung stattfinden« (Nr. 148). »Nachpflanzungen« gingen hingegen »ohne weiteres in das Eigentum des Reichs-(Militär-)Fiskus über« (Nr. 154). »Das zur Pflege […] notwendige Wasser« wurde »in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen bereitgestellt wie das sonstige Wirtschaftswasser auf dem Grundstück«, wobei jedoch »Hydranten und Zubehör […] hierfür nicht in Betracht« kamen, »da sie lediglich Feuerlöschzwecken dienen« (Nr. 155). Auch die »Pflege und Unterhaltung der zur Einfriedung dienenden Hecken« oblag den Nutznießern (Nr. 156). »Kästen zum Einpflanzen von Blumen und Schutzgitter für Blumentöpfe« durften »auf den äußeren Fensterabdeckungen angebracht werden«. Sie mussten »aber so eingerichtet und befestigt sein, daß nichts herunterfallen kann.« Es war »darauf zu achten, »daß bei einem und demselben Gebäude oder bei einer zusammenhängenden Gruppe von Gebäuden die Blumenkästen und -Gitter in ihrer äußeren Erscheinung (Stoff, Ausstattung, Anstrich, Höhe) möglichst übereinstimmen. Kosten dürfen aus der Aufstellung von Blumenkästen usw. der Reichskasse nicht erwachsen«. Insbesondere aber durften »Blumentöpfe […] ohne Gitter nicht aufgestellt werden« (Nr. 159). Diese und viele weitere Regelungen, die man höchstens in einer Hausordnung vermuten würde, traf die Garnison-Verwaltungsordnung für die Reichswehrangehörigen aber von zentraler Stelle. Der starken dienstrechtlichen Bindung des Soldaten an den Standort entsprach § 9 Abs. 1 BGB, der den zivilrechtlichen Wohnsitz eines Reichswehrsoldaten auf den Garnisonort gesetzlich festlegte und einen gewillkürten Wohnsitz nach § 7 BGB ausschloss.255 Unter den Bedingungen des Freiwilligenheeres spielte auch § 9 Abs. 2 BGB, der Soldaten vom gesetzlichen Wohnort nach Abs. 1 ausnahm, »die nur zur Erfüllung der Wehrpflicht« dienten, keine Rolle mehr. In der Folge war vor allem der allgemeine Gerichtsstand des Wohnsitzes nach § 13 ZPO für die Reichswehrsoldaten an ihrem jeweiligen Garnisonort begründet, so dass sie ihn bei eventuellen Zivilklagen gegen sie für gewöhnlich nicht verlassen mussten.256 Die dienstherrlichen Eingriffe in das Privat- und Gesellschaftsleben der Soldaten machten allerdings nicht am Kasernentor halt. So stellte die Standortsdienst-Vorschrift von 1922257 bereits unter Nr. 3 ihrer Einleitung klar: »Die Standortältesten sind befugt, den Soldaten den Besuch bestimmter Wirtschaften oder die Teilnahme an bestimmten 255
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§ 9 Abs. 1 sprach von »Militärperson«, worunter nach § 4 Abs. MStGB die »Personen des Soldatenstandes und die Militärbeamten« zu verstehen waren; nach § 43 WG galten die Soldaten der Reichswehr als Personen des Soldatenstandes im Sinne der bisherigen gesetzlichen Vorschriften. Das entspricht im Übrigen dem heutigen Rechtszustand, seit die allgemeine Wehrpflicht für die Bundeswehr ausgesetzt worden ist. Entwurf der Standortsdienst-Vorschrift, H. Dv. 131, genehmigt am 31.3.1922.
9. Freizügigkeit und Bewegungsfreiheit
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Veranstaltungen (öffentlichen oder nicht-öffentlichen Festlichkeiten, Tanzlustbarkeiten usw.) innerhalb des Standortes aus Gründen der Manneszucht zu verbieten.« Auch sei erneut daran erinnert, dass die »Standortältesten […] die Grenzen der Umgebung des Standorts (Standortbezirk)« bestimmten, »innerhalb deren die Angehörigen der Wehrmacht Bewegungsfreiheit in ihrer dienstfreien Zeit und bei Tages- und Nachturlaub« hatten.258 Der Standort konnte also, selbst wenn am Wochenende Tages- und Nachturlaub gewährt wurde, nicht ohne Weiteres verlassen werden. Hinzu kam das traditionelle Institut das Zapfenstreichs, das die Reichswehr mit nur geringen Erleichterungen übernahm. Darunter verstand man die Pflicht des Soldaten, am Abend zu einer bestimmten Uhrzeit in der Unterkunft zu sein. Der Zapfenstreich wurde in der Reichswehr (wie das Wecken) durch einen Spielmann an der Wache geblasen oder geschlagen »als Zeichen für Beginn und Ende der Nachtruhe«. Nach der Urlaubsordnung vom 15. Mai 1920 unterlagen ursprünglich grundsätzlich nur »Mannschaften mit einer geringeren als zweijährigen Dienstzeit« (gemeint ist die bereits geleistete Dienstzeit) dem Zapfenstreich, der auf »10 Uhr abends« festgelegt wurde.259 Doch schon am 26. August 1920 dehnte Seeckt den Zapfenstreich auf sämtliche Mannschaften und Unteroffiziere mit Ausnahme der Unterfeldwebel (bei Artillerie und Kavallerie »Unterwachtmeister«) und aller Portepeeunteroffiziere (also vom Feldwebel aufwärts) aus. »Für Mannschaften mit einer geringeren als fünfjährigen Dienstzeit« wurde »der Zapfenstreich im Sommer (1. Mai bis 30. September) auf 11 Uhr, im Winter (1. Oktober bis 30. April) auf 10 Uhr abends festgesetzt«. Alle übrigen, dem Zapfenstreich unterliegenden Mannschaften und Unteroffiziere, mussten »bis 12 Uhr nachts in das Quartier zurückgekehrt sein«.260 Der Zapfenstreich wurde also personell ausgedehnt, dafür aber zeitlich gelockert, was wohl eine Konzession an die Erfordernisse des Freiwilligenheeres war. Zum Vergleich: Nach der alten Garnisondienst-Vorschrift von 1902 war der Zapfenstreich einheitlich auf 21 Uhr festgelegt gewesen.261 Erforderten jedoch »dienstliche Gründe die Einhaltung des Zapfenstreichs auch von den übrigen Angehörigen der Truppe«, so waren nach dem Erlass Seeckts »die Disziplinarvorgesetzten berechtigt, dies anzuordnen«.262 Auch konnten nach einem ergänzenden Erlass vom 30. Dezember 1920 »die Kommandeure der Regimenter und selbständigen Verbände die Rückkehr aller Truppenangehörigen ins Quartier zu einer früheren Stunde als der des Zapfenstreiches anordnen, wenn besonderer Anlaß, z. B. frühe Übung am folgenden Tage, hierzu vorliegt«.263 Ein Vorstoß des Mannschaftsausschusses der Heereskammer im Juli 1921, alle Mannschaften und Unteroffiziere mit einer Dienstzeit ab fünfeinhalb Jahren vom Zapfenstreich zu befreien, blieb erfolglos. Zwar ließ das Truppenamt 258 259 260 261
262 263
Nr. 3 der Einleitung zur Standortdienst-Vorschrift, H. Dv. 131, vom 24.4.1925. Abschnitt V der Urlaubsordnung für das Reichsheer vom 15.5.1920, HVBl. 1920 S. 475–479 (479). Erlass des Chefs der Heeresleitung über den Zapfenstreich vom 26.8.1920, HVBl. 1920 S. 790. Siehe I. Teil, Nr. 78 der Garnisondienst-Vorschrift, D.V.E. Nr. 131, vom 15.3.1902, die im Übrigen bis zur Einführung der neuen Standortsdienst-Vorschrift 1922 grundsätzlich weitergalt, siehe hierzu das Schreiben des Reichswehrministeriums, Chef der Heeresleitung, Nr. 2385 4.21 T.2., Betr.: Garnisondienst-Vorschrift, vom 17.5.1921, BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 585. Erlass des Chefs der Heeresleitung über den Zapfenstreich vom 26.8.1920, HVBl. 1920 S. 790. Ergänzungen und Berichtigungen zur Urlaubsordnung vom 30.12.1920, HVBl. 1920 S. 1035–1036 (1036).
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
Stellungnahmen hierzu im unterstellten Bereich einholen;264 sie fielen aber überwiegend ablehnend aus. Der Infanterieführers der 7. (Bayerischen) Division etwa fasste die Ansicht der unterstellten Truppenteile so zusammen, dass neben »dienstlichen Gründen (Alarmbereitschaft, Erhaltung der Dienstfähigkeit, Störung der Nachtruhe der nicht ausgehenden Soldaten durch die zu unregelmässigen Zeiten Heimkehrenden) […] vor allem erzieherische Umstände« gegen den Vorschlag der Heereskammer sprächen: »Mit 5 ½ Dienstjahren ist der Soldat zwischen 23 und 25 Jahren, grösstenteils noch der Überwachung bedürftig und den Gefahren der heute besonders vorherrschenden Genusssucht gegenüber nicht widerstandsfähig genug. Was der Soldat über die auf 11 Uhr oder 12 Uhr festgesetzte Polizeistunde hinaus treibt, ist in den meisten Fällen nichts Gutes. Der Nachturlaub ist daher ein wichtiges Erziehungsmittel, auf das heute nicht verzichtet werden kann.« Die Stellungnahme schloss mit dem Hinweis, »dass die Regelung des Zapfenstreiches die Heereskammer nichts angeht«.265 Damit blieb es in der Reichswehr bei der von Seeckt getroffenen Regelung des Zapfenstreichs. Das Bestreben, den Soldaten und gegebenenfalls seine Familie möglichst nah an seiner Dienststätte unterzubringen, war sicherlich in erster Linie dem Bedürfnis geschuldet, die Truppe bei Bedarf auch in Anbetracht der damals zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel zügig in Bereitschaft versetzen zu können. Ähnlich wie bei der Heiratserlaubnis und der umfassenden Pflicht zum Tragen der Uniform zeigte sich hier aber auch, wie die Reichswehr noch immer ein eher ganzheitliches Berufsbild pflegte. Dieser Ansatz setzte sich mit der Regelung des Vorgesetztenverhältnisses fort, das nicht auf die Dienstzeit beschränkt war und an späterer Stelle noch eingehend behandelt wird.266 Die erst mit der Neuzeit aufgekommene Idee von »Freizeit« als ein nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich vom Arbeitsplatz getrennter Lebensbereich, konnte sich im deutschen Militär somit nur verzögert durchsetzen.267
10. Religionsfreiheit und Militärseelsorge Die Weimarer Reichsverfassung beschränkte sich nicht auf die Gewährung einer Glaubens- und Gewissensfreiheit, sondern regelte das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften umfassend und legte damit das Fundament für ein religionsverfassungsrechtliches Modell, das Art. 140 GG beinahe vollständig inkorporiert hat und das damit in seinen Grundsätzen bis heute gilt.268 264 265 266 267 268
Reichswehrministerium – Chef der Heeresleitung – Truppenamt, Nr. 1582.7.21 T 2 IV.«, vom 21.7.1921, BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 585. Infanterieführer der 7. (Bayerischen)Division, II/Nr. 7571, Betreff: Zapfenstreich (Zu W.K.Tages-Bef.v.2.8.21 Ziff.1.), vom 25.8.1921, BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 585. Siehe Kapitel IV.4. unter Buchstabe c). Der Begriff wurde in einem deutschen Wörterbuch erstmals 1865 erwähnt, siehe hierzu Opaschowski, Freizeit. Einzig Art. 140 WRV (Recht auf freie Zeit zur Religionsausübung) wurde nicht inkorporiert, da es bei der Entstehung des Grundgesetzes noch keine deutschen Streitkräfte gab; siehe aber § 36 S. 1 des Soldaten-
10. Religionsfreiheit und Militärseelsorge
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Nach Art. 135 Abs. 1 WRV genossen alle Bewohner des Reichs »volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz. Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon unberührt.« Der Schrankenvorbehalt wurde weiter in Art. 136 Abs. 1 WRV konkretisiert: »Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.« In Bezug auf die beschränkenden »allgemeinen Staatsgesetze« ergaben sich die gleichen Abgrenzungsfragen wie bei der Meinungsfreiheit (Art. 118 Abs. 1 WRV).269 Gleiches galt für Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV, wonach jede Religionsgesellschaft »ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes« ordnen und verwalten durfte. Dabei handelte es sich in gewisser Hinsicht um das korporative Pendant zur individuellen Religionsfreiheit. Die Bestimmungen des Wehrgesetzes waren insofern allgemeine Staatsgesetze, als sie sich nicht final gegen die Bekenntnisfreiheit oder ein Bekenntnis als solches richteten; darüber hinaus griff auch hier der besondere Schrankenvorbehalt des Art. 133 Abs. 2 S. 2 WRV. Art. 136 Abs. 2 errichtete ein besonderes Diskriminierungsverbot: »Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis.« Der negativen Religionsfreiheit verlieh Abs. 4 besonderen Ausdruck: »Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.« Art. 137 Abs. 1 WRV wiederum etablierte das »Trennungsprinzip«: »Es besteht keine Staatskirche«. Damit wurden vor allem die letzten Reste eines Staatskirchentums beseitigt, wie sie vor allem in Form des protestantisch-landesherrlichen Kirchenregiments in Preußen fortbestanden hatten.270 Für die Reichswehr von besonderer Bedeutung war schließlich Art. 141 WRV: »Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge im Heer, in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang fernzuhalten ist.« Die Vorschrift erfasste ihrem Sinn und Zweck nach auch die Marine und bildete den verfassungsrechtlichen Dreh- und Angelpunkt für die Militärseelsorge in der Reichswehr.271 Dass die Militärseelsorge in dieser Form überhaupt in die Reichsverfassung Eingang fand, verdankte sie in erster Linie dem Geheimen Kriegsrat Paul Semler als Vertreter des preußischen Kriegsministeriums, der sich dafür im Verfassungsausschuss neben Mitgliedern der DNVP und des Zentrums stark gemacht hatte.272 Das Ansinnen dieser Parteien, über ein bloßes Zugangsrecht hinaus die staatlich organisierte Militärseelsorge als Institutsgarantie in die Verfassung aufzunehmen, hatte der Verfassungsausschuss hingegen mit Stimmengleich-
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gesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 30.5.2005 (BGBl. 2005 I S. 1482–1509), geändert durch Art. 8 des Gesetzes vom 28.8.2013 (BGBl. 2013 I S. 3386–3392). Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 135, Anm. 6, Art. 136, Anm. 1. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 137, Anm. 1. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 141, Anm. 1. Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 521 f.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
heit abgelehnt.273 Nach der überwiegenden Auffassung ließ das Recht der Religionsgemeinschaften auf Zugang zur Militärseelsorge aber die Möglichkeit des Reiches unberührt, »die religiöse Versorgung der in Betracht kommenden Personenkreise […] selbst in die Hand zu nehmen […], wie denn auch das aus der Vergangenheit überkommene Militärkirchenwesen nicht beseitigt worden ist und wie früher auch jetzt noch an staatlichen und anderen öffentlichen Anstalten […] Geistliche kraft eines nicht sowohl kirchenamtlichen als staats- bzw. kommunalamtlichen Auftrags tätig sind.« Insbesondere durfte das Reich hierzu »Geistliche der betreffenden Religionsgesellschaften oder einzelner Religionsgesellschaften […] nicht nur ›zulassen‹, sondern amtlich berufen und anstellen«.274 Dieser Auffassung entsprechend wollte das Reichswehrministerium an dem tradierten Militärkirchenwesen festhalten, wobei es insbesondere mit der katholischen Kirche zu Kollisionen kam, als sie auf ihr Selbstverwaltungsrecht aus Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV sowie auf ihr Recht auf Zugang zur Militärseelsorge pochte. Wegen des Grundsatzes der normativen Kontinuität ist auch hier die rechtliche Ausgangslage des Kaiserreiches wichtig. Die Reichsverfassung von 1871 hatte in Art. 61 Abs. 1 ausdrücklich die »Militair-Kirchenordnung« vom Auftrag ausgenommen, das Militärrecht nach preußischem Muster zu vereinheitlichen, so dass die kontingentale Rechtszersplitterung erhalten blieb. Im preußischen Heer waren das evangelische Militärkirchenwesen ebenso wie das katholische (auf Grundlage von Vereinbarungen mit dem Heiligen Stuhl) exemt gewesen, das heißt die überwiegend konfessionell gebundenen Soldaten waren kirchlich aus den Strukturen der jeweiligen Landes- oder Ortskirche herausgelöst und mitsamt ihrer Familienangehörigen in Militärkirchengemeinden eingebunden gewesen.275 So hatten die preußischen Soldaten insbesondere auch nicht zu den Lasten der Ortskirchengemeinden beitragen müssen. Für die protestantische Militärseelsorge unter Führung eines Feldpropstes hatten Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts die Grundlage gebildet;276 in Hinblick auf die katholischen Soldaten im preußischen Heer hatte der Heilige Stuhl nach vorherigen Verhandlungen am 24. Oktober 1849 ein Apostolisches Breve erlassen, das der Ausgangspunkt für eine exemte katholische Militärseelsorge gewesen war.277 An der Spitze des katholischen Militärkirchenwesens hatte ebenso ein – hier mit Bischofswürde ausgestatteter – Feldpropst gestanden, der auch die Jurisdiktionsgewalt ausgeübt und gleichberechtigt neben den Ortsbischöfen Preußens rangiert hatte. In Württemberg hatte man sich erfolgreich gegen die vom preußischen Kriegsministerium erwünschte Exemtion der Militärseelsorge gewehrt,278 Sachsen jedoch hatte sich an 273 274 275
276 277 278
Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 208. Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 141, Anm. 2. Siehe die evangelische militärkirchliche Dienstordnung (E.M.D.) für die preußische Armee vom 17.10.1902, abgedruckt bei Huber/Huber, Staat, Band 3, S. 209–228; ebenso die im Wesentlichen inhaltsgleiche katholische militärkirchliche Dienstordnung (K.M.D.) vom 17.10.1902, entsprechende Abweichungen abgedruckt ebenda S. 228 f. §§ 278 f. II 11 PrALR. Güsgen, Militärseelsorge, S. 23 f.; Schwamborn, Militärkirchenrecht, S. 525–528. Siehe Art. 10 Abs. 3 der Militair-Konvention zwischen dem Norddeutschen Bunde und Württemberg vom 21./25.11.1870, BGBl. 1870 S. 658–662 (= Huber, Dokumente, Band 2, S. 339–342).
10. Religionsfreiheit und Militärseelsorge
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dem preußischen Vorbild orientiert.279 In Bayern hingegen hatte es zwar für die Unteroffiziere und Mannschaften Militärseelsorger, aber keine Militärkirchengemeinden gegeben: Damit hatten alle Angehörigen des bayerischen Heeres mitsamt ihrer Familie zur jeweiligen katholischen Orts- oder evangelischen Landeskirche gehört.280 Die eigene Konfession hatte für die meisten Menschen im Bismarckreich in einer Weise identitätsstiftend gewirkt, wie das heute bei weitem nicht mehr so selbstverständlich ist. Für die Katholiken war dabei vor allem der Kulturkampf prägend gewesen. Transalpin orientiert hatten sie ihren Glauben jedoch nicht annähernd in so enger Weise mit ihrem Staatsverständnis verknüpft, wie bei den evangelischen Christen der verschiedenen Landeskirchen, deren Summepiskopat vom jeweiligen Landesherrn in Einheit von Thron und Altar ausgeübt worden war. Ganz besonders hatte dies für Preußen und den dortigen wilhelminischen Kulturprotestantismus gegolten. Manfred Messerschmidt geht sogar so weit zu sagen, dass das »Ende der Monarchie, die Beseitigung der Staatskirche […] für das lutherische Staatsbewußtsein vielleicht einen noch schmerzlicheren Verlust [bedeuteten] als die Kommandoaufgabe des Obersten Kriegsherrn für das hergebrachte, vielfach naive politische Bewußtsein der Offiziere«.281 Das Ende des protestantisch-landesherrlichen Kirchenregiments282 sowie des kaiserlichen Kontingentheeres und die darauf folgende Gründung der Reichswehr stellten die bisher zwischen den Einzelstaaten und den Religionsgemeinschaften getroffenen Vereinbarungen zunächst in Frage.283 Anders als dem Zentrum, der Volkspartei und den Deutschnationalen war den unabhängigen wie auch den Mehrheitssozialdemokraten beim Aufbau der Reichswehr die Fortführung der Militärseelsorge ein Dorn im Auge, von den Kommunisten noch ganz zu schweigen. Die USPD etwa ätzte im Reichstag: »Dann müßte die Feuerwehr auch besondere Geistliche haben!«284 Vor allem aber hatten die Kritiker den moralischen Rüstungsbeitrag vor Augen, den die überwiegend nationalbewussten Feldgeistlichen im Sinne der militärischen Führung zum Weltkrieg geleistet hatten.285 Doch sowohl das Reichswehrministerium unter Geßler als auch die evangelischen Kirchen in Deutschland bemühten sich um Kontinuität: Da eine schnelle, unitarische Neuordnung vor dem Hintergrund des sich erst formierenden Deutschen Evangelischen Kirchenbundes nicht zu erwarten war, kam man bereits 1920 überein, die jeweiligen Ordnungen der 279
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Vogt, Religion, S. 293–303. Siehe auch die Evangelisch-Lutherische militärkirchliche Dienstordnung für die Königlich Sächsische Armee vom 2.4.1911, abgedruckt bei Huber/Huber, Staat, Band 3, S. 234–239; ebenso die katholische militärkirchliche Dienstordnung für die Königlich Sächsische Armee vom 10.10.1912, abgedruckt ebenda S. 239–242. Güsgen, Militärseelsorge, S. 33–35; Richter, Militärkirchenrecht, S. 523. Messerschmidt, Aspekte, S. 66. Siehe hierzu Huber/Huber, Staat, Band 4, S. 33–36 und S. 47–50. Mit den Bundesstaaten unter preußischer Militärverwaltung hatte Preußen Militärkirchenkonventionen geschlossen, siehe Richter, Militärkirchenrecht, S. 521. Für die katholische Kirche galt etwa in Hinblick auf Preußen das auf vorherige Verhandlungen zurückgehende Apostolische Breve vom 24.10.1849, siehe Güsgen, Militärseelsorge, S. 23 f. Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 559. Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 558 f.; Band 345, S. 653 f. Siehe auch Messerschmidt, Aspekte, S. 66.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
Kontingentstaaten zunächst in Kraft zu lassen, wobei jedoch der Preuße Erich Schlegel zum Feldpropst für die gesamte Reichswehr ernannt wurde.286 Erst im Jahr 1929 konnte mit den Landeskirchen eine neue, reichseinheitliche und inhaltlich entschlackte evangelische militärkirchliche Dienstordnung (E.M.D.) vereinbart werden. Die dazugehörigen Ausführungsbestimmungen erließ das Reichswehrministerium; sie regelten auf der Grundlage der neuen E.M.D. das, was von Reichs wegen unbeschadet landeskirchlicher Zuständigkeiten bestimmt werden konnte und musste, um die Durchführung der Militärseelsorge innerhalb der Reichswehr sicherzustellen.287 Die neue Vorschrift nahm auf die geänderte Verfassungslage und insbesondere die Religionsfreiheit der Soldaten, aber auch auf das fortbestehende Bedürfnis der Landeskirchen in Württemberg, Sachsen und Bayern nach primär theologischen Aufsichtsrechten Rücksicht.288 Sie beließ es ausdrücklich bei den separaten Militärgemeinden, in denen die Reichswehrangehörigen nach den bisherigen Vereinbarungen zwischen Reich und Landeskirchen Mitglied waren.289 Vor allem in den Aufgabenbeschreibungen für Feldgeistliche nahmen sich die neue E.M.D. und die dazu ergangenen Ausführungsbestimmungen zurück: Die früher vorgesehenen Fahnenweihen entfielen allein schon, weil es in der Reichswehr keine Truppenfahnen mehr gab; aber auch von »Abendstunden zur Pflege christlicher und vaterländischer Gesinnung« war nun keine Rede mehr.290 Sehr viel schwieriger gestalteten sich die Bemühungen Geßlers um eine Vereinheitlichung der katholischen Militärseelsorge, die erforderlich wurde, als die katholischen Bischöfe in Deutschland im Jahr 1920 nach der Zurruhesetzung des bisherigen katholischen Feldpropstes für das preußische Heer auf eine Neuregelung anstelle einer schlichten Neubesetzung drängten. Nach Darstellung des Reichswehrministeriums waren im Jahr 1922 rund 24.000 (von insgesamt 100.000) Heeres- und 3.400 (von insgesamt 15.000) Marinesoldaten katholisch.291 Damit waren die Katholiken verglichen mit den Zahlen der Volkszählung von 1925, wonach 32,4 % der Reichsbevölkerung katholisch waren,292 im Heer leicht und in der Marine (die ja von Beginn an eine Reichseinrichtung und damit stärker preußisch dominiert war) noch etwas stärker unterrepräsentiert. Bei der Suche nach einer reichseinheitlichen Lösung für die katholische Militärseelsorge traten – wie schon so oft – das bayerische und das preußische Modell zueinander in Konkurrenz. Hier favorisierte das Reichswehrministerium unter Geßler – selbst Katholik – eine exemte Militärseelsorge nach preußischem Vorbild. Dabei scheint die eigentlich treibende Kraft weniger der Minister selbst als 286 287 288 289 290 291 292
Huber/Huber, Staat, Band 4, S. 261–264. Evangelische militärkirchliche Dienstordnung für das Reichsheer und die Reichsmarine (E.M.D.) vom 28.2.1929 (= RGBl. 1929 II S. 141 f.) mit Ausführungsbestimmungen (A.B.), H. Dv. 370, S. 8, Fn. 1. Huber/Huber, Staat, Band 4, S. 264 f. Abschnitt A Nr. 1 der Evangelischen militärkirchlichen Dienstordnung für das Reichsheer und die Reichsmarine (E.M.D.) vom 28.2.1929 (= RGBl. 1929 II S. 141 f.) mit Ausführungsbestimmungen (A.B.), H. Dv. 370. So § 121 der evangelischen militärkirchlichen Dienstordnung (E.M.D.) für die preußische Armee vom 17.10.1902, abgedruckt bei Huber/Huber, Staat, Band 3, S. 209–228 (223). Schreiben des Leiters der Rechtsabteilung des Reichswehrministeriums, Wirkl. Geheimer Kriegsrat Dr. Grünwald, an das Auswärtige Amt, Nr. 737.2.22 RA III.II Ang., vom 8.4.1922, PA AA R 72261. Statistik des Deutschen Reichs, Band 401, S. 618 f.
10. Religionsfreiheit und Militärseelsorge
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die Rechtsabteilung des Reichswehrministeriums unter Leitung des Wirklichen Geheimen Kriegsrats Friedrich Grünwald gewesen zu sein.293 Die katholischen Bischöfe hingegen hielten die Exemtion vor allem deswegen für überflüssig, da in dem stark verkleinerten Heer ohnehin nur noch sehr wenige Militärgeistliche hauptamtlich beschäftigt werden konnten und die Militärseelsorge daher weit überwiegend Ortsgeistlichen im Nebenamt zufiel. So waren für die Reichswehr des Jahres 1920 lediglich je sechs hauptamtliche katholische und evangelische Militärgeistliche vorgesehen.294 Diese kleine Schar katholischer Priester wollte der deutsche Episkopat – schon um der Einheit des Klerus willen – nicht auch noch von der Jurisdiktion des Ortsbischofs befreit und unter die eines Feldpropstes gestellt sehen. Mit dieser Auffassung setzten sich die Bischöfe in der römischen Kurie durch, deren Konsistorialkongregation295 am 14. Oktober 1920 die Exemtion der preußischen Militärseelsorge aufhob.296 Da der deutsche Episkopat mit dem Reichswehrministerium formell nur über Rom, die deutsche Nuntiatur (anfangs noch in München) und das Auswärtige Amt verkehren konnte, verlief die Kommunikation zunächst recht schleppend. Mit Schreiben vom 16. Februar 1921 übermittelte Nuntius Eugenio Pacelli (der spätere Papst Pius XII.), die bereits im Vorjahr erarbeiteten Vorschläge der deutschen Bischöfe »zur Organisation der katholischen Reichswehrseelsorge« an Reichsaußenminister Simons.297 Sie entsprachen mit Ausnahme der fehlenden Exemtion bereits im Wesentlichen der Organisationsstruktur, wie sie die katholische Militärseelsorge 1935 durch das Breve Decessores Nostros erhielt.298 Während insbesondere das Argument der Bischöfe mit der nach Art. 137 WRV veränderten Verfassungsrechtslage den zuständigen Referenten im Auswärtigen Amt überzeugen konnte,299 scheiterte eine rasche Einigung jedoch am massiven Widerstand der zuständigen Rechtsabteilung des Reichswehrministeriums, das auf angeblich schlechte Erfahrungen mit der bayerischen Militärseelsorge im Weltkrieg verwies, vor allem aber mit der Aufhebung der Exemtion einen inakzeptablen Kontrollverlust befürchtete.300 Auch das Reichsinnenministerium, das am 22. Juli 1922 auf Vorschlag des Auswärtigen Amtes die Federführung in dieser Angelegenheit übernahm, konnte keine Vermittlung zwischen den konträren Standpunkten errei293
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So scheint Geßler seinen Widerstand gegen die Exemtion im August 1923 zumindest vorübergehend aufgegeben zu haben, wie aus der Abschrift seines Schreibens an den Reichsinnenminister, № 322.7.23 RA.III., PA AA R 72261. Insofern scheint es durchaus möglich, dass der Minister sich hier wie so oft nicht gegen seinen Apparat durchsetzen konnte. So nach Auskunft von Reichswehrminister Geßler, Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 559. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die »Kongregation für die Bischöfe«. Güsgen, Militärseelsorge, S. 49–51. Schreiben des Apostolischen Nuntius in Deutschland, Eugenio Pacelli, an Reichsaußenminister Simons, nebst Anlage »Vorschläge zur Organisation der katholischen Reichswehrfürsorge«, vom 16.2.1921, PA AA R 72261. Breve »Decessores Nostros« vom 19.9.1935, Acta Apostolicae Sedis, Band 27, S. 367–373. Vorlage einer Aufzeichnung des Referenten Prof. Richard Delbrück an den Reichsaußenminister, Zu II Va. 578., vom 17.8.1921, PA AA R 72261. Siehe die Abschrift des 29-seitigen Schreibens des Leiters der Rechtsabteilung des Reichswehrministeriums, Wirkl. Geheimer Kriegsrat Dr. Grünwald, an den preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Nr. 130.12.21.R.A.III., vom 7.2.1922, PA AA R 72261.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
chen.301 Die folgenden Jahre waren für die katholische Militärseelsorge von einer rechtlichen Unsicherheit geprägt, die jedoch von einer ungebrochenen Praxis überdeckt wurde, die sich zunächst auf die alte preußische katholische militärkirchliche Dienstordnung (K.M.D.) vom 17. Oktober 1902 stützte, bis der Reichswehrminister am 1. Oktober 1929 die neue evangelische militärkirchliche Dienstordnung »bis auf weiteres entsprechend auch für das Ausüben der katholischen Militärseelsorge« anwendbar erklärte.302 Versuche, eine neue katholische militärkirchliche Dienstordnung zu schaffen, führten zu keinem Ergebnis; einen 1932 vorliegenden Entwurf setzte das Reichswehrministerium nicht in Kraft.303 Diese Phase der rechtlichen Unklarheit endete letztlich erst mit dem Abschluss des Reichskonkordates vom 20. Juli 1933 und der dort vereinbarten Wiederherstellung der kirchenrechtlichen Exemtion,304 dessen Vorbereitungen allerdings bereits im Jahr 1926 und damit lange vor der »Machtergreifung« durch Aufnahme direkter Gespräche zwischen Reichsregierung und Heiligem Stuhl begonnen hatten. Eine katholische Militärseelsorge als in sich geschlossene Organisation innerhalb der Reichswehr gab es vom Ende ihrer Exemtion an also nur noch im staatlichen, nicht mehr im kanonischen Sinne. Die katholischen Reichswehrangehörigen wie auch die verbeamteten katholischen Militärgeistlichen unterstanden damit kirchlich der Jurisdiktionsgewalt des Ortsbischofs. Als ihr Vertreter gegenüber dem Reichswehrministerium benannte die Konsistorialkongregation im Oktober 1920 den Bischof von Paderborn, Caspar Klein, der nach dem Willen der Kirche auch die »oberste Leitung der Militärseelsorge« wahrnehmen sollte.305 Diesem Wunsch entsprachen allerdings nicht die überkommenen staatlichen Strukturen der katholischen Militärseelsorge, an denen das Reichswehrministerium weiter festhielt: Nachdem der preußisch-katholische Feldpropst Heinrich Joeppen 1920 aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand getreten war und die Kirche keinen Nachfolger benannt hatte,306 führte sein bisheriger Stellvertreter, Generalvikar Paul Anton Josef Schwamborn,307 die Geschäfte der Feldpropstei dauerhaft weiter, jetzt aber für die gesamte Reichswehr und nicht nur für Preußen.308 Entsprechend trat auch er in ein 301 302 303 304 305 306
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Abschrift eines Schreibens des Reichsminister des Innern an den preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, I 2503., vom 22.7.1922, PA AA R 72261. HVBl. 1929 S. 115. Dünnwald, Reichsmilitärkirchenrecht, S. 29; May, Interkonfessionalismus, S. 72. Bekanntmachung über das Konkordat zwischen dem Deutschen Reich und dem Heiligen Stuhl vom 12.9.1933, RGBl. 1933 II S. 679–690. Siehe auch Huber/Huber, Staat, Band 4, S. 262 und 265. Abschrift eines Schreibens des Fürstbischofs von Breslau, Adolf Kardinal Bertram, an das Reichswehrministerium, vom 18.12.1920, PA AA R 72261. Siehe auch Güsgen, Militärseelsorge, S. 50. Abschrift der Abschiedsurkunde für den katholischen Feldpropst der Armee Dr. Joeppen vom 3.4.1920, PA AA R 72261. Zur Haltung der Kirche siehe das Schreiben des deutschen Botschafters beim päpstlichen Stuhle, Bergen, an das Auswärtige Amt, No. 72. auf den Erlaß No.II Va 424 vom 23.10.1920, 5.12.1920, PA AA R 72261. Schwamborn war am 25.6.1874 in Jüterbog geboren, Studium der Jurisprudenz in Marburg, Berlin und Bonn, Promotion zum Dr. iur. utr., Studium der Theologie in Bonn, Priesterseminar in Köln, seit dem 1.11.1903 Militärgeistlicher des Preußischen Heeres in verschiedenen Verwendungen; siehe das Schreiben des Reichswehrministers an den Reichsaußenminister, Nr. 1554.8.20.R.A., vom 16.9.1920, PA AA R 72261. Dünnwald, Reichsmilitärkirchenrecht, S. 27 f.
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Dienstverhältnis zum Reich; sein beamtenrechtlicher Vorgesetzter war wie bei den Protestanten der Reichswehrminister. Da das Reichswehrministerium Schwamborn schon seit 1920 als neuen Feldpropst installiert sehen wollte,309 dieser aber den deutschen Bischöfen nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes als eine »persona minus grata« galt, war das Stocken der Verhandlungen nicht zuletzt auf diese Personalfrage zurückzuführen.310 Dieses Hindernis entfiel erst mit der Zurruhesetzung Schwamborns Ende September 1929. Die Fuldaer Bischofskonferenz311 beschloss im selben Jahr auf Vorschlag des Chefs der Heeresleitung Heye,312 dass Franz Justus Rarkowski die Nachfolge antrat, ein Priester aus dem ostpreußischen Bistum Ermland, der schon im Weltkrieg als Militärpfarrer gedient hatte und der DNVP sehr nahe stand. Er übernahm die Geschäfte der staatlichen Feldpropstei und firmierte kirchlicherseits fortan als Beauftragter der Oberhirten für die Seelsorge an den Katholiken der deutschen Reichswehr. Im Jahr 1938 wurde er dann unter den Bedingungen des Reichskonkordats von den Nationalsozialisten zum katholischen Feldbischof für die Wehrmacht ernannt.313 Wie bei den Protestanten berief das Reichswehrministerium auch eine kleine Anzahl von katholischen Geistlichen in ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis als Militärpfarrer, die allerdings in erster Linie bei den Wehrkreisen und Marinestationskommandos koordinative Verwaltungsaufgaben wahrnahmen. Nach Aufhebung der Exemtion für Preußen war Generalvikar Schwamborn ihnen aber lediglich beamtendienstrechtlich und nicht kirchlich vorgesetzt. Die eigentliche Seelsorge für die verkleinerte Heerschar wurde hingegen von zivilen Standortpfarrern im Hauptoder Nebenamt wahrgenommen, die nicht in Reichsdiensten standen und für ihre kirchlichen Handlungen innerhalb des Reichswehrdienstbetriebs die Genehmigung ihres Ortsbischofs benötigten.314 Die katholischen Reichswehrangehörigen gehörten dabei aber grundsätzlich den zivilen Ortsgemeinden an, wenn nicht der jeweilige Ortsbischof ihnen eine eigene Personalmilitärgemeinde – als Glied seines Bistums und nicht exemt – einrichtete.315 Die Bemühungen Geßlers bei beiden großen christlichen Konfessionen um eine weitestgehend eigenständige Militärseelsorge für die Reichswehr waren dazu geeignet, die Soldaten auch religiös von der übrigen Gesellschaft abzukapseln. Auf die katholische Kirche übte das Reichswehrministerium immer wieder Druck aus, zur Exemtion der Militärseelsorge zurückzukehren, die es als Bedingung für ihren Unterhalt aus Reichsmitteln ansah: Schließlich führten die katholischen Reichswehr309
310
311 312 313 314 315
Schreiben des Reichswehrministers an den Reichsaußenminister, Nr. 1554.8.20.R.A., vom 16.9.1920, PA AA R 72261; Schreiben des Reichswehrministers an den Reichsaußenminister, Nr. 1988/12.20 R.A., vom 7.2.1921, PA AA R 72261. So die Einschätzung des Vortragenden Legationsrates Dr. Meyer in einer geheimen Aufzeichnung, Betreff: Neuordnung der katholischen Militärseelsorge bei der deutschen Wehrmacht, e.c. II vat. 1104., vom 4.12.1925, PA AA R 72261. Hierbei handelt es sich um einen Vorläufer der heutigen Deutschen Bischofskonferenz. Güsgen, Militärseelsorge, S. 297. Brandt, Rarkowski, S. 594 f.; Huber/Huber, Staat, Band 4, S. 262; Güsgen, Militärseelsorge, S. 297. Albert, Seelsorge, S. 57 f. Krieg, Militärseelsorge, Sp. 188.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
angehörigen nun regulär Abgaben an die Ortskirche ab, so dass das Reichswehrministerium im August 1921 damit drohte, der katholischen Militärseelsorge schlicht den Geldhahn zuzudrehen und ihre bestehenden staatlichen Strukturen ersatzlos abzuschaffen.316 Bei der Suche nach einem Kompromiss für ihre künftige Regelung bestand Geßler darauf, den Episkopat in wichtigen Fragen des Glaubensvollzugs der Soldaten lediglich zu beteiligen, also den Bischöfen kein Vetorecht einzuräumen. Das betraf beispielsweise die Festsetzung der allgemeinen Gottesdienstordnung (einschließlich der Bestimmungen des Gesangsbuchs), die Bestimmung, welche Tage als hohe kirchliche Feiertage zu gelten hatten, aber auch die allgemeine Regelung des Militärgottesdienstes durch Militärseelsorger sowie die Frage, inwieweit Reichswehrangehörige an Zivilgottesdiensten teilnehmen durften.317 Und in der Tat wurden viele dieser Punkte durch Dienstvorschrift geregelt. Zwar verbot Art. 141 WRV, der den Religionsgemeinschaften den Zugang zur Militärseelsorge zusicherte, dem Reich nach der damals überwiegenden Ansicht nicht, die »religiöse Versorgung« der Reichswehr selbst in die Hand zu nehmen und Militärgeistliche zu verbeamten. Gleichwohl konterkarierte Geßler mit dem Wunsch nach einem in sich geschlossenen, größeren Organismus von Militärseelsorge ein gutes Stück weit das Postulat der Reichsverfassung, dass keine Staatskirche mehr bestehe (Art. 137 Abs. 1 WRV). Aber auch unterhalb der Stufe des formellen Wehrgesetzes (das ja zur Religionsfreiheit und Militärseelsorge schwieg) und jenseits der zumindest mit den evangelischen Landeskirchen ausgehandelten militärkirchlichen Dienstordnungen wurde die Religionsfreiheit der Soldaten einseitig auf dem Vorschriftenweg angetastet. Dies geschah mitunter recht konkret und nicht nur aus allgemeinen, von der Religionsausübung losgelösten Erwägungen. So traf vor allem die Standortsdienst-Vorschrift detaillierte Regelungen für den Kirchenbesuch.318 Eingangs stellte sie zwar in Einklang mit Art. 135 Abs. 1 S. 2 WRV fest: »Den Angehörigen der Wehrmacht ist die nötige freie Zeit zur Erfüllung ihrer religiösen Pflichten zu gewähren.« Aber schon einen Absatz weiter wurde bestimmt, dass die Angehörigen der Wehrmacht nur dann an Zivilgottesdiensten teilnehmen konnten, wenn keine Militärgottesdienste abgehalten wurden. Die Anordnung von Gottesdiensten im Freien stand dem obersten Befehlshaber zu; der Kirchenbesuch hatte zudem in Uniform zu erfolgen.319 Auf die negative Religionsfreiheit (Art. 135 und Art. 136 Abs. 4 WRV) kam die Standortsdienst-Vorschrift jedoch nur implizit und eher negativ zu sprechen: »Die Freiwilligkeit der Teilnahme an dem Gottesdienst hebt die militärische Ordnung bei der Teilnahme, gleichgültig ob es sich um besondere Militärgottesdienste oder Zivilgottesdienste handelt, nicht auf. Die Mannschaften eines Truppenteils sind geschlossen zur Kirche hin und je nach den örtlichen Verhältnissen auch zurückzuführen. Verheiratete mit Frauen oder Kindern gehen für sich zur Kirche. […] Nach Bedarf ist zur Platzverteilung in der Kirche ein Offizier vom Kirchendienst zu kommandieren. […] Innerhalb der Kirche fallen 316 317 318 319
Güsgen, Militärseelsorge, S. 63 f. Güsgen, Militärseelsorge, S. 69. Teil II Abschnitt F des Entwurfs der Standortsdienst-Vorschrift, H. Dv. 131, genehmigt am 31.3.1922. Siehe auch Abschnitt D Teil III Nr. 20 der Anzugordnung für das Reichsheer (H.A.O.), H. Dv. 122, von 1929; in Kraft gesetzt durch Verfügung vom 1.3.1929, HVBl. 1929 S. 22.
10. Religionsfreiheit und Militärseelsorge
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militärischer Gruß und Sitzordnung nach dem Dienstgrad fort. Die Pflicht persönlicher Höflichkeit und Wohlanständigkeit darf dadurch nicht beeinträchtigt werden.« Inwieweit auf die Soldaten aber tatsächlich Druck ausgeübt wurde, zum Gottesdienst zu gehen, kann nachträglich nur skizziert werden. Dabei beugte die homogene Personalauslese der Reichswehr allzu großen Reibungen ohnehin von vornherein vor: Die Militärseelsorge stand nicht vor der Aufgabe, proletarische Sozialisten und Kommunisten zu betreuen. Noch dazu mussten sich die Verbände und Truppenteile der Reichswehr ja nach § 14 Abs. 1 WRV möglichst nach Landsmannschaft rekrutieren, was natürlich ein gutes Stück weit auch zu einer konfessionellen Homogenisierung vor Ort führte. Messerschmidt berichtet jedenfalls »nach den Worten eines Kenners«, dass man es mit der negativen Religionsfreiheit »im Schutze einer personalpolitisch gesicherten Identität der Anschauungen« in »der Praxis des Garnisonlebens […] nicht sehr genau« nahm.320 Das bestätigt auch der Blick auf einschlägige Befehle für Kirchenparaden, Gedächtnisfeiern etc., die wie selbstverständlich von einer geschlossenen Teilnahme der jeweiligen Truppenteile ausgingen und überhaupt keine Aussagen darüber trafen, was mit Soldaten geschehen sollte, die dort nicht hingehen wollten.321 Der Kommandeur des 19. (Bayerischen) Infanterie-Regiments (München), Oberst Friedrich Ritter v. Haack, wies in einer Mitteilung an die ihm unterstellten Bataillonskommandeure vom 14. Dezember 1921 auf einen für ihn typischen Fall hin, der für eine kommunistische Agitation in der Reichswehr spräche: »Einige Tage nach Abhaltung einer Kirchenparade, zu deren Beteiligung der Komp.Chef nachdrücklich mahnte, beklagte sich ein Mann mit der Äusserung ›es gäbe doch ein Gesetz, wonach niemand mehr zu einer religiösen Betätigung angehalten werden könne.‹ Der Mann ist nach Urteil seines Komp.Chefs geistig so veranlagt, dass er unmöglich aus sich selbst heraus sich mit derartigen Fragen befasst.«322 Von solchen Ausreißern einmal abgesehen orientierte sich das weltanschaulich eher gleichmäßige Gros der Mannschaften und Unteroffiziere am Beispiel ihrer Offiziere und Kommandeure, ohne dass nach Messerschmidt »eine genaue Grenze zwischen Freiwilligkeit und dienstlicher Anordnung gezogen oder bewußt geworden wäre«.323 In Hinblick auf die Praxis des Zapfenstreichs und Weckens kam es jedoch zu einer Entflechtung von Staat und religiöser Praxis. So hatte die Garnisondienst-Vorschrift von 1902 noch vorgesehen, dass die Wachmannschaften hierzu, nachdem der Spielmann entsprechend geschlagen oder geblasen hatte, vor dem Wachlokal antraten, ein Tambour zum Gebet schlug und die Wachmannschaft auf Kommando den Helm zum Gebet 320 321
322 323
Messerschmidt, Aspekte, S. 70. Siehe z. B. Befehl der Kommandantur der Landeshauptstadt München über die Teilnahme an der Gedächtnisfeier für die verstorbenen Mitglieder des Militär-Max-Josef-Ordens sowie der silbernen und goldenen Tapferkeitsmedaille in der St. Michaelskirche vom 7.10.1920, BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 585; oder aber den Befehl des Reichswehrministers für die Feierlichkeiten zum 80. Geburtstag Hindenburgs vom 22.9.1927, ebenda № 289, der hinsichtlich der großen Militärgottesdienste bemerkt: »Rege Beteiligung in Anbetracht der Bedeutung des Tages ist dringend erwünscht.« Kommandeur des 19. (Bayerischen) Infanterie-Regiments an Kdr. I./19; II./19, III./19; A./19 (Abdruck an Inf. Führer der 7.Div.); Betreff: Stimmung in der Truppe, vom 14.12.1921, BArch RH 37/782, fol. 72 f. Messerschmidt, Aspekte, S. 70.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
abnahm: »An dem stillen Gebet betheiligen sich alle anwesenden Militärpersonen.«324 Diese Passagen entfielen aber nach der Standortsdienst-Vorschrift von 1922 und tauchten auch in späteren Revisionen nicht mehr auf. Auch der Appell der alten Kriegsartikel an die Soldaten, »durch Gottesfurcht und ehrenhafte Führung in und außer Dienst ein Muster ordentlichen und rechtschaffenen Lebens« zu geben, erhielt in den neuen Berufspflichten des deutschen Soldaten keine Entsprechung.325 Anders verhielt es sich mit einem anderen kleinen Detail: Hatte man 1920 für das neue Einheitskoppel noch schlichte Schnallenschlösser eingeführt, so kehrte die Reichswehr 1925 – ohne dass darüber eine öffentliche Debatte geführt wurde – zum aufwendigen Kastenschloss nach preußischem Vorbild mitsamt der Umschrift »Gott mit uns« zurück, nur dass die preußische Krone nun durch den sechseckigen Republikadler ersetzt wurde.326 Die personelle Homogenität der Reichswehr bedeutete auch, dass in der Reichswehr nur ein verschwindend geringer Anteil von Juden diente. Im Massenheer des Ersten Weltkriegs hatte dagegen die weitestgehende Mobilisierung der männlichen Bevölkerung zum ersten Mal in der Geschichte auch eine nennenswerte Anzahl deutscher Juden zu den Fahnen gerufen. War diese Phase der deutschen Militärgeschichte einerseits von einem latenten, wenn auch nicht annihilatorischen Antisemitismus weiter Teile des Offizierkorps geprägt, so konnte andererseits das sich emanzipierende deutsche Judentum auch Teilerfolge wie die Einrichtung eines erstmalig institutionalisierten Feldrabbinats erreichen, zu dessen bedeutendstem Repräsentant Leo Baeck zählte.327 Dagegen war von einer jüdischen Militärseelsorge in der Reichswehr überhaupt keine Rede mehr. Der Vorsitzende des »Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten«, Leo Löwenstein, schrieb in seiner Verbandszeitung »Der Schild«, dass sich 1931 nur ganze acht jüdische Soldaten in der Reichswehr befänden, »obschon unserem Anteil an der deutschen Bevölkerung 34 Offiziere und 864 Mann entsprechen würden«.328 Entsprechend sporadisch kamen die Vorschriften der Reichswehr auf die religiösen Praktiken von Juden zu sprechen. So sah die Standortsdienst-Vorschrift von 1922 vor, dass »Soldaten jüdischen Glaubens […] an den hohen jüdischen Feiertagen vom Dienst zu befreien« waren und wandelte damit die entsprechende »Soll«-Vorschrift der alten Garnisondienst-Vorschrift immerhin in einen zwingenden Anspruch um.329 Aber schon die überarbeitete StandortdienstVorschrift von 1925 schränkte ein, dass »Juden […] an ihren Feiertagen« nur noch »von jedem nicht unerläßlichem Dienst zu befreien« waren.330 Weitaus weniger sporadisch als Juden trat dafür aber der Antisemitismus in der Reichswehr auf, besonders in den frühen Jahren und in bayerischen Truppenteilen. Schon der erste Chef der Heeresleitung, Generalmajor Reinhardt, sprach sich in seiner Abschiedsbot324 325 326 327 328 329 330
I. Teil, Nr. 79 der Garnisondienst-Vorschrift, D.V.E. Nr. 131, vom 15.3.1902. Art. 28 der Kriegsartikel für das preußische Heer vom 17.10.1902, AVBl. 1902 S. 279–284, abgedruckt bei Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 212–217. Schlicht/Kraus, Reichswehr, S. 335–338. Hank/Simon/Hank, Feldrabbiner, S. 7–13; Messerschmidt, Juden, S. 48–54. Rosenthal, Ehre, S. 141. Teil II Abschnitt F Nr. 4 des Entwurfs der Standortsdienst-Vorschrift, H. Dv. 131, genehmigt am 31.3.1922; vgl. dagegen Teil II Nr. 190 der Garnisondienst-Vorschrift, D.V.E. Nr. 131, vom 15.3.1902. Teil II Abschnitt O Nr. 69 der Standortdienst-Vorschrift, H. Dv. 131, vom 24.4.1925.
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schaft zwar gegen »gehässige, mit echtem Christentum unvereinbare Angriffe« gegen das Judentum aus, »deren Endziele unklar und unerreichbar sind«. Dagegen sei aber die »abwehrende Art des Antisemitismus« durchaus »zu loben«, die sich gegen den »Geist des Mammonismus, der Profitgier« richtete.331 Seeckt wird man eine ähnliche Einstellung hingegen nicht unterstellen können, war seine heißgeliebte Frau Dorothee doch jüdischer Herkunft.332 Gelegentlich beauftragten höhere Kommandobehörden, aber auch Reichswehrminister Noske den unterstellten Bereich, die grassierende Judenhetze im Blick zu behalten und gegen antisemitische Propaganda einzuschreiten. Antisemitismus wurde da allerdings in erster Linie als unerwünschte politische Agitation betrachtet, die aus dieser Sicht den parteiübergreifenden, staatstragenden Charakter der Reichswehr und ihre politische Neutralität diskreditieren konnte.333 Dementsprechend ergingen viele dieser Befehle auch mit dem Hinweis, die Einstellung zur »Judenfrage« an sich sei eine »Privatsache«.334 Der stellvertretende Führer der Reichswehr-Schützen-Brigade 21 (München), Oberstleutnant Aschauer, ging sogar noch weitaus unverhohlener vor: In einem Befehl vom 8. April 1920 teilte er mit, ihm sei gemeldet worden, »daß neuerdings wieder Zeitfreiwillige in Uniform in der Königinstraße antisemitische Flugblätter verteilt« hätten. Der Einzelne möge »über die jetzigen und die kommenden Verhältnisse denken, wie er will, in der Öffentlichkeit muß die Reichswehr politisch ungefärbt dastehen«. Gegenüber den Zeitfreiwilligen erbat er sich, ihn nicht in die ihm »peinliche Notwendigkeit zu versetzen«, das Verbot politischer Agitation »mit Strafen oder durch Entlassung durchdrücken zu müssen« – eine durchaus zögerliche Haltung für einen militärischen Disziplinarvorgesetzten. Das lag wohl daran, dass Aschauer seinem Befehl nach »keineswegs die reinen und idealen Beweggründe für die Handlungsweise der vereinzelt sich noch öffentlich in Uniform politisch betätigenden Zeitfreiwilligen« verkannte.335 Damit war aber nicht die »Einstellung zur Judenfrage«, also gegebenenfalls der Antisemitismus an sich ein Problem aus Sicht der Reichswehrführung, sondern nur dessen Artikulation. Entsprechend der Auffassung über die politischen Freiheiten der Soldaten vertrat sie auch hier die surreal-abstrakte Auffassung, selbst ein eingefleischter Antisemit könn331 332 333 334
335
Carsten, Reichswehr, S. 136 f. Darauf weist zutreffend hin Rosenthal, Ehre, S. 139, Fn. 57; siehe zu Seeckt auch NDB 24 (2010), S. 139 f.; dagegen hier ausnahmsweise irrig Messerschmidt, Juden, S. 55. Messerschmidt, Juden, S. 54–56. Befehl des Reichswehr-Gruppenkommandos 4 über antisemitische Bewegungen in der Truppe vom 16.10.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 245; Befehl des Chefs der Heeresleitung, Generalmajor Reinhardt, an die Reichswehr-Gruppenkommandos und Wehrkreiskommandos über die Beurteilung von Baltikumkämpfern und die Judenfrage vom 21.1.1920, abgedruckt ebenda S. 318 f.; Befehl des Oberbefehlshabers des Reichswehr-Gruppenkommandos 4, Generalmajor v. Möhl, über das politische Verhalten der Reichswehr vom 26.1.1920, abgedruckt ebenda S. 323; Befehl des Reichswehrministers Noske an die Oberbefehlshaber der Reichswehr-Gruppen und den Befehlshaber im Wehrkreis I über die Genehmigung von Flugblättern während des Ausnahmezustands vom 5.2.1920; abgedruckt ebenda S. 329; Befehl des Führers der Gruppe Haas, Generalmajor Haas, über antisemitische Propaganda der Truppe vom 8.4.1920, abgedruckt bei Hürten, Anfänge, S. 124 f. Befehl des stellvertretenden Führers der Reichswehr-Schützen-Brigade 21, Oberstleutnant Aschauer, über antisemitische Aktionen von Zeitfreiwilligen vom 8.4.1920, abgedruckt bei Hürten, Anfänge, S. 125.
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III. Politische und bürgerliche Grundrechte
te gleichwohl als braver Reichswehrsoldat der Republik dienen, solange er nur nach außen schwieg und keine Angriffsfläche für denjenigen bot, der die als parteiübergreifend-staatstragend gedachte Rolle der Reichswehr in Frage stellte. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Reichswehr auch auf dem Gebiet ihres Religionsrechts eine Rolle rückwärts zu machen versuchte. Jedenfalls in Hinblick auf die evangelische Militärseelsorge ist ihr das auch größtenteils gelungen, wobei aber die Auseinandersetzungen mit dem katholischen Episkopat über rechtliche Rahmenbedingungen einer Kontinuität in der katholischen Militärseelsorgepraxis nicht im Wege standen. Vor dem Hintergrund der starken personellen Homogenität fiel das Anknüpfen an bewährte Strukturen und Rechtsinstitute des Kaiserreiches leicht: Der Kulturkampf war zu Ende gekämpft, die Rollen von Protestantismus und Katholizismus im Militär waren bereits vor dem Krieg auf feste Grundlage gestellt worden. Die Reichswehr stand nicht vor der diffizilen Aufgabe, kollidierende Religionsfreiheiten gegeneinander abzuwägen und in ein ausgeglichenes Verhältnis zu überführen. Auch war die christliche Militärseelsorge als staatskirchliches Relikt weniger ein Ausdruck von Religionsfreiheit. Vielmehr wurde »der alte Kameradschaftsbund von Priester und Soldat« von den Militärpfarrern wie auch der Reichswehrführung primär in seiner identitätsstiftenden und »sittigenden« Funktion begriffen. Dieser funktionale Zugang zur Religiosität war hingegen durchaus eine Frucht von Kulturkampf und Kulturprotestantismus, geschah er doch »zum Besten des Soldaten, zum Wohle der Wehrmacht und zum Segen unseres Vaterlandes«.336 Die veränderte Verfassungslage schien man in der Rechtsabteilung des Reichswehrministeriums schlicht zu ignorieren: Das Streben nach einer exemten Militärseelsorge widersprach dem Geist des Art. 137 Abs. 1 WRV, der die Staatskirchen aufhob und eine prinzipielle Trennung forderte. Die Einmischungen bis in die gottesdienstliche Ordnung hinein entsprachen nicht dem in Art. 137 Abs. 3 WRV garantierten Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften. Art. 141 WRV wiederum, der den Religionsgemeinschaften ein eigenes Zugangsrecht zur Reichswehr einräumte, wurde mit der weitgehend staatlichen Organisation der Militärseelsorge weitgehend obsolet. So sind auch keine Fälle bekannt, in denen andere als die etablierten großen christlichen Konfessionen über das Zugangsrecht nach Art. 141 WRV eine Seelsorgetätigkeit in der Reichswehr entfalteten. Insbesondere galt dies für die Juden in Deutschland, deren teilweise militärgesellschaftliche Emanzipierung im Massenheer des Ersten Weltkriegs in der Reichswehr überhaupt keine Rolle mehr spielte. Das Heer der Weimarer Republik war kein Ort für, sondern eher gegen Juden. 336
Siehe hierzu beispielsweise den 1924 erschienenen Aufsatz des katholischen Militärpfarrers Albert, Seelsorge, S. 57–59, dem die zitierten Passagen entnommen sind. Ähnlich aber auch die mit Schreiben des Apostolischen Nuntius in Deutschland, Eugenio Pacelli, an Reichsaußenminister Simons, übermittelten »Vorschläge zur Organisation der katholischen Reichswehrfürsorge«, vom 16.2.1921, PA AA R 72261, wo es auf der letzten Seite heißt: »Die deutschen Bischöfe hegen zu dem Herrn Reichswehrminister das Vertrauen, dass [sic!] er diese Vorschläge in wohlwollende Erwägung zieht und in Anbetracht der überaus hohen Bedeutung, die die religiöse Einwirkung und die Gnadenmittel der Kirche für die Pflichttreue der Reichswehr haben, in Verein mit den Bischöfen diese Seelsorge den gegenwärtigen Zeitverhältnissen entsprechend ausgestaltet; das würde ein Eckstein sein beim Wiederaufbau des Vaterlandes.«
IV. MILITÄRSTRAFRECHT Der erste, wichtige Aspekt in Hinblick auf das Militärstrafrecht der Weimarer Republik ist die (teilweise) Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit im August 1920, wie sie bereits von Art. 106 WRV gefordert wurde. Hierbei ging es allerdings nicht allein um die Abschaffung eines gesonderten Gerichtszweiges, sondern vor allem um das besondere Strafverfahren, dem die Soldaten nach der Militärstrafgerichtsordnung (MStGO) von 1898 unterworfen gewesen waren. Es fiel gegenüber den rechtsstaatlichen Standards des zeitgenössischen Zivilstrafprozesses nach der RStPO deutlich ab, insbesondere was die Position des Angeklagten anbetraf. Dafür – oder auch deshalb – galt es als vergleichsweise straff und zügig, so dass die Strafe der Tat auf dem Fuß folgen konnte. Die gesetzgeberischen Vorhaben zur Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit wurden von erheblichen Kontroversen und vom Widerstand der konservativen Militäreliten begleitet. Im Ergebnis konnte sich das Militär nicht ganz unerhebliche Sonderrechte auch im zivilen Strafprozess bewahren. Der zweite, nicht minder wichtige Punkt ist die Ausgestaltung der Gehorsamspflicht, die auf dem fortgeltenden Militärstrafgesetzbuch aus dem Jahr 1872 fußte. Ihre Reichweite stand teilweise in Akzessorietät zu militärischen Dienstvorschriften, an denen sich die Unzufriedenheit der revoltierenden Soldaten im November 1918 wesentlich mitentzündete.
1. Die Entstehung der Militärstrafgerichtsordnung von 1898 Um die Geschichte der Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit verständlich werden zu lassen, scheint es angebracht, zunächst einmal zu schildern, was genau darunter zu verstehen war. Die Militärgerichtsbarkeit, wie sie zum Zeitpunkt ihrer Abschaffung am Beginn der Weimarer Republik bestand, beruhte auf der Militärstrafgerichtsordnung (MStGO) vom 1. Dezember 1898. War das Militärstrafgesetzbuch mit seinen materiellrechtlichen Strafbestimmungen schon 1872 verabschiedet worden, so hatte sich die Geburt seines prozessualen Bruders ganz erheblich verzögert. Auch hier hatten sich im Kontingentheer des Reiches ursprünglich vor allem ein preußisches und ein bayerisches Modell gegenübergestanden.1 Die bayerische Militärstrafgerichtsordnung von 18692 hatte die strafprozessualen Impulse der Revolution von 1848 aufgenommen und die Militärgerichtsbarkeit fortan eher bei der Judikative als bei der Kommandogewalt verortet. Das Institut des militärischen Gerichtsherrn, von 1
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Siehe § 5 des Vertrages, betreffend den Beitritt Bayerns zur Verfassung des Deutschen Bundes, nebst Schlußprotokoll, BGBl. 1871 S. 9–26 (= Huber, Dokumente, Band 2, S. 329–333), wonach Art. 61 Abs. 1 RV 1871 für Bayern nicht galt. Gesetz vom 29.4.1869 betreffend die Einführung des Militärstrafgesetzbuches und der Militärstrafgerichtsordnung für das Königreich Bayern, Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1866 bis 1869, S. 1341–1348.
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IV. Militärstrafrecht
dem sich die rechtsprechende Gewalt des Militärstrafprozesses ableitete, war für Bayern im Grundsatz aufgegeben worden. Nach der bayerischen Militärstrafgerichtsordnung waren vornehmlich Juristen zu Richtern bestellt worden, es hatte ein Recht auf freie Verteidigung gegeben, auch die Verfahren hatten sich in erster Linie nach den allgemein-bürgerlichen Vorschriften gerichtet und waren damit grundsätzlich öffentlich und mündlich gewesen.3 Dagegen war die Gerichtsbarkeit nach der preußischen Militärstrafgerichtsordnung aus dem vorrevolutionären Jahr 18454 als ein Teil der Kommandogewalt gesehen worden.5 Das war vor allem durch das Institut des Gerichtsherrn zum Ausdruck gekommen, den bei der niederen Gerichtsbarkeit regelmäßig der Regimentskommandeur, bei der höheren der Kommandierende General oder Divisionskommandeur verkörpert hatte (§§ 23, 26–29). Der Gerichtsherr hatte »als Vorstand des Militairgerichts […] bei allen Verfügungen desselben die Leitung und Entscheidung« gehabt (§ 77). Er hatte entschieden, ob bei Verdacht der Tatbestand ermittelt (§ 91) sowie ob Militärgericht einberufen und ein Verfahren eingeleitet wurde (§ 102). Der Gerichtsherr hatte schließlich auch das regelmäßig von ihm zu bestätigende Urteil abändern können (§§ 150–171), ebenso hatte ihm die Sorge für die Vollstreckung oblegen (§ 180)6. Der Gerichtsherr war also ganz Herr des Verfahrens gewesen. Damit weckt auch dieses Institut nicht nur dem Namen nach Reminiszenzen an mittelalterliche Lehensverhältnisse. Zu Gericht hatten nach der preußischen Militärstrafgerichtsordnung keine professionellen Juristen, sondern eine je nach Gericht und Dienstgrad des Angeklagten zusammengesetzte Gruppe von Soldaten und Offizieren gesessen, also juristische Laien. Der beigeordnete »Auditeur«, ein Militärjustizbeamter, fungierte lediglich als Berichterstatter und Rechtsberater.7 Die Verfahren waren nicht öffentlich gewesen, sie waren dem Prinzip der Schriftlichkeit gefolgt, auch hatte es keine Rechtsmittel gegeben. Die Zuständigkeit der preußischen Militärgerichtsbarkeit hatte sich personell im Frieden auf Militärpersonen, im Kriegsfall auch auf das Heeresgefolge erstreckt. Sachlich war sie allerdings nicht nur für besondere Militärstraftaten, sondern für sämtliche und damit vor allem auch die nach dem allgemeinen Reichsstrafgesetzbuch strafbaren Handlungen dieses Personenkreises zuständig gewesen. Nach Art. 61 Abs. 1 RV 1871 war insbesondere auch die preußische Militärstrafgerichtsordnung im ganzen Reich einzuführen. Neben Bayern hatten auch die kleineren Länder Württemberg und Sachsen aufgrund der Militärkonventionen ihre Militärstrafprozessrechte behalten, die allerdings wie in Preußen einen vorrevolutionären, schriftlichen und geheimen Inquisitionsprozess vorgeschrieben hatten.8 3 4 5 6 7 8
Anker, Militärstrafgerichtsordnung, S. 95 f. Strafgerichts-Ordnung vom 3.4.1845, Erster Titel: Von den Militärgerichten, Preußische Gesetzsammlung 1845, S. 329–379. Kesper-Biermann, Stiefkind, S. 60; Rissom, Militärstrafgerichtsordnung, S. 539. Siehe auch § 15 Abs. 1 MStGB. Messerschmidt, Militärwesen, S. 386 f.; Kesper-Biermann, Stiefkind, S. 60. Brümmer-Pauly, Desertion, S. 61. Die sächsische Militärstrafgerichtsordnung vom 4.11.1867 war im Wesentlichen der preußischen nachgebildet, siehe Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1867, S. 405–460.
1. Entstehung der Militärstrafgerichtsordnung
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Schon zu Zeiten der preußischen Heeresreformen hatte der preußische Justizminister Karl Wilhelm v. Schrötter einen Vorstoß unternommen, die bisherige Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit in Friedenszeiten weitgehend den zivilen Gerichten zu übertragen. Er konnte sich jedoch bei König Friedrich Wilhelm III. gegen den Widerstand des Generalauditoriats (Militärjustizverwaltung) und Scharnhorsts lediglich mit der Forderung durchsetzen, den Militärgerichten die Zuständigkeit für Zivilstreitigkeiten der Militärpersonen zu entziehen.9 Frischen Wind hatte dann erst wieder der deutsche März von 1848/1849 gebracht: Nach Art. 176 Abs. 2 der Paulskirchenverfassung hätte die Militärgerichtsbarkeit »auf die Aburtheilung militärischer Verbrechen und Vergehen, so wie der Militär-Disciplinarvergehen beschränkt« werden sollen, »vorbehaltlich der Bestimmungen für den Kriegsstand«.10 Der »Entwurf zu einem Gesetze über die deutsche Wehrverfassung« des Nationalversammlungsausschusses für Wehrangelegenheiten hatte darüber hinaus noch die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens garantieren wollen.11 Davon hatte der damalige preußische Kronprinz und spätere König Wilhelm I. aber herzlich wenig gehalten: »Weicht nun der Gesetzentwurf hinsichtlich der kurzen Dienstzeit und des Beurlaubungssystems vom dem Preußischen ›Vorbilde‹ wesentlich ab, so stellt er durch die veränderten Bestimmungen über viele andere Gegenstände, die bisher dazu beigetragen haben, die Preußische Armee zu dem machen, was sie ist, eine Reihe von nirgends bewährten, ja theilweis sogar noch nirgends versuchten Grundsätzen auf […]. Dazu gehören: […] Die Ueberweisung der Soldaten an die Civilgerichte wegen Bestrafung während des Friedens verübter gemeiner Verbrechen.«12
Zu dieser Zeit sind bereits viele Argumentationsmuster aufgetaucht, die auch im späteren Ringen um die Militärgerichtsbarkeit eine Rolle spielten. So hatte etwa der in Preußen einflussreiche Militärpolitiker Gustav v. Griesheim vor allem kritisiert, »daß der Strafprozeß bei den Civilgerichten kein sehr schneller ist«, es für die militärische Disziplin »von der höchsten Wichtigkeit [sei], daß dem Verbrechen und Vergehen die Strafe auf dem Fuß folge«.13 Die Reformvorhaben hatten schließlich das Schicksal der gesamten bürgerlichen Revolution geteilt. Zwar ist die Debatte über den Militärprozess auch in den folgenden Jahren und nach der Reichsgründung nicht verstummt. Insbesondere die Sozialdemokraten haben Soldatenmisshandlungen im Reichstag zur Sprache gebracht und daraus die Reformbedürftigkeit des Militärstrafprozesses abgeleitet. Doch ihren Forderungen ist lange kein erfolgreiches Gesetzvorhaben gefolgt, zu stark sind der Widerstand insbesondere der preußischen Militäreliten und ihr Einfluss auf den Kaiser gewesen.14 Noch 1894 hatte kein Geringerer als Franz v. Liszt resigniert bemerkt: »Allein es ist auf absehbare Zeit im deutschen Reiche nicht daran zu denken, dass die seit vielen Jahrhunderten festgehaltene Sonderstellung des Militärs in Bezug auf die 9 10 11 12 13 14
Messerschmidt, Militärwesen, S. 385 f.; Liszt, Strafrecht, S. 69. Verfassung des Deutschen Reichs vom 28.3.1849, RGBl. 1849 S. 101–147; abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 1, S. 375–396. § 69 des Entwurfs eines Gesetzes über die deutsche Wehrverfassung von 1848. Wilhelm I. von Preußen (als Kronprinz), Bemerkungen, S. 4. Griesheim, Bemerkungen, S. 32. Ausführlich Schubert, Entstehung, S. 6–15; siehe auch Berndt, Reform, S. 8–11.
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IV. Militärstrafrecht
Strafgesetzgebung und auf die Strafrechtspflege im wesentlichen eine Änderung erfahren wird.«15 Erst unter der Regierung des Reichskanzlers Fürst v. Hohenlohe, der bereits als Ministerpräsident in Bayern die Überarbeitung der dortigen Militärgerichtsordnung 1869 begleitet hatte, konnten die Rufe nach Reformen zum Ausgang des 19. Jahrhunderts eine neue Dynamik entfalten. Dabei trachtete Hohenlohe zunächst vor allem daran, den Forderungen der SPD das Wasser abzugraben. Doch erst als das Vorhaben mit dem Schicksal der Flottenvorlage verknüpft wurde, konnten der ersehnte Durchbruch erzielt und die erforderlichen Stimmen der Zentrumsfraktion gewonnen werden:16 Am 1. Dezember 1898 fertigte der Kaiser die erste reichsrechtliche Militärstrafgerichtsordnung (MStGO) aus;17 sie trat am 1. Oktober 1900 in Kraft.18 Im Zentrum der Gesetzgebungsdebatte hatten vor allem sechs Punkte gestanden: 1. Zuständigkeit der Militärgerichte, 2. Stellung des Gerichtsherrn, 3. Verhältnis von Juristen und Offizieren in den Spruchkörpern, 4. Öffentlichkeit und Mündlichkeit als Verfahrensmaximen, 5. Stellung des Verteidigers, 6. Oberstes Militärgericht.19 Als wichtigste prozessuale Neuerung gegenüber dem preußischen Vorgänger führte die neue MStGO erstmals die Rechtsmittel der Berufung (§§ 378–396) und der Revision (§§ 397–415) im ordentlichen Verfahren ein, die zudem kostenlos waren, allerdings in den beschleunigten Verfahren der Feld- und Bordgerichte (§ 419) nicht zur Verfügung standen. Dagegen hielt sie an der preußischen Einteilung in eine niedere Gerichtsbarkeit für mit Arrest bedrohte Straftaten von Soldaten und Unteroffizieren (Standgerichte, §§ 14 f. und §§ 38–48) sowie eine höhere Gerichtsbarkeit für alle anderen Straftaten von Soldaten (Kriegsgerichte und Oberkriegsgerichte, § 17, §§ 49–64 und §§ 65–70) fest. Die Militärgerichte blieben damit wie gewohnt für sämtliche Straftaten von Militärpersonen zuständig, waren also keine Gerichtsbarkeit für besondere Straftaten, sondern für besondere Menschen. Schon das Recht des ersten Zugriffs lag nicht nur bei den zivilen Strafverfolgungsbehörden, sondern auch bei den militärischen Vorgesetzten des Verdächtigen (§ 153 Abs. 3); das Recht der vorläufigen Festnahme stand den Zivilbehörden sogar nur subsidiär bei Gefahr im Verzug zu, wenn ein militärischer Vorgesetzter des Beschuldigten oder eine militärische Wache nicht erreichbar waren (§ 180 Abs. 1). Auch das preußische Institut des Gerichtsherrn blieb erhalten (Regimentskommandeure für die niedere Gerichtsbarkeit; Kommandierende Generale, Divisionskommandeure, Festungskommandanten und Gouverneure für die höhere Gerichtsbarkeit; §§ 19–37). Die Zuständigkeit folgte also nicht wie bei der ordentlichen 15 16 17 18 19
Liszt, Strafrecht, S. 69 f. Messerschmidt, Militärwesen, S. 388 f.; Berndt, Reform, S. 12 und 15; Anker, Militärstrafgerichtsordnung, S. 399–404. Militärstrafgerichtsordnung vom 1.12.1898, RGBl. 1898 S. 1189–1288. § 1 EGMStGO i.V.m. der kaiserlichen Verordnung vom 28.12.1899 Messerschmidt, Militärwesen, S. 389.
1. Entstehung der Militärstrafgerichtsordnung
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Gerichtsbarkeit der Einteilung nach Bezirken (wie auch die frühere bayerische MStGO von 1869), sondern war personal an die Kommandogewalt geknüpft (§ 25), als deren Ausfluss die Militärgerichtsbarkeit weiterhin angesehen wurde (§ 12) und an deren Spitze der Monarch stand.20 So ordnete der zuständige Gerichtsherr nach der Reichs-MStGO auch das Zusammentreten der Stand- und (Ober-)Kriegsgerichte an (§ 18 Abs. 3), bestellte das Richterkollegium (§§ 41, 68), vereidigte die Richter (§ 42), setzte Ort und Zeit der Hauptverhandlung fest (§ 264), stellte Entscheidungen und Verfügungen zu und vollstreckte sie (§ 138), ordnete das Ermittlungsverfahren an (§ 156), entschied über die Untersuchungshaft (§ 175) sowie die Hinzuziehung von Sachverständigen (§ 209), konnte Leichenschauen (§ 223) sowie Beschlagnahmungen und Durchsuchungen anordnen (§ 238), entschied über die Erhebung der Anklage oder die Einstellung des Verfahrens (§§ 245, 254), ordnete Zeit und Ort der Hauptverhandlung an (§§ 261, 264), war regelmäßig für die Bestätigung des Urteils (§ 418)21 und schließlich auch für die Anordnung zu dessen Vollstreckung zuständig (§ 451). Die im ordentlichen Verfahren ergangenen Urteile erhielten ihre Rechtskraft von nun an aber durch Erschöpfung der neueingeführten Rechtsmittel, für ihre Vollstreckbarkeit bedurften sie allerdings weiterhin der Bestätigung. Die Urteile der Feldund Bordgerichte schöpften beides aber wie ehedem aus der Bestätigungsorder, da hier eine Berufung oder Revision nicht stattfand (§§ 419 f.).22 Der Bestätigung hatte deshalb bei Todesstrafe, Zuchthaus oder Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr eine Begutachtung durch einen Militärjustizbeamten vorauszugehen (§§ 424–426), außer es handelte sich um das Urteil eines Standgerichts (§ 429). Der zuständige Befehlshaber konnte die Bestätigung auch verweigern und das Urteil aufheben lassen, so dass ein neues Feld- oder Bordgericht über die Sache zu entscheiden hatte (§§ 422, 428–430, 432). Vor seiner Entscheidung hatte er den Angeklagten über eventuelle Beschwerden gegen das Urteil vernehmen zu lassen (§ 423). Es war also nicht bloß so, dass hier mehr oder weniger wie »im absoluten Staate die gesammte Gerichtsbarkeit in der Person des Herrschers beruhte«, wie der preußische Justizminister Schönstedt bei Reformberatungen 1895 feststellte.23 In auffälligem Widerspruch zum bürgerlichen Verfassungsstaat wandelten die tragenden Grundsätze der Militärgerichtsbarkeit damit immer noch auf den Spuren des mittelalterlich-lehensrechtlichen Personenverbandsstaats. Das niedere Standgericht wurde aus drei Offizieren als Richtern gebildet (§ 38). Nur bei den höheren Kriegsgerichten wurden neben vier Offizieren ein Kriegsgerichtsrat (§ 49), bei zu erwartender Todesstrafe oder Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten jedoch zwei Kriegsgerichtsräte und nur drei Offiziere (§ 51 Abs. 1), bei den Oberkriegsgerichten wiederum neben fünf Offizieren zwei Oberkriegsgerichtsräte zu Richtern bestellt (§ 66). In jeder Instanz handelte es sich aber um Spruchkollegien; die MStGO sah keine Einzelrichter vor. (Ober-)Kriegsgerichtsräte 20 21 22 23
Romen/Rissom, MStGO-Kommentar, § 12 Anm. 1. Romen/Rissom, MStGO-Kommentar, § 418 Anm. 3. Romen/Rissom, MStGO-Kommentar, § 416 Anm. 1 und 3. Nach § 421 MStGO galt dies auch, wenn der im ordentlichen Verfahren verurteilte zwischenzeitlich in ein »mobiles Verhältnis« getreten war. Zitiert nach Schubert, Entstehung, S. 18.
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IV. Militärstrafrecht
mussten als ausgebildete Juristen nach dem GVG zum Richteramt befähigt sein (§ 94); sie führten zwar die Verhandlungen, den Vorsitz hatte hingegen der rangälteste Offizier des Spruchkollegiums (§§ 61, 69). Zugleich entschied sich die MStGO gegen das bis dahin in bayerischen Militärgerichten praktizierte Geschworenensystem zugunsten von Schöffen; die Offiziere hatten als Laienrichter also nicht nur über die Schuld, sondern auch über das Strafmaß mit zu befinden. Die Anklage vertrat vor den niederen Militärgerichten ein vom Gerichtsherrn bestellter Gerichtsoffizier, vor der höheren ein Kriegsgerichtsrat (§ 255 Abs. 2). Die Zulassung von Verteidigern vor der höheren Militärgerichtsbarkeit war wiederum sehr eingeschränkt und lag in den Händen der Militärjustizverwaltung (§ 341); das Recht auf einen Verteidiger hatte der Angeklagte zudem erst nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens (§ 337 Abs. 1).24 Um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu befördern, richtete die MStGO über die gewöhnliche niedere und höhere Militärgerichtsbarkeit hinaus in Berlin ein Reichsmilitärgericht als Revisionsgericht ein (§§ 71–92). Die dort zu bildenden Senate entschieden in einer Zusammensetzung aus drei juristischen und vier militärischen Mitgliedern, die vom Kaiser auf Vorschlag des Bundesrats (für die Senatspräsidenten und Räte) und der Kontingentsherren (für die Stabsoffiziere als Laienrichter) ernannt wurden (§§ 79 f). Nur wenn die Revision sich auf Verletzung des Prozess- oder bürgerlichen Rechts stützte, war der Senat umgekehrt aus vier Juristen und drei Offizieren zu bilden (§ 84). In jedem Fall führte auch hier der rangälteste Offizier den Vorsitz, der Senatspräsident leitete lediglich die Verhandlungen (§ 83 Abs. 1). Einzig Bayern konnte sich auch in dieser Hinsicht gewisse Reservatrechte bewahren: Nach § 33 Abs. 2 EGMStGO sollte die »Einrichtung der obersten militärgerichtlichen Instanz mit Rücksicht auf die Verhältnisse Bayerns […] anderweit gesetzlich geregelt« werden, und bereits im folgenden Jahr 1899 wurde durch Reichsgesetz für das bayerische Heer ein besonderer Senat errichtet, dessen Mitglieder vom König von Bayern ernannt wurden.25 An der Spitze des Reichsmilitärgerichts stand schließlich ein General oder Admiral als Präsident, den der Kaiser ernannte (§§ 73 f.). Die Vertretung der Anklage nahm hier die »Militäranwaltschaft« wahr (§§ 103–107 und § 409 Abs. 2). Weitere wesentliche Neuerungen gegenüber dem bisherigen preußischen Rechtszustand ergaben sich aus der Einführung der Mündlichkeit (§ 260 Abs. 2) und der Öffentlichkeit (§ 282) der Hauptverhandlung. Allerdings trug die MStGO bereits selbst den Keim zur Aushöhlung des Öffentlichkeitsprinzips in sich. So hielt § 283 Abs. 2 fest, dass die nach § 8 RMG 1871 dem Kaiser zustehende Befugnis unberührt blieb, »allgemeine Vorschriften darüber zu erlassen, unter welchen Voraussetzungen das Gericht die Oeffentlichkeit der Verhandlung wegen Gefährdung der Disziplin auszuschließen hat«. Von diesem Recht machte der Kaiser in seiner Allerhöchsten Kabinettsorder vom 28. Dezember 1899 Gebrauch: 24 25
Einen guten Überblick über das Verfahren im Felde und an Bord gewährt Grützmacher, Militärstrafrechtspflege, S. 546–550. Gesetz, betreffend die Einrichtung eines besonderen Senats für das bayerische Heer bei dem Reichsmilitärgericht in Berlin, RGBl. 1899 S. 135 f.
1. Entstehung der Militärstrafgerichtsordnung
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»Die Disziplin verlangt, daß auch im gerichtlichen Verfahren das Ansehen der Kommandogewalt, der militärischen Einrichtungen, Verordnungen und Gebräuche erhalten, der Sinn für die unbedingte Unterordnung des Untergebenen unter den Vorgesetzten jeden Grades gewahrt, und dem berechtigten Ehrgefühl aller Beteiligten, insbesondere derjenigen des Offizierstandes, Rechnung getragen wird. Sobald dieser Grundsatz gefährdet ist, sei es nach dem Gegenstande der Anklage, nach den Eigenheiten des zur Verhandlung kommenden Falles, nach der Persönlichkeit des Angeklagten oder der Zeugen, nach zeitlichen oder örtlichen besonderen Verhältnissen, ist die Oeffentlichkeit auszuschließen.«26
Das Prinzip wurde damit zur Farce, die Öffentlichkeit regelmäßig ausgeschlossen, vor allem bei Verfahren gegen Offiziere.27 Interpretierten Richter die kaiserlichen Ausschlusstatbestände eng und ließen die Öffentlichkeit zu, drohte ihnen Versetzung oder gar Entlassung, was zusätzlich die richterliche Unabhängigkeit beschädigte.28 Auch ansonsten privilegierte die MStGO die Offiziere gegenüber den übrigen Soldaten nicht unerheblich: Im Gegensatz zum alten preußischen Militärstrafprozess konnten stets nur Offiziere zu Laienrichtern berufen werden, für Straftaten von Offizieren war stets ein höheres Gericht zuständig, und sogar hinsichtlich des »Jedermann-Festnahmerecht« galt für Offiziere »in entsprechender Uniform«, dass bei Übertretungen und Vergehen die Annahme ausgeschlossen war, »daß er der Flucht verdächtig sei, oder daß seine Persönlichkeit nicht sofort feststellbar ist«. Sie konnte also nur gegeben sein, wenn ein Offizier bei der Begehung eines Verbrechens auf frischer Tat betroffen oder verfolgt wurde (§ 180 Abs. 2 und 3).29 Auch behielt sich bei Urteilen gegen Offiziere der Kaiser das Bestätigungsrecht vor.30 Zudem galt der nemo-tenetur-Grundsatz im Militärstrafprozess nur sehr eingeschränkt: Zwar war ein Beschuldigter nicht verpflichtet, aktiv an seiner Überführung mitzuwirken.31 Eine Lüge im Rahmen der Vernehmung konnte jedoch disziplinar oder gar gerichtlich geahndet werden.32 Schließlich hatten die Soldaten und Unteroffiziere bei Verfahren wegen geringfügiger Vergehen vor den niederen Militärgerichten (Standgerichten) kein Recht auf einen Verteidiger (§ 337 Abs. 2). Damit hatte sich bei der Reform des Militärstrafprozesses im Ergebnis vor allem das rückständige preußische Modell durchgesetzt. Als wesentliche Fortschritte der Reichs-MStGO können damit einzig die Mündlichkeit des Verfahrens sowie die Rechtsvereinheitlichung gelten.
26 27 28 29
30 31 32
Zitiert nach Romen/Rissom, MStGO-Kommentar, § 283 Anm. 4. Berndt, Reform, S. 24 f. Anker, Militärstrafgerichtsordnung, S. 513–517. Zur erst durch die Strafrechtsreform von 1974/75 beseitigten Trichotomie siehe § 1 RStGB. Das »Jedermann-Festnahmerecht« nach § 180 Abs. 2 MStGO griff gegenüber sämtlichen Rangklassen nicht bei bloßen Übertretungen. Siehe auch Romen/Rissom, MStGO-Kommentar, § 180 Anm. 4. Offiziere und Unteroffiziere konnten allerdings vom disziplinarstrafrechtlichen Festnahmerecht nach § 7 Abs. 2 HDStO 1872 (später § 8 Abs. 1 HDStO 1921) Gebrauch machen. Romen/Rissom, MStGO-Kommentar, § 418 Anm. 3. Romen/Rissom, MStGO-Kommentar, § 173, Anm. 3. Einen Überblick über die komplizierte Kasuistik bietet Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 90, Anm. 3 Buchstabe b.
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IV. Militärstrafrecht
2. Der Kampf um die Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit Trotz ihrer Rückständigkeit hatte sich die MStGO am Vorabend des Ersten Weltkriegs zumindest teilweise bewährt, wenn man den Schilderungen eines Rechtsanwaltes vom II. Deutschen Militärjuristentag am 3. Juni 1914 Glauben schenken mag. Demnach arbeiteten die Kriegsgerichte »mit äußerster Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit, und zwar meist erheblich gründlicher und gewissenhafter als die Strafkammern und Schöffengerichte«. Zudem ginge die Militärstrafjustiz den Angeklagten objektiv und unvoreingenommen, ja geradezu wohlwollend an.33 Damit übereinstimmend gilt die Praxis der deutschen Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg als milde, besonders im internationalen Vergleich: So vollstreckten die Deutschen über den gesamten Kriegszeitraum »nur« 48 Todesurteile, die französische und britische Armee dagegen zehnmal mehr. Das lag allerdings auch an der großzügigen Begnadigungspraxis der Landesherren für ihre jeweiligen Kontingente, die dadurch die Stimmung im Heer positiv zu beeinflussen versuchten. Von einem Exzess wie bei der späteren Wehrmachtsjustiz des Zweiten Weltkriegs mit ihren rund 25.000 Todesurteilen (Kriegsgefangene und Zivilisten nicht mitgerechnet) konnte daher keine Rede sein.34 Umgekehrt diente die wohlwollende Handhabung der Militärgerichtsbarkeit im Krieg nicht wenigen konservativ-reaktionären Offizieren nach 1918 als Erklärung für Niederlage und Revolution und damit als Munition für die Verbreitung der Dolchstoßlegende.35
a) Die ad-hoc-Novelle vom Dezember 1918 Demgegenüber erließ der Rat der Volksbeauftragten bereits am 5. Dezember 1918 eine einstweilige Verordnung, die sowohl die grundlegend veränderte politische Lage als auch das Bedürfnis nach Aufrechterhaltung der Disziplin in den Streitkräften berücksichtigte und die Militärgerichtsbarkeit in geordnete, postrevolutionäre Bahnen lenken sollte.36 Dazu räumte sie mit etlichen Missständen des bisherigen Militärstrafprozesses auf: So konnte sich der Beschuldigte fortan in jeder Lage des Verfahrens eines Verteidigers bedienen. Als Verteidiger konnte jeder bei einem deutschen Gericht zugelassene Rechtsanwalt gewählt oder bestellt werden. Der jeweilige Vertrauensmann durfte auf Wunsch des Beschuldigten bei Untersuchungshandlungen zugegen sein und zu dessen Gunsten vor dem Schlusswort sprechen. Die Offizierrichter wurden »durch gewählte Mitglieder ersetzt, von denen bei den Oberkriegsgerichten und bei den mit einem Kriegsgerichtsrat besetzten Kriegsgerichten je zwei, 33 34 35 36
Schubert, Reform, S. 32 f. Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, S. 168. Stachelbeck, Heer, S. 196; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, S. 19–22. Verordnung, betreffend die einstweilige Änderung der Militärstrafgerichtsordnung, des Einführungsgesetzes dazu und des Militärstrafgesetzbuches, vom 5.12.1918, RGBl. 1918 S. 1422 f.; siehe dazu auch § 1 des Übergangsgesetzes vom 4.3.1919, RGBl. 1919 S. 285 f. Siehe auch die Ausführungsbestimmungen des preußischen Kriegsministers vom 14.12.1918, AVBl. 1918 S. 730.
2. Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit
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bei den mit zwei Kriegsgerichtsräten besetzten Kriegsgerichten einer sich in der entsprechenden Dienststellung befinden müssen, wie der Angeklagte oder der unter mehreren Angeklagten die höchste Dienststellung einnehmende«, womit man ein Stück weit zum in diesem Punkt vergleichsweise fortschrittlichen alten preußischen Militärstrafprozess zurückkehrte. Diese »Kameradschaftsrichter« wurden durch die Vertrauensleute gewählt. Die Öffentlichkeit der Hauptverhandlung durfte fortan »nur wegen Gefährdung der Sittlichkeit oder bei einer Verhandlung wegen Verrats militärischer Geheimnisse ausgeschlossen werden«. Die Bestätigung des Urteils durch den Gerichtsherrn wurde für ordentliche Verfahren, also solche, die nicht vor einem Feld- oder Bordkriegsgericht geführt wurden, abgeschafft. Auch die niedere Gerichtsbarkeit (Standgerichte) wurde ersatzlos gestrichen. In den bisher zu ihrer Zuständigkeit gehörenden Fälle konnten entweder von einer Strafverfolgung gänzlich abgesehen, oder, sofern nicht in den nach § 3 MStGO aufgelisteten kleineren Fällen disziplinarstrafrechtliche Erledigung in Betracht kam, eine Strafverfügung nach den §§ 349–353 MStGO erlassen werden. Die bisher dem Kaiser nach MStGO, EGMStGO und MStGB zustehenden Befugnisse sowie das Recht der Strafmilderung und des Straferlasses wurden fortan vom Rat der Volksbeauftragten ausgeübt, der sie weiter übertragen konnte.37
b) Die Militärgerichtsbarkeit in den Verfassungsberatungen Über diese nicht unerhebliche Reform hinaus entschied sich die Nationalversammlung 1919, die weitgehende Abschaffung der eigenständigen Militärgerichtsbarkeit – außer für Kriegszeiten und an Bord von Kriegsschiffen – als Gesetzgebungsauftrag in Art. 106 der neuen Reichsverfassung zu verankern. Für die Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit setzten sich in erster Linie die »Weimarer Koalition« aus MSPD, Zentrum und DDP sowie die USPD ein. Bereits am 19. Februar 1919 hatte der preußische Kriegsminister Reinhardt als beratendes Mitglied des Reichskabinetts der Nationalversammlung verkündet, die Regierung plane eine Reform der Militärstrafgerichtsordnung, nach der »rein bürgerliche Straftaten vor den bürgerlichen Richter kommen« sollten.38 Bei den Verfassungsberatungen standen den Abgeordneten allerdings nicht nur die Praxis des Weltkriegs, sondern auch die der unmittelbaren Nachkriegszeit und insbesondere das Versagen der Militärjustiz in den Fällen Luxemburgs und Liebknechts vor Augen. Hugo Sinzheimer (MSPD) forderte vor diesem Hintergrund eine völlige Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit unmittelbar durch die Verfassung selbst und wies auf die Abgrenzungsschwierigkeiten hin, die sich bei Idealkonkurrenz von militärischen und zivilen Straftaten sowie bei zivilen Straftaten 37
38
Die provisorische Reichsregierung übertrug die meisten dieser Befugnisse per Verordnung vom 1.2.1919 auf den Präsidenten des Reichsmilitärgerichts, RGBl. 1919 S. 173 f. Siehe auch § 4 des Übergangsgesetzes vom 4.3.1919 (RGBl. 1919 S. 285 f.), wonach die bisher Kaiser zustehenden Befugnisse auf den Reichspräsidenten übergingen. Per Verordnung vom 23.9.1919 gem. § 37 MStGO regelte der Reichswehrminister die Gerichtsbarkeit der Befehlshaber für die Übergangszeit geregelt, AVBl. 1919 S. 137 f. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 177.
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IV. Militärstrafrecht
mit dienstlichem Bezug ergäben.39 Dagegen bezog sich der Geheime Kriegsrat Paul Semler vom Preußischen Kriegsministerium auf eine vorherige Äußerung des Abgeordneten Oskar Cohn (USPD),40 wonach eine Militärgerichtsbarkeit im Kriegsfall unverzichtbar sei: »Es ist ganz unmöglich, in einer Feldarmee Gerichte mitzuführen, die unseren normalen Gerichten irgendwie entsprechen. Während des Krieges brauchen wir also unzweifelhaft eine Militärjustiz. Dies gilt für die Marine schon im Frieden. Wenn Schiffe unterwegs sind, so treffen auf sie dieselben Verhältnisse zu, wie auf eine Feldarmee im Kriege. Es ist unmöglich, wenn auf einem Schiff strafbare Handlungen verübt werden, solange mit der Aburteilung zu warten, bis das Schiff nach vielleicht zwei bis drei Jahren in den Hafen einläuft.«41
Aber es wurde auch viel grundsätzliche Kritik an der Militärjustiz laut. So wies Simon Katzenstein (MSPD) auf die prekäre Stellung der Untergebenen hin, die vor einem Kriegsgericht als Angeklagte oder Zeugen gegenüber einem vorgesetzten Richter erschienen: »Sie können sich ganz unmöglich des Verhältnisses, in dem sie zu dem vorsitzenden oder beisitzenden Offizier stehen, entschlagen, wenn sie ein Vorsitzender, der vielleicht ein sehr scharfer Militarist ist, hart anfährt, daß sie sich ordnungsmäßig zu verhalten haben usw. Wenn die Leute es vielleicht gar nicht wagen, ihr Recht als Angeklagte wahrzunehmen oder als Zeugen Aussagen zu machen, so ist das der schnurgerade Gegensatz zu dem, was unsere Strafprozeßordnung sonst erstrebt. Ich habe bereits früher darauf hingewiesen, daß zwischen Rechtsprechung und militärischem Subordinationsverhältnis eine unüberbrückbare Kluft besteht. Der Vorgesetzte kann nicht Richter sein, der Untergebene kann nicht Richter sein.«42
Auch die Parteien der Rechten (DVP und DNVP) konzedierten, dass die bisherige Militärjustiz in einigen Punkten unzulänglich gewesen sei. Sie wünschten sich aber vielmehr eine Reform statt einer Abschaffung, bei der die Kompetenzen des Gerichtsherrn zumindest beschnitten, wenn nicht gar abgeschafft, die Verteidigerrechte gestärkt und die durch die Notverordnung vom Dezember 1918 eingeführten Kameradschaftsrichter prinzipiell beibehalten werden sollten.43 Die Abgeordneten des Verfassungsausschusses verständigten sich schließlich darauf, die Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit in Friedenszeiten lediglich als Verfassungsauftrag aufzunehmen und die Regelung der Details dem einfachen Gesetzgeber zu überlassen. Eine kurzfristige und ersatzlose Abschaffung durch die Verfassung selbst erschien Reichswehrminister Noske auch als »glatte Unmöglichkeit. Wenn alle jetzt schwebenden Fälle an Zivilgerichte überwiesen werden müßten, die darauf nicht eingerichtet sind, würde das zu einer außerordentlichen Verschleppung der schwebenden Fälle zum großen Nachteil für die Angeklagten führen«.44 Zutreffend entgegnete ihm jedoch 39
40 41 42 43 44
Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 477 f. Siehe auch die Bezugnahme auf den Liebknechtmord bei Reichsjustizminister Otto Landsberg, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Scheidemann, Nr. 107, S. 445, Fn. 5. Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 362 f. Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 478. Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 480 f. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 1480 f., 1483. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 1478.
2. Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit
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Oskar Cohn (USPD), dass die Reichsregierung bis zur Verabschiedung der Reichsverfassung genügend Zeit gehabt hätte, den Abbau der Militärgerichtsbarkeit und ihre Überleitung auf zivile Gericht auf dem Weg des einfachen Gesetzes in die Wege zu leiten.45 Den Gedanken Semlers aufnehmend ergriff das Zentrum unter Adolf Gröber schließlich im Juli noch kurz vor Abschluss der Beratungen eine erfolgreiche Initiative, wonach die Militärgerichtsbarkeit nach dem zu schaffenden Gesetz auch an Bord von Kriegsschiffen belassen werden sollte. Art. 106 WRV erhielt damit seine endgültige Gestalt:46 »Die Militärgerichtsbarkeit ist aufzuheben, außer für Kriegszeiten und an Bord der Kriegsschiffe. Das Nähere regelt ein Reichsgesetz.«
c) Das Gesetz, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit Unbeeindruckt von den Vorgängen in der Nationalversammlung arbeitete die provisorische Reichsregierung im ersten Halbjahr 1919 unter Federführung von Reichswehrminister Noske und dem preußischen Kriegsminister Reinhardt zunächst an einer weiteren Reform der Militärstrafgerichtsordnung.47 Damit handelten Noske und Reinhardt ganz im Sinne der oppositionellen Rechten und konträr zur Auffassung der Regierungsparteien der »Weimarer Koalition« in der Nationalversammlung. Nach diesem Reformentwurf sollte das Institut des Gerichtsherrn zwar im Wesentlichen beseitigt werden, die Militärgerichte aber nicht nur für militärische, sondern auch für mit ihnen in Idealkonkurrenz stehende bürgerliche Straftaten zuständig bleiben.48 Dagegen erhob Reichsjustizminister Otto Landsberg (MSPD) in der Kabinettssitzung vom 11. Juni durchgreifende Bedenken,49 so dass Noske und Reinhardt am 17. Juli erstmals einen Alternativentwurf vorlegten, der die Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit außer »im Felde und gegen die an Bord von Kriegsschiffen eingeschifften Angehörigen der Marine« vorsah.50 Schon eine Woche zuvor, am 10. Juli, hatte die Nationalversammlung zusammen mit dem späteren Art. 106 WRV noch einen Entschließungsantrag angenommen, der die Reichsregierung ersuchte, »das Gesetz über die Aufhebung der Militärjustiz mit der größten Beschleunigung einzubringen«.51 Mit der neuen Reichsverfassung war 45 46 47 48
49 50 51
Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 1486. Nationalversammlungsdrucksache 477 Nr. 2; Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 1487. So die Ankündigung des preußischen Kriegsministers Reinhardt vom 19.2.1919 bei Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 177. Kabinettsvorlage des Reichswehrministers und des preußischen Kriegsministers zum Entwurf eines Gesetzes betreffend die einstweilige Änderung der Militärstrafgerichtsordnung, des Einführungsgesetzes dazu und des Militärstrafgesetzbuchs nebst Begründung vom 27.5.1919, BArch R 43-I/701, fol. 26–37. Siehe auch die Äußerung des Geheimen Kriegsrats Paul Semler, Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 478. BArch R 43-I/701, fol. 38–44. Kabinettsvorlage des Reichswehrministers zum Entwurf eines Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, nebst Begründung vom 17.7.1919, BArch R 43-I/701, fol. 51–59. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 1488.
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IV. Militärstrafrecht
der Reformentwurf Makulatur; die Reichsregierung brachte ihn nicht mehr in das Gesetzgebungsverfahren ein.52 Auf den Gedanken, hier mit ganz eigenen Konzepten aufzuwarten, kamen die demokratischen Parteien der Nationalversammlung allerdings nicht, während sich die Ausarbeitung des Aufhebungsgesetzes im Reichskabinett verzögerte. Insbesondere stritten Wehr-, Finanz- und Justizressort sowie einige Länder über drei Fragen: Erstens, inwieweit das Reich die Mehrkosten tragen sollte, die den Ländern aus dem Fortfall der Militärgerichtsbarkeit und der damit einhergehenden erweiterten Zuständigkeit der zivilen Gerichte entstehen würden.53 Zweitens, was mit den nicht mehr benötigten Militärjustizbeamten zu geschehen habe.54 Und drittens, ob eine besondere, dem Reichswehrministerium nachgeordnete Militärstaatsanwaltschaft eingerichtet und die Verfahren in Militärstrafsachen bei besonderen Spruchkörpern konzentriert werden sollten.55 Noch dazu rumorte es heftig in der Reichswehr: So erlaubte sich im Oktober beispielsweise der Chef des Generalstabes des Reichswehr-Gruppenkommandos 3 (Kolberg), Oberst v. Thaer, – bei Lichte betrachtet unter Missachtung des Verbots der politischen Betätigung – in einem dienstlichen Schreiben unmittelbar an den Reichsrat um die Beibehaltung der Militärgerichtsbarkeit zu supplizieren, obwohl die Reichsregierung dorthin bereits einen Entwurf zur Beschlussfassung übermittelt hatte.56 Erst am 29. März 1920 konnte der neue Reichswehrminister Geßler der Nationalversammlung den Regierungsentwurf eines »Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit« vorlegen, der federführend im neuen, fast ausschließlich mit höheren Offizieren besetzten Reichswehrministerium ausgearbeitet worden war.57 Die richterlichen wie nichtrichterlichen Militärjustizbeamten sollten fortan »ihrer Berufsbildung entsprechend tunlichst im Dienste des Reichs oder der Länder anderweitig verwendet«58 und die »den Ländern und Gemeinden aus der Durchführung dieses Gesetzes erwachsenden persönlichen und sachlichen Mehrkosten […] vom Reich erstattet« werden.59 Die Regierungsvorlage passierte die erste und zweite Lesung60 sowie die Ausschussberatung,61 wobei Abgeordnete der Weimarer Koalition und der USPD letzte Bastionen der Militärgerichtsbarkeit, die das Reichswehrministerium im Ge52 53
54 55 56 57 58
59 60 61
Akten der Reichskanzlei, Kabinett Scheidemann, Nr. 107, S. 445 f., insbes. Fn. 6. Schreiben des preußischen Finanzministers an die preußische Staatsregierung und die Reichsregierung, betreffend den Gesetzentwurf über die Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 29.11.1919, BArch R 43-I/701, fol. 131. Kabinettsvorlage des Reichfinanzministers vom 18.8.1919, BArch R 43-I/701, fol. 74 f. Kabinettsvorlage des Reichsjustizministers vom 18.11.1919, BArch R 43-I/701, fol. 127 f. Schreiben des Reichswehr-Gruppenkommandos 3 an den Reichsrat vom Oktober 1919 (genaues Datum unleserlich), BArch R 43-I/701, fol. 99. Nationalversammlungsdrucksache 2525. § 26 Abs. 1 und 4 des Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587 (entspricht im Wesentlichen § 23 Abs. 1 und 4 des Regierungsentwurfs, Nationalversammlungsdrucksache 2525). § 29 des Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587 (= § 25 des Regierungsentwurfs, Nationalversammlungsdrucksache 2525). Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5156–5167. Mündlicher Bericht des 27. Ausschusses über den Entwurf eines Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, Nationalversammlungsdrucksache 2881.
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setz verankert sehen wollte, weiter schleifen konnten. Dieser veränderte Entwurf konnte jedoch wegen Beschlussunfähigkeit in der dritten Lesung am letzten Sitzungstag der Nationalversammlung und der vorgezogenen Reichstagswahlen vom 6. Juni 1920 nicht mehr verabschiedet werden.62 Im neuen Reichstag ergriff dann die MSPD-Fraktion die Initiative und brachte bereits am 23. Juni 1920 – am Tag vor der ersten Sitzung – einen Entwurf in das Gesetzgebungsverfahren ein, der im Wesentlichen der letzten, in der Nationalversammlung nicht mehr verabschiedeten Fassung entsprach.63 Bei der Behandlung der Vorlage zeigte sich allerdings schon deutlich, dass die demokratischen Parteien nach den erdrutschartigen Verlusten, die die MSPD infolge des Kapp-Lüttwitz-Putsches und der Ruhrkämpfe bei der Reichstagswahl erlitten hatte, nunmehr deutlich weniger Einfluss auf die Wehrgesetzgebung nehmen konnten. Zwar besaßen die Parteien, die in der Nationalversammlung für die Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit eingetreten waren – MSPD, USPD, DDP und Zentrum – rein rechnerisch noch immer eine Mehrheit von über 60 %. Zu den grundsätzlichen Erwägungen gesellte sich jetzt zudem noch die praktische, dass ein auf 100.000 Mann geschrumpftes Heer keine eigene Militärgerichtsbarkeit mehr rechtfertigte. Darüber hinaus erwartete man, dass das Bedürfnis nach militärischer Strafrechtspflege in einer Freiwilligenarmee weitaus geringer sein würde als unter der allgemeinen Wehrpflicht.64 Allerdings bemühten sich Zentrum und Demokraten auch um Rücksichtnahme auf ihren Koalitionspartner, die DVP.65 Die hatte nach den Worten ihres Abgeordneten Admiral a.D. Franz Brüninghaus die klare Vorstellung, »daß die Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit, die ja durch die Weimarer Verfassung notwendig geworden ist, ein grundlegender Fehler wäre«,66 und bevorzugte stattdessen noch immer eine Reform.67 Um den Weg für einen Kompromiss in der Koalition zu bahnen, legte Geßler dem Reichstag einen bereits vom Reichsrat akzeptierten Gegenentwurf vor, der im Wesentlichen seiner ursprünglichen, unveränderten Vorlage vom Frühjahr entsprach, nachdem bereits der überarbeitete SPD-Entwurf nach erster Lesung einem neugebildeten Ausschuss überwiesen worden war.68 Das folgende Ringen um das Gesetz über die Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit wurde zur Belastungsprobe für die Mitte-Rechts-Koalition. Der wichtigste Erfolg, den die »progressiven« Kräfte im Parlament dabei erringen konnten, war die Streichung des § 10 der Regierungsvorlage, wonach in »Militärstrafsachen […] die höhere Kommandobehörde des Beschuldigten […] mit Wahrnehmung der militärischen Interessen einen oder mehrere Kommissare beauftragen« können sollte. Unter »Militärstrafsachen« waren dabei nach § 6 Abs. 2 des Regie62 63 64 65 66 67 68
Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5727. Reichstagsdrucksache 1/7. Siehe Äußerungen des Abgeordneten Ludwig Haas (DDP), Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 373 f. Siehe hierzu und im Folgenden ausführlich Schmädeke, Kommandogewalt, S. 138–146. Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 370. Siehe Äußerung des Abgeordneten Karl v. Schoch (DVP), Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 207. Reichstagsdrucksache 1/123.
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rungsentwurfs (und des späteren Gesetzes) sämtliche »Strafsachen zu verstehen, die von Angehörigen der Wehrmacht während ihrer Zugehörigkeit zur Wehrmacht oder zum bisherigen aktiven Heere oder zur bisherigen aktiven Marine begangene Straftaten betreffen«. Diese Kommissare waren aus der vom Reichswehrministerium hervorgebrachten Idee einer Militärstaatsanwaltschaft hervorgegangen.1 Die Kommissare sollten immerhin noch in gleichem Umfang das Recht zur Akteneinsicht haben wie die Verteidiger, zur Hauptverhandlung zugelassen und dort auf ihr Verlangen gehört werden. Dennoch wäre das gewöhnliche Strafverfahren damit wie ehedem für sämtliche Straftaten der Soldaten modifiziert worden. Zwar sollten die Kommissare keine Anträge zur Schuld- und Straffrage stellen dürfen. Gleichwohl war die Mehrheit des zuständigen Reichstagsausschusses gegen diese Einrichtung, »weil sich der Kommissar zu einem zweiten Staatsanwalt entwickeln würde und weil die Richter die Möglichkeit hätten, sich erforderlichen Falles durch vereidigte Zeugen und Sachverständige ein Bild von der spezifisch militärischen Umwelt entwerfen zu lassen, in der das Delikt vorgefallen ist.«2 Das Parlament billigte der Reichswehr lediglich Heeres- und Marineanwälte zu, die allerdings auf die Beratung des Befehlshabers in Militärstraf- und Disziplinarsachen beschränkt blieben und keine staatsanwaltlichen Eingriffsbefugnisse besaßen.3 Damit wurde zugleich der Grundstein für den historischen Vorgänger der heutigen Rechtspflege der Bundeswehr gelegt. Die Sonderbehandlung von »Militärstrafsachen« blieb im Übrigen allerdings bestehen, was sich bereits darin äußerte, dass in »Strafverfahren gegen Angehörige der Wehrmacht […] ein Gerichtsstand auch bei dem Gerichte begründet« war, »in dessen Bezirk sich der Standort ihres Truppenteils« befand.4 Eine zweite, kleine Verbesserung gegenüber dem ministeriellen Erstentwurf erreichte das Parlament bei der Behandlung leichter Fälle bestimmter Straftaten nach dem MStGB, wie sie in § 3 Abs. 2 EGMStGB festgelegt waren. Nach § 7 Abs. 1 stand hier grundsätzlich dem Disziplinarvorgesetzten die Entscheidung zu, ob eine disziplinarische Ahndung ausreichen sollte. Das entsprach allerdings schon der bisher im Verhältnis zur Militärgerichtsbarkeit getroffenen Regelung der §§ 157 Abs. 1, 251 Abs. 1 MStGO. Jedoch sollte von nun an der Staatsanwalt diese Frage in Fällen entscheiden, wo durch die Tat ein Untergebener oder eine nicht der Reichswehr ange1
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Siehe § 4 Abs. 1 des Entwurfs eines Gesetzes betreffend die Stellung der Heeresjustitiare und der bei ihnen beschäftigten Sekretäre nebst Begründung (Nr.1930.11.19.Z 3.), behandelt im Reichskabinett am 10.12.1919, BArch R 43-I/701, fol. 133–138. Reichstagsdrucksache 1/205, S. 170. §§ 15–18 des Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579– 1587. Siehe auch die Entwürfe für ein (ursprünglich eigenständiges) Gesetz über die Rechtsstellung der Heeresanwälte/Heeresjustitiare: vom 29.3.1920, Nationalversammlungsdrucksache 2526; vom 5.7.1920, Reichstagsdrucksache 1/122; sowie die am 10.12.1919 behandelte Kabinettsvorlage, BArch R 43-I/701, fol. 133–138. Entgegen dem Gesetzeswortlaut hat es nach mündlicher Überlieferung von Otto Kranzbühler – Marinejurist und später Verteidiger von Karl Dönitz in Nürnberg – eine Marineanwaltschaft jedoch wohl nie gegeben; die aufgrund der weitgehenden Beibehaltung der Militärgerichtsbarkeit in der Reichsmarine dort weiterhin tätigen Kriegs-/Oberkriegsgerichtsräte machten die Verwendung zusätzlicher Justitiare überflüssig. Genaueres lässt sich über die Tätigkeit der Rechtspflege der Reichswehr aufgrund der kriegsbedingten Aktenverluste leider nicht aussagen; siehe hierzu Baganz, Rechtspfleger, S. 36 Fn. 121. § 5 des Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587.
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hörende Person verletzt worden war. Gegen dessen Entscheidung, die Sache der disziplinarischen Ahndung zu überlassen, konnte der Verletzte das Landgericht anrufen. Nach § 7 Abs. 2 S. 2 hatte der militärische Disziplinarvorgesetzte umgekehrt »stets das Recht, gerichtliche Aburteilung zu verlangen«.5 Ansonsten aber konnte sich im Wesentlichen der im Reichswehrministerium unter Seeckt und Geßler ausgearbeitete Entwurf durchsetzen, getragen von der bürgerlich-rechten Mehrheit des Hauses.6 So konnten Strafanzeigen und Strafanträge in Militärstrafsachen auch bei den Disziplinarvorgesetzten des Beschuldigten schriftlich oder mündlich angebracht werden (§ 6 Abs. 1 S. 1), womit die entsprechende Vorschrift des alten § 151 MStGO für Reichswehrangehörige im Wesentlichen in den zivilen Strafprozess hinübergerettet wurde. Auch Rechtsmittel sowie Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder Wiederaufnahme des Verfahrens konnte der Beschuldigte oder Verurteilte in Militärstrafsachen nach § 11 Abs. 1 bei seinem Disziplinarvorgesetzten, bei einem Heeres- oder Marineanwalt oder dessen Sekretär zu Protokoll geben. Bei militärischen Verbrechen und Vergehen konnte der Befehlshaber gleich einem Verletzten die Klageerzwingung anstreben, wenn der Staatsanwalt die Strafverfolgung abgelehnt oder das Verfahren eingestellt hatte (§ 8 Abs. 3).7 Nach § 9 Abs. 1 war entsprechend dem bisherigen § 176 Nr. 3 MStGO die Verhaftung nicht nur bei Flucht- oder Verdunkelungsgefahr zulässig, sondern auch, »wenn neben dem Vorhandensein dringender Verdachtsgründe die Aufrechterhaltung der militärischen Disziplin sie fordert«. § 9 Abs. 4 wiederum erteilte nicht etwa nur den Disziplinarvorgesetzten einzelne, festgelegte Ermittlungsbefugnisse. Vielmehr hatten in »Militärstrafsachen« – also allen von Reichswehrangehörigen begangenen Straftaten – die militärischen Vorgesetzten »die Befugnisse und Pflichten derjenigen Polizei- und Sicherheitsbeamten, die den Anordnungen der Staatsanwaltschaft Folge zu leisten haben«, womit auf den entsprechenden Maßnahmenkatalog der RStPO verwiesen wurde. Entsprechende Maßnahmen durften sie zwar ohne Ersuchen der Staatsanwaltschaft, des Untersuchungsrichters und der Gericht nur dann treffen, wenn sie keinen Aufschub duldeten. Dieser Beschränkung unterlagen aber auch schon die zivilen Behörden und Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes nach § 161 Abs. 1 RStPO, so dass es sich hier um eine überflüssige Wiederholung handelte. Sie konnte nicht kaschieren, dass den militärischen Vorgesetzten, die anders als die Zivilbehörden sehr viel näher am Geschehen waren, bei Straftaten von Reichswehrangehörigen de facto weiterhin stets das Recht des ersten Zugriffs zukam. Bedenkt man die weitreichenden Folgen für die spätere Beweislage, die Entscheidungen in dieser Frühphase des Ermittlungsverfahrens haben können, so kommt man zu dem Ergebnis, dass die Reichswehr bei Straftaten ihrer Angehörigen auch nach der weitgehenden Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Ausgang des Strafverfahrens nehmen konnte. Darüber hinaus muss man sich klar machen, dass Ermittlungsmaß5 6 7
Es handelte sich hier also um eine »Zivilisierung« der Behandlung der in § 3 Abs. 2 EGMStGB genannten Fälle, vgl. Schmädeke, Kommandogewalt, S. 141 f. Gesetz, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587. Siehe auch § 170 RStPO.
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nahmen des Militärs damit nicht nur unmittelbar gegen den jeweils beschuldigten Reichswehrangehörigen zulässig waren, sondern teilweise auch unbeteiligte Dritte und damit Zivilisten betreffen konnten (siehe nur § 103 RStPO). Gefährdet war zudem immer noch der Grundsatz des nemo tenetur: Durfte der Soldat nun im zivilen Strafprozess – anders als früher nach der MStGO – wie jeder andere Beschuldigte auch grundsätzlich lügen, so bestand zumindest die Möglichkeit disziplinarer Bestrafung, wenn er einen vernehmenden Vorgesetzten belog.8 Keine eigene rechtliche Wirkung entfaltete zudem die Klarstellung in § 11 Abs. 3, wonach die Revision auch darauf gestützt werden konnte, dass »eine allgemeine militärische Dienstvorschrift nicht oder nicht richtig angewendet worden« war: Das entsprach bereits dem Inhalt des § 376 RStPO.9 Was die Verteidigung anbetraf, so konnten nach § 10 S. 1 »außer den in der Strafprozeßordnung […] bezeichneten Personen mit ihrer Zustimmung auch Offiziere und gewählte Vertreter der Soldaten gewählt oder auf Antrag des Angeklagten von Amts wegen bestellt werden«, womit juristische Laien nach Tradition der alten Militärjustiz in den zivilen Strafprozess eindringen konnten. Allerdings hatte die Sache auch einen Haken für die Soldaten, die weder Geld für einen Anwalt hatten noch im Kameradenkreis Unterstützung fanden: Für sie konnte nach § 10 S. 2 (i.V.m. § 144 RStPO) der Vorsitzende des Gerichts auch den Sekretär eines Heeres- oder Marineanwalts zum Pflichtverteidiger bestellen, der als Teil der Militärrechtspflege aber unter dem Einfluss der Exekutive stand. »Vorführungen von Militärpersonen« erfolgten nach § 14 »nach wie vor durch die Militärbehörde«. Schließlich wurde die Zuständigkeit der Militärbehörden für die Vollstreckung von Strafen gegen Soldaten aufgehoben, jedoch konnten sie Arreststrafen weiterhin »auf Ersuchen der bürgerlichen Strafvollstreckungsbehörden« vollstrecken (§ 13), was für letztere in Anbetracht der Kosten natürlich recht attraktiv war. Für Reichswehrangehörige vereinbarten die Länder in den »Grundsätzen für den Vollzug von Freiheitsstrafen« besondere Bestimmungen, insbesondere durften sie nur in der Festungshaft, nicht aber in Gefängnis und Zuchthaus Uniform tragen.10 Verloren war schließlich auch der für verurteilte Soldaten unabweisbare Vorteil, dass die Kosten des bisherigen Militärgerichtsverfahrens nach § 469 MStGO der Militärjustizverwaltung zur Last gefallen waren.11 Den größten Pferdefuß hielt das Gesetz zur Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit allerdings für die Reichsmarine parat. So entbrannte im Reichstag ein heftiger Streit 8 9
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Dietz, HDStO 1921-Kommentar, § 30, Anm. 6. Seit dem 1.4.1924 § 337 RStPO, siehe § 40 Abs. 4 und § 43 der Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4.1.1924 (»Emminger’sche Justizreform«), RGBl. 1924 I S. 15–22; sowie die Bekanntmachung der Texte des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung vom 22.3.1924, RGBl. 1924 I S. 299–370. § 162 Abs. 2 und § 195 der Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7.6.1923 (RGBl. 1923 II S. 263–282). Die Zuchthausinsassen durften ausnahmslos keine eigene, sondern nur Anstaltskleidung tragen, die auch im Gefängnis den Regelfall bildete, siehe §§ 154, 162 Abs. 1 ebenda. Siehe auch Nr. 2 des Erlasses des Reichswehrministeriums über Strafvollstreckung vom 1.10.1920, HVBl. 1920 S. 878–880 (Änderungen bei HVBl. 1921 S. 228; HVBl. 1923 S. 275 f.); abgelöst durch die Strafvollstreckungsvorschrift für das Reichsheer (H.St.V.) vom 18.5.1926, RGBl. 1926 II S. 273–287.
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über die Frage, was in Art. 106 WRV unter der Ausnahme »an Bord der Kriegsschiffe« zu verstehen war. Nach § 1 der Regierungsvorlage sollte die Militärgerichtsbarkeit »gegen die an Bord von Kriegsschiffen eingeschifften Angehörigen der Reichsmarine« weiterbestehen. Das betraf also alle Marineangehörigen, die eine Bordverwendung hatten und deren militärische Unterkunft daher regelmäßig an Bord eines Kriegsschiffs lag, jedoch unabhängig davon, ob sie etwa zum Tatzeitpunkt an Bord waren oder nicht. Dieser Entwurf war vielleicht noch mit dem Wortlaut von Art. 106 WRV zu vereinbaren. Dagegen sprach allerdings das systematische Argument, wonach § 6 EGMStGO den Begriff »an Bord« für den Militärstrafprozess dahingehend definierte, dass damit nur »die zum Dienste in außerheimischen Gewässern bestimmten Schiffe vom Zeitpunkte des Antritts der Reise bis zur Rückkehr in die heimischen Gewässer« sowie »alle Schiffe, solange sie sich im Kriegszustande befinden« gemeint waren. Das hätte auch der ursprünglichen Intention des entsprechenden Zentrums-Antrags in der Nationalversammlung entsprochen, die Militärstrafgerichtsbarkeit nur für die teils mehrjährigen Auslandsfahrten von Kriegsschiffen aufrechtzuerhalten, bei denen eine zeitige Zuführung an die Ziviljustiz ausgeschlossen war.12 Dabei scheint schon Noske ein doppeltes Spiel getrieben zu haben: Während der Debatten zu Art. 106 WRV im Juli 1919 stimmte er dem Zusatzantrag ausdrücklich zu, »wonach auf See die Militärgerichtsbarkeit in Geltung zu bleiben hat«. Aber bereits im Oktober wies er Reichskanzler Gustav Bauer explizit darauf hin, dass sie nach seinen bisherigen Entwürfen »für die an Bord eingeschifften Angehörigen der Marine auch in Friedenszeiten und in heimischen Gewässern bestehen bleibt«.13 In den Ausschussberatungen des Reichstags flog die Fassung des Regierungsentwurfs heraus; stattdessen sollte die Militärgerichtsbarkeit an Bord von Kriegsschiffen in ausländischen Gewässern sogar nur dann zuständig sein, wenn die Tat an Bord oder im Ausland begangen worden war.14 Damit sollte verhindert werden, dass ein Marineangehöriger nach einer Inlandsstraftat zwecks Aburteilung auf ein Kriegsschiff versetzt werden konnte. In der dritten Lesung am 30. Juli 1920 aber stellten DVPAbgeordnete einen Antrag, der an der Militärgerichtsbarkeit uneingeschränkt für »an Bord von in Dienst gestellten Kriegsschiffen eingeschifften Angehörigen der Reichsmarine« festhalten wollte.15 Die Sozialdemokraten wurden überrumpelt, Gustav Radbruch bestritt sogar die Verfassungsmäßigkeit des Abänderungsantrages.16 Doch es half alles nichts: Der Reichstag befürwortete den Antrag und verabschiedete das Gesetz noch am selben Tag mit verfassungsdurchbrechender Zwei-DrittelMehrheit (Art. 76 Abs. 1 WRV).17 Um zu verstehen, wie schwer diese Niederlage für 12
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So die Begründung von Adolf Gröber (Zentrum), der die Ausnahme für Kriegsschiffe in Art. 106 WRV erfolgreich beantragt hatte, siehe Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 1477. Schreiben des Reichswehrministers Noske an Reichskanzler Bauer betreffend Erweiterung des Gesetzesentwurfs zur Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, Nr. 1040/9.19. C 4 II. Ang. vom 18.10.1919 (kursive Hervorhebungen im Original unterstrichen), BArch R 43-I/701, fol. 111. Reichstagsdrucksache 1/205, S. 172. Reichstagsdrucksache 1/278. Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 455. Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 460.
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IV. Militärstrafrecht
das Reformlager wog, muss man die weitgehende Beibehaltung der Militärgerichtsbarkeit ausgerechnet in der Reichsmarine auch im Kontext des Kieler Matrosenaufstands von Anfang November 1918 sehen, bei dem Meutereien der eingeschifften Mannschaften den Auftakt zur Revolution gegeben hatten. Das Gesetz trat erst zwei Monate später, am 1. Oktober 1920, in Kraft, womit der Überleitung der Kompetenzen genügend Zeit gegeben werden sollte. Eine Ausnahme bildeten allerdings – vor dem Hintergrund der unzureichenden militärgerichtlichen Aufbereitung des Kapp-Lüttwitz-Putsches vom März – die »Verfahren wegen strafbarer Handlungen, durch welche Leib oder Leben von nicht der Wehrmacht angehörigen Personen verletzt ist, wegen Hoch- und Landesverrats sowie wegen der damit zusammenhängenden strafbaren Handlungen«, die sich bereits »von der Verkündigung dieses Gesetzes an nach dessen Vorschriften« richteten.18 Um die Vorschriften über den Strafprozess in Militärstrafsachen zu konsolidieren, nutzte die Regierung Marx das Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923, das sie dem Reichstag unter Androhung seiner Auflösung vor dem Hintergrund der Hyperinflation »in Hinblick auf die Not von Volk und Reich für erforderlich und dringend« erachteten Maßnahmen abgerungen hatte.19 Es gestattete der Reichsregierung unter Beteiligung von Reichstags- und Reichsratsausschüssen den Erlass von gesetzvertretenden Verordnungen.20 Am 4. Januar 1924 erließ die Reichsregierung eine »Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege«, den strafrechtlichen Teil der »Emminger’schen Justizreform«, wodurch insbesondere die Geschworenengerichte in ihrer ursprünglichen Form abgeschafft wurden. Die Vorschriften des Aufhebungsgesetzes wurden dabei ohne materielle Änderungen in die §§ 434–448 der RStPO eingearbeitet.21 Für die an Bord von Kriegsschiffen eingeschifften Marineangehörigen – die Mehrzahl – blieb es also bei der Militärgerichtsbarkeit in der Form, die sie durch die Notverordnung vom Dezember 1918 erhalten hatte.22 Allerdings wählten die Vertrauensleute regelmäßig nur Mannschaften und Unteroffiziere zu »Kameradschaftsrichtern«, was bei Verfahren gegen Offiziere jedoch dazu führte, dass Untergebene über Vorgesetzte richten mussten. Dem begegnete Reichswehrminister Geßler, indem er dem Reichstag im Mai 1925 den Entwurf eines Gesetzes über Militärgerichte und militärgerichtliches Verfahren zuleitete.23 Zur Begründung hieß es: »Es widerspricht 18 19 20
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§ 28 Abs. 1 des Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587. Ermächtigungsgesetz vom 8.12.1923, RGBl. 1923 I S. 1179. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 7, S. 451–455. Das Recht des Parlaments, später die Aufhebung zu verlangen, hebelte Reichspräsident Ebert entgegen dem Willen der SPD aus, indem er am 13.3.1924 den Reichstag auflöste, siehe hierzu Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 441 f. § 43 der Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4.1.1924, RGBl. 1924 I S. 15–22; Neufassung der RStPO vom 22.3.1924, RGBl. 1924 I S. 322–370 (366 f.). Siehe auch § 24 Abs. 1 des Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587. § 25 ermächtigte zudem den Reichspräsidenten, wegen »der dem Reichsmilitärgerichte durch Gesetz oder Verordnung übertragenen besonderen Geschäfte […] Bestimmung« zu treffen; siehe in diesem Zusammenhang auch die Verordnung über den Disziplinarhof für richterliche Militärjustizbeamte vom 29.3.1922, RGBl. 1922 I S. 334. Reichstagsdrucksache 3/865.
3. Kriegs- und Standgerichte im Ausnahmezustand
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der militärischen Ordnung und der Stellung des Vorgesetzten im militärischen Leben, daß der Vorgesetzte vor Untergebenen sich verantwortet und von ihnen abgeurteilt wird.« Allerdings sollte umgekehrt mindestens ein Offizier bei Verfahren auch gegen Mannschaften und Unteroffiziere als Richter mitwirken, denn das »zur Aufrechterhaltung [der militärischen Manneszucht] Erforderliche vermögen […] Unteroffiziere und Mannschaften nicht immer ausreichend zu übersehen. Hierzu sind nur Offiziere kraft ihrer Dienststellung, Ausbildung und Erfahrung in der Lage«.24 Trotzdem sollte das System der Kameradschaftsrichter nicht völlig aufgegeben werden und die Besetzung der Spruchkörper sich auch weiterhin nach dem Dienstgrad des Angeklagten richten. Nur sollten die Beisitzer fortan nach einer im Losverfahren erstellten Liste berufen werden, auch um einer missbräuchlichen Auswahl durch den Gerichtsherrn entgegenzuwirken. Darüber hinaus übertrug der Entwurf die wesentlichen Neuerungen der »Emminger’schen Justizreform«, insbesondere die Einschränkung des Verfolgungszwanges bei Geringfügigkeit, auf das Militärgerichtsverfahren.25 Diese Reformen waren allerdings besonders in der Anwaltschaft umstritten; auch sah die politische Linke in der Wählbarkeit der Militärrichter eine der wenigen dauerhaften Errungenschaften der Novemberrevolution. Die Kommunisten gingen sogar in die Gegenoffensive und stellten einen Antrag, die Vorschriften über den Gerichtsherrn gleich mit zu beseitigen, der allerdings keine Mehrheit fand.26 Die Mehrheitsverhältnisse des Reichstags ließen den Regierungsentwurf ohne große Änderungen am 4. Februar 1926 passieren,27 so dass der Reichspräsident das fertige Gesetz am 22. Februar ausfertigen konnte.28 Der verbliebene Militärstrafprozess nach der MStGO hatte damit für die Zeit der Republik seine finale Form erhalten.
3. Kriegs- und Standgerichte im Ausnahmezustand Jenseits der Militärjustiz im engeren Sinne konnte sich die Reichswehr aber auf einem anderen Gebiet ihre Rechtsprechungskompetenz weitgehend bewahren. Es entsprach der Rechtstradition, dass einem militärischen Befehlshaber bisweilen die Jurisdiktionsgewalt auch über Zivilisten zukam. So wären – wie schon im Ersten Weltkrieg – nach § 1 Nr. 8 MStGO i.V.m. §§ 155 und § 166 MStGB alle während eines Kriegs in einem Dienst- oder Vertragsverhältnis mit dem kriegführenden Heer befindlichen oder sonst sich bei ihm aufhaltenden oder ihm folgenden Personen (Hee24 25
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Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über Militärgerichte und militärgerichtliches Verfahren vom 6.5.1925, Reichstagsdrucksache 3/865, S. 3. Reichstagsdrucksache 3/865 S. 3 f. Nach § 436 der Neufassung der RStPO von 1924 war die Möglichkeit der Staatsanwaltschaft, das Verfahren bei Geringfügigkeit einzustellen, bei Militärstrafsachen ursprünglich ausgenommen gewesen, RGBl. 1924 I S. 322–370 (366). Reichstagsdrucksache 3/1815; Verhandlungen des Reichstags, Band 388, S. 5304. Bericht des 13. Ausschusses (Rechtspflege) über den Entwurf eines Gesetzes über Militärgerichte und militärgerichtliches Verfahren vom 21.1.1926, Reichstagsdrucksache 3/1781; Verhandlungen des Reichstags, Band 388, S. 5305. Gesetz über Militärgerichte und militärgerichtliches Verfahren vom 22.2.1926, RGBl. 1926 I S. 103 f.
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IV. Militärstrafrecht
resgefolge) sowie die Schiffsangestellten der Marine der Militärgerichtsbarkeit unterworfen gewesen. Mindestens ebenso wichtig war aber der im Volksmund unter dem Sammelbegriff »Standrecht« bezeichnete summarische Ausnahmestrafprozess im Kriegs-, Belagerungs- oder späteren Ausnahmezustand. Er beruhte im Reich (mit Ausnahme von Bayern) auch noch zu Beginn der Republik auf den §§ 10–15 des preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand von 1851,29 das die Einrichtung außerordentlicher Kriegsgerichte vorsah. Diesen Kriegsgerichten unterlagen sämtliche dem Belagerungszustand unterliegenden Zivilpersonen; sie waren zuständig nur für bestimmte Delikte, insbesondere Hoch- und Landesverrat, Mord, Aufruhr, tätliche Widersetzung, Zerstörung von Eisenbahnen und Telegraphen, Gefangenenbefreiung, Meuterei, Raub, Plünderung, Erpressung, Verleitung von Soldaten zur Untreue, das Ausbreiten falscher Gerüchte über den Feind zur Irreleitung der eigenen Truppen, vorsätzliche Brandstiftung oder Überschwemmung und den Versuch der Verleitung von Soldaten zu Verbrechen gegen die Subordination oder Vergehen gegen die militärische Zucht und Ordnung. Besonders pikant aber war, dass sie auch über Verstöße gegen ein vom Militärbefehlshaber im Zusammenhang mit dem Belagerungszustand verhängtes Verbot sowie die Aufforderung oder Anreizung zu dessen Übertretung richteten.30 In Bayern beruhte das entsprechende, hier auch im engeren Sinne so bezeichnete Standrecht auf den Art. 5–8 des Gesetzes über den Kriegszustand aus dem Jahr 1912 und den dazu ergangenen Vollzugsvorschriften.31 Nach beiden Gesetzen waren die Verfahren mündlich und grundsätzlich öffentlich, der Angeklagte hatte das Recht auf einen Verteidiger. Sowohl die standrechtlichen Gerichte Bayerns als auch die Kriegsgerichte in Preußen waren mit jeweils fünf Richtern besetzt, wobei neben die professionellen Juristen in Preußen drei, in Bayern zwei Offiziere ab Dienstgrad Hauptmann traten, die vom Militärbefehlshaber bestimmt wurden. Den Vorsitz führte stets ein richterlicher Zivilbeamter. In Preußen wurde die Anklage durch einen vom Militärbefehlshaber bestellten Berichterstatter (meist ein Auditeur, also ein Militärjustizbeamter), in Bayern hingegen durch die zivile Staatsanwaltschaft vertreten. Die Urteile konnten auf unschuldig, Überweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit oder schuldig lauten; sie waren sofort zu vollstrecken, ein Rechtsmittel gegen sie fand nicht statt. Todesurteile bedurften in Preußen der Bestätigung des zuständigen Militärbefehlshabers, wodurch die Idee des Gerichtsherrn auch im preußischen Belagerungszustand anklang. Die Gesetze über den Belagerungs- und Kriegszustand und ihre Ausnahmestrafverfahren wurden erst mit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung und ihr Regime des Ausnahmezustandes abgelöst. Bis dahin entfalteten die Ausnahmege29 30 31
Gesetz über den Belagerungszustand vom 4.6.1851, Preußische Gesetzsammlung 1851, S. 451–456. Hierzu ausführlich Schudnagies, Belagerungszustand, S. 88–125. Gesetz über den Kriegszustand vom 5.11.1912, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Bayern 1912, S. 1161–1165; Vollzugsvorschriften zu dem Gesetz über den Kriegszustand vom 13.3.1913, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Bayern 1913, S. 97–115. Siehe auch Erhard, Gesetz, S. 19–21; Schudnagies, Belagerungszustand, S. 49 f.
3. Kriegs- und Standgerichte im Ausnahmezustand
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richte alten Rechts noch eine rege Tätigkeit, insbesondere bei der Verurteilung der Münchener Räterepublikaner. Sie wurden mit der neuen Reichsverfassung jedoch nicht auf Dauer abgeschafft, sondern lediglich auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt: So nahm Art. 105 S. 3 WRV ausdrücklich die »Kriegsgerichte und Standgerichte« vom Verbot der Ausnahmegerichte aus, womit – unabhängig vom Gebrauch der überlieferten Terminologie – nach gängiger Ansicht die Einrichtung solcher Gerichte auf der Grundlage von Art. 48 Abs. 2 WRV gemeint war.32 Vergeblich hatte sich die USPD in der Nationalversammlung für eine ausnahmslose Abschaffung eingesetzt.33 Das verfassungsrechtliche Verbot von Ausnahmegerichten sparte also seinen potentiell wichtigsten Anwendungsfall aus und büßte damit erheblich an praktischer Relevanz ein. Folgerichtig wies auch Seeckt als Chef des Truppenamtes im Oktober 1919 bei der Erläuterung der »Rechtslage bei militärischem Einschreiten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit« die Reichswehr-Gruppenkommandos darauf hin: »Die im Art. 48 nicht aufgenommene Einsetzung von Kriegs- und Standgerichten wird durch den Art. 105 der Reichsverfassung, der die Tatsache der Kriegs- und Standgerichte als gegeben voraussetzt, ausreichend begründet.«34 Sowohl die Regierungsentwürfe für Art. 48 Abs. 2-Verordnungen35 als auch die Bestimmungen der Reichswehr über ihre Verwendungen im Reichsgebiet36 sahen hier für den »kleinen Ausnahmezustand« die Einrichtung von außerordentlichen Gerichten, besetzt mit professionellen Juristen vor, die für sämtliche Delikte zuständig waren. Der »große Ausnahmezustand« sah eine Verschärfung dahingehend vor, dass der Militärbefehlshaber Standgerichte mit Offizierrichtern einsetzen konnte, die nach dem Vorbild des alten preußischen Gesetzes über den Belagerungszustand nur über bestimmte Straftaten zu richten hatten und deren Todesurteile durch den Militärbefehlshaber zu bestätigen waren. So genehmigte der Reichspräsident etwa im Zusammenhang mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch und dem darauffolgenden Ruhraufstand für den Bezirk des Reichswehr-Gruppenkommandos 1 (Mittel-, Nordund Ostdeutschland), die Regierungsbezirke Düsseldorf, Münster und Arnsberg sowie für das Gebiet der Reichswehrbrigade 11 (Gebiet um Kassel und westliches Thüringen) die Einrichtung außerordentlicher Kriegsgerichte für bestimmte Straftaten einrichten, die mit Volljuristen besetzt wurden. Ferner gestattete er den örtlichen Militärbefehlshabern im Falle eines Aufruhrs oder Landfriedensbruchs die Einführung von mit Offizieren besetzten Standgerichten. Im Falle der Reichswehrbrigade 11 hatte ihr Kommandeur, Generalleutnant v. Stolzmann, die entsprechende Verordnung sogar zunächst aus eigener Initiative und ohne Rechtsgrundlage am 13. März 32 33 34
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Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 105, Anm. 6. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 1465, 1479. Mitteilung des Chefs des Truppenamts, Generalmajor v. Seeckt, an die Reichswehr-Gruppenkommandos über die Rechtslage bei militärischem Einschreiten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit vom 18.10.1919, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 246–248 (247). Akten der Reichskanzlei, Kabinett Bauer, Nr. 35, S. 152 f., insbesondere Fn. 5. Abschnitt II (Verhaftung, vorläufige Festnahme, Schutzhaft) Nr. 20 des Sammelhefts der Bestimmungen über Verwendung der Wehrmacht im Reichsgebiet bei öffentlichen Notständen und inneren Unruhen (V.i.R.), D.V.E. Nr./H. Dv. 469, Teil 2: Die rechtlichen Voraussetzungen zum Einschreiten der Wehrmacht, Neudruck 1924 als konsolidierte Fassung der Ausgabe von 1920 mit Deckblättern vom September 1921.
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IV. Militärstrafrecht
1920 erlassen; der mit der Reichsregierung aus Berlin entflohene Ebert billigte sie rückwirkend erst zwölf Tage später.37 Außerordentliche, zivile Ausnahmegerichte wurden erneut im großen Stil zur Aburteilung der kommunistischen Märzaufständischen 1921 eingerichtet.38 Auch in der bayerischen Krise des Spätjahres 1923 übertrug der Reichspräsident Seeckt zwar die vollziehende Gewalt, entschied sich aber gegen militärische Standgerichte. Stattdessen hatte der Reichsjustizminister auf Ansuchen des Inhabers der vollziehenden Gewalt außerordentliche Gerichte einzurichten, auch hier besetzt mit zivilen Volljuristen.39 Nach Darstellung der im Nachgang verfassten Denkschrift Schleichers über den Ausnahmezustand wurde die allgemeine Aufstellung solcher Gerichte zwar von Seeckt beantragt und auch dringend gewünscht, scheiterte aber an der Kostenfrage. »Dies hat der Schlagkraft des Ausnahmezustandes geschadet. Die ordentlichen Gerichte mit ihren schleppenden Verfahren und ihrer großen Überlastung konnten der für Durchführung und Ansehen des militärischen Ausnahmezustandes wichtigsten Forderung der vor allem gebotenen raschen Aburteilung von Verbrechen und Vergehen gegen die öffentliche Ordnung und die Sicherheit des Reiches nicht gerecht werden. […] Aber selbst außerordentliche Gerichte haben sich wiederholt veranlaßt gesehen, die Vollstreckung der verhängten Strafen bedingt auszusetzen. Dies entspricht weder dem Zweck der Einsetzung solcher Gerichte noch dem Sinn und Wesen des Ausnahmezustandes, der nach raschester Aburteilung umgehende Strafvollstreckung unbedingt verlangt.«40 Ursache könnte hier gewesen sein, dass Reichsjustizminister Radbruch an der Ausarbeitung der Notverordnung und seiner damit einhergehenden Pflicht, auf Geheiß des Inhabers der vollziehenden Gewalt außerordentliche Gerichte einzurichten, nicht beteiligt gewesen war, worauf er in der folgenden Kabinettssitzung vom 27. September 1923 recht verschnupft reagierte.41 Im praktischen Ergebnis konnte also nur von einer Teilabschaffung der Militärgerichtsbarkeit die Rede sein, bei der winzigen Marine blieb sie sogar im Wesentlichen bestehen. Das Reichswehrministerium – unter Noske wie Geßler – bemühte sich von Anfang an, den Einfluss der Streitkräfte auf den Strafprozess in Militärstrafsachen möglichst groß zu halten. Zwar griffen die demokratischen Parteien im Zuge des 37
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40 41
Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Artikel 48 Abs. 2 der Reichsverfassung, betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Bezirke des Reichswehrgruppenkommandos 1 nötigen weiteren Maßnahmen, vom 19.3.1920, RGBl. 1920 S. 467–469; Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Artikel 48 Abs. 2 der Reichsverfassung, betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für das Gebiet der Reichswehrbrigade 11 nötigen weiteren Maßnahmen, vom 25.3.1920, RGBl. 1920 S. 470–473; Erlass des Reichspräsidenten, betreffend die Aufhebung von Standgerichten, vom 25.3.1920, RGBl. 1920 S. 473. Verordnung des Reichspräsidenten über die Bildung außerordentlicher Gerichte vom 29.3.1921, RGBl. 1921 S. 371–374. § 6 der Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Artikel 48, Abs. 2 der Reichsverfassung, betreffend die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für das Reichsgebiet nötigen Maßnahmen, vom 26.9.1923, RGBl. 1923 I S. 905 f., abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 322 f. Denkschrift des Referats T 1 III (Schleicher) über den militärischen Ausnahmezustand vom 12.8.1924, abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 334–362 (349 f.). Akten der Reichskanzlei, Kabinette Stresemann I/II, Band 1, Nr. 83, S. 381 f.
4. Das Militärstrafgesetzbuch
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Gesetzgebungsprozesses in Einzelfragen korrigierend ein. Eigene Ideen brachten sie allerdings nicht im großen Stil ein, so dass das Resultat ganz eindeutig die Handschrift des federführenden Reichswehrministeriums und der in ihm waltenden Generalstabsoffiziere trug. Auch wenn der großen, alten Militärjustiz des Kaiserreiches im August 1920 im Großen und Ganzen der Garaus gemacht wurde: Der Strafprozess richtete sich für die Soldaten der Weimarer Republik noch immer nach besonderen Regeln.
4. Das Militärstrafgesetzbuch und die Gehorsamspflicht Wenn das Strafrecht gemeinhin als das »schärfste Schwert des Staates«, als »ultima ratio« bezeichnet wird, dann wird allein daran schon deutlich, dass das materielle Militärstrafrecht für die Rechtsstellung des Soldaten eine herausragende Bedeutung einnimmt. Bei der Reichswehr wie schon beim alten Heer trat hier jedoch noch eine Besonderheit hinzu: Das Militärstrafrecht war der (einzige) Ort, an dem die Reichweite der Gehorsamspflicht gesetzlich verankert und bestimmt wurde.42 Die Verfassung setzte das militärische Prinzip von Befehl und Gehorsam mit der Regelung des Oberbefehls in Art. 47 WRV lediglich voraus; man hätte darin höchstens so etwas wie eine Institutsgarantie erblicken können. Auch die vom Reichspräsidenten erlassenen »Berufspflichten des deutschen Soldaten« bildeten wie schon die Kriegsartikel des Kaisers nach damaliger Auffassung lediglich eine »allgemeine Pflichtenlehre«.43 Ihr Erlass fußte ja gerade auf der Kommandogewalt und konstituierte die Gehorsamspflicht nicht, auch wenn sie darin ausdrücklich genannt wurde. Vor allem aber traf das Wehrgesetz, insbesondere in seinem Abschnitt III (Pflichte und Rechte der Angehörigen der Wehrmacht), keinerlei Aussagen über die Gehorsamspflicht. Auch der Abschnitt I (Gliederung und Befehlsverhältnisse) schwieg dazu, er enthielt lediglich organisationsrechtliche Bestimmungen. Wie schon im Kaiserreich war die Gehorsamspflicht des Soldaten damit an keiner Stelle positiv durch Gesetz geregelt. Sie wurde vielmehr ex negativo durch die Strafvorschriften über den Ungehorsam und die Gehorsamsverweigerung bestimmt. Die für das Militär nachgerade konstitutive Gehorsamspflicht wurde also in erster Linie aus dem Blickwinkel des Strafrechts betrachtet. »Disziplin ist die ganze Seele der Armee.«44 – Ging man mit Moltke d.Ä. von dieser Prämisse aus, dann hätte man umgekehrt auch sagen können: Die ganze Seele der Streitkräfte ruhte in erster Linie auf der Androhung von Strafe. Ungeachtet der Dolchstoßlegende war den militärischen Eliten des Reiches durchaus bewusst, dass die Novemberrevolution maßgeblich von den Soldaten selbst und besonders der Hochseeflotte ausgegangen war. Entsprechend war ihr Bedürfnis nach Disziplin 42 43 44
Nach Kesper-Biermann, Stiefkind, S. 69, war das »Militärrecht des 19. Jahrhunderts […] im Wesentlichen Militärstrafrecht«. Fuhse, MStGB 1926-Kommentar, § 92 Anm. 7. Verhandlungen des Reichstags, III. Session 1872, Band 2, S. 814.
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IV. Militärstrafrecht
im Zweifelsfall sogar noch stärker als zu Zeiten des Kaiserreichs. Das sah auch General d. Inf. a.D. Paul v. Lettow-Vorbeck nicht anders, als er 1929 (knapp sechzig Jahre nach Moltke d.Ä.) als Mitglied der deutschnationalen Fraktion im Reichstag sprach: »Die Anforderungen, die an den Soldaten im Falle der wirklichen Not gestellt werden, und die Einflüsse, die dann im Augenblick der Gefahr auf ihn einstürmen, sind unter Umständen doch derartige, daß eine Leistung nur erzielt werden kann, wenn die Furcht vor der Strafe noch größer ist als die Furcht vor der Gefahr.«45
a) Die Entstehung des MStGB Das besondere Militärstrafrecht der Weimarer Republik, also die militärspezifischen Sonderdelikte, waren im Militärstrafgesetzbuch aus dem Jahr 1872 verankert, das wie so viele andere Normen wegen der normativen Kontinuität der Revolution auch nach 1918 fortgalt. Zunächst im Norddeutschen Bund und dann im Bismarckreich war mit Ausnahme von Bayern, Sachsen und Württemberg nach Art. 61 Abs. 1 der Bundesund späteren Reichsverfassung von 1871 zunächst das preußische Militärstrafgesetzbuch vom 3. April 184546 eingeführt worden.47 Die Bayern hatten aufgrund des Bündnisvertrages von 187148 an ihrem Militärstrafgesetzbuch vom 29. April 1869 festhalten können,49 das württembergische vom 20. Juli 181850 hatte aufgrund der Militärkonvention von 1870 weiter gegolten.51 Das sächsische Pendant vom 4. November 1867 wiederum hatte sich der Militärkonvention vom selben Jahr nach vor allem am Strafgesetzbuch für das preußische Heer orientiert.52 Bereits im Jahr 1870 jedoch brachten nationalliberale Abgeordnete um Eduard Lasker im Reichstag des Norddeutschen Bundes einen erfolgreichen Antrag ein, der den Bundeskanzler aufforderte, »baldmöglichst eine Vorlage des Bundesrathes über die Revision der Militairstrafgesetze herbeizuführen«. Dabei betrachtete insbesondere August Bebel das Vorhaben zunächst als eine Chance, der »Exklusivität des Militairs von dem übrigen Volke« entgegenzutreten.53 Nach dem Deutsch-Französischen Krieg erhielt dann der preußische Generalauditeur Eduard Fleck, also der Kopf der preußischen Militärjustiz, 45 46 47
48 49 50 51 52 53
Verhandlungen des Reichstags, Band 425, S. 2501. Strafgesetzbuch für das Preußische Heer vom 3.4.1845, Preußische Gesetzsammlung 1845, S. 287–390. Verordnung, die Einführung des Preußischen Militair-Strafrechts im ganzen Bundesgebiete betreffend, vom 29.12.1867, BGBl. 1867 S. 185–316. Zum Überblick über die älteren einzelstaatlichen Kodifikationen auf dem Gebiet des Militärstrafrechts siehe Kesper-Biermann, Stiefkind, S. 49–51. § 5 des Vertrages, betreffend den Beitritt Bayerns zur Verfassung des Deutschen Bundes, nebst Schlußprotokoll, BGBl. 1871 S. 9–26 (= Huber, Dokumente, Band 2, S. 329–333). Gesetz vom 29.4.1869 betreffend die Einführung des Militärstrafgesetzbuches und der Militärstrafgerichtsordnung für das Königreich Bayern, Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1866–1869, S. 1341–1348. Königl. Rescript vom 20.7.1818, die militärischen Strafgesetze betreffend, nebst Beilage, Königlich-Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1818, S. 633 f. Siehe Art. 10 Abs. 3 der Militair-Konvention zwischen dem Norddeutschen Bunde und Württemberg vom 21./25.11.1870, BGBl. 1870 S. 658–662 (= Huber, Dokumente, Band 2, S. 339–342). Militär-Strafgesetzbuch vom 4.11.1867, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1867, S. 353–404. Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, Session 1870, Band 1, S. 561–574 (567 f.); siehe auch Drucksache 38 in Session 1870, Band 3.
4. Das Militärstrafgesetzbuch
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im März 1871 den Auftrag, einen ersten Entwurf für ein reichseinheitliches Militärstrafgesetzbuch auszuarbeiten.54 Auch hier spielte wie bei so vielen anderen Gesetzgebungsprojekten der 1870er Jahre – zu denken ist insbesondere an das ReichsStrafgesetzbuch – der Gedanke der Nationsbildung eine wichtige Rolle.55 Fleck orientierte sich bei seinen Arbeiten am preußischen Vorbild, versöhnte es allerdings auch erfolgreich mit bayerischen Elementen.56 Nach Beratungen in einer Expertenkommission und nur geringfügigen Änderungen im Bundesrat erreichte die Vorlage den Reichstag am 8. April 1872.57 Die Motive dazu betonten allerdings, »das preußische Militär-Strafgesetzbuch reiche aus für den Frieden, sei aber unzulänglich für den Krieg. Die Erfahrungen vornehmlich des Deutsch-Französischen Krieges sind deshalb für den Entwurf verwerthet worden, indem man die in diesem Kriege erkannten Lücken des Strafrechts […] auszufüllen sich bemüht hat«. Dabei handelte es sich vor allem um Bestimmungen über unerlaubtes Beutemachen, Plündern, Marodieren und Leichenraub sowie um die Erstreckung des Militärstrafrechts auf den Tross sowie teilweise auch die Bewohner eines okkupierten Gebiets. Ein weiterer Anspruch des Entwurfs war, »das Militär-Strafrecht in Bezug auf systematischen Aufbau des Gesetzes thunlichst dem Deutschen Civilstrafrechte, insbesondere also dem Strafgesetzbuche für das Deutsche Reich zu assimilieren, es mit den leitenden Gedanken desselben, und dadurch mit den Anforderungen der heutigen Strafrechtswissenschaft in Einklang zu bringen«.58 Das äußerte sich vor allem darin, dass § 2 den Allgemeinen Teil des RStGB und seine Strafen grundsätzlich auch für das Militärstrafrecht für anwendbar erklärte. Der Reichstag bildete alsdann eine 21-köpfige Kommission unter Vorsitz des Konservativen Generalfeldmarschall Helmuth v. Moltke, der auch der ursprüngliche Initiator Lasker angehörte. Der Ausschuss unterzog den Entwurf in 26 Sitzungen einer zweimaligen Lesung, wobei es erstmals zu scharfen Kontroversen kam, die vor allem folgende Fragen betrafen: Erstens, inwieweit kriminelles Handeln auf Befehl straflos sein sollte, wovon weiter unten noch eingehend die Rede sein wird. Zweitens, inwieweit abweichende Strafen für Militärpersonen auch bei Begehung ziviler Delikte angedroht und ob Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere unterschiedlich bestraft werden sollten, sowie drittens, wie die besondere militärische Arreststrafe auszugestalten war.59 In der folgenden zweiten Lesung im Reichstagsplenum vom 7. Juni 1872 beantragten die Nationalliberalen, die Arreststrafe erheblich zu mildern. Hiergegen wandte sich Moltke in einer flammenden Rede: »Ich glaube, daß eine allzu große Abminderung der Strenge der Strafen nur die Zahl ihrer Anwendungen vermehren wird. Wenn wir ein Gesetz für die Armee geben wollen, meine Herren, so dürfen wir uns nicht ausschließlich auf den bürgerlichen, auf den juristischen oder ärztlichen Standpunkt stellen, wir müssen uns schon auf den militärischen stellen. […] Es muss der Un54 55 56 57 58 59
Fuhse, MStGB-Kommentar, Einleitung S. XI. Siehe hierzu und im Folgenden Kesper-Biermann, Reformen, S. 134 f. und 146–150. Huber, Verfassungsgeschichte, Band 3, S. 996. Kesper-Biermann, Stiefkind, S. 50 und 62 f. Reichstagsdrucksache 5 , S. 16, in III. Session 1872, Band 3. Hierzu und im Folgenden Liszt, Strafrecht, S. 71; ebenso Kesper-Biermann, Reformen, S. 148–150.
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IV. Militärstrafrecht teroffizier dem Soldaten gegenüber eine bevorzugte Stellung haben, und es muss der Offizier beiden gegenüber eine Prärogative besitzen.«60
Der Vertreter der preußischen Staatsregierung, Kriegsminister Albrecht v. Roon, pflichtete ihm bei: »Mein verehrter Freund Graf Moltke hat mich der Mühe enthoben, in die Materie wegen der Arreststrafe noch einmal hineinzugehen; ich habe dem, was er gesagt hat, wenig hinzuzufügen. Ob man die Strafen homöopathisch und unwirksam oder kräftig und darum selten zu verfügen hat, darum handelt es sich in der Frage, um nichts anderes. […] Daß jede Strafe, zumal die Arreststrafe, namentlich die geschärfte Arreststrafe, schädlich ist, der Gesundheit in gewissen Grade schadet, darüber habe ich niemals einen Zweifel gehabt und für mich bedarf es keiner physiologischen Erwägungen und keiner neuen technischen Untersuchung, um dieses Faktum anzuerkennen. Ich bin aber der unvorgreiflichen Meinung, daß der Straffällige ja nicht zum Vergnügen der Strafanordnenden diesem grausamen Zwischenfall unterworfen wird, sondern aus eigener Verschuldung, und daß, wenn seine Gesundheit wirklich darunter leidet, er sich selbst als Ursache betrachten muß.«61
Der Antrag der Nationalliberalen auf Abschaffung des strengen Arrests fand schließlich keine Mehrheit, so dass es bei den gestaffelten Arreststrafen (Stubenarrest, gelinder, mittlerer und strenger Arrest) blieb, die zudem abhängig vom Dienstgrad des Täters waren. Auch im Übrigen nahm der Reichstag den von der Kommission modifizierten Entwurf zusammen mit einem Einführungsgesetz im Wesentlichen unverändert an,62 so dass das Militärstrafgesetzbuch am 20. Juni vom Kaiser ausgefertigt wurde und zum 1. Oktober 1872 in Kraft trat.63
b) Das MStGB und seine Novellen bis zur Frühphase der Republik Das MStGB ergänzte das allgemeine Strafrecht, zum Teil verdrängte es dessen Tatbestände durch Sondervorschriften.64 Hinsichtlich der allgemeinen Vorschriften wurde einleitend in § 2 angeordnet, dass die allgemeinen Bestimmungen des RStGB über Verbrechen und Vergehen auch auf die militärischen Verbrechen und Vergehen des MStGB entsprechende Anwendung fanden. Problematisch hieran war, dass der lediglich entsprechenden Anwendung nach ganz allgemeiner Auffassung dort Grenzen (zu Lasten des Angeklagten) gezogen waren, wo »dies mit den besonderen Bedürfnissen des Heeres, namentlich der unbedingt erforderlichen Wahrung der militärischen Disziplin« unvereinbar war.65 Die damals herrschende »kausale Handlungslehre« behandelte die Fragen von Vorsatz und Fahrlässigkeit im RStGB wie im MStGB als wesentliche Bestandteile der 60 61 62 63 64 65
Verhandlungen des Reichstags, III. Session 1872, Band 2, S. 814. Verhandlungen des Reichstags, III. Session 1872, Band 2, S. 818. Verhandlungen des Reichstags, III. Session 1872, Band 2, S. 825 f. und 835–846. § 1 EGMStGB. So verdrängte bspw. die Misshandlung Untergebener (§ 122 MStGB) die Körperverletzung (§ 223 RStGB), Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 122 Anm. 2. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 2 Anm. 3; siehe auch Rotermund, MStGB-Kommentar, § 2 Anm. 4; ebenso Rittau, MStGB-Kommentar, § 2 Anm. 2.
4. Das Militärstrafgesetzbuch
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Schuld, die zwar anerkanntermaßen Bedingung der Strafbarkeit (nulla poena sine culpa), aber eben nicht tatbestandlich erfasst war.66 Vorsatz und Fahrlässigkeit galten daher nicht als subjektive Tatbestandsmerkmale im heutigen Sinne. In diesem Zusammenhang muss auch noch etwas anderes gesehen werden: Zwar folgerten Reichsgericht wie Literatur aus der Systematik der Strafandrohungen des RStGB, dass für Verbrechen und Vergehen (nicht aber für Übertretungen) grundsätzlich vorsätzliches Handeln erforderlich sei. Die fahrlässige Begehung eines Verbrechens oder Vergehens war aber nach weit überwiegender Auffassung nicht nur dann strafbar, wenn es ausdrücklich bestimmt war,67 sondern auch dann, wenn es »sich aus dem Zusammenhang der gesetzlichen Bestimmungen oder aus dem Grunde und Zwecke der einzelnen Norm mit Sicherheit« ergab.68 So war insbesondere von der ständigen Rechtsprechung anerkannt, wenn auch von gewichtigen Stimmen der Literatur bestritten, dass der Ungehorsam (§ 92) auch fahrlässig begangen werden konnte, obschon das Gesetz das nicht ausdrücklich nannte.69 § 1 unterschied die militärischen Straftaten: So bezeichnete das MStGB die Handlungen, die es mit dem Tode, Zuchthaus, oder mit Gefängnis oder Festungshaft von mehr als fünf Jahren bedrohte, als militärische Verbrechen, die übrigen als militärische Vergehen. Für die Straftaten nach dem MStGB ergab sich also anders als für das RStGB, das zusätzlich noch Übertretungen kannte, eine vordergründige Dichotomie, die allerdings nur in Zusammenhang mit dem Disziplinarstrafrecht verstanden werden kann, das sachlich den Bereich der »Disziplinarübertretungen« abdeckte.70 Den militärischen Charakter erhielt eine Straftat aber auch dann, wenn das MStGB auf ein bürgerliches Delikt verwies oder eine besondere Strafe androhte (z. B. § 55 und § 138).71 Die größten Abweichungen vom zivilen Strafgesetzbuch ergaben sich im Abschnitt über die »Strafen gegen Personen des Soldatenstandes« (§§ 14–42). Sofern die allgemeinen Strafgesetze wahlweise Geld- oder Freiheitsstrafe androhten, durfte nicht auf Geldstrafe erkannt werden, wenn durch die Tat zugleich nur eine militärische Dienstpflicht verletzt worden war (§ 29),72 was in Anbetracht der Weite und Unbestimmtheit des Pflichtenkreises recht schnell der 66 67 68
69 70 71 72
Zur kausalen Handlungslehre siehe insbesondere Mezger, Strafrecht, S. 108 f. und S. 267–270; Liszt/ Schmidt, Lehrbuch, S. 154 f. und S. 217 f.; Radbruch, Handlungsbegriff, S. 129 f. So der heutige § 15 StGB, eingeführt durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts (2. StrRG) vom 4.7.1969, BGBl. 1969 I S. 717–742. RGSt 49, 116–121 (118); siehe auch 4, 233–239 (236); 22, 43–45 (43 f.); 30, 354–359 (356); 41, 4–13 (7). Siehe auch Ebermayer/Lobe/Rosenberg, RStGB-Kommentar, S. 71; Olshausen, RStGB-Kommentar, Vorbem. Teil I Abschnitt 4 Anm. 4; Liszt/Schmidt, Lehrbuch, S. 265. Kritisch Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 9 m. w. N.; ebenso Dietz, HDStO 1921-Kommentar, S. 41–44. Siehe hierzu Kapitel V.1. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 1 Anm. 2. Nach RGSt 57, 410 änderte auch das Erste Geldstrafengesetz vom 21.12.1921 (RGBl. 1921 S. 1604 f.) hieran nichts, da § 29 MStGB nach § 10 RStGB vorrangige lex specialis sei. Vgl. aber auch den heutigen § 10 WStG, wonach bei Straftaten von Soldaten Geldstrafe nicht verhängt werden darf, »wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung von Freiheitsstrafe zur Wahrung der Disziplin gebieten«.
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IV. Militärstrafrecht
Fall sein konnte.73 Die gesetzliche Dienstzeit verlängerte sich stets, soweit eine Freiheitsstrafe sechs Wochen überstieg (§ 18). Am wichtigsten war der Unterschied zwischen militärischen und bürgerlichen Verbrechen und Vergehen für das Strafensystem.74 So war bei militärischen (im Felde auch bei bürgerlichen) Straftaten die Todesstrafe gegen Soldaten stets durch Erschießen und nicht etwa durch Enthauptung oder Erhängung zu vollstrecken (§ 14), wie überhaupt die Vollstreckung den Militärbehörden oblag (§ 15 Abs. 1), sofern nicht die ehrenrührige, zwingend zur Entfernung aus Heer oder Marine führende Zuchthausstrafe verwirkt oder das Dienstverhältnis sonst irgendwie (durch Urteil, Kündigung etc.) gelöst worden war (Abs. 3). Dagegen zählten zu den grundsätzlich nichtehrenrührigen »Freiheitsstrafen« im Sinne des MStGB das Gefängnis und die Festungshaft sowie – eine weitere militärische Besonderheit – der Arrest, der bei einem Strafmaß von bis zu sechs Wochen eintrat (§ 16 Abs. 1 und § 17 Abs. 1).75 Die Festungshaft war dabei eine gegenüber dem Gefängnis besonders privilegierte und ehrenschonende Strafe (custodia honesta), insbesondere durften die Inhaftierten rauchen und pro Tag einen halben Liter Bier oder einen Viertelliter Wein trinken; auch mussten sie ihre Hafträume nicht selbst reinigen.76 Beim Arrest wurden unterschieden (§§ 19, 20): Der privilegierte Stubenarrest, der nur gegen Offiziere stattfand, war von dem Verurteilten in seiner Wohnung zu verbüßen, die er nicht verlassen durfte. Besuch durfte er nicht empfangen, aber mit den übrigen Bewohnern (Familie etc.) Verkehr halten. Gegen Hauptleute, Rittmeister und Subalternoffiziere konnte jedoch geschärfter Stubenarrest in einem besonderen Offizierarrestzimmer angeordnet werden (§ 23). Der gelinde Arrest konnte nicht gegen Offiziere, sondern nur gegen Unteroffiziere und Mannschaften verhängt werden. Er wurde in Einzelhaft verbüßt, ebenso der mittlere Arrest, der nur gegen Unteroffiziere ohne Portepee77 und Mannschaften stattfand und durch harte Lagerstätte sowie Wasser und Brot als alleinige Nahrung gekennzeichnet war (§ 24 S. 1 und § 25). Diese Schärfungen fielen jedoch am vierten, achten, zwölften und danach an jedem dritten Tag weg. Der Strenge Arrest schließlich konnte nur gegen Mannschaften und lediglich bis zu vier Wochen verhängt werden (§ 24 S. 2). Er wurde in einer dunklen Arrestzelle, im Übrigen wie der mittlere Arrest verbüßt wurde, wobei sämtliche Schärfungen am vierten, achten und dann bereits jeden dritten Tag in Fortfall kamen (§ 26). Wenn der körperliche Zustand des Verurteilten den strengen oder mittleren Arrest nicht zuließ, trat an dessen Stelle der mittlere bzw. gelinde Arrest (§ 27). Als weitere Besonderheit kamen die Ehrenstrafen hinzu, die sowohl für militärische wie für bürgerliche Straftaten in Betracht kamen. Hier waren Entfernung aus 73 74 75 76 77
Insbesondere zählten hierzu die Kriegsartikel und späteren Berufspflichten, siehe etwa RGSt 57, 198 in Kontinuität zur Rechtsprechung des Reichsmilitärgerichts. Rittau, MStGB-Kommentar, § 1 Anm. 3. Der Strafarrest hat sich grundsätzlich bis heute erhalten, siehe §§ 9, 11 und 12 WStG. Siehe für die Weimarer Zeit die §§ 166–184 der Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7.6.1923 (RGBl. 1923 II S. 263–282). Das sind diejenigen Unteroffiziere, die nicht Feldwebel/Wachtmeister waren. Nur letztere durften wie die Offiziere traditionell das Portepee (von französisch »porte-épée«, sinngemäß »Degentrage« oder »Degengehenk«) zur Seitenwaffe tragen.
4. Das Militärstrafgesetzbuch
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Heer oder Marine, Dienstentlassung, Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes sowie Degradation (§ 30) möglich. Die Ehrenstrafen wurden teils als Rechtsfolge eines bestimmten Deliktes besonders angeordnet. Im Übrigen galten allgemeine Regelungen, wann eine Ehrenstrafe angeordnet werden musste oder konnte. Es handelte sich hierbei um Strafen, die zwar auch Vermögenseinbußen mit sich brachten. Sie hatten allerdings eine in erster Linie immaterielle Bedeutung, die vielleicht heute nicht mehr anerkannt ist, für die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts jedoch nicht unterschätzt werden darf. Besonders für einen Offizier bedeuteten sie in aller Regel den sozialen Tod. So hatte die Entfernung aus Heer oder Marine den Verlust des Dienstgrades sowie ursprünglich aller aus dem Dienstverhältnis erworbenen Ansprüche (soweit sie durch Richterspruch aberkannt werden konnten), insbesondere der Versorgungs- und Pensionsansprüche,78 weiter den dauernden Verlust der Orden und Ehrenzeichen sowie die Unfähigkeit zum Wiedereintritt in die Streitkräfte von Rechtswegen zur Folge (§ 32). Auf sie war allgemein neben Zuchthaus stets zu erkennen (§ 31 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und § 42 Abs. 1); möglich war sie neben Gefängnis von mehr als fünfjähriger Dauer, außerdem gegen Offiziere in allen Fällen, in denen gegen Unteroffiziere und Mannschaften die Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes zulässig war. Die wiederum nur gegen Offiziere zulässige Dienstentlassung unterschied sich von der Entfernung lediglich darin, dass dem Verurteilten der Dienstgrad sowie die Orden und Ehrenzeichen erhalten blieben, wobei er lediglich die entsprechende Uniform nicht mehr tragen durfte; auch war ein Wiedereintritt (etwa im Kriegsfall) möglich (§ 35). Auf sie musste allgemein neben der Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter (§ 35 RStGB) zwingend erkannt werden, sowie dort, wo gegen Unteroffiziere Degradation geboten war. Möglich war sie bei Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr sowie dort, wo gegen Unteroffiziere die Degradation zulässig war (§ 34). Nach dem Wehrmachtversorgungsgesetz vom 4. August 1921 konnte bei einer Lösung des Dienstverhältnisses durch strafgerichtliches Urteil der Reichswehrminister jedoch entscheiden, dass der Entlassene trotzdem einer Versorgung würdig war.79 Die nur gegen Unteroffiziere und Mannschaften zulässige Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes führte dazu, dass der Verurteilte »Soldat zweiter Klasse« war. Er wurde dadurch geächtet, dass er auf Dauer seine Orden und Ehrenzeichen, das Recht zum Tragen der Kokarde sowie seine Versorgungsansprüche von Rechtswegen verlor,80 aber nicht aus dem Dienstverhältnis schied (§ 39). Militärstrafvollzugsvorschriften regelten weitere Details: So waren sie (auch anderen Zweitklassigen gegenüber) vom Vorgesetztenverhältnis ausgeschlossen; Mannschaften verloren einen eventu78 79 80
Siehe § 3 Abs. 1 Nr. 3 und § 34 Abs. 1 Nr. 2 des Wehrmachtversorgungsgesetzes vom 4.8.1921, RGBl. 1921 S. 993–1020. § 105 i.V.m. § 3 Abs. 3 Nr. 2 und § 34 Abs. 3 Nr. 2 des Wehrmachtversorgungsgesetzes vom 4.8.1921, RGBl. 1921 S. 993–1020. Nach § 33 Abs. 1 Nr. 2 des Mannschaftsversorgungsgesetzes vom 31.5.1906 (RGBl. 1906 S. 593– 614) erloschen die Versorgungsansprüche der Kapitulanten allerdings nur noch bei Verurteilung zu Zuchthausstrafe wegen Hoch-, Landes- oder Kriegsverrats sowie wegen Verrats militärischer Geheimnisse.
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IV. Militärstrafrecht
ell verliehenen Gefreitengrad.81 Damit war eine Ehrenstrafe geschaffen, die zugleich den Bedürfnissen eines Massenheeres Rechnung trug und ihm den regelmäßig wehrpflichtigen Täter erhielt.82 Die Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes war allgemein zu verhängen, wenn zugleich auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte von nicht mehr als drei Jahren (sonst Entfernung nach § 31 Abs. 1) erkannt wurde. Sie konnte ausgesprochen werden bei wiederholter Rückfälligkeit83 sowie bei den »sieben ehrenrührigen Straftaten« Diebstahl, Unterschlagung, Raub, Erpressung, Hehlerei, Betrug und Urkundenfälschung auch dann, wenn nicht zugleich der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte eintrat (§§ 37 f.).84 Schließlich stand als Ehrenstrafe gegen Unteroffiziere noch die Degradation zur Verfügung. Sie galt als milder im Vergleich zur Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes85 und hatte den Rücktritt in den Stand der Gemeinen, also die Herabstufung in die Laufbahn der Mannschaften sowie den Verlust der durch den Dienst als Unteroffizier erworbenen Ansprüche (soweit diese durch Richterspruch aberkannt werden konnten) von Rechtswegen zur Folge (§ 42). Auf Degradation musste allgemein erkannt werden neben Gefängnis von mehr als einem Jahr, neben Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes und neben Aberkennung der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter. Sie war möglich bei Gefängnis von bis zu einem Jahr Dauer, bei wiederholter Rückfälligkeit sowie bei den bereits benannten sieben ehrenrührigen Straftaten. Aber auch über das Strafensystem hinaus sah das MStGB für die Beurteilung militärischer Verbrechen und Vergehen einige Modifikationen des allgemeinen Strafrechts vor. So war nach § 48 die Strafbarkeit einer Handlung oder Unterlassung nicht dadurch ausgeschlossen, »daß der Täter nach seinem Gewissen oder den Vorschriften seiner Religion sein Verhalten für geboten erachtet hat«. Auch verwehrte § 49 Abs. 1 teilweise die Berufung auf die allgemeinen Entschuldigungsgründe des Notstands (§ 54 RStGB) und des Nötigungsstands (§ 52 RStGB), als die »Verletzung einer Dienstpflicht aus Furcht vor persönlicher Gefahr« ebenso zu bestrafen war, »wie die Verletzung der Dienstpflicht aus Vorsatz«.86 Sinn und Zweck dieser Vorschrift war nach dem führenden Kommentar von Antonius Romen und Carl Rissom kurz und bündig: »Der Soldat soll also unter Einsetzung des eigenen Lebens seine Pflicht tun.«87 § 49 Abs. 2 wiederum schloss die »selbstverschuldete Trunkenheit des Täters« als Strafmilderungsgrund (§ 51 RStGB) aus bei »strafbaren Handlungen gegen 81
82
83 84 85 86 87
Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 39 Anm. 4. Die Aberkennung des Gefreitengrades war auch nach gerichtlicher Verurteilung als zusätzliche Disziplinarstrafe möglich, siehe § 3 A. Nr. 3 HDStO 1872 und § 4 D. Nr. 4 HDStO 1921; ebenso Dietz, HDStO 1921-Kommentar, § 4 II D. Anm. 4. Erstmalig eingeführt wurde die Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes durch A.K.O. vom 3.8.1808 im Zusammenhang mit der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht als Teil der preußischen Heeresreformen, siehe Rotermund, MStGB-Kommentar, § 39 Anm. 1. Siehe auch § 13 MStGB. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 37 Anm. 4. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 37 Anm. 2. Vgl. § 6 WStG. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 49 Anm. 1. Siehe auch den im Kern entsprechenden § 6 des heutigen WStG.
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die Pflichten der militärischen Unterordnung, sowie bei allen in Ausübung des Dienstes begangenen strafbaren Handlungen«.88 Insofern bedurfte es also auch keiner Rückgriffe auf die (umstrittene) Figur der actio libera in causa. Nach § 50 wiederum war bei »Bestrafung militärischer Verbrechen oder Vergehen […] die Erkennung der angedrohten Strafe unabhängig von dem Alter des Thäters«, so dass insbesondere die Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes vom 16. Februar 192389 hier nicht Platz griffen.90 Schließlich galt für militärische Verbrechen und Vergehen kein Antragserfordernis (§ 51), sie waren stets von Amts wegen zu verfolgen. Beim Militärstrafgesetzbuch des Deutschen Reichs handelte es sich zwar in erster Linie um das Sonderstrafrecht der Militärpersonen, das auch im Frieden anzuwenden war. Einige Straftaten konnten allerdings nur »im Felde« begangen werden (§§ 9 f.), sie bezeichnete man als »Kriegsgesetze«. Zudem waren sowohl alle während eines Kriegs in einem Dienst- oder Vertragsverhältnis mit dem kriegführenden Heer befindlichen oder sonst sich bei ihm aufhaltenden oder ihm folgenden Personen (Heeresgefolge) als auch die zivilen Schiffsangestellten der Marine »den Strafvorschriften dieses Gesetzes, insbesondere den Kriegsgesetzen unterworfen« (§§ 155, 166).91 Auch wenn es im Vergleich zu seinen Vorgängern als kurz galt, wirkt es mit seinen insgesamt 166 Paragraphen im Vergleich zum heutigen WStG (48 Paragraphen) doch sehr umfassend, detailliert und kasuistisch. Auch enthielt das MStGB deutliche Elemente eines Gesinnungsstrafrechts: So standen nicht nur die unerlaubte Entfernung (§§ 64–68) und die Fahnenflucht (§§ 69–79) als Taten gegen die Schlagkraft der Truppe unter Strafe.92 Wer nämlich aus Feigheit die Truppe während des Gefechts, beim Vormarsch oder auf dem Rückzug floh oder eine Verwundung oder Leiden vorschützte oder aber sich durch Trunkenheit dienstunfähig machte, wurde mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft (§ 85 Abs. 1). Verleitete er während des Gefechts auch noch Kameraden durch Worte oder Zeichen zur Flucht, verwirkte er sogar die Todesstrafe (§ 84). So mancher Tatbestand wäre nach heutigen Maßstäben für ein Strafgesetz sehr unbestimmt. Hinzu kam die Tendenz des MStGB, selbst Geringfügigkeiten zu kriminalisieren. Sie muss in engem Zusammenhang mit der vergleichsweise unterkomplexen und damit schnellen Militärgerichtsbarkeit gesehen werden. Anschauliche Beispiele finden sich im sechsten Abschnitt (Straftaten gegen die Pflichten der militärischen Unterordnung): So wurde vom Tatbestand des Wachvergehens (§ 141 Abs. 1) bereits erfasst, wer als vorgesetzter Wachsoldat spaßeshalber »vor einem Mädchen ›Augen rechts‹ kommandiert«.93 Zwingend gerichtlich abgeur88
89 90
91 92 93
Von Alt. 2 (»allen in Ausübung des Dienstes begangenen strafbaren Handlungen«) waren auch entsprechende bürgerliche Straftaten erfasst, Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 49 Anm. 3. Siehe auch den heutigen § 7 WStG. Siehe ferner § 151 MStGB (Trunkenheit im Dienst). Jugendgerichtsgesetz vom 16.2.1923, RGBl. 1923 I S. 135–141. Rittau, MStGB-Kommentar, § 50 Anm. 1; Fuhse, MStGB-Kommentar, § 50. Siehe auch ein entsprechendes Rügeschreiben des Reichswehrministeriums an die Justiz bei BArch RW 1/34, fol. 182 f. Nichts anderes gilt heute nach den §§ 112a–112e JGG. Siehe hierzu auch § 1 Nr. 8 MStGO. Vgl. heute die eigenmächtige Abwesenheit (§ 15 WStG) und die Fahnenflucht (§ 16 WStG). Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 141 Anm. 3. Allerdings war hier auch disziplinarische Ahndung möglich (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 EGMStGB).
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teilt werden musste, wer »im Dienste oder in Beziehung auf eine Diensthandlung die dem Vorgesetzten schuldige Achtung verletzt, insbesondere laut Beschwerde oder gegen einen Verweis Widerrede führt« (§ 89 Abs. 1), wenn »die Achtungsverletzung unter dem Gewehr oder vor versammelter Mannschaft« (§ 12) begangen wurde oder »sich dieselbe als eine Drohung« darstellte (§ 89 Abs. 2).94 Eine solche Achtungsverletzung war unterhalb der Schwelle der Beleidigung Vorgesetzter (§ 91 Abs. 1) angesiedelt und reichlich unbestimmt, stellte jedoch im internationalen Vergleich kein Exotikum dar.95 »Die Art, in der die dem Vorgesetzten schuldige Achtung bezeigt werden muß, richtet sich nach der Lage des Falles. Ort, Zeit und Anlaß des Gegenübertretens, die Natur des Dienstes und andere Umstände sind von Belang«, so ein gängiger Gesetzeskommentar.96 Zwar hinkte der Militärstrafprozess unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten der ordentlichen Gerichtsbarkeit meilenweit hinterher. In Hinblick auf die mittelleichten bis schweren Verfehlungen aber bedeutete die entsprechende Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit für die Soldaten auch einen Zuwachs an Förmlichkeit und Rechtsschutz im Verhältnis zum vergleichsweise formlosen Disziplinarverfahren, für das damals noch stets der Disziplinarvorgesetzte allein und eben kein Spruchkollegium zuständig war. Zwingend gerichtlich zu ahnden war auch das äußerst unscharfe Delikt der »Erregung von Mißvergnügen« (§ 102): »Wer es unternimmt, Mißvergnügen in Beziehung auf den Dienst unter seinen Kameraden zu erregen, wird, wenn dies durch mündliche Äußerungen geschieht, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. Ist die Handlung durch Verbreitung von Schriften, Darstellungen oder Abbildungen oder ist sie im Felde begangen, so ist auf mittleren oder strengen Arrest nicht unter vierzehn Tagen oder auf Gefängnis oder Festungshaft bis zu fünf Jahren zu erkennen.«
Da es sich um ein echtes Unternehmensdelikt handelte, genügte bereits der Versuch der Erregung von Missvergnügen, worunter nach der einschlägigen Kommentarliteratur »die Verbreitung von Unzufriedenheit« zu verstehen war.97 Das Merkmal »in Beziehung auf den Dienst« war dabei »im weitesten Sinne zu verstehen«.98 Nicht zuletzt sticht die scharfe Strafandrohung ins Auge. Dabei veränderte sich die Auslegung solcher Tatbestände auch nicht wesentlich nach dem Ersten Weltkrieg, wie ein Vergleich der Vor- und Nachkriegsliteratur ergibt. Das allerdings lässt sich auch darauf zurückführen, dass das Militärstrafrecht unter den Bedingungen eines 100.000-Mann-Heeres schon rein praktisch gesehen ein Nischendasein führte. Die bis 1921 ergangenen Novellen des MStGB begannen erst in den Jahren vor Ausbruch des Weltkrieges und bezogen sich fast ausschließlich auf die nach der 94 95 96 97 98
Disziplinarische Ahndung war hier ausgeschlossen (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 EGMStGB). Siehe nur Art. 63 (Disrespect) der US-amerikanischen Articles of War vom 4.6.1920 (Chapter II, Bul. Nr. 25, W. D., 1920). Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 89 Anm. 10. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 102 Anm. 2. Rotermund, MStGB-Kommentar, § 102 Anm. 5; ebenso Rittau, MStGB-Kommentar, § 102 Anm. 2; ähnlich Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 102 Anm. 2.
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Rechtsprechungserfahrung als zu hart empfundenen Mindeststrafen.99 Durch Gesetz vom 8. August 1913 wurden für Aufwiegelung (§ 100) und Aufruhr (§§ 106 f. und §§ 110 f.) minderschwere Fälle eingeführt, für die »Rückkehr zur Ordnung« aller an einem Aufruhr Beteiligten (§ 109 Abs. 2) wurde die Strafdrohung gemildert.100 Die Änderung beruhte auf einem Initiativantrag des Reichstags, dem ein kriegsgerichtliches Urteil in Erfurt vorangegangen war, in dem mehrere Reservisten zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt worden waren, nachdem sie sich anlässlich einer Kontrollversammlung an einem Gendarmen vergriffen hatten. Diese Novelle führte jedoch wiederum zu einem Missverhältnis zur Strafdrohung anderer, unverändert gebliebener Delikte, das durch Gesetz vom 14. Juli 1914101 beseitigt werden sollte.102 Es führte minderschwere Fälle für die erschwerte unerlaubte Entfernung (§ 66), die Fahnenflucht (§ 70 Abs. 1), die Fahnenflucht im Komplott (§ 72 Abs. 1), die Verleitung zur Fahnenflucht (§ 78 Abs. 1), die Gehorsamsverweigerung vor versammelter Mannschaft (§ 95 Abs. 1), die Widersetzung (§ 96 Abs. 1) sowie die schwere Tätlichkeit gegen Vorgesetzte (§ 97 Abs. 2) ein. Außerdem setzte das Gesetz die Mindeststrafen für Tätlichkeit gegen Vorgesetzte (§ 97 Abs. 1) und den militärischen Diebstahl (§ 138 Abs. 1) herab, fügte dem minderschweren Fall der Beteiligung am Aufruhr (§ 100a) die Möglichkeit der Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes hinzu und strich den zweiten Satz des § 164 Abs. 1, wonach jedes außerhalb der heimischen Gewässer allein fahrende Schiff als im Kriegszustand befindlich anzusehen waren, was ja zu erheblichen Strafschärfungen führte (siehe oben). Aus den Erfahrungen des Krieges heraus wurden dann auf Initiative der Reichsregierung durch Gesetz vom 25. April 1917103 in großem Umfang Mindeststrafen des MStGB teils erheblich herabgesetzt, meist durch die Einführung minderschwerer Fälle. Hiervon waren betroffen: die unerlaubte Entfernung im Felde über drei und sieben Tage (§§ 66 f.), die Fahnenflucht im Felde (§ 71), die Fahnenflucht im Komplott im Felde (§ 72 Abs. 2), die unterlassene Anzeige von dem Vorhaben einer Fahnenflucht im Felde (§ 77), die Verleitung zur Fahnenflucht im Felde (§ 78 Abs. 1), der erschwerte Ungehorsam im Felde (§ 93), die ausdrückliche Gehorsamsverweigerung vor versammelter Mannschaft im Felde (§ 95), die Widersetzung im Felde (§ 96 Abs. 1), die Tätlichkeit gegen Vorgesetzte im Felde (§ 97), die Aufwiegelung sowie der militärische Aufruhr im Felde (§§ 100, 107, 108, 110, 110a) und schließlich das schwere Wachvergehen im Felde (§ 141 Abs. 2 und 3). Bei freiwilliger Rückkehr Fahnenflüchtiger (§ 75) wurde die Strafmilderung auf die Fälle ausgedehnt, in denen sich ein Fahnenflüchtiger im Felde innerhalb einer Woche erfolgter Fahnenflucht freiwil99
100 101 102 103
Durch Gesetz, betreffend Abänderung des Militärstrafgesetzbuchs und der Militärstrafgerichtsordnung, vom 6.2.1911 (RGBl. 1911 S. 31 f.) wurden die Mitglieder des neugegründeten Veterinäroffizierkorps nach Maßgabe ihres Ranges den für Soldaten geltenden Bestimmungen des MStGB unterworfen. Gesetz, betreffend Änderung des Militärstrafgesetzbuchs, vom 8.8.1913, RGBl. 1913 S. 621. Gesetz, betreffend Änderung der §§ 66, 70 usw. des Militärstrafgesetzbuchs, vom 14.7.1914, RGBl. 1914 S. 247 f. Fuhse, MStGB-Kommentar, Einleitung S. XII. Gesetz, betreffend Herabsetzung von Mindeststrafen des Militärstrafgesetzbuchs, vom 25.4.1917, RGBl. 1917 S. 381–384.
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lig stellte.104 § 9 Nr. 2 wurde dahingehend geändert, dass die Geltung der Kriegsgesetze für Angehörige immobiler Verbände auch im Kriegs- und Belagerungszustand (wie er für das ganze Reich im Weltkrieg verhängt worden war) fortan besonderer Anordnung bedurfte. Umgekehrt dehnte das Gesetz allerdings den Anwendungsbereich des vergleichsweise formlosen Disziplinarstrafrechts nach § 3 Abs. 2 EGMStGB aus, indem zusätzlich zu den bisher dort aufgelisteten Delikten105 nun auch leichtere Fälle der erschwerten unerlaubten Entfernung (§ 66 S. 2), der Selbstbefreiung als Gefangener (§ 79), der erschwerten Achtungsverletzung (§ 89 Abs. 2), des erschwerten Ungehorsams (§ 93), der ausdrücklichen Gehorsamsverweigerung (§ 94), der Anmaßung einer Befehlsbefugnis (§ 120) sowie der fahrlässigen Körperverletzung durch unvorsichtigen Gebrauch der Waffe (§ 148 Var. 1) einer Bestrafung durch den zuständigen Disziplinarvorgesetzten offenstanden. Ebenfalls auf Initiative der Reichsregierung brachte kurz vor Kriegsende noch das Gesetz vom 25. Juli 1918106 die weitere Milderung, dass dort, wo strenger Arrest als Mindeststrafe angeordnet war (§§ 89 Abs. 2, 93 Abs. 1, 94 und 95 Abs. 1) von nun an auch mittlerer Arrest verhängt werden konnte. Damit waren die vorrevolutionären Änderungen des MStGB abgeschlossen. Dem Grundsatz der normativen Kontinuität folgend überlebte auch das MStGB die Revolution zunächst unverändert. Die bisher nach dem MStGB dem Kaiser zustehenden Befugnisse gingen nach § 4 des Übergangsgesetzes vom 4. März 1919107 auf den Reichspräsidenten über. Mit der Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit durch Gesetz vom 17. August 1920 wurde die Strafe des strengen Arrestes komplett gestrichen; an seine Stelle trat der mittlere Arrest.108 § 44 des Wehrgesetzes vom 23. März 1921 ersetzte dann infolge der Aufhebung der Allgemeinen Wehrpflicht die Ehrenstrafe der Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes durch Dienstentlassung. In diesem Zusammenhang wurden auch die Strafvorschriften über den Beurlaubtenstand (§§ 6, 42, 113 und 126) redundant. Im Übrigen aber blieb militärstrafrechtlich alles beim Alten, was keinesfalls eine Selbstverständlichkeit darstellte: In Hinblick auf das Alter des MStGB, die politischen Rahmenbedingungen seiner Entstehung sowie seine Bedeutung für die Ausgestaltung von Disziplin, Führungsverhalten und »Unternehmenskultur« der Streitkräfte war die Zeit durchaus reif für eine gründliche Überarbeitung, wenn nicht gar eine Neuschöpfung. Die organisatorische Diskontinuität der Reichswehr zum Heer der Kaiserzeit wäre damit auch von einer erheblichen rechtlichen Zäsur begleitet worden. Treffend formulierte Daniel Stücklen (MSPD) am 15. April 1920 vor der Nationalversammlung, die Abschaffung 104 105
106 107 108
Zuvor war eine entsprechende Strafmilderung bei Begehung im Felde gänzlich ausgeschlossen gewesen. Leichte Fälle der einfachen unerlaubten Entfernung (§ 64), der einfachen Achtungsverletzung (§ 89 Abs. 1), des Belügens Vorgesetzter (§ 90), der einfachen Beleidigung Vorgesetzter (§ 91 Abs. 1), des einfachen Ungehorsams (§ 92), der vorschriftswidrigen Behandlung Untergebener (§ 121 Abs. 1), der Beschädigung von Dienstgegenständen (§ 137), des einfachen Wachvergehens (§ 141 Abs. 1), des Verlassen des Platzes (§ 146) sowie der Trunkenheit im Dienste (§ 151). Siehe auch Kapitel V.1. Gesetz, betreffend Änderungen im Militärstrafgesetzbuche, vom 25.7.1918, RGBl. 1918 S. 777. Übergangsgesetz vom 4.3.1919, RGBl. 1919 S. 285–286. § Abs. 2 des Gesetzes, betreffend die Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587.
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der Militärgerichtsbarkeit sei »so lange eine Halbheit, als das Militärstrafgesetzbuch nicht aufgehoben oder einer gründlichen Revision unterzogen ist«.109 Dass es zu einem solchen Anlauf erst einmal nicht kam, war zum einen vor allem der raschen Veränderung der politischen Mehrheitsverhältnisse im Reich geschuldet. Auch hier wirkte sich der Untergang der Weimarer Koalition mit den Reichstagswahlen vom Juni 1920 als entscheidender Hemmschuh für das Militärrecht. Zum anderen zeigte sich die politische Linke auch in dieser Militärfrage wieder einmal konzeptionslos: Sie versuchte noch nicht einmal, in den Jahren nach 1918 Entwürfe oder Ideen zu einem neuen Militärstrafrecht oder wenigstens einer grundsätzliche Novellierung des bestehenden MStGB in den Reichstag einzubringen. Die Bedeutung der normativen Kontinuität wird also einmal mehr im Militärstrafrecht deutlich, besonders in Hinblick auf die Strafvorschriften zur Durchsetzung der Gehorsamspflicht. Ihnen gehört der nächste Abschnitt dieses Kapitels.
c) Strafbare Handlungen gegen die Pflichten der militärischen Unterordnung (§§ 89–110a MStGB) Von allen Strafvorschriften verdienen vor allem diejenigen besondere Beachtung, die dem Schutz der Gehorsamspflicht dienten, und zwar in der Gestalt, wie sie sich – mit Ausnahme der Strafandrohungen unverändert – unter dem MStGB gegen Ende des Jahres 1920 darstellten, also nach den Modifikationen durch das Gesetz zur Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit.110 Sie fanden sich im sechsten Abschnitt »Strafbare Handlungen gegen die Pflichten der militärischen Unterordnung« (§§ 89–113) gemeinsam mit Delikten wie der bereits beschriebenen Achtungsverletzung (§ 89), des Belügens (§ 90), der Beleidigung (§ 91) und des tätlichen Angriffs von Vorgesetzten (§ 97), die die Vorgesetztenautorität als Pendant zum Gehorsam des Untergebenen schützten. Dabei nahm der Ungehorsam (§ 92) eine exponierte Stellung ein: In Zusammenhang mit dieser Vorschrift sowie dem Schuldausschließungsgrund des § 47 (Handeln auf Befehl) wurden Reichweite und Grenzen der Gehorsamspflicht ex negativo festgelegt, was vereinfacht ausgedrückt bedeutete: Gehorsam war der Soldat soweit schuldig, wie der Ungehorsam bestraft werden konnte. § 92 lautete in seiner ursprünglichen Fassung, in der er auch die Revolution überdauerte: »Ungehorsam gegen einen Befehl in Dienstsachen durch Nichtbefolgung oder durch eigenmächtige Abänderung oder Überschreitung desselben wird mit Arrest bestraft.«
Wichtigstes Tatbestandsmerkmal der Vorschrift war der »Befehl in Dienstsachen«.111 In Ermangelung einer Legaldefinition112 näherte sich ihm die zeitgenössische Rechts109 110 111
112
Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 333, S. 5158. § 1 Abs. 2 des Gesetzes, betreffend die Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587. Nach damals ganz herrschender Ansicht identisch mit dem »Dienstbefehl« der §§ 58, 94, 96, siehe Romen/ Rissom, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 12, §92 Anm. 2; Rotermund, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 6, § 92 Anm. 5; Rittau, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 3; Fuhse, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 3. So auch RMG 1, 105. Vgl. dagegen die heutige, im Wesentlichen mit dem damals durch Rechtsprechung und Lehre entwickelten Begriffsinhalt gleiche Legaldefinition in § 2 Nr. 2 WStG.
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wissenschaft nicht selten, indem sie vom allgemeinen Befehl als einer »Willensäußerung, und zwar […der] Forderung eines bestimmten Verhaltens auf Grund eines persönlichen rechtlichen Gewaltverhältnisses«, zum besonderen militärischen »Befehl in Dienstsachen« schritt.113 Letzterer lag vor, »wenn ein zum Befehlen Berechtigter in gebietender Form von einem Untergebenen ein bestimmtes, festumgrenztes Tun oder Unterlassen fordert, dessen Vornahme oder Unterbleiben das Wesen des militärischen Dienstes erheischt«.114 Als Dienstsache galt »jedes Verhältnis, zu dessen Ordnung aus dem Wesen der mil. Macht heraus eine Tätigkeit erforderlich ist«, so dass nicht nur spezifisch militärische Tätigkeiten (wie Exerzieren etc.) in Betracht kamen, sondern etwa auch »militärisches Verhalten auf der Straße« hierher gehörten. Der Begriff wurde also im weitesten Sinne aufgefasst. »Im Übrigen sind feste Regeln nicht aufzustellen. Das militärische Leben, Übung und Bedürfnis, müssen im einzelnen ergeben, was als Dienstsache zu gelten hat«, so der klassische Kommentar von Romen und Rissom.115 Ein von der Rechtsprechung anerkanntes Beispiel war: »Befehl eines Vorgesetzten beim Einschreiten gegen einen Untergebenen, der auf der Straße Ausschreitungen begeht. Der Vorgesetzte setzt seine Autorität ein, dadurch wird es eine Dienstsache. […] Überhaupt Befehle in Anlaß der Überwachung des außerdienstlichen Verhaltens des Untergebenen.«116
Wenn aber allein der Einsatz der Vorgesetztenautorität (durch Befehlsgebung) bereits einen hinreichenden dienstlichen Bezug begründete, dann wurde das eigentlich einschränkende Merkmal durch Zirkelschlüsse ausgehöhlt. Selbst »Befehle in Privatsachen der Mannschaften« konnten in Dienstsachen ergehen, wenn der Vorgesetzte sie »in dienstlicher Eigenschaft aus Fürsorge für die Untergebenen« erließ, was z. B. für das Anfertigen von »Reservebildern« galt, also Porträtfotos in Uniform für die heimische Stube in der Zeit nach dem Wehrdienst.117 Trotz dieser Unschärfe wurde die Strafbarkeit von Verstößen gegen die Gehorsamspflicht damit jedoch grundsätzlich auf den dienstlichen Bereich beschränkt. Bloße »Privatbefehle« waren anders als »Dienstbefehle« unverbindlich. § 114 komplettierte diese Einschränkung, in dem er den Missbrauch der Dienstgewalt zu Privatzwecken unter Strafe stellte.118 Die Gehorsamspflicht war also nicht Selbstzweck, sondern an das dienstlich Erforderliche gebunden, und erhielt so eine erste wichtige Einschränkung. 113 114 115
116 117 118
Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 11; siehe auch Calker, Verantwortlichkeit, S. 7–15; ebenso Goebel, Ausschluß, S. 1–3. Fuhse, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 2; ähnlich Rittau, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 3. Siehe auch RMG 5, 150 (152). Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 12. Sachlich nicht anders Fuhse, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 3; Rotermund, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 5. Siehe auch RMG 5, 150; ebenso RGSt 58, 110–113 (110); 64, 293 (294). Rotermund, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 6. Siehe auch RMG 2, 205 und 283. Rotermund, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 6. Siehe auch RMG 6, 104. So die herrschende Meinung, siehe Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 2 Buchstabe b; Fuhse, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 8 Buchstabe e; Buth, Entwicklung, S. 65 m. w. N. Nach einer Gegenansicht waren Privatbefehle nur dann unverbindlich, wenn sie zugleich einen Missbrauch der Dienstgewalt (§ 114 MStGB) darstellten, ansonsten sollte aber wegen Verstoßes gegen die Kriegsartikel (Art. 11, Gehorsam) disziplinarische Bestrafung möglich sein, so Rotermund, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 6 a.E., § 92 Anm. 9.
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Der Befehl in Dienstsachen musste stets auf ein bestimmbares Handeln oder Unterlassen gerichtet sein, so dass nicht nur individuell-konkrete Befehle für den Einzelfall, sondern auch generell-abstrakte Befehle für eine zunächst unbestimmte Anzahl von Fällen möglich waren. Einer bestimmten äußeren wie inneren Form bedurfte der Befehl dagegen nicht, solange durch gebietende Weise der Anspruch auf Gehorsam deutlich wurde. Insbesondere konnte der Befehl in Dienstsachen sich auch in die Form einer Frage oder Bitte kleiden oder durch schlüssiges Handeln ausgedrückt werden.119 Ob es sich um einen Befehl in Dienstsachen handelte, konnte danach nicht schematisch, sondern nur auf den konkreten Fall bezogen ermittelt werden. So konnten auch Dienstvorschriften Befehle enthalten.120 Die früheren kaiserlichen Kriegsartikel und späteren, vom Reichspräsidenten erlassenen »Berufspflichten des deutschen Soldaten« enthielten hingegen nur einen allgemeinen Pflichtenkatalog und waren keine Befehle.121 Verwaltungsbehörden (wie etwa auch die früheren Kriegsministerien) konnten von vornherein keine Befehle in Dienstsachen erlassen, da sie nicht an der Kommandogewalt teilnahmen. Für Anordnungen des Reichswehrministers, der nach § 8 Abs. 2 S. WG militärischer Vorgesetzter war, sollte im Einzelfall ermittelt werden, ob es sich um eine Verwaltungs- oder Kommandoangelegenheit handelte.122 Allgemeine Belehrungen (aus Vorschriften etc.) oder bereits bestehende (straf-)gesetzliche Regelungen konnten jedoch durch (konkretisierenden) Befehl unter den zusätzlichen Schutz von § 92 gestellt werden.123 Der vielleicht wichtigste Baustein für einen Befehl in Dienstsachen war ein bestehendes Vorgesetztenverhältnis im Rahmen der Kommandogewalt, die ursprünglich die Kontingentsherren und der Kaiser, nach Art. 47 WRV der Reichspräsident innehatte.124 Abgesehen von § 8 Abs. 2 S. 2 WG, wonach auch der Reichswehrminister qua legem militärischer Vorgesetzter war, hielt auch die Republik an dem Verständnis fest, dass nach unten hin alle militärischen Vorgesetzten durch den Inhaber der Kommandogewalt bevollmächtigt wurden. Der Begriff des Vorgesetzten wurde vom MStGB vorausgesetzt und durch Dienstvorschriften geregelt; es handelte sich insofern um normativ-akzessorische Tatbestandsmerkmale.125 Herkömmlich wurde zwischen dem allgemeinen und dem besonderen (direkten) Vorgesetztenverhältnis unterschieden, wobei sich das erste »aus dem letzteren als dessen zweckmäßige Weiterbildung« entwickelt hatte.126 Das direkte Vorgesetztenverhältnis war ein funktionales, verknüpft mit einer bestimmten Aufgabe wie etwa der dauerhaften Füh119 120 121 122 123 124 125 126
Rittau, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 3; Fuhse, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 6. Siehe auch RMG 8, 84; 12, 12; 13, 133; 14, 199. RGSt 64, 66 (69). Siehe hierzu auch Kapitel II.2. Fuhse, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 4 und 7; Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 1. Siehe zur Unterscheidung von Verwaltungs- und Kommandoakten auch Kapitel I.2. unter Buchstabe c). Rittau, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 3; Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 4, Fuhse, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 7; Rotermund, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 4. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 11, § 92 Anm. 1; Rotermund, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 2. Rittau, MStGB-Kommentar, Vorbem. zu den §§ 89–97 Anm. 2. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 89 Anm. 3.
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rung eines Verbandes, Truppenteils, Schiffes etc. Aber auch die Stellung als Kompaniefeldwebel oder die auch nur vorübergehende Übertragung bestimmter Aufgaben(-bereiche) begründeten eine besondere Vorgesetztenstellung.127 Das besondere Vorgesetztenverhältnis konnte anders als das allgemeine auf bestimmte Bereiche, wie z. B. beim Stubenältesten, sowie ganz allgemein auf die Zeit des Dienstes begrenzt sein. Es entstand durch Übertragung des Kommandos etwa über eine Kompanie durch die zuständige Stelle oder eines besonderen Aufgabenbereiches oder nur einer Aufgabe durch einen Vorgesetzten. Das allgemeine Vorgesetztenverhältnis hingegen kennzeichnete sich dadurch, »daß bestimmte Rangklassen gebildet werden, derart, daß jeder Angehörige der höheren Rangklasse ohne weiteres und allgemein Vorgesetzter jedes Angehörigen einer niederen Rangklasse ist. Ein direkter Vorgesetzter kann zugleich allgemeiner Vorgesetzter sein, ist es auch meistens, z. B. ist Kompagniechef in der Regel ein Hauptmann. Nötig ist das aber keineswegs. Nicht jeder höhere Dienstrang begründet ein Vorgesetztenverhältnis, sondern nur bestimmte Rangklassen […] im Verhältnis zueinander«.128 Allgemeine Vorgesetzte waren nach herkömmlicher Vorstellung (unter Ausblendung nebensächlicher Detailfragen): Alle Offiziere gegenüber allen Unteroffizieren und Mannschaften; Offiziere einer höheren gegenüber einer niedrigeren der vier Rangklassen (1. Generale und Admirale, 2. Stabsoffiziere, 3. Hauptleute, Rittmeister und Kapitänleutnante, 4. Subalternoffiziere), hierbei Angehörige einer Fachlaufbahn (Ingenieur-, Sanitäts- oder Veterinäroffizierkorps) jedoch nur unter sich; schließlich die Unteroffiziere gegenüber allen Mannschaften.129 Vor allem aber galt das allgemeine Vorgesetztenverhältnis auch außer Dienst; der Soldat war also von sehr viel mehr allgemeinen als besonderen Vorgesetzten umgeben. Den im Wachdienst befindlichen Soldaten gegenüber aber ruhten das besondere wie das allgemeine Vorgesetztenverhältnis; sie empfingen Befehle nur von ihren Wachvorgesetzten und galten allen anderen gegenüber selbst als Vorgesetzte (§ 111 MStGB).130 Schließlich konnte sich ein dienstälterer noch einem dienstjüngeren Offizier (auch gleichen Dienstgrads) zum Vorgesetzten erklären, wenn er ihn erfolglos auf ein außerdienstliches, standeswidriges Verhalten aufmerksam gemacht hatte.131 Von Beginn der Novemberrevolution an bildete die Neuregelung der Vorgesetztenverhältnisse eine zentrale Forderung der sich auflehnenden Soldatenräte. Bereits in den 14 »Kieler Punkten« vom 4. November 1918 erklärten die aufständischen Matrosen: »Es gibt außer Dienst keine Vorgesetzten mehr« (Punkt 10) und »Unbeschränkte persönliche Freiheit jedes Mannes von Beendigung des Dienstes bis zum Beginn des nächsten Dienstes« (Punkt 11).132 Hierbei wendeten sie sich vor allem gegen das 127 128 129 130 131 132
Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 89 Anm. 7. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 89 Anm. 3. Ausführlich Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 89 Anm. 4. Siehe auch Rotermund, MStGB-Kommentar, § 89 Anm. 4. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 1; Rotermund, MStGB-Kommentar, § 89 Anm. 4 Buchstabe n. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 89 Anm. 8 Buchstabe b (δ); Rotermund, MStGB-Kommentar, § 89 Anm. 4 Buchstabe b; siehe auch A.K.O. vom 16.6.1873, AVBl. 1873 S. 103. Die 14 »Kieler Punkte« sind abgedruckt bei Dähnhardt, Revolution, S. 90.
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weitausgreifende allgemeine Vorgesetztenverhältnis, dem die Soldaten vor allem am Garnisonsort tags wie nachts kaum entrinnen konnten. Diesem Programm schlossen sich in den darauffolgenden Tagen die weiteren, in Entstehung begriffenen Räte im Wesentlichen unverändert an. Auch die »Hamburger Punkte« des Reichskongresses der Arbeiter- und Soldatenräte vom 18. Dezember 1918 proklamierten: »Vorgesetzte außer Dienst gibt es nicht mehr.«133 Allerdings schieden die Träger dieser Forderungen, also die breite kriegsmüde Masse der Mannschaften des Massenheeres, nun in Scharen aus den Streitkräften aus. Im verbleibenden »Friedensheer«, vor allem aber in den Freikorps der Revolutions- und unmittelbaren Nachrevolutionszeit blies ein ganz anderer Wind. Die Freikorps gaben sich dabei zum Teil eigene Regelungen über das Vorgesetztenverhältnis, die zwar eine Beteiligung der Soldaten durch Vertrauensleute in Fragen vor allem der Betreuung vorsahen, ansonsten aber um Kontinuität in Sachen Manneszucht bemüht waren.134 Dabei wirkten sie für die gesamte Reichswehr modellbildend: Schon in ihrem Erlass über die vorläufige Regelung der Kommandogewalt vom 19. Januar 1919 reduzierte die provisorische Reichsregierung unter Ebert auf Druck der OHL die Stellung der Soldatenräte im »Friedensheer« auf Mitwirkung in Fürsorgeangelegenheiten.135 Insbesondere waren sie »nicht befugt, Führer selbst abzusetzen oder auszuschalten« oder sie per Wahl einzusetzen. Eine Teilnahme an der Befehlsgewalt war ausdrücklich ausgeschlossen; die Räte sollten lediglich »die Tätigkeit der Führer in der Richtung [überwachen], daß die letzteren ihre Dienstgewalt nicht zu Handlungen gegen die bestehende Regierung mißbrauchen«.136 Von einer umfassenden Neuregelung der Vorgesetztenverhältnisse war in diesem Erlass überhaupt keine Rede. Die dienstfreie Zeit wurde allenfalls implizit angesprochen, vielmehr wurde betont: »Jeder Soldat, Führer, Unterführer, mag er Offizier, Unteroffizier oder Mann sein, ist während seiner Dienstzeit der Regierung der Republik zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet.« Die Anlage 7 zu den Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers zum Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31. März 1919 verwies schließlich für das Vorgesetztenverhältnis grundsätzlich auf bestehende Vorschriften und Anordnungen (also auch des alten Heeres). Das allgemeine Vorgesetztenverhältnis wurde damit zwar ausdrücklich, aber mehr klarstellend als normierend, im bisherigen Sinne festgelegt, ohne es ausdrücklich auf die Zeit des Dienstes zu beschränken.137 133 134
135 136
137
Nr. 3 der »Hamburger Punkte« des Reichskongresses der Arbeiter- und Soldatenräte vom 18.12.1918, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 46 f. Nr. 3, 4 und 8 des Grundlegenden Befehls Nr. 1 für das Freiwillige Landesjägerkorps vom 14.12.1918, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 50 f.; ebenso bei Ritter/Miller, Revolution, S. 142; sowie bei Maercker, Kaiserheer, S. 45–47. Siehe hierzu auch Kapitel II.6. Zur Haltung Hindenburgs und Groeners siehe Messerschmidt, Militärwesen, S. 492 f.; Schmädeke, Kommandogewalt, S. 30, insbesondere Fn. 63; Schüddekopf, Heer, S. 34–39. Erlass der Reichsregierung über die vorläufige Regelung der Kommandogewalt und die Stellung der Soldatenräte im Friedensheer vom 19.1.1919, AVBl. 1919 S. 54 f.; abgedruckt bei Kolb, Zentralrat, S. 442–445; ebenso bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 63–65; für die Marine sinngemäß in Kraft gesetzt, MVBl. 1919 S. 20. Vorgesetztenverhältnis, Anlage 7 zu den Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31.3.1919, AVBl. 1919 S. 263–282 (278). Für die Marine siehe die Bestimmungen über Vorgesetztenverhältnis in der vorläufigen Reichsmarine, Anlage 6 zu den Organisa-
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Erst in der zweiten Jahreshälfte 1920, also nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch und unter Geßler und Seeckt, konsolidierten Reichswehrministerium und Reichspräsident die Vorgesetztenverhältnisse der (damals noch vorläufigen) Reichswehr in neuen Vorschriften. So ergaben sich aus der Präsidialverordnung vom 11. August 1920 über die Befehlsbefugnisse im Reichsheer besondere Vorgesetztenverhältnisse.138 Sie brachte allerdings keine Überraschungen und hatte vor allem organisationsrechtlichen Charakter: So wurden die Zuständigkeiten der neuen Reichswehr-Gruppenkommandos festgelegt und den Divisionen die bisherigen Aufgaben der weggefallenen Armeekorps übertragen. Auch die Zuständigkeitsbereiche und Befugnisse der Waffeninspekteure, der Inspekteure des Erziehungs- und Bildungswesens, des Sanitätsinspekteurs, der Inspektion für Waffen und Gerät, der Festungskommandanten, der Infanterie- und Artillerieführer bei den Divisionen, der Standortältesten, der Truppenübungsplatzkommandanten sowie vieler weiterer Einzelfunktionen wurden dort geregelt. Der Vollständigkeit halber waren auch die Regiments-, Bataillonsund Abteilungskommandeure sowie die Kompanie-, Eskadrons- und Batteriechefs mit aufgenommen, wobei vor allem ihre Aufgaben in der Erziehungs- und Personalverantwortlichkeit festgelegt wurden. Dass sie in einem direkten Vorgesetztenverhältnis zu den Soldaten ihres Truppenteils oder ihrer Einheit standen, wurde also implizit als selbstverständlich vorausgesetzt. Diese primär organisationsrechtlichen Aufgabenbeschreibungen wurden dann fortwährend en détail verändert (wie zum Beispiel durch Auflösung der Reichswehr-Gruppenkommandos 3 und 4), ohne dass sich hieraus eine wesentliche Änderung für die Rechtsstellung des durchschnittlichen Soldaten ergab.139 In Hinblick auf eine der wichtigsten Ursachen und frühesten Forderungen der Novemberrevolution hätte man sich aber vor allem von der wenig später am 10. Dezember 1920 folgenden Regelung des allgemeinen Vorgesetztenverhältnisses sehr viel mehr erwarten können.140 Im ersten Abschnitt der einschlägigen Präsidialverordnung wurden zunächst einmal die Rangklassen (heutige Dienstgradgruppen) und Dienstgrade festgelegt, wobei zwar einerseits etwa die Vielfalt der an sich ranggleichen Portepeeunteroffizierdienstgrade (Feldwebel, Wachtmeister, Feuerwerker, Schirrmeister, Funkmeister, Brieftaubenmeister) aufrechterhalten wurde. Andererseits waren die beiden höchsten Dienstgrade des Generalfeldmarschalls und des Generaloberst nicht mehr vorgesehen. Die Rangklasse der früheren Subalternoffiziere wurde jetzt etwas schmeichelhafter als »Leutnants« bezeichnet. Bis auf diese kleinen Änderungen blieb aber alles beim Alten, was dann vor allem im zweiten 138 139
140
torischen Bestimmungen über die Bildung einer vorläufigen Reichsmarine vom 27.5.1919, MVBl. 1919 S. 195–212 (207). Verordnung des Reichspräsidenten über die Regelung der Befehlsbefugnisse im Reichsheere vom 11.8.1920, HVBl. 1920 S. 841–848. Siehe auch die neu bearbeitete Verordnung des Reichspräsidenten über die »Befehlsbefugnisse im Reichsheer« vom 28.1.1926, HVBl. 1926 S. 9–13; abgedruckt bei Rittau, WG-Kommentar, S. 143–157. Siehe auch HVBl. 1927 S. 5; HVBl. 1928 S. 104; HVBl. 1931 S. 14, 135 und 138. Verordnung des Reichspräsidenten über das Rang- und Vorgesetztenverhältnis der Soldaten des Reichsheeres vom 10.12.1920, HVBl. 1920 S. 989–991. Siehe auch die klarstellende Ergänzung vom 25.1.1921, HVBl. 1921 S. 23.
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Abschnitt der Verordnung über das allgemeine Vorgesetztenverhältnis zum Ausdruck kam: Die Offiziere waren allen vorgesetzt, unter ihnen war die Rangklasse maßgeblich (Generale, Stabsoffiziere, Hauptleute und Rittmeister, Leutnants), die Unteroffiziere schließlich waren den Mannschaften (und untereinander grundsätzlich nicht) vorgesetzt. Hinsichtlich des Vorgesetztenverhältnisses »auf Grund besonderer Dienststellung« verwies die Verordnung in ihrem letzten Abschnitt auf die bereits ergangenen »allgemeinen Dienstvorschriften« sowie mögliche Anordnungen im Einzelfall, so dass auch hier keine grundsätzliche Änderung zum Rechtszustand des Kaiserreiches eintrat. Auch wurde die Möglichkeit beibehalten, sich als dienstälterer Offizier zum Vorgesetzten zu erklären. Zwar war nicht mehr explizit von Standespflichten die Rede. Doch genügte es, dass der Offizier »sich verpflichtet fühlt, gegen einen dem Range oder Patent nach jüngeren Kameraden dienstlich einzuschreiten«, so dass die tradierten Maßstäbe zumindest stillschweigend fortgalten. Vor allem aber war von irgendeiner Beschränkung der Vorgesetztenverhältnisse auf die Zeit des Dienstes nun nicht einmal mehr implizit die Rede. Damit hatte sich die Seeckt’sche Reichswehr von einer weiteren Kernforderung der Revolution abgewandt. Das tradierte Bild vom Soldaten, das den Menschen in seiner Gesamtheit forderte und Gefühl vermittelte, er sei »immer im Dienst«, kam hier besonders stark zum Ausdruck. § 8 Abs. 1 des Wehrgesetzes vom 23. März 1921 (rückwirkend in Kraft getreten zum 1. Januar 1921), wonach die »Befehlsführung […] ausschließlich in der Hand der gesetzmäßigen Vorgesetzten« lag, änderte an diesen Bestimmungen nichts, waren sie doch »gesetzmäßig« zustande gekommen. Implizit verzichtete der Reichstag damit darauf, die Regelung der Vorgesetztenverhältnisse selbst in die Hand zu nehmen. An die Stelle der Regelungen vom Dezember 1920 trat am 13. November 1926 eine neuerliche Verordnung des Reichspräsidenten über das »Rang- und Vorgesetztenverhältnis der Soldaten des Reichsheeres«,141 die allerdings keine Änderungen im Grundsätzlichen brachte: So wurden der Rangklasse der Generale die Dienstgrade des Generaloberst sowie des Generalfeldmarschalls (traditionell für Kriegszeiten) wieder hinzugefügt, nachdem Seeckt bereits zum 1. Januar 1926 als erster Angehöriger der Reichswehr (noch ohne haushaltsrechtliche Planstelle) zum Generaloberst befördert worden war.142 Auch wurden die »Leutnants« von nun an als »Leutnante« bezeichnet und ausdrücklich klargestellt, das allgemeine Vorgesetztenverhältnis gelte »in und außer Dienst«, ohne dass auch hier eine materielle Änderung eintrat. Etwas wichtiger war dagegen, dass die Oberfeldwebel (Oberwachtmeister) von nun allen übrigen Unteroffizieren ihrer Kompanie, die Oberfähnriche und Feldwebel (Wachtmeister) allen Unteroffizieren ohne Portepee ihrer Kompanie in und außer Dienst vorgesetzt waren. Diese Aufwertung der Portepeeunteroffiziere muss in Zu141
142
Verordnung des Reichspräsidenten über das Rang- und Vorgesetztenverhältnis der Soldaten des Reichsheeres vom 13.11.1926, HVBl. 1926 S. 125 f. Siehe auch die geringfügigen Ergänzungen vom 9.2.1927, HVBl. 1927 S. 17, und vom 17.10.1929, HVBl. 1929 S. 127, sowie die Hinzufügung des Dienstgrades Stabsgefreiter vom 7.1.1928, HVBl. 1928 S. 8, und des Dienstgrades Generaloberstabsveterinär vom 20.4.1928, HVBl. 1928 S. 47. Meier-Welcker, Seeckt, S. 487.
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sammenhang mit dem Seeckt’schen Konzept eines vergleichsweise hoch ausgebildeten Kader- und Führerheeres von Berufssoldaten verstanden werden, das im Bedarfsfall vor allem in der Lage sein sollte, seine Führer zu multiplizieren. Schließlich hatten Offiziere von nun an nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, dienstjüngere Offiziere zurechtzuweisen und sich nötigenfalls zum Vorgesetzten zu erklären, »falls deren außerdienstliches Verhalten es erfordert«. Den Abschluss dieser Entwicklung bildete dann die »Verordnung über Rang- und Vorgesetztenverhältnis der Soldaten des Heeres« (R.u.V) vom 29. Juni 1932, wobei diese Neuausgabe im Wesentlichen bloß zwischenzeitliche, geringfügige Detailänderungen konsolidierte.143 Die Vorschriften der Marine schließlich orientierten sich an denen des Heeres und wichen von ihnen in ihren Grundsätzen über das allgemeine wie das besondere Vorgesetztenverhältnis nicht ab.144 Anders als der positiv wie negativ beschworene Begriff des »unbedingten Gehorsams« suggerierte, war nicht jeder Befehl in Dienstsachen verbindlich. Zwar traf das MStGB über die Verbindlichkeit von Befehlen keine expliziten Aussagen. Die Frage wurde von der Literatur allerdings in engem Zusammenhang mit § 47 diskutiert, der Aussagen über die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Handeln auf Befehl traf. Dessen ursprüngliche, von der Reichsregierung vorgeschlagene Fassung (§ 58 des Entwurfs) hatte gelautet: »Wird von einer Person des Soldatenstandes durch Ausführung eines Befehls in Dienstsachen eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen, so ist der Vorgesetzte, welcher den Befehl ertheilt hat, als Thäter zu betrachten. Der Untergebene bleibt straflos, insoweit er den Befehl nicht überschritten hat. Er ist jedoch als Mitthäter zu betrachten, wenn die Befolgung des Befehls eine Handlung gegen die militärische Treue in sich schließt.«145
Damit wären vom Grundsatz her lediglich Befehle zu Handlungen gegen die militärische Treue unverbindlich gewesen, da der Untergebene ja ansonsten Bestrafung fürchten musste, wenn er sie befolgte. Die Regelung hätte zu einer annähernd totalen Gehorsamspflicht geführt, die es ermöglicht hätte, den gehorchenden Untergebenen als regelmäßig strafloses und damit fungibles Verbrechenswerkzeug zu missbrauchen. Als einzige Grenze des Gehorsams hätte sie den schwammigen Begriff der »militärischen Treue« zugelassen. Auch die Kommission war mit diesem Konzept nicht einverstanden gewesen und hatte dem späteren § 47 daher folgende, endgültige Fassung gegeben: 143 144
145
Sie wurde als H. Dv. 3 k III ausgegeben (späterer Neudruck von 1936 als H. Dv. 3/11 Teil II) und ist inhaltlich wiedergegeben bei Absolon, Wehrmacht, Band 1, S. 210–216. Bestimmungen über das Vorgesetztenverhältnis in der vorläufigen Reichsmarine, Anlage 6 zu den Organisatorischen Bestimmungen über die Bildung einer vorläufigen Reichsmarine vom 27.5.1919, MVBl. 1919 S. 195–212 (207); Bestimmungen über die Dienstverhältnisse der Offizierkorps der Marine vom 18.10.1919, MVBl. 1919 S. 465 f.; Bestimmungen über Rang- und Vorgesetztenverhältnis der Soldaten der Reichsmarine vom 22.12.1924 (ab 1.2.1925 in Kraft), MVBl. 1925 S. 3, 168 und Anlage zu Heft 2; Verordnung über Rang- und Vorgesetztenverhältnis der Soldaten der Reichsmarine vom 18.6.1926, M.Dv. Nr. 15, Heft 6. § 58 des Entwurfs eines Militär-Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich, Reichstagsdrucksache 5 in Verhandlungen des Reichstags, III. Session 1872, Band 3.
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»Wird durch die Ausführung eines Befehls in Dienstsachen ein Strafgesetz verletzt, so ist dafür der befehlende Vorgesetzte allein verantwortlich. Es trifft jedoch den gehorchenden Untergebenen die Strafe des Theilnehmers: 1. wenn er den ihm ertheilten Befehl überschritten hat, oder 2. wenn ihm bekannt gewesen, daß der Befehl des Vorgesetzten eine Handlung betraf, welche ein bürgerliches oder militärisches Verbrechen oder Vergehen bezweckte.«146
Inhaltlich deckungsgleich mit dem Erstentwurf wurde auch hier in S. 1 der befehlende Vorgesetzte als mittelbarer Täter fingiert.147 Nach S. 2 wurde als »Teilnehmer« bestraft, wer durch die Tat einen Befehl überschritten hatte – eine dogmatische Banalität – oder einen Befehl in dem Wissen ausführte, dass er ein bürgerliches oder militärisches Verbrechen oder Vergehen bezweckte.148 Für Übertretungen (die mit der Strafrechtsreform der 1960er in das heutige Ordnungswidrigkeitenrecht übersiedelten) haftete hingegen allein der befehlende Vorgesetzte als mittelbarer Täter.149 »Teilnahme« wurde hier im heutigen Sinne von »Beteiligung« interpretiert, so dass sowohl Allein- und Mittäterschaft als auch Beihilfe und Anstiftung umfasst waren, wobei die Anstiftung in diesem Zusammenhang allenfalls hypothetisch in Betracht kam.150 Soweit der Untergebene den Befehl nach § 47 S. 2 Nr. 1 überschritten hatte, war er Alleintäter.151 Zwar begünstigte die damals herrschende subjektive animus-Theorie im Rahmen von § 47 S. 2 Nr. 2 eine Behandlung des Untergebenen lediglich als Gehilfe statt als Mittäter und damit eine mildere Bestrafung.152 Unbestritten war jedoch, dass ein Befehl keine Gehorsamspflicht auslösen konnte, für dessen Ausführung dem Untergebenen Strafe drohte.153 Solche Befehle waren also nicht nur unverbindlich, sie durften auch nicht befolgt werden. Das MStGB verlangte also nur in dem Sinne »blinden Gehorsam«, als der Untergebene auf die Zweckmäßigkeit und Rechtmäßigkeit der Befehle seiner Vorgesetzten grundsätzlich vertrauen durfte und sollte, die dafür im Zweifel ja auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden konnten.154 Bei Befehlen zu Verbrechen oder Vergehen aber wollte das MStGB den Ungehorsam ja gerade befördern, indem es dem gehorchenden Untergebenen eine strafrechtliche Mitverantwortung zuwies, wenn er den Zweck des Befehls erkannt hatte. Dabei war die Regelung des § 47 S. 2 Nr. 2 insofern modern, als sie eine Bestrafung von dem Unrechtsbewusstsein des Untergebenen abhängig machte – ein Gedanke, 146
147 148 149 150
151 152 153 154
§ 49 des Entwurfs eines Militär-Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich, Reichstagsdrucksache 90 in Verhandlungen des Reichstags, III. Session 1872, Band 3. Siehe zu § 47 S. 2 Nr. 2 MStGB auch den heutigen, im Wesentlichen inhaltsgleichen § 5 Abs. 2 WStG. Rotermund, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 5. Rittau, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 4 Buchstabe b. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 3. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 1. Unter Teilnahme werden heute lediglich die akzessorische Beihilfe und Anstiftung (§§ 26 f. StGB) verstanden. Die Strafe des Vorgesetzten konnte nach § 115 MStGB erhöht werden. Fuhse, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 3. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 2 und 6. Siehe auch § 49 RStGB. Buth, Entwicklung, S. 62 f. So auch für das heutige Recht vertreten von Dau, in: MüKo-StGB, Band 8, WStG § 2 Rn. 27.
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der sich als allgemeiner Grundsatz des Strafrechts erst sehr viel später durchsetzte.155 Vor allem aber konnte der gehorchende Untergebene sich für Verbrechen und Vergehen nicht auf einen »Befehlsnotstand« berufen.156 Zusätzlich wurde die Gehorsamspflicht durch die bereits angesprochene Zweckbindung an Dienstsachen beschränkt.157 Zur ohnehin weiten Auslegung des Begriffs des »Dienstlichen« kam aber hinzu, dass an die Zweckbindung nicht allein objektive Maßstäbe angelegt wurden, sondern dem Befehlenden hier eine subjektive Einschätzungsprärogative zukam: Wenn er entschuldbar irrtümlich von Umständen ausging, die die Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit des Befehls begründeten, so blieb der Befehl verbindlich. Umgekehrt war ein Befehl nur dann aufgrund von Unzweckmäßigkeit oder Unnötigkeit unverbindlich, wenn ein entsprechender Tatsachenirrtum des Vorgesetzten unentschuldbar war. Es wurde hier also eine ex-anteSicht eingenommen.158 Jenseits dessen wurde die Frage nach der Verbindlichkeit des Befehls jedoch viel weniger eindeutig beantwortet. Als allgemeiner Grundsatz galt, dass rechtswidrige Befehle unverbindlich waren.159 Allerdings wurde Rechtswidrigkeit hier nicht einfach mit dem Verstoß des Befehls gegen höherrangiges Recht gleichgesetzt: »Die Grenze der Rechtmäßigkeit des Befehls in Dienstsachen darf nicht zu eng gezogen werden […]. Namentlich begründen die militärischen Zwecke die Rechtmäßigkeit zahlreicher außerhalb des Heeres unzulässiger Handlungen«, so der Kommentar von Romen und Rissom.160 Weiter hieß es in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Reichsmilitärgerichts: »Soweit der Vorgesetzte auf Grund eigener Prüfung der in Frage kommenden Tatumstände zu handeln genötigt ist, muß es für die Rechtmäßigkeit genügen, daß der Vorgesetzte zur Annahme dieser Umstände auf Grund pflichtgemäßen Ermessens gelangt ist«161 – besonders in Hinblick auf die hier ebenfalls vorzunehmende ex-ante-Betrachtung eine vielleicht vage anmutende Auffassung, der sich jedoch auch die Nachkriegsliteratur wie auch das Reichsgericht anschlossen,162 und die im Übrigen bis heute bei der Behandlung des »gefährlichen Befehls« fortlebt.163 So war bereits umstritten, ob mit der wohl überwiegenden Meinung aus einem Umkehrschluss aus § 47 S. 2 Nr. 2 (wonach der gehorchende Untergebene nur für auf Befehl begangene Verbrechen und Vergehen verantwortlich gemacht werden konnte) folgte, dass Befehle, die nur eine Übertre155 156 157 158 159 160
161 162 163
Die endgültige Wende in der Rechtsprechung brachte erst der Beschluss des Großen Senats des BGH vom 18.3.1952, BGHSt 2, 194. Der Befehlsnotstand ist zu unterscheiden vom Nötigungsnotstand, bei dem die Befehlsdurchführung mit einer Drohung (typischerweise durch den Vorgesetzten) durchgesetzt wird. So auch der heutige § 22 Abs. 1 S. 1 Var. 1 WStG. Rittau, MStGB-Kommentare, § 47 Anm. 3; Fuhse, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 8. Rotermund, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 7, Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 13, § 92 Anm. 3; Fuhse, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 8; Rittau, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 3. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 13. Die teilweise geforderte »formelle Rechtmäßigkeit« im Sinne von Zuständigkeit war dagegen bereits in der Frage enthalten, ob es sich um einen Vorgesetzten handelte, siehe hierzu ebenda § 92 Anm. 3 Buchstabe b (α); vgl. dagegen Rittau, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 3; Fuhse, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 8. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 3 Buchstabe b (β). Siehe auch RMG 10, 193; 10, 228. Rittau, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 3; Fuhse, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 8; RGSt 59, 330 (335 f.). Zum »gefährlichen Befehl« siehe Dau, in: MüKo-StGB, Band 8, WStG § 2 Rn. 35.
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tung zum Gegenstand hatten, stets verbindlich waren (unabhängig von einer eventuellen Verantwortlichkeit des befehlenden Vorgesetzten), oder ob hier eine Einzelfallabwägung stattfinden musste.164 Dabei blieb die dogmatische Herleitung weitgehend offen, ob Befehle in Dienstsachen entweder als Ausfluss der Kommandogewalt unter bestimmten Umständen (im Rahmen einer Güterabwägung) als rechtlich höherrangig und damit rechtmäßig bewertet wurden oder aber ob sie – wie z. B. der heutige Verwaltungsakt – vom allgemeinen Dogma befreit waren, wonach die Rechtswidrigkeit zur Nichtigkeit führt.165 Dagegen war weitestgehend unbestritten, dass insbesondere ein Verstoß gegen Dienstvorschriften noch keine Unverbindlichkeit des Befehls begründete, was sich vor allem gut aus § 98 Abs. 1 Alt. 1 begründen ließ, der für diese Fälle dem nicht gehorchenden Untergebenen lediglich Strafmilderung in Aussicht stellte.166 Auffallend anders als heute allerdings wurde das Kriegsvölkerrecht in der Literatur überhaupt nicht als Grenze der Befehlsverbindlichkeit diskutiert. Anerkannt war hingegen, dass nach dem alten Grundsatz nemo ultra posse obligatur der Befehl zu einer unmöglichen Handlung unverbindlich war.167 Außerdem war das Abweichen oder Nichtausführen von Befehlen nicht nur statthaft, sondern verpflichtend, wenn der Untergebene »nach sorgfältiger Prüfung die Überzeugung gewinnt, daß die Verhältnisse, unter denen der Befehl gegeben ist, sich derart verändert haben, daß der erteilte Befehl nicht mehr paßt und im Interesse der Sache nicht ausgeführt werden darf, und daß – ohne Gefahr für die Sache – die Zeit fehlt, von dem Vorgesetzten, der den Befehl erteilt hat, einen neuen Befehl einzuholen« – als geschichtliches Beispiel führte der Kommentar von Romen und Rissom ausdrücklich die Yorck’sche Konvention zu Tauroggen an.168 Auch Befehle, die ohne Not das Leben, die Gesundheit, die wirtschaftliche Existenz, die Ehre oder das militärische Ansehen des Untergebenen gefährdeten, wurden von Rechtsprechung wie Literatur als unverbindlich anerkannt.169 Unbeachtlich für die Strafbarkeit war das Bewusstsein des nicht gehorchenden Untergebenen über die Verbindlichkeit des Befehls. So machte das Unrechtsbewusst164
165
166 167 168
169
Für Ersteres Rotermund, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 10; Goebel, Ausschluß, S. 35 f.; vgl. dagegen Romen/Rissom, § 47 Anm. 14 Abs. 3. Auch der ursprüngliche § 5 WStG (BGBl. 1957 I S. 298–305) nahm den Untergebenen von einer Haftung für auf Befehl begangene Übertretungen aus; der heutige § 5 WStG spricht nur deshalb von allen Straftaten, weil die Übertretungen abgeschafft und in den Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts verlagert worden sind. Dabei ist anerkannt, dass ein Befehl zur Ordnungswidrigkeit verbindlich ist, siehe Dau, in: MüKo-StGB, Band 8, WStG § 2 Rn. 34. Das Nichtigkeitsdogma gilt bspw. auch nicht für den Verwaltungsakt nach heutigem Recht (siehe nur § 44 VwVfG). Für das heutige Wehrrecht ist die Kategorie des rechtswidrig-verbindlichen Befehls anerkannt, siehe Stauf, SG-Kommentar, § 11 Rn. 3. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 3 Buchstabe b (β). So auch heute, siehe Dau, in: MüKoStGB, Band 8, WStG § 2 Rn. 27. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 6; Fuhse, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 8 Buchstabe c. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 7 Buchstabe b. Siehe auch Rotermund, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 11 a.E. Bemerkenswerterweise führten die wesentlichen nach dem Weltkrieg erschienenen Kommentare von Rittau und Fuhse aus dem Jahr 1926 die Kategorie des obsoleten Befehls nicht auf. Fuhse, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 8 Buchstabe d; RMG 22, 77 (81); RGSt 59, 330 (337). Nach heutigem Recht ist insbesondere der Befehl, der gegen die Menschenwürde verstößt, unverbindlich, siehe Dau, in: MüKo-StGB, Band 8, WStG § 2 Rn. 32 f.
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sein nach damaliger Ansicht noch ohnehin keinen notwendigen Bestandteil der Schuld aus; ein schuld- und damit strafmindernder Verbotsirrtum wurde anders als heute weder vom Gesetz noch von der Rechtsprechung anerkannt. Die Verbindlichkeit des Befehls wurde vielmehr als objektive Bedingung der Strafbarkeit behandelt, die außerhalb sowohl des gesetzlichen Tatbestands wie auch der Schuld lag und nicht vom Vorsatz erfasst sein musste. Der Untergebene trug damit die Gefahr, sich geirrt zu haben, wenn er einen für unverbindlich gehaltenen Befehl unbefolgt ließ. Er sollte in die Rechtmäßigkeit der ihm erteilten Befehle vertrauen – (nur) in diesem Sinne war die Rede vom »unbedingten Gehorsam« zu verstehen.170 So hatte der Untergebene (anders als der Beamte) grundsätzlich auch kein Remonstrationsrecht, abgesehen von Befehlen, die i. S. v. § 47 S. 2 Nr. 2 ein Verbrechen oder Vergehen bezweckten. Bei kollidierenden oder sich widersprechenden Befehlen war der Untergebene zudem verpflichtet, auf den Widerspruch aufmerksam zu machen; er musste dann nur den zuletzt gegebenen Befehl ausführen.171 Als Begehungsmöglichkeiten für den Ungehorsam nannte § 92 die »Nichtbefolgung«, die »eigenmächtige Abänderung« sowie die »Überschreitung«, wobei letztere beide als Spezialfälle des ersten galten. Als »Überschreitung« kam nicht jedes vom Befehl ungedeckte Verhalten, sondern nur »etwas in der durch den Befehl gewiesenen Richtung« zu viel Getane in Betracht, also z. B. fünf, statt drei Schüsse abzugeben usw. Jedenfalls die »eigenmächtige Abänderung« setzte Vorsatz voraus, ansonsten erkannte die gefestigte Rechtsprechung zumindest die Möglichkeit einer fahrlässigen »Nichtbefolgung« an, auch wenn sie im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen war.172 Allerdings war für leichte Fälle des fahrlässigen Ungehorsams nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 EGMStGB auch disziplinare Ahndung möglich; für den fahrlässigen Ungehorsam war eine konsequente Disziplinarbestrafung, wie sie das Legalitätsprinzip für Disziplinarvergehen in Konsequenz der Rechtsprechung eigentlich verlangt hätte, jedoch praktisch undurchführbar.173 Verursachte der Untergebene durch seinen Ungehorsam einen erheblichen Nachteil (»erschwerter Ungehorsam«), so war nach § 93 Abs. 1 die Mindeststrafe 14 Tage mittlerer Arrest, die Höchststrafe zehn Jahre Gefängnis oder Festungshaft, im Felde bis zu fünfzehn Jahren oder lebenslange Freiheitsstrafe. Als »Nachteil« galt die »Beeinträchtigung irgendeines Rechtsgutes«, wobei die »›Erheblichkeit‹ des Nachteils im einzelnen Fall […] Tatfrage« war174 – auch hier lag eine besonders in Anbetracht des Strafmaßes bemerkenswerte Unschärfe. § 93 Abs. 2 ordnete für die bloße Herbeiführung der Gefahr eines erheblichen Nachteils durch Ungehorsam Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren, im Felde bis zu drei Jahren an. Dem echten Unterlassungsdelikt 170
171 172 173 174
Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 13, § 48 Anm. 3 Buchstabe a (β a. E.), § 92 Anm. 3; Rotermund, MStGB-Kommentar, § 48 Anm. 2 Buchstabe d, § 92 Anm. 10 und 14. Anders dagegen heute § 22 Abs. 2 und 3 WStG. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 47 Anm. 17, § 92 Anm. 7 Buchstabe c. Rotermund, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 13; RMG 2, 201; 5, 5; 5, 267; vgl. dagegen Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 92 Anm. 8 f. Dietz, HDStO 1921-Kommentar, Vorbemerkungen S. 41–44. Für bloße Disziplinarübertretungen galt hingegen das Opportunitätsprinzip, siehe ebenda § 2 Abs. 2, Anm. 1 f. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 93 Anm. 2; RMG 6, 94; 8, 247; 10, 145.
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der Nichtbefolgung eines Dienstbefehls (§ 92 Alt. 1) stand das Begehungsdelikt der Gehorsamsverweigerung in § 94 zur Seite, die »ausdrücklich« oder »sonst durch Worte, Gebärden oder andere Handlungen zu erkennen« gegeben werden konnte (S. 1). Gleichgestellt waren das Zurredestellen des Vorgesetzten über einen erhaltenen Dienstbefehl oder Verweis sowie das Beharren im Ungehorsam auf wiederholt erhaltenen Befehl (S. 2). Hierfür drohte das MStGB mittleren Arrest nicht unter 14 Tagen bis hin zu Gefängnis oder Festungshaft von bis zu drei Jahren an. Wurde die Gehorsamsverweigerung vor versammelter Mannschaft oder gegen den Befehl, unter das Gewehr zu treten, oder unter dem Gewehr begangen, so war die Strafe Gefängnis oder Festungshaft nicht unter einem Jahr (§ 95 Abs. 1 S. 1); in minder schweren Fällen konnte die Strafe auf 14 Tage mittleren Arrest ermäßigt werden, wenn die Tat »nicht gegen den Befehl, unter das Gewehr zu treten, und nicht unter dem Gewehre begangen« worden war (§ 95 Abs. 1 S. 2). Wurde sie zusätzlich hierzu vor dem Feinde begangen, war die Freiheitsstrafe nicht unter zehn, in minder schweren Fällen unter einem Jahr (§ 95 Abs. 2 S. 1); bestand die Handlung in der Gehorsamsverweigerung durch Wort, Tat oder sonstige Weise (§ 94 Var. 1 und 2 – also nicht durch Zurredestellung des Vorgesetzten oder durch Beharren im Ungehorsam), so trat Todesstrafe oder lebenslängliche Freiheitsstrafe ein, in minder schweren Fällen Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr (§ 95 Abs. 2 S. 2). Schließlich wurde wegen Widersetzung nach § 96 Abs. 1 mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zehn Jahren (im Felde mit Gefängnis nicht unter zwei Jahren, in minder schweren Fällen nicht unter sechs Monaten) bestraft, wer es auch nur unternahm, einen Vorgesetzten mittels Gewalt oder Drohung an der Ausführung eines Dienstbefehls zu hindern oder zur Vornahme oder Unterlassung einer Diensthandlung zu nötigen. Dem Vorgesetzten waren nach Abs. 2 die ihm zur Unterstützung befehligten oder zugezogenen Mannschaften gleichgestellt. Nach § 98 Abs. 1 wurde dem Soldaten allerdings für eine Tat nach den §§ 89–97 Strafmilderung in Aussicht gestellt, wenn er sich zu ihr auf der Stelle durch eine vorschriftswidrige oder die Grenzen der Dienstgewalt überschreitende Behandlung seines Vorgesetzten (§§ 114–121) hatte hinreißen lassen:175 Todesstrafe und lebenslange Freiheitsstrafe konnten in Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren gewandelt werden, zeitige Freiheitsstrafen halbiert werden. Stellte sich das Verhalten des Vorgesetzten zugleich als eine Misshandlung oder sonstige herabwürdigende Behandlung des Untergebenen dar, so konnte die Strafe nach Abs. 2 sogar auf bis zu sechs Monate ermäßigt werden. Wegen Aufforderung zum Ungehorsam wurde dagegen gleich einem Anstifter bestraft, wer einen Kameraden aufforderte oder anreizte, seinem Vorgesetzten den Gehorsam zu verweigern (hierunter wurden wie im Folgende §§ 92–95 verstanden, also auch der einfache Ungehorsam),176 sich ihm zu widersetzen (§ 96) oder eine Tätlichkeit gegen ihn zu begehen (§ 97), wenn die Haupttat zumindest versucht worden war (§ 99 Abs. 1). War sie ohne Erfolg geblieben, so war auf Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren, im Felde auf mittleren Arrest oder Gefängnis oder 175 176
Gegen strengen Anforderungen an »auf der Stelle hingerissen werden« RGSt 67, 248. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 99 Anm. 3 Buchstabe a.
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Festungshaft bis zu fünf Jahren zu erkennen; sie durfte jedoch der Art und Höhe nach nicht schärfer als die für die Haupttat angedrohte Strafe sein (§ 99 Abs. 2). Eine Aufforderung, besonders aber eine Anreizung verlangte eine sehr viel geringere Konkretisierung der Haupttat als die allgemeine Anstiftung nach § 48 Abs. 1 RStGB. Die Vorschrift war das Pendant zum zivilen § 112 RStGB, sah allerdings härtere Strafen als diese vor, da die Begehung durch eine Militärperson nach den Motiven ein größeres Unrecht enthielt.177 Wer allerdings gleich mehrere Kameraden zu einer gemeinschaftlichen Begehung dieser Taten anreizte, wurde wegen Aufwiegelung zu Gefängnis nicht unter fünf Jahren bestraft, »ohne Rücksicht darauf, ob ein Erfolg eingetreten ist« (§ 100 Abs. 1). Wurde dadurch ein erheblicher (durch Gesetz nicht näher bestimmter) Nachteil für den Dienst verursacht, so trat Gefängnisstrafe nicht unter zehn Jahren ein; im Felde konnte auf lebenslängliches Gefängnis erkannt werden (§ 100 Abs. 2). Sehr differenziert drohte das MStGB Strafen schließlich auch für gemeinschaftliche Insubordinationen an. Verabredeten sich mehrere zu einer gemeinschaftlichen Gehorsamsverweigerung, Widersetzung oder Tätlichkeit gegen den Vorgesetzten, so wurden sie wegen Meuterei bestraft. Das Strafmaß richtete sich dabei nach der verabredeten Tat und war um drei Monate bis zu zwei Jahren zu erhöhen (§ 103 Abs. 1). Wurde die verabredete Straftat in der Folge begangen, so konnte die Strafe nach § 53 verdoppelt werden, »wenn die hiernach zulässige Strafe höher ist, als die nach Bestimmungen des ersten Absatzes verwirkte Strafe« (§ 103 Abs. 2). Die Nichtmeldung einer Meuterei wurde, wenn die verabredete Straftat begangen wurde, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft (§ 104). Straflosigkeit trat »für den an der Meuterei Beteiligten ein, welcher von der Meuterei zu einer Zeit, wo die Dienstbehörde nicht schon anderweit davon unterrichtet ist, in einer Weise Anzeige macht, daß die Verhütung der verabredeten Handlung möglich ist« (§ 105). Noch stärker als die Meuterei, nämlich mit Gefängnis nicht unter fünf (und im Felde nicht unter zehn) Jahren und Dienstentlassung, wurde das Unternehmensdelikt des militärischen Aufruhrs bestraft (§ 106): Dazu mussten mehrere »sich zusammenrotten und mit vereinten Kräften es unternehmen, dem Vorgesetzten den Gehorsam zu verweigern, sich ihm zu widersetzen oder eine Tätlichkeit gegen denselben zu begehen«. Unter der Zusammenrottung war dabei das räumliche Zusammentreten der Tatbeteiligten zu verstehen.178 Die Rädelsführer und Anstifter eines solchen Aufruhrs »sowie diejenigen Anführer, welche eine Gewalttätigkeit gegen den Vorgesetzten begehen«, wurden nach § 107 mit fünf Jahren bis lebenslänglichem Zuchthaus, im Felde mit dem Tod bestraft (§ 107). Wurde der Aufruhr »vor dem Feinde« begangen, so ordnete § 108 für alle Beteiligten die Todesstrafe, in minder schweren Fällen fünf Jahre bis lebenslängliche Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe an (§ 108). Kehrte ein Beteiligter eines Aufruhrs jedoch zur Ordnung zurück, »bevor es zu einer Gewalttätigkeit gegen den Vorgesetzten gekommen« war, wurde er mit Gefängnis oder Festungshaft bis zu zwei Jahren bestraft, wenn er nicht Anstifter oder Rädelsführer war (§ 109 Abs. 1). Kehrten 177 178
Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 99 Anm. 1. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 106 Anm. 3 Buchstabe a.
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alle Beteiligten zur Ordnung zurück, so war gegen Anstifter und Rädelsführer auf Gefängnis oder Festungshaft von einem bis fünf Jahren zu erkennen (§ 109 Abs. 2). Einem Anstifter zum Aufruhr (§ 107) gleich war nach § 110 ein Beteiligter zu bestrafen, der nach persönlicher Aufforderung einem Vorgesetzten durch Wort oder Tat den Gehorsam ausdrücklich verweigerte, durch Missbrauch »militärischer Signale oder durch Aufruhrzeichen« den Aufruhr beförderte oder unter den Anführern den höchsten Dienstrang einnahm. § 110a schließlich ordnete für minder schwere Fälle der §§ 100, 106 107 und 110 noch differenzierte Strafmilderungen an und ließ für die §§ 106, 107, 108 und 110 neben der Gefängnisstrafe auch die Dienstentlassung zu. Den Strafvorschriften zum Schutz der militärischen Unterordnung stand ein siebter Abschnitt (§§ 114–126) mit diversen Tatbeständen gegenüber, die den Untergebenen vor einem »Mißbrauch der Dienstgewalt« (so die Bezeichnung des Abschnitts) schützen sollten.179 Doch trotz ihres beachtlichen materiellen Gehalts blieben die praktischen Anwendungsfälle hier sehr gering, wofür die Sozialdemokraten im ausgehenden 19. Jahrhundert richtigerweise die Militärgerichtsbarkeit verantwortlich machten.180 So kam es während des Weltkrieges im Feldheer zu gerade einmal rund 130 Verurteilungen von Vorgesetzten wegen vorschriftswidriger Behandlung von Untergebenen (§ 121 Abs. 1 Alt. 2).181 Zudem stand mit § 124 MStGB ein besonderer Rechtfertigungsgrund zur Verfügung, der die Strafbarkeit des Missbrauchs der Dienstgewalt (worunter insbesondere auch die körperliche Misshandlung Untergebener nach § 122 MStGB zählte) nicht unerheblich einschränkte: »(1) Diejenigen Handlungen, welche der Vorgesetzte begeht, um einen thätlichen Angriff des Untergebenen abzuwehren, oder um seinen Befehlen im Fall der äußersten Noth und dringendsten Gefahr Gehorsam zu verschaffen, sind nicht als Mißbrauch der Dienstgewalt anzusehen. (2) Dies gilt namentlich auch für den Fall, wenn ein Offizier in Ermangelung anderer Mittel, den durchaus nothwendigen Gehorsam zu erhalten, sich in der Lage befunden hat, gegen den thätlich sich ihm widersetzenden Untergebenen von der Waffe Gebrauch zu machen.«
Die Vorschrift wurde als Rechtfertigungsgrund behandelt und nicht, wie ihr Wortlaut nahelegt, als Tatbestandsausschluss. Das lag daran, dass sie beinahe wortgleich aus dem preußischen Militärstrafgesetzbuch von 1845 übernommen worden war.182 Nach der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden »hegelianischen Handlungslehre« waren aber von vornherein nur schuldhafte Handlungen von strafrechtlicher Relevanz gewesen. Für den Deliktsaufbau hatte das bedeutet, dass nicht zwischen Rechtfertigungsgrund und Tatbestandsausschluss differenziert worden war. Diese Unterscheidung hatte sich erst allmählich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der kausalen Handlungslehre Franz v. Liszts durchgesetzt.183 179 180 181 182 183
Siehe auch die entsprechende Zusage in Art. 13 der Berufspflichten des deutschen Soldaten vom 2.3.1922, HVBl. 1922 S. 141 f.; siehe weiter unter Kapitel II.2. Schubert, Entstehung, S. 6–15. Stachelbeck, Heer, S. 197. § 185 des Strafgesetzbuchs für das Preußische Heer vom 3.4.1845, Preußische Gesetzsammlung 1845, S. 287–390. Einen guten Überblick bietet Jakobs, Strafrecht AT, S. 126–130.
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Über den eigentlichen Wortlaut hinaus verlangten die meisten Literaturstimmen sowohl für Abs. 1 Alt. 1 (Abwehrrecht des Vorgesetzten gegen tätlichen Angriff) als auch für Abs. 1 Alt 2, Abs. 2 (Notstand der Disziplin), dass dem Vorgesetzten wie im Rahmen der allgemeinen Notwehr kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Verfügung stand und die gewählte Handlung somit zur Zweckerreichung erforderlich war. Nach dieser Auffassung war das Abwehrrecht des Vorgesetzten gegen tätliche Angriffe (Abs. 1 Alt. 1) nichts weiter als ein Spezialfall der allgemeinen Notwehr und folgte insofern den gleichen Regeln.184 Die Erforderlichkeit als ungeschriebenes, über den Wortlaut hinausgehendes Tatbestandsmerkmal blieb jedoch bei § 124 MStGB umstritten, so dass nach der Gegenauffassung dem Vorgesetzten ein größerer Handlungsspielraum zur Rechtfertigung eines »Mißbrauchs der Dienstgewalt« blieb als nach den allgemeinen Notwehrregeln.185 Zusammenfassend fallen bei den §§ 92–96 und 103–110a einerseits manche Unbestimmtheiten, andererseits aber auch die geradezu kasuistisch gestaffelten Strafandrohungen für Gehorsamsverletzungen auf, die so vor allem durch die Milderungsgesetze im Weltkrieg eingeführt worden waren. Gerade im zeitgenössisch-internationalen Rechtsvergleich können sie nicht als besonders exzessiv gelten.186 Auch zeigte sich die Gehorsamspflicht nach dem MStGB einer differenzierten dogmatischen Durchdringung durch Literatur und Rechtsprechung zugänglich, die im Wesentlichen noch bis heute im WStG fortwirkt und somit als wegweisend bezeichnet werden muss. Der Gehorsam galt damit – zumindest aus rechtlicher Sicht – mitnichten über alles. Zudem hat der prüfende Blick auf das zeitgenössische bürgerliche Strafrecht erwiesen, dass Schwächen wie die Nichtanerkennung von schuldmindernden Rechtsirrtümern in Hinblick auf die Verbindlichkeit eines Befehls oder aber die Möglichkeit, zu einer Bestrafung bei bloß fahrlässigem Ungehorsam zu kommen (ohne dass dies ausdrückliche im Gesetz vorgesehen war), nicht im MStGB selbst, sondern in der allgemeinen Strafrechtsdogmatik jener Zeit begründet waren. Auch wenn man – wie der Sozialdemokrat Daniel Stücklen – das MStGB aus der Perspektive des Jahres 1920 für ähnlich archaisch wie die (wesentlich jüngere) MStGO und daher reformbedürftig hielt, so kann dieser Vorwurf pauschal zumindest nicht für die Dogmatik von der Gehorsamspflicht aufrechterhalten werden. Ebenso wenig dürfen die späteren Erfahrungen mit der Wehrmachtjustiz das Urteil über das MStGB in diesem Punkt trüben: Zum einen hatten schon die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs gezeigt, dass es auch eine milde Handhabung der Strafen zuließ. Zum anderen lag die Rechtsfeindlichkeit des Nationalsozialismus ja gerade darin begründet, dass er bestehendes Recht nicht respektierte, sondern extensiv 184 185 186
Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 124 Anm. 3; Rotermund, MStGB-Kommentar, § 124 Anm. 4; Fuhse, MStGB 1926-Kommentar, § 124 Anm. 3 f. Grützmacher, Notwehr, S. 588; ebenso Rissom, Notwehr, S. 54. So konnten der vorsätzliche Ungehorsam sowie die Tätlichkeit gegenüber vorgesetzten Offizier nach Art. 64 (Assaulting or Willfully Disobeing Superior Officers) der US-amerikanischen Articles of War vom 4.6.1920 (Chapter II, Bul. Nr. 25, W. D., 1920) theoretisch auch in Friedenszeiten mit Todesstrafe geahndet werden. Der französische Code de Justice Militaire vom 9.6.1857, der modifiziert bis 2006 galt, ordnete für den einfachen Ungehorsam Freiheitsstrafe von einem Monat bis einem Jahr, in Zeiten des Krieges oder der Mobilmachung von zwei bis fünf Jahren an.
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auslegte, missachtete und beugte – von originärem NS-Militärstrafrecht noch ganz abgesehen.187 Auch dass im Ersten, besonders aber im Zweiten Weltkrieg Kriegsverbrechen von deutschen Truppen begangen und durch die Militärjustiz toleriert wurden, liegt an Ursachen jenseits des MStGB, das hier im Gegenteil durchaus eine rechtliche Handhabe geboten hätte. Schließlich hatte der größte revolutionäre Kritikpunkt an der Reichweite der Gehorsamspflicht seine Wurzeln auch nicht im MStGB und seiner Auslegung, sondern in den Dienstvorschriften, die das Vorgesetztenverhältnis regelten. Von ihnen war das Tatbestandsmerkmal des »Befehls in Dienstsachen« ganz wesentlich normativ-akzessorisch abhängig. Hier wäre der (vorläufigen) Reichsregierung unter Ebert daher auch ohne Weiteres eine wesentliche Veränderung in der Handhabe der militärischen Disziplin und damit der inneren Kultur der Reichswehr möglich gewesen, insbesondere was die Zeit außerhalb des Dienstes anbetraf. Dazu hätte es nicht einmal einer Änderung des MStGB, sondern allein der maßgeblichen Dienstvorschriften bedurft. Doch bereits um die Jahreswende 1918/19 gaben Ebert und Noske dem Druck der OHL nach: Dabei erteilten sie eben nicht nur der utopischen Forderung nach Beteiligung der Soldatenräte an der Kommandogewalt, die das Primat der Zivilpolitik von vornherein beseitigt hätte, eine nachvollziehbare Absage. Mit ihrem beharrlichen Festhalten besonders am tradierten allgemeinen Vorgesetztenverhältnis, dem vor allem die Mannschaften und Unteroffiziere rund um die Uhr unterworfen blieben, hämmerten sie vielmehr erneut einen unnötigen, aber großen Nagel in den Sarg der Novemberrevolution.
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Zur Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) und Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO) siehe Messerschmidt, Wehrmachtjustiz, S. 70–76; zur Lenkung von Auslegung und Rechtsprechung siehe ebenda S. 85–94.
V. DAS DISZIPLINARSTRAFRECHT ALS PROTHESE »Nun erscheint es mir aber als ganz unzweifelhaft, daß die gerichtliche Ahndung militärischer Vergehen oder Verbrechen eine Fortsetzung sein muß und nur eine Fortsetzung sein kann der Disziplinarstrafgewalt, daß das ein einheitliches System ist, welches nicht von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus durchgeführt werden kann.« Albrecht v. Graefe (DNVP)1
Das militärische Disziplinarstrafrecht ist historisch gesehen der kleine Bruder des Militärstrafrechts, auch wenn das für das heutige Recht mit weit überwiegender Mehrheit bestritten wird.2 Es handelte sich dabei im Kern um das Recht bestimmter Disziplinarvorgesetzter (in der Regel direkte Vorgesetzte vom Kompanie-, Eskadron-, Batterie- usw. -Chef aufwärts; ausschließlich Offiziere), die unter ihrer »Disziplinargewalt« stehenden Untergebenen für ihre Disziplinarverfehlungen (Delikte bis teilweise leichter krimineller Intensität) in einem vergleichsweise formlosen, nichtgerichtlichen Verfahren zu strafen. Wie im alten Inquisitionsprozess waren die prozessualen Rollen von Anklageerhebung und Urteilungsfindung nicht auf verschiedene Personen getrennt verteilt. Das Disziplinarstrafrecht sollte also den Führern der Streitkräfte ein Mittel an die Hand geben, die Disziplin innerhalb gewisser Grenzen selbst durchzusetzen. Es war somit originärer Ausfluss der Kommandogewalt – wie traditionell auch die Militärstrafrechtspflege preußischen Zuschnitts,3 die wiederum für soldatische Delikte mittlerer bis schwerster Intensität zuständig war. Disziplinarstrafrecht und Militärstrafrecht waren daher eng aufeinander bezogen, präzise abgestimmt und miteinander verzahnt. Sie ergänzten sich und bildeten ein in sich geschlossenes Konzept, um Disziplin, Schlagkraft der Truppe und sonstige militärische Rechtsgüter pönal abzusichern. Insofern war die Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit in der zweiten Jahreshälfte 1920 nicht allein deshalb eine konzeptionelle Halbheit, als das MStGB nicht revidiert wurde, das nun immerhin die bürgerliche Strafjustiz anzuwenden hatte, sondern auch weil die Disziplinarstrafbefugnisse des Militärs unangetastet blieben. Das in sich austarierte Verhältnis von militärischer Disziplinar- und Militärstrafrechtspflege war damit zunächst durcheinandergebracht. Es nimmt daher nicht Wunder, dass sich die Reichswehrführung in den Folgejahren auf den Ausbau des Disziplinarstrafrechts verlegte, um verlorengegangenes Terrain zurückzuerobern.
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Debatte zur Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit vom 10.7.1919, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 1480. Dau, in: MüKo-StGB, Band 8, WStG, Vorbem. zu den §§ 1 ff. Rn. 3; ders., WDO-Kommentar, § 16 Rn. 1, jeweils m. w. N.; BVerfGE 21, 378 und 391. Vgl. dagegen Heinemann, Ne bis in idem, S. 11–20. Siehe hierzu Kapitel IV.1.
1. Die Disziplinarstrafordnungen
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1. Die Disziplinarstrafordnungen Grundlage für das Disziplinarstrafrecht der Reichswehr bildeten die Disziplinarstrafordnungen für Heer und Marine, die sämtliche formellen wie materiellen Bestimmungen in sich vereinten. Auch hier wandelte die Reichswehr auf den gewohnten Spuren des Kaiserreichs und Preußens. Das Disziplinarstrafrecht hatte sich in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus dem militärischen Strafrecht kommend in Einzelvorschriften entwickelt.4 Dabei war im Zuge der preußischen Heeresreformen und der damit einhergehenden Neugestaltung von Militärstraf- und Disziplinarrecht auch die Prügelstrafe für Soldaten endgültig abgeschafft worden. Die Herausbildung eines eigenständigen Disziplinarstrafrechts erscheint vor diesem Hintergrund auch als Einhegung einer zunächst weitgehend unbeschränkten Disziplinargewalt der Vorgesetzten als Teil ihrer Kommandogewalt. Erstmals umfassend wurden die Disziplinarstrafbefugnisse für das preußische Heer in der »Verordnung über die Disziplinar-Bestrafung in der Armee« vom 21. Oktober 1841 geregelt.5 Sie definierte den sachlichen Anwendungsbereich des Disziplinarstrafrechts bereits vorbildlich für spätere Regelungen so, dass erstens »[g]eringe Vergehen gegen die militärische Zucht und Ordnung und Übertretungen der Dienstvorschriften, über welche die Militairgesetze keine Strafbestimmungen enthalten, […] von den Vorgesetzten disziplinarisch zu bestrafen waren« (§ 1), und zweitens, wenn »die Militairstrafgesetze dergleichen Vergehen mit einer Strafe bedrohen, deren niedrigstes Maaß innerhalb der, in den nachfolgenden Paragraphen angegebenen Grenzen der Disciplinarstrafgewalt« lag, »es von dem pflichtmäßigen Ermessen des mit der Gerichtsbarkeit versehenen Befehlshabers ab[hing], disziplinarische Bestrafung oder gerichtliches Verfahren eintreten zu lassen« (§ 2), wie auch die »nach den allgemeinen Strafgesetzen polizeilich zu ahndenden Vergehen […] disziplinarisch zu bestrafen [waren], wenn die Disziplinarstrafgewalt dazu ausreicht, und nicht die Militairgesetze ausdrücklich eine solche Strafe vorschreiben, die nur gerichtlich verhängt werden kann« (§ 3). Das Feld des Disziplinarstrafrechts waren damit also zum einen akriminelle, nicht in bestimmte Straftatbestände gefasste Verstöße gegen die Disziplin, die Kriegsartikel und die Dienstvorschriften, sowie zum anderen leichte Straftaten. Die typischen Disziplinarstrafen,6 insbesondere der Arrest, tauchten hier schon auf, wobei Verweise noch allein gegen Offiziere, gegen Unteroffiziere und Mannschaften dagegen auch bestimmte Strafdienste (Nachexerzieren, Wachdienst etc.) sowie die Entfernung des Gefreitengrades zulässig waren. Auch weitere hier schon verwirklichte Grundsätze wirkten auf spätere Regelungen nach: So musste der Disziplinarvorgesetzte vor Verhängung einer Disziplinarstrafe »von der Verschuldung des zu Bestrafenden auf eine, seinem pflichtmäßigen Ermessen überlas4 5 6
Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 231. Preußische Gesetzsammlung 1841, S. 325–335. Zuvor gab es die Verordnungen wegen Militairstrafen und Bestrafung der Offiziere vom 3.8.1808, Preußische Gesetzsammlung 1806 bis 1810, S. 265–275. Der Begriff der »Disziplinarmaßnahme« wurde erst mit der WDO-Novelle von 1972 eingeführt (BGBl. 1972 I S. 1665–1695); bis dahin wurde darunter das verstanden, was man heute eine »erzieherische Maßnahme« unterhalb der Schwelle des Disziplinarrechts nennt.
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V. Das Disziplinarstrafrecht als Prothese
sene Art sich überzeugt haben« (§ 21). Und auch wenn er dabei »an die Regeln eines gerichtlichen Beweises nicht gebunden« war, musste er jedoch, »in sofern er über die Schuld, den Grad der Strafbarkeit oder darüber, ob das Vergehen sich zur disziplinarischen oder gerichtlichen Bestrafung eigne, zweifelhaft ist, den Hergang der Sache durch mündliche und, wenn es erforderlich seyn sollte, schriftliche oder protokollarische Verhandlungen informatorisch näher aufklären« (§ 22 Abs. 1). Ebenso war doppelte Disziplinarbestrafung für ein und dieselbe Tat ausgeschlossen (§ 23 Abs. 3). Zwar führte die Verhängung einer Disziplinarstrafe für »ein Vergehen, welches gerichtlich hätte bestraft werden sollen«, nicht zu gerichtlichem Strafklageverbrauch, jedoch musste bei »Abmessung der gerichtlichen Strafe [...] auf die bereits verbüßte Disziplinarstrafe Rücksicht genommen werden« (§ 26). Der Grundsatz des ne bis in idem galt damit also zumindest innerhalb des Disziplinarstrafrechts; bei rechtmäßiger Disziplinarahndung wurde der Strafanspruch aber ganz konsumiert. Vor allem aber betonte § 30 die Selbständigkeit des Disziplinarvorgesetzten: »Der höhere Befehlshaber darf die von dem niederen verfügte Disziplinarstrafe nur dann aufheben oder abändern, wenn: 1) die Strafe ihrer Art oder ihrer Dauer nach ungesetzlich, oder 2) der Strafende zu deren Verhängung nicht befugt gewesen ist.«7 Nach den Erfahrungen des Deutschen Kriegs von 1866 und der Gründung des Norddeutschen Bundes erschien am 21. Juli 1867 eine neuerliche »Allerhöchste Verordnung über die Disciplinar-Bestrafung in der Armee«,8 die aufgrund von Art. 61 Abs. 1 der Bundesverfassung im ganzen Bundesgebiet einzuführen war.9 Zwar hatte die Verordnung von 1841 bestimmt, dass auch »bei Anwendung der kleineren Disziplinarstrafen […] die Verletzung des Ehrgefühls möglichst zu vermeiden« war, doch wurden die gegen Gemeine der zweiten Klasse des Soldatenstandes bis dato noch zulässigen (bis zu vierzig) Stockschläge erst mit dieser Novelle endgültig abgeschafft.10 Als Novum kam beispielsweise die Soldverwaltung für Mannschaften durch einen Unteroffizier hinzu; außerdem konnten fortan Soldaten der zweiten Klasse des Soldatenstandes nach fruchtloser Anwendung der anderen Strafen in eine Arbeiterabteilung strafversetzt werden. Überhaupt nahm sie ein paar Impulse der ansonsten preußisch geprägten, aber nicht umgesetzten »DisciplinarStrafordnung für das deutsche Reichsheer« der Paulskirchenregierung vom 22. April 1849 auf, insbesondere was deren Gliederung anbetraf.11 Dabei kam es auch zu einer gewissen Annäherung der ansonsten weiterhin grundsätzlich verschieden zulässigen Disziplinarstrafen für Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften. Am 31. Oktober 1872 wurde schließlich eine Disziplinarstrafordnung für das preußische Heereskontingent (HDStO 1872) eingeführt, die zum 15. November desselben Jahres in Kraft trat und mit kleineren Änderungen die längste Zeit des Kaiserreiches 7 8 9 10 11
Ein Grundsatz, der bis heute in § 35 WDO fortwirkt. AVBl. 1867 S. 103–114. Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16.4.1867, veröffentlicht durch Publikandum vom 26.7.1867 im BGBl. 1867 S. 1–23. § 5 Buchstabe D und § 7 der Verordnung über die Disziplinar-Bestrafung in der Armee vom 21.10.1841, Preußische Gesetzsammlung 1841, S. 325–335. RGBl. 1849 S. 87–99.
1. Die Disziplinarstrafordnungen
289
und bis in die Anfangsjahre der Republik galt.12 Sie wurde wortgleich in Sachsen und Württemberg eingeführt; die bayerische Disziplinarordnung vom 12. Dezember 1872 lehnte sich auch im Wortlaut eng an sie an. Die Vorschriften der Marine orientierten sich dabei seit 1869 zunehmend an denen des Heeres und wichen meist nur insoweit ab, als es durch die Bedingungen an Bord begründet war.13 Sämtliche Disziplinarstrafordnungen des Bismarckreiches wurden dabei nicht als formelles Gesetz, sondern allein auf der Grundlage des Militärverordnungsrechts erlassen, das dem Kaiser als Oberbefehlshaber als Teil seiner obersten Kommandogewalt zustand. § 2 Nr. 3 und 4 HDStO 1872 erweiterten den persönlichen Anwendungsbereich des Disziplinarstrafrechts in Übereinstimmung mit §§ 155, 158 MStGB sowie § 1 Nr. 9 MStGO auf das Heeresgefolge und die Kriegsgefangenen. Der sachliche Anwendungsbereich hingegen wurde nach § 2 HDStO 1872 neben den »Disziplinarübertretungen« (Verstöße gegen Dienstpflichten, Vorschriften etc.) von nun an auf bestimmte leichte, rein militärische »Disziplinarvergehen« nach dem MStGB beschränkt, die in § 3 Abs. 2 EGMStGB aufgelistet wurden. Er hatte durch Gesetz vom 25. April 1917 folgende erweiterte Fassung erhalten:14 »In leichten Fällen können im Disziplinarwege geahndet werden: 1. Vergehen wider die §§ 64, 66 Satz 2, §§ 79, 89, 90, 91 Abs. 1, §§ 92, 93, 94, 120, 121 Abs. 1, §§ 137, 141 Abs. 1, §§ 146, 148 Fall 1, § 151; 2. Vergehen wider § 114, wenn die strafbare Handlung nur in dem Borgen von Geld oder in der Annahme von Geschenken ohne Vorwissen des gemeinschaftlichen Vorgesetzten besteht.«
Daraus ergab sich (wie bereits aus der ursprünglichen Fassung) eine Trichotomie des als Symbiose verstandenen Militärdisziplinar- und Militärstrafrechts, die sich auf den sachlichen Anwendungsbereich beider Rechtszweige wie folgt niederschlug: Kategorie der Verfehlung:
Ahndung:
Disziplinarübertretungen (gegen Dienstvorschriften etc.):
Nur disziplinar.
Vergehen nach MStGB:
Leichte Fälle der in § 3 Abs. 2 EGMStGB genannten Vergehen: Ahndung als Disziplinarvergehen möglich, ansonsten gerichtlich. Alle übrigen Vergehen: Nur gerichtlich.
Verbrechen nach MStGB:
Nur gerichtlich.
Es waren also insbesondere der Ungehorsam, seit der Novelle vom 25. April 1917 aber auch der Ungehorsam mit erheblichem Nachteil sowie die einfache Gehorsamsverweigerung (§§ 92–94 MStGB) einer disziplinaren Ahndung zugänglich. Nach den 12
13 14
Allerhöchste Verordnung über die Disziplinar-Strafordnung für das Heer vom 31.10.1872, AVBl. 1872 S. 330– 342. Siehe auch die Mitteilung des preußischen Kriegsministers über die grundsätzlich unveränderte Fortgeltung der bisherigen Disziplinarstrafordnung vom 20.2.1919, AVBl. 1919 S. 156. Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 231 f. Gesetz, betreffend Herabsetzung von Mindeststrafen des Militärstrafgesetzbuchs, vom 25.4.1917, RGBl. 1917 S. 381–384.
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V. Das Disziplinarstrafrecht als Prothese
Motiven bot der erweiterte Anwendungsbereich des Disziplinarstrafrechts den Vorteil, »1. in leichteren Fällen eine schnellere und dadurch wirksamere Bestrafung zu ermöglichen, dem Beschuldigten aber ein gerichtliches Verfahren und den Makel einer gerichtlichen Bestrafung zu ersparen, 2. die Gerichte von minder erheblichen Sachen zu entlasten«. In dieser Begründung tauchen bereits die wichtigsten Argumente auf, die bei der Diskussion um das Verhältnis von Disziplinar- und Militärstrafrecht in den folgenden Jahren weiter maßgeblich blieben. Umgekehrt wurde der beschuldigte Soldat damit einem militärgerichtlichen Verfahren entzogen, das zwar an bürgerlichen Maßstäben gemessen geringe Rechtsschutzmöglichkeiten bot, nicht aber im Vergleich zur mehr oder weniger formlosen disziplinaren Erledigung. Insbesondere durfte die Beschwerde im Disziplinarverfahren persönlich erst nach der Vollstreckung eingelegt werden (§ 52 HDStO 1872). Für wahrheitswidrige Beschwerden drohte eine disziplinare Frivolitätsstrafe nach § 53 Abs. 2 HDStO 1872.15 Bei der Ahndung von Disziplinarvergehen i. S. v. § 3 Abs. 2 EGMStGB war der Disziplinarvorgesetzte aber stets an den gesetzlich vorgegebenen Strafrahmen, also vor allem das Mindeststrafmaß gebunden. Das hatte insbesondere für leichte Fälle des Ungehorsams (§ 92) zur Folge, dass sie zwingend mit Arrest zu ahnden waren. Der Disziplinarvorgesetzte konnte jedoch nicht über den Rahmen seiner Disziplinarstrafgewalt hinausgehen, so dass mit dem Anwendungsbereich nicht zugleich auch das Strafrepertoire des Disziplinarstrafrechts erweitert wurde:16 Beispielsweise konnte ein Kompaniechef gegen einen Offizier nur einfache und förmliche Verweise, gegen einen Unteroffizier oder Gemeinen neben den zulässigen Strafdiensten Kasernen-, Quartier- oder gelinden Arrest bis zu acht Tagen, gegen Unteroffiziere ohne Portepee und Gemeine mittleren Arrest bis zu fünf Tagen, und gegen Gemeine wiederum strengen Arrest bis zu drei Tagen verhängen. Der Kommandeur eines Regiments oder selbständigen Bataillons hingegen war befugt, Offiziere mit Stubenarrest bis zu sechs Tagen, Unteroffiziere und Gemeine mit Kasernen-, Quartier- oder gelindem Arrest bis zu vier Wochen, Unteroffiziere ohne Portepee und Gemeine mit mittlerem Arrest bis zu drei Wochen, und Gemeine mit strengem Arrest bis zu vierzehn Tagen zu bestrafen.17 Überhaupt stellte § 3 Abs. 3 EGMStGB hier Obergrenzen auf: »Jedoch darf im Disziplinarwege keine andere Freiheitsstrafe, als Arrest festgesetzt werden, und die Dauer desselben vier Wochen gelinden Arrestes oder Stubenarrestes, drei Wochen mittleren Arrestes oder vierzehn Tage strengen Arrestes nicht übersteigen.«
Zusätzlich stand jedem Unteroffizier und Offizier zur Durchsetzung der Disziplin nach § 7 Abs. 2 HDStO 1872 ein vorläufiges Festnahmerecht gegenüber jeder »nach dem Dienstgrade oder dem Patent oder dem Dienstalter unter ihm stehenden Person des Soldatenstandes« zu. Wie das gewöhnliche Strafrecht auch setzte die disziplinare Ahndung schuldhaftes Handeln (auch hier noch in erster Linie im Sinne von 15
16 17
Bei unwahren Behauptungen wider besseres Wissen drohte § 152 Abs. 1 MStGO Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr an; auch heute noch ist in diesen Fällen disziplinare Ahndung möglich, da der Soldat zur Wahrheit verpflichtet ist, siehe Stauf, SG-Kommentar, § 13 Rn. 23. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, EGMStGB § 3 Anm. 3 Buchstabe a. §§ 9 und 11 der Disziplinar-Strafordnung für das Heer vom 31.10.1872, AVBl. 1872 S. 330–342.
1. Die Disziplinarstrafordnungen
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Vorsatz oder Fahrlässigkeit) voraus, jedoch waren für die Bestrafung der Disziplinarvergehen nach § 3 Abs. 2 EGMStGB die jeweiligen Anforderungen des MStGB an den Grad der Schuld maßgeblich. Hielt ein Disziplinarvorgesetzter eine Disziplinarstrafe zwar für zulässig, reichte seine Strafbefugnis allerdings nicht aus, so hatte er die Sache an den nächsthöheren Disziplinarvorgesetzten abzugeben (§ 43 Abs. 1 HDStO 1872). Ebenso war zu verfahren bei Zweifeln, ob eine Tat disziplinarisch oder gerichtlich zu bestrafen sei (§ 43 Abs. 2 HDStO 1872); der nächsthöhere Disziplinarvorgesetzte entschied dann, ob er selbst disziplinar ahndete oder Tatbericht an den zuständigen Gerichtsherrn nach § 153 Abs. 2 MStGO erstattete. Während es aber allein im pflichtgemäßen Ermessen des Disziplinarvorgesetzte stand, ob er eine nicht-kriminalisierte Handlung überhaupt als Disziplinarübertretung behandelte, als auch ob und wie er gegebenenfalls eine solche disziplinar ahnden wollte, konnten die in die § 3 Abs. 2 EGMStGB genannten Vergehen nur alternativ disziplinar geahndet werden, so dass hier ein Verfolgungszwang (§ 51 MStGB) bestand. Eine rechtmäßige Disziplinarbestrafung wegen eines der genannten militärischen Vergehen tilgte nach § 157 Abs. 1 MStGO den Strafanspruch;18 nachträgliche gerichtliche Ahndung war stets nur möglich, wenn die disziplinar bestrafte Handlung in Wirklichkeit nicht unter § 3 Abs. 2 EGMStGB fiel (§ 45 HDStO 1872).19 Dabei war jedoch die Entscheidung des Disziplinarvorgesetzten bindend, ob ein leichter Fall vorlag oder nicht; umgekehrt konnte der Gerichtsherr eine gerichtliche Ahndung hier nicht ablehnen (§ 157 Abs. 2 und § 251 Abs. 1 MStGO) und das Militärgericht sich auch nicht für unzuständig erklären (§ 329 MStGO).20 In diesem Anwendungsbereich galt der Grundsatz des ne bis in idem also auch im Verhältnis von Disziplinar- und Militärstrafrecht. Bereits kurz nach der Novemberrevolution veränderte die Verordnung des Rats der Volksbeauftragten zur einstweiligen Änderung von MStGO, EGMStGO und MStGB vom 5. Dezember 1918 die Grenzen zwischen Disziplinar- und Militärstrafrecht erneut.21 Fortan konnte in den bisher zur Zuständigkeit der fortgefallenen niederen Standgerichtsbarkeit gehörenden Fällen von Bestrafung abgesehen werden oder Strafbefehl nach §§ 349–353 MStGO erlassen werden, sofern nicht nach § 3 Abs. 2 EGMStGB geahndet wurde. Die Ablehnung der gerichtlichen Strafverfolgung schloss jedoch disziplinare Ahndung nicht aus. Damit war das Legalitätsprinzip vor allem für die Disziplinarvergehen aufgehoben. Da die Vorschrift als Ergänzung der MStGO behandelt wurde, galt sie mit der friedensmäßigen Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit Ende 1920 theoretisch nur noch für den Kriegsfall.22 Der Erlass der Reichsregierung über die vorläufige Regelung der Kommandogewalt und die Stellung der Soldatenräte im Friedensheer vom 19. Januar 1919 billigte den neuen Vertrauens18 19 20 21 22
Die rechtliche Beurteilung der Straftat durch den Disziplinarvorgesetzten unterlag jedoch voller gerichtlicher Kontrolle, RMG 14, 57; RGSt 58, 273. Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, EGMStGB § 3 Anm. 5 und 6; Rotermund, MStGB-Kommentar, EGMStGB § 3 Anm. 8; RMG 4, 109; 8, 39; 15, 258; 17, 31. Rotermund, MStGB-Kommentar, EGMStGB § 3 Anm. 3 und 4; RMG 4, 110. Verordnung, betreffend die einstweilige Änderung der Militärstrafgerichtsordnung, des Einführungsgesetzes dazu und des Militärstrafgesetzbuches, vom 5.12.1918, RGBl. 1918 S. 1422 f. Allgemein kritisch zu diesem Teil der Verordnung Dietz, HDStO 1921-Kommentar, § 2 II Anm. 2. Zur Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit siehe Kapitel IV.2.
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V. Das Disziplinarstrafrecht als Prothese
leuten eine Mitwirkung in Disziplinarangelegenheiten zu, betonte allerdings, dass sie dabei an die bestehenden materiellen Bestimmungen gebunden blieben.23 Ansonsten behielt die HDStO 1872 nämlich grundsätzlich weiter Geltung, wie das Preußische Kriegsministerium am 20. Februar 1919 mitteilte, nachdem sich einige Freiwilligenformationen Sonderbestimmungen gegeben hatten.24 Erste substantielle Veränderungen ergaben sich aus den Ausführungsbestimmungen zum Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr, die das Reichswehrministerium am 31. März 1919 erließ.25 So wurden die Geldstrafe sowie die Urlaubskürzung für alle Rangklassen als Disziplinarstrafen eingeführt, was in erster Linie im Zusammenhang mit den notwendig besseren Besoldungsbedingungen eines Berufsheeres gesehen werden muss.26 Portepeeunteroffiziere durften mit gelindem Arrest nur noch für Disziplinarvergehen, nicht mehr für bloße Übertretungen bestraft werden; für alle übrigen Unteroffiziere galt das entsprechend für den mittleren Arrest. Bei den Mannschaften wurde die Strafversetzung von Soldaten der zweiten Klasse des Soldatenstandes in eine Arbeiterabteilung ersatzlos abgeschafft. In dem verkleinerten Freiwilligenheer lag es in so gelagerten Fällen näher, sich durch Kündigung und Entlassung von dem Soldaten zu trennen; außerdem war für besondere Arbeiterabteilungen kein Geld vorhanden, von den Beschränkungen des Versailler Friedensvertrages noch ganz zu schweigen. Endlich wurde nun auch für die Mannschaften als mildeste Disziplinarstrafe der Verweis eingeführt. Zusätzlich beschränkten die Bestimmungen die Disziplinarstrafgewalt: Strenger Arrest durfte fortan nur noch vom Regimentskommandeur aufwärts (und nicht mehr vom Kompaniechef), in besonderen Fällen und bis maximal vier (statt zuvor 15) Tagen angeordnet werden. Vor allem aber wurde der Rechtsschutz des Soldaten im Disziplinarverfahren gestärkt: Fortan musste ihm sowie dem zuständigen Vertrauensmann vor Verhängung der Disziplinarstrafe Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Beschwerden durften persönlich (und nicht mehr nur von einem anderen Vorgesetzten) vor der Strafvollstreckung angebracht werden; sie hatten zudem fortan aufschiebende Wirkung bis zur Entscheidung über die Beschwerde. Um ausreichend Bedenkzeit zu geben, durfte die Disziplinarbeschwerde – allgemeinen Grundsätzen des Beschwerderechts folgend – erst nach einer Nacht eingereicht und die Strafe frühestens nachdem diese Möglichkeit verstrichen war vollstreckt werden.27 Über die Disziplinarbeschwerde hatte dann 23
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Nr. 5 des Erlasses der Reichsregierung über die vorläufige Regelung der Kommandogewalt und die Stellung der Soldatenräte im Friedensheer vom 19.1.1919, AVBl. 1919 S. 54 f.; abgedruckt bei Kolb, Zentralrat, S. 442–445; ebenso bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 63–65; siehe auch Huber, Verfassungsgeschichte, Band 5, S. 935–939; für die Marine sinngemäß in Kraft gesetzt, MVBl. 1919 S. 20. Mitteilung des Preußischen Kriegsministeriums über die Disziplinarstrafordnung vom 20.2.1919, AVBl. 1919 S. 156. Ergänzungsbestimmungen zur Disziplinarstrafordnung, Anlage 5 zu den Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31.3.1919, AVBl. 1919 S. 263–282 (275 f.); der Reichswehrminister war hierzu nach § 13 AVGvRW ermächtigt. Durch Verordnung der Preußischen Staatsregierung vom 28.4.1919 (mit Ausnahme von Geldstrafe und Urlaubskürzung) auch für das in Auflösung befindliche preußische Heereskontingent eingeführt, AVBl. 1919 S. 356. Für die Reichsmarine wurden entsprechende Bestimmungen am 16.4.1919 erlassen, MVBl. 1919 S. 205 f. Siehe hierzu auch Kapitel II.3. Voss, Haus, S. 92 f.
1. Die Disziplinarstrafordnungen
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der nächsthöhere Disziplinarvorgesetzte zu entscheiden. Eine eventuelle weitere Beschwerde (»Berufung«) schob die Vollstreckung jedoch nicht mehr auf. Daneben blieb dem Bestraften stets die Möglichkeit eines Gnadengesuchs, über das seit dem Umbruch nicht mehr der Kaiser, sondern der Reichspräsident entschied (Art. 49 Abs. 1 WRV).28 Mit dem Gesetz zur Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit vom 17. August 1920 entfiel zum 1. Oktober auch für das Disziplinarstrafrecht der strenge Arrest, an dessen Stelle von nun an höchstens milder Arrest zu verhängen war. Zudem wurde dem Disziplinarvorgesetzten zugunsten der Staatsanwaltschaft die Entscheidung entzogen, ob ein Disziplinarvergehen (§ 3 Abs. 2 EGMStGB) lediglich disziplinar oder gerichtlich zu ahnden war, wenn durch die Tat ein Untergebener oder eine nicht der Reichswehr angehörige Person verletzt worden war.29 In diesen Fällen gesellte sich von nun an also die Staatsanwaltschaft als ziviles Korrektiv zur militärischen Disziplinarstrafrechtspflege. Mit Wirkung zum 1. Januar 1922 trat dann eine neue Disziplinarstrafordnung für das Reichsheer vom 11. November 1921 (HDStO 1921) in Kraft. Strafexerzieren konnte von nun an nur noch gegen Mannschaften verhängt werden, die noch nicht länger als vier Jahre gedient hatten (§ 4 D. Nr. 1 Buchstabe b HDStO 1921); auch war die Soldverwaltung als Mannschaftsstrafe passé. Ansonsten konsolidierte die Neuausgabe vor allem die bisherigen Änderungen, klärte Missverständliches und modernisierte den Text sprachlich.30 So entfielen etwa die bisherigen Sonderbestimmungen über die Disziplinarbestrafung der Angehörigen von Landwehr, Reserve oder Beurlaubtenstand, da diese unter dem Versailler Vertrag ja nicht mehr fortbestehen durften. Insbesondere aber hielt § 48 Abs. 2 S. 1 HDStO 1921 an der aufschiebenden Wirkung der Disziplinarbeschwerde fest. Eine im Wesentlichen inhaltsgleiche Disziplinarstrafordnung für die Marine trat zum 1. Dezember 1922 in Kraft.31 Eine weitere Neuerung ergab sich in Hinblick auf das nemo-tenetur-Prinzip: Es wurde für das Disziplinarstrafrecht zwar noch immer nicht grundsätzlich anerkannt, jedoch sollten vom beschuldigten Soldaten, dem seinerseits das Recht zur Stellungnahme zustand, keine Berichte angefordert werden (§ 31 S. 2 HDStO 1921), da ihm bei einer Lüge weitere disziplinare oder gar gerichtliche Strafe drohte.32 Trotz allem handelte es sich im Kern unverkennbar noch um überarbeitete Fassungen der alten kaiserlichen Vorschriften. 28 29 30
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Dietz, HDStO 1921-Kommentar, S. 260. § 1 Abs. 2 und § 7 Abs. 1 des Gesetzes, betreffend die Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587. Disziplinarstrafordnung für das Reichsheer vom 11.11.1921, H.D.St.O., D.V.Pl. Nr./H. Dv. 216; siehe auch die Ankündigung vom 17.12.1921, HVBl. 1921 S. 546; Neudruck 1922, HVBl. 1922 S. 206; marginale Änderungen bei HVBl. 1923 S. 465; zudem durch die Verordnung über Änderung der Geldstrafen in der Disziplinarstrafordnung für das Reichsheer 17.11.1923, HVBl. 1923 S. 617 f.; weitere marginale Änderungen bei HVBl. 1925 S. 63. Disziplinarstrafordnung für die Reichsmarine vom 14.9.1922, M.D.St.O., D. E. Nr. 130; siehe auch die Inkrafttretungsverordnung des Reichspräsidenten vom 20.10.1922 sowie die Ankündigung der Marineleitung vom 26.10.1922, MVBl. 1922 S. 398 f. Dietz, HDStO 1921-Kommentar, § 30, Anm. 6. Der § 90 MStGB (Belügen Vorgesetzter) wurde durch das Gesetz zur Vereinfachung des Militärstrafrechts vom 30.4.1926 (RGBl. 1926 I S. 197–200) beseitigt, disziplinare Bestrafung war jedoch weiterhin möglich.
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V. Das Disziplinarstrafrecht als Prothese
Obschon beispielsweise Oskar Cohn (USPD) bei den Verfassungsberatungen noch von künftigen »Disziplinargesetzen« ausgegangen war, wurde auch die neue Disziplinarstrafordnung nicht als formelles Gesetz durch das Parlament, sondern lediglich durch den Reichspräsidenten nach Entwurf des Reichswehrministeriums auf dem Militärverordnungsweg verfügt.33 Zwar bestimmte Art. 114 Abs. 1 S. 2 WRV, dass eine »Entziehung der persönlichen Freiheit […] nur auf Grund von Gesetzen zulässig« war. Nach damaliger Auffassung genügte dafür allerdings die mittelbare Legitimierung über die gesetzliche Verordnungsermächtigung des Reichspräsidenten – eine »Wesentlichkeitstheorie«, wie sie heute anerkannt ist, oder Ähnliches gab es ja nicht.34 Eine Zwischenbilanz der Jahre 1918 bis 1921 ergibt, dass die wesentlichen Neuerungen auf dem Gebiet des Disziplinarstrafrechts bereits von den Ausführungsbestimmungen ausgingen, die Reichswehrminister Noske am 31. März 1919 im Zuge der Errichtung der vorläufigen Reichswehr erlassen hatte. Sicherlich war so manches, wie die Einführung der Geldstrafe für alle Dienstgrade oder die Streichung der Versetzung in eine Arbeiterabteilung den veränderten Bedingungen einer professionellen Berufsarmee geschuldet. Ohnehin wurde erwartet, dass die Disziplin eines Freiwilligenheeres sich eher auf Einsicht und akzeptierte Unterordnung, denn auf abschreckende Strafandrohung gründen würde.35 Auch entsprach es dem Geist der Zeit, dass die mäßige Egalisierung der Strafen bestehende Standesgrenzen erodierte – eine Dynamik, die allerdings auch dadurch verstärkt wurde, dass Mannschaften, Unteroffiziere wie Offiziere der Reichswehr nun allesamt »Profis« im engeren Sinne waren. Nicht so zwingend scheint jedoch ein Zusammenhang zwischen dem neuen Berufsheer und den erweiterten Rechtsschutzmöglichkeiten zu bestehen, die Noske den Reichswehrsoldaten im Disziplinarstrafverfahren einräumte. Die Einführung einer suspensiv und devolutiv wirkenden Disziplinarbeschwerde muss daher als echte Errungenschaft der Umwälzungen der Jahre 1918/19 anerkannt werden. Umgekehrt stagnierte die Fortentwicklung des Disziplinarstrafrechts alsbald: Die wenigen Impulse, die dann noch folgten, gingen nicht auf Initiativen des Reichswehrministeriums zurück, das bald unter dem maßgeblichen Einfluss von Seeckt stand. Schließlich fasste die HDStO 1921 nur Bekanntes in hübscherer Form zusammen. Die parlamentarischen Debatten und Vorhaben konzentrierten sich derweil auf das Feindbild der Militärgerichtsbarkeit und ließen den kleinen Bruder, das Disziplinarstrafrecht, weitgehend aus den Augen. Anders als die konservativen Kräfte – unter ihnen der eingangs zitierte Albrecht v. Graefe – hatten vor allem die Parteien der Linken die komplizierten Zusammenhänge zwischen Disziplinar- und Militärstrafrecht offenbar auf lange Sicht nicht durchschaut, wie sich wenig später am Scheitern des Wehrmachtdisziplinargesetzes zeigte. 33 34 35
Zum Militärverordnungsrecht des Reichspräsidenten siehe Kapitel I.2. unter Buchstabe c). Dietz, HDStO 1921-Kommentar, S. 50. Siehe hierzu auch Kapitel III.1. Siehe hierzu auch Nr. 3 des Grundlegenden Befehls Nr. 1 für das Freiwillige Landesjägerkorps vom 14.12.1918, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 50 f.; ebenso bei Ritter/Miller, Revolution, S. 142; sowie bei Maercker, Kaiserheer, S. 45–47.Art. 5 Abs. 2 der Berufspflichten des deutschen Soldaten vom 9.5.1930, HVBl. 1930 S. 75; abgedruckt mit Anmerkungen bei Absolon, Wehrmacht, Band 1, S. 172 f.
2. Das gescheiterte Wehrmachtdisziplinargesetz
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2. Das gescheiterte Wehrmachtdisziplinargesetz von 1922 In den Jahren, die auf die weitgehende Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit für Friedenszeiten folgten, monierte das Reichswehrministerium regelmäßig die aus seiner Sicht fehlerhafte Anwendung des MStGB und anderer militärischer Vorschriften durch die zivile Strafgerichtsbarkeit, wovon insbesondere ein längerer Schriftverkehr mit dem preußischen Justizminister sowie einzelne Briefwechsel mit dem Reichsjustizminister und verschiedenen Generalstaatsanwaltschaften zeugen.36 Doch waren die Sorgen des Reichswehrministeriums in Hinblick auf Rechtsanwendung und -auslegung wohl eher vorgeschoben, schließlich orientierte sich insbesondere das maßgebliche Reichsgericht eng an der Rechtsprechung des Reichsmilitärgerichts und entwickelte sie allenfalls zaghaft fort.37 Auch erreichte die relative Zahl der Verurteilungen von Soldaten nach der offiziellen Heereskriminalitätsstatistik ihren Höhepunkt in den Jahren 1922 bis 1924 und erreichte erst 1925 wieder ihren Vorkriegswert, was gegen eine unangemessen milde Praxis der bürgerlichen Strafjustiz spricht.38 Das Bedürfnis nach einer grundlegenden Reform des Verhältnisses von Disziplinar- und Militärstrafrecht rührte also woanders her und erscheint durchaus nachvollziehbar: Zweifelsohne stellte die Beseitigung der Militärgerichtsbarkeit insofern einen erfolgreichen Schlag gegen die Armee als Staat im Staate dar, als den Streitkräften damit die Möglichkeit entzogen war, schwerste militärische und vor allem bürgerliche Verbrechen (nach dem RStGB) nach einem rückständigen Verfahren eigenmächtig abzuurteilen. Das kasuistische MStGB kriminalisierte aber wie beschrieben auch Kleinigkeiten, die – sofern nicht Ahndung als Disziplinarvergehen nach § 3 Abs. 2 EGMStGB möglich war – nun nur noch im vergleichsweise aufwendigen und vor allem langwierigen Zivilstrafprozess abgeurteilt werden konnten. Legte ein verurteilter Soldat gegen die erstinstanzliche Entscheidung Rechtsmittel ein, mochte es sich sogar gut ein Jahr hinziehen, bis ein rechtskräftiges Urteil vollstreckt werden konnte.39 Schließlich waren die exzessiven Kriminalisierungstendenzen des MStGB auch der Hauptgrund dafür gewesen, dass während des Weltkriegs die Zahl 36
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Siehe die Schreiben des Reichswehrministers an den preußischen Justizminister bei BArch RW 1/34: Nr. 1025.9.21.RA.I. vom 10.11.1921, fol. 9–11; Nr. 1111.10.21.RA. vom 11.11.1921, fol. 12 f.; Nr. 805.11.21.RA. vom 22.11.1921, fol. 14–16; Nr. 810.1.22.RA. vom 30.3.1922, fol. 23 f.; Nr. 582.5.22.RA. vom 23.6.1922, fol. 26 f.; Nr. 324.8.24 RA.I. vom 5.9.1924, fol. 38–42; Nr. 202.6.26. RA I. vom 30.6.1926, fol. 152–160. Siehe auch das Schreiben an den Reichsjustizminister betreffend Dienstentlassung nach dem MStGB (Nr. 522/3. 24 RA II. Ang.) vom 5.4.1924,. ebenda fol. 34 f. In einem späteren Revisionsurteil vom 4.5.1934 korrigierte das Reichsgericht sogar zuungunsten des Soldaten die Entscheidung des Oberkriegsgerichts der Flotte, RGSt 68, 167. 1923 wurden 3,53 %, 1913 hingegen nur 1,43 % der Ist-Stärke im Heer wegen einer Straftat verurteilt; Bemerkungen zur Heereskriminalstatistik für 1930 des Chefs der Heeresleitung, 14 v 10 11. 30 RI., vom 11.6.1932, BayHStA/Abt. IV, RWGrKdo 4 № 587. So die Darstellung eines Referenten aus dem Reichswehrministerium, Geheimrat Meyer, nach einer Randnotiz zur Inhaltsangabe vom 18.10.1924 eines Vortrags des Regierungsrats Wienstein (Reichswehrministerium) bei der Reichskanzlei über den Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des Militärstrafrechts, BArch R 43-I/701, fol. 318.
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V. Das Disziplinarstrafrecht als Prothese
jener Vergehen erweitert wurde, die disziplinar geahndet werden konnten. Nun aber konnte beispielsweise selbst ein minderschwerer Fall von Gehorsamsverweigerung vor versammelter Mannschaft oder unter dem Gewehr (§ 95 Abs. 1 S. 2 MStGB) oder jede noch so kleine vorsätzliche Falschmeldung (§ 139 MStGB) stets nur durch die zivile Strafjustiz oder aber überhaupt nicht geahndet werden, da sie nicht in § 3 Abs. 2 EGMStGB aufgeführt war. Sogar die nur mit Arrest bedrohten Delikte konnten nach der bestehenden Rechtslage nicht vom Amtsrichter, sondern nur vom Schöffengericht abgeurteilt werden.40 Dabei wurde die Langsamkeit der bürgerlichen Strafjustiz als Problem für die militärische Disziplin noch nicht einmal von der politischen Linken in Abrede gestellt, die hier allerdings für eine allgemeine Beschleunigung zugunsten sämtlicher Strafverfahren plädierte.41 Doch die Vorstellungen des Reichswehrministeriums wiesen in eine andere Richtung. Das Reichswehrministerium hatte bereits zwei Jahre zuvor, im Januar 1920, parallel zu den Arbeiten an der Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit einen ersten Entwurf für ein Wehrmachtdisziplinargesetz beinahe fertiggestellt, bevor die Arbeiten auch hier durch den KappLüttwitz-Putsch und den Personalwechsel im Reichswehrministerium jäh unterbrochen wurden.42 Am 10. August 1920 übersandte Geßler dann dem Reichskabinett eine Vorlage, die im Großen und Ganzen schon dem späteren Regierungsentwurf entsprach.43 Schon die Nationalversammlung war bei den Verfassungsberatungen im Juli 1919 davon ausgegangen, dass die Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit eine Erweiterung des Disziplinarstrafrechts zur Folge haben würde, eventuell in Form einer »Militärdisziplinargerichtsbarkeit«.44 Auch in der Begründung des Entwurfs zu einem Gesetz betreffend die Stellung der Heeresjustitiare vom Dezember 1919 hatte es geheißen: »Eine weitere Folge der Aufhebung der Militärjustiz ist der Ausbau und die Erweiterung des Disziplinarrechts, da die Disziplin bei den leichteren militärischen Vergehen eine möglichst schnell eintretende Bestrafung verlangt«, woraus ein fortdauernder Bedarf an qualifizierten Militärjustizbeamten gefolgert wurde.45 Dieser eigenständige Entwurf wurde zwar fallengelassen, seine Regelungen aber in das Gesetz zur Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit eingewoben, bei dessen Plenarberatung am 29. Juni 1920 der nationalliberale Franz Brüninghaus mahnte, dass all diese Fragen sich nicht so einfach trennen ließen: »Vor allen Dingen ist es aber doch richtig, daß man, wenn man etwas abschafft, dafür sorgen muß, daß nun nicht eine Lücke, sozusagen ein leerer Raum für eine Zeitlang eintritt. Das ist aber hier der Fall. Wir haben uns in der Kommission darüber unterhalten. Ich habe dabei mit Freude feststellen können, daß auch die Deutsche Demokratische Partei auf dem Standpunkt steht, daß 40 41 42 43 44 45
§ 4 Abs. 1 des Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587. Siehe etwa die Äußerung von Oskar Hünlich (SPD) in der ersten Lesung des Wehrmachtdisziplinargesetzes am 14.7.1922, Verhandlungen des Reichstags, Band 356, S. 8556. Schreiben des Reichswehrministers an den Unterstaatssekretär in der Reichskanzlei, Nr. 228.1.20 Z 3., vom 16.1.1920, BArch R 43-I/701, fol. 165. Schreiben des Reichswehrministers an den Reichskanzler, Nr. 478.8. 20 R.A., vom 10.8.1920, BArch R 43I/701, fol. 178–211. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 2119. BArch R 43-I/701, fol. 135.
2. Das gescheiterte Wehrmachtdisziplinargesetz
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wir ein Disziplinargesetz unbedingt notwendig haben, und unsere Fraktion hätte es für richtig gehalten, wenn gleichzeitig mit dem Gesetz über die Aufhebung der Militärstrafgerichtsbarkeit dieses Disziplinargesetz uns zur Beschlußfassung vorgelegt worden wäre, ebenso wie das Gesetz über die Heeres- und Marineanwälte.«46
Doch erst das Kabinett Wirth II brachte den bereits 1920 weitgehend ausgearbeiteten Entwurf mit Datum vom 30. Mai 1922 in den Reichstag ein,47 nachdem sich die Fertigstellung der Regierungsvorlage wegen Abstimmungsschwierigkeiten mit dem Reichsinnen- sowie dem Reichsfinanzministerium und der Beteiligung von Heeresund Marinekammer verzögert hatte.48 Vorausgegangen waren erhebliche Widerstände der Sozialdemokraten, die bereits die Regierung Fehrenbach im Dezember 1920 veranlasst hatten, das Vorhaben trotz Drängens des Reichswehrministers auch mit Rücksicht auf die Wahlen zum preußischen Landtag am 20. Februar 1921 zurückzustellen.49 Wortführender Gegner war hier Gustav Radbruch (MSPD), der dann ab Oktober 1921 im Kabinett Wirth II ausgerechnet als Reichsjustizminister fungierte.50 Der Regierungsentwurf stand also schon auf wackligen Füßen, als er den Reichstag erreichte. Er suchte das von Brüninghaus beschriebene Vakuum zu füllen, indem er die praktische Entkriminalisierung des MStGB zugunsten einer Kompetenzerweiterung des Disziplinarstrafrechts mit der Einführung eines gerichtlichen Disziplinarstrafverfahrens verknüpfte. Hierzu sah das Gesetz die Einrichtung von Disziplinarkammern in enger struktureller Anlehnung an das Beamtenrecht vor.51 Dabei trugen die Vorschriften über die Hauptverhandlung in § 32 des Entwurfs deutlich strafprozessuale Züge, jedoch mit einigen militärspezifischen Besonderheiten. So stand – wie bereits bei den Verhandlungen vor den früheren Standgerichten (und bei Revisionen vor dem Kriegsgericht) – auch hier der Umfang der Beweisaufnahme im Ermessen der Kammer.52 Die geplanten Disziplinarkammern waren die konzeptionellen Ahnen der heutigen Truppendienstgerichte, wie sie die Wehrbeschwerdeordnung seit Gründung der Bundeswehr vorschreibt.53 Der § 89 des entworfenen Gesetzes hätte den Katalog des § 3 Abs. 2 EGMStGB und damit den Anwendungsbereich des Disziplinarstrafrechts auf zusätzliche, kleinere Delikte des MStGB erweitert: Nichtanzeige der Fahnenflucht (§ 77), Stubenarrestbruch durch Besuchsannahme (§ 80 Abs. 2), minder schwere Fälle der qualifizierten 46 47
48 49 50
51 52 53
Verhandlungen des Reichstags, Band 344, S. 370. Entwurf eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht vom 30.5.1922, Reichstagsdrucksache 1/4443. Die Einführung wäre allerdings auf Friedenszeiten beschränkt gewesen, da in Kriegszeiten die zügige Militärgerichtsbarkeit wiederaufgelebt wäre, siehe ebenda die Gesetzesbegründung S. 17. So bezeugen es mehrere Schreiben zwischen Reichskanzlei, Reichswehrminister, Reichsinnenminister und Reichsfinanzminister bei BArch R 43-I/701. Schreiben des Staatssekretärs in der Reichskanzlei Heinrich Albert an Reichswehrminister Geßler, Rk. 12029, vom 30.12.1920, BArch R 43-I/701, fol. 229–232 Schreiben des Abgeordneten Radbruch an den Chef der Rechtsabteilung im Reichswehrministerium Grünwald vom 21.10.1920, BArch R 43-I/701, fol. 227. Siehe auch das Protokoll der Kabinettssitzung vom 21.2.1922, Akten der Reichskanzlei, Kabinette Wirth I/II, Band 1, Nr. 209, S. 578–580 m. w. N. §§ 80–119 des Gesetzes, betreffend die Rechtsverhältnisse der Beamten, vom 31.3.1873, S. 61–90. Siehe § 299 Abs. 1 MStGO. Vgl. dagegen § 244 Abs. 1 RStPO. Auch der Entwurf der Bundesregierung zur Wehrdisziplinarordnung aus dem Jahr 1956 sprach noch von »Wehrdisziplinarkammern«, Bundestagsdrucksache 2/2181.
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V. Das Disziplinarstrafrecht als Prothese
Gehorsamsverweigerung (§ 95 Abs. 1 S. 2), sämtliche Fälle des Missbrauchs der Dienstgewalt (§ 114),54 Falschmeldung (§ 139), Verabsäumung der Dienstaufsicht (§ 147) und Missbrauch des Beschwerderechts (§ 152).55 Besonders wichtig und systematisch überzeugend war aber, dass fortan auch Fälle der Aufforderung zum Ungehorsam (§ 99) und (des Versuchs) der Bestimmung zu Straftaten durch Missbrauch der Dienstgewalt (§§ 115 f.) für das Disziplinarstrafrecht geöffnet werden sollten, »soweit zu einer Handlung aufgefordert, angereizt, bestimmt oder zu bestimmen versucht worden ist, die disziplinarisch geahndet werden kann«. Das geltende Recht führte hier nämlich zu dem absurden Ergebnis, dass der Haupttäter disziplinar bestraft werden konnte, während für die bloß akzessorische Tat allein die zivile Strafjustiz zuständig sein konnte. Ungeachtet der sachlichen Erweiterung sollte allerdings die maximale Strafgewalt der Disziplinarvorgesetzten im einfachen Disziplinarverfahren unverändert bei bis zu vier Wochen gelindem oder Stubenarrest und drei Wochen mittlerem Arrest bleiben. Im förmlichen (gerichtlichen) Disziplinarstrafverfahren sollten die Disziplinarkammern hingegen maximal Arreststrafen bis zu der Höhe verhängen können, wie sie vom MStGB vorgesehen waren, also bis zu sechs Wochen (§ 17 Abs. 1 und § 54 MStGB), aber eben keine Gefängnis-, Festungs-, Zuchthaus- oder sonstigen Strafen des MStGB. Eine weitere Änderung der Disziplinarstrafgewalt sah der Entwurf bei den Mannschaftsstrafen der Herabsetzung des Gefreiten um einen und des Obergefreiten um zwei Dienstgrade vor: Erstere konnte nach der bestehenden Disziplinarstrafordnung durch den Regimentskommandeur, letztere durch den Divisionskommandeur im einfachen Disziplinarstrafverfahren verhängt werden.56 Wegen der damit verbundenen immensen wirtschaftlichen Folgen sollte diese Strafe jedoch künftig der Einzelperson entzogen und einem Spruchkollegium überwiesen werden. Nicht zuletzt wollte der Entwurf in § 75 die Möglichkeit der einstweiligen Dienstenthebung zur Aufrechterhaltung der Disziplin oder aus sonstigen dienstlichen Gründen auf eine gesetzliche Grundlage stellen, die nun – nach dem Wegfall des bisherigen § 174 MStGO, allein auf einer – insofern allerdings inhaltlich übereinstimmenden – Militärverordnung des Reichspräsidenten fußte.57 Um am Grundsatz der Selbständigkeit des in erster Linie zur Entscheidung berufenen Disziplinarvorgesetzten festzuhalten, sollte allein er darüber befinden, ob er einen Fall an die Disziplinarkammern abgeben wollte, weil er »die Klärung der Sache 54 55 56 57
Bis dato ausschließlich Fälle, bei denen »die strafbare Handlung nur in dem Borgen von Geld oder in der Annahme von Geschenken ohne Vorwissen des gemeinschaftlichen Vorgesetzten« bestand. Verlangt wurde hier eine auf unwahre Behauptungen gestützte Beschwerde wider besseres Wissen. §§ 14, 17 HDStO 1921. Hierzu waren Disziplinarvorgesetzte befugt, die Arrest verhängen konnten; siehe die Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend einstweilige Dienstenthebung von Soldaten, vom 25.3.1921, HVBl. 1921 S. 104. Sie blieb nach dem Scheitern des Wehrmachtdisziplinargesetzes die dauerhafte Rechtsgrundlage für einstweilige Dienstenthebungen. § 174 Abs. 1 MStGO erfasste nur die Dienstenthebung anlässlich des militärgerichtlichen Verfahrens. Nach Abs. 2 blieb die Befugnis der Dienstvorgesetzten zur vorläufigen Dienstenthebung unberührt; hierzu war bereits am 14.4.1852 eine Allerhöchste Kabinettsorder ergangen, die inhaltlich mit der Verordnung des Reichspräsidenten übereinstimmte; siehe Romen/Rissom, MStGOKommentar, § 175 Anm. 1.
2. Das gescheiterte Wehrmachtdisziplinargesetz
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im [förmlichen] Disziplinarstrafverfahren für erforderlich« hielt. Eine Abgabe sollte zudem stattfinden, »wenn bei Disziplinarvergehen [§ 3 Abs. 2 EGMStGB] ein mit der höchsten Disziplinarstrafgewalt über den Beschuldigten versehener Vorgesetzter seine Strafbefugnis nicht für ausreichend« erachtete. Die erstinstanzlichen Disziplinarkammern sollten mit einem verhandlungsführenden Heeres- oder Marineanwalt (also einem Volljuristen)58 sowie zwei Beisitzern besetzt werden, die das 25. Lebensjahr vollendet und »mindestens vier Jahre der früheren oder jetzigen Wehrmacht angehört« hatten. Den oberen Disziplinarkammern der Berufungsinstanz sollten dagegen vier Beisitzer angehören. Die Zusammensetzung der Beisitzer sollte sich dabei nach dem Dienstgrad des Beschuldigten, bei einer Mehrzahl nach dem dienstranghöchsten Beschuldigten richten, so dass auch hier das vom Rat der Volksbeauftragten für die Militärgerichtsbarkeit eingeführte System der Kameradschaftsrichter beibehalten werden sollte.59 Für Verfahren bis zum Hauptmann aufwärts sollten die Beisitzer vor Beginn eines jeden Geschäftsjahres ausgelost und in Listen eingetragen werden; für Verfahren gegen Stabsoffiziere war vorgesehen, sie im Einzelfall auszulosen; bei Verfahren gegen Generale sollten sie vom Reichswehrminister bestimmt werden. Hierdurch wäre für eine weitaus stärkere Unabhängigkeit der Richter Sorge getragen worden als unter dem Militärstrafprozess, bei dem die erkennenden Beisitzer stets vom Gerichtsherrn bestellt wurden. Vorgesehen war für das Disziplinarstrafverfahren auch ein Recht des Beschuldigten auf Ablehnung von Kammermitgliedern wegen Besorgnis der Befangenheit. Den Kammervorsitz hatte der Gesetzentwurf dem Ranghöchsten oder dem Heeresanwalt (oder Marineanwalt) zugedacht, falls er ein höheres Lebensalter hatte. Die Funktion des Anklagevertreters sollte der Disziplinarvorgesetzte einnehmen, der das förmliche Disziplinarstrafverfahren beantragt hatte. Im Unterschied zum nichtgerichtlichen Disziplinarstrafverfahren sollte also das Akkusationsprinzip greifen, so dass Anklage und Urteilsfindung auf zwei getrennte prozessuale Rollen verteilt waren. Allerdings war angedacht, dass der Verhandlungsführer – wie im bürgerlichen Strafprozess – auch selbständig Ermittlungen anstellen konnte. Die Vorschriften der zivilen Strafprozessordnung über die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen, die Verpflichtung als solcher zu erscheinen und sich vernehmen zu lassen, die Zuziehung von Dolmetschern sowie die Beeidigung und deren Form sollten im Übrigen grundsätzlich auch für das gerichtliche Disziplinarstrafverfahren gelten. Vorgesehen war auch ein Recht des Beschuldigten auf einen Verteidiger in jeder Lage des Verfahrens, der wiederum Einsicht in die Akten nehmen können sollte. Hierzu sollten allerdings im Disziplinarstrafverfahren nur Soldaten, Militärbeamte oder im Dienstbereich des Reichswehrministers beschäftigte Zivilbeamte auf ehrenamtlicher Basis zugelassen werden. Die Hauptverhandlung sollte grundsätzlich öffentlich stattfinden, jedoch hätte anders als nach der MStGO auch der Beschuldigte einen Antrag auf Ausschluss der 58 59
§ 16 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587. Siehe hierzu Kapitel IV.2. unter Buchstabe a).
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V. Das Disziplinarstrafrecht als Prothese
Öffentlichkeit aus besonderen Gründen stellen können.60 Die Kammern sollten die Beweise nach freiem Ermessen erheben und würdigen und schließlich mit einfacher Stimmenmehrheit geheim entscheiden. Über das Recht der rechtskrafthemmenden Berufung und die Wochenfrist sollte ein verurteilter Soldat belehrt werden; die Entscheidungen der oberen Disziplinarkammern sollten letztinstanzlich ergehen und hierbei eine reformatio in peius ausgeschlossen sein, wenn die Berufung durch den Soldaten eingelegt worden war. Schließlich sollten einem verurteilten Soldaten die Kosten des Verfahrens – anders als im früheren Militärstrafprozess – wie im bürgerlichen Verfahren auferlegt werden. Der Reichstag debattierte den Entwurf der Reichsregierung am 14. Juli 1922 in erster Lesung,61 wobei die Sozialdemokraten und Kommunisten ihn mit deutlichen Worten ablehnten. Oskar Hünlich (SPD) etwa meinte: »Sicher werden die Befürworter des Entwurfs einwenden, daß ja nach wie vor die Ahndung von Straftaten gemeiner Natur der zivilen Gerichtsbarkeit verbleibt, und daß ein Gesetzentwurf, in dem im wesentlichen nur über Disziplinarstrafsachen entschieden wird und die zur Einführung kommenden Gerichte nicht mehr als sechs Wochen gelinden, mittleren oder Stubenarrest verhängen können, doch nicht verglichen werden könne mit der Militärjustiz der vergangenen Zeit, und daß ferner ein Entwurf, der Disziplinarstrafsachen nur in dem Umfang der Disziplinargerichtsbarkeit unterwirft, der heute schon im Rahmen der Strafgewalt der militärischen Vorgesetzten liegt, nicht die alte Militärgerichtsbarkeit sein kann. […] Wir sind aber der Meinung, dass hier nur eine Beschleunigung des Verfahrens vor den zivilen Gerichten hilft, dieser Gesetzentwurf damit aber nicht das geringste zu tun hat und die Schwierigkeiten, die da betont worden sind und die zweifellos vorliegen, durch diesen Gesetzentwurf nicht beseitigt werden.«
Dabei fällt zunächst auf, dass Hünlich sich offenbar nicht gut vorbereitet hatte: Der sachliche Anwendungsbereich des Disziplinarrechts sollte dem Entwurf nach ja gerade nicht unverändert bleiben, sondern ausgeweitet werden. Und so nachvollziehbar sein Ruf nach einer allgemeinen Beschleunigung des Strafprozesses erschien: Die fällige Entkriminalisierung des MStGB wäre so auch nicht erreicht worden. Der ihm als Redner folgende Wendelin Thomas von den Kommunisten stimmte ihm im Ergebnis zu, sprach aber die meiste Zeit an der Sache vorbei und erging sich in Tiraden über den monarchistischen Geist der Reichswehr: »Wenn diese Vorlage Gesetz wird, dann zieht – bildlich gesprochen – Kaiser Wilhelm II. wieder in die deutschen Kasernen ein.«62 Ein in sich geschlossenes Konzept als Antwort auf die Frage, wie das verlorengegangene Gleichgewicht von Disziplinar- und Militärstrafrecht, von militärischer und ziviler Ahndung wiederhergestellt werden sollte, hatten weder die Sozialdemokraten noch die Kommunisten parat. Nach dem kurzen Intermezzo Noskes und der Kapp-Katastrophe hatte die politische Linke in Deutschland das Militär 60
61 62
Der ursprüngliche Entwurf des Reichswehrministeriums vom 10.8.1920 hatte noch die Nichtöffentlichkeit des Verfahrens vorgesehen, BArch R 43-I/701, fol. 179–211. Der Grundsatz der Öffentlichkeit kam auf Vorschlag des Staatssekretärs in der Reichskanzlei Heinrich Albert in den Regierungsentwurf, siehe sein Schreiben an Reichswehrminister Geßler, Rk. 12029, vom 30.12.1920, BArch R 43-I/701, fol. 229–232. Nach dem heutigen § 105 WDO findet das gerichtliche Disziplinarverfahren hingegen grundsätzlich nichtöffentlich statt; die Öffentlichkeit kann auf Antrag des angeschuldigten Soldaten hergestellt werden. Verhandlungen des Reichstags, Band 356, S. 8555–8560. Verhandlungen des Reichstags, Band 356, S. 8557.
2. Das gescheiterte Wehrmachtdisziplinargesetz
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schon wieder verloren gegeben und bemühte sich entsprechend wenig. Da half es auch nichts mehr, dass der Regierungsvertreter Friedrich Grünwald, Chef der Rechtsabteilung des Reichswehrministeriums, zutreffend darauf hinwies, »daß der Gesetzentwurf immerhin dem bestehenden Verfahren gegenüber doch gewisse Vorzüge bietet, die nicht genug veranschlagt werden können, indem einmal gewisse Entscheidungen, die bisher in der Hand einer einzelnen Person lagen, in die Hand von paritätisch zusammengesetzten Kollegien gelegt werden«. Nach kurzer Debatte überwies der Reichstag den Entwurf zur weiteren Beratung in den »15. Ausschuss für die Militärgerichtsbarkeit«. Was danach geschah, verliert sich im Nebel der Geschichte und lässt sich auch nicht mehr anhand der übriggebliebenen Akten rekonstruieren. Sicher ist nur, dass der Entwurf den Ausschuss nicht wieder verlassen hat. Auch wenn sich während der Debatte mit Max v. Gallwitz von der DNVP ein gewichtiger Befürworter für das Vorhaben gefunden hatte, war es mit seinen nicht unerheblichen Fortschritten in der politischen Rechten keineswegs unumstritten – schließlich erlaubte der status quo ein weitgehend ungestörtes Schalten und Walten der selbständigen Disziplinarvorgesetzten. So führte Rabenau es in seiner Biographie von 1940 voller Anerkennung auf Seeckt zurück, dass das Gesetz nicht zustande kam.63 Sein Widerstand mochte hingegen vor allem mit den Teilen des Gesetzesvorhabens zu tun haben, die wesentliche Zuständigkeiten der bisherigen Ehrengerichte absorbierten und im nächsten Kapitel noch ausführlich behandelt werden. Geßler hingegen sprach im Februar 1925 im Haushaltsausschuss davon, das Gesetz sei zurückgestellt worden, bis die Finanzlage des Reichs besser zu überblicken sein werde.64 Seine spätere Darstellung deckt sich zumindest mit seinem Schreiben an den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 25. Februar 1924, in dem er seine Absicht kundtat, den Gesetzentwurf vorläufig zurückzuziehen und eventuell in den neugewählten Reichstag wieder einzubringen, nachdem er »zwecks Verbilligung des Verfahrens eine wesentliche Umgestaltung erfahren haben wird«.65 Reichskanzler Marx ließ hieraufhin ausrichten, dass er es »vorziehen würde, wenn der dem Reichstag vorliegende Entwurf eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht nicht formell zurückgezogen, sondern durch Schluß der Legislaturperiode des Reichstags gegenstandslos würde«.66 So oder so war das Wehrmachtdisziplinargesetz politisch jedenfalls nicht durchzusetzen gewesen. Sicherlich wäre mit ihm ein Stück militärischer Justiz geschaffen worden. Mitnichten aber wäre die alte Militärgerichtsbarkeit wiederauferstanden mit ihrer Zuständigkeit für selbst schwerste militärische und vor allem zivile Verbrechen, ganz zu schweigen von ihrem archaischen Verfahren, das besonders mit dem Institut des 63 64 65 66
Rabenau, Seeckt, S. 487. Verhandlungen des Ausschusses für den Reichshaushalt, III. Wahlperiode 1924, 19. Sitzung vom 18.2.1925, S. 9. Schreiben des Reichswehrministers an den Staatssekretär in der Reichskanzlei, Nr. 119.2 24 RA II., vom 25.2.1924, BArch R 43-I/701, fol. 303. Vermerk des Staatssekretärs in der Reichskanzlei, enthält den Inhalt eines Schreibens an den Reichswehrminister betreffend Zurückziehung eines Gesetzentwurfs, Rk.1901, vom 7.3.1924, BArch R 43-I/701, fol. 304. Der Reichswehrminister erklärte sich hiermit einverstanden, Nr. 132.3 24 RA II., vom 19.3.1924, ebenda fol. 305.
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V. Das Disziplinarstrafrecht als Prothese
Gerichtsherrn Tor und Tür für Manipulationen geöffnet hatte. Das gerichtliche Disziplinarstrafverfahren nach dem Wehrmachtdisziplinargesetz wäre im Vergleich zum bürgerlichen Strafprozess sicher vereinfacht gewesen, hätte sich aber in erster Linie an dessen leitenden Prinzipien und nicht an der alten MStGO ausgerichtet. Schließlich hätten die Disziplinarkammern nicht nur Kompetenzen der zivilen Strafgerichtsbarkeit, sondern auch des bisher recht formlosen Disziplinarstrafrechts absorbiert. Zweifellos war auch der eine oder andere Punkt des Entwurfs kritikwürdig gewesen: So hätte man sich durchaus überlegen können, die Disziplinarstrafgewalt der Vorgesetzten weiter zu beschränken, um auf diese Weise mehr Fälle vor die Disziplinarkammern zu bringen. Aber vor allem die Linken verschenkten mit ihrer Fundamentalopposition eine echte Chance, das ja weiterhin fortbestehende Disziplinarstrafrecht rechtsstaatlich zu domestizieren. Welche Kurzsichtigkeit ihr Handeln, welche Tragik das Scheitern des Gesetzentwurfs bedeutete, zeigte sich allerdings in Gänze erst im Jahr 1926.
3. Das Gesetz zur Vereinfachung des Militärstrafrechts von 1926 Auch nachdem das Wehrmachtdisziplinargesetz im parlamentarischen Orkus verschwunden war, bestanden die Probleme, die es lösen sollte, natürlich fort. So beklagten die Abgeordneten von allen Seiten – mit Ausnahme vielleicht der Kommunisten – dass die verlangsamte Bearbeitung kleinerer militärischer Vergehen durch die überlasteten ordentlichen Gerichte nicht nur der Disziplin abträglich war, sondern dass die lange Ungewissheit über die Zukunft des Soldaten sowohl für diesen wie auch für die Personalplanung der Truppe eine Qual seien.67 Reichswehrminister Geßler und vor allem konservative Abgeordnete stellten hier gar einen Zusammenhang mit der dramatisch hohen Zahl an Suiziden unter den Reichswehrangehörigen her68 – was es natürlich ermöglichte, der Frage nach den eigentlichen Ursachen auszuweichen.69 Drei Jahre später entschied sich das Reichswehrministerium daher für einen Neuanlauf, allerdings unter anderem Etikett: Am 24. April 1925 brachte Geßler den Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des Militärstrafrechts in den Reichstag ein, 67
68
69
Bericht des 13. Ausschusses (Rechtspflege) vom 11.11.1925 über den Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des Militärstrafrechts, Reichstagsdrucksache 3/1639, S. 2 f. Verhandlungen des Reichstags, Band 388, S. 5268 f., 5270 und 5277. Reichswehrminister Geßler in der Haushaltsdebatte vom 9.6.1925, Verhandlungen des Reichstags, Band 385, S. 2189; Franz Brüninghaus (DVP) in der Haushaltsdebatte vom 26.5.1925, ebenda S. 2041; Georg Barth (DNVP) in der zweiten Lesung des Militärstrafrechtvereinfachungsgesetzes vom 3.2.1926, Verhandlungen des Reichstags, Band 388, S. 5270. Zur Selbstmordproblematik siehe auch die kritischen Äußerungen des Abgeordneten Julius Moses (SPD) in der Haushaltsdebatte vom 27.2.1923, Verhandlungen des Reichstags, Band 358, S. 9901–9903; hierzu die Stellungnahme des Reichswehrministeriums vom 28.2.1923 durch Generaloberstabsarzt Schultzen, ebenda S. 9911; Äußerungen des Abgeordneten Daniel Stücklen (SPD) in der Haushaltsdebatte vom 26.5.1925, Verhandlungen des Reichstags, Band 385, S. 2018 f.
3. Vereinfachung des Militärstrafrechts
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das den Stoß diesmal aus der Gegenrichtung führen sollte.70 Dabei legen die aus der Reichskanzlei überlieferten Akten den Schluss nahe, dass es sich hier in Wirklichkeit um eine nahtlose Fortsetzung des ursprünglichen Projekts handelte, die schon lange vorher in Angriff genommen worden war: Schließlich hatte Geßler bereits im Frühjahr 1924, als er mit Reichskanzler Marx über das Verfallen des Disziplinargesetzentwurfs durch die Reichstagswahl am 4. Mai korrespondierte, eine Neuvorlage angekündigt, die »zwecks Verbilligung des Verfahrens eine wesentliche Umgestaltung erfahren haben wird«.71 Schon am 24. September 1924 legte der Reichswehrminister dem neuen Kabinett Marx (II) einen fertigen Gesetzentwurf zur Vereinfachung des Militärstrafrechts zur Beschlussfassung vor.72 An dessen Ausarbeitung hatte unter anderen der Referent für Vorschriften und innenpolitische wie disziplinäre Fragen der Marinewehrabteilung im Reichswehrministerium, Kapitänleutnant Karl Dönitz, mitgewirkt.73 Zunächst redigierte das Gesetz den veralteten Wortlaut des MStGB, indem es zwischenzeitig ergangene Gesetze und Verordnungen mit Auswirkungen auf das Militärstrafrecht verarbeitete und nun auch im Text den »Kaiser« durch den »Reichspräsidenten«, das »Deutsche Heer« durch die »Reichswehr«, die »Person des Soldatenstandes« durch den »Soldaten«, die »Kaiserliche Marine« durch die »Reichsmarine«, die »Subalternoffiziere« durch »Leutnants« und die »Gemeinen« durch die »Mannschaften« ersetzte. Sprachlich bezeichnete das MStGB den »mittleren« fortan als »geschärften« Arrest, da der frühere »strenge« Arrest ja bereits zum 1. Oktober 1920 mit dem Gesetz zur Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit ersatzlos entfallen war.74 Der eigentliche Kern des Gesetzes bestand allerdings nicht in redaktionellen Änderungen: Im Jahr 1922 hatte das gescheiterte Wehrmachtdisziplinargesetz das materielle Strafrecht ja lediglich mittelbar zugunsten des Disziplinarstrafrechts entkriminalisieren wollen, indem es den Kreis der Vergehen in § 3 Abs. 2 EGMStGB weiter gezogen und auf diese Weise den Anwendungsbereich des Disziplinarstrafrechts vergrößert hätte. Das neue Gesetz aber legte unmittelbar an die Tatbestände des MStGB Hand an und »vereinfachte« sie, indem es für nicht wenige bisherige Vergehen die Drohung mit Kriminalstrafe ganz entfallen ließ und an ihre Stelle die Möglichkeit disziplinarer Ahndung treten ließ. Als zentrales Beispiel kann die Streichung des einfachen Ungehor70 71 72 73
74
Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des Militärstrafrechts vom 24.4.1925, Reichstagsdrucksache 3/811. Schreiben des Reichswehrministers an den Staatssekretär in der Reichskanzlei, Nr. 119.2 24 RA II., vom 25.2.1924, BArch R 43-I/701, fol. 303 (hier mit eigener Hervorhebung). Schreiben des Reichswehrministers an den Staatssekretär in der Reichskanzlei, Nr. 84. 8. 24 RA.I, vom 24.9.1924, BArch R 43-I/701, fol. 306. Dönitz wurde dem Reichstagsplenum bei der ersten Lesung des Gesetzes am 9.6.1925 unter anderen als Kommissar des Reichswehrministeriums vorgestellt, Verhandlungen des Reichstags, Band 385, S. 2193; in dieser Funktion wohnte er auch den Ausschussberatungen bei, siehe Reichstagsdrucksache 3/1639, S. 1. § 1 Abs. 2 des Gesetzes, betreffend die Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587. Ein Antrag von Sozialdemokraten, die Arrestschärfung der Verpflegungsbeschränkung auf Wasser und Brot zu beseitigen, fand keine Mehrheit, Reichstagsdrucksache 3/1817; Verhandlungen des Reichstags, Band 388, S. 5293.
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V. Das Disziplinarstrafrecht als Prothese
sams (§ 92 MStGB) dienen, der mit dem erschwerten Ungehorsam (§ 93 MStGB) verschmolzen wurde und in Abs. 1 folgende Fassung erhielt: »Wer vorsätzlich einen Befehl in Dienstsachen nicht befolgt und dadurch vorsätzlich oder fahrlässig einen erheblichen Nachteil, eine Gefahr für Menschenleben oder in bedeutendem Umfang für fremdes Eigentum oder eine Gefahr für die Sicherheit des Reichs oder für die Schlagfertigkeit oder Ausbildung der Truppe herbeiführt, wird mit geschärftem Arrest nicht unter einer (1) Woche oder mit Gefängnis oder Festungshaft bis zu zehn (10) Jahren, im Felde bis zu fünfzehn (15) Jahren oder mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe bestraft.«
Der bisherige erschwerte Ungehorsam (§ 93 MStGB) entfiel. Mit Kriminalstrafe konnte Ungehorsam also nur noch belegt werden, wenn er wenigstens fahrlässig eine der genannten Folgen auslöste. Abs. 2 beugte etwaigen Diskussionen nun von vornherein vor und stellte klar, dass der neue Straftatbestand des Ungehorsams auch fahrlässig begangen werden konnte; hierfür waren zwei (im Felde drei) Jahre Freiheitsstrafe angeordnet. Viel wichtiger war aber, dass der bisherige einfache Ungehorsam umgekehrt fortan in allen Fällen allein durch den Disziplinarvorgesetzten (und nur durch ihn) als Disziplinarübertretung geahndet werden konnte.75 Obwohl damit eine der tragenden unmittelbar-gesetzlichen Säulen der Gehorsamspflicht einstürzte, wurde die bisherige Lehre von der Gehorsamspflicht unverändert in das Disziplinarstrafrecht übernommen.76 Der Straftatbestand der Gehorsamsverweigerung (§ 94 MStGB) erforderte von nun an ebenso das Eintreten einer derart schweren Folge. Nur die Gehorsamsverweigerung vor versammelter Mannschaft oder »unter den Waffen« (§ 95 MStGB) machte weiterhin auch ohne Erfolgsqualifikation eine gerichtliche Ahndung erforderlich. In diesem Zusammenhang wurden auch die Begriffsdefinitionen in § 12 MStGB dahingehend modifiziert, dass zum einen eine Tat vor versammelter Mannschaft nicht schon bei drei, sondern erst ab sieben anderen zum Dienst versammelten Soldaten neben dem Täter und dem Vorgesetzten begangen werden konnte. Zum anderen trat an das Qualifikationsmerkmal »unter dem Gewehr« nun das »unter den Waffen«, was allgemeiner gefasst und damit der Verschiedenheit der Truppengattungen sowie der fortschreitenden Technisierung besser gerecht wurde. Auch an die Abwesenheitsdelikte und die Fahnenflucht wurden fortan weitaus strengere Anforderungen gestellt; die erschwerte unerlaubte Entfernung (§ 66 MStGB) wurde gänzlich gestrichen. In Angleichung an das bürgerliche Strafrecht entfiel auch die Strafbarkeit der Gefangenenselbstbefreiung (§ 79 MStGB). Die Achtungsverletzung (§ 89) schied ebenfalls aus, an ihre Stelle trat die Bedrohung des Vorgesetzten. Die bisherige Beleidigung Vorgesetzter (§ 91 Abs. 1 MStGB) war fortan nur noch gerichtlich strafbar, wenn sie eine üble Nachrede im Sinne von § 186 RStGB darstellte, also in der Behauptung oder Verbreitung ehrenrühriger Tatsachen bestand, die nicht erweislich wahr waren. Die gewöhnliche Beleidigung eines Vorgesetzten konnte allerdings von nun an disziplinar geahndet werden, auch wenn sie 75 76
Verstoß gegen Art. 6 der vom Reichspräsidenten verordneten Berufspflichten des deutschen Soldaten vom 2.3.1922, HVBl. 1922 S. 141 f.; abgedruckt bei Absolon, Wehrmacht, Band 1, S. 171 f. Dietz, HDStO 1926-Kommentar, S. 40–43, 50, 52 f. und 65.
3. Vereinfachung des Militärstrafrechts
305
sich als Vergehen nach § 185 RStGB darstellte, solange kein Strafantrag gestellt wurde.77 Genauso verhielt es sich mit dem Belügen Vorgesetzter, das zwar aus dem MStGB (§ 90) gestrichen wurde, aber als Verletzung der soldatischen Wahrheitspflicht mit Disziplinarstrafe belegt werden konnte.78 Gleiches galt für die Falschmeldung (§ 139 MStGB), die strafrechtlich von nun an nur noch dann relevant war, wenn der Täter hierdurch »einen erheblichen Nachteil, eine Gefahr für Menschenleben oder bedeutendem Umfang für fremdes Eigentum oder eine Gefahr für die Sicherheit des Reiches oder Ausbildung der Truppe« herbeiführte. Dagegen erfuhr die Misshandlung Untergebener eine bedeutende Erweiterung insbesondere durch Anfügung eines neuen § 112a: »Der Mißhandlung eines Untergebenen steht es gleich, wenn ein Vorgesetzter einen Untergebenen durch unnötige Erschwerung des Dienstes oder auf andere Weise boshaft quält oder solches Quälen oder Mißhandlungen durch andere Soldaten duldet oder fördert.«
Diese Vorschrift war ebenso den gewandelten Bedürfnissen einer Berufsarmee geschuldet; sie konnte zudem bei Begehung durch vorgesetzte Mannschaften und Unteroffizieren deren fristlose Kündigung erleichtern, die nach dem Versailler Vertrag ja an erhebliche Bedingungen geknüpft war, jedoch stets bei rechtskräftiger Verurteilung zu mindestens drei Monaten Freiheitsstrafe möglich war.79 Von einer umfassenden und grundsätzlichen Reformierung des Militärstrafgesetzbuchs sahen Reichsregierung und Reichstag jedoch ab, da hierzu noch die Verabschiedung eines neuen »Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches« abgewartet werden sollte, von dem man sich wichtige Impulse erhoffte.80 Das Vorhaben wurde in Weimarer Zeit jedoch nicht realisiert, so dass es auch zu keiner entsprechenden Überarbeitung des MStGB kam.81 Auch diese unmittelbaren Entkriminalisierungen erfolgten bewusst zugunsten des Disziplinarstrafrechts, nur dass hier die Veränderungen ebenfalls von weitaus grundsätzlicherer Art waren: Mit der ersatzlosen Streichung von § 3 Abs. 2 EGMStGB entfiel die Kategorie der Disziplinarvergehen; Militärstrafrecht und Disziplinarstrafrecht waren damit materiell erstmals strikt voneinander getrennt. Umgekehrt wuchs damit aber der Kreis der Disziplinarübertretungen: Die Beseitigung kasuistischer Regelun77
78 79 80
81
So die Gesetzesbegründung und die Kommentarliteratur: Reichstagsdrucksache 3/811, S. 6; Dietz, HDStO 1926-Kommentar, § 1 II Anm. 1. Der Wortlaut von § 1 HDStO 1926 war hier nicht so eindeutig: »Handlungen (und Unterlassungen) gegen die militärische Zucht und Ordnung, die keinem Strafgesetz unterfallen – Disziplinarübertretungen – können durch den Disziplinarvorgesetzten bestraft werden.« Art. 6 der Berufspflichten des deutschen Soldaten vom 2.3.1922, HVBl. 1922 S. 141 f.; abgedruckt bei Absolon, Wehrmacht, Band 1, S. 171 f. § 21 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b WG. Siehe die Äußerung von Reichswehrminister Geßler in der zweiten Lesung vom 3.2.1926, Verhandlungen des Reichstags, Band 388, S. 5291; ebenso die Äußerung des Abgeordneten Otto Landsberg (SPD), ebenda S. 5277. Einen wichtigen Impuls setzte Gustav Radbruch (SPD) 1922 mit seinem »Entwurf eines allgemeinen deutschen Strafgesetzbuches«, der allerdings im Entwurf 1927 (Reichstagsdrucksache 3/3390) kaum Widerhall fand. Siehe auch das verfassungsändernde Gesetz zur Fortführung der Strafrechtsreform vom 31.3.1928, RGBl. 1928 I S. 135 f. Vertiefend Vorbaum, Strafrechtsgeschichte, S. 170–178. Die verschiedenen Entwürfe finden sich allesamt bei Vormbaum/Rentrop, Reformentwürfe, Band 2.
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V. Das Disziplinarstrafrecht als Prothese
gen im MStGB gewährte den Disziplinarvorgesetzten eine größere Freiheit, die bisher an fest umrissene Tatbestände auch kleinerer Vergehen gebunden gewesen waren. Hinzu kam, dass für Disziplinarübertretungen das Opportunitäts- und nicht das Legalitätsprinzip (wie bei Disziplinarvergehen) galt:82 Der Disziplinarvorgesetzte konnte im erweiterten Anwendungsbereich seiner Strafgewalt nun also stets frei entscheiden, ob er im Einzelfall von einer Ahndung sogar völlig absehen wollte. Mit § 3 EGMStGB wurde allerdings auch dessen Abs. 3 gestrichen, der das Höchstmaß der Disziplinarstrafen auf vier Wochen gelinden oder drei Wochen mittleren Arrest gesetzlich festgelegt hatte. Damit war der Möglichkeit einer entsprechenden Ausweitung der Disziplinarstrafgewalt auf dem bloßen Militärverordnungsweg Tor und Tür geöffnet. Erstaunlicherweise kritisierten das allein die Kommunisten; ihr Antrag auf Beibehaltung einer gesetzlichen Beschränkung fand indes keine Mehrheit.83 Zwar hatte ein namentlich nicht genannter Vertreter des Reichswehrministeriums während der Ausschussberatungen in Aussicht gestellt, die Disziplinarstrafordnung materiell unverändert alsbald als formellen Gesetzentwurf vorzulegen,84 wie es den Abgeordneten anscheinend wiederholt in Aussicht gestellt worden war.85 Gleichwohl wurden die neuen Disziplinarstrafordnungen für Reichsheer und Reichsmarine kurz nach Verabschiedung des Vereinfachungsgesetzes abermals schlicht nach § 11 WG vom Reichspräsidenten verordnet.86 Sie verarbeiteten in erster Linie den Fortfall der Disziplinarvergehen nach § 3 Abs. 2 EGMStGB und brachten ansonsten sehr geringe materielle Änderungen, so z. B. die Wiedereinführung der Soldverwaltung als Strafe für unverheiratete Mannschaften. In Hinblick auf die Disziplinarstrafordnungen brachten die Sozialdemokraten immerhin einen Entschließungsantrag ein, der die Reichsregierung aufforderte, sie dahingehend zu ändern, dass die Rechtskraft einer verhängten Disziplinarstrafe zu ihrer Vollstreckungsvoraussetzung erhoben wird; er fand jedoch nicht die Mehrheit des Hauses.87 Aus der völligen Streichung des § 3 EGMStGB ergab sich allerdings noch eine weitere wichtige, in den Plenardebatten nicht beachtete Konsequenz: Nach dem Gesetz zur Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit stand bei Disziplinarvergehen (§ 3 Abs. 2 EGMStGB) bisher die Entscheidung, ob disziplinare Ahndung ausreiche, der Staatsanwaltschaft zu, wenn der Verletzte ein Untergebener war oder nicht der Reichswehr angehörte; gegen die Entscheidung konnte der Verletzte das Landgericht binnen einer Woche anrufen.88 Nun aber, da die Kategorie der Disziplinarvergehen entfiel, hatte in gleich gelagerten 82 83 84 85 86
87 88
Dietz, HDStO 1921-Kommentar, § 2 Abs. 2, Anm. 1 f. Reichstagsdrucksache 3/1814. Siehe Äußerung des Abgeordneten Karl Korsch (KPD), Verhandlungen des Reichstags, Band 388, S. 5283; die Ablehnung ebenda S. 5293. Reichstagsdrucksache 3/1639, S. 3. So zumindest stellte es Kurt Rosenfeld (SPD) in der ersten Lesung des Militärstrafrechtvereinfachungsgesetzes am 9.6.1925 dar, Verhandlungen des Reichstags, Band 385, S. 2191. Disziplinarstrafordnung für das Reichsheer vom 18.5.1926, RGBl. 1926 II S. 265–272; marginale Änderungsverordnung vom 3.3.1928, RGBl. 1928 II S. 47 (= HVBl. 1928 S. 28 f.); Disziplinarstrafordnung für die Reichsmarine vom 22.5.1926, RGBl. 1926 II S. 309–323. Reichstagsdrucksache 3/1818; Abstimmung am 4.2.1926, Verhandlungen des Reichstags, Band 388, S. 5305. § 7 Abs. 1 des Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587.
3. Vereinfachung des Militärstrafrechts
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Fällen weder die Staatsanwaltschaft ein Entscheidungsrecht, noch konnte der Verletzte Untergebene oder Nichtangehörige der Reichswehr die Entscheidung des Landgerichts herbeiführen. Dieses Ergebnis war durchaus beabsichtigt, wie Georg Sohl, dienstaufsichtführender Heeresanwalt im Wehrkreis III, in einem Aufsatz über das Vereinfachungsgesetz unterstrich: »Besonders zu begrüßen ist es, daß die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft im Disziplinarverfahren […] aufhören wird. Diese Bestimmung widerspricht jedem militärischen Empfinden und ist für die militärischen Verhältnisse völlig untragbar. Da der Verletzte gegen die Verfügung der Staatsanwaltschaft […] die Entscheidung des Landgerichts anrufen kann, ist die Disziplinarbestrafung in derartigen Fällen oft erst nach längerer Zeit, vielfach sogar erst nach mehreren Wochen möglich.«89
Auch insofern schleifte das Vereinfachungsgesetz die Errungenschaften der ohnehin schon nicht konsequent durchgeführten Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit. Umso bemerkenswerter ist, dass die Regierungsvorlage das Gesetzgebungsverfahren weitgehend unverändert passierte und zum 1. August 1926 in Kraft treten konnte.90 Lediglich die Kommunisten leisteten gegen das Vorhaben durchgehenden und grundsätzlichen Widerstand. Bereits im Dezember 1920 hatte der Staatssekretär in der Reichskanzlei, Heinrich Albert, in einem Kabinettsschreiben vor der Einbringung des Wehrmachtdisziplinargesetzes gewarnt: »Der vorliegende Gesetzentwurf wird vielleicht geradezu den Anlass geben, eine Materie parlamentarisch ins Rollen zu bringen, die bisher in aller Stille fortleben konnte, nämlich die weitgehende Disziplinargewalt des Vorgesetzten. […] Es ist daher meines Erachtens ernstlich zu überlegen, ob nicht auf die Einführung der Disziplinarstrafkammern besser verzichtet wird, um nicht die geltenden weitgehenden Bestimmungen hierdurch zu gefährden.«91
Und in der Tat hatte der Sozialdemokrat Radbruch ja bereits 1920 als Reichstagsabgeordneter und 1922 als Reichsjustizminister mit seiner Grundsatzkritik in dieses Horn geblasen und davor gewarnt, dass mit dem Wehrmachtdisziplinargesetz das Disziplinarstrafrecht erheblich zulasten der zivilen Strafgerichtsbarkeit »extensiv und intensiv« ausgebaut werden sollte.92 Doch Radbruch war bereits im November 1923 endgültig aus dem Kabinett ausgeschieden und gehörte auch dem Reichstag der dritten Legislaturperiode (1924–1928) nicht mehr an. Ein bisschen scheint es, als ob dem Reichswehrministerium der Etikettenschwindel geglückt war: Entkriminalisierung und Liberalisierung des Militärstrafrechts klangen in sozialdemokratischen Ohren weitaus besser als die Errichtung von Wehrdisziplinarkammern. Doch war es keineswegs so, dass die sozialdemokratische Fraktion der Jahre 1925/26 die Zusammenhänge überhaupt nicht durchschaute: Schon in der ersten Lesung des neuen Gesetzes am 9. Juni 1925 kritisierte Kurt Rosenfeld (SPD) die Erweiterung der Diszi89 90 91 92
Sohl, Gesetz, S. 291. Gesetz zur Vereinfachung des Militärstrafrechts vom 30.4.1926, RGBl. 1926 I S. 197–200. Schreiben des Staatssekretärs in der Reichskanzlei an den Reichswehrminister, Rk. 12029, vom 30.12.1920, BArch R 43-I/701, fol. 229–232. Schreiben des Abgeordneten Radbruch an den Chef der Rechtsabteilung im Reichswehrministerium Grünwald vom 21.10.1920, BArch R 43-I/701, fol. 227; Kabinettssitzung vom 21.2.1922, Akten der Reichskanzlei, Kabinette Wirth I/II, Band 1, Nr. 209, S. 579.
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V. Das Disziplinarstrafrecht als Prothese
plinarstrafgewalt und verlangte, die Disziplinarstrafordnung und ihr Verhältnis zum Militärstrafrecht in das Gesetzesvorhaben mit einzubeziehen.93 Diese Forderung erneuerten die Sozialdemokraten zu Beginn der Ausschussberatungen, und in der Tat stellte das Reichswehrministerium ja auch eine gesetzliche Regelung für spätere Zeit in Aussicht.94 Da sich in den überlieferten Akten jedoch keine Belege für ein derartiges Vorhaben finden, scheint es sich dabei um einen Bluff gehandelt zu haben. Aber auch in der zweiten Lesung am 3. Februar 1926 begrüßte Otto Landsberg (SPD), dass fortan »unbedeutende Verfehlungen in kürzester Zeit, wie es dem Zwecke des Rechts entspricht, geahndet werden können, in einer Art und Weise, die ihrer relativen Harmlosigkeit, der Unbedeutendheit des begangenen Verstoßes gegen Zucht und Sitte entspricht«.95 Dass die Sozialdemokraten nicht in Fundamentalopposition traten, lag wesentlich daran, dass der Entwurf erstens nicht ihr Schreckgespenst von der Militärgerichtsbarkeit heraufbeschwor, und es ihnen zweitens in den Ausschussberatungen gelang, der Novelle umfangreiche Strafbestimmungen gegen das traditionelle Duellwesen besonders der Offiziere hinzuzufügen.96 Hierbei konnten sie sich wiederum der Unterstützung des Zentrums sicher sein, hatte das katholische Lehramt doch bereits wiederholt den Zweikampf geächtet. Zwar wetterten besonders die konservativen Fraktionen hiergegen, da sie – wenn überhaupt – eine Regelung im allgemeinen Strafrecht anstelle einer Sonderbehandlung der Reichswehrangehörigen bevorzugten.97 Fest steht aber, dass der Preis, den die Sozialdemokraten hier für ihre Zustimmung forderten, in Wahrheit nicht besonders hoch war: Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg befand sich der Zweikampf auf dem absteigenden Ast; für die Reichswehr ist kein einziger Fall bekannt. Ein gutes Stück weit ritten die Sozialdemokraten hier also ein totes Pferd. Besonders für sie fällt daher die Gesetzgebungsbilanz auf dem Gebiet des Disziplinar- und Militärstrafrechts der Jahre 1922 bis 1926 schlecht aus: Nicht nur wurde der Anwendungsbereich des Disziplinarstrafrechts nun sehr viel umfassender vergrößert, als es das gescheiterte Wehrmachtdisziplinargesetz 1922 vorgesehen hatte. Das derart aufgebohrte Disziplinarstrafrecht wurde nun vor allem nicht durch ein gerichtliches Verfahren nach Vorbild des Beamtenrechts ergänzt – gerade daran hatte sich ja der Widerstand der Sozialdemokraten entzündet. Unterm Strich hatten sie zwar die weitgehende Beseitigung der alten Militärgerichtsbarkeit zumindest für Friedenszeiten erreicht, so dass die Ahndung bürgerlicher wie militärischer Straftaten dem Militär insoweit entzogen blieb. Durch die Entkriminalisierung leichter Vergehen des MStGB bei gleichzeitig blindem Widerstand gegen jede Form von Disziplinarstrafgerichten verhalfen sie den selbständig entscheidenden, 93 94 95 96 97
Verhandlungen des Reichstags, Band 385, S. 2191. Bericht des 13. Ausschusses (Rechtspflege) vom 11.11.1925 über den Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des Militärstrafrechts, Reichstagsdrucksache 3/1639, S. 3. Verhandlungen des Reichstags, Band 388, S. 5277. Neuer Abschnitt VIa, §§ 112–112f MStGB, siehe Gesetz zur Vereinfachung des Militärstrafrechts vom 30.4.1926, RGBl. 1926 I S. 197–200. Bericht des 13. Ausschusses (Rechtspflege) vom 11.11.1925 über den Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des Militärstrafrechts, Reichstagsdrucksache 3/1639, S. 14–18.
3. Vereinfachung des Militärstrafrechts
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nicht akademisch-juristisch gebildeten Disziplinarvorgesetzten jedoch zu einer Machtfülle, wie sie sie zu keiner Zeit vor der Revolution besessen hatten. Dagegen nahm sich – jedenfalls in Hinblick auf militärische Delikte leichter Intensität – die alte Militärgerichtsbarkeit mit ihrem zwar teils noch rückständigen, aber zum Disziplinarstrafrecht doch vergleichsweise immer noch ausgeklügelten Verfahren als Trutzburg rechtsstaatlicher Verfahrenssicherungen aus. Delikte von nicht gerade untergeordneter praktischer Relevanz – erinnert sei nur an den »einfachen« Ungehorsam ohne schwere Folge – unterlagen fortan nicht mehr den parlamentarischen Gesetzen der MStGO und des MStGB, sondern allein einer durch das Reichswehrministerium ausgearbeiteten Militärverordnung des Reichspräsidenten. Nachdem die Novelle am 4. Februar 1926 vom Reichstag verabschiedet worden war, bescherte sie der Republik nach einem kurzen Intermezzo der politischen Stabilität noch eine ausgewachsene Verfassungskrise, in deren Zentrum Reichspräsident v. Hindenburg und die neuen Vorschriften wider das Duellwesen standen. Doch dieser Teil der Geschichte bleibt dem folgenden Kapitel vorbehalten.
VI. EHRENSCHUTZ Wie schon im 19. Jahrhundert, so nahm auch noch in Zeiten der Weimarer Republik die Ehre für weite Kreise der deutschen Gesellschaft einen Stellenwert ein, der heute – zumindest auf den ersten Blick – kaum nachvollziehbar erscheint. Das spiegelte sich naturgemäß auch in den zeitgenössischen Normen und ihrer Auslegung und Anwendung wider: So finden sich die Beleidigungs- auch heute noch systematisch vor den Tötungs- und Körperverletzungsdelikten im Strafgesetzbuch. Seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes hat demgegenüber die Menschenwürde an rechtlicher Bedeutung gewonnen, ohne dass sie mit der Ehre inhaltlich identisch wäre, die ihrerseits stärker als früher hinter der Meinungsfreiheit zurückstehen muss. Der wichtigste prinzipielle Unterschied besteht wohl darin, dass Ehre ursprünglich standesabhängig und standesbezogen, Menschenwürde dagegen universell ist. In diesem Zusammenhang kommt ein weiterer Aspekt der Ehre ins Spiel: Nach hergebrachter Vorstellung wurde durch eine Missachtung des Standes zugleich jeder Standesangehörige gedemütigt, durch Missachtung des Einzelnen immer zugleich auch dessen Stand. Patriarchalischen Vorstellungen folgend erstreckte sich die Ehre auch auf Familienangehörige und dabei besonders auf Gattin und Töchter.1 Die Ehre folgte also – auch insofern anders als die heutige Menschenwürde – einem kollektivistischen Prinzip, das sich mit einem Individualismus, wie ihn die Moderne der 1920er Jahre propagierte, nur schwer in Einklang bringen ließ. Erhellend ist ein Passus über »Offiziersehre und Standesehre« aus dem Handwörterbuch des Militärrechts von 1912: »Höhere Pflichten geben stets ein höheres Maß an Ehre und Ansehen, so daß die Ehre eines ganzen Standes mit seinen Pflichten wächst; kein Stand aber hat höhere Pflichten als der Offizierstand, der berufen, mit völliger selbstloser Hingabe, Thron und Vaterland zu schützen, für beide zu leben und, wenn es sein muß, zu sterben; dem die Erziehung und Ausbildung der Armee obliegt, und der in allen militärischen Tugenden ein leuchtendes Vorbild sein soll und muß.«2
Nach diesen Vorstellungen vermittelte der Offizierstand also höchste Ehre aufgrund seiner Pflichten und erhielt genau dadurch seine privilegierte gesellschaftliche Stellung. Auch das stand in Widerspruch zur Moderne mit ihren materialistischen Tendenzen, wonach sich gesellschaftlicher Rang und Einfluss zunehmend am Vermögen orientierten. Die Triebfeder des klassischen Offiziers aber war ja gerade nicht sein ursprünglich klägliches Diensteinkommen gewesen, von dem bereits die Rede gewesen ist. In gewisser Hinsicht hatte (immaterielle) Ehre damit den Stellenwert, den beim modernen Menschen das (materielle) Gehalt einnimmt. Da es sich bei der Ehre um einen rechtlich nicht immer eindeutig zu fassenden, vornehmlich im Bereich der mores angesiedelten Begriff handelt, verschwanden 1
2
Siehe hierzu insbesondere § 195 RStGB zur Strafantragsbefugnis bei Beleidigungen: »Sind Ehefrauen oder unter väterlicher Gewalt stehende Kinder beleidigt worden, so haben sowohl die Beleidigten, als deren Ehemänner und Väter das Recht, auf Bestrafung anzutragen.« Dietz, Ehrengerichtsverordnungen, S. 254.
1. Die Blüte der Offizierehre im 19. Jahrhundert
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seine Bedeutung und sein Inhalt nicht einfach sofort mit der Aufhebung der Standesgrenzen durch Novemberrevolution und Weimarer Verfassung.3 Gewisse Egalisierungstendenzen machten sich jedoch durchaus bemerkbar; sie erreichten später einen Höhepunkt im Nationalsozialismus, wo zumindest dem Anspruch nach jeder »Volksgenosse« gleichermaßen an der »deutschen Ehre« teilnahm. Universell war die Ehre damit noch lange nicht: »Rassefremden« Menschen kam aus nationalsozialistischer Sicht schließlich weniger oder eben gar keine Ehre zu. Umgekehrt waren die 1920er Jahre von Irritationen gerade für diejenigen sozialen Gruppen geprägt, denen nach den tradierten Ehrvorstellungen eine besondere gesellschaftliche Achtungswürdigkeit zukam. Das traf besonders auf Offiziere zu, die noch zu Kaisers Zeiten im Heer gedient hatten: Auch wenn die OHL (und damit die Spitze des Offizierkorps) durch die faktische Machtübernahme im Weltkrieg den Untergang des reichsdeutschen Kaisertums bereits vorweggenommen hatte, so wurde seine materielle Leere den vielfach politisch naiven Offizieren erst durch den sang- und klanglosen Abgang ihres Obersten Kriegsherrn entblößt. So manchen von ihnen stürzte die Errichtung einer ständelosen Republik in eine regelrechte Identitätskrise.4
1. Die Blüte der Offizierehre im 19. Jahrhundert Zum Schutz der Offizierehre hatte Friedrich Wilhelm III. im Zuge der preußischen Heeresreform mit Verordnung vom 3. August 1808 erstmals Ehrengerichte eingerichtet. In der konstitutiven Verordnung hatte er jüngere zum Respekt gegenüber älteren Offizieren ermahnt, letztere aber auch für ihrer Stellung unwürdig erklärt, wenn sie diesen Respekt nicht einforderten. Auch hatte er in der Verordnung seine Offiziere zu Höflichkeit gegenüber den »Personen vom Civilstande« aufgefordert und diejenigen Felder als Anwendungsgebiete der Ehrengerichte benannt, die auch später noch typischerweise in Zusammenhang mit Ehrenhändeln auftauchten: »Ein Offizier, der sich dem Trunke ergiebt, oder mit liederlichen und gemeinen Weibspersonen unanständige Verbindungen eingeht, oder mit Leuten von schlechtem Rufe Gesellschaft hegt, oder gemeine Oerter besucht, oder aus dem Spiel ein Gewerbe macht, oder die SubordinationsVerhältnisse in der den Offizieren höheren Ranges schuldigen Achtung nicht zu ehren versteht, oder auf eine andere Art eine niedere Denkungsart verräth, muß, so lange er nicht Beweise seines gebesserten Lebenswandels giebt, des Avancements für unfähig erklärt werden. Hierüber entscheidet die auf drei Viertheile der Stimmen steigende Mehrheit der Offiziere eines Regiments.«5
Die Ehrengerichtsbarkeit der Offiziere hatte sich also zunächst aus dem Disziplinarstrafrecht heraus entwickelt, erstreckte sich aber anders als jenes zunehmend ausschließlich auf das außerdienstliche Verhalten des Offiziers in Gesellschaft. Zu den 3 4 5
Art. 109 Abs. 2 S. 1 WRV. Ausführlich Speitkamp, Ohrfeige, S. 183–187. Verordnung wegen Bestrafung der Offiziere vom 3.8.1808, Preußische Gesetzsammlung 1806 bis 1810, S. 272–275 (274).
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VI. Ehrenschutz
hier angesprochenen unanständigen Verbindungen gehörten vor allem sämtliche Konstellationen ehelicher Untreue, die sowohl den seitenspringenden wie den gehörnten Gatten als auch den Eindringling in die Ehe gleichermaßen betrafen.6 Als nicht ehrenrührig galten in diesem Zusammenhang jedoch die sub rosa tolerierten, diskreten Dirnengänge. Denn der »Verkehr mit öffentlichen Dirnen ist freigegeben und kann den Offizier niemals vor das Ehrengericht bringen, wenn er sich in aller Stille vollzieht«, wie der weitverbreitete Ratgeber in Ehrenfragen des Generalmajors Klemens v. Spohn klarstellte.7 Als Angehöriger eines waffentragenden Standes verteidigte der Offizier des 19. Jahrhunderts seine Ehre bevorzugt mit Gewalt: Standesniedere, also »Nichtsatisfaktionsfähige« waren bei einer Ehrverletzung auf der Stelle mit der Waffe zu züchtigen, von gesellschaftlich Ebenbürtigen war hingegen »Satisfaktion« zu verlangen, meist in Gestalt eines Duells, nicht selten auf Leben und Tod. Dabei beriefen sich die Offiziere zum einen auf adlig-ritterliche Traditionen, zum anderen betonten sie den aus ihrer Sicht zutiefst soldatischen Charakter des Duells, das Geradlinigkeit, Entschlusskraft und Mut verlange.8 In der Tat scheint sich das Duell in der Neuzeit aus dem hochmittelalterlichen Gerichtskampf heraus entwickelt zu haben, der ehedem vorrangig von Freien und Rittern als Gottesurteil ausgetragen wurde.9 Auch in dieser Hinsicht verkörperte das Offizierkorps also ein Reservat feudaler Ordnung. Im Jahr 1821 dehnte Friedrich Wilhelm III. die Ehrengerichtsbarkeit erstmals auf interne Ehrenhändel aus, in der trügerischen Erwartung, das Duellwesen zumindest einschränken zu können.10 Am 20. Juli 1843 erließ dann sein Nachfolger auf dem Thron, Friedrich Wilhelm IV., grundlegend neue und ausführliche Verordnungen, mit denen sich die Ehrengerichte und ihre Kompetenzen endgültig als eigenständiger Zweig des Militärrechts emanzipierten.11 Zum »erweiterten Wirkungskreis« der Ehrengerichte gehörten von nun an alle »dem richtigen Ehrgefühl oder den Verhältnissen des Offizierstandes« zuwiderlaufenden Handlungen, die keinem Strafgesetz unterlagen, sowie die »Streitigkeiten und Beleidigungen der Offiziere unter sich, so wie die Anreizungen zum Zweikampf«. Auch Vorkommnisse, die zeitlich vor der Ernennung zum Offizier lagen, konnten ein Ehrengerichtsverfahren nach sich ziehen, sofern sie durch Verschulden des Betroffenen fortwirkten. Nach der Verfassung des Norddeutschen Bundes waren auch diese Bestimmungen nach Maßgabe der Militärkonventionen in allen Kontingenten ein6 7 8 9
10 11
Zum Zusammenhang zwischen Duell und Geschlechtlichkeit ausführlich Frevert, Ehrenmänner, S. 264– 286. Spohn, Ratgeber, Teil 2, S. 25. Eine sprachgewaltige literarische Bearbeitung dieses Stoffes findet sich bei Roth, Radetzkymarsch, Kapitel 5, S. 91–94. Frevert, Ehrenmänner, S. 121. Fehr, Zweikampf, S. 9–14 stellt einen Bezug zum gerichtlichen Zweikampf des Sachsenspiegels als Gottesurteil her, siehe SSp. Ldr. I, 51 § 4; I, 63; III, 26 § 2; III, 29 § 1. Zustimmend Deutsch, Ehre, Sp. 1224 f. und Frevert, Ehrenmänner, S. 24–27, Frevert, Ehrenmänner, S. 133; Demeter, Offizierkorps, S. 131. Allerhöchste Verordnungen über die Ehrengerichte und über das Verfahren bei Untersuchung der zwischen Offizieren vorfallenden Streitigkeiten und Beleidigungen sowie über die Bestrafung des Zweikampfs unter Offizieren vom 20.7.1843, Berlin 1845; erstere ist abgedruckt bei Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 241–249.
1. Die Blüte der Offizierehre im 19. Jahrhundert
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zuführen.12 Sie differenzierten fortan zwischen dem eigentlichen Ehrengericht, das nur im Bedarfsfall zusammentrat und dem Dienstgrad des Beschuldigten entsprechend zusammengesetzt wurde, und dem von den Offizieren gewählten Ehrenrat. Der Ehrenrat hatte die Funktion, die Soldaten in Ehrenangelegenheiten zu beraten, Anzeigen über ehrenrühriges Verhalten entgegenzunehmen und dem Kommandeur zu melden, sowie gegebenenfalls eine entsprechende Untersuchung einzuleiten.13 Dabei war es den Offizieren geboten, beim Ehrenrat im Zweifelsfall ein ehrengerichtliches Verfahren gegen sich selbst zu beantragen, um sich von ehrenrührigen Vorwürfen reinzuwaschen. Die Ehrengerichte wiederum konnten von nun an nicht mehr einfach das weitere Avancement verhindern, sondern eine Warnung, die Entlassung aus dem Dienst, die Entfernung aus dem Offizierstand unter Verlust des Dienstgrades sowie den Verlust des Uniformtragerechtes beantragen. So wie das Offizierkorps eines Regiments sich selbst rekrutierte, indem es Offizierwahlen durchführte, so konnte es sich nun nicht nur durch »schlichten Abschied« unter Beibehaltung des Dienstgrades, sondern auch durch völlig unehrenhafte Entlassung (Entfernung aus dem Offizierstand unter Verlust der Pension) von Mitgliedern »reinigen«, die gegen seinen Ehrenkodex verstoßen hatten.14 Neben diesen korporativen Aspekt trat allerdings auch der persönliche Bezug zum Monarchen, dem der Vollzug des Spruchs und damit die Letztentscheidung vorbehalten blieben, so dass es sich hier nicht in gleichem Sinne um rechtskräftige Erkenntnisse (wie etwa die Strafurteile der Militärgerichtsbarkeit) handelte.15 Die Ehrengerichte hüteten damit auch das auf die Person des Kontingentsherren ausgerichtete Dienst- und Treueverhältnis des Offiziers. Dabei waren weder die gewaltsame Züchtigung noch das Duell nach allgemeinem Strafrecht prinzipiell jedermann gestattet. Sie verkörperten vielmehr archaische Relikte von Selbstjustiz, die das an Verfahren und Zuständigkeiten gebundene Strafmonopol des Staates in eklatanter Weise untergruben. Der liberale Bürgerstaat, auf die rule of law gegründet, kollidierte hier in sinnfälliger Weise mit dem Soldatenstaat preußischen Zuschnitts. Besonders die Jahre des deutschen März waren noch von einem Antagonismus bürgerlicher und militärischer Ehrenvorstellungen geprägt gewesen, die in den Plänen des Paulskirchenparlaments zur völligen Abschaffung der Ehrengerichtsbarkeit und einer heftigen Replik des damaligen Kronprinzen und späteren Königs Wilhelm I. kulminiert hatten.16 Seit der Reaktionsära aber verstärkten die allgemeine Wehrpflicht und der Aufbau eines Reserveoffizierkorps zunehmend den Einfluss, den das Militär auf die Gesellschaft und besonders auf bürgerliche Kreise ausübte.17 Eine teils bis heute noch sichtbare Folge war, dass bürgerliche 12 13 14 15 16 17
Art. 61 Abs. 1 der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16.4.1867, veröffentlicht durch Publikandum vom 26.7.1867 im BGBl. 1867 S. 1–23. Ausführlich Dietz, Ehrengerichtsverordnungen, S. 255 f. Noch heute gilt die Entfernung aus dem Dienstverhältnis als reinigende Disziplinarmaßnahme, Dau, WDO-Kommentar, § 63 Rn. 2. Darauf weist zutreffend hin Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 239. § 70 des Entwurfs zu einem Gesetze über die deutsche Wehrverfassung, Frankfurt am Main 1848; Wilhelm I. von Preußen (als Kronprinz), Bemerkungen, S. 34–36. Siehe hierzu auch Dieners, Duell, S. 205–207. Ausführlich Frevert, Ehrenmänner, S. 109–121 und S. 146–162.
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Akademiker ihre gesellschaftliche Emanzipation suchten, indem sie in Studentenverbindungen das Offizierkorps imitierten, das Recht auf Uniform und Waffe auch für sich proklamierten und sich zu duellieren begannen. Am 2. Mai 1874 erließ Wilhelm I. eine neue Verordnung, die 1910 letztmalig als Neudruck mit nur geringfügigen Änderungen erschien und ansonsten als Grundlage für alle ehrengerichtlichen Verfahren bis zum Ende des alten Heeres diente.18 Wie im damaligen preußischen Militärstrafprozess war auch hier immer noch ein schriftliches Verfahren vor den Ehrengerichten vorgesehen; als Verteidiger waren lediglich Offiziere zugelassen, die mindestens im gleichen Dienstgrad wie der Beschuldigte standen.19 Die »Königlich Allerhöchste Verordnung, die Ehrengerichte der Offiziere und Sanitätsoffiziere im bayerischen Heere betreffend« vom 4. September desselben Jahres orientierte sich mit minimalen Abweichungen am preußischen Vorbild; auch für die Kaiserliche Marine ergingen vergleichbare Vorschriften.20 Mit der herausragenden gesellschaftlichen Stellung der Offiziere im 19. Jahrhundert – sie waren bereits als Leutnant hoffähig – entwickelte sich ihr immer strengerer Ehrenkodex. Während Friedrich Wilhelm IV. seinen Offizieren für Duelle noch ausnahmslos mit Strafe drohte, so stellte Wilhelm I. bereits in der Einführungsorder zur neuen Ehrengerichtsordnung klar, dass er von nun an lediglich die Anzeige einer Forderung an den Ehrenrat verlange, der wiederum »da, wo die Standessitte es irgend zuläßt, einen Sühneversuch vorzunehmen« hatte. Ansonsten aber sollte der Ehrenrat darauf hinwirken, »daß die Bedingungen des Kampfes in keinem Mißverhältnis stehen«. Schließlich hatte »der Präses des Ehrenrates oder ein Mitglied desselben sich als Zeuge auf den Kampfplatz zu begeben und darauf zu achten, daß bei Vollziehung des Zweikampfes die Standessitte gewahrt wird«. Das Duell erhielt damit offizielle Weihen und sollte ehrengerichtlich nur dann bestraft werden, »wenn der eine oder andere der Beteiligten bei dem Anlaß oder dem Austrag der entstandenen Privatstreitigkeit gegen die Standesehre gefehlt hat. […] Denn«, so schloss Wilhelm, »einen Offizier, welcher imstande ist, die Ehre eines Kameraden in frevelhafter Weise zu verletzen, werde Ich ebensowenig in Meinem Heere dulden, wie einen Offizier, welcher seine Ehre nicht zu wahren weiß«.21 Damit formulierte der Oberste Kriegsherr das Ehrenrecht seiner Offiziere in eklatantem Widerspruch zu den Maßstäben des allgemeinen Strafrechts. Am fin de siècle steuerten die exzessiv gesteigerten Ehrenvorstellungen und das Duellwesen zeitgleich mit dem Wilhelminismus auf ihren Höhepunkt zu. Versagte der Offizier bei der Verteidigung seiner Ehre, etwa indem er einen satisfaktionsfähigen Beleidiger nicht zum Duell forderte oder sich einer Forderung nicht stellte, droh18
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Insbesondere waren erst seit einer A.K.O. vom 15.7.1910 die Tatsachenfeststellungen eines rechtskräftigen strafgerichtlichen Urteils auch für die Ehrengerichte bindend, Voigt, Gesetzgebungsgeschichte, S. 181 f.; siehe überhaupt zur Änderungsgeschichte ausführlich Dietz, Ehrengerichtsverordnungen, S. 9–16. Nr. 35 und Nr. 41 Abs. 4 der Allerhöchsten Verordnung über die Ehrengerichte der Offiziere im Preußischen Heere (Ehr.V.) vom 2.5.1874 und Ergänzungsordre vom 1.1.1897 (Erg.O.), Neudruck 1910, D.V.E. Nr. 362. Allerhöchste Verordnung über die Ehrengerichte der Offiziere in der Kaiserlichen Marine vom 13.5.1911 und Allerhöchste Ordre vom 2.11.1875 (Ehr.V.) nebst Ergänzungsordre vom 1.1.1897 (Erg.O.), D.E. Nr. 459 / D.V.E. Nr. 419. Die Einführungsorder ist abgedruckt bei Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 249–251.
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te ihm die Verstoßung aus dem Offizierkorps – eine Infamie, der eigentlich nur durch Suizid zuvorzukommen war.22 Für den deutschen Offizier herrschten damit faktisch Duell- und Züchtigungspflicht.23 Im gesamten deutschen Kulturraum erschien eine Schwemme an Literatur, die den Offizier in Ehrenangelegenheiten zu beraten suchte.24 Schließlich musste er hier durch eine durchaus schmale Gasse wandeln: Reagierte er auf die Ehrverletzung eines Nichtsatisfaktionsfähigen unzureichend, drohten einerseits Ehrengerichtsverfahren und Entlassung. Zwar war die Ehre ein grundsätzlich notwehrfähiges Rechtsgut, überschritt der Offizier jedoch mit seiner typischerweise gewaltsamen Verteidigungshandlung die Grenzen der Erforderlichkeit in § 53 RStGB, so drohte ihm andererseits strafrechtliche Verfolgung.25 Doch gerade bei diesem Korrektiv war man innerhalb der militärischen Strafrechtspflege offenbar bereit, einen großzügigen Maßstab anzulegen. Besonders prägnant brachte das der Kriegsgerichtsrat Grützmacher zum Ausdruck, als er im Handwörterbuch des Militärrechts von 1912 die Erforderlichkeit der Notwehrhandlung erläuterte: »Von mehreren gleich wirksamen Mitteln ist demnach das am wenigsten schädliche zu wählen, z. B. die blanke Waffe anstatt der Schußwaffe, Flachschlagen anstatt scharfer Hiebe. Der Soldat braucht jedoch nicht ängstlich abzuwägen. Er hat als Vertreter staatlicher Machtinteressen nicht allein das Recht, sondern auch die Pflicht, Angriffe auf Leib, Leben, Ehre mit größter Entschiedenheit zurückzuweisen, besonders wenn die Angriffe von Zivilpersonen kommen, die Disziplin ihm also keine Schranken setzt. Auch gegen Beleidigungen wird er ohne weiteres die ihm vom Staat verliehene Waffe, wenn auch zunächst nur die flache Klinge, gebrauchen dürfen, um eine Fortsetzung der Ehrverletzungen zu verhindern.«26
Für Züchtigungen in Reaktion auf Ehrverletzungen durch militärische Untergebene kam noch hinzu, dass der besondere Rechtfertigungsgrund des § 124 MStGB eine Bestrafung wegen Missbrauchs der Dienstgewalt (Siebter Abschnitt, §§ 114–126 22
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Als prägnantes literarisches Beispiel mag hier Arthur Schnitzlers Lieutenant Gustl dienen, der in einem inneren Monolog den Selbstmord erwägt, nachdem er es versäumt hat, einen ihn beleidigenden Bäcker auf der Stelle niederzustrecken. Das Konzept der Offizierehre war in der k.u.k. Armee Österreich-Ungarns im Wesentlichen identisch. Frevert, Ehrenmänner, S. 137–139. Im Deutschen Reich war der offiziöse dreiteilige »Ratgeber in Ehrenfragen aller Art« von General z.D. Klemens v. Spohn führend, der in seinem ersten Teil den Ehrenrat, im zweiten die Beurteilung verschiedenster Ehrenfragen sowie im dritten Teil die »konventionellen Gebräuche beim Zweikampf« behandelte und in einer Vielzahl von Auflagen erschien. Das österreichisch-ungarische Recht kannte für Offiziere sogar einen eigenen Tatbestand der Ehrennotwehr, der es ihnen gestatte sich »auf der Stelle der ihnen zuständigen Waffen zu bedienen«, siehe § 114 Buchstabe d des Militär-Strafgesetzbuchs über Verbrechen und Vergehen vom 15.1.1855, Reichs-GesetzBlatt für das Kaiserthum Oesterreich 1855, S. 65–220. Grützmacher, Notwehr, S. 588. Ähnlich aber auch Rissom, Notwehr, S. 21: »Gerade für Militärpersonen, namentlich Offiziere, ist es nicht nur Recht, sondern auch Pflicht, die Ehre der Uniform aufrechtzuerhalten. […] So bleibt als Mittel, der Fortsetzung der Beleidigung Einhalt zu tun, vielfach nur die körperliche Verletzung des Angreifers übrig. Als zur Abwehr erforderlich wird in solchen Fällen grundsätzlich der Gebrauch der blanken Waffe zu gelten haben, da der Angegriffene nicht verpflichtet ist, die Gefahr eines Ringkampfes oder Messerstiches auf sich zu nehmen. Ein scharfes Zuschlagen, wo der Gebrauch der flachen Klinge genügen würde, kann allerdings vom Standpunkte des Rechts aus nicht zugelassen werden.«
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VI. Ehrenschutz
MStGB) ausschloss, wenn der Vorgesetzte damit zugleich einen tätlichen Angriff des Untergebenen abwehrte.27 Somit konnte auch alles, was sich im Rahmen der anerkannten Ehrennotwehr abspielte, keine Misshandlung Untergebener (§ 122 MStGB) darstellen. Übersteigertes Ehrgefühl und Gruppenzwang begünstigten hier zusätzlich Exzesse, die jedoch regelmäßig von Strafjustiz und Begnadigungspraxis des jeweiligen Landesherrn gedeckt wurden.28 Zu einem reichsweiten Skandal wurde die Zabern-Affäre Ende 1913: In der gleichnamigen elsässischen Garnison hatte der 19-jährige Leutnant Günter v. Forstner des Infanterie-Regiments Nr. 99 die ortsansässige Bevölkerung während der Ausbildung von Soldaten verhöhnt. Der ganze Vorgang gelangte an die Presse; Forstner erhielt nach einigem Widerstand seiner Vorgesetzten sechs Tage Stubenarrest. Er wurde endgültig zum Gespött der Elsässer, als ihn nach Weisung des Garnisonkommandos fortan bei öffentlichen Ausflügen stets vier bewaffnete Soldaten zu seinem Schutz eskortieren mussten. Wenig später wurde Forstner dann bei einer Übung in einer der umliegenden Ortschaften von einigen Arbeitern einer Schuhfabrik angepöbelt, woraufhin er mit seinem Säbel einen gehbehinderten jungen Mann, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, in Rage niederstreckte. Ungeachtet aller öffentlichen Kritik und hitziger Debatten im Reichstag sekundierte Kronprinz Wilhelm in einem Schreiben an Forstners Vorgesetzte: »Immer feste druff!« Nachdem Forstner zunächst zu 43 Tagen Arrest verurteilt wurde, sprach ihn in der Berufungsinstanz das Oberkriegsgericht des XV. Armee-Korps in Straßburg am 10. Januar 1914 schließlich von der Anklage der vorsätzlichen Körperverletzung frei, da er in Putativnotwehr gehandelt habe.29 Im Prozess sagte Forstners Regimentskommandeur Oberst Ernst v. Reuter aus, er hätte seinen Offizieren befohlen, »gegen Beleidigungen in der energischsten Weise einzuschreiten und sich zur Wehr zu setzen, sonst würde er ein ehrengerichtliches Verfahren gegen sie einleiten«.30 Das Duell wiederum war zwar an sich strafbar, wurde aber im fünfzehnten Abschnitt des RStGB (§§ 201–210)31 gegenüber den gewöhnlichen Tötungs- und Körperverletzungsdelikten privilegiert. Das begann schon damit, dass den Duellanten stets nur die custodia honesta der Festungshaft drohte. Für die bloße Aufforderung zum Duell ebenso wie für dessen Annahme drohten bis zu sechs Monate Festung, die Strafe erhöhte sich auf zwei Monate bis zwei Jahre, wenn sich aus der Herausforderung oder der Art des gewählten Duells die Absicht ergab, dass einer der Kontrahenten das Leben verlieren sollte (§§ 201 f.). Ebenso wurden Kartellträger, die den Auftrag zu einer Herausforderung übernahmen und ausrichteten, mit Festungshaft bis zu sechs Monaten bestraft (§ 203). Die Strafbarkeit entfiel, wenn die Parteien das Duell vor Beginn freiwillig aufgaben (§ 204). Der Zweikampf selbst wurde mit Festungshaft von drei Monaten bis fünf Jahren (§ 205) bestraft. Auf die Tötung im Zweikampf standen mindestens zwei Jahre und wenigstens drei Jahre, wenn der Tod eines Kontrahenten 27 28 29 30 31
Siehe hierzu auch Kapitel IV.4. unter Buchstabe c). Dieners, Duell, S. 79–83. EGK 1914, S. 15. Ausführlich Wehler, Zabern, insbesondere S. 33 f. So paraphrasiert von Schenk, Zabern, S. 38. Erst aufgehoben durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25.6.1969, BGBl. 1969 I S. 645–682.
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von vornherein beabsichtigt war (§ 206). Die Tötung oder Körperverletzung wurde nur dann nach den allgemeinen Strafvorschriften bestraft, wenn sie »mittels vorsätzlicher Übertretung der vereinbarten oder hergebrachten Regeln des Zweikampfs bewirkt worden« war (§ 207).32 Das Duell war damit auch aus Sicht des Strafrechts eine zwar sanktionierte, aber immer noch ehrenvolle Angelegenheit. Spezielle Strafbestimmungen für das Duell enthielt das MStGB nur für den Fall, dass es von einem Untergebenem gegenüber einem Vorgesetzten »aus dienstlicher Veranlassung« gefordert und ggf. vollzogen wurde; Strafgrund war hier also nicht eigentlich das Duell selbst, sondern dass es die Disziplin und die einschlägigen Mechanismen von Beschwerderecht, Dienstaufsicht sowie Militärstrafrecht und Disziplinarstrafrecht untergrub.33 Die strafrechtliche Ahndung des Duells wurde jedoch immens dadurch erschwert, dass es nach seinen hergebrachten Regeln Ehrensache war, dass alle Beteiligten wenigstens bis zur Erledigung Stillschweigen bewahrten.34 Insbesondere die Zivilgesellschaft traf hier regelmäßig auf ein Schweigekartell. Wurde eine gerichtliche Aufarbeitung jedoch unumgänglich, so konnte die Zuständigkeit der Militärjustiz für eine im Zweifelsfall günstige Erledigung sorgen: Hierzu erweiterte § 5 Nr. 2 MStGO die Zuständigkeit der Militärgerichte ganz bewusst auch auf »die dem Beurlaubtenstand angehörenden Offiziere, Sanitätsoffiziere und Ingenieure des Soldatenstandes wegen Zweikampfs mit tödlichen Waffen, wegen Herausforderung oder Annahme einer Herausforderung zu einem solchen Zweikampf und wegen Kartelltragens«. Das Duellwesen der Offiziere sah sich um die Jahrhundertwende aber auch zunehmender Kritik ausgesetzt, sogar eine Anti-Duell-Liga gründete sich. Neben Sozialdemokraten und Linksliberalen taten sich dabei besonders auch die Reichstagsabgeordneten des Zentrums hervor, stand der Zweikampf doch in Widerspruch zum Lehramt der katholischen Kirche.35 Neben der im Heer vorherrschenden Auffassung, dass die Verweigerung des Zweikampfes mit schlichtem Abschied zu bescheiden sei, monierten sie auch, dass bereits Bewerbern der Zugang zum Offizierberuf regelmäßig verwehrt blieb, wenn diese in Einstellungsgesprächen auf Befragen ihre ablehnende Haltung zum Duellwesen kundtaten.36 Zwar sollte der Offizier, bevor er eine Duellforderung aussprach, über den für ihn zuständigen Ehrenrat auf einen förmlichen Ausgleich hinwirken, der dann – vom Ehrenrat wörtlich vorformuliert – von den Kontrahenten zu unterschreiben war. In der Praxis schritten viele Offiziere jedoch unter Umgehung einer friedlichen Streitbeilegung sofort zum Zweikampf. Um den Exzessen entgegenzuwirken, erließ Wilhelm II. am 1. Januar 1897 eine Er32 33 34 35
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Einen Überblick über die hergebrachten Arten und Regeln des Zweikampfs, klassisch »Kartell« genannt, gibt Spohn, Zweikampf, S. 904–906. § 112 MStGB steht im sechsten Abschnitt »Strafbare Handlungen gegen die Pflichten der militärischen Unterordnung«. Spohn, Zweikampf, S. 906. Siehe Can. 2351 CIC 1917, der für das Duell die Tatstrafe der Exkommunikation anordnete. Insofern unterschied sich die Situation im Deutschen Reich von Österreich-Ungarn, wo die Duellkultur von einem mehrheitlich katholischen Offizierkorps gepflegt wurde. Siehe pars pro toto die Interpellation der Abgeordneten Hermann Roeren und Genossen (Zentrum), Reichstagsdrucksache 146 in Verhandlungen des Reichstags, II. Session 1905/06, Band 3 der Anlagen, sowie die ausführliche Debatte dazu vom 15.1.1906, ebenda Band 1 der Plenarprotokolle, S. 546–573.
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VI. Ehrenschutz
gänzungsordre zur Ehrengerichtsordnung, in deren Einleitung er seine Erwartung zum Ausdruck brachte: »Ich will, daß Zweikämpfen meiner Offiziere mehr als bisher vorgebeugt wird. Die Anlässe zu Ehrenhändeln sind oft so geringfügiger Natur, daß ein gütlicher Ausgleich ohne Schädigung der Standesehre sehr wohl möglich ist. […] Wenngleich jeder Offizier selbst der berufene Hüter seiner Ehre ist und diese Pflicht nicht anderen überläßt, so ist es dennoch mein Wille, daß der Ehrenrat hinfort grundsätzlich bei dem Austrage von Ehrenhändeln mitwirken soll. Er hat sich dieser Pflicht mit dem gewissenhaften Bestreben zu unterziehen, einen gütlichen Ausgleich herbeizuführen, soweit es die Standessitte irgendwie gestattet.«37
Zusätzlich erging am 16. Juni 1905 eine Kabinettsorder, die das Befragen oder Ausforschen von Offizieren und Offizieraspiranten nach ihrer grundsätzlichen Haltung zum Duell untersagte.38 Wenn auch der Trend sich langsam umzukehren begann, so hatte der Oberste Kriegsherr den Zweikampf andererseits noch längst nicht explizit geächtet.39 Im Gegenteil: Ein gütlicher Ausgleich war ja nur anzustreben, »soweit es die Standessitte irgendwie gestattet«. Einer stärkeren Kriminalisierung und Ächtung des Duells hielten die Konservativen stets den aus ihrer Sicht unzureichenden Ehrenschutz des RStGB entgegen.40 Noch 1912 erstickte Reichskanzler v. Bethmann Hollweg eine Initiative von Zentrum und Fortschrittspartei, das Duell im MStGB mit der Nebenstrafe der Entlassung zu bedrohen und im Reichsmilitärgesetz die ehrengerichtliche oder disziplinarische Ahndung eines Offiziers auszuschließen, der eine Duellforderung abgelehnt hatte, indem er mit der Auflösung des Reichstags drohte.41 Der Zweikampf blieb damit trotz fortschreitendem Rückgang auch den Ersten Weltkrieg hindurch vom Obersten Kriegsherr zumindest als ultima ratio für Ehrenhändel seiner Offiziere anerkannt42 – anders als in Österreich-Ungarn, wo Kaiser Karl I. das Duell mit Rücksicht auf die Kriegsanstrengungen durch Armee- und Flottenbefehl vom 4. November 1917 endgültig verbot.43
2. Die Ehre des Offiziers nach der Revolution Mit seinem Obersten Kriegsherrn verlor das deutsche Offizierkorps im November 1918 zugleich den Patron seines Duellwesens, das in den vergangenen Kriegsjahren ohnehin tradtionell hatte ruhen müssen. Zudem hatten die Parteien der Weimarer 37 38 39 40
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Allerhöchste Verordnung über die Ehrengerichte der Offiziere im Preußischen Heere (Ehr.V.) vom 2.5.1874 und Ergänzungsordre vom 1.1.1897 (Erg.O.), Neudruck 1910, D.V.E. Nr. 362. Gegenstand der Reichstagsdebatte vom 15.1.1906, Verhandlungen des Reichstags, II. Session 1905/06, Band 1 der Plenarprotokolle, S. 549. Dieners, Duell, S. 212–214. Erklärung des Reichskanzlers Bernhard v. Bülow, verlesen vom preußischen Kriegsminister Karl v. Einem in der Reichstagsdebatte vom 15.1.1906, Verhandlungen des Reichstags, II. Session 1905/06, Band 1 der Plenarprotokolle, S. 551 f.; ebenso der preußische Kriegsminister Josias v. Heeringen am 13.5.1912, Verhandlungen des Reichstags, Band 285, S. 1935. Frevert, Ehrenmänner, S. 144 f.; Resolutionen der Budgetkommission zum Etat der Heeresverwaltung für das Rechnungsjahr 1912, Reichstagsdrucksachen 440 und 447 in Verhandlungen des Reichstags, Band 299. Demeter, Offizierkorps, S. 148. »In einer Zeit, in der jedes Einzelnen Leben dem Vaterlande, der Allgemeinheit, gewidmet sein muß, dürfen Ehrenkränkungen nicht mehr im Kampfe mit den Waffen ausgetragen werden.« EGK 1917/2, S. 200.
2. Die Ehre des Offiziers nach der Revolution
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Koalition (Mehrheitssozialdemokraten, Zentrum und Linksliberale), die in den Gründungsjahren bis Mitte 1920 den Ton angaben, schon zu Kaisers Zeiten die AntiDuell-Front vereint gewesen; auch die Unterstützung der USPD war ihnen in dieser Frage sicher. Nach der republikanischen Maxime der Egalität war kein Platz mehr für eine ständische Sondergerichtsbarkeit, die anders als etwa bei Anwalt- und Ärzteschaft die Einhaltung nicht in erster Linie von Berufspflichten, sondern eines besonderen Ehrenkodex überwachte. Auf Initiative des Zentrums sprach die Nationalversammlung in Art. 105 S. 4 WRV die schlichte Konsequenz aus, die schon das Paulskirchenparlament verlangt hatte:44 »Die militärischen Ehrengerichte sind aufgehoben.« Anders als bei der Militärgerichtsbarkeit handelte es sich hier also nicht bloß um einen Auftrag an den Gesetzgeber. Doch so deutlich wie die Reichsverfassung hier sprach, so umstritten war dieser Schritt in der ersten Jahreshälfte 1919. Zunächst war mit der Abdankung der alten Kontingentsherren ein wichtiger Baustein im Fundament der Ehrengerichtsbarkeit entfallen, die ja wesentlich auch Wächterin über das persönliche Treueverhältnis des Offiziers zu seinem Monarchen gewesen war.45 Bereits zu Beginn des Jahres 1919 machten sich die Offizierkorps auf die Abschaffung ihrer Ehrengerichtsbarkeit gefasst. Für das bayerische Heer hatte das vom Sozialdemokraten Albert Roßhaupter geführte Ministerium für militärische Angelegenheiten46 die Ehrengerichte unter dem Eindruck der Revolution bereits mit Erlass vom 12. Dezember 1918 für aufgehoben erklärt.47 Und auch der preußische Kriegsminister Reinhardt erklärte noch am 10. Juli vor der Nationalversammlung: »Seitdem ich preußischer Kriegsminister bin, ist kein Offizier auf Grund eines ehrengerichtlichen Spruches gemaßregelt oder entlassen worden.«48 Doch bereits am 12. Februar, als in Bayern das Ende der Regierung Eisner nach den Landtagswahlen vom Januar unmittelbar bevorstand, bat die Personalabteilung des Ministeriums für militärische Angelegenheiten in München die Truppenteile des in Abwicklung befindlichen bayerischen Kontingents um Vorschläge zu einer neuen Ehrenvorschrift.49 Vorausgegangen war ein Schreiben des Generalmajors Otto v. Lossow50 in seiner Funktion als Vorsitzender des »Landesarbeitsausschusses des Wirtschaftsbundes bayerischer Offiziere«, einem jener konservativ bis völkischen Offizierbünde, die zu dieser Zeit wie Pilze aus dem Boden schossen. Lossow verlangte nicht weniger, als 44
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Antrag Adolf Gröber (Zentrum) und Genossen vom 4.7.1919, Nationalversammlungsdrucksache 477; Erste Lesung und Abstimmung vom 10.7.1919, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 1475–1488. Zweite Lesung am 30.7.1919, ebenda S. 2118–2121. Das erkannte sogar Albrecht v. Graefe (DNVP) als Befürworter der Ehrengerichtsbarkeit an, Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 1482. Früheres bayerisches Kriegsministerium. Erlass des bayerischen Ministeriums für militärische Angelegenheiten, Nr. 308292 P, vom 10.12.1918, auf den Bezug genommen wird bei einer internen Vorlage durch P 5, Nr. 2861 P., Betreff: Ehrenhandel, vom 18.2.1919, BayHStA/Abt. IV, MKr 11227. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 1477 f. Schreiben des Ministeriums für militärische Angelegenheiten, betreffend Ehrenvorschrift für Offiziere und Sanitätsoffiziere, Nr. 25607 P., vom 12.2.1919, sowie zahlreiche Stellungnahmen der bayerischen Kommandeure und Befehlshaber bei BayHStA/Abt. IV, MKr 11227. Lossow wurde später Befehlshaber im Wehrkreis VII und somit Führer der »bayerischen Reichswehr«. Zu seiner Rolle im Hitler-Ludendorff-Putsch siehe Kapitel I.2. unter Buchstabe b).
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die Ehrengerichtsverordnung wieder in Kraft zu setzen.51 Dabei zeigten die Stellungnahmen, die in den folgenden Wochen beim bayerischen Ministerium eintrudelten, dass nicht alle Befehlshaber und Kommandeure Lossows Auffassung teilten, was das Festhalten an den alten Formen und Vorstellungen insbesondere zur Beilegung von Ehrenhändeln betraf. Einig war man sich jedoch in der Bewertung, dass die ersatzlose Abschaffung der Ehrengerichtsbarkeit insofern ein Vakuum hinterließ, als die Entlassung ungeeigneter Offiziere hinfort nicht mehr nach einem geordneten Verfahren unter Beteiligung des Offizierkorps, sondern nur auf dem schlichten Verwaltungsweg möglich war. Insbesondere kannte das militärische Disziplinarstrafrecht die Strafe der Dienstentlassung nicht. Einige Stimmen regten bereits hier reichseinheitliche Regelungen an, die sich am Beamtenrecht und seinem disziplinargerichtlichen Verfahren zur Dienstentlassung orientieren sollten.52 Auch die Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31. März 1919 kündigten den baldigen Erlass von Bestimmungen über Ehrenräte und Ehrengerichte an.53 Ende Mai setzte sich das bayerische Ministerium für militärische Angelegenheiten mit einem entsprechenden Entwurf des Kriegsministeriums in Berlin zu einem Gesetz über die Ehrengerichte der preußischen Offiziere auseinander, der sich zwar äußerlich an die alte Verordnung des Kaisers anlehnte, die Kompetenzen der Ehrenräte und Ehrengerichte aber strikt auf Dienstentlassungsverfahren begrenzen wollte. Insofern erscheint Reinhardts Argument vor der Nationalversammlung am 10. Juli, eine Abschaffung der Ehrengerichtsbarkeit von Verfassung wegen sei praktisch nicht erforderlich, da unter seiner Ägide ehrengerichtliche Entlassungen bisher nicht vorgekommen seien, auch in einem ganz anderen Licht: »Nun, ich glaube, wir verbauen uns vielleicht die Wege«, sprach er und empfahl dem hohen Hause stattdessen, »in irgendeiner Form seinen Wunsch dahin auszudrücken, daß die militärischen Ehrengerichte in der alten Form nicht wieder aufleben, dagegen in der Verfassung nicht zum Ausdruck zu bringen, daß sie aufgehoben sind«. Gerade weil die schließlich siegreichen Befürworter einer Abschaffung vor allem mit dem engen Zusammenhang von Ehrengerichtsbarkeit und Duellwesen argumentierten, waren sie schon während der Plenardebatte auch bereit, die nun entstehende Lücke anzuerkennen. So schlug auch Adolf Gröber vom Zentrum die Erweiterung des Disziplinarstrafrechts mit der Möglichkeit einer Dienstentlassung nach Beamtenvorbild vor, als er seine Initiative begründete.54 Inhaltlich lagen die Positionen des preußischen Kriegsministeriums und der Weimarer Koalition also nicht weit auseinander; hier drehte sich die Auseinandersetzung in erster Linie um den Namen, den das künftige Kind tragen sollte. Doch längst nicht alle Stimmen beschränkten ihre Wünsche wie Reinhardt darauf, ein förmliches Entlassungsverfahren für Offiziere zur Verfügung zu haben. In der 51 52 53 54
Schreiben des Landesarbeitsausschusses des Wirtschaftsbundes bayerischer Offiziere an den Minister für militärische Angelegenheiten, Nr. 676, vom 7.2.1919, BayHStA/Abt. IV, MKr 11227. § 84 Abs. 1 des Gesetzes, betreffend die Rechtsverhältnisse der Beamten, vom 31.3.1873, S. 61–90 Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31.3.1919, AVBl. 1919 S. 263–282 (274). Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 1477 f.
3. Die Wehrberufskammern
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Nationalversammlung machten sich insbesondere Abgeordnete der DNVP und DVP gegen die Verfassungsbestimmung des Art. 105 S. 4 WRV stark und rühmten die Vorzüge der Ehrengerichtsbarkeit, auch wenn sie in Hinblick auf den Wegfall der Kontingentsherren eine gewisse Reformbedürftigkeit konzedierten. Besonders aber außerhalb des Parlaments organisierte sich Widerstand in Form von privatrechtlichen Vereinen, an dessen Spitze sich der Deutsche Offizierbund (DOB) setzte – ein Verband, bei dessen Versammlungen so unappetitliche Personen wie der junge Oberleutnant Hermann Göring Gelegenheit zur öffentlichen Rede erhielten. Schon bei einer Veranstaltung am 28. Januar 1919 hatte er das Vertrauen des Offizierkorps zum ebenfalls anwesenden Kriegsminister Reinhardt offen in Frage gestellt und die Soldatenräte – »Junge Burschen und Juden!« – für die militärische Niederlage verantwortlich gemacht.55 Die Bünde errichteten nun eigene Ehrengerichte und Ehrenräte, deren Satzungen sich ausdrücklich und größtenteils wörtlich an der alten Ehrengerichtsverordnung von 1874 orientierten.56 Für die Austragung von Ehrenhändeln und die Selbstanzeige zur Reinigung von Vorwürfen standen der jungen Reichswehr also zunächst keine eigenen, rechtlich gesicherten Mittel und Institutionen zur Verfügung.
3. Die Wehrberufskammern des gescheiterten Wehrmachtdisziplinargesetzes Das Wehrgesetz aus dem Jahr 1921 sah sowohl für Offiziere als auch für Unteroffiziere und Mannschaften die Möglichkeit einer Entlassung durch Erkenntnis einer Wehrberufskammer vor und griff damit Ideen auf, die bereits in der ersten Jahreshälfte 1919 kursiert hatten.57 Es spielte hier auf das bereits erwartete Wehrmachtdisziplinargesetz an, das diese Wehrberufskammern neben den geplanten Disziplinarkammern als zweite Säule einer neuen Disziplinargerichtsbarkeit einrichten und dadurch seiner Begründung nach ausdrücklich eine Annäherung an das Beamtenrecht herstellen sollte.58 Das Wehrgesetz vom März 1921 setzte die Einrichtung dieser Kammern also voraus; schon in seiner Begründung hieß es unmissverständlich, dass sie bloß »der größeren Übersichtlichkeit wegen in besonderen Gesetzen behandelt sind, aber, wie ausdrücklich hervorzuheben ist, mit den grundlegenden Bestimmungen dieses Entwurfs in untrennbarem Zusammenhange stehen und daher gesetzgeberisch auch nur als ein Ganzes behandelt werden können«.59 Das förmliche Diszipli55 56
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Deutsches Offizierblatt 1919, S. 121–125 (124), BArch MSG 3/4142. Bei BArch RH 37/588 finden sich bspw. eine Ehrenordnung des Nationalverbandes Deutscher Offiziere (N.D.O.) sowie eine Ehrenordnung zwischen dem Landesverband Bayern des Deutschen Offizierbundes und dem Verbande der bayerischen Offiziersregimentsvereine einerseits und dem Waffenring, den Burschenschaften und dem Korpsphilisterverband zu München andererseits (beide ohne Datum). § 22 Abs. 2 Buchstabe b und § 27 Abs. 1 WG. Begründung zum Entwurf eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht vom 30.5.1922, Reichstagsdrucksache 1/4443, S. 17. Entwurf eines Wehrgesetzes nebst Begründung vom 19.1.1921, Reichstagsdrucksache 1/1330, S. 19 f.
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VI. Ehrenschutz
narverfahren vor den Wehrberufskammern hätte sich erstreckt »auf Handlungen (und Unterlassungen), durch die sich ein Soldat der Achtung, die seine Berufsstellung erfordert, unwürdig erweist (Unwürdigkeitshandlungen), auch wenn die Unwürdigkeitshandlungen vor dem Eintritt in die Wehrmacht begangen sind«.60 Die Wehrberufskammern wären also keine exklusive Einrichtung mehr wie die ständischen Ehrengerichte gewesen, sondern hätten alle Rangklassen gleichermaßen erfasst. Von einer besonderen Offizierehre war hier keine Rede mehr. Schon während der Plenardebatten der Nationalversammlung zur Aufhebung der Ehrengerichtsbarkeit hatte Georg Davidsohn (MSPD) seinen politischen Kontrahenten zugerufen: »Schlagen Sie uns einheitliche Ehrengerichte für sämtliche Soldaten vor, seien es Unteroffiziere, Mannschaften oder Offiziere, so werden wir vielleicht mit uns reden lassen.«61 Auch wären die Wehrberufskammern kein Instrument mehr zur Austragung von jedweden Ehrenhändeln zwischen zwei Personen gewesen: Mit dem Begriff der »Unwürdigkeitshandlung« war vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass es hier schlicht um die Eignung zum Soldatenberuf ging und Ehrenfragen nur noch dann von Belang sein sollten, wenn sie diese Eignung berührten. Sicherlich hätte die Gefahr bestanden, dass in die Auslegung des offenen Begriffs der »Unwürdigkeit« auch tradierte Ehrvorstellungen eingeflossen wären. Allerdings hatten sich Geßler und Radbruch im Reichskabinett zumindest darauf geeinigt, in der Gesetzesbegründung klarzustellen, dass die Verweigerung des Zweikampfs jedenfalls keine Unwürdigkeitshandlung darstelle.62 Anders als die früheren Ehrengerichtsordnungen war in Unwürdigkeitsverfahren auch eine Berufungsinstanz vorgesehen.63 Beibehalten werden sollte hingegen die Möglichkeit, ein Verfahren gegen sich selbst zu beantragen, wenn man »sich einer Unwürdigkeitshandlung verdächtigt« glaubte.64 Anders als im förmlichen Disziplinarstrafverfahren sollte sich der Beschuldigte zudem in Unwürdigkeitsverfahren »wegen seiner wichtigen Folgen für die ganze Lebensstellung« eines zugelassenen Rechtsanwalts als Verteidiger bedienen dürfen – immerhin hätten die Wehrberufskammern auf Dienstentlassung mit und ohne Verlust der Versorgungsbezüge erkennen können.65 Ebenfalls im Unterschied zu Verfahren vor den Disziplinarstrafkammern war vorgesehen, dass die Öffentlichkeit hier auf Antrag des Beschuldigten zwingend auszuschließen war.66 Übereinstimmend war jedoch auch 60 61 62 63 64 65
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§ 2 II des Entwurfs eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht vom 30.5.1922, Reichstagsdrucksache 1/4443. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328, S. 2120. Akten der Reichskanzlei, Kabinette Wirth I/II, Band 1, Nr. 209, S. 579; Begründung zum Entwurf eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht vom 30.5.1922, Reichstagsdrucksache 1/4443, S. 17. §§ 69–73 des Entwurfs eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht vom 30.5.1922, Reichstagsdrucksache 1/4443. § 48 Abs. 2 des Entwurfs eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht vom 30.5.1922, Reichstagsdrucksache 1/4443. § 24 Abs. 2 und § 56 des Entwurfs eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht vom 30.5.1922, Reichstagsdrucksache 1/4443; siehe auch die Begründung ebenda S. 19; zur Versorgung siehe ebenfalls § 3 Nr. 3 Alt. 2 und § 34 Nr. 2 Alt. 2 des Wehrmachtversorgungsgesetzes vom 4.8.1921, RGBl. 1921 S. 993–1020. § 29 Abs. 1 S. 3 des Entwurfs eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht vom 30.5.1922, Reichstagsdrucksache 1/4443.
4. Die »Wahrung der Ehrenhaftigkeit«
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hier die Mündlichkeit des Verfahrens vorgeschrieben67 – auch das ein Fortschritt zum weitgehend schriftlichen Prozess vor den früheren Ehrengerichten. Für die Kommunisten war das Wehrmachtdisziplinargesetz trotzdem »weiter nichts als eine Neuauflage des alten Ehrenkodex«.68 Doch entgegen der Ankündigung Davidsohns torpedierten auch die Sozialdemokraten das Wehrmachtdisziplinargesetz insbesondere wegen des darin vorgesehen Unwürdigkeitsverfahrens.69 Sicherlich stellte das Vorhaben auch in Betreff der Unwürdigkeitsverfahren eine Kompromisslösung dar, die den progressiven Kräften im Reichstag in Einzelpunkten durchaus Angriffsflächen bot. Die dringend notwendige Ordnung der Entlassung ungeeigneter Soldaten wäre hier jedoch mit einem Verfahren versehen worden, das erhebliche, unabweisbare Fortschritte geboten und damit auch konservativen Offiziergemütern Einiges zugemutet hätte. Vieles spricht dafür, dass Seeckts Widerstand gegen das Gesetzesvorhaben weniger mit den Disziplinarstraf- als mit den Wehrberufskammern zu tun hatte.70 Aber genauso wenig wie die alte Militärgerichtsbarkeit wären mit dem Wehrmachtdisziplinargesetz die bisherigen Offizierehrengerichte wiederauferstanden, deren Blüte im 19. Jahrhundert in Wirklichkeit eine Hypertrophie gewesen war. Gestutzt auf das dienstlich Notwendige und bereinigt vom archaischen Duellwesen wäre das Ehrenrecht dorthin zurückgekehrt, wo es zu Beginn des 19. Jahrhunderts hergekommen war: in den Schoß des Disziplinarstrafrechts. Vor allem aber konnte die Verhinderung des Wehrmachtdisziplinargesetzes nicht für eine Änderung der überlieferten materiellen Ehrenvorstellungen und der damit einhergehenden Beurteilung der Entlassungsgründe im Verwaltungswege sorgen. Was für einen fatalen Bärendienst die politische Linke auch hier den Reformbemühungen erwies, zeigte sich nur wenig später: Seeckt nämlich kam das Scheitern des Wehrmachtdisziplinargesetzes sehr zu pass, er hatte nun freie Bahn zur »Wahrung der Ehrenhaftigkeit« in seinem Sinne.
4. Die »Wahrung der Ehrenhaftigkeit« durch Seeckt Der Verfassung zum Trotz pflegte die Reichswehr die alten Ehrengerichte von Beginn an mehr oder weniger offen weiter. Dabei ging es mitnichten nur um die Entlassung ungeeigneter Offiziere – ein Aspekt der Ehrengerichtsbarkeit, dessen praktisches Erfordernis wie gesagt durchaus nachvollziehbar war. Nein, das Offizierkorps beschäftigte sich auch weiter mit Ehrenhändeln, wobei es zunächst die zahlreichen Bünde und Vereine für eine offiziöse Spruchtätigkeit in Anspruch nahm. Prominen67 68 69 70
§ 55 Abs. 1 und § 32 des Entwurfs eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht vom 30.5.1922, Reichstagsdrucksache 1/4443. Wendelin Thomas (KPD) in der ersten Lesung am 14.7.1922, Verhandlungen des Reichstags, Band 356, S. 8558. Rede des Abgeordneten Oskar Hünlich (SPD) in der ersten Lesung am 14.7.1922, Verhandlungen des Reichstags, Band 356, S. 8556 f. So spricht Rabenau, Seeckt, S. 487, von dessen Verhinderungsbemühungen im Zusammenhang mit den Offizierehrengerichten.
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VI. Ehrenschutz
tes Beispiel: Bereits im Herbst 1919 erhob der glücklose Generalmajor a.D. Georg v. Waldersee71 schwere Vorwürfe gegen Generalleutnant Groener und Oberst Heye, die in herausgehobenen Stabsfunktionen zum Kriegsende im Großen Hauptquartiert der OHL in Spa und nun im Grenzschutz Ost der vorläufigen Reichswehr eingesetzt waren. Er fasste seine Anschuldigungen unter anderem in ein Schreiben an Seeckt, der zu dieser Zeit mit der Konzeptionierung des Reichswehrministeriums beschäftigt war und zum 1. Oktober dort als Chef des Truppenamtes eingesetzt werden sollte. Als Vorsitzender des monarchistischen Nationalverbandes Deutscher Offiziere hatte es sich Waldersee zur Aufgabe gemacht, der deutschen Öffentlichkeit zu beweisen, Groener und Heye hätten den Kaiser in jenen Novembertagen in Spa vom Thron gemobbt und so die dolchstoßende Revolution befördert. Daraufhin beantragte Groener bei Seeckt ein »freiwilliges« Verfahren vor einem Ehrengericht, das sich aus mehreren exponierten Offizieren des alten wie des neuen Reichsheeres zusammensetzte. Es tagte alsbald, also nur wenige Monate nachdem die neue Reichsverfassung die Ehrengerichte eigentlich aufgehoben hatte,72 und wusch Groener und Heye nach umfangreichen Zeugenvernehmungen schließlich von den Vorwürfen frei.73 Seeckt machte von Beginn an keinen Hehl daraus, wo er mit der Reichswehr in Sachen Ehre hinwollte. In seinem Erlass vom 1. Januar 1921 über die Grundlagen der Erziehung des Heeres stellte er gleich Eingangs klar: »Das Reichsheer ist fertig gebildet. Ein neuer Abschnitt deutscher Heeresgeschichte beginnt. […] Ich vertraue, daß das alte Ehrgefühl als heiliges Vermächtnis einer großen Vergangenheit im neuen Heer von seiner Gesamtheit wie von jedem einzelnen treu bewahrt und gepflegt wird.«74 Jedoch entzogen sich die politischen immer radikaleren Bünde der Kontrolle der Reichswehrführung, die daher zunehmend auf eine interne Lösung drängte und ihren Offizieren schließlich verbot, sich dem Ehrenspruch eines Vereinsgerichts zu unterwerfen.75 Am 1. Januar 1922 erließ beispielsweise der ehemalige Freikorpsführer Generalmajor v. Epp als Infanterieführer der 7. (Bayerischen) Division eine Ehrenge71
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Waldersee war zu Kriegsbeginn 1914 Chef des Stabes der 8. Armee unter Generaloberst Maximilian v. Prittwitz und Gaffron und als solcher für die desaströse Schlacht bei Gumbinnen sowie die daraus folgende Besetzung von Zweidritteln Ostpreußens mitverantwortlich gewesen. Er und Prittwitz wurden daraufhin entlassen und durch das Gespann Hindenburg-Ludendorff ersetzt, das Ostpreußen wenig später in der Schlacht von Tannenberg befreien konnte. Siehe Art. 105 S. 4 WRV. Groener-Geyer, Groener, S. 184–186; siehe auch das Schreiben Groeners an Generalmajor a.D. Rohdewald vom 18.12.1919, abgedruckt ebenda S. 391 f.; ebenso das Urteil des Ehrengerichts S. 392–395 (= Huber, Dokumente, Band 3, S. 336–339). Erlass des Chefs der Heeresleitung über die Grundlagen der Erziehung des Heeres vom 1.1.1921, HVBl. 1920 S. 1041 f.; abgedruckt bei Absolon, Wehrmacht, Band 2, S. 380–382; ebenso bei Messerschmidt/Gersdorff, Offiziere, S. 224–226. Voigt, Gesetzgebungsgeschichte, S. 187; siehe auch Verhandlungen des Reichstags, Band 393, S. 10155; ebenso den Bericht des 13. Ausschusses (Rechtspflege) vom 11.11.1925 über den Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des Militärstrafrechts, Reichstagsdrucksache 3/1639, S. 17, wo jeweils auf ein bestehendes Verbot verwiesen wird. Siehe auch Nr. 24 von Reichswehrministerium / Chef der Heeresleitung, Nr. 1363. 4. 24. PA (2), Betrifft: Wahrung der Ehrenhaftigkeit in der Armee, vom 30.4.1924, BArch RH 12-2/22, fol. 555–560.
4. Die »Wahrung der Ehrenhaftigkeit«
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richtsordnung für seine Infanterie- und Pionieroffiziere.76 Zwar betonte sein Erlass: »Die Ehrengerichte beruhen auf dem freien Entschluss der Offiziere, sich in Ehrenangelegenheiten dem Urteil ihrer Standesgenossen zu unterwerfen. Sie sind keine öffentlich-rechtliche Einrichtung.« Allem Anschein nach stieß ein so offener Bruch mit dem Sinn und Zweck des Verfassungsverbotes jedoch auf Widerstand höherer Stellen. Jedenfalls hob der Infanterieführer den Erlass gegen Jahresende 1922 wieder auf: »Solange die in § 27 des Wehrgesetzes angekündigte Wehrberufskammer noch nicht besteht« sollte stattdessen »nach folgenden allgemeinen Richtlinien« verfahren werden: Danach oblag die »dienstliche Behandlung von Ehrenangelegenheiten« grundsätzlich dem (Regiments-)Kommandeur, dem »eine aus der Wahl des ihm unterstellten Offizierkorps hervorgegangene Kommission von 2–3 Offizieren zur Seite« stand.77 Damit hatte die Infanterie der 7. Division die kommenden Entwicklungen in der gesamten Reichswehr vorgezeichnet. Zwar war hier von Ehrengerichten dem Namen nach nicht mehr die Rede. Die »Kommission« vereinigte jedoch Funktionen von bisherigem Ehrengericht und Ehrenrat, auch wenn formell die Letztentscheidung nun beim Kommandeur lag. Vor allem aber betonte der neue Erlass überhaupt nicht mehr die Freiwilligkeit von Verfahren in Ehrenangelegenheiten. Zudem wurde eingangs lediglich auf den Passus im Wehrgesetz Bezug genommen, der die Entlassung von Offizieren regelte, nicht jedoch die von Unteroffiziere und Mannschaften. Die Akten belegen denn auch eine ungehinderte Ermittlungs- und Begutachtungstätigkeit der Ehrengerichte und Ehrenkommissionen für die bayerische Reichswehr, aus der beispielsweise das Verfahren gegen Ernst Röhm wegen dessen Beteiligung am HitlerLudendorff-Putsch hervorragt, das in seine Entlassung aus der Reichswehr mündete.78 Nach dem endgültigen Scheitern des Wehrmachtdisziplinargesetzes traute Seeckt sich endlich ganz aus der Deckung. Während die bisher den gerichtlichen Disziplinarstrafkammern zugedachten Funktionen nun mit der MStGB-Novelle durch eine Ausweitung des bestehenden Disziplinarstrafrechtes kompensiert werden sollten, konnte der Chef der Heeresleitung bereits mit einem Erlass vom 30. April 1924 einen teilweisen Ersatz für die Wehrberufskammern anbieten und so die schwelende Ehrenfrage im Geist der Reaktion beantworten.79 Schon die Überschrift, »Wahrung der Ehrenhaftigkeit in der Armee«, war eine im wörtlichen Sinn konservative Kampfansage und implizierte, dass die Ehre in der Reichswehr geradezu gefährdet war. Bereits die ersten Sätze machten deutlich, wo die Reise nun hinging: »Die für das alte Heer gültigen Grundsätze für die Ehrenhaftigkeit und die Wahrung der Ehre der Gesamtheit und des Einzelnen haben an ihrer Bedeutung auch für das neue Heer nichts verloren. Sie bleiben maßgebend für die Erziehung des Heeres und für die Behandlung aller 76 77 78
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Infanterieführer der 7. (Bayerischen) Division, Ehrengerichtsordnung für die Offiziere der Infanterie und der Pioniere der bayer. 7. Division, Abt. II № 500, vom 1.1.1922, BArch RH 37/778. Infanterieführer der 7. (Bayerischen) Division, Betreff: Ehrenangelegenheiten, Abt. II № 274 pers., vom 20.12.1922, BArch RH 37/4997. Der Vorgang findet sich bei BArch RH 53-3/3a. Nach § 63 Nr. 2 des Wehrmachtversorgungsgesetzes vom 4.8.1921 (RGBl. 1921 S. 993–1020) verlor der ausgeschiedene Offizier seine Versorgungsansprüche nur bei Verurteilung zu Zuchthausstrafe wegen Hochverrats; Röhm wurde jedoch zu Festungshaft verurteilt. Reichswehrministerium / Chef der Heeresleitung, Nr. 1363. 4. 24. PA (2), Betrifft: Wahrung der Ehrenhaftigkeit in der Armee, vom 30.4.1924, BArch RH 12-2/22, fol. 555–560.
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VI. Ehrenschutz Fragen, welche die Ehre der Soldaten berühren, für die Erledigung von Zwisten innerhalb des Heeres und von Mitgliedern desselben mit außenstehenden Persönlichkeiten. Ich habe diesen Grundsätzen nichts hinzuzusetzen und habe von ihnen nichts zu streichen. Ich erwarte und vertraue, daß die Jugend des Heeres in den gleichen Grundsätzen erzogen wird, in denen wir älteren Offiziere aufgewachsen sind.«
Der Seeckt’sche Erlass bezog sich ausdrücklich auf die Art. 2 und 3 der Berufspflichten des deutschen Soldaten, wonach die Ehre »das höchste Gut des Soldaten« war und er gegen »unbegründete Verdächtigungen seiner Ehrenhaftigkeit […] sich dadurch schützen« können sollte, »daß er bei seinem nächsten Disziplinarvorgesetzten das gesetzliche Verfahren gegen sich selbst beantragt«.80 Mit dem »gesetzlichen Verfahren« hatte der Reichspräsident jedoch, als er am 2. März 1922 die Berufspflichten erließ, das geplante Verfahren vor den Wehrberufskammern gemeint. Bis zur erwarteten Verabschiedung des Wehrmachtdisziplinargesetzes konnte nach § 47 Abs. 2 des Wehrgesetzes der Reichspräsident »die Bestimmungen über fristlose Kündigung erweitern und auf die Offiziere ausdehnen«. Hiervon machte Ebert nur wenige Tage nach Inkrafttreten des Wehrgesetzes Gebrauch und erließ am 2. April 1921 eine Ausführungsverordnung, nach der einem Soldaten auch dann fristlos auf dem schlichten Verwaltungsweg gekündigt werden konnte, »wenn Handlungen oder Unterlassungen festgestellt sind, durch die sich die Soldaten der Achtung, die ihre Berufsstellung erfordert, unwürdig erwiesen haben (Unwürdigkeitshandlungen), auch wenn die Unwürdigkeitshandlungen vor dem Eintritt in die Wehrmacht begangen sind«.81 Die Verordnung knüpfte im Wesentlichen wortgleich an die geplante Legaldefinition der Unwürdigkeitshandlungen im Entwurf des Wehrmachtdisziplinargesetzes an.82 Der offiziöse Wehrgesetzkommentar Semlers von 1921 bemerkte hierzu noch: »Es handelt sich hier nur um eine Übergangsbestimmung. […] Ein unwürdiges Verhalten ist nicht zu verwechseln mit einem ehrlosen Verhalten.«83 Nachdem aber das Gesetz zur Einrichtung der Wehrberufskammern erst einmal gescheitert war, wurde dieses Provisorium zur Dauerlösung und bot Seeckt die Grundlage, seine Vorstellungen von der »Wahrung der Ehrenhaftigkeit in der Armee« mit rechtswirksamen Weihen auszustatten. Der Erlass gab von nun an das Verfahren vor, anhand dessen »Unwürdigkeitshandlungen« durch einen »Ehrenrat« des jeweiligen Regiments ermittelt und der jeweilige Kommandeur gegebenenfalls die Entlassung beantragen konnte. Im Ehrenrat verschmolzen die bisherigen Funktionen der früheren Ehrenräte und Ehrengerichte; er war in tradierter Weise vom örtlichen Offizierkorps zu wählen. Wie schon der Infanterieführer der 7. (Bayerischen) Division Ende 1922 für seine Ehrenkommissionen stellte der Chef der Heeresleitung nun klar: »Für die Wahrung der Ehre der Ge80 81 82 83
Berufspflichten des deutschen Soldaten vom 2.3.1922, HVBl. 1922 S. 141 f.; abgedruckt bei Absolon, Wehrmacht, Band 1, S. 171 f. Siehe auch Kapitel II.2. Verordnung des Reichspräsidenten gem. § 47 Abs. 2 WG über die fristlose Kündigung des Dienstverhältnisses in der Wehrmacht vom 2.4.1921, HVBl. 1921 S. 95. Vgl. § 2 II des Entwurfs eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht vom 30.5.1922, Reichstagsdrucksache 1/4443. Semler, WG-Kommentar, S. 77.
4. Die »Wahrung der Ehrenhaftigkeit«
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samtheit sind die militärischen Vorgesetzten innerhalb ihres Dienstbereiches verantwortlich. Sie entscheiden nach den folgenden Bestimmungen, welche Maßnahmen zur Wahrung der Ehre der Gesamtheit zu treffen oder zu beantragen sind. Ehrengerichte, mit der Befugnis, ein Urteil zu fällen und seine Vollstreckung zu beantragen, bestehen nicht.« Doch die Abkehr von Bisherigem wurde hier nur vordergründig betont, um kritische Geister von vornherein zu beschwichtigen. In Wirklichkeit waren die Unterschiede zu früher nur marginal. So erhielt der Ehrenrat seine Autorität im Wesentlichen folgendermaßen: Bei Verdacht auf Unwürdigkeitshandlungen hatten die Disziplinarvorgesetzten ihrem Divisionskommandeur zu berichten, der über die Einleitung eines Unwürdigkeitsverfahrens entschied. Wie ehedem konnte ein jeder Offizier ein solches Verfahren auch gegen sich selbst beantragen, wenn er sich einer Unwürdigkeitshandlung verdächtig glaubte. Dabei ermittelte ein personell verstärkter Ehrenrat und erstellte ein Gutachten, das mitsamt einer Stellungnahme sowohl des Divisionskommandeurs als auch des Oberbefehlshabers des Reichswehr-Gruppenkommandos dem Chef der Heeresleitung zur Entscheidung vorzulegen war.84 Kam dieser zu der Bewertung, dass eine Lösung des Dienstverhältnisses unausweichlich war, so hatte er zwei Möglichkeiten, weiter zu verfahren: Entweder er forderte den inkriminierten Offizier auf, von sich aus einen Antrag auf Entlassung einzureichen, was dem früheren Abschiedsgesuch entsprach und auch noch bei der Reichswehr regelmäßig so bezeichnet wurde. Oder aber er verfügte – entsprechend der früheren Entlassung mit schlichtem Abschied – die fristlose Kündigung nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe e des Wehrgesetzes,85 bei der nach den §§ 31, 34 des Wehrmachtversorgungsgesetzes86 im Gegensatz zur ersten Option überhaupt keine Pensionsansprüche entstanden. Immerhin erreichte ein entlassener Reichswehroffizier, dass das Vorliegen der Unwürdigkeitshandlungen gerichtlich überprüft wurde.87 Hiervon wird noch eingehender im folgenden Kapitel über den Rechtsschutz die Rede sein. Wurde das Dienstverhältnis jedoch bereits durch strafgerichtliches Urteil gelöst, so konnte der Reichswehrminister dennoch nach § 105 des Wehrmachtversorgungsgesetzes befinden, dass der Entlassene »einer Versorgung würdig ist«, etwa weil die Tat nach den ganz eigenen Maßstäben der Reichswehr nicht ehrenrührig war – eine Regelung, die es der Reichswehrführung zubilligte, die Ehre eines Offiziers im Zweifel über das von ihm verwirklichte kriminelle Unrecht zu stellen.88 Eine weitere 84 85
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Nr. 25–33 von Reichswehrministerium / Chef der Heeresleitung, Nr. 1363. 4. 24. PA (2), Betrifft: Wahrung der Ehrenhaftigkeit in der Armee, vom 30.4.1924, BArch RH 12-2/22, fol. 555–560. Die Verordnung des Reichspräsidenten gem. § 47 Abs. 2 WG über die fristlose Kündigung des Dienstverhältnisses in der Wehrmacht vom 2.4.1921 (HVBl. 1921 S. 95) fügte dem § 21 Abs. 2 Nr. 2 WG einen Buchstaben e über die Entlassung wegen Unwürdigkeitshandlungen hinzu, der auch für Offiziere anwendbar war. Zur Wirksamkeit der Verordnung siehe die Inzidentprüfung im Urteil des Reichsgerichts vom 14.1.1927 – III 577/25 –, S. 6 (unveröffentlicht; in der Bibliothek des BGH verfügbar). Gesetz über die Versorgung der Angehörigen des Reichsheers und der Reichsmarine sowie ihrer Hinterbliebenen (Wehrmachtversorgungsgesetz) vom 4.8.1921, RGBl. 1921 S. 993–1020, geändert durch Gesetz vom 22.06.1923, RGBl. 1923 I S. 409 f., zuletzt geändert durch Gesetz vom 31.7.1925, RGBl. 1925 I S. 161–162, S. 349–362, S. 389 f. Reichsgericht, Urt. v. 14.1.1927 – III 577/25 – (unveröffentlicht; in der Bibliothek des BGH verfügbar). § 105 i.V.m. § 34 Abs. 3 Nr. 2 des Wehrmachtversorgungsgesetzes vom 4.8.1921, RGBl. 1921 S. 993–1020.
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VI. Ehrenschutz
Differenzierung erfolgte hinsichtlich der Frage, ob dem Entlassenen das Recht zum Tragen einer Uniform gewährt wurde. Hierüber entschied nach § 30 WG formell der Reichspräsident, der sich hierzu jedoch vom Reichswehrministerium den Vorgang mitsamt einer Stellungnahme kommen ließ. Meist reichte der verstoßene Offizier einen solchen Antrag zusammen mit dem Abschiedsgesuch ein. Einzig für den Entzug des Dienstgrads bot sich keinerlei Rechtsgrundlage mehr, so dass beispielsweise auch Ernst Röhm weiterhin den Dienstgrad eines Hauptmann a.D. führte. Zudem konnte der Beschuldigte auch schon während des Verfahrens vorläufig des Dienstes enthoben werden, was zudem zur Folge hatte, dass ein erheblicher Teil der Besoldung vorerst einbehalten wurde.89 Hatte das Wehrmachtdisziplinargesetz noch vorgesehen, dass sich der Beschuldigte in Unwürdigkeitsverfahren einen professionellen Anwalt zum Verteidiger wählen konnte, so standen ihm hier wie ehedem nur seine Kameraden Offiziere und damit juristische Laien zur Verfügung, auch wenn das Verfahren die Entlassung und damit die Entziehung der Lebensgrundlage zur Folge haben konnte. Das Staatsoberhaupt wiederum wachte nach Art. 46 WRV über die Entlassung der Offiziere: Nach § 26 Abs. 4 WG konnte der zu entlassende Offizier binnen Monatsfrist einen Einspruch gegen den Kündigungsbescheid beim Reichswehrminister erheben, auf dessen Gutachten der Reichpräsident endgültig entschied.90 Eine echte Berufungsinstanz gab es aber nicht. Mit den früheren Ehrengerichten war es doch aber beinahe genauso gewesen: Auch sie hatten ja im engeren Sinne nur die Letztentscheidung des Monarchen beratend vorbereitet.91 In gleich doppelter Hinsicht wich Seeckt zudem von der ursprünglichen Intention sowohl des Wehrmachtdisziplinargesetzes wie auch der Interimsverordnung Eberts ab: Erstens betonte der Erlass zwar, dass der »innere Wert eines Mannes […] nicht durch eine Sonderehre bestimmt oder gehoben [wird]. In diesem Sinne unterscheidet sich der Soldat nicht von jedem Ehrenmann. Wohl aber stellt der Soldatenberuf an seine Mitglieder besonders hohe Anforderungen, denen ein besonders hohes Ehrgefühl entsprechen muß. Dieses soldatische Ehrgefühl ist von jedem Soldaten in gleicher Weise zu fordern«. Der vordergründigen Egalisierung der Ehre – zumindest unter allen Angehörigen der Reichswehr – entsprachen jedoch nicht mehr die weiteren Bestimmungen, die Seeckt für die »Wahrung der Ehrenhaftigkeit« traf:92 89
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Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend einstweilige Dienstenthebung von Soldaten, vom 25.3.1921, HVBl. 1921 S. 104; Ergänzungsbestimmungen über die Gewährung der Besoldung an die Soldaten des Heeres unter besonderen Verhältnissen vom 30.5.1921, HVBl. 1921 S. 210–218; Neufassung vom 1.11.1923, HVBl. 1923 S. 578 ff. (für die Marine MVBl. 1923 S. 405 ff.); Änderung vom 8.3.1926, HVBl. 1926 S. 36; Neuausgabe vom 4.5.1928, HVBl. 1928 S. 51–55.; Änderung vom 14.8.1928, HVBl. 1928 S. 96; Neuausgabe vom 25.3.1931, HVBl. 1931 S. 77–84. Art. 46 WRV: »Der Reichspräsident ernennt und entläßt die Reichsbeamten und die Offiziere, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Er kann das Ernennungs- und Entlassungsrecht durch andere Behörden ausüben lassen.« Der entsprechende Zuständigkeitserlass des Reichspräsidenten vom 16.11.1919 ist abgedruckt bei Poetzsch-Heffter, Staatsleben, S. 136. Nr. 59 f. der Allerhöchsten Verordnung über die Ehrengerichte der Offiziere im Preußischen Heere (Ehr.V.) vom 2.5.1874 und Ergänzungsordre vom 1.1.1897 (Erg.O.), Neudruck 1910, D.V.E. Nr. 362. Die Vordergründigkeit erhellt sich besonders im Vergleich mit Spohn, Ratgeber, Teil 1, S. 9 f., der Inhaltsgleiches schon für die Ehre in der alten Armee postulierte.
4. Die »Wahrung der Ehrenhaftigkeit«
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»Ein Vorbild in allen soldatischen Tugenden soll der Offizier sein. Wenn ich die Erziehung der Unteroffiziere und Mannschaften zu wahrhafter soldatischer Ehrauffassung den Truppen-Vorgesetzten vertrauensvoll überlasse, so ist es meine Pflicht, für die Formen, in denen sich eine einheitliche Sicherung der Ehrbegriffe und der aus ihnen sich ergebenden Handlungen innerhalb des Offizierkorps zu bewegen hat, Bestimmungen zu treffen.«
Damit blieben sowohl die Zusammensetzung als auch die Tätigkeiten der Ehrenräte eine reine Offizierangelegenheit. Entsprechend erwähnen die überlieferten Akten über die Ehrenangelegenheiten der Reichswehr auch keine Fälle, die Mannschaften oder Unteroffiziere betrafen. Praktisch gesehen wurde hier also sehr wohl ein Unterschied zur Ehre des Offiziers gemacht. Alles andere hätte freilich auch nicht in Einklang mit den »für das alte Heer gültigen Grundsätzen« gestanden, die für die Reichswehr ja ungebrochen maßgeblich sein sollten. Zweitens sollten sich die Ehrenräte eben anders als die geplanten Wehrberufskammern nicht nur mit Unwürdigkeitshandlungen im engeren Sinne eines Kündigungsgrundes befassen. Vielmehr sollte ein Ehrenrat »jedes Mitglied des Offizierkorps, das sich in Ehrenfragen an ihn wendet, […] beraten«, also auch Ehrenhändel sowohl innerhalb des Offizierkorps als auch eines Offiziers mit »außenstehenden Persönlichkeiten« erledigen. Auch sollte ein Ehrenrat dem zuständigen Kommandeur Meldung erstatten, »sobald Handlungen oder Unterlassungen, durch welche die Ehre eines Offiziers Schaden leiden kann, zu seiner Kenntnis kommen«. Die »Wahrung der Ehrenhaftigkeit« bezog sich insofern also auf sehr viel mehr als nur die Entlassung ungeeigneten Personals. Auch für die Marine ergingen entsprechende Ehrenvorschriften, die sich – wie schon im Kaiserreich – unter Berücksichtigung der dortigen Verhältnisse ansonsten das Heer zum Vorbild nahmen.93 Mit ihnen kam unter anderen der spätere stellvertretende Reichsprotektor in Böhmen und Mähren in Berührung: Als junger Oberleutnant z. S. war Reinhard Heydrich amourös zweigleisig gefahren. Als er um die Jahreswende 1930/31 seine spätere Frau kennenlernte und wenig später um ihre Hand anhielt, besaß er den Charme, auch seiner Parallelgeliebten eine Verlobungsanzeige zu schicken, die sich selbst allerdings bereits als ihm versprochen betrachtete und daher einen Nervenzusammenbruch erlitt. Der Vater der kompromittierten Frau beschwerte sich daraufhin beim Chef der Marineleitung, Admiral Erich Raeder, und erwirkte so die Einleitung eines Ehrenratsverfahrens, dessen Akten jedoch nicht überliefert und womöglich in der NS-Zeit vernichtet worden sind. Zwar galt ein gebrochenes Eheversprechen durchaus als ehrenrührig, indes war nicht zu hundert Prozent klar, inwieweit Heydrich seiner Geliebten die Verehelichung wirklich in Aussicht gestellt hatte. Vor dem Ehrenrat wies er jede Schuld von sich, schob alles auf die gekränkte Frau und äußerte sich ziemlich unflätig über sie. Sein arrogantes Auftreten und die Unfähigkeit, sich sein Fehlverhalten einzugestehen, erzürnten die Mitglieder des Ehrenrats jedoch weit mehr als der ursprüngliche Anlass. Sie entschieden sich, die Sache zur Entscheidung an Raeder abzugeben, der Heydrich daraufhin 93
Chef der Marineleitung, MPA. 2300., Wahrung der Ehrenhaftigkeit (Artikel 2 und 13 der Berufspflichten des deutschen Soldaten.) vom 1.11.1929, BArch RH 1/11, fol. 135–146.
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VI. Ehrenschutz
am 30. April 1931 aus der Reichsmarine entließ; ein Gnadengesuch bei Reichspräsident v. Hindenburg blieb ohne Erfolg.94 Im Wesentlichen unverändert waren also auch die Themen, mit denen sich die Ehrenräte nach den überlieferten Akten befassten: Meistens war eine Frau in irgendeiner Form involviert. Entweder war sie beleidigt worden, oft schon durch lüsternes Gaffen oder aufreizendes Tanzen in Gesellschaft, oder aber der offene Umgang mit ihr war verpönt, sei es, dass der Offizier mit ihr in wilder Ehe lebte, sei es, dass sie einen schlechten Leumund hatte. Dagegen wandelten sich jedoch die Mittel, mit der ein Offizier seine Ehre verteidigte. Zwar beschäftigte sich der Reichstag beispielsweise noch 1922 mit dem Exzess des Grafen Kalckreuth, der sich als junger Fähnrich des 3. (Preußischen) Reiter-Regiments in einem Rathenower Kaffeehaus angepöbelt fühlte. Im Alkoholrausch eilte er in die Kaserne, seinen Revolver zu holen, drang nach Rückkehr gewaltsam in das bereits geschlossene Kaffeehaus ein und erschoss zu seiner Ehrenrettung einen völlig unbeteiligten Kaufmann und danach sich selbst.95 Das stark verkleinerte Heer der Republik hatte jedoch kein Interesse daran, seine gut und teuer ausgebildeten Offiziere in Ehrenhändeln zu verlieren. Obwohl die Sozialdemokraten bei den Beratungen zur MStGB-Novelle in Ende 1925 zugaben, »daß in den letzten Jahren im Heere nichts vorgekommen wäre, was jetzt eine Neuregelung der Bestimmungen über den Zweikampf gebieterisch verlange«, so müsse ihrer Ansicht nach »doch allgemein gegen das Duell Front gemacht werden und besonders gegen den Zweikampf im Heere, weil das Vorbild dieser Kreise im Ergebnis immer maßgebend gewesen sei für die Haltung des Bürgertums«.96 Jedoch konnte die vergleichsweise winzige Reichswehr ohne die Ausbildung neuer Reserveoffiziere und abgekoppelt von den zehntausenden alten (Reserve-)Offizieren nicht mehr annähernd so in die Gesellschaft hineinwirken wie einst.97 Desungeachtet machten die Sozialdemokraten und das Zentrum ihre Zustimmung zu dem Gesetzesvorhaben erfolgreich abhängig von zusätzlichen Strafvorschriften gegen das Duell, die anders als die bestehenden Vorschriften des RStGB über den Zweikampf nun durchgehend eine Bestrafung der Soldaten auch mit Gefängnis- statt lediglich mit ehrenvoller Festungshaft zuließen.98 Schon die bloße Frage nach der Haltung zum Duell anlässlich der Einstellung oder Beförderung wurde von nun an unter Strafe gestellt – schließlich hatte das Zentrum schon zu Kaisers Zeiten immer wieder entsprechende Ausfragungen katholischer Offizierbewerber im Reichstag thematisiert.99 Besonders die konservative und die deutschnationale Fraktion liefen gegen eine solche Sonder94 95 96 97
98 99
Gerwarth, Heydrich, S. 64 f. Verhandlungen des Reichstags, Band 353, S. 6278 f. und 6281. Bericht des 13. Ausschusses (Rechtspflege) vom 11.11.1925 über den Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des Militärstrafrechts, Reichstagsdrucksache 3/1639, S. 14. Frevert, Ehrenmänner, S. 313. So auch Reichswehrminister Geßler, Bericht des 13. Ausschusses (Rechtspflege) vom 11.11.1925 über den Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des Militärstrafrechts, Reichstagsdrucksache 3/1639, S. 15. Fünfzehnter Abschnitt »Zweikampf« des RStGB (§§ 201–210). Neuer Abschnitt VIa, §§ 112–112f MStGB, siehe Gesetz zur Vereinfachung des Militärstrafrechts vom 30.4.1926, RGBl. 1926 I S. 197–200.
4. Die »Wahrung der Ehrenhaftigkeit«
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regelung für Reichswehrangehörige Sturm.100 Der Reichspräsident – von Carl Schmitt später zum »Hüter der Verfassung« erhoben101 – maßte sich ein materielles Prüfungsrecht an und verweigerte die Ausfertigung des Gesetzes, nachdem es der Reichstag am 3. Februar 1926 verabschiedet hatte.102 Schon in einer Kabinettssitzung vom 16. Februar 1926 hatte Reichskanzler Marx betont, »dass für den Herrn Reichspräsidenten die Situation in der vorliegenden Frage schwerwiegender sei als die, die nach Locarno bestand« – schon Ende 1925 war Hindenburg durch sein eigenes deutschnationales Lager erheblich unter Feuer genommen worden, nachdem er die von Stresemann ausgehandelten Verträge zur Normalisierung der deutschen Außenpolitik unterstützt hatte. Der Reichspräsident schlug daher zunächst eine Verstärkung des Ehrenschutzes in den §§ 185–200 RStGB vor, etwa indem für die Verleumdung schwerere Strafen angedroht oder der Wahrheitsbeweis beschränkt würde, um dem Geschädigten eine Aufwühlung des Privatlebens zu ersparen.103 Diese Ideen griff auch der RStGB-Reformentwurf des Jahres 1927 auf, der jedoch bekanntermaßen nicht verwirklicht wurde.104 Besonders störte Hindenburg sich an dem neuen § 112f MStGB, wonach bei einer Bestrafung nach den neuen Zweikampfvorschriften zugleich zwingend auf Dienstentlassung zu erkennen war. Seiner Ansicht lag hier ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 109 Abs. 1 S. 1 WRV vor, da es »denselben Tatbestand, der bei Privatpersonen oder Staatsbeamten und Staatsangestellten nur zu einer Festungshaft führt, beim Offizier zum Anlaß der Dienstentlassung, d. h. des Existenzverlustes nimmt«.105 Das Kabinett Marx konnte die Verfassungskrise erst beenden und Hindenburg vom Rücktritt abhalten, als sie das an der Regierung beteiligte Zentrum nach zähen Verhandlungen zu einem weiteren »Gesetz über die Bestrafung des Zweikampfs« überredete, das der Reichspräsident dann direkt mit der MStGB-Novelle am 30. April 1926 ausfertigte. Dieses zweite Gesetz änderte den § 112f MStGB – noch bevor er in seiner ursprünglichen Fassung in Kraft treten konnte – dahingehend, dass die neuen Duellstraftaten außer in besonders schweren Fällen die Dienstentlassung nur noch zur Folge haben konnten und nicht mehr mussten. Zudem wurde dem RStGB ein § 210a hinzugefügt, wonach bei den entsprechenden allgemeinen Straftaten gegen den Zweikampf nun auch zivile Staatsdiener zusätzlich mit dem Verlust der bekleideten öffentlichen Ämter bestraft werden konnten.106 Ein 100 101 102 103 104 105 106
Bericht des 13. Ausschusses (Rechtspflege) vom 11.11.1925 über den Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des Militärstrafrechts, Reichstagsdrucksache 3/1639, S. 14–18. Schmitt, Hüter. Verhandlungen des Reichstags, Band 388, S. 5294. Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des Reichsministeriums: Duellfrage (außerhalb der Tagesordnung), vom 16.2.1926, BArch R 43-I/701, fol. 335. Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs vom 14.5.1927, Reichstagsdrucksachen 3/3390, S. 156 f. Schreiben des Reichspräsidenten Hindenburg an Reichsjustizminister Marx vom 26.3.1926, BArch R 43I/1218. Gesetz über die Bestrafung des Zweikampfs vom 30.4.1926, RGBl. 1926 I S. 201. Siehe hierzu auch Frevert, Ehrenmänner, S. 302, die davon ausgeht, dass die Umwandlung in eine Kann-Vorschrift aus Sicht Hindenburgs »nichts an der bisherigen Praxis« änderte und »der Armeeführung völlig freie Hand ließ«; hierbei übersieht sie jedoch, dass die Entscheidung über die Dienstentlassung in die Hände der zivilen, ordentlichen Gerichtsbarkeit gelegt war.
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VI. Ehrenschutz
bereits am 4. Februar 1926 im unmittelbaren Anschluss an die Verabschiedung der MStGB-Novelle vom Zentrumspolitiker Karl-Anton Schulte in den Reichstag eingebrachter Antrag, der die Reichsregierung ersuchte, »alsbald einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch den für alle im öffentlichen Dienst stehenden Personen die Herausforderung zum Zweikampf und die Annahme einer solchen Herausforderung als [zwingender] Grund der Entlassung bzw. fristlosen Lösung des bestehenden Vertragsverhältnisses bestimmt wird«, fand zwar die Mehrheit des Hohen Hauses, verhallte allerdings wirkungslos.107 Zwar ist für die gesamte Zeit der Republik kein einziger Fall eines Zweikampfes unter Beteiligung eines Reichswehroffiziers belegt. Indes blieb das Duell gewissermaßen ständig in gedanklicher Reserve. So hielt beispielsweise ein in München stationierter Oberleutnant des 19. (Bayerischen) Infanterie-Regiments am 13. November 1923 Rücksprache mit seinem Bataillonskommandeur, bevor er die Pistolenforderung eines am HitlerLudendorff-Putsch beteiligten Leutnants d. R. ausschlug, der bei seiner Festnahme den bayerischen Oberbefehlshaber v. Lossow beleidigt und sich dafür eine kräftige Ohrfeige samt Trommelfellriss eingehandelt hatte. Der Oberleutnant hielt es stattdessen für notwendig, dass gegen den Beleidiger »die gerichtliche Klage eingereicht wird«. In einer Stellungnahme an den Infanterieführer der 7. Division stimmte der Regimentskommandeur seinem Oberleutnant zu: »Die im gegebenen Augenblick sofort ergriffene Art der Züchtigung […] billige ich unter Berücksichtigung der Begleitumstände. Die Annahme der Pistolenforderung kommt nicht in Betracht, weil bei einem solchen Gebahren eines Offiziers der Reserve die Satisfaktionsfähigkeit fehlt.«108 Indem der Beleidiger ganz einfach für nichtsatisfaktionsfähig erklärt wurde, entkam man geschickt der Duellpflicht. Dass der Zweikampf gleichwohl in den Köpfen der Offiziere weiterhin präsent blieb, ging besonders aus der Neuauflage der »Wahrung der Ehrenhaftigkeit in der Armee« hervor, mit der Seeckt am 15. Mai 1926 auf die parlamentarischen Auseinandersetzungen über die Bestrafung des Zweikampfs gut zwei Wochen zuvor reagierte – während Geßler im Urlaub weilte. Zwar erwähnte die überarbeitete Vorschrift das Duell noch immer nicht ausdrücklich. Jedoch war jedem Offizier klar, worauf der Chef der Heeresleitung anspielte, als er die Einleitung um folgenden Passus ergänzte: »Durch die Pflicht und das Recht der Vorgesetzten, über die Ehre des Offizierkorps und seiner Mitglieder zu wachen, ist dem Einzelnen nicht die Pflicht und das Recht genommen, unter voller Berücksichtigung der im Offizierkorps herrschenden Auffassungen und nach Einholung des Rates älterer erfahrener und vom allgemeinen Vertrauen getragener Kameraden selbst der letzte Richter über seine eigene Ehre zu sein. Bei der Prüfung des zur Wahrung seiner Ehre einzuschlagenden Weges hat der Offizier die möglichen äußeren Nachteile abzuwägen und auf Grund dieser Überlegung seine Entscheidung zu treffen. Wer seine Ehre auch bis zu den letzten Folgerungen wahrt, wird die gesetzlichen Folgen tragen müssen, ohne damit der Achtung seiner Kameraden verlustig zu gehen.«109 107 108
109
Verhandlungen des Reichstags, Band 388, S. 5305. Abschrift des Schreibens des Oberleutnant Braun (19. Infanterie-Regiment) an seinen Bataillonskommandeur sowie dessen und des Regimentskommandeurs Stellungnahmen jeweils vom 13.11.1923, BArch RH 37/588. Reichswehrministerium / Chef der Heeresleitung, Nr. 500. 5. 26. PA (2), Betrifft: Wahrung der Ehrenhaftigkeit in der Armee, vom 15.5.1926, BArch RH 37/670.
4. Die »Wahrung der Ehrenhaftigkeit«
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Ganz dem überkommenem Antagonismus von liberalem Bürgerstaat und preußischem Soldatenstaat folgend ersetzte Seeckt hier für das Offizierkorps der Reichswehr die rule of law durch einen cult of honour. In scharfer Missachtung der parlamentarischen Entscheidung zwei Wochen zuvor wies er die Offiziere an, die Ehre im Zweifel auch über das Recht zu stellen. Der Aufruf, zur Wahrung der Ehrenhaftigkeit den Gesetzesbruch unter Umständen billigend in Kauf zu nehmen, folgte wieder einmal der Logik einer militärischen Metalegitimität. Außerdem erhielten die Bestimmungen über das Verfahren zwischen Offizieren und Zivilpersonen einen wichtigen Zusatz. Schon früher hieß es für den Fall, dass ein Ausgleichsversuch des Ehrenrats scheiterte, reichlich insinuativ: »Die weiteren Schritte bleiben dann dem Offizier überlassen«. Sehr erhellend war aber der folgende neue Zusatz: »Im Anschluß hieran ist zu prüfen, ob ein Unwürdigkeitsverfahren gegen den beteiligten Offizier notwendig wird.« Damit war nun klipp und klar gesagt, dass dem Offizier wie ehedem die Entlassung drohte, wenn er bei der Verteidigung seiner Ehre versagte. Geßler konfrontierte Seeckt hiermit jedoch erst in einer letzten Aussprache am 5. Oktober, bei der sich bereits die Entlassung des Chefs der Heeresleitung aus Anlass der »Kronprinzenaffäre« anbahnte. Dabei verweigerte Seeckt die eigenhändige Aufhebung seines Erlasses, da er nach seiner Ansicht die Standesauffassungen der Armee zu wahren habe und sich insofern einig mit dem Offizierkorps sah. Für den Fall, dass der Reichswehrminister das vor dem Reichstag nicht decken könne, drohte er mit einem Konflikt mit der Armee. Zwar stellte der Reichswehrminister später in seinen Memoiren zutreffend fest, dass er für die Streichung der entsprechenden Passagen nicht der Gegenzeichnung Seeckts bedurfte.110 Sie wurden allerdings erst unter Geßlers Nachfolger Groener am 15. September 1929 in der letzten während der Republik ergangenen Novelle der Vorschrift durch den neuen Chef der Heeresleitung Heye gestrichen. Von nun an galt für den Offizier: »Mit allen gesetzlichen Mitteln muß er die Reinheit seiner Ehre und seines Hauses wahren oder wiederherstellen«.111 Dass die neue Einleitung sich auch nicht mehr ausdrücklich auf die Ehrenvorstellungen der alten Armee berief, sollte allerdings wohl keinen entsprechenden Wandel ankündigen: Immerhin konnte die Reichswehr zu diesem Zeitpunkt bereits selbst auf eine über zehnjährige Geschichte mitsamt einer gefestigten Praxis in Ehrensachen zurückblicken. Zumindest aber lassen sich in den spärlich erhaltenen Akten keine Fälle finden, in denen ein Ehrenrat erkennbar zum Zweikampf riet oder wegen dessen Verweigerung auf Unwürdigkeit plädierte. Auch wenn überproportional viele Akten der in Bayern stationierten Reichswehrtruppenteile vom Zweiten Weltkrieg verschont worden sind und das Duell traditionell in der bayerischen Gesellschaft weniger als im übrigen Reich gepflegt wurde, so nahm es zumindest in der alten bayerischen Armee einen durchaus vergleichbaren Stellenwert ein, so dass dieser Befund nicht notwendig atypisch für die gesamte Reichswehr sein muss.112 110 111 112
Geßler, Reichswehrpolitik, S. 304; siehe auch Rabenau, Seeckt, S. 545; ebenso Schüddekopf, Heer, S. 216. Chef der Heeresleitung, Nr. 500. 9. 29. PA (2), Wahrung der Ehrenhaftigkeit (Artikel 2 und 13 der Berufspflichten des deutschen Soldaten.), vom 15.9.1929, IfZ Da 034.063 (Hervorhebungen im Original gesperrt). Zum Duell in Bayern siehe Frevert, Ehrenmänner, S. 129–131 und 139.
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VI. Ehrenschutz
Statt auf Zweikämpfe scheint das Offizierkorps der Reichswehr zunehmend auf die Beschreitung des gerichtlichen Weges gesetzt zu haben, wie es beispielsweise der schon genannte Oberleutnant des 19. (Bayerischen) Infanterie-Regiments in seiner Ehrenangelegenheit in Zusammenhang mit dem Hitler-Ludendorff-Putsch beantragte. Anders als die Beleidigung Vorgesetzter (§ 91 MStGB), die wie jedes Delikt des MStGB von Amts wegen zu verfolgen war (§ 51 MStGB), wurden die allgemeinen Beleidigungsdelikte (§§ 185–187 RStGB) nur auf Antrag verfolgt (§ 194 Abs. 1 RStGB). Diesen konnte jedoch nicht nur der Beleidigte stellen: Nach § 196 RStGB waren auch die militärischen Vorgesetzten antragsberechtigt, wenn sich die Beleidigung entweder gegen »ein Mitglied der bewaffneten Macht« richtete, während es in der Ausübung seines Berufes begriffen war, oder aber die Beleidigung in Beziehung auf den Beruf begangen worden war.113 In gleichem Umfang konnten sowohl der beleidigte Reichswehrangehörige als auch seine Vorgesetzten den Privatklageweg beschreiten (§ 414 Abs. 1 und 2 RStPO). Förderlich mag hierbei auch die damals vorherrschende Auslegung der Beleidigungsdelikte gewesen sein, die zum einen erst langsam Rücksicht auf die inzwischen verfassungsrechtlich garantierte Meinungs-, Presse- sowie Kunstfreiheit nahm (und immer noch sehr viel weniger als das heute der Fall ist), zum anderen die Strafbarkeit der Kollektivbeleidigungen ausdehnte. Der Trend zum gerichtlichen Ehrenschutz kündigte sich bereits mit dem aufsehenerregenden Prozess an, den die Reichswehr 1920/21 gegen eine Gruppe von Dadaisten anstrengte. Im Zentrum der Vorwürfe standen eine Graphikmappe »Gott mit uns« von George Grosz sowie die Installation »Preußischer Erzengel« von Rudolf Schlichter und John Heartfield, die aus einer hängende Soldatenpuppe mit Schweinekopf bestand.114 Beide Kunstwerke waren auf der Ersten Internationalen Dada-Messe von Ende Juni bis Ende August 1920 in Berlin gezeigt worden und hatten ein breites Echo in der Presse hervorgerufen. Bereits im September/Oktober kam es zu ersten Beschlagnahmungen. Unklar ist bis heute – da die Prozessakten verschollen sind – wer genau Anzeige erstattete und Strafantrag stellte. Klar ist aber, dass das gesamte Verfahren vom Reichswehrministerium sorgfältig begleitet wurde. Die Richter schlossen sich dem wohlwollenden Gutachten des Reichskunstwartes Erwin Redslob nicht an, wonach die Kunstwerke das Maß der zulässigen Satire nicht überschritten hätten. Am 20. April 1921 verurteilte die 1. Strafkammer des Landgerichts II Berlin wegen Beleidigung der Reichswehr Grosz zu 300 Mark und seinen mitangeklagten Verleger Wieland Herzfelde zu 600 Mark, was in etwa der heutigen Kaufkraft von 600 bzw. 1200 Euro entspricht.115 Dieses Urteil, das die individuelle Kunst- und Meinungsfreiheit der kollektiven Soldatenehre unterordnete, stellte aber auch insofern eine Besonderheit dar, als nach der damals weitgehend unangefochtenen Lesart des RStGB – beeinflusst von der preußischen Tradition – grundsätzlich nur Einzelpersonen beleidigungsfähig waren. Die Beleidigung einer Personenmehrheit als solcher im Sinne einer echten Kollek113 114 115
Dem entspricht der heutige § 194 Abs. 3 StGB. Weck, Dada, S. 1929 f. Eine Rekonstruktion des Prozesses aufgrund von Zeitungsberichten etc. findet sich bei Neugebauer von der Schulenburg, Grosz, S. 73–78.
4. Die »Wahrung der Ehrenhaftigkeit«
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tivbeleidigung – im Unterschied zur Beleidigung Einzelner unter einer Kollektivbezeichnung – war aufgrund des systematischen Zusammenhangs mit den Strafantragsvorschriften der §§ 196, 197 RStGB nur für die dort genannten Behörden und Körperschaften wirklich anerkannt. So hatte nach § 196 RStGB bei Beleidigungen »gegen eine Behörde, einen Beamten, einen Religionsdiener oder ein Mitglied der bewaffneten Macht, während sie in der Ausübung ihres Berufes begriffen sind, oder in Beziehung auf ihren Beruf« auch die jeweiligen amtlichen Vorgesetzten das Recht, den Strafantrag zu stellen. Hieraus folgerten Rechtsprechung und Lehre, dass auch die bewaffnete Macht als solche – die Reichswehr – beleidigungsfähig war.116 Erst mit dem Nationalsozialismus vollzog sich hier eine allgemeine Kehrtwende, die – trotz allen Einschränkungen – zumindest prinzipiell bis heute gültig ist und auch sonstige (private) Personengemeinschaften und Institutionen für grundsätzlich beleidigungsfähig hält.117 Ebenso bestraft werden konnte aber damals schon die von der echten Kollektivbeleidigung abzugrenzende Beleidigung konkreter Personen unter Benutzung einer Kollektivbezeichnung, wie sie das Reichsgericht bereits früh in einem Urteil vom 7. Januar 1881 für das Offizierkorps einer Garnison anerkannt hatte.118 Umgekehrt sprach das Amtsgericht Charlottenburg (Schöffengericht) in diesem Zusammenhang Carl v. Ossietzky am 1. Juli 1932 als verantwortlichen Chefredakteur der Wochenzeitschrift »Die Weltbühne« von der Anklage der Beleidigung frei, die die Staatsanwaltschaft wegen eines dort von Kurt Tucholsky unter Pseudonym veröffentlichten Artikels erhoben hatte. In ihm stand der bis heute berühmt-berüchtigte Satz: »Soldaten sind Mörder.«119 Für das Gericht war zwar klar, dass damit die Gesamtheit des Soldatenstandes getroffen war. Jedoch konnte es nicht erkennen, dass speziell die Reichswehr als Institutuon oder etwa die der Reichswehr noch angehörigen Weltkriegskämpfer oder aber eine sonstwie näher gekennzeichnete, konkrete Gruppe oder Art von Soldaten beleidigt worden war, wie es der Beleidigungstatbestand verlangt.120 Nachdem die Staatsanwaltschaft schon Schwierigkeiten gehabt hatte, den Beschluss zur Eröffnung der Hauptverhandlung in erster Instanz zu erwirken, beantragte sie gleichwohl die Revision beim Kammergericht. Doch auch dort war man der Auffassung, dass in dem Ausspruch lediglich eine »zusammenfassende Verunglimpfung der Soldaten aller Nationen« lag, die eine »greifbare Beziehung zu den Angehörigen der deutschen Wehrmacht überhaupt wie zu den Kriegsteilnehmern unter ihnen« missen ließ. Die Aussage habe sich gegen eine unüberschaubare Personenmehrheit gerichtet, so dass in der Gesamtbezeichnung der Soldaten keine hinreichend erkennbare Beziehung zu bestimmten Einzelpersonen mehr erblickt werden könne.121 116 117 118 119 120 121
Dasselbe gilt aufgrund der entsprechenden heutigen Vorschrift des § 194 Abs. 3 StGB auch für die Bundeswehr, siehe BGHSt 36, 83–91 (88). RGSt 70, 43; Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder, Vorbem. zu den §§ 185 ff., Rn. 3. RGSt 3, 246. Tucholsky, Kriegsschauplatz, S. 347 f. (348). Perger, Ehrenschutz, S. 118–120. Kammergericht, Urt. v. 17.11.1932 – 2 S 686/32 –, wiedergegeben mit einer scharfen Urteilskritik bei JW 1933, S. 972–974.
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VI. Ehrenschutz
Diese gerichtlichen Entscheidungen waren Wasser auf den Mühlen all derjenigen, die seit längerem für einen besseren strafrechtlichen Ehrenschutz kämpften. Schon die zur Zeit des zweiten Kabinetts Brüning nach Art. 48 Abs. 2 WRV erlassene »Vierte Notverordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens« vom 8. Dezember 1931 hatte ein Kapitel III über die »Verstärkung des Ehrenschutzes« enthalten, wonach für einzelne Beleidigungshandlungen im politischen Meinungskampf die Strafen geschärft und der Umfang der Beweisaufnahme ins alleinige Ermessen des erkennenden Gerichts gestellt wurde, »ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein«.122 Nun aber zog das Präsidialkabinett Schleicher sehr viel weiterreichende Konsequenzen: Die Notverordnung »zur Erhaltung des inneren Friedens« vom 19. Dezember 1932 fügte dem RStGB einen § 134a hinzu, wonach fortan zwingend mit Gefängnis bestraft wurde, wer »öffentlich […] die deutsche Wehrmacht beschimpft oder böswillig und mit Überlegung verächtlich« machte.123 Trotz faktischer Aufrechterhaltung der Ehrengerichtsbarkeit wandelten sich damit zumindest die Mittel zur Verteidigung der Ehre nicht unerheblich. Doch wie beim Duell hatte der Offizier auch hier keinen Schritt zu unternehmen, ohne sich zuvor an Ehrenrat und Kommandeur gewandt zu haben, die – wenn ein förmlicher Ausgleich nicht möglich schien – entweder selbst den dienstlichen Strafantrag in die Wege leiteten, eine private Verfolgung anheimstellten oder aber hiervon ganz abrieten. Im Ergebnis hatte die Reichswehr die Forderungen der Revolutionen von 1848/49 sowie von 1918/19 erfolgreich konterkariert. Die Ehrengerichte wurden nicht wie gefordert abgeschafft, sondern allenfalls weiterentwickelt. Nicht durch Gesetz oder Militärverordnung des Reichspräsidenten, sondern auf dem schlichten Erlasswege durchbrach Seeckt das Verfassungsrecht. Auch wenn die Unwürdigkeitsverfahren der Reichswehr damit formell auf einem noch schwächeren Fundament standen, als es die frühere Ehrengerichtsordnung des Kaisers geboten hatte, blieben sie eine feste, ja sogar Zug um Zug erweiterte und ausgebaute Institution. Mit seiner »Wahrung der Ehrenhaftigkeit in der Armee« feierte Seeckt seinen womöglich größten und für die innere Konstitution der Reichswehr nachhaltigsten Sieg über das Parlament. Auch auf diesem Feld schlug der preußische Soldatenstaat noch einmal den liberalen Gesetzgebungsstaat.
122 123
RGBl. 1931 I S. 699–745 (743). RGBl. 1932 I S. 548–550.
VII. RECHTSSCHUTZ Nach alledem stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln der Soldat die ihm zustehenden Rechtspositionen im Streitfall behaupten konnte. Hierbei hatte er im Wesentlichen zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Neben dem erstmals für vermögensrechtliche Klagen aus dem Dienstverhältnis gewährten ordentlichen Rechtsweg stand dem Soldaten darüber hinaus noch der ältere, zwar nichtgerichtliche, dafür aber in sehr viel umfassenderem Sinne statthafte Rechtsbehelf der Beschwerde zu.
1. Die Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Rechtsweggarantie durch das Wehrgesetz In engem Zusammenhang mit dem Besoldungsrecht ergab sich eine weitere Neuerung für die Rechtsstellung des Reichswehrsoldaten von Verfassung wegen aus Art. 129 Abs. 4 WRV, der »besonders auch den Berufssoldaten« den ordentlichen Rechtsweg für ihre »vermögensrechtlichen Ansprüche« eröffnete.1 Das war nämlich nach dem bisherigen Besoldungsrecht ausdrücklich ausgeschlossen gewesen.2 Da es sich ja nun um eine Berufsarmee handelte, entfaltete die neue Bestimmung Wirksamkeit für alle Soldaten. Das Nähere wurde durch § 32 WG geregelt: »(1) Für vermögensrechtliche Ansprüche aus dem Dienstverhältnis steht der ordentliche Rechtsweg offen. (2) Der Klage gegen das Reich muß die Entscheidung des Reichswehrministers vorangehen. Die Klage muß bei Verlust des Klagerechts innerhalb einer Frist von sechs Monaten angebracht werden, nachdem die Entscheidung des Reichswehrministers dem Beteiligten bekanntgemacht worden ist. (3) Hat eine dem Reichswehrminister nachgeordnete Dienststelle Entscheidung getroffen, so tritt der Verlust des Klagerechts auch dann ein, wenn nicht der Beteiligte gegen diese Entscheidung binnen gleicher Frist die Beschwerde an den Reichswehrminister erhoben hat. (4) Der Reichsfiskus wird durch die für den Standort zuständige Intendantur, nach Beendigung des Dienstverhältnisses durch die für den letzten Standort zuständige Intendantur des Beteiligten vertreten. Steht oder stand der Kläger unmittelbar unter dem Reichswehrminister, dem Chef der Heeresleitung oder dem Chef der Marineleitung, so wird der Reichsfiskus durch den Reichswehrminister vertreten. (5) Zuständig sind die Landgerichte ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes. Die Verhandlung und Entscheidung in letzter Instanz wird im Sinne des § 8 Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetze dem Reichsgerichte zugewiesen. (6) Die Entscheidung der militärischen Dienststellen darüber, ob Dienstunbrauchbarkeit oder mangelnde Befähigung im Sinne des § 21 Nr. 1 a und b und des § 26 a und b vorliegt, ob die 1 2
Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 129 Anm. 6. § 23 Abs. 1 und § 27 Abs. 1 des Reichsbesoldungsgesetzes vom 15.7.1909, RGBl. 1909 S. 573–660.
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VII. Rechtsschutz Voraussetzungen zur vorläufigen Dienstenthebung vorliegen sowie darüber, ob und wie lange ein Soldat nach Ablauf der Dienstverpflichtung im Dienste zurückzubehalten ist, sind für die Gerichte bindend.«
Während der Rechtsweg für vermögensrechtliche Ansprüche aus dem Dienstverhältnis damit bereits durch die Verfassung eröffnet war, ergab sich aus § 32 Abs. 1 WG – anders als bei den Reichsbeamten3 – umgekehrt auch die Möglichkeit des Reiches, ebensolche Ansprüche gegen einen Soldaten vor den ordentlichen Gerichten geltend zu machen.4 Die verfassungsrechtliche Verankerung der Rechtsweggarantie im Entwurf des Verfassungsausschusses – zunächst nur für Beamte vorgesehen – ging auf einen entsprechenden Antrag des Zentrumspolitikers Peter Spahn zurück;5 der Erstentwurf sah eine entsprechende Regelung sogar nur für Richter vor.6 Konrad Beyerle (Zentrum) regte schließlich kurz vor Abschluss der Ausschussberatungen erfolgreich an, die Rechtsweggarantie neben den Beamten auch allen Soldaten – und nicht etwa nur den Offizieren, wie teils zuvor angedacht worden war7 – zukommen zu lassen.8 Dabei handelte es sich um ein wehrrechtliches Novum, da es im Kaiserreich für Soldaten überhaupt keinen Rechtsweg für vermögensrechtliche Ansprüche aus dem Dienstverhältnis gegeben hatte.9 Den ordentlichen Rechtsweg konnte der Soldat jedoch nach § 32 Abs. 2 und 3 WG nur subsidiär beschreiten, wenn er zuvor den Beschwerdeweg bis zum Reichswehrminister erschöpft hatte. Die Monatsfrist begann nur zu laufen, wenn der Soldat gem. § 40 Abs. 1 WG bei Erhalt des Bescheids oder Beschwerdebescheids über sein Beschwerde- bzw. Klagerecht belehrt worden war.10 Die Belehrung war nach § 40 Abs. 2 WG ebenfalls unwirksam, wenn dem »Klageberechtigten […] bei Zustellung der Entscheidung des Reichswehrministers« nicht mitgeteilt worden war, »wer den Reichsfiskus im Falle der Klageerhebung vertritt«. Bei der einfachgesetzlichen Ausgestaltung der Rechtsweggarantie ist aber vor allem bemerkenswert, dass nach § 32 Abs. 6 WG wichtige Entlassungsgründe, nämlich die Tatbestände der Dienstunbrauchbarkeit und der mangelnden Befähigung (§ 21 Abs. 2 Nr. 1 Buchstaben a und b und § 26 Abs. 1 Buchstaben a und b WG), aber auch die Voraussetzungen zur vorläufigen Dienstenthebung11 sowie, ob und wie lange ein Soldat nach Ablauf der Verpflichtungszeit im Dienst zurückbehalten wurde, der gerichtlichen Nachprüfbarkeit entzogen waren. 3 4 5 6 7 8 9 10 11
Siehe § 149 des Gesetzes, betreffend die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten (Reichsbeamtengesetz) vom 31.3.1873, RGBl. 1873 S. 61–90. Semler, WG-Kommentar, S. 95. Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 353 f. Nationalversammlungsdrucksache 59, S. 57. Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 382. Nationalversammlungsdrucksache 391, S. 508 f.; Nationalversammlungsdrucksache 301. Seidenberg, Rechtsstellung, S. 26. Semler, Wehrgesetz, S. 97. Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend einstweilige Dienstenthebung von Soldaten, vom 25.3.1921, HVBl. 1921 S. 104. Bei Dienstenthebung anlässlich eines Unwürdigkeitsverfahrens wurde ein erheblicher Teil der Besoldung einbehalten, siehe die Ergänzungsbestimmungen über die Gewährung der Besoldung an die Soldaten des Heeres unter besonderen Verhältnissen vom 30.5.1921, HVBl. 1921 S. 210–218; Neufassung vom 1.11.1923, HVBl. 1923 S. 578 ff. (für die Marine MVBl. 1923 S. 405 ff.); Änderung vom 8.3.1926, HVBl. 1926 S. 36; Neuausgabe vom 4.5.1928, HVBl. 1928 S. 51–55; Änderung vom 14.8.1928, HVBl. 1928 S. 96;
1. Rechtsweggarantie durch das Wehrgesetz
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Gegen diese vom zuständigen Militärarzt oder Vorgesetzten festgestellten Kündigungs- und Entlassungsgründe stand dem Soldaten lediglich der Rechtsbehelf des Einspruchs zur Verfügung (§ 22 und § 26 Abs. 4 WG).12 Genauso wie es keine »Klage auf Einstellung oder Wiedereinstellung, auf Entlassung, auf Beförderung, auf Belassung in einer bestimmten Dienststelle, auf Urlaubserteilung usw.« gab, so sollte der Soldat nach dem Konzept des Wehrgesetzes regelmäßig nicht gerichtlich gegen die seine Kündigung und Entlassung tragenden Gründe vorgehen können.13 Allein die fristlosen Kündigungsgründe nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 WG waren von dieser Ausnahme nicht erfasst, allerdings handelte es sich hier (mit Ausnahme von Buchstabe a14) um Entlassungsgründe, die ihrerseits auf rechtskräftigen Urteilen beruhten. Jedoch tat sich eine weitere, wenn auch ungeplante Lücke bei der Entlassung aufgrund von »Unwürdigkeitshandlungen« auf, die sich bei Offizieren an das bereits im Vorkapitel beschriebene Ehrenratsverfahren anschließen konnte und daher eng mit diesen in Zusammenhang stehen. Diese Lücke nutzte das Reichsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 1927 zu einer richterlichen Kontrolle dieses Kündigungsgrundes.15 In dem Verfahren klagte ein entlassener Soldat im nunmehr eröffneten ordentlichen Rechtsweg auf Zahlung seiner Versorgungsansprüche, die ihm in Anwendung des Wehrmachtversorgungsgesetzes aufgrund der von der Reichswehr behaupteten Unwürdigkeitshandlungen vorenthalten blieben.16 Die Möglichkeit zur gerichtlichen Kontrolle ergab sich folgendermaßen: Nach der ursprünglichen Intention des Wehrgesetzes hatten ja Wehrberufskammern in förmlichen Disziplinarverfahren über Entlassungen wegen unwürdigen Verhaltens entscheiden sollen. Dem Entwurf des entsprechenden Wehrmachtdisziplinargesetzes zufolge wären diese Urteile auch mit materieller Rechtskraft ausgestattet gewesen und hätten damit die ordentlichen Gerichte gebunden.17 Da das Gesetz bekanntlich scheiterte, blieb es auf Dauer bei der bereits beschriebenen Interimslösung, dass nach der gemäß § 47 Abs. 2 WG erlassenen Verordnung des Reichspräsidenten die militärischen Vorgesetzten die Unwürdigkeitshandlungen – bei Offizieren nach vorherigem Ehrenratsverfahren – feststellten.18 Diese Entscheidungen waren allerdings nach dem Wehr-
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Neuausgabe vom 25.3.1931, HVBl. 1931 S. 77–84. Zur disziplinaren Maßnahme der vorläufigen Dienstenthebung siehe auch Kapitel V.2., zur Bedeutung im Unwürdigkeitsverfahren Kapitel VI.4. Über dieses Recht war der Soldat nach § 40 Abs. 1 WG zwingend zu belehren, um die Monatsfrist für diesen Rechtsbehelf in Gang zu setzen, siehe Semler, WG-Kommentar, S. 97. Semler, WG-Kommentar, S. 96. Der Entlassungsgrund des § 21 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe a WG war gegeben, »wenn sich herausstellt, daß der Verpflichtete zu den Personen gehört, die nach den Gesetzen und Ausführungsbestimmungen nicht in die Wehrmacht eingestellt werden dürfen«. Reichsgericht, Urt. v. 14.1.1927 – III 577/25 – (unveröffentlicht; in der Bibliothek des BGH verfügbar). Siehe §§ 1, 3 und für Offiziere §§ 31, 34 des Gesetzes über die Versorgung der Angehörigen des Reichsheers und der Reichsmarine sowie ihrer Hinterbliebenen (Wehrmachtversorgungsgesetz) vom 4.8.1921, RGBl. 1921,S. 993–1020, geändert durch Gesetz vom 22.06.1923, RGBl. 1923 I S. 409 f., zuletzt geändert durch Gesetz vom 31.7.1925, RGBl. 1925 I S. 161–162, S. 349–362, S. 389 f. § 56 des Entwurfs eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht vom 30.5.1922, Reichstagsdrucksache 1/4443. Siehe hierzu vertiefend Kapitel VI.3. § 47 Abs. 2 WG i.V.m. der Verordnung des Reichspräsidenten über die fristlose Kündigung des Dienstverhältnisses in der Wehrmacht vom 2.4.1921, HVBl. 1921 S. 95.
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VII. Rechtsschutz
gesetz nicht ausdrücklich der richterlichen Kontrolle entzogen. Nach Auffassung des Berufungsgerichts, des Oberlandesgerichts Breslau, hatte »dies auch seinen Grund, denn den Entscheidungen der Wehrberufskammern gehe ein geordnetes Verfahren voraus, während vor ihrer Bildung die Entlassung nur auf dem Verwaltungswege aus der Entscheidung des Reichswehrministers heraus zu erfolgen habe. In die militärische Befehlsgewalt würde damit nicht eingegriffen, denn Kündigung und Entlassung blieben bestehen.« Nach der Revisionsbegründung des Reichs sei auch für »die Übergangszeit […] der Gedanke der endgültigen Entscheidung durch die Wehrberufskammer gültig, deren Spruch für die Gerichte bindend sei. Die aus der Eigenart des militärischen Dienstverhältnisses heraus zu prüfenden Gründe eigneten sich nicht zu einer Beurteilung durch die Gerichte. Unwürdigkeitshandlung sei ein militärischer Begriff, nicht einer der bürgerlichen Moral.«19 Doch dieser bereits bekannten Logik einer militärischen Sonderlegalität in Abgrenzung zu Liberalismus und Bürgerstaat wollte das Reichsgericht nicht folgen. »Ein Unterschied zwischen einer bürgerlichen und einer militärischen Moral ist weder mit der Einrichtung, noch mit der Stellung der Wehrmacht, wie sie das Reichswehrgesetz regelt, zu vereinbaren, noch aus irgend einem anderen Grunde gerechtfertigt.«20 Da die Revision auch keinen Rechtsirrtum darin erkannte, wie die Berufungsentscheidung die in Hinblick auf das Vorliegen von Unwürdigkeitshandlungen erhobenen Beweise gewürdigt hatte, hielt sie das Urteil des Oberlandesgerichts Breslau aufrecht. Damit war die Kündigung zwar nicht rückgängig gemacht, jedoch musste das Reich dem ehemaligen Leutnant vom Zeitpunkt seiner Entlassung (1. Februar 1922) rückwirkend bis zum Ablauf seiner ursprünglichen, nun fiktiven fünfundzwanzigjährigen Dienstzeit (also vermutlich bis etwa Anfang der 1940er Jahre) sein Gehalt weiter auszahlen. Diese ungeplante Regelungslücke schlossen erst die Nationalsozialisten mit dem zweiten Gesetz zur Änderung des Wehrgesetzes vom 20. Juli 1933 – zulasten der Soldaten.21 Bei der materiellen Präklusion von Entlassungsgründen muss man sich insbesondere den recht offenen Tatbestand der mangelnden Befähigung vor Augen führen, bei dem es nach dem Wortlaut des Gesetzes nur darauf ankam, ob der Soldat »nach dem Urteil seiner Vorgesetzten die für seine dienstliche Verwendung nötige Befähigung nicht mehr besitzt«.22 Ein derartiger Beendigungsgrund für das Dienstverhältnis war dem Beamtenrecht unbekannt. Nach dem einflussreichen Wehrgesetzkommentar Semlers war diese Abweichung »den Eigentümlichkeiten des Militärdienstes« 19 20
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Reichsgericht, Urt. v. 14.1.1927 – III 577/25 –, S. 2 f. (unveröffentlicht; in der Bibliothek des BGH verfügbar). Reichsgericht, Urt. v. 14.1.1927 – III 577/25 –, S. 7 (unveröffentlicht; in der Bibliothek des BGH verfügbar). Weiter heißt es: »Zuzugeben ist, daß an den Soldaten besondere, durch den Beruf bedingte Anforderungen zu stellen sind, nach denen seine Führung und sein Verhalten in und außer Dienst sich zu richten hat. Dies gilt aber in gleichem Maße für jeden anderen Stand und Beruf, insbesondere für den der Beamten, dem der des Soldaten am nächsten steht. Je nach Art der Tätigkeit und der besonderen Stellung in einem bestimmten Berufe werden sich in allen Fällen verschiedene Anforderungen an den Träger einer Stellung ergeben. Warum die ordentlichen Gerichte zu ihrer Beurteilung wohl in den übrigen, aber dann nicht in der Lage und geeignet sein sollen, wenn es sich um die besonderen Verhältnisse des Soldatenberufes handelt, ist nicht einzusehen.« RGBl. 1933 I S. 526 f. (527). § 21 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b und § 26 Abs. 1 Buchstabe b WG.
1. Rechtsweggarantie durch das Wehrgesetz
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geschuldet: »Bestand und Sicherheit des Staates sind von der Tüchtigkeit des einzelnen in der bewaffneten Macht in ungleich höherem Maße abhängig, als im Beamtenkörper. Den Soldaten können mithin nicht die gleichen Rechtsgarantien gegeben werden, wie den Beamten. Die Staatsinteressen müssen hier den persönlichen vorgehen.«23 Es ist bemerkenswert, wie unverhohlen Semler und damit mittelbar das Reichswehrministerium24 hier die Reichswehrsoldaten als wesentliche Träger eines hegelianisch-überhöhten Staates25 verstanden und damit wiederum die besondere Einschränkung ihrer Rechte begründeten.26 Der Staat erschien ihnen wohl in erster Linie nicht als Garant menschlicher Freiheit, sondern als abstrakter Zweck an sich, dem der Mensch zu dienen habe. Als Konsequenz dieser Regelungen ergab sich auch, dass der Reichswehrsoldat in seiner wirtschaftlichen Lebensgrundlage nicht ganz unerheblich von Gutdünken und Wohlwollen seiner Vorgesetzten abhängig war. Diese Gefahr sah auch der kommunistische Abgeordnete Wilhelm Koenen im Zuge der Wehrgesetzberatungen: »[Der Soldat] weiß nie, wie seine wirtschaftliche und soziale Lage sich in den nächsten zwölf Jahren gestalten wird. Denn es heißt in dem Gesetzesvorschlag, daß nach dem Urteil seiner Vorgesetzten über die für seine dienstliche Verwendung nötige Eignung entschieden wird, und wenn er die nicht mehr besitzt, so kann er gekündigt werden. Diese Bestimmung entzieht dem Soldaten jede wirtschaftliche Existenzgrundlage. Keiner weiß, ob es nicht vielleicht morgen oder übermorgen diesem oder jenem Vorgesetzten einfällt, zu erklären, daß ein Soldat ihm nicht mehr gefällt, ihm unangenehm, ihm unsympathisch ist, und kein Soldat weiß, wann er eines Tages die Erklärung erhält, daß er nicht mehr für die ›dienstliche Verwendung‹ die nötige ›Eignung‹ besitze. Darüber hat nur der Vorgesetzte zu entscheiden. Wenn der Vorgesetzte das erklärt, ist der Mann entlassen, und er muß sehen, wie er sich weiter durchs Leben schlägt.«27
Die starke Autonomie der Reichswehrführung bei ihrer Personalpolitik wurde durch dieses System zusätzlich abgesichert, wenn auch das Wehrgesetz die Zahl der Entlassungen in Umsetzung des Friedensvertrags bekanntlich stark beschränkte28. Nicht zuletzt liegt die Vermutung nahe, dass hierdurch eher angepasste als starke Charaktere begünstigt wurden. Von der Möglichkeit abgesehen, seine Besoldung einzuklagen und das Vorliegen von Unwürdigkeitshandlungen anzugreifen, konnte der 23 24 25
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Semler, WG-Kommentar, S. 70. Paul Semler war Ministerialrat im Reichswehrministerium. Siehe nur Hegel, Grundlinien, § 257: »Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee – der sittliche Geist, als der offenbare, sich selbst deutliche, substantielle Wille, der sich denkt und weiß und das, was er weiß und insofern er es weiß, vollführt. An der Sitte hat er seine unmittelbare und an dem Selbstbewußtsein des Einzelnen, dem Wissen und Tätigkeit desselben, seine vermittelte Existenz«. Siehe hierzu auch die zeitgenössische ironische Bemerkung von Tucholsky, Tabelle, S. 270: »Ihr müßtet nur einmal die Vorlesungen eines preußischen Professors über Staatsrecht mitangehört haben […]. ›Der Staat ist mächtig, allmächtig, heilig, verehrenswert, Ziel und Zweck der Erdumdrehung – der Staat ist überhaupt alles.‹« Die geistigen Wurzeln solchen Denkens bei Hegel sieht am Beispiel von Seeckt neuerdings Strohn, Army, S. 92. Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Band 347, S. 2342. Ähnlich äußerte sich zuvor schon Georg Schöpflin (MSPD), ebenda S. 2335. Im Zuge der Ausschussberatungen wurde »Eignung« durch »Befähigung« ersetzt, siehe Reichstagsdrucksache 1/1679, S. 1312. Siehe hierzu Kapitel II.1. unter Buchstabe a).
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VII. Rechtsschutz
Reichswehrsoldat zusammenfassend also keinerlei gerichtlichen Rechtsschutz in Bezug auf sein Dienstverhältnis beanspruchen.
2. Beschwerderecht Blieb dem deutschen Soldaten der Rechtsweg in Bezug auf den Dienst und sein Dienstverhältnis auch im Staat von Weimar noch weitgehend versperrt, so konnte das militärische Beschwerderecht dagegen auf eine sehr viel umfassendere Tradition zurückblicken. Seine heute noch nachweisbaren Wurzeln reichen bis in das 15. Jahrhundert zurück. Am Anfang stand indes weniger der Gedanke des Individualrechtsschutzes. Vielmehr sollte disziplingefährdende Unzufriedenheit rechtzeitig erkannt und behoben werden können.29 In den Artikelsbriefen der Söldnerheere des ausgehenden Mittelalters und der Renaissance finden sich erste Ansätze eines militärischen Beschwerderechts, dessen Bedeutung in erster Linie darin bestand, verzögerte oder ausgebliebene Soldauszahlung sowie unrichtige Abfindung mit Verpflegung und Bekleidung rügen zu können. Insofern erscheint es zumindest stringent, dass diesem (ältesten) Beschwerdegrund auch zuerst der Rechtsweg geebnet wurde. Erst ein Artikelsbrief des Herzogs zu Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel aus dem Jahr 1655 erwähnt nachweislich zum ersten Mal ausdrücklich ein Beschwerderecht für Soldaten, wobei auch hier noch Soldfragen im Vordergrund standen. Von untergeordneter Bedeutung waren hingegen Beschwerden aus Gründen wie etwa unwürdiger Behandlung durch Vorgesetzte oder jedweder Beeinträchtigung von Seiten der Kameraden. Für Offiziere wurden derartige Situationen ohnehin durch Ehrenhändel bereinigt, trotz aller Verbote. So bestand auch die Möglichkeit, gegebenenfalls einen Vorgesetzten zum Duell aufzufordern. In Bayern wurde 1745, in Preußen 1788 erstmals dem Offizier ein wirksames Beschwerderecht mit mehreren Instanzen eingeräumt.30
a) Die Herausbildung des formellen Beschwerderechts im 19. Jahrhundert Das besonders für gemeine Soldaten noch sehr beschränkte Beschwerderecht erhielt erst mit Beginn des napoleonischen Zeitalters wieder bedeutende Impulse. Das aus Frankreich kommende liberale Gedankengut sowie die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die vom Typus des mitdenkenden und möglichst aus Überzeugung handelnden Soldaten ausging, führten hier zu einem Umdenken. Dabei wurde die Möglichkeit, nach Erschöpfung des Beschwerdewegs auch ein Gericht anrufen zu können, erstmals den hannoverschen Soldaten per Dienstreglement vom 29. November 1823 eingeräumt. Sie blieb allerdings in Anbetracht der zunehmenden Dominanz Preußens Episode, wo das Beschwerderecht der Unteroffiziere und Mannschaften 29 30
Oetting, Beschwerderecht, S. 31. Dau, WBO-Kommentar, S. 15 f. Vertiefend zum militärischen Beschwerderecht der frühen Neuzeit Oetting, Rechtsschutz.
2. Beschwerderecht
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per Erlass des Kriegsministeriums vom 25.2.1828 erstmals näher geregelt wurde. Für Offiziere ergingen jedoch gesonderte Bestimmungen, wie etwa in den für die ganze preußische Armee vorbildlichen Dienstvorschriften des Gardekorps. Noch allerdings konzentrierten sich diese Vorschriften allesamt auf die Regelung des Verfahrens. So hatten Offiziere vor Einlegen ihrer Beschwerde eine Vermittlung unter Zuhilfenahme eines Dritten zu versuchen. Zudem durften Beschwerden erst nach Dienstschluss angebracht werden. Ein Verstoß gegen die Verfahrensvorschriften war zwar disziplinarisch zu ahnden; die Untersuchung der Beschwerde hatte gleichwohl stattzufinden.31 Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das formelle Beschwerderecht zunehmend um materielle Definitionen von Beschwerdegründen ergänzt, wie etwa in Art. 28 der Kriegsartikel für das preußische Heer vom 27. Juni 1844,32 wo es heißt: »Glaubt der Soldat wegen nicht richtigen Empfangs dessen, was ihm gebührt, wegen unwürdiger Behandlung oder aus einem andern Grunde zu einer Beschwerde Veranlassung zu haben, so ist er dennoch verbunden, seine Dienst-Obliegenheiten unweigerlich zu erfüllen, und darf weder seine Kameraden auffordern, gemeinschaftlich mit ihm Beschwerde zu führen, noch Mißmuth unter ihnen zu erregen und sie aufzuwiegeln suchen. Auch darf der Soldat nicht während des Dienstes, sondern erst nach beendigtem Dienste seine Beschwerde anbringen. Dagegen kann er aber sich versichert halten, daß seiner Beschwerde, insofern sie begründet ist, abgeholfen werden wird, sobald er dieselbe in geziemender Weise auf dem vorgeschriebenen Wege anbringt.«
Dieser Passus wurde beinahe wortgleich in die Kriegsartikel vom 9. Dezember 1852 (Art. 18)33 sowie vom 31. Oktober 1872 (Art. 22)34 übernommen. Die Reichseinigung hatte auch beim Beschwerderecht eine Rechtsvereinheitlichung zur Folge, das nun erstmals konzentriert und umfassend in den »Vorschriften über den Dienstweg und die Behandlung von Beschwerden der Militär-Personen des Heeres und der Marine sowie der Civilbeamten der Militär- und Marinebeamten« vom 6. März 1873 geregelt wurde.35 Dabei wurden die Vorschriften für Offiziere sowie Unteroffiziere und Gemeine zusammengefasst, auch wenn sich im Einzelnen noch Abweichungen ergaben. Durch das MStGB aus dem gleichen Jahr wurde das Beschwerderecht zudem – über das Disziplinarrecht hinaus – militärstrafrechtlich von der einen wie der anderen Seite flankiert. So konnte zum einen mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr belegt werden, wer wider besseres Wissen eine auf unwahre Behauptungen gestützte Beschwerde anbrachte (§ 152 Abs. 1 MStGB). Wer wiederholt und leichtfertig auf unwahre Behauptungen gestützte Beschwerden einlegte, musste immerhin mit Arreststrafe nach § 152 Abs. 2 Alt. 1 MStGB rechnen. Zum anderen aber wurde auch die Beschwerdeunterdrückung in § 117 MStGB unter Strafe gestellt: »Ein Vorgesetzter, welcher einen oder mehrere Untergebene mit Androhung nachtheiliger Folgen oder durch andere widerrechtliche Mittel von dem Führen oder Verfolgen von Beschwerden 31 32 33 34 35
Dietz, Beschwerdeordnung, S. 26 f.; Oetting, Beschwerderecht, S. 32. Preußische Gesetzsammlung 1844, S. 276–286. Abgedruckt in der Gesetzsammlung für das Herzogtum Anhalt-Bernburg 1855 bis 1858, S. 326–334. Allerhöchste Verordnung über die Einführung neuer Kriegsartikel für das Heer vom 31.10.1872, AVBl. 1872 S. 323–330. AVBl. 1873 S. 63–77.
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VII. Rechtsschutz abzuhalten sucht, oder eine an ihn vorschriftsmäßig gelangte Beschwerde, zu deren Weiterbeförderung oder Untersuchung er verpflichtet ist, unterdrückt oder zu unterdrücken versucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft; zugleich kann auf Dienstentlassung oder Degradation erkannt werden.«36
Aufgrund der Formulierung »abzuhalten sucht« handelte es sich um ein unechtes Unternehmensdelikt, bei dem eine Vollendung nicht erforderlich und der Versuch auch ohne Rückgriff auf allgemeine Bestimmungen strafbar war.37 Gleichwohl behielt jeder Offizier das ausdrückliche Recht, den Beschwerdeführer »abzumahnen« und auf die Strafbarkeit wahrheitswidriger Beschwerden hinzuweisen, wenn er die Beschwerde für unbegründet hielt (§ 7). Eine formelle Beschwerde konnte nur gegen Vorgesetzte und nicht etwa gegen gleichrangige Kameraden erhoben werden.38 Sie musste »zum Gegenstande haben: a. eine von dem zuständigen Militär-Befehlshaber oder Verwaltungs-Vorgesetzten verhängte Disziplinarstrafe, b. Handlungen des Vorgesetzten, durch welche der Beschwerdeführer persönlich, oder in seinem berechtigten Standesbewußtsein, in seinen dienstlichen Gerechtsamen und Befugnissen verletzt wird« (§ 2). Nach § 3 war die Beschwerde grundsätzlich erst am Morgen nach dem Tag einzureichen, an dem der Beschwerdegrund eingetreten war.39 Es drohte nach § 89 Abs. 1 MStGB Arrest, wenn die Beschwerde laut und während des Dienstes erhoben wurde. Nur wenn die Fristwahrung die Entscheidung wesentliche erschwerte oder eine im »Spezialfalle« bedenkliche Verzögerung bedeutete, konnte die Beschwerde auch noch am selben Tag, jedoch nie vor Dienstschluss eingelegt werden. Ab diesem Zeitpunkt hatte der Soldat drei Tage Zeit, die Beschwerde einzulegen. Fühlten sich mehrere beschwert, so hatten nur zwei von diesen die gemeinschaftliche Beschwerde stellvertretend zu führen (§ 11). Wer dagegen in Betreff auf militärische Angelegenheiten und Einrichtungen Unterschriften für eine gemeinschaftliche Beschwerde sammelte, musste mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren rechnen (§ 101 Abs. 1 Alt. 2 MStGB). Offiziere konnten ihre Beschwerde – nach erfolgloser Vermittlung – mündlich oder schriftlich einlegen (§ 18); Unteroffiziere und Gemeine hatten sie mündlich bei ihrem Kompaniefeldwebel anzubringen, der sie seinerseits an den Kompaniechef weitermeldete (§ 20). Legten sie die Beschwerde hingegen schriftlich ein, war dies als Ungehorsam (§ 92 MStGB) zu bestrafen.40 Wer eine Beschwerde unter Abweichung von dem vorgeschriebenen Dienstwege einbrachte, konnte nach § 152 Abs. 2 Alt. 2 MStGB militärstrafrechtlich mit Arrest belangt werden. Über die Beschwerde hatte der nächste Disziplinarvorgesetzte desjenigen zu entscheiden, gegen den sich die Beschwerde richtete (§ 8 Abs. 1). Ihn wie auch den 36
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Nach späterer Auffassung erfasste der Tatbestand der Beschwerdeunterdrückung nicht nur Beschwerden im Sinne der Beschwerdeordnungen, sondern auch andere Eingaben wie insbesondere Strafanzeigen, siehe Fuhse, MStGB 1926-Kommentar, § 117, Anm. 4; a.A. dagegen noch Romen/Rissom, § 117 Anm 2 Buchstabe b. Fuhse, MStGB 1926-Kommentar, § 117, Anm. 5. Anders der heutige § 1 Abs. 1 S. 1 WBO. Vgl. noch heute § 6 Abs. 1 WBO. Fielitz, MDStO/BO-Kommentar, S. 217.
2. Beschwerderecht
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Beschwerdeführer musste der Disziplinarvorgesetzte jedoch vor seiner Entscheidung anhören (§§ 19, 22). Eine weitere Beschwerde bis zur höchsten Instanz blieb zulässig. Auch diese Vorschrift hielt daran fest, dass eine Untersuchung auch bei Verletzung der Verfahrensvorschriften stattzufinden hatte. Seither nimmt das Beschwerderecht eine Zwitterfunktion von objektivem Beanstandungs- und subjektivem Rechtsschutzverfahren ein.41 Hieran orientierten sich auch die ausführlichen Bestimmungen, wie der Beschwerdeführer über die getroffene Entscheidung zu unterrichten war (§ 9): Ihm war mitzuteilen, »daß die Beschwerde geprüft, ob sie begründet oder unbegründet gefunden und ersteren Falles, daß sie den Vorschriften gemäß dienstlich erledigt sei«. Im Übrigen aber stand der Inhalt der Mitteilung im Ermessen des entscheidenden Disziplinarvorgesetzten, wobei maßgeblich war, »daß dabei die Autorität des verklagten Vorgesetzten möglichst gewahrt wird«. Der Beschwerdeführer erhielt somit über eine gegen seinen Vorgesetzten aufgrund der Beschwerde verhängte Disziplinarstrafe in der Regel keine Kenntnis.42 In den Jahren 1894 bis 1896 wurde das einheitlich gefasste Beschwerderecht wieder in insgesamt acht verschiedene Vorschriften aufgespalten. So erhielten die Offiziere einerseits, die Mannschaften und Unteroffiziere andererseits jeweils im Heer, gesondert im bayerischen Heer, in der Marine und in den Schutztruppen ihre eigene Beschwerdeordnung.43 In ihren wesentlichen Grundzügen wie auch den Neuerungen stimmten diese Vorschriften jedoch überein. So konnten sich Mannschaften einschließlich der Unteroffiziere nun erstmals auch gegen gleichrangige Kameraden und auch Beamte beschweren. Sie hatten sich fortan ohne Umweg über den Kompaniefeldwebel unmittelbar mündlich an ihren nächsten Disziplinarvorgesetzten zu wenden. Für Offiziere blieb es dabei, dass sie sich nur gegen Vorgesetzte beschweren durften, wobei dieser Begriff beschwerderechtlich weit gefasst wurde. Die gemeinschaftliche Beschwerde war nun gänzlich ausgeschlossen; fortan konnte nur noch jeder für sich selbst Beschwerde führen. In Fällen gemeinsamer Beschwer entfiel damit also die bis dahin zulässige Stellvertretung durch zwei Kameraden. Nicht zuletzt wurde die Beschwerdefrist von drei auf fünf Tage verlängert.
b) Das Beschwerderecht in der Übergangszeit Die Novemberrevolution bedeutete auch für das Beschwerderecht keinen großen Umbruch. Wie in so vieler Hinsicht ging der Anstoß für gewisse Fortentwicklungen von den Freikorps aus, besonders vom Freiwilligen Landesjägerkorps des Generalmajor Maercker. Dessen »Grundlegender Befehl Nr. 1« vom 14. Dezember 1918 nahm bereits wesentliche Neuerungen für die Reichswehr vorweg: Mit dem ebenfalls in die 41 42 43
Oetting, Beschwerderecht, S. 15 und 32. Dietz, Beschwerdeordnung, S. 32 f. Anders der heutige § 13 Abs. 2 WBO, wonach dem Beschwerde mitzuteilen ist, ob gegen den Betroffenen eine Disziplinarmaßnahme verhängt worden ist. Beschwerdeordnung für das Heer Teil II (Mannschaften vom Feldwebel abwärts) vom 14.6.1894, siehe hierzu auch AVBl. 1894 S. 189 f.; Teil I (Offiziere, Sanitäts-, Veterinäroffiziere, Beamte) vom 30.3.1895, AVBl. 1895 S. 95 ff. Für weitere Nachweise siehe Dietz, Beschwerdeordnung, S. 33.
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VII. Rechtsschutz
Reichswehr übernommenen Institut der Vertrauensleute führte er auch deren verantwortliche Mitwirkung bei Beschwerdeangelegenheiten ein. So waren sie »verpflichtet, für Kameraden, die sich über einen Vorgesetzten beschweren wollen, die Beschwerde zu führen«. Für das Recht der Beschwerde selbst ordnete Maercker an: »Wer Grund zu haben glaubt, sich über einen Vorgesetzten zu beschweren, holt sich bei den Vertrauensleuten seiner Truppe (Kompanie bzw. Batterie) Rat. Erklären die Vertrauensleute, daß kein Grund zur Beschwerde vorliegt, so hat der Betreffende trotzdem das Recht, seine Beschwerde persönlich zu führen, und zwar, indem er sie seinem Komp.-(Batterie-)Führer oder, – wenn sich die Beschwerde gegen diesen selbst richtet, – beim nächstältesten Offizier der Komp. bzw. Batterie vorträgt.«44
Die Bestimmungen Maerckers beeinflussten das Beschwerderecht der Übergangszeit erheblich. Ab dem 6. März 1919 ermächtigte § 13 AVGvRW den Reichswehrminister, das Beschwerderecht selbständig zu regeln. So gab Noske seinen Ausführungsbestimmungen für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31. März 1919 dann eine neue, alle Dienstgrade erfassende und knappe Beschwerdeordnung bei.45 Sie wurde vom preußischen Kriegsministerium auch für das in Auflösung befindliche preußische Heer in Kraft gesetzt.46 Für die Reichsmarine erging eine gesonderte, aber im Wesentlichen identische Vorschrift.47 Die neuen Bestimmungen gaben ihrer Einleitung nach »jedem Reichswehrangehörigen ein Mittel an die Hand, seine Würde zu wahren und ihm alle gesetzlich zukommenden dienstlichen Gerechtsame und Befugnisse sowie seine Ansprüche auf Löhnung, Bekleidung, Beköstigung und Urlaub zu sichern«. Zwar hatte schon die bisherige Beschwerdeordnung für Unteroffiziere und Mannschaften vom Schutz gegen »unwürdige Behandlung« gesprochen. Die neue Formulierung strich die Würde des Reichswehrangehörigen indes stärker als ein individuelles Rechtsgut heraus. Fortan durfte sich jeder Reichswehrangehörige, also auch der Offizier, nicht nur gegen Vorgesetzte, sondern auch gegen Kameraden (im Sinne von Gleichrangigen) beschweren, wenn er von ihnen ungerecht behandelt worden war. Darüber hinaus war die Beschwerde statthaft, wenn der Soldat glaubte, »daß in seinem Verbande Mißstände vorhanden sind, die der Abhilfe bedürfen«. Eine subjektive Beschwer war also nicht mehr verlangt; der Aspekt des objektiven Beanstandungsverfahrens erlangte damit im Beschwerderecht zwischenzeitlich zusätzliches Gewicht. Von Maerckers Freiwilligem Landesjägerkorps übernahm die neue Beschwerdeordnung der vorläufigen Reichswehr die Mitwirkungsrechte und -pflichten der Vertrauensleute bei Beschwerden von Mannschaften und Unteroffizieren. Ein Vertrauensmann durfte die Übernahme einer Beschwerdeführung nicht 44
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Nr. 4 Buchstabe c und Nr. 8 des Grundlegenden Befehls Nr. 1 für das Freiwillige Landesjägerkorps vom 14.12.1918, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 50 f.; ebenso bei Ritter/Miller, Revolution, S. 142; sowie bei Maercker, Kaiserheer, S. 45–47. Beschwerdeordnung, Anlage 4 zu den Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31.3.1919, AVBl. 1919 S. 263–282 (273 f.). Verordnung der Preußischen Staatsregierung betreffend Beschwerdeordnung vom 19.4.1919, AVBl. 1919 S. 356. Beschwerdeordnung für die vorläufige Reichsmarine, Anlage 3 zu den Organisatorischen Bestimmungen über die Bildung einer vorläufigen Reichsmarine vom 27.5.1919, MVBl. 1919 S. 195–212 (203 f.).
2. Beschwerderecht
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ablehnen; umgekehrt durfte sich der Beschwerdeführer nur durch den Vertrauensmann vertreten lassen. Die unmittelbare Beschwerdeführung in eigenem Namen war damit ausgeschlossen. Der Vertrauensmann konnte dem Beschwerdeführer von der Beschwerde abraten, dieser war jedoch nicht an den Rat gebunden. Eine darüber hinausgehende Beeinflussung hatte zu unterbleiben. In Hinblick auf die Form war jetzt auch den Mannschaften und Unteroffizieren die Einlegung schriftlicher Beschwerden gestattet. Dagegen blieb hinsichtlich der Fristen alles beim Alten: Es musste der Ablauf einer Nacht nach Eintritt oder Kenntnisnahme des Beschwerdegrundes abgewartet werden, ab dann waren dem Soldaten fünf Tage Zeit gegeben. Dem Vertrauensmann stand das Recht zu, einen Vermittlungsversuch zwischen dem Beschwerdeführer und dem »Verklagten« möglichst innerhalb von 24 Stunden anzustrengen. Praktisch vorstellbar scheint dies allerdings nur bei Beschwerden gegen Kameraden gewesen zu sein. Zuständig über die Entscheidung der Beschwerde war der »unmittelbare Dienstvorgesetzte des Verklagten«. Die neue Beschwerdeordnung hielt auch an der bisherigen Inquisitionsmaxime fest, wonach der Sachverhalt auch bei unzulässiger Beschwerdeführung zu untersuchen war. »Gegen jede Beschwerdeentscheidung [… konnte] bis zum Reichspräsidenten Berufung eingelegt werden«, womit dieser auch hier an die Stelle des Obersten Kriegsherrn trat. Bei erneuter Beschwerde fand jedoch keine Vermittlung mehr statt. Mit der neuen Beschwerdeordnung galt nun wieder ein zwar prinzipiell einheitliches Beschwerderecht für alle Rangklassen. Für die Offiziere wurden gleichwohl vereinzelte Sonderbestimmungen getroffen: So wirkten bei ihnen insbesondere keine Vertrauensleute bei der Beschwerdeführung mit. Stattdessen hatte der Beschwerdeführer hier einen Offizier mindestens vom gleichen Dienstgrad zu bestellen, der die Vertretung der Beschwerde nicht ablehnen durfte. Bei der Marine galt dies sogar auch für Unteroffiziere mit Portepee. Die Beschwerden der Offiziere waren stets schriftlich einzureichen; umgekehrt waren ihre Beschwerden sowohl dem Beschwerdeführer als auch dem »Verklagten« schriftlich zu bescheiden. Eine regelrechte Augenwischerei betrieb der dritte Absatz der Einführung: »Eine Bestrafung wegen unbegründeter Beschwerde erfolgt nicht; wer sich jedoch bei einer Beschwerde einer strafbaren Handlung im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen oder der Disziplinarstrafordnung schuldig macht, hat Strafe zu gewärtigen.«
Da aber Strafen für unbegründete Beschwerden bisher auch nur aus dem MStGB oder der Disziplinarstrafordnung hatten folgen können, änderte sich insofern an der Rechtslage überhaupt gar nichts. Das größte Novum der neuen Beschwerdeordnung aber bestand darin, dass – erstens – sich der Soldat von nun an gegen eine verhängte Disziplinarstrafe noch vor Beginn der Strafvollstreckung beschweren konnte und – zweitens – die Disziplinarbeschwerde die Vollstreckung zunächst hemmte, ihr also aufschiebende Wirkung zukam, bis der zuständige Vorgesetzte über sie entschieden hatte.48 48
Siehe hier auch Nr. 5 der Ergänzungsbestimmungen zur Disziplinarstrafordnung, Anlage 5 zu den Ausführungsbestimmungen des Reichswehrministers für die Bildung einer vorläufigen Reichswehr vom 31.3.1919, AVBl. 1919 S. 263–282 (275 f.).
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VII. Rechtsschutz
c) Die Beschwerdeordnung für die Angehörigen der Wehrmacht vom 15. November 1921 Das Wehrgesetz vom 23. März 1921 verwies an verschiedenen Stellen zwar auf den Beschwerdeweg, wie etwa in § 32 Abs. 2 WG als ein der Erhebung der vermögensrechtlichen Klage vorauszugehendes Vorverfahren. Weder garantierte geschweige denn regelte das Wehrgesetz aber ein allgemeines Beschwerderecht an irgendeiner Stelle. Am 15. November 1921, also nunmehr schon zu Seeckts Zeiten, erließ der Reichspräsident auf dem Militärverordnungsweg eine Beschwerdeordnung, die nun sowohl für alle Rangklassen als auch für Heer und Marine gleichermaßen galt und mit wenigen, geringfügigen Änderungen bis in die NS-Zeit Bestand hatte.49 Sie war nun auch wieder etwas detaillierter und lehnte sich in Struktur und Wortlaut wieder stärker an kaiserliche Vorbilder an. Ähnlich wie bei der vier Tage zuvor erlassenen Disziplinarstrafordnung fasste die neue Vorschrift aber vor allem Verstreutes zusammen und klärte entstandene Unklarheiten und Lücken. Insbesondere waren die Bestimmungen über Disziplinarbeschwerden in den beiden neuen Vorschriften noch stärker als bisher aufeinander abgestimmt. So wanderten etwa die Bestimmungen über die aufschiebende Wirkung der Disziplinarbeschwerde in § 48 Abs. 2 HDStO 1921.50 Auch stellte die neue Beschwerdeordnung klar, dass bei Disziplinarbeschwerden kein Vermittlungsversuch stattzufinden hatte (Nr. 8 Buchstabe a), was nach dem Wortlaut der bisherigen Regelungen durchaus möglich gewesen war.51 Auch hatte die Beschwerdeordnung der Übergangszeit keine ausdrückliche Regelung zu gemeinschaftlichen Beschwerden getroffen. Sie wurden nun aus Gründen der Disziplin nicht nur wie früher für »unstatthaft« erklärt,52 sondern ausdrücklich verboten (Nr. 3). Dies geschah allerdings lediglich zur Klarstellung, da bei Zuwiderhandlung auch schon früher eine disziplinare, wenn nicht gar gerichtliche Ahndung möglich gewesen war.53 Darüber hinaus verlängerte die neue Vorschrift die Beschwerdefrist auf nunmehr sieben Tage, wobei der Tag, an dem der Anlass zur Beschwerde eintrat oder zur Kenntnis des Beschwerdeführers gelangte, nicht eingerechnet wurde (Nr. 7). Zudem konnte der Soldat fortan einen jeden ihm geeignet erscheinenden Kameraden und nicht mehr nur seinen Vertrauensmann zum Vermittler wählen. Diese Festigung und Erweiterung der verfahrensrechtlichen Gleichstellung der Mannschaften und Unteroffiziere mit den Offizieren war damit aber zugleich – ganz im Sinne Seeckts – eine Schwächung des Instituts der Vertrauensleute, die fortan nicht mehr notwendig an den Beschwerdeverfahren zu beteiligen waren. 49 50 51 52
53
Beschwerdeordnung für die Angehörigen der Wehrmacht (B.O.) vom 15.11.1921, HVBl. 1921 S. 519–522. Die §§ 48 f. HDStO 1921 regelten die Beschwerden über Disziplinarstrafen. Siehe auch die entsprechende Regelung der Disziplinarstrafordnung bei Dietz, HDStO 1921-Kommentar, S. 277. Abschnitt I Nr. 5 der Beschwerdeordnung für das Heer Teil II (Mannschaften vom Feldwebel abwärts) vom 14.6.1894, siehe hierzu auch AVBl. 1894 S. 189 f. Gemeinschaftliche Beschwerden sind heute nach § 1 Abs. 4 WBO lediglich unzulässig; jede Benachteiligung bei Verstoß ist nach § 2 WBO verboten. Die unbefugte gemeinschaftliche Beschwerde war, wenn sie über »militärische Angelegenheiten oder Einrichtungen« erfolgte und hierzu Unterschriften gesammelt wurden, sogar nach § 101 Abs. 1 Alt. 2 MStGB mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu ahnden.
2. Beschwerderecht
349
Eine bedeutende Veränderung brachte die Beschwerdeordnung vom November 1921 hinsichtlich ihres sachlichen Anwendungsbereichs mit: So entfiel die in der Übergangszeit eingeräumte Beschwerdemöglichkeit, wenn der Soldat glaubte, in seinem Verband seien Missstände vorhanden, die der Abhilfe bedurften – eine nahezu uferlose objektive Beschwerdebefugnis. Viel wichtiger aber war, dass die neue Beschwerdeordnung sich nicht mehr »auf die Geltendmachung von Ansprüchen infolge vermeintlich unrichtiger Abfindung mit Besoldung, Bekleidung, Verpflegung und Unterkunft sowie wegen unzureichender Krankenversorgung« erstreckte (Nr. 4 Buchstabe b). Damit emanzipierte sich das militärische Beschwerderecht endgültig von seinen Wurzeln und fokussierte sich von nun an auf den truppendienstlichen, also den militärischen Bereich im engeren Sinne. In den von nun an ausgenommenen Verwaltungsangelegenheiten hatte sich der Soldat formlos an seinen Vorgesetzten zu wenden, der die Sache an die zuständige Verwaltungsdienststelle zu leiten hatte. Formellen Rechtsschutz konnte der Soldat auf diesen Gebieten allein über den von nun an über Art. 129 Abs. 4 WRV und § 32 WG hierfür eröffneten ordentlichen Rechtsweg erlangen (dazu bereits Kapitel VII.1.).54 Ebenso wenig wie jedoch gemäß § 32 Abs. 6 WG die Entlassungsgründe der Dienstunbrauchbarkeit und der mangelnden Befähigung durch die ordentlichen Gerichte kontrolliert werden durften, konnte sich der Soldat gegen eine solche Entlassung formell beschweren (Nr. 4 Buchstabe c). Hierfür stand dem Betroffenen nach § 22 Abs. 1 und § 26 Abs. 4 WG die Möglichkeit eines besonderen Einspruchs offen, über den der Reichswehrminister, bei Offizieren der Reichspräsident entschied.55 Hierzu war der Soldat nach § 40 Abs. 1 WG zwingend zu belehren, um die Monatsfrist für diesen Rechtsbehelf in Gang zu setzen.56 Allein bei einstweiliger Dienstenthebung stand dem Soldaten der Beschwerdeweg offen.57 In sprachlich nur leicht abgewandelter Form enthielt die Beschwerdeordnung von 1921 auch wieder eine auf den ersten Blick vielleicht irreführende Passage über die mögliche Bestrafung des Beschwerdeführers (Nr. 5): »Wegen unbegründeter Beschwerdeführung wird niemand bestraft. Dies schließt jedoch nicht aus, daß ein Beschwerdeführer, der sich bei einer Beschwerde einer strafbaren Handlung im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen oder der Disziplinarstrafordnung schuldig macht, zur Verantwortung gezogen wird. Eine unrichtige dienstliche Anschauung ist an sich nicht strafbar.«
Ebenfalls in Übereinstimmung mit dem bisherigen Recht hieß es in Nr. 16:
»Wird eine Beschwerde nicht auf dem vorgeschriebenen Wege oder nicht unter Einhaltung der Fristen angebracht, so ist sie trotzdem sachlich zu untersuchen und zu erledigen. Der Beschwerdeführer kann dann jedoch nach Ziffer 558 zur Verantwortung gezogen werden.«
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Anders dagegen heute § 23 Abs. 1 WBO, wonach das Beschwerdeverfahren an die Stelle des Vorverfahrens tritt, wenn für die eine Klage aus dem Wehrdienstverhältnis der nunmehr einschlägige Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist. Siehe auch § 25a HEB 1927. Semler, WG-Kommentar, S. 97. Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend einstweilige Dienstenthebung von Soldaten, vom 25.3.1921, HVBl. 1921 S. 104. Gemeint ist Nr. 5. Laufende Zahlen in einer Vorschrift sind Nummern, keine Ziffern. Ziffern sind Zahlensymbole (»Chiffren«) von 0 bis 9 ohne Ordnungsfunktion. Nummern dagegen sind Ordnungszahlen, die aus Ziffern gebildet werden und eine Reihung verdeutlichen.
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VII. Rechtsschutz
Die entsprechenden Strafvorschriften fanden sich weiterhin in § 89 Abs. 1 MStGB (Achtungsverletzung durch laute Beschwerdeführung, bedroht mit Arrest), § 101 Abs. 1 Alt. 2 MStGB (Unterschriftensammeln zwecks gemeinschaftlicher Beschwerde über militärische Angelegenheiten oder Einrichtungen, bedroht mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren) und vor allem in § 152 MStGB: »(1) Wer wider besseres Wissen eine auf unwahre Behauptungen gestützte Beschwerde anbringt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahre bestraft. (2) Wer wiederholt und leichtfertig auf unwahre Behauptungen gestützte Beschwerden oder wer eine Beschwerde unter Abweichung von dem vorgeschriebenen Dienstwege einbringt, wird mit Arrest bestraft.«
»Wider besseres Wissen« schloss hierbei den bloßen Eventualvorsatz aus. Die Unbegründetheit der Beschwerde war nicht das entscheidende Kriterium, sondern ihre Wahrheitswidrigkeit, auch wenn beides regelmäßig zusammenfiel.59 Jedoch folgte aus § 152 MStGB nicht im Umkehrschluss, dass nur bewusst oder im Wiederholungsfall leichtfertig wahrheitswidrige Beschwerden strafbar waren. Unterhalb dieser Schwelle konnte nämlich stets noch Disziplinarbestrafung eintreten.60 Der Beschwerdeführer hatte also einen schmalen Grat zu beschreiten und musste selbst bei der ersten leichtfertig wahrheitswidrigen Beschwerde mit Frivolitätsstrafe rechnen.61 Zwar stellten die neue Beschwerdeordnung wie auch die neue Disziplinarstrafordnung62 des Jahres 1921 (wortgleich mit den alten Vorschriften des Kontingentheers63) klar, dass eine »unrichtige dienstliche Anschauung […] an sich nicht strafbar« war. Und nach der maßgeblichen Kommentierung von Dietz, die sich ausdrücklich auch auf den früheren Rechtszustand bezieht, war der Begriff der unrichtigen dienstlichen Anschauung weit auszulegen: »Gleiches hat für die unrichtige Auslegung der Gesetze und Dienstvorschriften zu gelten. An eine D.-Bestrafung […] könnte nur gedacht werden, wenn kein Zweifel besteht, daß die Beschwerde unbegründet war, und wenn angekommen werden muß, daß der gute Glaube des Beschwerdeführers, seine Beschwerde sei gerechtfertigt, auf Fahrlässigkeit beruht […]. Dieses Erfordernis wird nicht leicht einwandfrei festzustellen sein. Auch darin, daß eine als unbegründet zurückgewiesene Beschwerde, trotz Belehrung über die richtige dienstliche Anschauung oder das richtige Recht weitergeführt wird, darf regelmäßig kein Verstoß gegen die Mannszucht gefunden werden. Die Belehrung kann falsch sein oder als falsch empfunden werden. Die gewissenhaft errungene Ueberzeugung des Beschwerdeführers (auf seine Person, seine Eigenart, seine seelische und geistige Verfassung ist hierbei Rücksicht zu nehmen), daß seine Beschwerde 59 60
61 62 63
Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 152 Anm. 3. So bereits ausdrücklich klargestellt bspw. in Abschnitt I Nr. 8 Abs. 1 der Beschwerdeordnung für das Heer Teil II (Mannschaften vom Feldwebel abwärts) vom 14.6.1894, siehe hierzu auch AVBl. 1894 S. 189 f.; ebenso Abschnitt B Nr. 4 Abs. 1 der Beschwerdeordnung für das Heer Teil I (Offiziere, Sanitäts-, Veterinäroffiziere, Beamte) vom 30.3.1895, AVBl. 1895 S. 95 ff.; übereinstimmend Nr. 14 Abs. 1 der Beschwerdeordnung für die Kaiserliche Marine Teil II (Mannschaften vom Deckoffizier abwärts) vom 23.10.1894, MVBl. 1894 S. 247 ff. Anders heute § 2 WBO. § 49 Abs. 4 HDStO 1921. Siehe bspw. Abschnitt I Nr. 8 Abs. 2 der Beschwerdeordnung für das Heer Teil II (Mannschaften vom Feldwebel abwärts) vom 14.6.1894, siehe hierzu auch AVBl. 1894 S. 189 f.
2. Beschwerderecht
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begründet sei, ist jedenfalls hochzuhalten. Eine weitherzige Auffassung auf diesem Gebiete war von jeher geboten und dürfte auch heute gesichert sein.«64
Damit fokussierte sich die Strafbarkeit unbegründeter Beschwerden vor allem auf Fälle, in denen die Beschwerde einer Tatsachengrundlage entbehrte. Trotz dieser erheblichen Einschränkungen des juristischen Kommentators wird die Grenzziehung jedoch in der Praxis nicht immer einfach gewesen sein, so dass die Strafandrohungen gleichwohl einen nicht unerheblichen »chilling effect« ausübten. Schon im Weltkrieg hatten viele Soldaten aus Angst vor Strafe von einer Beschwerde abgesehen; die Versetzung von Beschwerdeführern war keine Seltenheit gewesen.65 So kann es auch nicht verwundern, dass sich in den überlieferten Aktenbeständen der Reichswehr nur Weniges zu Beschwerdesachen finden, obschon Nr. 23 der Beschwerdeordnung die schriftliche Verwahrung sämtlicher Schriftstücke aus dem Beschwerdeverfahren vorschrieb. An diesem Zustand änderte auch die Novellierung des MStGB im Jahr 1926 recht wenig, die die Straftatbestände der Achtungsverletzung (§ 89 MStGB) und des Beschwerdemissbrauchs (§ 152 MStGB) beseitigte.66 In diesen Fällen war nämlich fortan disziplinare Verfolgung angezeigt, die freilich dem Disziplinarvorgesetzten auch ein Absehen von Strafe ermöglichte.67 Schließlich nahm Nr. 4 Buchstabe a der Beschwerdeordnung von 1921 noch »Anzeigen von Zuwiderhandlungen gegen die Strafgesetze (Strafanzeigen und Strafanträge)« vom Anwendungsbereich der Beschwerdeordnung aus. Diese richteten sich allein nach dem Strafprozessrecht, wobei in Militärstrafsachen ebenfalls der Disziplinarvorgesetzte des Beschuldigten für ihre Entgegennahme zuständig war.68 Das bedeutete jedoch nicht, dass dem Beschwerdeführer Nachteile drohten, wenn sich ein von ihm zur Beschwerde gebrachtes Verhalten als Straftat herausstellte. Eine solche Subsumtionsleistung war dem durchschnittlichen Soldaten auch gar nicht abzuverlangen. Vielmehr war die Sache an die zuständige Stelle abzugeben und dies dem Beschwerdeführer (gegebenenfalls durch den Vermittler) sowie dem Verklagten durch seinen unmittelbaren Disziplinarvorgesetzten bekanntzugeben. Die Beschwerde als solche erlosch damit (Nr. 17).69 Für die restliche Zeit der Republik blieb das Beschwerderecht weitgehend unangetastet. Mit dem Wehrmachtdisziplinargesetz scheiterte 1922 auch der Versuch, das Beschwerdeverfahren um Aspekte eines formellen Ermittlungsverfahrens zu ergän64 65 66 67 68
69
Dietz, HDStO 1921-Kommentar, § 49 Abs. 2 Anm. 5. Stachelbeck, Heer, S. 197. Gesetz zur Vereinfachung des Militärstrafrechts vom 30.4.1926, RGBl. 1926 I S. 197–200. Fuhse, MStGB 1926-Kommentar, § 89, Anm. 2, § 152. Siehe auch Kapitel V.3. § 6 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes, betreffend Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit, vom 17.8.1920, RGBl. 1920 S. 1579–1587; dieser wurde später mit der »Emminger’schen Justizreform« in § 444 RStPO überführt, siehe § 43 der Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4.1.1924, RGBl. 1924 I S. 15– 22 und die Neufassung der RStPO vom 22.3.1924, RGBl. 1924 I S. 322–370 (367). Entsprechendes galt davor auch für die in den Zuständigkeitsbereich der Militärstrafgerichtsbarkeit fallenden Straftaten, § 151 MStGO. So bereits der Rechtszustand im Kaiserreich, siehe Abschnitt II Nr. 1 der Beschwerdeordnung für das Heer Teil II (Mannschaften vom Feldwebel abwärts) vom 14.6.1894; dazu die Kommentierung bei Romen/Rissom, MStGB-Kommentar, § 152 Anm. 2 Buchstabe b.
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VII. Rechtsschutz
zen. Dabei hatte der Entwurf insbesondere vorgesehen, die Möglichkeit zur Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen durch juristisch gebildete Heeresanwälte zu eröffnen.70 Die Beschwerdeordnung von 1921 erschien 1929 noch einmal in einem Neudruck, der die zwischenzeitlich erfolgten Änderungen konsolidierte.71 Dazu gehörte insbesondere eine weitere Einschränkung ihres Anwendungsbereichs: So waren nun auch Beschwerden nach § 31 WG gegen die Versagung der Genehmigung eines Gewerbebetriebes oder wegen Nichterteilung der Heiratserlaubnis nicht mehr nach der Beschwerdeordnung zu behandeln. Zudem konnte der Offizier seine formellen Beurteilungen – alle übrigen Soldaten erhielten überhaupt keine – nicht zum Gegenstand einer Beschwerde machen.72 Resümierend ist über die Beschwerdeordnung der Reichswehr festzuhalten, dass sie einerseits das Beschwerderecht teilstreitkräfte- und laufbahngruppenübergreifend vereinheitlichte, andererseits die Verfahrensposition der Soldaten im Vergleich zum Rechtszustand des Kaiserreichs allenfalls minimal verbesserte, wie etwa im Hinblick auf die aufschiebende Wirkung der Disziplinarbeschwerde. Insbesondere blieben Militärverordnungen die alleinige Grundlage des Beschwerderechts, ohne dass sich das Parlament hier zum Handeln veranlasst sah. Die Strafandrohungen für unbegründete Beschwerden beseitigte auch die Weimarer Republik nicht, sondern verlagerte sie mit der MStGB-Novelle lediglich in das damit zugleich erweiterte Disziplinarstrafrecht. Das gesamte Beschwerdeverfahren blieb zudem eine interne Angelegenheit des Militärs ohne Möglichkeit externer, gar gerichtlicher Überprüfung. Eine solche Kontrollinstanz hätte freilich nicht erst im Konfliktfall Missbräuche durch Vorgesetzte aufdecken und unzureichende Beschwerdebehandlungen korrigieren, sondern schon durch ihre bloße Existenz vorbeugend wirken können. So überrascht schließlich auch nicht, dass nach den überlieferten Akten die Reichswehrangehörigen entsprechend selten von ihrem Beschwerderecht Gebrauch machten. Summa summarum blieben die Rechtsschutzmöglichkeiten des Reichswehrsoldaten damit prekär.
70 71 72
§ 86 des Entwurfs eines Disziplinargesetzes für die Wehrmacht vom 30.5.1922, Reichstagsdrucksache 1/4443. Siehe hierzu auch Kapitel V.2. Beschwerdeordnung für die Angehörigen der Wehrmacht (B.O.) vom 15.11.1921 (Neudruck 1929), H. Dv. 3k I (= M. Dv. 15). So auch noch § 1 Abs. 3 der Wehrbeschwerdeordnung vom 23.12.1956, BGBl. 1956 I S. 1066–1069.
VIII. SPÄTPHASE UND UNTERGANG DER REPUBLIK Am 19. Januar 1928 trat Otto Geßler als Reichswehrminister zurück, nachdem er dieses Amt für beinahe acht Jahre trotz aller zwischenzeitlichen Regierungswechsel bekleidet hatte. Selbst mit dieser Kontinuität war es ihm – so viel lässt sich schon jetzt festhalten – nicht gelungen, die Reichswehr zu einer einigermaßen tragfähigen Säule der parlamentarisch-demokratischen Republik auszubauen und ihre Soldaten in die von diesem System vorausgesetzte pluralistische Gesellschaft der Moderne zu integrieren. Die daraus resultierende zunehmende Entfremdung von seiner eigenen Partei, der DDP, die bereits ein Jahr zuvor in seinen Austritt gemündet hatte,1 sowie der zunehmende Druck von Seiten der Sozialdemokraten im Zuge der »LohmannAffäre«2 um die geheimen Rüstungsprojekte der Reichswehr veranlassten ihn nun, aus »gesundheitlichen Gründen« den Hut zu nehmen. Mit dem Dienstantritt seines Nachfolgers Wilhelm Groener trat die Reichswehr in die letzte Phase ihrer republikanischen Geschichte ein, die mit dem Untergang des Staats von Weimar ziemlich genau fünf Jahre später endete. In diesen letzten zeitlichen Abschnitt der Untersuchung fallen indes keine bedeutsamen Änderungen am Recht der Reichswehr, insbesondere was die subjektive Stellung ihrer Angehörigen betrifft. Lediglich hie und da wurden Veränderungen im Detail vorgenommen, die – sofern überhaupt von Relevanz – bereits in den vorherigen Kapiteln angesprochen wurden. Doch kann dieser Befund kaum überraschen, stand doch das Haus der Reichswehr im Jahre 1928 rechtlich gesehen bereits fest und fertig auf der Erde. Die Geschichte vom Ende der Weimarer Republik ist oft genug erzählt worden und soll hier nicht wiederholt werden. Die folgenden Seiten konzentrieren sich daher darauf, wie sich die Reichswehr zur Republik in ihrer aufziehenden, ultimativen Krise verhielt und welche Rolle dabei die bis hierhin untersuchten Topoi gespielt haben.
1. Groener und Schleicher: Rüstungsrepublikaner Mit dem parteilosen Wilhelm Groener wurde erstmals in der Republik ein ausgebildeter Offizier Reichswehrminister. Der frühere württembergische Generalleutnant war bei Kriegsende Generalquartiermeister der OHL gewesen und hatte durch sein pragmatisch motiviertes Zusammengehen mit der provisorischen Regierung Ebert wichtige Weichen für die Rolle des Militärs in der jungen Republik gestellt.3 Zwar war er im Offizierkorps deshalb und wegen seiner Haltung bei der Abdankung des 1 2 3
Geßler, Reichswehrpolitik, S. 367. Siehe hierzu Kapitel I.1. unter Buchstabe c). Siehe hierzu Kapitel I.1. unter Buchstabe b).
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VIII. Spätphase und Untergang der Republik
Kaisers von vornherein nicht unumstritten, er wurde jedoch von Hindenburg gestützt.4 Bereits im Herbst 1919 hatte Groener seinen Abschied genommen und war danach von Mitte 1920 bis Mitte 1923 Reichsverkehrsminister unter den Kanzlern Fehrenbach (Zentrum), Wirth (Zentrum) und Cuno (parteilos) gewesen. Unter ihm amtierte General d. Inf. Wilhelm Heye als Chef der Heeresleitung, der unter Seeckt Chef des Truppenamts im Reichswehrministerium und damit dessen rechte Hand gewesen war. Ihn hatte Geßler 1926 zu Seeckts Nachfolger erkoren, weil er ihm zutreffend als weniger umtriebig, ja geradezu farblos und politisch unambitioniert erschienen war. Das dadurch entstandene Vakuum füllte der umso ehrgeizigere Generalmajor Kurt v. Schleicher. Er war am 7. April 1882 in Brandenburg an der Havel als Sohn eines preußischen Offiziers geboren, hatte als Jugendlicher die Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde bei Berlin besucht und danach im 3. Garde-Regiment zu Fuß (Berlin-Kreuzberg) gedient. Nach Absolvierung der Kriegsakademie diente er ab 1913 und auch den Weltkrieg hindurch im Großen Generalstab sowie in der OHL unter Groener, bevor er 1919 im Truppenamt (also im verdeckten Generalstab) des neugeschaffenen Reichswehrministeriums die Leitung des politischen Referats übertragen bekam. Zeitgenossen bezeichneten ihn daher gelegentlich auch abschätzig als »Bürogeneral«,5 da er mit einer geringfügigen Ausnahme im Sommer 1917 nie eine Führungsverwendung in der Truppe innegehabt hatte. Als engster Vertrauter des letzten Generalquartiermeisters der OHL hatte er dessen Zweckbündnis mit der Mehrheitssozialdemokratie maßgeblich befördert.6 Schleicher, nicht nur seiner Herkunft nach Preuße durch und durch, fiel besonders durch Berliner Schnauze und Humor auf.7 Ihn machte Groener am 1. März 1929 zum Chef eines neugeschaffenen Ministeramts und damit faktisch zu einem bis dato unbekannten Staatssekretär im Reichswehrministerium.8 In seiner neuen Position sollte er – so Groener ausdrücklich gegenüber dem Reichskabinett – den Chefs der Heeres- und Marineleitung ermöglichen, »sich von politischen Tagesfragen fernzuhalten«. Indem er Schleicher einerseits zum Stellvertreter Heyes, andererseits aber auch sich selbst direkt unterstellte und zur Stellvertretung des Reichswehrministers gegenüber Parlament und Regierung ermächtigte, erlangte der Chef des Ministeramtes schon organisationsrechtlich eine eigenwillige Sonderstellung.9 Hinzu kam, dass in dieser neuen Schaltzentrale wesentliche Kompetenzen gebündelt wurden: So wurde dem Ministeramt insbesondere die bisherige Wehrmachtsabteilung eingegliedert, jener politische Planungsstab, den Schleicher Anfang 1926 Geßler gegen Seeckts Willen abgerungen und den er von da an angeführt hatte.10 Zudem erhielt Schleicher noch die Adjutantur des Reichswehrministers, die Abwehrabteilung und die Rechtsabteilung. Rechtzeitig hatte er dafür gesorgt, dass Major Oskar v. Hindenburg – ein alter Regiments4 5 6 7 8 9 10
Vogelsang, Dokumente, S. 397. Haffner, Geschichte, S. 90; siehe zu Schleicher auch NDB 23 (2007), S. 50–52. Vogelsang, Schleicher, S. 19 f.; Plehwe, Schleicher, S. 21 und 24. Strenge, Schleicher, S. 12 f. Vogelsang, Dokumente, S. 397. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Müller II, Band 1, Nr. 137, S. 453 f. Strenge, Schleicher, S. 42 f.; Schmädeke, Kommandogewalt, S. 175.
1. Groener und Schleicher
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kamerad Schleichers – dem neuen Präsidenten (seinem Vater) als Adjutant zugeteilt wurde. Auf diese Weise hatte Schleicher beste Kontakte zum alten Feldmarschall, der ihm von 1929 an in alter kaiserlicher Manier Immediatvorträge in Abwesenheit jeglicher Kabinettsmitglieder gewährte und ihn bald zu einem der einflussreichsten Mitglieder seiner Kamarilla machte.11 Umgekehrt erschien Hindenburg seit seinem Amtsantritt 1925 ebenso wie einst der Kaiser gerne auf den großen Herbstmanövern, während Seeckt es noch erreicht hatte, Ebert von solchen Truppenbesuchen fernzuhalten.12 Dass der Generalfeldmarschallpräsident hierbei als Oberbefehlshaber seine alte kaiserliche Uniform mitsamt schwarz-weiß-roter Kokarde trug, kann an politischer Signalwirkung in die Reichswehr hinein kaum überschätzt werden. Doch auch ansonsten war Schleicher gut vernetzt und verstand es, die richtigen Kontakte zu pflege. Durch diese verborgenen Zugänge zur Macht im Reich war es ihm auch gelungen, seinen alten Mentor Groener erfolgreich für das Amt des Reichswehrministers ins Spiel zu bringen.13 An der späteren Bewertung Schleichers scheiden sich die Geister: Nach einem weitverbreiteten Bild war er die intrigenfreudige »feldgraue Eminenz«, die aus dem zwielichtigen Hintergrund die Fäden zog und mit der Erosion des parlamentarischen Systems Hitler den Weg bereitete.14 Zeitgenössische englischsprachige Autoren verwiesen gerne darauf, wie sich sein Name wenig schmeichelhaft zu »creeper« übersetzen lässt.15 Andere wiederum sahen in ihm »Weimars letzte Chance gegen Hitler« – so etwa der Untertitel einer Biographie des konservativen Reichswehr- und Wehrmachtoffiziers sowie späteren Diplomaten Friedrich-Karl v. Plehwe. Wie so oft liegen die Dinge allerdings auch bei Schleicher nicht so einfach, die »Wahrheit« wohl irgendwo dazwischen. Unabhängig davon, wie man zu seinen Ansichten stehen mag, ragte er jedenfalls an politischer Begabung aus der Masse der deutschen Generale des 20. Jahrhunderts deutlich heraus. Seit Seeckts Weggang »vollzog sich die Militärpolitik der Republik auf anderen Ebenen und in anderen Bahnen«.16 Der intellektuell neugierige Schleicher, der die Politik des Reichswehrministeriums in der Spätphase von Weimar maßgeblich prägte, verharrte anders als viele seiner Offizierskameraden nicht in sentimentaler Abkapselung. Vielmehr zeigte er die Bereitschaft, auch unkonventionell zu denken und neue Wege zu beschreiten. Insbesondere knüpfte er im Hintergrund ein weitreichendes Netz, das Beziehungen in Kreise der sozialistischen Arbeiterbewegung und des politischen Katholizismus mit einschloss.17 Bereits im Dezember 1918 hatte er sich seine politische Agenda gesetzt, die erstens eine Stärkung der Staatsautorität, zwei11 12 13 14 15 16
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Foertsch, Schuld, S. 129. Maser, Ebert, S. 279, Fn. 68. Hürter, Groener, S. 44 f. Wheeler-Bennett, Nemesis, S. 201. Wheeler-Bennett, Nemesis, S. 244. Deist, Aufrüstung, S. 377. Diese Zäsur darf jedoch nicht über die zweifellos auch vorhandenen, ganz wesentlichen Kontinuitäten hinwegtäuschen, worauf zutreffend hinweist Bergien, Republik, S. 26; für die kontinuierliche Bereitschaft zum politischen Denken und Handeln bei sowohl bei Seeckt als auch bei Schleicher so bereits Carsten, Reichswehr, S. 55 f. Pyta, Demokratie, S. 419.
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VIII. Spätphase und Untergang der Republik
tens eine Sanierung der Wirtschaft und drittens eine Restitution der äußeren Macht Deutschlands vorsah.18 Seine Vorstellungen von der richtigen Staatsform zeichneten sich durch ein hohes Maß an Flexibilität aus; sie richteten sich im Wesentlichen stets danach, welches politische System aus seiner Sicht gerade am ehesten die Umsetzung dieser drei Ziele ermöglichte.19 Der neue Kurs, den Schleicher gegenüber der Republik und ihren Institutionen einschlug, war maßgeblich auch durch militärkonzeptionelle Vorstellungen bedingt: So zählte Schleicher sich als informeller Anführer zu einer kleinen, aber nicht unbedeutenden Gruppe aufstrebender Offiziere,20 die auf dem Werk Seeckts – einer konsolidierten Reichswehr – einerseits aufbauen, aber andererseits die militärpolitische Isolation aufgeben wollten, um eine personelle wie materielle Massenrüstung unter Verschmelzung von zivilem und militärischem Sektor in Antizipation einer totalen Kriegführung zu ermöglichen.21 Hinzu gesellte sich sowohl bei Groener wie bei Schleicher die Einsicht, dass das untergegangene Alte nicht wieder zurückkehren würde und man daher die Weimarer Republik als eine Realität akzeptieren musste, die es dann allerdings umso mehr nach Kräften zu gestalten galt. Bereits im Dezember 1926 hatte Schleicher als Chef der Wehrmachtsabteilung eine Denkschrift verfasst, aus der dieses Programm klar hervorging: Die Reichswehr sollte aus ihrem »Halbdunkel« geführt werden, das zunehmend »Ansehen und Haltung des Heeres bei der Masse der staatsbejahenden Bevölkerung und die für das Heer lebenswichtige enge Verbindung mit ihr« beeinträchtige. Zudem sei es »ein Widerspruch in sich, wenn die Wehr des Staates diesem Staat gleichgültig, vielleicht sogar feindlich« gegenüberstehe. »Nicht Republik oder Monarchie ist jetzt die Frage, sondern, wie soll diese Republik aussehen? Und da liegt es doch wirklich auf der Hand, daß sie nur nach unseren Wünschen ausgebaut werden kann, wenn wir freudig und unermüdlich an diesem Bau mitarbeiten.«22 Hierbei wusste sich Schleicher im Wesentlichen mit den Vorstellungen seines alten Mentors Groener einig.23 Um diese ehrgeizigen Ziele zu erreichen, war es zum einen erforderlich, die Demilitarisierungsbestimmungen des Versailler Vertrages abzustreifen oder zumindest zu umgehen. Es kam Schleicher daher sehr zupass, als Reichsaußenminister Stresemann (DVP) im Pariser Abkommen vom 31. Januar 1927 erreichen konnte, dass die Interalliierte Militär-Kontrollkommission noch im Frühjahr desselben Jahres ihre Arbeit 18
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Siehe die Aufzeichnungen Friedrich v. Rabenaus vom 20.12.1918 über eine Besprechung im Großen Generalstab zu Berlin am 16.12.1918 bei Hürten, Revolution, S. 31; vertiefend Strenge, Schleicher, S. 16 f.; Kilian, Führung, S. 176. Pyta, Demokratie, S. 419 f. Zu der Gruppe der »Reformer« sind vor allem führende Offiziere des Truppenamts im Reichswehrministerium zu zählen wie Joachim v. Stülpnagel, Bogislaw v. Bonin und Erich v. d. Bussche-Ippenburg, daneben noch Werner v. Blomberg (später erster Reichswehrminister unter Hitler), Generalleutnant Otto Hasse (Befehlshaber Wehrkreis III) sowie der pensionierte Oberstleutnant Friedrich Wilhelm v. Willisen, siehe Kilian, Führung, S. 176–182; Hürter, Groener, S. 38 m. w. N.; Carsten, Reichswehr, S. 280 f. und 284. Grundlegend die Arbeiten von Deist, Reichswehr, und von Geyer, Aufrüstung, S. 234, ders., Wege, S. 401 f. Siehe auch Hillgruber, Großmachtpolitik, S. 37–51. Zit. nach Vogelsang, Reichswehr, S. 409–413. Hürter, Groener, S. 38–40.
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einstellte. Zum anderen konnte die Intensivierung der Rüstungsbemühungen nicht länger an Kabinett und Parlament vorbei organisiert werden, weshalb Schleichers Wehrmachtsabteilung und sein späteres Ministeramt für die Reichswehr ab 1926 neue informelle Leitungen in das politische Berlin verlegten. Dass das Kabinett Müller (SPD) sowie die dahinter stehende Reichstagsmehrheit im Jahr 1928 ein erstes umfangreiches Rüstungsprogramm billigten, ist nicht selten als Zeichen einer vorübergehenden Annäherung von Republik und Reichswehr gedeutet worden.24 Dieser Interpretation kann man jedoch auch mit Skepsis begegnen, ohne dabei die Spätphase Weimars von vornherein durch die Brille von 1933 zu betrachten: Zunächst einmal konnte sich schon die Reichswehr der Ära Seeckt für ihre Geheimrüstungsanstrengungen auf einen politischen Grundkonsens der Wehrhaftmachung verlassen, worauf Bergien in einer jüngeren Arbeit eindrücklich hingewiesen hat. Den geforderten »Rechtsbruch aus nationaler Verantwortung« stimmte Groener nun sogar mit dem gesamten Reichskabinett ab;25 er wurde von weiten Teilen der politischen Elite Deutschlands, insbesondere den Sozialdemokraten gebilligt.26 In Kontrast zur Scheidemann’schen Intervention im Reichstag duldeten Reichskanzler Wilhelm Marx und sein Nachfolger Hermann Müller (beide SPD) in den Jahren 1926/27 die bis dato geheimen Verstöße gegen den Versailler Vertrag. Für sie war der Stein des Anstoßes eben nicht die Wehrhaftmachung an sich, sondern nur deren mangelhafte Regierungsaufsicht gewesen.27 Insofern ist damit zumindest auch richtig, dass sich die SPD und damit die für die republikanische Staatsform wichtigste Partei umgekehrt ein Stück weit auch auf die Reichswehr zubewegte. Es handelte sich dabei – wie schon beim Zusammengehen Groeners mit Ebert im November 1918 – in erster Linie um ein Zweckbündnis, das auf einer Teilidentität der Ziele beruhte. Dem paralegalen Charakter der Reichswehr wurde somit in einem wichtigen Punkt von den staatstragenden Parteien auch in der letzten republikanischen Phase nicht viel entgegengesetzt. Hinzu kommt, dass weite Teile des Offizierkorps weiterhin ihrer Seeckt’schen Prägung verhaftet und dem neuen Kooperationskurs des Reichswehrministeriums ziemlich reserviert gegenüberstanden.28 Die kleine Gruppe innovativer Offiziere andererseits stellte sich gerne in die Tradition der preußischen Heeresreformer des frühen 19. Jahrhunderts,29 die bereits eine stärkere Abstimmung von zivilem und militärischem Apparat sowie eine Volksbewaffnung nach Vorbild der französischen levée en masse propagiert hatten.30 Das Bedürfnis, das Zusammenwirken von Militär und Zivilverwaltung sowohl im inneren wie auch im äußeren Ernstfall besser koordinieren zu können, war dabei wohl vor allem 24
25 26 27 28 29 30
Besonders positiv als (letztlich erfolglosen) Versuch einer solchen Annäherung sieht die Politik Groeners Hürter, Groener, S. 362 f.; zustimmend Kolb/Schumann, Weimarer Republik, S. 195; ähnlich Kroener, Fromm, S. 174. Kroener, Militär, S. 21. Bergien, Republik, S. 394. Bergien, Republik, S. 144–147 und 153 f. Für Geyer, Rüstungspolitik, S. 121, war die Reichswehrpolitik sogar schon seit 1921 »immer in erster Linie Rüstungspolitik«. Hürter, Groener, S. 39; Beispiele bei Carsten, Reichswehr, S. 280 f. und 284. Schönrade, Stülpnagel, S. 91. Potempa, Schatten, S. 232; Müller, Beck, S. 76–79; Keller, Wehrmacht, S. 29.
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aus der Weltkriegserfahrung geboren. Bereits 1922 hatte das Truppenamt die Einrichtung eines Reichsverteidigungsrats nach angloamerikanischem Vorbild verlangt. Das Gremium sollte unter Vorsitz des Reichskanzlers alle für die Landesverteidigung relevanten Minister versammeln und entsprechende Sachentscheidungen kollegial treffen – eine Idee, die allerdings kaum durchzusetzen war, solange die Interalliierte Militär-Kontrollkommission im Lande war. Erst 1928 wagte Groener hier einen erneuten Anlauf, der immerhin die Einrichtung eines Referentenausschusses im Jahr Herbst 1929 zur Folge hatte. Dort trafen Militärs und Spitzenbeamte aus Reich und Ländern unter Vorsitz von Oberstleutnant Wilhelm Keitel, dem Leiter der Organisationsabteilung im Truppenamt (und spätere Generalfeldmarschall), zwar keine politischen Leitentscheidungen, allerdings halfen sie die administrative Koordinierung verbessern – ein Fortschritt, der in Schleichers Staatsnotstandsplanungen des Spätjahres 1933 noch reiche Früchte trug.31 Was die Volksbewaffnung anbetraf, so sollte nach Schleichers »Querfront«-Strategie dafür insbesondere das Potential der »Wehrverbände« von SA über Stahlhelm bis zum sozialdemokratischen Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold (mit Ausnahme des kommunistischen Rotfrontkämpferbunds) aktiviert und damit aber zugleich auch kontrolliert werden. Ein solcher Ansatz stand allerdings in krassem Widerstreit mit dem Seeckt’schen Konzept eines hochtechnisierten Berufsheers mit einem in sich geschlossenen und homogenen Personalkörper, vor allem was das Offizierkorps anbetraf. Auch hier hilft es, sich die historischen Dimensionen dieses Richtungsstreits zu verdeutlichen: Das Konzept eines Volkskriegs, das ursprünglich im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg entstanden war, hatte mit der levée en masse im revolutionären Frankreich seinen Durchbruch gefeiert.32 Unter dem Eindruck des napoleonischen Sieges führten die preußischen Heeresreformer die allgemeine Wehrpflicht 1813/14 gegen erheblichen Widerstand der Konservativen ein. Kernstück war dabei die Schaffung der Landwehr: eine Miliz, die eine in sich geschlossene Reservestreitkraft bildete.33 Dem aufstrebenden Bürgertum ermöglichte die Landwehr zudem erstmals im größeren Stil den Zugang zum Offizierberuf, was im Heerstaat Preußen einen unschätzbaren Emanzipationsfaktor darstellte.34 Besonders die Landwehr zog daher nach der Niederwerfung Napoleons auch die Kritik der Restauration auf sich. Gerade vor dem Hintergrund der zunehmend drängenderen sozialen Frage fürchteten konservative Kreise das Revolutionspotential eines unter Waffen stehenden Volkes.35 Auch der preußische Verfassungskonflikt der 1860er Jahre, der noch von den Erfahrungen des Deutschen März geprägt war,36 drehte sich ganz wesentlich um die Landwehr: Während König Wilhelm I. ein größeres stehendes Heer bevorzugte und die Landwehr marginalisieren wollte, mach31 32 33 34 35 36
Zu Reichsverteidigungsrat und Referentenausschuss siehe ausführlich Bergien, Republik, S. 358–366. Walter, Heeresreformen, S. 104–114 (104 f.). Verordnung über die Organisation der Landwehr vom 17.3.1813, Preußische Gesetz-Sammlung 1813, S. 109– 119; Walter, Heeresreformen, S. 187–195, 271–316. Walter, Heeresreformen, S. 193 und 362–369. Walter, Heeresreformen, S. 326–331. Zur Landwehr im Jahr 1848 siehe Walter, Heeresreformen, S. 329 f.
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ten sich die liberalen Kräfte im Abgeordnetenhaus für eine Beibehaltung und Stärkung der Miliz stark.37 Ebenso forderte das noch stark marxistisch geprägte »Erfurter Programm« der SPD aus dem Jahr 1891 an dritter Stelle: »Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere.«38 Im Ersten Weltkrieg bemühte sich die dritte OHL um eine möglichst totale Mobilisierung aller Kräfte, der Ludendorff später das Signum des »totalen Krieges« verpasste.39 Die kontroverse Bewertung setzte sich zum Kriegsende 1918 fort: Aus der Perspektive etwa derjenigen Offiziere, die sich am 16. Dezember 1918 zu einer von den Majoren Schleicher und Harbou geleiteten Besprechung im Großen Generalstab zu Berlin einfanden, war gerade das durch die Mobilmachung bewirkte Eindringen weiter Volkskreise in die Armee wesentlich mitverantwortlich für den revolutionären Zusammenbruch gewesen. Die Aufzeichnungen eines Teilnehmers sprechen für sich: »Die Truppe, also das Instrument der Gewalt, ist […] nicht mehr sicher. Die alten, erprobten Jahrgänge sind oder werden entlassen. Damit bleibt in den Kasernen ein ganz eigentümlicher Rest. Es sind die alten Ersatzbataillone, stark verseucht durch die Arbeiter- und Soldatenräte.«40 In gewisser Weise spielte dieser konzeptionelle Paradigmenstreit noch beim militärischen Widerstand gegen Hitler eine Rolle. So mussten alle Staatsstreichplanungen von einem Offizierkorps ausgehen, das spätestens seit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 1935 längst nicht mehr so homogen-konservativ wie zu Weimarer Zeiten, sondern in weiten Teilen nationalsozialistisch infiziert war.41 Mit dem Konzept des Massenheeres verbanden sich zum Ende von Weimar aber auch gewisse Staatsvorstellungen: Während Groener ultimativ wohl so etwas wie eine stärker »militarisierte Demokratie«42 vorschwebte, wollten insbesondere die Konzeptionäre des Schleicher-Kreises nicht bei einer bloßen Kooperation mit den Institutionen der Republik stehenbleiben: Sie begehrten vielmehr die Transformation zum totalen »Wehrstaat«, die eben – anders als die historischen Vorbilder Scharnhorst und Gneisenau43 – nicht bei einem Ausbau der Schnittstellen zwischen zivilem und militärischem Sektor aufhörte, sondern die Schranken zwischen beiden niederreißen und sie miteinander verschmelzen sollte. Einen wegweisenden Wendepunkt markierte dabei ein Vortrag, den der Schleicher-Vertraute Oberstleutnant Joachim v. Stülpnagel im Februar 1924 vor Offizieren des Reichswehrministeriums hielt.44 Stülpnagel war damals Leiter der Heeresabteilung im Truppenamt (T 1), also im verdeckten Generalstab, und hatte die Erfahrungen des Weltkriegs ausgewertet, um hieraus 37 38 39 40 41 42 43 44
Walter, Heeresreform, S. 457 f. Siehe die dritte Forderung des »Erfurter Programms« der SPD von 1891, abgedruckt in: Erich Fleischer (Hg.), Das Erfurter Programm: Ein historisches Dokument, München 1948, S. 93–96. Wehler, Krisenherde, S. 101 f. So das kurze Zeit später gefertigte Gedächtnisprotokoll Friedrichs v. Rabenau, abgedruckt bei Hürten, Revolution, S. 30 f. Heinemann, Widerstand, S. 753 und 767 f. Geyer, Aufrüstung, S. 235. Zur geistigen Patenschaft der Befreiungskriege gegen Napoleon siehe Schönrade, Stülpnagel, S. 91–108. Kilian, Führung, S. 181.
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ein Konzept für den »Krieg der Zukunft« abzuleiten.45 Aufgrund der Unterlegenheit des nach dem Versailler Vertrag entwaffneten Deutschlands sollte ein zukünftiger Krieg – sehr wahrscheinlich gegen Frankreich, für Stülpnagel aus der Perspektive des Jahres 1924 noch der »Todfeind« – in zwei Phasen unter Einsatz sowohl regulärer Streitkräfte als auch einer Volkserhebung geführt werden.46 In der ersten Phase sollte dabei der Feind in einem langen Verzögerungsgefecht unter operativer Nutzung nahezu des gesamten Reichsterritoriums in einem »Krieg der verbrannten Erde« nach Partisanen- und Guerillamanier47 abgenutzt werden, um Zeit für die Rüstung und die Mobilisierung des eigentlichen Heeres sowie zum Schmieden außenpolitischer Bündnisse zu erlangen. Überdies gehörten Verluste unter der Bevölkerung zum selbstverständlichen Kalkül; in den paramilitärischen Grenzschutzverbänden plante Stülpnagel mit bis zu 75 % Verlusten. Erst in einem zweiten Schritt sollte dem ermatteten Feind dann auch mit der verhältnismäßig kleinen Reichswehr der Vernichtungsschlag durch klassische Offensivoperationen zugefügt werden. Um jedoch den Volkskrieg der ersten Phase zu ermöglichen, musste das Volk nach Stülpnagels Konzept vor dem Krieg national geeint und wehrhaft gemacht werden, wozu sportliche wie propagandistisch-ideologische Ertüchtigung als auch paramilitärische Ausbildung des Einzelnen gehörten. Aber nicht nur die Gesellschaft, sondern schließlich die gesamte Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik waren zu militarisieren.48 Das gesamte Volk, der gesamte Staat sollten sich in eine gigantische Kriegsmaschine verwandeln. Insofern – aber auch nur insofern – stimmte Stülpnagel hier mit Ludendorff und Hitler überein, die eine Umkehrung des Clausewitz’schen Diktums forderten und die Politik dem Krieg unterordnen wollten.49 Die Sicht auf den Staat von Weimar als eine bloße Übergangserscheinung paarte sich hier mit der Überzeugung, dass auch der Frieden nur ein Durchgangsstadium und der Kriegszustand vielmehr der Naturzustand der Staaten und Völker sei. Abermals darf hier nicht die ideologische Nähe zu den Theoretikern der »konservativen Revolution« übersehen werden, die den als Wesenszug des bürgerlichen Liberalismus begriffenen Antagonismus von Staat und Gesellschaft durch ein Aufgehen letzterer im totalen Staat überwunden sehen wollten.50 So verfügte der notorische Carl Schmitt mit den Schlei45 46 47
48 49 50
Aus dem Vortrag entstand eine Denkschrift mit dem Titel »Gedanken über den Krieg der Zukunft«, teilweise abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 266–276. Zu den ersten Ansätzen Stülpnagels in dieser Richtung ab dem Jahr 1919 siehe Kilian, Führung, S. 177–179. Die geistige Nähe Schmitts zur Reichswehrführung der späten 1920er und frühen 1930er Jahre mag sich auch auf seine spätere Beschäftigung mit einer »Theorie des Partisanen« (1963) ausgewirkt haben, in der er dem »Partisan als preußisches Ideal 1813« ein eigenes Kapitel widmet, siehe Schmitt, Theorie, S. 45–52. Eine übersichtliche Auseinandersetzung über die Denkschrift findet sich bei Schönrade, Stülpnagel, S. 83–91. Für Hitler siehe die prägnante Analyse bei Haffner, Anmerkungen, S. 100 und 109–112; für Ludendorff siehe Wehler, Krisenherde, S. 101 f. Schmitt, Wendung, S. 152: »Die gewaltige Wendung läßt sich als Teil einer dialektischen Entwicklung konstruieren, die in drei Stadien verläuft: vom absolutistischen Staat des 17. und 18. Jahrhunderts über den neutralen Staat des 19. Jahrhunderts zum totalen Staat der Identität von Staat und Gesellschaft.« Siehe auch ders., Begriff, S. 24 f. und 68; ders., Legalität, S. 10 f und 84 f.; ders., Hüter, S. 78 f. Zum totalen Staat bei Schmitt siehe instruktiv neuerdings Neumann, Schmitt, S. 204 f. und 211–213. Mit eindeutig nationalsozialistischem Einschlag dann Forsthoff, Staat, dazu die Anmerkungen von Wehler, Krisenherde,
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cher-Vertrauten Oberstleutnant Eugen Ott (ab 1931 Leiter der Wehrmachtsabteilung, also des politischen Planungsstabes) und Major Erich Marcks (1927 bis 1932 Pressesprecher des Reichswehrministeriums, danach unter Papen und Schleicher Pressesprecher der Reichsregierung) über beste Beziehungen ins Reichswehrministerium.51 In seiner bereits 1929 geschriebenen, 1931 in erweiterter Fassung erschienenen Schlüsselschrift vom »Hüter der Verfassung« nahm er ganz unverhüllt Bezug auf die militärischen Wurzeln des totalen Staats: »Ein hervorragender Vertreter der deutschen Frontsoldaten, Ernst Jünger, hat für diesen erstaunlichen Vorgang eine sehr prägnante Formel eingeführt: die totale Mobilmachung. Ohne Rücksicht auf den Inhalt und die Richtigkeit, die jenen Formeln von potenzieller Rüstung oder totaler Mobilmachung im Einzelnen zukommt, wird man die in ihnen enthaltene, sehr bedeutende Erkenntnis beachten und verwerten müssen. Denn sie bringen etwas Umfassendes zum Ausdruck und zeigen eine große und tiefe Wandlung an: die im Staat sich selbst organisierende Gesellschaft ist auf dem Wege, aus dem neutralen Staat des liberalen 19. Jahrhunderts in einen potenziell totalen Staat überzugehen.«52
Mit Hans-Ulrich Wehler gesprochen galt damit zusammengefasst für das »Mindset« der Reichswehrführung in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren: »Der totale Staat kämpft dann nach der totalen Mobilmachung den totalen Krieg.«53 Umgekehrt darf aber nicht vergessen werden, dass auch der Großteil der Sozialdemokraten auf argwöhnischer Distanz zur Reichswehr blieb. Vertreter ihres rechten Flügels, wie der preußische Ministerpräsident Otto Braun, der Reichstagsabgeordnete Julius Leber oder Reichsinnenminister Carl Severing, konnten sich mit ihren Konzepten zur Wehrhaftmachung des Volkes (etwa durch paramilitärische Früherziehung in Schulen) in ihrer eigenen Partei nicht durchsetzen. Auch wenn die Skepsis gegenüber dem Geist der Reichswehr durchaus nachvollziehbar, ja vielleicht sogar angebracht war – dies führte allerdings dazu, dass die SPD als die maßgeblich republikanische Partei im Rennen um die Gunst der Soldaten immer deutlicher ins Hintertreffen gegenüber der seit Mitte der 1920er wiedererstarkenden NSDAP geriet.54 Eine kleine Episode aus dem Jahr 1931 zeigt indes auch, dass zumindest Schleicher die Aufrüstung nicht als reinen nationalen Selbstzweck begriff, sondern durchaus in der Lage schien, sicherheitspolitisch über den Tellerrand des Reiches zu denken und strategische Bündnisse mit dem Ausland ins Kalkül zu ziehen. In seiner 2005 erschienenen Habilitationsschrift weist Guido Müller darauf hin, dass Schleicher offenbar im Jahr 1931 bemüht war, gewissermaßen in Verlängerung der Stresemann’schen Entspannungspolitik mittelfristig ein deutsch-französisches Militärbündnis in die Wege zu leiten. Hierzu bediente er sich wie so oft eines Mittelsmannes, Kurt v. Lersner, der in geheimem Auftrag nach Paris reiste und über die Kanäle des dort tagenden
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S. 100 f. Freilich von anderen Prämissen ausgehend trug auch die Integrationslehre Rudolf Smends den totalen Staat in sich, worauf Schmitt, Begriff, S. 26 selbst genüsslich hinweist. Umgekehrt lassen sich die Grundrechte der WRV als Garantie der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft interpretieren, siehe hierzu Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 95 f. Pyta, Demokratie, S. 421; Breuer, Schmitt, S. 213. Schmitt, Hüter, S. 79 (Hervorhebungen im Original gesperrt). Wehler, Krisenherde, S. 98. Bucher, Reichswehrprozeß, S. 9 f.
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Deutsch-Französischen Studienkomitees – eines von französischen und deutschen Industriellen gegründeten, konservativen Gesprächskreises – einen Kontakt zu französischen Militärs herstellen sollte. Dass dieser Ansatz nicht weiter verfolgt wurde, erklärt sich nach Müller jedoch vornehmlich mit Stresemanns Nachfolger Julius Curtius und dessen Staatssekretär Bernhard Wilhelm v. Bülow, die nicht auf einen Ausgleich mit dem damals ebenfalls konservativen Frankreich aus waren, sondern sich außenpolitisch lieber gen Osten zur Sowjetunion orientieren wollten.55 Der eingeschlagene Aufrüstungskurs wurde im Übrigen auch von der Justiz mitgetragen: Zwar führten bei weitem nicht alle der vom Reichswehrministerium erstatteten Strafanzeigen wegen Landesverrats (§§ 87–89 und 92 RStGB) und Straftaten nach dem Spionagegesetz von 191456 zu Verurteilungen. Doch auch ohne die von Groener immer wieder erfolglos geforderte Verschärfung57 führte die Handhabung der bestehenden Vorschriften dazu, dass die Anzahl der Verfahren und Verurteilungen wegen Landesverrats oder Spionage zwischen 1918 und 1933 deutlich über dem Niveau des Kaiserreiches lag.58 Zuständig war hier grundsätzlich das Reichsgericht; Sachen minderer Bedeutung konnten der Oberreichsanwalt und das Reichsgericht seit der »Emminger’schen Justizreform« von 1924 auch an die Landesstaatsanwaltschaften und die Oberlandesgerichte abgeben.59 Nicht selten richteten sich die Anzeigen der Reichswehr gegen Presseorgane, da nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 RStGB mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft wurde, wer Staatsgeheimnisse, von denen er wusste, »daß ihre Geheimhaltung einer anderen Regierung gegenüber für das Wohl des Deutschen Reichs« erforderlich war, öffentlich bekanntmachte oder jener Regierung mitteilte. Gerade in Hinblick auf dieses Merkmal des »Reichswohls« und den entsprechenden subjektiven Tatbestand wendete die Reichsjustiz recht laxe Maßstäbe an und wich von bisheriger Rechtsprechung aus Kaisers Friedens- und sogar Kriegszeiten ab. Für Anwendungsfälle gegen Journalisten entwickelte sich daraus die Figur des »publizistischen Landesverrats«. Besonders zwei Landesverratsprozesse erregten eine größere Aufmerksamkeit und können in dieser Hinsicht als Fanal der Weimarer Justiz gelten: Der erste ist der »Ponton-Prozess«, der seinen Namen von einem Artikel vom 11. April 1925 über das Sinken einer Ponton-Fähre in der Weser erhielt, in dem das verdeckte System der Zeitfreiwilligenausbildung zur Umgehung der personellen Rüs55 56 57 58
59
Müller, Gesellschaftsbeziehungen, S. 233–238; siehe auch Strenge, Schleicher, S. 113. Zur Betonung des Strategischen unter Groener und Schleicher siehe auch Deist, Wege, S. 402–404. Siehe auch das Gesetz gegen den Verrat militärischer Geheimnisse vom 3.6.1914 (Spionagegesetz), RGBl. 1914 S. 195–199. Hürter, Groener, S. 299–302. Die Zahlen sind im Einzelnen umstritten, worauf Hanten, Landesverrat, S. 57–61, zutreffend hinweist, jedoch die von ihm erhobenen Zahlen nicht offenlegt. Nach Radbruch, Strafrechtsreform, S. 278, ließ das Reichsgericht allein im Jahr 1927 46 Anklagen wegen Landesverrats gegen das Reich zu, zudem befanden sich im September desselben Jahres 127 Personen wegen Landesverrats oder Spionage in Strafhaft. Messerschmidt, Militärwesen, S. 525, spricht von Urteilen wegen Hoch- und Landesverrats gegen 16.000 Personen in den Jahren 1919 bis 1925. § 43 der Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4.1.1924, RGBl. 1924 I S. 15–22; hier besonders § 134 der Neufassung des GVG vom 22.3.1924, RGBl. 1924 I S. 299–321.
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tungsbeschränkungen des Versailler Vertrags offengelegt wurde.60 Eine wichtige Rolle nahm dabei Paul Jorns ein, der bereits als Kriegsgerichtsrat 1919 das Ermittlungsverfahren gegen die Luxemburg- und Liebknecht-Mörder manipuliert hatte61 und inzwischen zum Reichsanwalt avanciert war.62 Er leitete dort die erstinstanzliche Abteilung der Reichsanwaltschaft, war daher insbesondere für Landesverratssachen gegen das Reich zuständig und vertrat auch im Ponton-Prozess die Anklage.63 Der V. Strafsenat unter Vorsitz von Alexander Niedner verurteilte die beiden angeklagten Journalisten Berthold Jacob und Fritz Küster am 14. März 1928 zu je neun Monaten Festungshaft wegen versuchten [!] Landesverrats. In seiner Urteilsbegründung lehnte das Reichsgericht die Auffassung der Verteidigung ab, »dass die Aufdeckung und Bekanntgabe gesetzwidriger Zustände dem Reichswohle niemals abträglich, nur förderlich sein könne, weil das Wohl des Staates in seiner Rechtsordnung festgelegt sei und sich in deren Durchführung verwirkliche«. Vielmehr habe dem eigenen Staat »jeder Staatsbürger die Treue zu halten. Das Wohl des eigenen Staates wahrzunehmen, ist für ihn höchstes Gebot«.64 Der einzelne Staatsbürger habe stattdessen »seine Beschwerden über ungesetzliche Zustände an die Behörden des Reichs oder der Länder zu richten«. Sollten diese seine Mitteilung nicht entgegennehmen, so stehe »ihm das Recht zu, die Volksvertretung gem. Art. 126 RVerf. anzurufen«.65 In zynischer Palmström-Logik66 leugnete das Reichsgericht zudem die Enthüllungen des inkriminierten Artikels über die Geheimrüstung und verurteilte im Ergebnis »nur« wegen Versuchs: »Weil die mitgeteilten Nachrichten unwahr waren, die Angeklagten aber sie für wahr gehalten haben, liegt versuchter Landesverrat vor.«67 Das zweite und sogar noch wichtigere in Rede stehende Verfahren war der »Weltbühne-Prozess«, der einen Artikel des Journalisten Walter Kreiser vom 12. März 1929 in der von Carl v. Ossietzky herausgegebenen Zeitschrift »Die Weltbühne« zum Gegenstand hatte.68 In seinem Artikel hatte Kreiser den heimlichen Aufbau einer deutschen Luftwaffe entgegen Art. 198 Abs. 1 des Versailler Vertrages offenbart. Am 23. November 1931 verurteilte der IV. Strafsenat Ossietzky und Kreiser zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis wegen Verbrechens gegen § 1 Abs. 2 des Gesetzes gegen den Verrat militärischer Geheimnisse vom 3. Juni 1914 (Spionagegesetz).69 Hier ging das Reichsgericht allerdings den Weg, die verbreiteten Tatsachen nicht zu leugnen 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69
Hanten, Landesverrat, S. 115–126. Siehe hierzu Kapitel I.1. unter Buchstabe b). Gustav Radbruch lieferte sich mit Jorns über die Landesverratsrechtsprechung des Reichsgerichts einen publizistischen Schlagabtausch, siehe Radbruch, Strafrechtsreform, S. 279. Jorns wurde später Leiter der Staatsanwaltschaft beim Volksgerichtshof. Eine gute Übersicht seiner Biografie findet sich bei Radbruch, Strafrechtsreform, S. 378. RGSt 62, 65 (67). RGSt 62, 65 (71). Zu Palmström siehe den letzten Vers des Gedichts »Die unmögliche Tatsache« von Christian Morgenstern: »›Weil‹, so schließt er messerscharf, ›nicht sein kann, was nicht sein darf.‹« RGSt 62, 65 (70). Siehe hierzu auch Gusy, Schutz, S. 208 f. Strafbar war hier die Gefährdung der Sicherheit des Reichs dadurch, dass der Täter geheim zu haltende Nachrichten an eine ausländische Regierung oder an eine Person, die im Interesse einer ausländischen Regierung tätig war, gelangen ließ, RGBl. 1914 S. 195–199.
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und die Angeklagten wegen Vollendung zu bestrafen. Stattdessen schloss der Senat die Öffentlichkeit von der Urteilsverkündung aus; auch jede publizistische Verbreitung war untersagt.70 Dementsprechend wurde das Urteil – anders als im PontonProzess – auch nicht in der Entscheidungssammlung des Reichsgerichts veröffentlicht.71 Den (bedingten) Vorsatz Ossietzkys begründete das Reichsgericht unter anderem so: »Der Angeklagte war auch Pazifist. Mit der Erwähnung dieser Tatsache soll zu dieser Weltanschauungsfrage keine Stellung zu Ungunsten der Angeklagten genommen werden. Sie rechtfertigt aber psychologisch den Schluß, daß der Angeklagte mit dem fraglichen Artikel ›antimilitärisch‹ wirken wollte, und unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich zwanglos der Wille des Angeklagten, etwas von der Militärverwaltung geheim Gehaltenes aufzudecken.« Umgekehrt aber verneinte das Gericht eine Überzeugungstäterschaft der Angeklagten aus politischen Beweggründen, die automatisch zu erheblichen Hafterleichterungen geführt hätte.72 Strafschärfend berücksichtigte der Senat, dass der »Schaden, der durch derartige schwere Indiskretionen dem deutschen Reich und dessen Regierungsstellen leicht zugefügt werden kann, […] ja unabsehbar nicht nur für die Heeresverwaltung, sondern für die Lebensinteressen des deutschen Volkes« bedeutend werden konnte. Die Justiz bedrohte damit zum Schutz der Geheimrüstung der Reichswehr in ganz eigener Weise die parlamentarische Demokratie, indem sie ganz wesentliche ihrer Grundlagen – Pressefreiheit und Meinungsfreiheit – empfindlich einschränkte. Von einer Annäherung kann daher nur insofern die Rede sein, als unter Republik ein Aliud zur Monarchie verstanden wird, deren irreversiblen Untergang die Reichswehr nun endgültig zu akzeptieren lernte. Eine echte, innere Annäherung der Reichswehr aber an die pluralistische Gesellschaft und die parlamentarische Demokratie hat auch in der Spätphase Weimars nicht stattgefunden. Es kann also nicht überraschen, dass ihre Generale das zwischenzeitige Zweckbündnis – erst mit der parlamentarischen Republik, dann mit den Präsidialkabinetten – mit Hitler nahtlos fortsetzten, als er ihnen nur vier Tage nach der »Machtergreifung« am 3. Februar 1933 die Wiedereinführung der Wehrpflicht und eine massive Aufrüstung versprach.73
2. Der Hochverrat der Ulmer Reichswehroffiziere Aus der Spätphase der Republik sticht noch ein weiterer Prozess heraus, der sich allerdings in dem ihm zugrundeliegenden Sachverhalt ganz erheblich von den Verfahren gegen den pazifistisch motivierten Enthüllungsjournalismus unterschied:74 70 71 72 73 74
Siehe die §§ 173–175 des GVG i.d.F. des Gesetzes, betreffend die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Gerichtsverhandlungen, vom 5.4.1888 (RGBl. 1888 S. 133–135). Reichsgericht, Urt. v. 23.11.1931 – 7 J 35/29, XII L 5/31 – (unveröffentlicht; in der Bibliothek des BGH verfügbar). § 52 der Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7.6.1923 (RGBl. 1923 II S. 263–282). Siehe hierzu die Aufzeichnung des Generalleutnant Curt Liebmann über die Rede Hitlers vor ranghohen Generalen des Reichswehrministeriums am 3.2.1933, abgedruckt bei Vogelsang, Dokumente, S. 434 f. Siehe hierzu und im Folgenden die grundlegende und bis heute maßgebliche Arbeit von Bucher, Reichswehrprozeß.
2. Der Hochverrat der Ulmer Reichswehroffiziere
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Seit ihrem Wiedererstarken in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre buhlte die NSDAP zunehmend um die Gunst der Reichswehr, wobei ihr erstens das geistige Vermächtnis der neurechten Freikorps, zweitens die illegale Ausbildung paramilitärischer Verbände (u. a. der SA) durch Reichswehrangehörige, drittens die innere Distanz des Militärs zur Republik und schließlich viertens die pazifistisch-antimilitärische Haltung des linken Parteiflügels der 1928 bis 1930 in großer Koalition regierenden SPD in die Hände spielten.75 Ultimativ wollte die NSDAP vor allem verhindern, dass die Reichswehr sich zur Niederschlagung eines nationalsozialistischen Umsturzversuchs würde einsetzen lassen. Hierzu suchte sie insbesondere einen Keil zu treiben zwischen die Offiziere und die neue Reichswehrführung unter Groener, die der Republik aus Pragmatismus zuneigte. Die Masse der Reichswehroffiziere, vor allem der älteren, blieb zwar trotz manchem Unbehagen schon aus Gründen der Disziplin ihrem Ministerium gegenüber wenigstens äußerlich loyal. Zu sehr fürchteten sie ein Auseinanderbrechen der Armee in der innenpolitischen Polarisierung. Doch gerade unter den jüngeren fanden sich einige Heißsporne, die es zur »nationalen Tat« drängte, darunter Leutnant Richard Scheringer, Leutnant Hanns Ludin und Oberleutnant Hans Friedrich Wendt vom 5. Artillerie-Regiment in Ulm. Sie interessierten sich besonders für die sozialrevolutionären Elemente des Nationalsozialismus, wollten aus den hermetisch-verschlossenen Offizierkasinos ausbrechen, in den verbotenen Arbeiterlokalen neue Kontakte knüpfen und nicht immer nur in der zweiten, sondern auch mal in der dritten Klasse Bahn fahren dürfen.76 Ab 1929 konspirierten sie mit Funktionären der NSDAP und schrieben in größerem Stil aktive, jüngere Offiziere an, um sie für ihre Sache zu gewinnen. Doch einer der Adressaten – ein Oberleutnant Westhoff aus Eisenach – ließ die Sache auffliegen und setzte seine Vorgesetzten in Kenntnis. Auf dem Dienstweg landete die Sache schließlich beim Chef der Heeresleitung, Heye.77 Der damalige Regimentskommandeur, Oberst Ludwig Beck, erfuhr von den Umtrieben seiner Offiziere erst Anfang Januar 1930 in einer Besprechung mit Heye.78 Zu diesem Zeitpunkt war eine Untersuchung des Reichswehrministeriums bereits in vollem Gange. Auch wenn sich die ganze Tragweite der Affäre noch nicht offenbart hatte, war man sich dort durchaus bewusst, dass der Anfangsverdacht einer durch die ordentliche Gerichtsbarkeit zu ahndenden Straftat bestand.79 Aber Heye und Beck (die sich schon aus Kriegszeiten kannten) waren sich einig, die Sache ausschließlich disziplinarisch und damit intern zu ahnden.80 Scheringer, der bis dahin (neben dem zum Jahresende 1929 ausgeschiedenen Wendt) als einziger ins Visier der internen Ermittlungen 75 76 77 78 79
80
Bucher, Reichswehrprozeß, S. 8 f. Schüddekopf, Heer, S. 269. Scheringer wandte sich ab 1931 dem Kommunismus zu. Bucher, Reichswehrprozeß, S. 38 f. Bucher, Reichswehrprozeß, S. 221. Die internen Ermittlungen gingen dabei nicht von Hochverrat i. S. d. RStGB, sondern von Erregung von Missvergnügen in Beziehung auf den Dienst (§ 102 MStGB) aus, siehe Bucher, Reichswehrprozeß, S. 42 und 45. Müller, Beck, S. 82.
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geraten war, kam mit einer Ermahnung und drei Tagen Stubenarrest davon.81 Doch als der (spätere Generalfeldmarschall) Oberst v. Kluge im Februar 1930 das Kommando über das 2. (Preußische) Artillerie-Regiment in Schwerin übernahm, fand er in den Akten einen Vermerk über die Meldung eines ebenfalls kontaktierten Offiziers, aus dem nun neben der Beteiligung Ludins auch das reichsweite Wirken der Ulmer Offiziere sowie das Zusammenwirken mit der NSDAP eindeutig hervorgingen. Nach kurzen weiteren Ermittlungen gab Reichswehrminister Groener den Fall am 25. Februar 1930 schließlich doch an die Oberreichsanwaltschaft ab, obschon sich Schleicher als sein Chef des Ministeramtes weiter für eine rein disziplinare Ahndung stark machte.82 Eine weitere Konsequenz war der »Uhrenerlass« vom selben Tag, in dem der Reichswehrminister sich vorbehielt, denjenigen »Soldaten, welche bei der Abwehr radikaler Zersetzungsangriffe gegen die Wehrmacht so umsichtig und tatkräftig gehandelt haben, daß die betreffenden wehrmachts- und staatsfeindlichen Personen durch polizeiliche Festnahme der Bestrafung zugeführt werden konnten«, ein Anerkennungsschreiben mit eigenhändiger Unterschrift, eine Uhr mit Gravierung, Sonderurlaub sowie »in ganz besonderen Fällen« vorzeitige Beförderung zuteilwerden zu lassen.83 Die im Herbst 1930 folgende Hauptverhandlung beim Reichsgericht in Leipzig beanspruchte insgesamt acht Verhandlungstage; sie wurde von der Presse mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und rückte die NSDAP endgültig in das Licht der Öffentlichkeit. Die Nationalsozialisten, die erst kurz zuvor bei den Reichstagswahlen vom 14. September von einer Splitterpartei zur zweitstärksten Kraft emporgeschnellt waren, wussten den rappelvollen Verhandlungssaal geschickt als Bühne zu nutzen. Mit ihnen war fortan zu rechnen, auch wenn der als Zeuge geladene Hitler in seinem »Legalitätseid« beteuerte, die Macht im Reich nur auf verfassungsmäßigem Wege erreichen zu wollen.84 Umgekehrt offenbarte die Beweisaufnahme deutlich, was für eine negative Stimmung im Offizierkorps insgesamt gegen die Republik allgemein und besonders gegen die pragmatische Annäherungspolitik des Reichswehrministers herrschte.85 Am 4. Oktober 1930 verurteilte das Reichsgericht die drei Angeklagten Scheringer, Ludin und Wendt wegen gemeinschaftlicher Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens (§ 86 RStGB) zu einem Jahr und sechs Monaten (ehrenhafter) Festungshaft unter Anrechnung der Untersuchungshaft von sechs Monaten und drei Wochen. Gegen Scheringer und Ludin
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Bucher, Reichswehrprozeß, S. 46. Bucher, Reichswehrprozeß, S. 47 f. Erlass des Reichswehrministers über Anerkennung und Belohnung von Soldaten für erfolgreiche Abwehr radikaler Zersetzungsangriffe gegen die Wehrmacht vom 25.2.1930, HVBl. 1930 S. 17; abgedruckt bei Schüddekopf, Heer, S. 288; ebenfalls bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 453. Bucher, Reichswehrprozeß, S. 257, 262 f. und 270. Hitler wurde weder promissorisch noch assertorisch vereidigt, siehe ebenda S. 239. Hitler gab auch zu Protokoll, nach der legalen Machtübernahme würden »auch Köpfe rollen«, ebenda S. 260. Bucher, Reichswehrprozeß, S. 78.
2. Der Hochverrat der Ulmer Reichswehroffiziere
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wurde zudem auf Dienstentlassung aus dem Heer erkannt.86 Das Gericht ging also nicht von einem Hochverrat im Sinne von § 81 RStGB aus, der als echtes Unternehmensdelikt den Eintritt in das Versuchsstadium verlangte und in einem milderen Fall mit Festungshaft nicht unter fünf Jahren zu bestrafen war, sondern nur von der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens (§ 86 RStGB). Hier billigte es den Angeklagten zudem – ähnlich wie bereits Traugott v. Jagow im Prozess über den Kapp-Lüttwitz-Putsch87 – mildernde Umstände zu, so dass sich der Strafrahmen auf sechs Monate bis drei Jahre Festungshaft reduzierte. Das Reichsgericht folgte auch nicht dem Antrag des Oberreichsanwalts, die Angeklagten zu zwei Jahren und sechs Monaten Festungshaft zu verurteilen. Ausschlaggebend waren dafür nach der Urteilsbegründung »vor allen Dingen die edlen Motive, aus denen sie gehandelt haben«.88 Schließlich sprach das Gericht im Urteil noch aus, dass die Angeklagten– anders als etwa Carl v. Ossietzky im Weltbühne-Prozess89 – als Überzeugungstäter anzusehen waren, was automatisch zu erheblichen Hafterleichterungen führte.90 Reichspräsident v. Hindenburg begnadigte Ludin acht Monate später mit Wirkung vom 5. Juni 1931.91 Symptomatisch zeigt der Fall der Ulmer Reichswehroffiziere, wie sehr die Reichswehr auch nach Seeckt darauf bedacht war, selbst politischen Extremismus und schwerste Disziplinverstöße so lange wie irgend möglich intern zu behandeln. Wie ein Fanal erhellte der folgende Prozess der deutschen Öffentlichkeit die Missstimmung des Offizierkorps gegen den Staat von Weimar. Nicht wenige teilten die Haltung Becks, wie etwa der junge Oberleutnant Hellmuth Stieff – später Generalmajor der Wehrmacht und wie Beck ebenfalls Beteiligter am Widerstand des 20. Juli 1944 – der an seine Frau schrieb: »Diese Angelegenheit gehörte vor einen Ehrenrat wegen nachgewiesener Unglaubwürdigkeit der betreffenden Offiziere, und die Sache wäre auf kaltem Wege, d. h. Verabschiedung erledigt worden […] Da war der Schaden ohne großes Aufsehen erledigt.«92 Öffentlich war durch den Prozess schließlich auch geworden, dass es um die Eintracht von politischer Reichswehrführung im Ministerium und Offizierkorps nicht zum Besten bestellt war. Vor allen Augen stand nun, dass der Kurs der Entpolitisierung bei der Reichswehr eine offene rechte Flanke verursacht hatte. Keineswegs konnte sicher damit gerechnet werden, dass sie die Republik im Ernstfall geschlossen auch nach innen verteidigen würde. 86
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Reichsgericht, Urt. v. 4.10.1930 – 12 J 10/1930, XII H 41/30 – (unveröffentlicht; in der Bibliothek des BGH verfügbar). Die Entfernung aus dem Dienstverhältnis folgte aus §§ 30 Nr. 2, 34 Abs. 2 Nr. 1 MStGB 1926; siehe auch § 22 Abs. 2 Buchstabe b WG. Siehe hierzu auch Kapitel I.2. unter Buchstabe a). Reichsgericht, Urt. v. 4.10.1930 – 12 J 10/1930, XII H 41/30 –, S. 48 f. (unveröffentlicht; in der Bibliothek des BGH verfügbar). Siehe dazu oben unter Kapitel VIII.1. Reichsgericht, Urt. v. 4.10.1930 – 12 J 10/1930, XII H 41/30 –, S. 50 (unveröffentlicht; in der Bibliothek des BGH verfügbar). Siehe auch § 52 der Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vom 7.6.1923 (RGBl. 1923 II S. 263–282). Bucher, Reichswehrprozeß, S. 134. Das Begnadigungsrecht des Reichspräsidenten folgte aus Art. 49 Abs. 1 WRV. Zit. nach Bucher, Reichswehrprozeß, S. 123.
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VIII. Spätphase und Untergang der Republik
3. Weimar und Reichswehr in der Transformation: Preussenschlag und »Planspiel Ott« Ohne Zweifel bedeutete die »Machtergreifung« der Nationalsozialisten im Januar 1933 eine Zäsur der deutschen Geschichte. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Staat von Weimar bereits in den Jahren zuvor sein Gesicht ganz erheblich verändert hatte. Wie überhaupt die Weimarer Reichsverfassung auch im »Dritten Reich« nie formell außer Kraft gesetzt wurde, so klaffte auch bereits seit Ende März 1930, als die große Koalition des Reichskanzlers Müller (SPD) scheiterte, eine nicht unerhebliche Lücke zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit. Die Republik wurde also nicht erst mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 193393 beerdigt, vielmehr gelangte der parlamentarische Gesetzgebungsstaat schon wesentlich früher an sein Ende – womit Deutschland im Übrigen zu dieser Zeit in Europa nicht allein stand. Da die Kreativfunktion nach der Reichsverfassung ja nicht beim Reichstag, sondern beim Reichspräsidenten lag (Art. 53 WRV), konnte Hindenburg die neue Reichsregierung völlig unabhängig von den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen berufen. Um ihr dennoch die hinreichende Machtbasis zu sichern, bediente er sich seines Notverordnungsrechts aus Art. 48 Abs. 2 WRV. Den Reichstag, der die getroffenen Maßnahmen ja nach Art. 48 Abs. 3 S. 2 WRV wieder rückgängig machen oder nach Art. 54 WRV ein destruktives Misstrauensvotum abgeben konnte, setzte Hindenburg in die Spur, indem er ihm mit der Auflösung nach Art. 25 Abs. 1 WRV drohte und diese im Ernstfall auch anordnete. Der notorische Carl Schmitt weihte diese Staatspraxis mit »Legalität und Legitimität« – so der Titel seiner in der ersten Jahreshälfte 1932 und damit noch vor der eigentlich heißen Phase der Weimarer Staatskrise gefertigten Schrift.94 Einer Briefpartnerin teilte Schmitt gut dreißig Jahre später mit: »Die Eindrücke aus Gesprächen mit dem General Hammerstein haben wesentlich zu meiner Theorie von Legalität und Legitimität beigetragen.«95 Schmitt hatte den seit dem 1. November 1930 als Nachfolger Heyes amtierenden Chef der Heeresleitung bereits am 15. Dezember 1931 bei einem Privatempfang bei Major Marcks kennengelernt und dabei mit ihm, wie er seinem Tagebuch anvertraute, »über Verfassung und Diktatur geplaudert«.96 Mit seiner Schrift »Legalität und Legitimität« schied er die Verfassung in einen formalen und wertneutralen Teil über die Staatsorganisation und in einen substanzhaften, wertorientierten Grundrechtsteil.97 Beide Teile hätten nur unter günstigen Bedingungen nebeneinander bestehen können. Jetzt, da der erste Teil ausgehöhlt war, könne der wertgebundene Grundrechtsteil, der materielle Kern der Verfassung, nur durch Überwindung der bisherigen Staatsorganisation gerettet werden. Zu dieser 93 94
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Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24.3.1930, RGBl. 1933 I S. 141. Dem eigentlichen Text stellte Schmitt folgende Bemerkung voran »Diese Abhandlung lag am 10. Juli 1932 abgeschlossen vor.« Damit wollte Schmitt vor allem deutlich machen, dass sie vor dem Preußenschlag am 20.7.1932 fertig war. Zit. nach Pyta/Seiberth, Staatskrise, S. 432. Schmitt, Tagebücher 1930–1934, S. 156. Siehe auch Pyta/Seiberth, Staatskrise, S. 432. Schmitt, Legalität, S. 52.
3. Preußenschlag und »Planspiel Ott«
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Aufgabe sah er den von ihm zum »Hüter der Verfassung« gekürten Reichspräsidenten berufen, dessen plebiszitäre Legitimität die bloß formale und wertneutrale parlamentarische Legalität übertrumpfe.98 Aus Art. 48 Abs. 2 WRV entwickelte Schmitt schließlich das passende Instrument, den außerordentlichen Gesetzgeber ratione necessitatis, dessen eigentliche Bedeutung es sei: »die Maßnahme des Verwaltungsstaats verdrängt das Gesetz des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates«.99 Die Geschichte der Präsidialkabinette und der vielen Gründe ihres Scheiterns ist oft genug erzählt worden, sie soll hier nicht in Gänze wiederholt werden. Doch lohnt der Blick auf einige wiederkehrende Motive der Rechtsgeschichte der Reichswehr, die auch in dieser Endphase der Republik, wenn auch mehr im Hintergrund, eine nicht ganz unwichtige Rolle spielten. Die Schlüsselfigur dieser Zeit ist sicherlich – für die Reichswehr wie für das Reich insgesamt – Kurt v. Schleicher gewesen, der als Angehöriger der reichspräsidentiellen Kamarilla einen ganz wesentlichen Einfluss auf Hindenburg ausübte und die Politik des Reichswehrministeriums entscheidend prägte, erst recht, seit er im Juni 1932 dort selbst Minister wurde.100 So hatte Schleicher auch maßgeblichen Anteil an den Berufungen Heinrich Brünings und danach Franz v. Papens zum Reichskanzler, bevor er Anfang Dezember 1932 für knapp zwei Monate selbst die Regierungsgeschäfte übertragen bekam. Besonders zur Jahreswende 1932/33 wurde er dann zum Antipoden Hitlers schlechthin – eine Rolle, die er und sein enger Mitarbeiter v. Bredow101 in der »Nacht der langen Messer« vom 30. Juni auf den 1. Juli 1934 mit dem Leben bezahlten. Die Loyalität Schleichers zu Groener wie auch die Annäherungspolitik des dritten Reichswehrministers fanden 1932 ein endgültiges Ende: Hatte Schleicher früher noch anders als Seeckt für die Mobilisierung der Arbeiterschaft im Kriegsfall auf die sozialdemokratische Karte gesetzt,102 so zweifelte er spätestens seit 1928 an der Verlässlichkeit der SPD als Partner in Wehrfragen, nachdem die Sozialdemokraten mit der Losung »Für Kinderspeisung – gegen Panzerkreuzerbau!« in den Reichstagswahlkampf gezogen waren. Daran änderte auch nichts, dass Reichskanzler Müller (SPD) den Bau schließlich gegen erheblichen Widerstand der eigenen Partei durchsetzte. Nicht zuletzt weil die Möglichkeit einer Berufung des damaligen preußischen Innenministers Carl Severing (SPD) zum Reichswehrminister als »Schreckgespenst« durch die Truppe ging, beförderte Schleicher den Sturz der großen Koalition Müllers beim Reichspräsidenten im Rahmen seiner nicht geringen Einflussmöglichkeiten. Damit schwanden für die Reichswehr allerdings auch die potentiellen Verbündeten und damit die Optionen. Als Groener, inzwischen in Personalunion auch kommissarischer Reichsinnenminister, auf Drängen der Länderinnenminister zum 13. April 1932 ein Verbot der nationalsozialistischen SA über Art. 48 Abs. 2 WRV erwirkte,103 brach98 99 100 101
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Winkler, Weg, S. 520. Schmitt, Legalität, S. 64–81. Kolb/Schumann, Republik, S. 142; Pyta, Demokratie, S. 418. Bei v. Bredow kam hinzu, dass Göring sich 1932 ihm gegenüber illoyal zu Hitler geäußert hatte. Zudem hatte v. Bredow wohl Material zu einer Landesverratssache gegen Göring, siehe hierzu Strenge, Bredow, S. 241; dieselbe, Schleicher, S. 154. Carsten, Reichswehr, S. 165. Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung der Staatsautorität vom 13.4.1932, RGBl. 1932 I S. 175.
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VIII. Spätphase und Untergang der Republik
te er damit seinen Ziehsohn gegen sich auf. Schleicher intrigierte zu dieser Zeit bereits mit führenden Nationalsozialisten gegen das sozialdemokratisch tolerierte Kabinett Brüning.104 Sein »Querfront«-Konzept sah eine Kooperation der Reichswehr auch mit Teilen der NSDAP vor, insgeheim wollte er die aufstrebende Partei damit aber im besten Fall auseinanderbrechen. Schleicher kündigte seinem alten Mentor auf das SA-Verbot hin stellvertretend für das gesamte Offizierkorps die Gefolgschaft auf und drängte Groener so erfolgreich zum Rücktritt.105 Im neuen Präsidialkabinett Franz v. Papens, das Hindenburg zum 1. Juni 1932 berief, wurde Schleicher dann selbst Reichswehrminister. Auch wenn er in mancherlei Hinsicht mit der Reichswehr der Ära Seeckt gebrochen hatte – in diesen Jahren versuchte er jedoch im Prinzip genau das zu erreichen, was die OHL im November 1918 hatte aufgeben müssen und wovor Seeckt noch zurückgeschreckt war: die Errichtung eines autoritären und auf militärische Belange ausgerichteten Staats. Zur Erinnerung: Schon im November 1918 wie auch im Ausnahmezustand des Winters 1923/24106 hatte Schleicher in den Stäben Groeners und Seeckts die Militärpolitik maßgeblich mitentworfen. Die Alternativen lauteten in den Spätjahren des Staats von Weimar also nicht: parlamentarische Demokratie oder »Drittes Reich«, sondern vielmehr autoritärer Militärstaat oder Nationalsozialismus. Hier hilft es, sich bei aller Ähnlichkeit die feinen Unterschiede klarzumachen: Ein autoritäres Regime unter Abstützung auf die Reichswehr, vermutlich zumindest übergangsweise in Gestalt einer Militärdiktatur, hätte vermutlich Oberschichtenherrschaft bedeutet, ständisch, elitär bis aristokratisch – unter Umständen sogar eine monarchische Restauration. Zwar wäre auch hier der Einfluss des obstruierten und damit letztendlich gescheiterten Parlaments zugunsten der Exekutive zurückgedrängt worden. Das Deutsche Reich wäre aber wahrscheinlich – trotz allen Flirts des Militärs mit dem Ausnahmezustand – im Grunde ein Verfassungs- und vor allem ein Rechtsstaat geblieben.107 Zugegeben hätte sich ein solches Regime vielleicht auch auf künstlich erzeugte Massenbegeisterung abstützen müssen. Dem Nationalsozialismus dagegen war das »Pöbelhafte« von Anfang an ein innerer Wesenszug. Er verstand sich als eine im Grunde antikonservative, anfänglich auch revolutionäre Massenbewegung von unten, die keine Elite im klassischen, administrativ-intellektuellen Sinne hervorbringen wollte. Die auf der »Teilidentität der Ziele« beruhende Kooperation mit den konservativen Eliten war mehr Vernunftehe als Liebesheirat, wie sich spätestens am 20. Juli 1944 zeigte. Ein zweiter, vielleicht noch wichtigerer, oft verborgen gebliebener Unterschied zwischen Schleicher und Hitler, zwischen Reichswehr 104 105 106 107
Kolb/Schumann, Republik, S. 140 und 144. Hürter, Groener, S. 348–351; Francis, Reichswehr, S. 378–388; Kolb/Schumann, Republik, S. 140. Pyta, Demokratie, S. 420; Strenge, Schleicher, S. 23–26; Vogelsang, Dokumente, S. 404, Fn. 25. Pyta, Vorbereitungen, S. 160. In diesem Zusammenhang muss auch der Entwurf einer Regierungserklärung Beck/Goerdeler zur Vorbereitung auf den Staatsstreichversuch des 20.7.1944 gesehen werden: »Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts. Die Regierung selbst muß darauf bedacht sein, jede Willkür zu vermeiden, sie muß sich daher einer geordneten Kontrolle durch das Volk unterstellen. Während des Krieges kann diese Kontrolle nur vorläufig geordnet werden. Einstweilen werden lautere, sachkundige Männer aus allen Ständen berufen werden; ihnen werden wir Rede und Antwort stehen, ihren Rat wollen wir einholen.« Zit. nach Jacobsen, Spiegelbild, Band 1, S. 147–156.
3. Preußenschlag und »Planspiel Ott«
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und Nationalsozialismus bestand darin, dass das deutsche Militär preußischer Prägung in den 1920er Jahren zwar größtenteils der gegenwärtigen Staatsform, nie aber der Staatsidee an sich abgeneigt war, wie sie sich von Kontinentaleuropa ausgehend seit der frühen Neuzeit entwickelt hatte. Im Gegenteil: Die Reichswehr Seeckts wollte über dem parteipolitischen Tageszwist schweben und unbedingt – trotz aller hilflosen Suchbewegungen – Hüter wenigstens des abstrakten Staates, der »Reichsidee« sein.108 Dem Nationalsozialismus wohnte dagegen etwas durch und durch Antistaatliches inne. Das »Dritte Reich« kannte keine Verfassung, noch nicht einmal eine ungeschriebene. Alles, was den Staat kennzeichnet, erodierte der NS: Die Unterscheidung von Amt und Person, die Institutionen, die Verfahren, das Recht. Nicht einmal das unabdingbare organisationsrechtliche Minimum einer Verfassung war vorhanden, so etwas wie eine Nachfolgeregelung. So sehr stand und fiel das »Dritte Reich« mit seinem »Führer«, dass es einer Regression zu personalen Herrschaftsformen des Frühmittelalters nahekam.109 Das von feudalen Motiven getränkte Streben nach »Lebensraum«, das weder Ziel noch Grenzen kannte und noch dazu die Bedeutung der industriellen Revolution völlig ignorierte, passt ganz in dieses Bild und grenzte den nationalsozialistischen »Staat« zusätzlich zum Territorialstaat der Neuzeit ab. Die wesentlichen Pfeiler der NS-Ideologie waren nicht Staaten, sondern Völker und Rassen. Es nimmt also rückblickend auch nicht Wunder, dass der Nationalsozialismus nicht nur ein physisch, sondern auch ein staatlich zerstörtes Deutschland hinterließ.110 Daher darf – auch wenn sich die Reichswehr (wie im Übrigen auch Carl Schmitt) dem Nationalsozialismus schließlich unterordnete und anbiederte – Hitlers Totalitarismus auch nicht mit den zugegeben recht diffus gebliebenen Vorstellungen Schleichers und Konsorten vom totalen (Wehr-)Staat verwechselt werden: Denn auch der »totale Krieg«, den Goebbels im Februar 1943 den Massen versprach, kam zumindest im Sinne einer zentralen Bündelung aller Kriegsanstrengungen nicht weit über die Rede des Reichspropagandaministers hinaus. So bildeten ja gerade die staatsorganisatorischen Defizite, das Chaos verschiedener »Staaten im Staate«, die Kompetenzzersplitterung und das institutionelle Nebeneinander und Durcheinander wesentliche Beweggründe für den Staatsstreichversuch vom 20. Juli 1944.111 Nicht von ungefähr pflegte der Major i.G. Stauffenberg von der Organisationsabteilung des Heeres Vorträge über die Kriegsspitzengliederung mit der Bemerkung einzuleiten, »die Kriegsspitzengliederung der Wehrmacht sei noch blöder, als die befähigsten 108
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»Schleichers oberstes Ziel war die Festigung der ›Staatsidee‹«, so Strenge, Schleicher, S. 17. Zum »Reichsmythos« siehe Winkler, Weg, S. 5–13, 67 f. und 524. Im Seeckt’schen Attentismus sah schon die Gestapo eine der geistigen Wurzeln des Widerstands vom 20.7.1944, siehe Jacobsen, Spiegelbild, Band 1, S. 273 f. und 525 f. Rebentisch, Führerstaat, S. 553. Sehr instruktiv und m. w. N. Dreier, Staatsrechtslehre, S. 32–62, der auf S. 59–62 zum Fazit einer »Objektlosigkeit der Staatsrechtswissenschaft« in NS-Deutschland gelangt. Siehe auch Haffner, Anmerkungen, S. 111, 113 f. und 184. Auf den Unterschied zwischen »Etatismus« und »Nationalsozialismus« als zwei Ausprägungen des rechten Totalitarismus weist auch ein prominenter Apoleget der »konservativen Revolution« und Wegbereiter der »Neuen Rechten« hin, siehe Mohler, Stil, S. 183–185. Heinemann, Widerstand, S. 751–763.
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Generalstabsoffiziere sie erfinden könnten, wenn sie den Auftrag bekämen, die unsinnigste Kriegsspitzengliederung zu erfinden«.112 Dass diese wichtige Unterscheidung auch nicht einfach Geburt nachträglicher Abstrahierungen ist, zeigt ein Blick auf einen Tagebucheintrag des britischen Botschafters in Berlin vom 8. Mai 1930. Darin skizziert er die hellsichtigen Bemerkungen, die Oberst Kühlenthal, der zu dieser Zeit die »Heeresstatistische Abteilung« (T 3)113 und damit das militärische Nachrichtenwesen im Reichswehrministerium leitete, beim Abendessen eine Woche zuvor ihm gegenüber fallengelassen hatte: »Die nationalsozialistische Bewegung ist eine wirkliche Gefahr und eine weit größere Bedrohung für die derzeitige Verfassung als der Kommunismus. Die Problematik um die ›Braunhemden‹ liegt darin, daß ihre Grundsätze und Theorien völlig destruktiv sind. Sie wollen das augenblickliche Gefüge des Staates zerstören, haben aber kein konstruktives Programm, das sie an dessen Stelle setzen können außer einer Art tollwütiger Diktatur. Auf lange Sicht gesehen ähnelt die Bewegung daher weit mehr dem Bolschewismus als dem Faschismus. Unglücklicherweise habe die allgemeine Unzufriedenheit mit der letzten Regierung, der Young-Plan usw. das Interesse einer Anzahl junger Offiziere der nationalsozialistischen Bewegung zugewandt als einem Mittel, um die finanziellen und politischen Schwierigkeiten Deutschlands zu überwinden.«114
Vor dem Ende seiner politischen Karriere und Hitlers »Machtergreifung« konnte Schleicher jedoch im Jahr 1932 noch einige beachtliche Teilerfolge bei der Verwirklichung seiner Agenda verbuchen. Dazu gehört zweifelsfrei der »Preußenschlag« vom 20. Juli 1932, als das frischgebackene Kabinett Papen, dem Schleicher ja als Reichswehrminister angehörte, die sozialdemokratische Staatsregierung in Preußen durch ein Reichskommissariat ersetzte. Preußen war mit zwei Dritteln der Fläche und drei Fünftel der Gesamtbevölkerung der mit weitem Abstand größte Gliedstaat des Deutschen Reichs. Vor den Landtagswahlen vom 24. April 1932 hatte der alte preußische Landtag noch die Wahlordnung für den Ministerpräsidenten dahingehend geändert, dass in jedem Wahlgang eine absolute Mehrheit erforderlich war. Dabei war die Mehrheit der Abgeordneten nach der Reichspräsidentenwahl vom März zutreffend davon ausgegangen, dass die Landtagswahlen ebenfalls einen Rechtsruck bringen würden. Nach der Landtagswahl fand sich jedoch keine regierungsbildende Mehrheit mehr, so dass die sozialdemokratische Staatsregierung Otto Brauns geschäftsführend im Amt blieb.115 In dieser Situation sprachen aus Sicht der Regierung Papen im Wesentlichen drei Punkte für ein Vorgehen gegen Preußen: Zunächst handelte es sich beim bisher sozialdemokratischen Preußen um das Bollwerk der Weimarer Demokratie. Anders als noch im Kaiserreich verfügte der jetzige Freistaat Preußen – seines eigenen Heeres beraubt – über die beachtliche Summe von 90.000 Schutzpolizisten, die gerade im Vergleich zur Reichswehr ein erhebliches Machtpotential in der Hand des sozialdemokratischen Innenministers 112 113
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Hoffmann, Stauffenberg, S. 251. »Heeresstatistische Abteilung« war der Tarnname für die frühere »Abteilung Fremde Heere«, die 1931 so auch wieder offiziell rückbenannt wurde. Aus ihr entwickelte sich später die Organisation Gehlen und damit der Bundesnachrichtendienst; siehe Pahl, Heere, S. 57 f., 93–101 und 319–321. Zit. nach Schüddekopf, Heer, S. 289. Neumann, Schmitt, S. 265 f.
3. Preußenschlag und »Planspiel Ott«
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Severing bedeuteten. Zweitens drohte in der bestehenden Verfassungskrise Preußens eine Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten, sei es auch nach einer etwaigen Neuwahl des Landtags.116 Drittens schien mit dem »Preußenschlag« zunächst die Möglichkeit gegeben, den bisherigen Dualismus von Preußen und Reich eventuell dauerhaft zu beenden – ein im Übrigen alter Topos der Reichswehrführung117 – ohne dafür die seit längerem diskutierte Reichsreform abwarten zu müssen.118 Schon am 14. Juli setzte Hindenburg seine Unterschrift unter den Entwurf zweier undatierter Blankoverordnungen, die gestützt auf Art. 48 Abs. 1 und 2 WRV (Reichsexekution und Ausnahmezustand) Papen zum Reichskommissar für Preußen bestellten und zum letzten Mal (vor dem 20. Juli 1944) den militärischen Ausnahmezustand über Berlin verhängten.119 Seit die neue Reichsregierung das SAVerbot am 14. Juni 1932 wieder aufgehoben hatte,120 verschlechterte sich die Sicherheitslage im Reich beachtlich: Am Altonaer Blutsonntag vom 17. Juli 1932 kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen NSDAP, Kommunisten und preußischer Polizei, bei denen 16 Anwohner den Tod durch Polizeischüsse fanden. Das bildete den willkommenen Anlass für das Einschreiten der Reichsregierung, die der preußischen Staatsregierung nun grobe Verletzungen der ihr »nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten« (Art. 48 Abs. 1 WRV) vorwarf. Allerdings waren die Würfel für Preußen bereits zu diesem Zeitpunkt gefallen: Schon am 12. Juli waren in einer Ministerbesprechung sowohl das genaue Vorgehen als auch der Termin vereinbart worden,121 wonach Papen die preußische Staatsregierung dann am 20. Juli für 10 Uhr einbestellte und ihr den Inhalt der Notverordnung verkündete.122 Da insbesondere Innenminister Severing vorübergehend den Eindruck erweckte, sich widersetzen zu wollen, erging um 11:15 Uhr eine weitere Verordnung des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 WRV, die den militärischen Ausnahmezustand über Berlin verhängte und Reichswehrminister Schleicher die vollziehende Gewalt über116
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Das bestreitet Neumann, Schmitt, S. 271 f. und verweist dabei auf die öffentlichen Verlautbarungen Papens, wonach die Gleichsetzung von Kommunisten und NSDAP durch die preußische Staatsregierung den Preußenschlag notwendig gemacht habe. Richtig ist zwar, dass Papen im Zweifel auf die NSDAP (und nicht die KPD) als Zweckpartner abstellte. Das ändert jedoch nichts daran, dass er ein Interesse an der größtmöglichen Einhegung der Nationalsozialisten hatte. Severing selbst sah in der »Verreichlichung« der preußischen Polizei das geringere Übel gegenüber einer Machtübernahme der NSDAP in Preußen sah, siehe Winkler, Weg, S. 515. Siehe nur Seeckts Denkschrift über die Neuordnung des Aufbaus von Reich und Ländern vom 4.2.1924, abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 273–283 (276): »Der Weg, den die Neuordnung jetzt gehen muß, führt nicht zu einem Aufgehen Preußens im Reich, sondern zu der Entwicklung Preußens zum Reich.« Pyta, Republik, S. 140 f. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Papen, Band 1, Nr. 63, S. 240; Neumann, Schmitt, S. 270. § 20 Nr. 6 der Verordnung des Reichspräsidenten gegen politische Ausschreitungen vom 14.6.1932, RGBl. 1932 I S. 297–300. Hierbei handelte es sich um die Erfüllung einer Zusage, die Schleicher am 4.6.1932 Hitler für die Duldung der Regierung Papen gegeben hatte, siehe Winkler, Weg, S. 511 f. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Papen, Band 1, Nr. 59, S. 211–213 (212 f.). Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen, vom 20.7.1932, RGBl. 1932 I S. 377.
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trug, der sie seinerseits auf Militärbefehlshaber übertragen konnte.123 Auch wenn die Übertragung der vollziehenden Gewalt dies mitbeinhaltete, stellte die Notverordnung klar: »Zur Durchführung der zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen wird dem Inhaber der vollziehenden Gewalt die gesamte Schutzpolizei des bezeichneten Gebiets unmittelbar unterstellt.« Der Reichswehrminister berief daraufhin den Befehlshaber des Wehrkreises III, Generalleutnant Gerd v. Rundstedt (auch er später Generalfeldmarschall), zum Militärbefehlshaber.124 Der wiederum ließ die entscheidenden Stellen der preußischen Staatsregierung besetzen, die Spitzenbeamten der Polizei aus ihren Ämtern entfernen und insbesondere den renitenten Polizeipräsidenten von Berlin Albert Grzesinski (SPD) vorübergehend verhaften, bis er eine schriftliche Erklärung abgab, keine Amtshandlungen mehr vorzunehmen.125 Gewaltsamer Widerstand gegen den Preußenschlag erfolgte nicht, vor allem, da sich der SPD-Vorstand bereits vier Tage zuvor aus Furcht vor einem offenen Bürgerkrieg gegen einen Einsatz von Schutzpolizei und Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold entschlossen hatte.126 Stattdessen entschied sich die abgesetzte Staatsregierung dazu, den für staatsorganisationsrechtliche Streitigkeiten zwischen dem Reich und einem seiner Länder zuständigen Staatsgerichtshof (Art. 19 Abs. 1 WRV) anzurufen. Carl Schmitt erfuhr von den Ereignissen, die er später zu einem »Ruhmestag der deutschen Reichswehr« stilisierte,127 zu seinem eigenen Bedauern erst aus der Presse – trotz seiner guten Verbindungen ins Reichswehrministerium. Doch gleich am nächsten Tag stellte er aus eigener Initiative Kontakt zum Schleicher-Kreis her und rief Oberstleutnant Eugen Ott an, den Leiter der Wehrmachtsabteilung im Reichswehrministerium. Ott bat Schmitt gleich zu einem Gespräch, zu dem sich auch kurz Major Erich Marcks gesellte, der Pressesprecher der Reichsregierung.128 Hierbei wohl – und nicht etwa von dem für Verfassungsfragen eigentlich zuständigen Reichsinnenministerium – erhielt Schmitt den informellen Auftrag, eine Mannschaft für den Prozess Preußen contra Reich aufzustellen, was in der zusätzlichen Bestellung Carl Bilfingers und Erwin Jacobis mündete.129 Hatte Schleicher noch am 11. Juli in einer Kabinettsbesprechung zur Vorbereitung des Preußenschlags eine »Endlösung mit Bezug auf die Beseitigung des Dualismus Reich-Preußen« für notwendig befunden,130 so betonten die Prozessvertreter vor dem Staatsgerichtshof nun vielmehr die Vorläufigkeit der Maßnahmen, die 123
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Verordnung des Reichspräsidenten, betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Groß-Berlin und Provinz Brandenburg, vom 20.7.1932, RGBl. 1932 I S. 377 f. Siehe hierzu auch Blasius, Ende, S. 70. Siehe die Verlautbarungen Schleichers und Rundstedts in der Vossischen Zeitung vom 20.7.1932, abgedruckt bei Huber, Dokumente, Band 4, S. 561 f. Blasius, Ende, S. 70. Eine maßgebliche Rolle bei den Verhaftungen spielte der damalige Hauptmann Vincenz Müller, Schleichers Verbindungsmann zu Rundstedt, der im Krieg als Generalleutnant zu den Sowjets überlief und später den Aufbau der NVA leitete, siehe hierzu Förster, Wehrmacht, S. 8, Fn. 9; Lapp, General, S. 41–43. Winkler, Weimar, S. 493–502; Kolb/Schumann, Republik, S. 143. Schmitt, Staatsgefüge, S. 47. Schmitt, Tagebücher 1930–1934, S. 202. Pyta/Seiberth, Tagebuch, S. 434 f. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Papen, Band 1, Nr. 57, S. 204–208 (206).
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andernfalls auch nur schwer mit Art. 48 WRV in Einklang zu bringen gewesen wären.131 Der Staatsgerichtshof hielt den Preußenschlag in seiner Entscheidung vom 25. Oktober 1932 schließlich auch nicht nach Art. 48 Abs. 1 WRV (Reichsexekution) für zulässig, da keine Pflichtverletzung Preußens vorgelegen habe. Die getroffenen Maßnahmen seien allein mit Art. 48 Abs. 2 WRV (Ausnahmezustand) zu rechtfertigen, wobei sich insofern verfassungsimmanente Grenzen ergeben, als die preußische Staatsregierung nicht als solche abgesetzt werden könne und sie das Land weiterhin gegenüber Reichsrat, Reichstag (Art. 33 Abs. 2 S. 2 WRV) und gegenüber dem preußischen Staatsrat sowie anderen Ländern vertreten können müsse.132 Wolfram Pyta und Gabriel Seiberth haben hieraus den Schluss gezogen, dass der Schleicher-Kreis, der Schmitt ja erst nachträglich einschaltete, vermutlich »den Wert des Reichseingriffs gegen Preußen nicht zuletzt in der Akkumulation staatlicher Machtmittel im Hinblick auf eine mögliche Konfrontation mit der NSDAP erblickte und nicht in dem von Papen und [Reichsinnenminister] Gayl intendierten Auftakt zu einer durchgreifenden Reichs- und Verfassungsreform«.133 Nach dieser Lesart haben Schmitt, Bilfinger und Jacobi für die Regierung Papen zurückgerudert und den Preußenschlag nachträglich auf das verfassungsrechtlich Zulässige beschränkt. Eine solche Argumentation übersieht dreierlei: Erstens handelte es sich bei der von den Prozessvertretern vorgetragenen Argumentation weder um eine akademische Stellungnahme de lege ferenda zum Dualismus von Preußen und Reich noch um eine stellvertretend abgegebene politische Absichtsbekundung zur Reichsreform. Vielmehr musste es Schmitt, Bilfinger und Jacobi darum gehen, das verfassungspolitische Vorpreschen der Papen-Regierung gerichtsfest zu machen. Dabei wäre trotz aller reaktionären Tendenzen der damaligen Justiz der Versuch gewiss nicht ratsam gewesen, dem Staatsgerichtshof den offenen Verfassungsbruch zu verkaufen. Zweitens handelte es sich beim Preußenschlag aus Sicht des Schleicher-Kreises eben gerade nicht nur um eine situative Machtfrage. Vielmehr hatte schon die Krise des Winters 1923/24 Seeckt zu Überlegungen über eine Neuordnung des Verhältnisses von Reich und Ländern angeregt. Auch die am 12. August 1924 von Schleicher verfasste Denkschrift über den Ausnahmezustand hatte diese Gedanken fortgeführt und damit implizit zu einer Einebnung der föderalen Reichsstruktur aufgerufen.134 Außerdem war es ja gerade Schleicher selbst gewesen, der noch am 11. Juli 1932 im Kabinett nach einer »Endlösung« in dieser Frage gerufen hatte.135 Drittens und schließlich am wichtigsten ist die Verfassungsrealität, die der Preußenschlag hinterlassen hat: Der preußische Staat ist, auch wenn er formal erst 1947 durch die Alliierten aufgelöst wurde,136 seit dem 20. Juli 1932 politisch tot und nie 131 132 133 134 135 136
Pyta/Seiberth, Tagebuch, S. 438 und 442–445. RGZ 138, Anhang 1, S. 2 f.; 33 und 39–41. Pyta/Seiberth, Tagebuch, S. 441. Denkschrift des Referats T 1 III (Schleicher) über den militärischen Ausnahmezustand vom 12.8.1924, abgedruckt bei Hürten, Krisenjahr, S. 334–362 (353 f.); Strenge, Schleicher, S. 26 f. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Papen, Band 1, Nr. 57, S. 206. Kontrollratsgesetz Nr. 46, Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland 1947, S. 262.
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wieder auferstanden. Unabhängig von der im Prozess bemühten Argumentation entsprach das Ergebnis damit der ursprünglichen Intention Schleichers – wenn es nicht sogar darüber hinausging. Der Preußenschlag verdeutlicht damit zugleich, wie rasant sich das deutsche Militär in den 1920er Jahren verändert hatte: Hatte Preußen gut 15 Jahre zuvor noch über ein großes eigenes stolzes Heer verfügt, war es nun die politische Spitze der Reichswehr, die in der Person des Preußen Schleicher maßgeblich darauf hinarbeitete, den jahrhundertealten preußischen Staat dem Zentralismus zu opfern. Ein weiterer kleiner Erfolg Schleichers steht weniger in Zusammenhang mit der Festigung der inneren Staatsautorität als mit der von Stülpnagel propagierten Wehrhaftmachung der deutschen Zivilgesellschaft. Am 13. September 1932 fertigte Hindenburg einen von Reichskanzler und Reichsinnenminister gegengezeichneten Erlass aus »über die körperliche Ertüchtigung der Jugend«.137 Der Erlass richtete ein Reichskuratorium für Jugendertüchtigung ein, dessen Vorsitz er zwar dem Reichsinnenminister Wilhelm v. Gayl, die operative Geschäftsführung jedoch einem Präsidenten übertrug, dem General d. Inf. a.D. Edwin v. Stülpnagel (ein entfernter Onkel Joachim v. Stülpnagels). Bereits in einem Schreiben an Reichskanzler Brüning vom 18. Oktober 1930 hatte Groener umfassende Maßnahmen zur »körperlichen Ertüchtigung der Jugend im Sinne des Wehrgedankens« gefordert und vorgeschlagen, hierbei »bis an die Grenze zu gehen, an der die spezifisch ›militärische‹ Ausbildung entsprechend dem Wortlaut des Versailler Vertrags beginnt«. In einer Denkschrift über die »Wehrhaftmachung der Jugend« vom 4. März 1931 hatte Schleicher weitere Detailvorschläge über Struktur, Finanzierung und Aufgaben der Organisation an die Reichskanzlei übermittelt.138 Die Einrichtung des Kuratoriums hatte sich durch Verwerfungen zwischen Groener und dem Reichsinnenminister, die mit zu Wirths Demission beigetragen hatten, sowie zwischen Schleicher und Groener selbst verzögert. Zudem hatte die preußische Staatsregierung noch im Juli 1932 in einer Reichsratssitzung gegen das Reichskuratorium mobil gemacht, was die Entscheidung für den Preußenschlag sicherlich auch mitbefördert hatte. Ganz nach dem Querfront-Konzept Schleichers förderte die neue Organisation eine große Bandbreite von Verbänden, von der SA und dem Stahlhelm über den deutschnationalen Bismarckbund und das katholische Eichenlaub bis hin zum Reichsbanner. Eine gemeinsame Dachorganisation sollte aber nicht nur das Wehrpotential der verschiedenen Verbände anzapfen, sondern auch den Widerstreit unter ihnen befrieden sowie insbesondere der dynamisch aufstrebenden SA den Wind aus den Segeln nehmen und sie nach Kräften staatlicher Lenkung unterstellen. Allerdings überwogen bei den vom Reichskuratorium veranstalteten Lehrgängen, die in der Regel von Reichswehrangehörigen geleitet wurden, von Anfang an die Teilnehmer vom rechten Spektrum.139 137 138 139
Der Inhalt des Erlasses ist abgedruckt bei Akten der Reichskanzlei, Kabinett Papen, Band 2, Nr. 132, S. 541, Fn. 13. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Papen, Band 2, Nr. 132, S. 541, Fn. 12. Bergien, Republik, S. 370–373.
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Welchen Stellenwert dieses Projekt einnahm, lässt sich aus zweierlei Perspektiven verdeutlichen: Zum einen unterstrich Schleicher in einem dienstlichen Schreiben an Papen vom 17. Oktober 1932 den Stellenwert des Reichskuratoriums für die Umsetzung der Reichswehrkonzepte für den Krieg der Zukunft. Mit ihr werde »der vom Geist der Wehrhaftigkeit bestimmte Geländesport der Nationalerziehung dienstbar gemacht« und »zugleich die Fundamente der kommenden Wehrmiliz« gelegt.140 Zum anderen wurde das Reichskuratorium nach der »Machtergreifung« zum 1. Juli 1933 in die neugeschaffene SA-Dienststelle eines »Chefs des Ausbildungswesens« umgewandelt,141 womit sein Sinn ins Gegenteil verkehrt wurde: Das staatliche Reichskuratorium, das ursprünglich in erster Linie die SA im Regierungssinne kanalisieren und lenken sollte, wurde schließlich von eben dieser Parteiorganisation absorbiert. Da die Sozialdemokraten im Reichstag das »Kabinett der Barone« Papens anders als noch die Regierung Brünings nicht duldeten, war Hindenburg einem Misstrauensantrag der SPD-Fraktion zuvorgekommen, indem er am 4. Juni 1932 den Reichstag aufgelöst und für den 31. Juli eine vorgezogene Neuwahl angeordnet hatte. Damit hatte die erste, parlamentarisch geduldete Phase des Präsidialregimes geendet und seine zweite und letzte, nun offen anti-parlamentarische und noch weitaus autoritärere Phase begonnen.142 Durch die Juli-Wahl geriet das Präsidialkabinett Papen – Hindenburgs Favorit – weiter unter Druck: Die Nationalsozialisten errangen einen erdrutschartigen Sieg, konnten ihr Wahlergebnis aus dem Jahr 1930 verdoppeln und wurden mit 37,3 % mit Abstand stärkste Kraft im Parlament vor den Sozialdemokraten mit 21,6 % der Stimmen. Während die Parteiformationen, allen voran die SA, auf den Straßen kämpften, unterbreitete Schleicher der NSDAP wohl erstmals das Angebot einer Regierungsbeteiligung unter der Bedingung, dass er selbst das Reichswehrministerium behalten könne.143 Doch Hindenburg war zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt nicht Willens, dem »böhmischen Gefreiten« die Kanzlerschaft zu übertragen.144 Nach der konstituierenden Sitzung am 30. August erfolgte am 12. September die erste und einzige reguläre Sitzung des neuen Reichstags. Die KPD beantragte die Aufhebung zweier Art. 48 Abs. 2-Verordnungen und stellte einen Misstrauensantrag, dem sich die Nationalsozialisten anschlossen. In der Folge kam es zu einem Eklat: Der neue Reichstagspräsident Göring ignorierte Papen, der eine vom Reichspräsidenten bereits vorgefertigte Blankoauflösungsorder verlesen wollte. Formal wirkungslos sprach der de jure aufgelöste Reichstag der Reichsregierung das Misstrauen aus, doch politisch war Papen gleichwohl erheblich beschädigt.145 Die dann folgende erneute Reichstagswahl vom 6. November brachte zwar den Nationalsozialisten 140 141 142 143 144 145
Schreiben des Reichswehrministers an den Reichskanzler vom 17.10.1932, abgedruckt bei Akten der Reichskanzlei, Kabinett Papen, Band 2, Nr. 173, S. 795–800 (796). Vogelsang, Chef, S. 156. Winkler, Weg, S. 510. Kolb/Pyta, Staatsnotstandsplanung, S. 163. Winkler, Weg, S. 517 f. Winkler, Weg, S. 521 f.
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empfindliche Verluste. Umgekehrt aber legten die nicht minder verfassungsfeindlichen Kommunisten an Stimmen zu. Vor allem aber war an eine Regierungsmehrheit noch immer nicht zu denken, so dass das Kabinett Papen am 17. November zurücktrat, jedoch geschäftsführend im Amt blieb. Das Erstarken der Radikalen im Jahr 1932, fahrlässig befördert durch das parlamentarisch entkoppelte Präsidialregime, hatte zu der paradoxen Situation geführt, dass die Demokratie in ihrer parlamentarischen Form nun auch und vor allem durch das Parlament selbst bedroht war. Der Weg aus dieser Staatskrise, sollte er nicht nationalsozialistisch (oder kommunistisch) sein, konnte daher nur über die Stärkung der Exekutive und unter Bruch der bisherigen Verfassung erfolgen.146 Offen war in dieser Situation, wie dieser Bruch aussehen, wie weit er gehen und wie lange er andauern sollte. Während Papen hier recht eindeutig restaurativ dachte,147 ist bei Schleicher, gerade wegen seines arkanen Politikstils, bis heute nicht ganz klar, ob ihm nur verfassungsrechtliche Provisorien vorschwebten oder ob er einem dauerhaft autoritären Staat den Weg bereitet hätte.148 Unter dem Eindruck dieser Ereignisse hatte das Kabinett Papen bereits im August 1932 mit »Staatsnotstandsplanungen« begonnen, die auf eine zumindest vorübergehende Ausschaltung des Reichstages abzielten, wobei insbesondere die unbestimmte Aufschiebung von Reichstagsneuwahlen entgegen Art. 25 Abs. 2 WRV in Betracht gezogen wurde. Seit dem Preußenschlag hatten sich die Beziehungen Schmitts ins Reichswehrministerium offenbar intensiviert. In einem Tagebucheintrag vom 25. August berichtet er positiv von einer abendlichen Begegnung mit Hauptmann Hans Speidel149, der zu dieser Zeit in der nachrichtendienstlichen Abteilung Fremde Heere (T 3) diente und später ebenfalls die Staatsstreichpläne des 20. Juli 1944 unterstützte.150 Beide standen bis mindestens in die Kriegszeit über einen gemeinsamen Bekanntenkreis aus dem späteren Adjutanten Speidels, Horst Grüninger, sowie Ernst Jünger in Kontakt.151 Der späteren Darstellung Ernst Rudolf Hubers zufolge war der damals 29-jährige von seinem akademischen Lehrer Schmitt Ende August alleine nach Berlin vorgeschickt worden, um das Reichswehrministerium zu unterstützen, eine entsprechende Erklärung des Reichspräsidenten vorzubereiten. Ausgestattet mit den Schlüsseln seines Meisters hatte sich der aufstrebende Staatsrechtslehrer, der Schmitt auch im Prozess Preußen contra Reich zuarbeitete, zu einem konspira146 147 148 149
150
151
Winkler, Weg, S. 551; ders., Weimar, S. 576 f. und 608. Siehe hierzu kritisch Neumann, Schmitt, S. 311. Oberreuter, Souverän, S. 173. Kolb/Pyta, Staatsnotstandsplanung, S. 160. Für die Lesart, dass Schleicher lediglich eine Notlösung vorschwebte, siehe Pyta, Vorbereitungen, S. 386; ders., Demokratie, S. 424 und 431. Hans Speidel, geboren am 28.10.1897 in Metzingen (Württemberg), gestorben am 28.11. in Bad Honnef; Leutnant im Ersten Weltkrieg, studierte in den Jahren 1923/24 Geschichte und Volkswirtschaft, 1925 Promotion, seit 1930 in der Abteilung Fremde Heere im Reichswehrministerium, später Chef des Stabes der Heeresgruppe B unter Rommel, Kluge und Model, nach dem Krieg einer der ersten Generale der Bundeswehr, von 1957 bis 1963 Oberbefehlshaber der alliierten Landstreitkräfte in Mitteleuropa bei der NATO (COMLANDCENT – Commander Allied Land Forces Central Europe). Schmitt, Tagebücher, S. 210 f. Das Tagebuch spricht an dieser Stelle vom Leutnant Speidel (seit Februar 1932 Hauptmann), was aber auch bedeuten kann, dass die beiden sich schon zu dieser Zeit länger kannten. Zur Abteilung Fremde Heere (T 3) siehe Pahl, Heere, S. 57 f. Mehring, Schmitt, S. 410; Jünger, Pariser Tagebuch, S. 265; Villinger/Jaser, Briefwechsel, S. 70 f., 79
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tiven Treffen in dessen Berliner Wohnung begeben,152 wo er mit einer kleinen Gruppe Offiziere, darunter Ott, einen Entwurf ausgearbeitet und rechtlichen Rat erteilt hatte.153 Bereits beim wenige Tage später folgenden »Neudecker Staatsnotstandstreffen« am 30. August, als Papen, Gayl und Schleicher den Reichspräsidenten auf seinem Landgut in Ostpreußen besuchten, hatte Hindenburg zugesichert, dass er ein solches Abweichen von der Verfassung decken würde, um Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, wie es ihm sein Amtseid nach Art. 42 Abs. 2 WRV auftrug.154 Nach dem Debakel im Reichstag am 12. September fühlte sich das Kabinett jedoch derart beschädigt, dass es in einer Ministerbesprechung zwei Tage später die Aussichten, den Verfassungsbruch politisch durchzustehen, als sehr schlecht beurteilte und sich stattdessen (einzig gegen Gayls Widerstand) für die Neuwahl im November entschied.155 Bereits in dieser Besprechung wies Schleicher darauf hin, dass die zu dieser Zeit mit der Vorbereitung des Preußenschlag-Prozesses beschäftigten Staatsrechtslehrer Schmitt, Bilfinger und Jacobi sich in einer Besprechung mit Oberstleutnant Eugen Ott am Abend zuvor bereits dahingehend ausgelassen hatten, dass sie den Aufschub der Neuwahlen für gerechtfertigt hielten und auch öffentlich unterstützen würden.156 Die Reichsregierung erwartete für diesen Fall jedoch den erheblichen Widerstand der Straße, so dass sie von einem erfolgreichen Vorgehen nur dann ausging, wenn es durch die Reichswehr im Innern abgesichert werden könne. Besonderen Eindruck machte auf sie der Streik der Berliner Verkehrsgesellschaft unmittelbar vor der Novemberwahl, zu dem erstmals Kommunisten und Nationalsozialisten gemeinsam aufgerufen hatten. Schleicher ließ daher durch Ott am 25. und 26. November eine groß angelegte Stabsübung in den Räumen des Reichswehrministeriums im Bendlerblock durchführen. Dieses »Planspiel Ott« sollte Antwort auf die Frage geben, inwieweit die Reichswehr in der Lage sein würde, einen von NSDAP, KPD und SPD getragenen Generalstreik nebst kleinerer Unruheherde unter den Bedingungen des militärischen Ausnahmezustands nach Art. 48 Abs. 2 WRV in den Griff zu bekommen, um so den Übergang zu einem neuen Staat zu ermöglichen.157 Dabei kalkulierte die Reichswehr zudem damit, dass Polen das Gebundensein der Reichswehr im Innern zu Provokationen gegen das vom Reich geografisch getrennte und damit verletzliche Ostpreußen ausnutzen würde. Das gewählte Setting – ein vermutlich übertriebenes worst case scenario – determinierte freilich das Ergebnis des Planspiels: Die Reichswehr wäre mit einer solchen Aufgabe überfordert gewesen und konnte eine entsprechende Garantie daher nicht abgeben. Hierüber ließ Schleicher am 2. Dezember das Kabinett durch Ott persönlich in einem detaillierten Vortrag unterrichten, was auf die Minister und besonders Papen großen Eindruck machte. 152 153 154 155 156 157
Schmitt lehrte zu dieser Zeit an der Handelshochschule Berlin, lebte aber außerhalb der Vorlesungszeit in Plettenberg im Sauerland. Huber, Schmitt, S. 40 f. Winkler, Weg, S. 519 f.; Kolb/Pyta, Staatsnotstandsplanung, S. 165 f. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Papen, Band 2, Nr. 141, S. 576–583. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Papen, Band 2, Nr. 141, S. 580, Fn. 11. Pyta, Vorbereitungen, S. 387 f.
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Des militärischen Auswegs aus der Staatskrise beraubt, rückten die Kabinettsmitglieder von Papen ab, der damit an sein politisches Ende gelangt war und unmittelbar im Anschluss an Otts Vortrag den Reichspräsidenten ersuchte, Schleicher mit der Bildung eines neuen Kabinetts zu beauftragen. Verbreitet ist die Deutung, Schleicher habe das Ergebnis des Planspiels von vornherein intendiert, um Papen ultimativ unter Druck zu setzen und sich dadurch den Zugang zur Kanzlerschaft zu verschaffen.158 Das ist jedoch nicht zwingend: Zwar war das zugrunde gelegte worst case scenario sicherlich gerade in Hinblick auf die Widerstandskraft der Kommunisten übertrieben und unrealistisch. Und die gemeinsame Gegnerschaft zu Papen sprach noch lange nicht dafür, dass die SPD, die sich ja schon im Preußenschlag einem Generalstreik aus Angst vor einem Bürgerkrieg verweigert hatte, nun mit den Nationalsozialisten gemeinsame Sache machen würde. Einiges spricht jedoch dafür, dass es sich hier weniger um eine Manipulation als um eine Fehleinschätzung der Lage handelte.159 Schleicher selbst zeigte sich nach Otts Schilderung aber von den Ergebnissen des Planspiels »stark beeindruckt«160 und legte sie seinen späteren politischen Entscheidungen zugrunde. Denn die Übung war trotz ihres Ergebnisses keinesfalls ein totales Desaster gewesen. Sie hatte nämlich auch die hohe Professionalität der Vorbereitungen sowie das reibungslose Ineinandergreifen von zivilem und militärischem Apparat demonstriert.161 So war insbesondere die weitere Ausarbeitung von Vorschriften für den militärischen Ausnahmezustand in den späten 1920er Jahren keinesfalls zum Erliegen gekommen, wie das Beispiel der Anleitung zur »Herstellung der Marschbereitschaft des Reichsheeres« mit »Anhang A: Sonderbestimmungen für den Einsatz des Reichsheeres bei inneren Unruhen« zeigt, die Groener am 1. Juli 1929 freigegeben hatte.162 Der Anhang B mit »Sonderbestimmungen für die Erhöhung der Schlagkraft des Reichsheeres in besonderen Fällen«, die am 21. Oktober 1930 nachgefolgt war, hatte auf Wunsch des Ministers die Frist für die Mobilmachung des Heeres von bisher drei Tagen auf nunmehr 24 Stunden reduziert.163 Die Möglichkeit, das kleine Berufsheer derart zügig verfügbar zu haben, scheint wohl kaum auf äußere Bedrohungsszenarien zugeschnitten gewesen zu sein, in denen sich der Feind erst nach einer längeren Phase der außenpolitischen Eskalation zeigt.164 Die verbesserte Koordination der Zusammenarbeit mit zivilen Stellen und Landesbehörden wiederum hatte das Reichswehrministerium (vermutlich unter Federführung von v. Bredow) bereits mit der Ausarbeitung von »Weisungen für die Reichsverteidigung« vorbereitet.165 Die Reichsregierung hatte sie mit 158 159 160 161 162 163
164 165
Siehe nur Winkler, Weg, S. 534; Carsten, Reichswehr, S. 434 f. Pyta, Vorbereitungen, S. 390 f.; Strenge, Schleicher, S. 189. Schüddekopf, Heer, S. 374 f. Pyta, Vorbereitungen, S. 392–394. Anleitung zur Herstellung der Marschbereitschaft des Reichsheeres mit Anhang A, Sonderbestimmungen für den Einsatz des Reichsheeres bei inneren Unruhen, vom 1.7.1929, BArch RH 2/415, fol. 68–138. Anhang B der Anleitung zur Herstellung der Marschbereitschaft des Reichsheeres, Sonderbestimmungen für die Erhöhung der Schlagkraft des Reichsheeres in besonderen Fällen, vom 21.10.1930, BArch RH 1/14, fol. 82–151 (83 f.). Das stellt in dieser Klarheit leider nicht heraus Hürter, Groener, S. 102 f. Geyer, Aufrüstung, S. 388 f.; Bergien, Republik, S. 363 f.; Strenge, Schleicher, S. 157 f.
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Kabinettsbeschluss vom 14. Oktober gebilligt und damit ein Stück weit die Forderung Stülpnagels nach einer Konzentration aller Machtmittel eingelöst.166 Ein letzter Beleg dafür, wie durchaus ernst Schleicher die Ergebnisse des »Planspiels Ott« nahm, findet sich schließlich darin, dass Schleicher den radikalen Verfassungsbruch und die damit einhergehende Gefahr einer gewaltsamen Auseinandersetzung im Reich in der Folge nach Kräften mied. Nach den überlieferten handschriftlichen Stichpunkten, die der Leiter des Ministeramts Oberst Ferdinand v. Bredow für eine Auswertungsbesprechung am letzten Tag des Planspiels fertigte, folgte die Reichswehr dabei zumindest im Ausnahmezustand noch immer einer metalegalen, im Zusammenhang mit Staatsnotstandsplanungen in gewisser Hinsicht fast schon revolutionären Logik folgte. Fast wie Noske vor zehn Jahren167 resümierte Bredow nun: »Alles vorbereitet. Ott vorbildlich – brutal – ohne Scheu – keine §§ Angst«.168 Dennoch darf nicht unterschätzt werden, was für ein hohes Risiko Schleicher einging, als er die Ergebnisse des Planspiels der versammelten Reichsregierung mitteilen ließ. Die Schlüsse aus Otts Kabinettsvortrag konnte ihm der Reichspräsident nämlich fortan auch entgegenhalten, falls er selbst in seiner kommenden Rolle als Kanzler um die Verhängung des Staatsnotstands bitten sollte.169 Zwar verabschiedete sich Schleicher auch während seiner Kanzlerschaft nicht ganz vom militärischen Ausnahmezustand und behielt ihn – etwa für den Fall, dass sich die zugrunde gelegten politischen Rahmenbedingungen zu seinen Gunsten änderten – weiter als Option in Reserve, was entsprechende Ausarbeitungen im Reichswehrministerium und die Ausgabe erneuerter Vorschriften belegen, die auf den Erkenntnissen aus dem Planspiel fußten.170 So lud sein enger Mitarbeiter Bredow bereits für den 15. Dezember 1932 Vertreter der zivilen Ressorts zu einer Besprechung ins Reichswehrministerium, um die für die Streikunterdrückung im Ausnahmezustand erforderliche Amtshilfe abzusprechen.171 So wurden um die Jahreswende 1932/33 im Reichswehrministerium drei Verordnungen des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 WRV entworfen, und zwar über die Verhängung des militärischen Ausnahmezustands, über die Bildung von außerordentlichen Gerichten und eine Standgerichtsordnung.172 Zudem wurde die H. Dv. 469, also das »Sammelheft der Bestimmungen über Verwendung der Wehrmacht im Reichsgebiet bei öffentlichen Notständen und inneren Unruhen« (V.i.R.), das letztmals in einem Neudruck 1924 (nach der Winterkrise 1923/24) erschienen war, neu überarbeitet. Erste Änderungen erließ Schleicher noch am 27. Januar 1933 in einem 166 167 168 169 170 171
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Akten der Reichskanzlei, Kabinett Papen, Band 2, Nr. 168, S. 777 f. »Da gelten Paragraphen nichts, sondern da gilt lediglich der Erfolg, und der war auf meiner Seite.« – Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 327, S. 854. Äußerungen v. Bredows auf einer Besprechung mit den dem Chef der Heeresleitung unterstehenden Amtschefs vom 26.11.1932, abgedruckt bei Pyta, Vorbereitungen, S. 408–410 (410). Winkler, Weimar, S. 555. Pyta, Vorbereitungen, S. 387; Strenge, Schleicher, S. 153–160. U. a. wurde das Reichsarbeitsministerium um Prüfung gebeten, inwieweit streikenden Arbeitern der Sozialversicherungsschutz entzogen werden könne, siehe Pyta, Vorbereitungen, S. 393; Kolb/Pyta, Staatsnotstandsplanung, S. 178. Strenge, Schleicher, S. 160; Blasius, Ende, S. 165.
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»Merkblatt für den militärischen Ausnahmezustand«.173 Die weitere Ausarbeitung lag bei Hauptmann Vincenz Müller, einem alten Protegé Schleichers, der schon beim Preußenschlag die Verhaftung preußischer Spitzenbeamter durchgeführt hatte und später als General maßgeblich die Nationale Volksarmee der DDR mit aufbaute.174 Die erst im Februar 1933 fertiggestellte und als »Geheime Kommandosache« verteilte Neuausgabe wurde dann schleunigst von Blomberg – Schleichers Nachfolger unter Hitler – wieder eingezogen, woraus sich die Zielrichtung der Vorschrift ebenfalls sehr gut erhellt.175 Gleichwohl konnte der militärische Ausnahmezustand für Schleicher spätestens seit dem »Planspiel Ott« allenfalls eine Notlösung und schon gar keine Dauerlösung sein. »Es sitzt sich schlecht längere Zeit auf den Spitzen von Bajonetten« soll er zu denjenigen gesagt haben, die da anderer Auffassung waren.176 Dieser Befund wird umso deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass der Schleicher-Kreis alsbald wieder mit Carl Schmitt in Verbindung trat, um die Optionen eines Verfassungsumbaus möglichst auch ohne den Einsatz der Reichswehr auszuloten. Die gedankliche Alternative des Ausnahmezustandes eröffnete hier allerdings durchaus die Möglichkeit, zum rechtlichen Normalzustand des Verfassungsstaats abzugrenzen, den Schleicher mit seinen Planungen verändern wollte. Schon 1921 hatte Schmitt jede Diktatur für notwendig transitorisch erklärt: »Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus.«177
Während im Normalzustand das Recht die Macht des Staates begrenzt und die Freiheit des einzelnen schützt, sollte im Ausnahmefall zwar der Vorrang der souveränen Entscheidung gegenüber dem Recht gelten,178 also »im Ausnahmezustand der Staat die Fesseln der Freiheit« sprengen.179 Ein Ausnahmezustand ohne Normalzustand aber war nach dem Schmitt der 1920er Jahre normativ sinnlos; die Diktatur konnte demnach nur dazu dienen, die bestehende Verfassung kommissarisch zu sichern, oder – im Sinne einer »souveränen Diktatur« – eine veränderte oder neue Verfassung durchzusetzen. In seinem 1932 erschienen »Begriff des Politischen« setzte er diese Gedanken fort: 173 174 175 176
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Erläuterungen des Reichswehrministers zum Merkblatt für den militärischen Ausnahmezustand vom 27.1.1933, abgedruckt bei Pyta, Vorbereitungen, S. 426 f. Lapp, General, S. 47 f. Strenge, Schleicher, S. 160. So berichtet es Hanshenning v. Holtzendorff, ein Berater Schleichers, zit. nach Strenge, Schleicher, S. 18. In einer Rundfunkrede vom 26.7.1932 sagte Schleicher: »Wenn man unter Militärdiktatur eine Regierung versteht, die sich nur auf die Bajonette der Reichswehr stützt, so kann ich dazu nur sagen, daß eine solche Regierung im luftleeren Raum sich schnell abnutzen und letzten Endes zum Mißerfolg führen muß«, zit. nach Pyta, Demokratie, S. 435, Fn. 54. Schmitt, Diktatur, S. VIII. »Die Existenz des Staates bewährt hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnorm. Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut.« – Schmitt, Theologie, S. 18. Oberreuter, Souverän, S. 169.
3. Preußenschlag und »Planspiel Ott«
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»Die Leistung eines normalen Staates besteht aber vor allem darin, […] die normale Situation zu schaffen, welche die Voraussetzung dafür ist, daß Rechtsnormen überhaupt gelten können, weil jede Norm eine normale Situation voraussetzt und keine Norm für eine ihr gegenüber völlig abnorme Situation Geltung haben kann.«180
Auch wenn Schmitt wie auch die führenden Köpfe der Reichswehr sich Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre an »der Wendung zum autoritären und der Rede über den totalen Staat« beteiligten,181 erhellt sich hier ein doch ganz wesentlicher Unterschied zum Nationalsozialismus: Die »Verfassung« des Dritten Reichs kannte eigentlich nur den Ausnahme- und keinen Normalzustand. Die nationalsozialstische Staatsordnung beruhte nach Schmitts eigenen Maßstäben allein auf Macht und war damit im Kern bar jeder Normativität.182 Die von Schleicher verfolgten Pläne hingegen sollten einen zwar vermutlich auch mittel- bis längerfristig autoritären Staat schaffen, notfalls unter Zuhilfenahme eines vorübergehenden Ausnahmezustandes, diesen jedoch in einen Normalzustand, also in eine zumindest rechtliche Ordnung überführen. Dieser »Wehrstaat« wäre damit, so illiberal er auch geworden wäre, sehr wahrscheinlich immerhin Verfassungs- und Rechtsstaat geblieben. Daran ändert auch nichts, dass sich Schmitt bekannterweise – spätestens nachdem sich der Wind im Januar 1933 gedreht hatte – entschied, mit Hitler den Rubikon in die metarechtliche Ordnung der reinen Dezision zu überschreiten, um sich als »Kronjurist des Dritten Reiches« zu inszenieren.183 So trieb Schleicher während seiner Kanzlerschaft weiterhin die Frage um, wie staatsorganisationsrechtlich mittel- bis langfristig mit dem Reichstag zu verfahren sei, da sich die Waffe der Reichstagsauflösung allmählich abzunutzen drohte. Ott kontaktierte Schmitt in dieser Sache schon am 4. Dezember 1932; dieser traf sich noch am selben Abend mit Horst Michael, der schon im Februar 1931 erstmals die Verbindung Schmitts zum Schleicher-Kreis hergestellt hatte.184 Im Februar 1932 etwa hatte Schmitt ein Exemplar seiner berühmten Abhandlung über den »Hüter der Verfassung« an Ott geschickt, der sie seinem Antwortschreiben zufolge »in diesen Kampftagen um den Reichspräsidenten mit besonders großem Interesse gelesen habe«. Ott revanchierte sich und übersandte »einige Beiträge zum Artikel 48 aus unserer Praxis«, darunter auch »vertrauliche Akten, von deren Verwendung ohne unser Einver180
181 182
183 184
Schmitt, Begriff, S. 46. Ähnlich heißt es bei Schmitt, Theologie, S. 19: »Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre. […] Es muß eine normale Situation geschaffen werden, und souverän ist derjenige, der definitiv darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand wirklich herrscht. Alles Recht ist ›Situationsrecht‹.« Oberreuter, Souverän, S. 175. Nach Schmitt, Theologie, S. 18, gehört zum Ausnahmezustand »eine prinzipiell unbegrenzte Befugnis, das heißt die Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung. Ist dieser Zustand eingetreten, so ist klar, daß der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt. Weil der Ausnahmezustand immer noch etwas anderes ist als eine Anarchie und ein Chaos, besteht im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung.« Der Staat des dauerhaften Ausnahmezustands kann daher kein Rechtsstaat sein. Siehe Oberreuter, Souverän, S. 175 f., der zutreffend darauf hinweist, dass die Präferenz der legitimen Dezision gegenüber der »formalen« Legalität schon vor 1933 bei Schmitt angelegt ist. Pyta/Seiberth, Staatskrise, S. 430.
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ständnis ich abzusehen bitte«.185 Horst Michael wiederum, obschon promovierter Historiker, hatte Schmitts verfassungsrechtliches Seminar regelmäßig besucht, arbeitete bei Erich Marcks in der Reichspressestelle und mischte im Hintergrund des Berliner Politikbetriebes mit.186 Gemeinsam erarbeiteten Schmitt und Michael den Entwurf einer Proklamation des Reichspräsidenten, die eher auf eine behutsame Verfassungsmodifikation abzielte und nicht wie Papen das System zugunsten eines »neuen Staats« mit monarchistischer Option sprengen wollte.187 Dem Entwurf nach sollte der Reichspräsident dem Reichstag schwere Pflichtverletzungen bei der Gesetzgebung seit dem Jahr 1930 vorwerfen und – unter Berufung auf seinen Eid, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden – das Parlament auffordern, sich selbst unbefristet zu vertagen. Andernfalls würde der Reichspräsident einen Reichstag, »der seinen verfassungsmässigen Pflichten nicht nachkommt und ausserdem noch einer Reichsregierung, die bemüht ist, an seiner Stelle die notwendige Arbeit zu tun, in den Rücken fallen will, […] nicht mehr als eine Volksvertretung im Sinne der Reichsverfassung« betrachten.188 Der Ansatz, verfassungsmäßige Parlamentsbeschlüsse zur Aufhebung von Verordnungen nach Art. 48 Abs. 2 WRV einfach zu ignorieren, verblieb unterhalb der Schwelle des offen ausgesprochenen Staatnotstands, der zum Einfallstor für Restaurationspläne werden konnte.189 Die Berufung auf den Eid sollte vor allem Hindenburg den Schritt erleichtern, der nach Schmitts Interpretation seit seinem Amtsantritt 1925, als er als eingefleischter Monarchist einen Eid auf die republikanische Verfassung hatte leisten müssen, an einem »Eidestrauma« litt und eine Präsidentenanklage vor dem Staatsgerichtshof fürchtete.190 Als sich zudem abzeichnete, dass die Reichsregierung bei der für den 24. Januar 1933 geplanten (und später auf den 31. Januar 1933 verschobenen)191 Reichstagssitzung mit Misstrauensanträgen rechnen musste, erhielt Horst Michael von der ministeriellen Wehrmachtsabteilung unter Ott den Auftrag zur Ausarbeitung eines Exposés, dass die verschiedenen Handlungsoptionen in dieser Situation auslotete und sehr wahrscheinlich mit Schmitt abgestimmt war.192 In der auf den 20. Januar 1933 datierten Schrift sprach sich Michael ausdrücklich gegen die völlige Ausschaltung des Reichstags durch dessen Auflösung und unbefristete Verschiebung von 185 186 187 188 189 190
191 192
Pyta/Seiberth, Staatskrise, S. 433. Pyta, Demokratie, S. 421–423; Berthold, Schmitt, S. 38. Pyta, Demokratie, S. 424 und 431. Entwurf einer Proklamation des Reichspräsidenten vom 4.12.1932, abgedruckt bei Pyta, Demokratie, S. 432 f. Pyta, Demokratie, S. 425. So Schmitt in einem Gespräch mit Klaus Figge und Dieter Groh im Dezember 1971, abgedruckt bei Hertweck/Kisoudis, Schmitt, S. 61–68. Schmitt schilderte den Reichspräsidenten zudem aufgrund seines Alters und seiner soldatischen Herkunft mit diesen staatsrechtlichen Fragen überfordert, zu denen ja auch in Fachkreisen überhaupt keine Einigkeit bestand. Strenge, Schleicher, S. 216. Das Exposé mit der Überschrift »Wie bewahrt man eine arbeitsfähige Präsidialregierung vor der Obstruktion eines arbeitsunwilligen Reichstages mit dem Ziel, ›die Verfassung zu wahren‹ bezw. Zu retten« ist abgedruckt bei Pyta, Demokratie, S. 433–438. Das Original befindet sich im Nachlass Schmitts, wo handschriftlich am oberen Rand der ersten Seite vermerkt ist: »20/1/33 Herrn Prof. C. Schmitt vertraulich erg[ebenst] HM. [Horst Michael]«, siehe ebenda S. 433, Fn. 47.
3. Preußenschlag und »Planspiel Ott«
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Neuwahlen (Bruch mit Art. 25 Abs. 2 WRV) oder eine Zwangsvertagung (Bruch mit Art. 24 WRV) als »die offene Diktatur« aus. Stattdessen sollte entgegen Art. 54 S. 2 WRV ein rein destruktives Misstrauensvotum – also eines, das von einer Mehrheit verabschiedet wurde, die selbst nicht in der Lage zur Schaffung einer Regierungsmehrheit war – ignoriert und die amtierende Regierung durch den Reichspräsidenten bestätigt werden. Die Schaffung eines entsprechenden Präzedenzfalles sollte für einen dauerhaften intrakonstitutionellen Verfassungsumbau sorgen.193 Die offene Diktatur hingegen würde nach Michael über das politische Ziel einer Verfassungswandlung hinausschießen. Zu den Erfolgsaussichten dieses »weichen« Ansatzes trug bei, dass sich im Jahr 1932 auch die breite Mehrheit der Staatsrechtslehrer gegen das destruktive Misstrauensvotum aussprach.194 Wie es Michael prägnant zu Beginn seines Exposés zusammenfasste: »Wenn man eine feindliche Front durchbrechen will, so wählt man ihren schwächsten Punkt aus. Unter diesem Gesichtspunkt empfiehlt es sich nicht, den Durchbruch bei Art. 24 oder Art. 25 zu unternehmen, da deren Brauchbarkeit niemals von irgend einer Seite in Zweifel gezogen worden ist. Auf dem Art. 54 dagegen hat seit Jahren ein Trommelfeuer gelegen […]. Hier ist die Stellung ›sturmreif‹.« Die beiden Papiere haben Wolfram Pyta zu der Bewertung kommen lassen, Schleicher habe den Weg hin zu einer präsidialen Demokratie einschlagen wollen, in der die Zuständigkeit des Parlaments auf Gesetzgebung und Regierungskontrolle beschränkt gewesen und – anders als noch im Kaiserreich – die Exekutive plebiszitär durch die Wahl des Reichspräsidenten legitimiert worden wäre.195 Richtig ist, dass Schleicher verfassungspolitisch – anders als oft kolportiert wird – keinesfalls konzeptionslos war.196 Die Erkenntnisse aus den verfassungspolitischen Thesenpapieren des Beraterkreises um Schleicher dürfen allerdings nicht zu dem Trugschluss verleiten, dass es sich bei dem letzten Reichskanzler vor Hitler um einen lupenreinen und überzeugten Demokraten gehandelt hat – ein Urteil, das man im Übrigen wohl auch kaum über Carl Schmitt fällen würde. Wie Pyta selbst zu denken gibt, maß Schleicher die Leistungsfähigkeit eines politischen Systems in erster Linie daran, inwieweit es die Wiederaufrüstung und damit einen zentralen Punkt seiner bereits im Dezember 1918 formulierten politischen Agenda zu befördern imstande war.197 Hierfür benötigte er in der Tat nicht notwendig Papens »neuen Staat« im Sinne einer völlig neuen Verfassung, das ließ sich auch mit einer zur Präsidialdemokratie transformierten Weimarer Reichsverfassung umsetzen. Er dachte also auch in dieser Hinsicht durchaus pragmatisch. Ohnehin drehten sich das von Michael ausgearbeitete Konzept ausschließlich um Aspekte der Staatsorganisation – nach Schmitt: der wertneutrale, formale Teil der Verfassung. Das vorrangige Ziel war hier die Sicherung der Regierungsgewalt für 193 194 195 196 197
Einen Überblick über die zeitgenössische Diskussion der Staatsrechtslehre über das Misstrauensvotum gibt Huber, Verfassungsgeschichte, Band 6, S. 335 f. Pyta, Demokratie, S. 426 m. w. N. Pyta, Demokratie, S. 427–431. Siehe beispielsweise Schulz, Brüning, S. 1043; Haffner, Anmerkungen, S. 76. Pyta, Demokratie, S. 419 f.
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VIII. Spätphase und Untergang der Republik
Schleicher und damit vor allem gegen Hitler. Damit waren aber Fragen, wie sich Schleicher etwa das Verhältnis von Staat und Gesellschaft oder die Akzentuierung persönlicher Freiheit vorstellte, überhaupt nicht tangiert. Zutreffend hat Wolfgang Schivelbusch darauf hingewiesen, dass auch die Vereinigten Staaten, die Mutter aller Präsidialdemokratien, in den 1930ern mit Roosevelts »New Deal« eine »entfernte Verwandtschaft« zum Faschismus aufwiesen.198 Zudem war die deutsche Politik zu diesem Zeitpunkt auch ohne einen Verfassungsumbau schon weitgehend militarisiert, was sich nicht nur an den von einem allgemeinen Wehrkonsens getragenen Geheimrüstungsprogrammen, sondern besonders auch an ihren Protagonisten jenseits von Hindenburg und Schleicher ablesen lässt: Papen war selbst Generalstabsoffizier gewesen, mit dem späteren Widerständler Erwin Planck als Leiter der Reichskanzlei und Erich Marcks als Leiter der Reichspressestelle hatte Schleicher ehemalige Reichswehroffiziere an wichtigen Schaltstellen der Macht installiert. Als Reichswehrminister ließ sich Schleicher – anders als noch Groener – gerne in Uniform ablichten; dieses Amt übte er zudem als erster und wie Hitler ab 1938 in Personalunion mit der Kanzlerschaft aus. Nicht zuletzt bestand die nicht ganz unrealistische Aussicht, dass Schleicher neben den Ämtern des Reichskanzlers und des Reichswehrministers zusätzlich die Befugnisse des Reichspräsidenten übertragen bekam: Schließlich sah Art. 51 Abs. 1 WRV in seiner ursprünglichen Fassung vor, dass der Reichspräsident im Verhinderungsfall vom Reichskanzler vertreten wurde – ein Szenario, das mit dem bei Schleichers Amtsantritt 85-jährigen Hindenburg nicht so fern lag. Der ansonsten obstruierte Reichstag brachte daher mit den vereinigten Stimmen der Nationalsozialisten und der Kommunisten am 7. Dezember 1932 sogar noch ein verfassungsänderndes Gesetz zustande, das die Vertretung des Reichspräsidenten im Verhinderungsfall fortan dem Präsidenten des Reichsgerichts auftrug.199 Horst Michaels Empfehlungen haben nachweislich Eingang in den internen Schriftverkehr des Reichswehrministeriums gefunden: So findet sich in den Reichskanzleiakten als Anlage zum Protokoll einer Ministerbesprechung vom 16. Januar eine – wie Michaels Exposé – auf den 20. Januar 1933 datierte Vortragsnotiz der Wehrmachtsabteilung im Reichswehrministerium. Dort werden die von Michael entwickelten Handlungsoptionen einschließlich der Empfehlung zur Ignorierung des destruktiven Misstrauensvotums zusammengefasst. Gleichwohl hat Ott das Dokument am gleichen Tag noch neben seiner Paraphe mit dem handschriftlichen Vermerk »Weg 1!« versehen, worunter die Vortragsnotiz den flagranten Verfassungsbruch durch Reichstagsauflösung und Aussetzung der Neuwahlen bei drohendem Misstrauensvotum, also die völlige Ausschaltung des Parlaments vorsah.200 Sechs Tage später notierte Schmitt, er fühle sich von Ott »bei Seite gesetzt«.201 Weitere zwei 198 199 200 201
Schivelbusch, Verwandtschaft. Verhandlungen des Reichstags, Band 455, S. 30; Gesetz über Änderung der Reichsverfassung vom 17.12.1932, RGBl. 1932 I S. 547. Ministerbesprechung vom 16.1.1933, 12:30 Uhr, Akten der Reichskanzlei, Kabinett Schleicher, Nr. 56, S. 241– 243 (insbesondere S. 243, Fn. 40). Mehring, Schmitt, S. 301.
3. Preußenschlag und »Planspiel Ott«
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Tage später, am 28. Januar 1933 um 12:15 Uhr, wurde Schleicher bei Hindenburg vorstellig und ging mit ihm die Optionen gegen das Misstrauensvotum durch, das die Reichsregierung für die vom Ältestenrat auf den 31. Januar gelegte Reichstagssitzung erwartete. Hierbei scheint ihm das »Planspiel Ott« schließlich zum Verhängnis geworden zu sein: Jedenfalls war Hindenburg nicht gewillt, das Risiko von Unruhen einzugehen, indem er zugunsten der Regierung Schleicher den Reichstag auflöste und gar die Neuwahl auf unbestimmte Zeit verschob. Dieses Auswegs beraubt musste der letzte Reichskanzler vor Hitler mit ansehen, wie noch in seiner Anwesenheit eine amtliche Verlautbarung über die Demission seines Kabinetts formuliert wurde. Der Reichspräsident beschloss das Treffen nach Schleichers eigener Aussage mit den Worten: »Ich danke Ihnen, Herr General, für alles, was Sie für das Vaterland getan haben. Nun wollen wir mal sehen, wie mit Gottes Hilfe der Hase weiterläuft.«202 Am Nachmittag desselben Tages traf sich der Schleicher-Kreis zu einer letzten Besprechung: Staatssekretär Erwin Planck (Reichskanzlei), Oberst Ferdinand v. Bredow (Leiter Ministeramt), Oberstleutnant Eugen Ott (Leiter Wehrmachtsabteilung), Major Erich Marcks (Leiter Reichspressestelle) und der Chef der Heeresleitung, General d. Inf. Kurt v. Hammerstein-Equord, sie alle kamen darin überein, dass Hindenburg ultimativ dazu aufgefordert werden sollte, Hitler nicht zum Kanzler zu ernennen. Anderenfalls müsse der militärische Ausnahmezustand aus eigener Initiative und auch gegen den Willen des Reichspräsidenten ausgelöst werden. Noch am Abend begab sich Hammerstein-Equord zusammen mit General d. Inf. Joachim v. Stülpnagel zu Hindenburg, der zwar recht unwirsch reagierte, jedoch versicherte, er werde Hitler nicht zum Kanzler machen. Am darauffolgenden Sonntagmorgen (29. Januar 1933) erörterten Schleicher, Hammerstein-Equord, Bredow, Ott, Planck, Marcks und Generalleutnant Erich v.d. Bussche-Ippenburg (Chef des Personalamts) im Reichswehrministerium im Bendlerblock die Lage.203 Nach einer Tagebuchaufzeichnung des Reichsfinanzministers Schwerin v. Krosigk zweifelten sowohl Schleicher als auch Hammerstein-Equord daran, ob der Reichspräsident zu diesem Zeitpunkt noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, und hielten »daher eine möglichst baldige Präsidentenkrise für nötig«.204 Allen musste zu diesem Zeitpunkt klar sein, dass zwischen Hitler und der Kanzlerschaft nur noch die Reichswehr und der militärische Ausnahmezustand standen. Jemand brachte wohl auch eine diskrete Internierung Hindenburgs auf seinem Gut in Ostpreußen ins Gespräch. Doch von einem eigenmächtigen Vorgehen gegen den Reichspräsidenten – einer im wahrsten Sinne des Wortes »konservativen Revolution« – wollte Schleicher nichts wissen: Zu sehr verehre das Volk den greisen Generalfeldmarschall wie einen Halbgott, zu schwer wöge der treuwidrige Eidbruch, der die Generale selbst im Ausland der Verachtung preisgeben würde205 – alles Überlegungen, die in ähnlicher Weise später auch die Verschwörer des 20. Juli beschäftigten, und Ausdruck der bereits beschriebenen traditionellen Revolutionsfeindlichkeit des 202 203 204 205
Winkler, Weimar, S. 585 f. Strenge, Schleicher, S. 216–219. Akten der Reichskanzlei, Kabinett Schleicher, Nr. 79, S. 320 f. Strenge, Schleicher, S. 219.
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preußisch-deutschen Militarismus waren. Gerüchte über entsprechende Putschabsichten der Potsdamer Garnison bewogen Hindenburg dann sogar, den der NSDAP aufgeschlossen gegenüberstehenden Generalleutnant Werner v. Blomberg am 30. Januar 1933 als Reichswehrminister zu vereidigen, noch bevor er Hitler zum Kanzler ernannte. Zwar machte Art. 53 WRV die Ernennung der Minister vom Vorschlag des Kanzlers abhängig, doch vor diesem Verfassungsbruch schreckte der Reichspräsident offenkundig dann doch nicht zurück.206 Somit riss nicht die Reichswehr, sondern der Nationalsozialismus, nicht Schleicher, sondern Hitler den taumelnden Weimarer Staat an sich. Das Unternehmen eines militärischen Staatsstreichs, das Schleicher in diesen Tagen verwarf, fand in gewisser Weise erst zwölf Jahre verspätet – und ebenfalls vom Bendlerblock aus – mit dem Vorgehen der Gruppe um Stauffenberg gegen Hitler statt.
206
Winkler, Weg, S. 547.
FAZIT Der erste Satz des Wehrgesetzes vom 23. März 1921 lautete: »Die Wehrmacht der Deutschen Republik ist die Reichswehr.« Versteht man das so, wie es ursprünglich gemeint war, nämlich als die programmatische Erklärung, dass die Reichswehr im Dienste der republikanischen Staatsform stehen sollte, dann ergibt sich aus der Rückschau eine enorme Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Liest man den Satz allerdings rein deskriptiv, dann trifft er einen tieferen Kern: Die Reichswehr war die Wehrmacht der »Deutschen Republik«, ja besser: der Weimarer Republik. Dahinter verbirgt sich mehr als die banale Erkenntnis, dass die Reichswehr in den Jahren 1919 bis 1933 die deutschen Streitkräfte bildete. Vielmehr war sie ein gutes Stück weit wie die Weimarer Republik: ein zutiefst heterogenes Gebilde. Auf sie traf zu, was Hugo Preuß (DDP) auf die von ihm maßgeblich mitgeschaffene Reichsverfassung gemünzt hatte, nämlich dass der Grundgedanke »nicht in klarer Einheitlichkeit restlos durchgeführt werden [konnte], er hat Abbiegungen, Ausnahmen erleben müssen, er weist jetzt eine etwas gebrochene Linienführung auf«.1 Zwar waren diese Brüche nicht, wie Preuß für die Verfassung fortfuhr, »ohne Ausnahme Erbschaften aus der früheren Verfassung des Kaiserreichs«, aber doch zu einem Gutteil. So folgte die Reichswehr – ungeachtet ihrer organisatorischen Neuschöpfung gegenüber dem alten Kontingentheer – wie die gesamte Revolution dem Grundsatz der rechtlichen Kontinuität zum Kaiserreich. Militärische Vorschriften, Verordnungen und Gesetze, die noch von der absolutistisch geprägten Rechtsstellung des Militärs als einer domaine réservé des Monarchen geprägt waren und somit nicht den Prinzipien des bürgerlich-liberalen Gesetzgebungsstaats folgten, hielten auf diesem Weg in die Republik Einzug. Umgekehrt übte sich auch der parlamentarische Gesetzgeber Weimars auf wichtigen Gebieten wie etwa den Vorgesetztenverhältnissen, dem Beschwerderecht und dem Disziplinarstrafrecht in Zurückhaltung und überließ das Feld dem Militärapparat, der hier auf dem schlichten Verordnungsweg Recht setzen konnte. Der bürgerlich-liberale Gesetzgebungsstaat respektierte hier gewissermaßen eine Prärogative des noch absolutistisch gefärbten Soldatenstaats preußischer Prägung. Jedenfalls war es mitnichten so, dass ein reaktionär-monarchistisches Heer einer »lupenreinen Demokratie« gegenübergestanden hätte. Das zeigte sich schon gleich zu Beginn der Revolution, als die Sozialdemokratie als die eigentlich republikanische Partei par excellence mit der Obersten Heeresleitung zusammenging. In der Folge erkämpfte das deutsche Militär zwar nicht aus tiefer Inbrunst die reinste aller Republiken, wohl aber doch den Staat von Weimar, der sich schon seiner Verfassung nach nicht voll und ganz für die parlamentarisch-republikanische Staatsform entschied. Hierbei folgten die entscheidenden Offiziere sehr viel weniger ihren staatspolitischen Überzeugungen als simplen Zweckerwägungen, wie sie das Militär (und damit sich selbst) als inneren Machtfaktor würden erhalten können. Die Beziehung 1
Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 326, S. 284.
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Fazit
zwischen Reichswehr und Weimarer Republik war damit von vornherein keine Liebes-, sondern eine Zweckheirat. Neben die traditionelle Geisteshaltung des deutschen Militärs trat jedoch in den Freikorps der Gründungsjahre von Republik und Reichswehr ein bis dahin so nicht bekanntes Phänomen offen zutage: ein aggressiv-völkischer Militarismus ganz neuer Prägung, der sich aus den existenziellen und damit die sozialen Grenzen überwindenden Fronterlebnissen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs speiste. Er wurde in den Führungsetagen des Reichswehrministeriums gegenüber dem klassischen, sehr viel mehr etatistischen Militarismus preußisch-deutscher Prägung zwar nicht tonangebend, blieb jedoch neben der Gründungsgeschichte der vorläufigen Reichswehr besonders insoweit latent vorhanden, wie die Reichswehr bei ihren geheimen Rüstungsanstrengungen auf das Personalreservoir auch völkischer Wehrverbände zurückgreifen wollte. Als es mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 in gewisser Hinsicht zum Schwur zwischen diesen beiden Strömungen kam, bewerteten die klassischkonservativen Militärs die hierdurch bedrohte Einheit der Reichswehr jedoch höher als die Notwendigkeit, die verfassungsmäßige Regierung (und damit die Republik) mit Waffen zu verteidigen. Die schillernde Figur Gustav Noske musste hierfür ihren Platz an der Spitze der Reichswehr räumen – das Verhältnis zwischen linker Politik und deutschem Militär hat sich seitdem nicht mehr vollkommen entspannt. Die Reichswehr wiederum flüchtete sich in den folgenden Jahren unter Seeckts Führung in einen staatspolitischen Attentismus. Er sah die parlamentarische Demokratie lediglich als Durchgangsstadium an und erwartete den neuen, autoritären Staat. Unterfüttert von Hegels Staatsbegriff und der romantisch-verklärten Reichsidee tröstete sich die Reichswehr für die Zwischenzeit mit der Vorstellung, Deutschland ungeachtet seiner konkreten politischen Verfassung auch ganz abstrakt dienen zu können. Während Noske und Reinhardt (von Ebert zumindest geduldet) einerseits die Republik in ihren Geburtsstunden mit einer schweren Blutschuld belastet hatten und ihre Politik keine dauerhafte Integration des Militärs in den neuen Staat brachte, damit also letztlich scheiterte, hatten sie andererseits das Primat der Zivilpolitik nach Kräften zu verteidigen gesucht. Mit dem Eintritt in die »Ära Seeckt« wurde die Reichswehrpolitik aber weniger vom nachfolgenden Reichswehrminister Geßler als vom neuen Chef der Heeresleitung bestimmt. Die neuen Verhältnisse schlugen sich auch in neuen Bestimmungen über Strukturen und Zuständigkeiten innerhalb des Reichswehrministeriums nieder, die den Machtzuwachs von Heeresleitung und Reichspräsident zulasten des parlamentarisch verantwortlichen Reichswehrministers anzeigten. Zudem kam es Seeckt sehr gelegen, dass die bereits angelaufenen Vorbereitungen für das Wehrgesetz durch den Kapp-Lüttwitz-Putsch ins Stocken geraten waren: Nun bot sich ihm die Möglichkeit – nachdem er Mitte 1919 bei der Kommission für die Organisation des Reichswehrministeriums wegen Krankheit in einigen Punkten übergangen worden war – viele seiner Vorstellungen sozusagen auf der legislativen Zielgraden zu verwirklichen. Der Untergang der Weimarer Koalition in der Reichstagswahl vom Juni 1920 und die darauffolgende Bildung einer bürgerlichen Koalition unter Beteiligung der DVP schufen dafür die notwendige parlamentarische Basis.
Fazit
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Wie sehr sich Seeckt darum bemühte, den 9. November 1918 rückgängig zu machen, zeigte sich besonders augenfällig an den Beteiligungsinstituten der Vertrauensleute sowie der Heeres- und der Marinekammer. Zwar hatte bereits Reinhardt öffentlich darauf hingewirkt, die Soldatenräte von der Kommandogewalt auszuschließen, um eine effektive Steuerung der Armee im Sinne des Primats der Zivilpolitik zu ermöglichen. Seeckt allerdings ging darüber weit hinaus, indem er die Heeresund die Marinekammer weitgehend ausschaltete. Gleichwohl blieben diese Konzepte nicht gänzlich folgenlos: Sie wurden, nachdem die Nationalsozialisten sie auch aus den Gesetzen und Vorschriften getilgt hatten, in der Bundeswehr wieder aufgegriffen und haben sich dort bis heute fest etabliert und großenteils bewährt. Besonders in Bereichen der inneren Kultur setzte die Reichswehr auf Kontinuität, was sich beispielsweise in den Regelungen über Anzug, Grußpflicht und Umgangsformen im weitesten Sinne niederschlug. Indem die Reichswehr das Heiraten unter den Vorbehalt einer Erlaubnis stellte und an die Erteilung sittliche Prestigebedingungen knüpfte, drang sie tief in das Privatleben ihrer Angehörigen ein. Das Fortleben einer verfassungswidrigen Ehrengerichtsbarkeit kultivierte besonders für die Offiziere ein den ganzen Menschen in jeder Perspektive forderndes Berufsethos. Auch wenn das besonders um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert exzessive Duellwesen (unter Standesgleichen) sowie die Verteidigung der Ehre durch ad-hoc-Züchtigungen mit der Seitenwaffe (gegenüber Standesniederen) an Bedeutung einbüßten, blieb mit dem Ehrenrat gleichwohl eine Institution, in der Ehrenhändel zwar nicht mehr einer tödlichen Entscheidung, aber immerhin noch einer unehrenhaften Entlassung unter Fortfall der Versorgungsbezüge zugeführt werden konnten. Maßgeblichen Anteil an dieser Fehlentwicklung hatten jedoch auch das Parlament und darin die politische Linke. Dies zeigte sich gleich in doppelter Hinsicht bei der weitgehenden Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit: Das geringste Problem war dabei noch, dass sie auf den Kriegsschiffen der Reichsmarine auch in Friedenszeiten bestehen blieb. Schwieriger war schon, dass der Reichswehr bei »Militärstrafsachen« im Rahmen des zivilen Strafverfahrens erheblicher Einfluss, namentlich polizeiliche Ermittlungsbefugnisse zugestanden wurden. Noch weitaus problematischer aber war, dass die Militärstrafgerichtsordnung, das Militärstrafgesetzbuch und die Disziplinarstrafordnung als ein in seiner Gesamtheit zu betrachtendes Sanktionensystem derart aufeinander abgestimmt waren, dass nur eine Revision aller drei Bereiche zu praktikablen Ergebnissen hätte führen können. Hinzu kam, dass der Reichspräsident die Disziplinarstrafordnung wie eh und je auf dem Militärverordnungsweg erließ, ohne dass sich das Parlament um eine gesetzliche Regelung bemühte. Doch diese differenzierte Einsicht konnte sich bei den Sozialdemokraten und Kommunisten nicht durchsetzen: Als das mit der Aufhebung entstandene Defizit mit der Einführung gerichtlicher Disziplinarkammern behoben werden sollte, erkannten sie hierin nichts weiter als die Wiedereinführung der verhassten Militärgerichtsbarkeit und schalteten auf sture Konfrontation. Indem sie das Wehrmachtdisziplinargesetz 1922 verhinderten, provozierten sie aber nicht nur das spätere Gesetz zur Vereinfachung des Militärstrafrechts von 1926, das die kaum zu kontrollierende Disziplinarstrafgewalt der Disziplinarvorgesetzten in erheblichem Maße ausweitete. Vielmehr verhin-
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derten sie zugleich die Schaffung der Wehrberufskammern, die in einem ebenfalls gerichtlichen Verfahren über den Kündigungsgrund der Unwürdigkeitshandlungen hätten entscheiden sollen. Diese Entscheidung verblieb nun einzelnen Vorgesetzten im schlichten Verwaltungswege vorbehalten. Von daher war es nicht nur keine Überraschung, dass die Reichswehr unter Seeckts Führung diese Angelegenheiten nun (nicht ungern) selbst regelte und dankbar war, mit Erlassen über die »Wahrung der Ehrenhaftigkeit« alte Gebräuche mehr oder weniger unverändert fortführen zu können. In gewisser Hinsicht verdiente das unter falscher Etikette weitergehandelte Ehrengerichtsverfahren damit sogar den Vorzug gegenüber der stillen Einzelentscheidung eines Vorgesetzen, hatte der Kündigung von Offizieren so doch immerhin eine ehrenrätliche Untersuchung vorauszugehen. Indem der parlamentarische Gesetzgebungsstaat es hier versäumte, auf berechtigte Belange des Militärs einzugehen, verpasste er zugleich eine Chance, dem überkommenen Soldatenstaat zivilisierte Regeln zu verpassen und ihn damit in den bürgerlichen Verfassungsstaat zu integrieren. Auch dieser zunächst abgeschnittene Zweig trug seine späten Früchte erst in der Bundeswehr, die weder Militär- noch Ehrengerichtsbarkeit kennt, dafür aber eine ausgefeilte Disziplinargerichtsbarkeit nach Vorbild des gescheiterten Wehrmachtdisziplinargesetzes. Das Militärstrafrecht war auch der Ort, wo die Lehre vom militärischen Gehorsam ihre normativen Wurzeln hatte. Eine nähere Auseinandersetzung mit den einschlägigen Vorschriften des Militärstrafgesetzbuchs dekonstruiert indes den Mythos vom »unbedingten Gehorsam«. Insofern entsprach das damalige Recht nämlich in seinen wesentlichen Zügen bereits den entsprechenden Regelungen des heutigen Wehrstrafgesetzes. Das fing bereits damit an, dass Befehle, die ein Verbrechen oder Vergehen zum Gegenstand hatten, von vornherein unverbindlich waren. Darüber hinaus zeigte schon die damalige Lehre, dass das Militärstrafgesetzbuch der dogmatischen Fortentwicklung und dabei besonders der weiteren Begrenzung der Gehorsamspflicht zugänglich war. Umgekehrt sind Unterschiede zur heutigen Lehre vom Gehorsam teilweise darauf zurückzuführen, dass die Strafrechtsdogmatik der damaligen Zeit ganz allgemein eine andere war: So beruhte insbesondere die kriminelle Bestrafung des bloß fahrlässigen Ungehorsams darauf, dass sich im gesamten Strafrecht der Grundsatz noch nicht durchgesetzt hatte, wonach grundsätzlich nur die vorsätzliche Begehung strafbar sein soll. Der entscheidende Punkt lag damit woanders, nämlich bei der Regelung des Vorgesetztenverhältnisses, das für das Zustandekommen eines im Zweifel strafrechtlich relevanten Befehls konstitutiv war. Diese Kernfrage aber entschied sich nicht nach dem Militärstrafgesetzbuch oder sonst irgendeinem parlamentarischen Gesetz, sondern allein nach schlichten Militärverordnungen. Auch auf diesem Feld frustrierte die Seeckt’sche Reichswehr eine Kernforderung der Revolution, nämlich die Vorgesetzteneigenschaften auf das dienstlich Notwendige zu beschränken: Spätestens mit der Verordnung des Reichspräsidenten vom 10. Dezember 1920 war klar, dass das althergebrachte allgemeine Vorgesetztenverhältnis der Rangklassenhöheren gegenüber den Rangklassenniedrigeren an jedem Ort und zu jeder Zeit bestehen blieb. Der von einer bürgerlichrechten Mehrheit dominierte Reichstag sah keine Veranlassung, hier gesetzgebe-
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risch tätig zu werden, sondern segnete die Verordnungspraxis vielmehr mit dem Wehrgesetz vom März 1921 ab. Das traditionelle Verständnis vom Soldaten, wonach der Dienst den Menschen in seiner Gesamtheit forderte und erfüllte, kam hier besonders stark zum Ausdruck. Neben den hinlänglich bekannten Einschränkungen seiner politischen Freiheit musste der Soldat auch in anderen grundrechtsrelevanten Bereichen zurückstecken. Als prägnantes Beispiel dafür taugt die Glaubensfreiheit. Hier unterlief die Reichswehrführung mit ihren Bemühungen um eine exemte Militärseelsorge nicht nur die verfassungsrechtlich garantierte Trennung von Staat und Kirche. Die institutionelle Abschottung der Militärseelsorge von den Zivilgemeinden machte es der Reichswehr auch sehr viel einfacher, das religiöse Sentiment des Soldaten zur Steigerung der Truppenmoral zu mobilisieren. Die hierzu ergangenen detaillierten Vorschriften, etwa über den Gottesdienst, schränkten dabei nicht nur das von der Reichsverfassung garantierte Recht der Kirchen auf Selbstbestimmung ein, sondern auch die individuelle Religionsfreiheit des einzelnen Reichswehrsoldaten. Die in vielerlei Hinsicht prekäre grundrechtliche Stellung der Reichswehrsoldaten war indes nicht allein auf das Wehrrecht und die Politik des Reichswehrministeriums zurückzuführen, sondern auch auf die allgemeine Schwäche der Grundrechte unter der Weimarer Reichsverfassung. Fehlender Schutz durch Verfahren paarte sich hier mit noch unzureichender dogmatischer Perzeption durch Staatsrechtslehre und Rechtsprechung. So wie die bürgerlichen Freiheiten im Kaiserreich nur durch einfaches Gesetz gewährleistet worden waren, so hinderten die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung umgekehrt den einfachen Gesetzgeber meist nicht, die durch sie garantierten Freiheiten wieder zu beschneiden. So gesehen zeigte sich auch hier, dass die Ursachen dieser Weimarer Wehrrechtsentwicklung nicht allein bei einem reaktionären Militärapparat lagen. Vielmehr hatte der heterogene Weimarer Staatsentwurf als Ganzes die bürgerlich-liberale Freiheitsagenda von 1848 nicht mit letzter Konsequenz verfolgt. Bei vielen Anliegen fand die Reichswehr in der Weimarer Justiz einen geborenen Verbündeten: Auch dort hatte die Revolution die alten Eliten nicht ausgetauscht. Schützenhilfe gewährte sie dem Militär zunächst vor allem dadurch, dass sie die vielen ausnahmerechtlichen Episoden – Spartakusaufstand, Märzunruhen und Münchner Räterepublik 1919, Kapp-Lüttwitz-Putsch und Ruhrkampf 1920 sowie schließlich die Reichskrise um Bayern 1923/24, um nur die wichtigsten zu nennen – nur unzureichend und einseitig aufbereitete. Aber auch in Ehrensachen stand die Justiz zur Seite, etwa als sie am Beispiel von George Grosz die Strafbarkeit von Kollektivbeleidigungen ausdehnte. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wiederum gab sie den geheimen Rüstungsprojekten Deckungsfeuer, indem sie pazifistische Enthüllungsjournalisten reihenweise wegen Landesverrats verurteilte. Daraus resultierte ein pressefreiheitliches Trauma, das weit über die Spiegel-Affäre des Jahres 1962 hinaus bis in unsere politische Gegenwart hineinwirkt – wie zuletzt der Fall des im August 2015 geschassten Generalbundesanwalts Harald Range zeigte, der auf eine Anzeige des Bundesamtes für Verfassungsschutzes hin gegen zwei Internetjournalisten wegen Landesverrats ermittelt hatte.
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Die demütigende Wirkung des Versailler Vertrags ist hinlänglich bekannt. Sie führte im Verein mit der Dolchstoßlegende zu einem in der deutschen Gesellschaft weit verbreiteten Revisionismus, dessen wesentliche Lektion aus dem letzten Krieg es war, dass der nächste gewonnen werde müsse. Unter der Last von Versailles radikalisierte sich Weimar. Der von Rüdiger Bergien in aller Deutlichkeit herausgestellte Konsens der Wehrhaftmachung, an dem nicht wenige Sozialdemokraten teilhatten, zeigt einmal mehr, dass nicht allein das Militär, sondern ein gutes Stück weit auch der gesamte Staat von Weimar in Rüstungsfragen eine Kultur zweifelhafter Rechtlichkeit pflegte. Der Druck, den die Friedensbedingungen speziell auf die Konstitution der Reichswehr ausübten, führte dort noch zu anderen unbeabsichtigten Nebenwirkungen und setzte zum Teil unerwartete Kräfte frei: Hier ist zum einen die im Vergleich zum Vorkriegszustand sogar gesteigerte politische Homogenisierung des Personalkörpers zu nennen, die erst unter dem Nationalsozialismus wieder zurückging – bezeichnenderweise vor allem aufgrund der vertragswidrigen Wiedereinführung der Wehrpflicht. Vor allem aber lernte die Reichswehr unter den eng gesteckten Rahmenbedingungen Effizienz und zeigte sich insofern auch innovativ, was sich zulasten der Entente vor allem in den Anfangserfolgen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg zeigte. Der Hang zu Organisation, Straffung, Konzentration und Vereinheitlichung schlug sich auch rechtlich nieder, manches hat sich sogar über den Zusammenbruch des Reichs hinaus erhalten. Hierzu zählen einerseits wehrverfassungsrechtliche Aspekte wie die weitgehende Beseitigung der Reservatrechte und die Abschaffung der Kontingentstruktur zugunsten einer einheitlichen Wehrmacht des Reiches unter Vereinigung der bis dahin völlig getrennten Teilstreitkräfte von Heer und Marine. Zum anderen gehört hierher die Ausarbeitung eines Besoldungsund Laufbahnrechts, für das beamtenrechtliche Vorschriften Pate standen. War speziell das Dienstverhältnis der Offiziere bisher ein vor allem auf Traditionen beruhendes, persönliches Treueverhältnis zum Monarchen gewesen, so bemühten sich die Offiziere des Reichswehrministeriums mit ihren Entwürfen zum Wehrgesetz nun selbst erfolgreich darum, insbesondere den ordentlichen Rechtsweg für Ansprüche aus dem Dienstverhältnis freizumachen. Darüber hinaus waren die Rechtsschutzmöglichkeiten für den Reichswehrsoldaten jedoch sehr beschränkt. Das Beschwerderecht wurde zwar ebenfalls sowohl für alle Rangklassen wie auch für Heer und Marine vereinheitlicht. Es blieb jedoch wie eh und je eine Domäne des Militärverordnungsrechts. Auch hier hielt sich der parlamentarische Gesetzgeber also zurück und machte keinen Gestaltungsanspruch geltend. Ungeachtet der allgemeinen partizipationsrechtlichen Stellung der Reichswehrsoldaten mischten ihre höheren Führer im Reichswehrministerium in ganz erheblichem Umfange im Berliner Politikbetrieb mit. Nicht nur die Häufigkeit und Intensität, mit der Wehrfragen in Kabinett und Parlament auf der Tagesordnung standen, sondern auch die bloße Anwesenheit von teils noch dienstgradjungen und aufstrebenden Offizieren etwa in Gesetzeskommissionen legen hiervon Zeugnis ab. Dass sich die Kontakte des Reichswehrministeriums zu Zivilpolitik und Gesellschaftseliten unter Groener und Schleicher erheblich verbesserten, ist oft als Annäherung an die Republik gesehen worden. Doch die Reichswehr blieb auch zum Ende von
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Weimar hin ein paralegaler Staat im Staate: Das lag nicht allein daran, dass ihr Wehrrecht zu dieser Zeit bereits weitgehend fertiggestellt war und sich auch nicht mehr wesentlich änderte. Der Weg der Reichswehr über die Institutionen war vielmehr damit zu erklären, dass sie – einer Gesamtstrategie folgend – jetzt auch den staatlichen Zivilapparat für militärische Zwecke einspannen wollte. Im Reichswehrministerium blühte das Konzept auf, den Antagonismus von bürgerlichem Gesetzgebungsstaat und preußisch geprägtem Soldatenstaat zugunsten eines totalen Wehrstaats aufzulösen. Das Ergebnis war eine Militarisierung der Zivilpolitik, getragen von einem lagerübergreifenden Konsens der Wehrhaftmachung. Die bellifizierte Republik gebar jedoch keine republikanisierte Reichswehr. Ähnlich wie den gemeinen Soldaten die Artikulation ihrer Meinung auf dem gewöhnlichen Weg über Wahlen, Demonstrationen und Petitionen abgeschnitten war, vermittelte sich der politische Gestaltungsanspruch der Reichswehr zudem nicht allein über die dafür vorgesehenen Verfahren und Regierungsinstitutionen. Die Optionen, die ein militärischer Ausnahmezustand dem Militär bot, übten hier einen subtilen Druck praeter constitutionem aus. Gerade über dieses Instrument hielt der überkommene Soldatenstaat ein schwelendes Störfeuer aufrecht, das den ohnehin nur unvollkommen ausgebildeten liberal-bürgerlichen Gesetzgebungsstaat von Weimar an seiner weiteren Entwicklung hinderte. Das Œuvre wie auch die Biographie Carl Schmitts sind hierfür die ideale staatswissenschaftliche Begleitlektüre. Ausgehend von der OHL, die bereits mit dem Regime des Belagerungs- und Kriegszustands regiert hatte, beschäftigte sich die Reichswehr durchgehend mit dem Ausnahmezustand und hielt ihre entsprechenden Vorschriften und Verfahren auf dem Laufenden. Hier ging es sowohl um die Frage, wie das Militär einen vom Reichspräsidenten verhängten Ausnahmezustand ausgestalten sollte, als auch darum, inwieweit das Militär hierzu nach preußischem Vorbild selbst die Initiative ergreifen konnte. Gerade zum Ende der Republik hin, mit Hitler ante portas, kehrte das Thema wie auf dem Höhepunkt einer Symphonie wieder, die freilich eine unvollendete blieb. Bei ihrem Weg über die Institutionen lief die Reichswehr schließlich mit einem Schatten um die Wette, der sie seit der Freikorps-Zeit verfolgte: Der aggressiv-völkische Militarismus, der sich in erster Linie nicht auf Staat und Institutionen, sondern auf Rasse und Führertum bezog, trat mit der aufsteigenden NSDAP stärker denn je auf den Plan. Dass er zunehmend auch innerhalb der Reichswehr mit dem unter Seeckt vorherrschenden klassisch-preußischen, zutiefst etatistischen Militarismus konkurrierte, zeigte sich spätestens mit dem Hochverratsprozess gegen die Ulmer Reichswehroffiziere im Jahr 1930. In das Bild vom Wettlauf fügt sich, dass Hitler just hier als Zeuge unter Eid versicherte, die Macht nur auf legalem Wege ergreifen zu wollen. In der Reichskrise der Jahreswende 1932/1933 behielt Schleicher – rechtlich beraten von Schmitt – die Möglichkeit des militärischen Ausnahmezustands – auch in Form einer Machtusurpation gegen den senilen Reichspräsidenten – als theoretische Option stets im Auge. Was unterschied ihn hierbei von Lüttwitz? Sicher nicht nur ein gerüttelt Maß mehr an politischem Instinkt und Professionalität der Vorbereitungen. Es waren vor allem die Motive: Während Lüttwitz 1920 nicht nur von einer
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generellen Ablehnung der neuen Staatsform, sondern in der konkreten Situation besonders von der Angst vor seiner eigenen drohenden Bedeutungslosigkeit getrieben wurde, beschäftigten den Reichswehrminister und Reichskanzler Anfang 1933 ganz andere Sorgen: Zwar trug der Staat von Weimar nun schon nicht mehr das Antlitz, das er noch 1920 getragen hatte, dazu hatte Schleicher sehr wohl seinen eigenen Beitrag geleistet. Doch Hindenburg drohte nun, das Reich an sich der nationalsozialistischen Partei auszuliefern. Im Reichswehrministerium stand die Entscheidung an, ob das Militär notfalls mit Gewalt versuchen sollte, wenn schon nicht die parlamentarische-demokratische Staatsform, so doch wenigstens die alte preußische Idee des Staates selbst zu retten. Gewiss wäre der Preis vermutlich ein Bürgerkrieg gewesen, gewiss versprachen die Kräfteverhältnisse keinen schnellen Erfolg. Doch galt hier andererseits auch das Paradigma jeder revolutionären Situation: »Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft hat schon verloren.«2 Mit der Entscheidung Schleichers, die Reichswehr nicht gegen Hindenburg und Hitler antreten zu lassen, gelangte die Agenda des klassisch-preußischen Militarismus, wonach die Armee als parteiübergreifend-neutrale Institution einen herausragenden Führungsanspruch im Staat geltend machte, an ihr endgültiges Ende. Folgerichtig strichen die Nationalsozialisten später die ausnahmerechtlichen Befugnisse der Reichswehr aus Vorschriften und Gesetzen und entzogen ihr damit eine wichtige rechtliche Machtbasis, zugleich lösten sie die Soldaten aus ihrer attentistischen Überparteilichkeit und politisierten sie im Sinne des NS. Nicht die Reichswehr, sondern die nationalsozialistische Partei eroberte damit die Weimarer Republik, statt eines autoritären Wehrstaats kam das »Dritte Reich«. Das bringt uns zu der abschließenden Frage, was gut achtzig Jahre später von der Rechtsgeschichte der Reichswehr bleibt. Die Weimarer Wehrverfassung hat sich jedenfalls in keiner Richtung hin bewährt: Weder integrierte sie den einzelnen Soldaten in die pluralistische Gesellschaft und die Reichswehr als Ganzes in die parlamentarisch-demokratische Republik, noch konnte sie sich im Ringen um die Macht im Staate mit der von ihr beanspruchten Sonderstellung gegen den Nationalsozialismus durchsetzen. Die Rechtsgeschichte der Reichswehr und dabei besonders das Scheitern innovativer Ansätze bildeten daher die Kontrastfolie für die bundesrepublikanische Wehrgesetzgebung der 1950er Jahre und wirken insofern bis heute nach.3 Ob parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte, Vorgesetztenverhältnis, Notstandsbefugnisse, Grundrechte, Disziplinarrecht, Beschwerderecht – die Unterschiede im Großen wie im Kleinen sind derart stark und zahlreich, dass sie genug Stoff für weitere Untersuchungen bergen.4 Daran ändert auch nichts, dass die Wehrpflicht seit 2011 ausgesetzt ist und die Bundeswehr bald beinahe so klein wie die Reichswehr sein wird: Deutschlands heutige Streitkräfte kapseln sich nicht gezielt ab, sondern drohen allenfalls den Anschluss an die Gesellschaft zu verlieren, was mit dem ver2 3 4
Das Zitat wird mal Bertolt Brecht, mal Rosa Luxemburg zugeschrieben; die genaue Herkunft lässt sich nicht klären. Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 268. Während die Geschichte der Bundeswehr bereits ein etabliertes Forschungsfeld ist, fehlt es noch an einer Untersuchung ihrer Rechtsgeschichte.
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änderten Sozialprestige des Soldatenberufs Hand in Hand geht. Da der deutsche Konservatismus seine Fundamentalopposition gegen den Parlamentarismus jedoch seit dem Zweiten Weltkrieg in weiten Teilen aufgegeben hat – was ein Stück weit auch mit der Ausschaltung seiner Exponenten nach dem 20. Juli 1944 zu tun hat – steht die Bundesrepublik nicht nur ihrer Verfassung, sondern auch ihrer politischen Realität nach von Beginn an unter einem anderen Stern als der Staat von Weimar: Eine Neuauflage der Rechtsgeschichte der Reichswehr, also das Entstehen eines paralegalen Staats im Staate, ist damit auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.
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400 RMG 1874 Rn. RStGB RStPO RV 1871 S. Sp. SPD SSp. USPD v. a. Var. VerwArch VfZ Vorbem. VwVfG WBO WG WRV WStG z.D. zit. ZPO ZRG GA z. S.
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Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R 43-I (Reichskanzlei)
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Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin R 72261 (Militärseelsorge)
PERSONENREGISTER Absolon, Rudolf 26 Agnes, Lore, Reichstagsabgeordnete (USPD) 198 Albert, Heinrich, Staatssekretär 297, 307 Anschütz, Gerhard, Prof. Dr., Staatsrechtler 175, 201 Aschauer, Philipp, Oberstleutnant 233 Aßmann, Julius, Reichstagsabgeordneter (DVP) 34 Baeck, Leo, Dr., Feldrabbiner 232 Baerecke, Max, Reichstagsabgeordneter (DNVP) 34, 61 Barth, Georg, Reichstagsabgeordneter (DNVP) 302 Bauer, Gustav, Reichskanzler 251 Bebel, August, Reichstagsabgeordneter (SPD) 258 Beck, Ludwig, Oberst, später Generaloberst 365, 367, 370 Behncke, Paul, Admiral, Chef der Marineleitung 109 Bennigsen, Rudolf von, Abgeordneter 18 Bergien, Rüdiger, PD Dr. 17, 22, 27, 81, 357, 394 Bergmann, Walter von, Generalleutnant 159 Bethmann-Hollweg, Theobald von, Reichskanzler 318 Beyerle, Konrad, Dr., Abgeordneter der Nationalversammlung (Zentrum) 338 Bilfinger, Carl, Prof. Dr., Staatsrechtler 374 f., 379 Bismarck, Otto von, Reichskanzler 20, 48 Blomberg, Werner von, General d. Inf., Reichswehrminister 112, 382, 388 Braun, Oberleutnant 332 Braun, Otto, Preußischer Ministerpräsident (SPD) 361, 372 Brecht, Bertolt 396 Bredow, Philipp von, Oberst, später Generalmajor 369, 380 f., 387 Brüning, Heinrich, Reichskanzler 336, 369 f., 376 f. Brüninghaus, Franz, Admiral a.D., Reichstagsabgeordneter (DVP) 247, 296 f., 302 Buchrucker, Bruno Ernst, Major a.D. 83 Bühler, Ottmar, Prof. Dr., Staatsrechtler 175 Bülow, Bernhard von, Reichskanzler 318 Bülow, Bernhard Wilhelm von, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes 362 Bussche-Ippenburg, Erich von dem, Generalleutnant 387
Canaris, Wilhelm, Kapitänleutnant 39 Carsten, Francis L. 26 Cohn, Oskar, Reichstagsabgeordneter (USPD) 92, 194, 244 f., 294 Cuno, Wilhelm, Dr., Reichskanzler 354 Curtius, Julius, Dr., Reichsaußenminister (DVP) 362 Däumig, Ernst, Reichstagsabgeordneter (USPD) 155 Davidsohn, Georg, Abgeordneter der Nationalversammlung (MSPD) 322 f. Dietl, Eduard, Hauptmann 69, 84 Dietz, Andreas, Dr. habil., Richter 26 Dönitz, Karl, Kapitänleutnant, später Großadmiral 248, 303 Ebert, Friedrich, Reichskanzler 30–35, 39, 47, 58, 65, 67, 69, 70, 72 f., 76, 78, 83 f., 86, 92, 94–96, 101, 104, 116, 119, 123, 135 f., 139, 154, 164 f., 182, 194, 252, 256, 273 f., 285, 326, 328, 348, 353, 355, 357, 390 Ehrhardt, Hermann, Korvettenkapitän, Freikorpsführer 65, 122 Eichhorn, Emil, Abgeordneter der Nationalversammlung 196, 198, 201 Einem, Karl von, Generaloberst, Preußischer Kriegsminister 318 Eisenhart-Rothe, Ernst von, Generalmajor 159 Eisner, Kurt, Bayerischer Ministerpräsident 319 Emminger, Erich, Reichstagsabgeordneter (BVP) 129 Epp, Franz Ritter von, Oberst 167, 324 Ernst August, König von Hannover 134 Erzberger, Matthias, Reichstagsabgeordneter (Zentrum), Reichsfinanzminister 122 Estorff, Ludwig von, Generalleutnant, Kommandierender General I. Armeekorps 44 Fehrenbach, Constantin, Reichskanzler 79, 81, 297, 354 Feldmann, Hans von, Generalmajor, Chef der Heeresverwaltung 109 Figge, Klaus 384 Fleck, Eduard, Generalauditeur 258, 259 Förster, Stig, Prof. Dr. 122 Forstner, Günter Frhr. von, Leutnant 166, 316 Frerichs, Frerich, Ministerialrat 80 Friedrich II., König von Preußen 99 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen 99
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Personenregister
Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 237, 311 f. Friedrich-Wilhelm IV., König von Preußen 20, 312, 314 Fuhse, Wilhelm, Reichsgerichtsrat 211 Gallwitz, Max von, General d. Art., Reichstagsabgeordneter (DNVP) 301 Gayl, Wilhelm von, Reichsinnenminister (DNVP) 375 f., 379 George, Stefan, Dichter 151 Gerber, Carl Friedrich von, Prof. Dr., Kgl. Sächsischer Minister, Staatsrechtslehrer 133 Geßler, Otto, Dr., Reichswehrminister 48, 56, 75–77, 79, 83, 85 f., 93, 99, 102–104, 110 f., 114, 116, 120, 124 f., 128, 136, 143, 148, 151, 156, 158, 160, 166 f., 182 f., 195 f., 200 f., 209–217, 225 f., 229 f., 246 f., 249, 252, 256, 274, 296 f., 301–303, 305, 322, 330, 332 f., 353, 390 Geyer, Michael, Prof. Dr. 27 Gilsa, Erich von, Major, Adjutant Noskes 66 Gneisenau, Neidhardt von, Generalfeldmarschall 359 Goebbels, Joseph, Dr., Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Gauleiter der NSDAP von Berlin 371 Goerdeler, Carl Friedrich, Oberbürgermeister von Leipzig 370 Göhre, Paul, Parlamentarischer Unterstaatssekretär im Preußischen Kriegsministerium 108 Gordon, Harold J. 26, 116 Göring, Hermann, Oberleutnant 321, 369, 377 Graefe, Albrecht von, Reichstagsabgeordneter (DNVP) 200, 286, 294, 319 Griesheim, Gustav von, Generalmajor 237 Gröber, Adolf, Reichstagsabgeordneter (Zentrum) 61, 245, 319 f. Groener, Wilhelm, Generalleutnant 29–34, 56, 102, 106, 142 f., 150, 215, 273, 324, 333, 353–359, 362, 366, 369 f., 376, 380, 386, 394 Groh, Dieter, Prof. Dr., Historiker 384 Grosz, George 334, 393 Grüninger, Horst, Oberleutnant, später Major 378 Grünwald, Friedrich, Dr., Wirkl. Geheimer Kriegsrat, Reiter der Rechtsabteilung des Reichswehrministeriums 226 f., 297, 301 Grützmacher, Kriegsgerichtsrat 315 Grzesinski, Albert, Unterstaatssekretär im Preußischen Kriegsministerium, Polizeipräsident von Berlin 108, 172, 374 Haack, Friedrich Ritter von, Oberst 231 Haas, Ludwig, Reichstagsabgeordneter (DDP) 34, 48, 80, 145, 148, 155, 247
Haas, Otto, Generalmajor 233 Haimhausen, Edgar Haniel von, Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt 44 Hammerstein-Equord, Kurt von, General d. Inf., Chef der Heeresleitung 368, 387 Harbou, Bodo von, Major 46, 359 Hasse, Otto, Oberst 60, 79, 94 Haußmann, Conrad, Reichstagsabgeordneter (FVP) 196, 199 Heartfield, John 334 Heeringen, Josias von, Generaloberst, Preußischer Kriegsminister 318 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Philosoph 122, 341, 390 Heine, Wolfgang, Preußischer Justizminister 42 Heinze, Rudolf, Reichstagsabgeordneter (DVP) 100 Henke, Alfred, Reichstagsabgeordneter (USPD) 149 Hertling, Georg von, Reichskanzler 204 Herzfelde, Wieland 334 Heydrich, Reinhard, Oberleutnant z. S. 329 Heye, Wilhelm, Generalmajor, Chef der Heeresleitung 66, 106, 116, 125, 143, 186, 198, 229, 324, 333, 365, 368 Hindenburg, Oskar von, Major 354 Hindenburg, Paul von, Generalfeldmarschall, Reichspräsident 31, 48, 57, 75, 102, 105 f., 112, 119, 137, 142, 231, 273, 309, 324, 330 f., 354 f., 367–370, 373, 376 f., 379 f., 384, 386–388, 395 f. Hintze, Otto, Prof. Dr., Verfassungshistoriker 15, 21 Hitler, Adolf, Reichskanzler 27, 83 f., 87, 89 f., 98, 122, 213, 215, 360, 364, 366, 369 f., 372, 382, 385–388, 395 f. Hobbes, Thomas, Staatstheoretiker 46 Hoffmann, Johannes, Bayerischer Ministerpräsident 214 Hofmann, Heinrich von, Generalleutnant, Kommandierender General Garde-Schützen-Korps 64 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig Fürst zu, Bayerischer Ministerpräsident, Reichskanzler 238 Holtzendorff, Hanshenning von 382 Huber, Ernst Rudolf, Prof. Dr. 26, 378 Hünlich, Oskar, Reichstagsabgeordneter (SPD) 300, 323 Hürter, Johannes, Prof. Dr. 27 Jacob, Berthold, Journalist 363 Jacobi, Erwin, Prof. Dr., Staatsrechtler 374 f., 379
Personenregister Jagow, Traugott von 71 f., 367 Jellinek, Georg, Prof. Dr., Staatsrechtler 175 Jesus Christus 17 Joeppen, Heinrich, Feldpropst 228 Jones, Mark 27 Jorns, Paul, Kriegsgerichtsrat 38, 363 Jung, Otmar, PD Dr., Politikwissenschaftler 42 Jünger, Ernst, Hauptmann a.D., Schriftsteller 361, 378 Kahr, Gustav Ritter von, Bayerischer Ministerpräsident 43, 84, 87, 98, 110 Kalckreuth, Graf von, Fähnrich 330 Kapp, Wolfgang, Generallandschaftsdirektor 66, 68, 73, 91 Karl der Große, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 97 Karl I., Kaiser von Österreich 318 Katzenstein, Simon, Reichstagsabgeordneter (MSPD) 196, 199, 244 Kehrhahn, Heinrich, Korvettenkapitän 80 Keitel, Wilhelm, Oberst, später Generalfeldmarschall 358 Keller, Peter, Dr. 27, 35 Kelsen, Hans, Prof. Dr., Staatsrechtler 179, 204 Klein, Caspar, Bischof von Paderborn 228 Kluge, Hans Günther von, Oberst, später Generalfeldmarschall 366 Knickmann, Heinrich August, Reichstagsabgeordneter (NSDAP) 210 Koch, Erich, Reichsinnenminister 51 Koenen, Wilhelm, Reichstagsabgeordneter (KPD) 341 Korsch, Karl, Reichstagsabgeordneter (KPD) 206 Kotulla, Michael, Prof. Dr. 26 Krall, Oberstleutnant 79 Kranzbühler, Otto, Marinerichter, Strafverteidiger 248 Kreiser, Walter, Journalist 363 Kreß von Kressenstein, Friedrich Frhr., Oberst 79 Kühlenthal, Erich, Oberst, später General d. Art. 372 Kuhnt, Bernhard, Reichstagsabgeordneter (USPD) 113, 146, 155, 165, 169, 207, 213 Kunert, Fritz, Reichstagsabgeordneter (USPD) 190 Küster, Fritz, Journalist 363 Laband, Paul, Prof. Dr., Staatsrechtler 20, 131, 133, 134, 178 Lademann, Friedbert, Major 198 Landsberg, Otto, Reichstagsabgeordneter (SPD), Reichsjustizminister 244 f., 305, 308
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Lasker, Eduard, Reichstagsabgeordneter (Nationalliberal) 196, 258 f. Laverrenz, Victor, Reichstagsabgeordneter (DNVP) 34 Leber, Julius, Dr., Leutnant a.D., Reichstagsabgeordneter (SPD) 361 Lenin, Wladimir Iljitsch 95 Lequis, Arnold, Generalleutnant 135 Lersner, Kurt von, Reichstagsabgeordneter (DVP) 361 Lettow-Vorbeck, Paul von, General d. Inf. a.D., Reichstagsabgeordneter (DNVP) 258 Leviné, Eugen 213, 214 Liebknecht, Karl, Reichstagsabgeordneter (SPD) 37–39, 43, 64, 243, 363 Liebmann, Carl, Generalleutnant 364 Liepmann, Rudolf, Leutnant 38 Liszt, Franz von, Prof. Dr., Strafrechtler 237, 283 Löbe, Paul, Reichstagsabgeordneter (SPD) 124–126 Lohmann, Walter, Kapitän z. S. 56 Loibl, Martin, Reichstagsabgeordneter (BVP) 116 Lossow, Otto von, Generalleutnant, Landeskommandant von Bayern 83 f., 87, 319, 332 Ludendorff, Erich, General d. Inf. 31, 95, 201, 324, 359 f. Ludin, Hanns, Leutnant, Artillerieregiment 5, Ulm 365–367 Luther, Hans, Reichsfinanzminister 94 Lüttwitz, Walther von, General d. Inf. 64–66, 68 f., 73, 91, 123, 395 Luxemburg, Rosa 37–40, 43, 64, 135, 243, 363, 396 Maercker, Georg, Generalmajor 64, 66, 69, 153 f., 345 f. Marcks, Erich, Hauptmann, später Major, zuletzt Gen d.Art., Pressesprecher des Reichskriegsministeriums, später der Reichsregierung 80, 361, 368, 374, 384, 386 f. Marées, Konrad von, Hauptmann 80 Marloh, Otto, Oberleutnant 41 f. Marx, Wilhelm, Reichskanzler 55, 96, 252, 301, 303, 331, 357 Max von Baden, Reichskanzler 30 Mayer, Otto, Prof. Dr., Verwaltungsrechtslehrer 133, 177 Meier-Welcker, Hans, Dr., Oberst i.G. 27 Mentzel, Wolfgang, Major 79 Merkl, Adolf, Prof. Dr., Staatsrechtler 179 Messerschmidt, Manfred, Prof. Dr. 26 Meyer, Geheimrat 295 Michael, Horst Dr., Historiker 383–385
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Personenregister
Möhl, Arnold Ritter von, Generalmajor, Oberbefehlshaber des Bayerischen Oberkommandos 43, 83, 167, 213 f., 217, 233 Moltke, Helmuth Johannes Ludwig von, Generaloberst 29 Moltke, Helmuth Karl Bernhard Graf von, Generalfeldmarschall, Reichstagsabgeordneter (Konservativ) 194, 197, 257, 259 f. Moses, Julius, Reichstagsabgeordneter (SPD) 116, 187, 302 Müller, Guido, PD Dr., Historiker 361 f. Müller, Hermann, Reichstagsabgeordneter (MSPD), Reichskanzler 191, 357, 368 f. Müller, Vincenz, Hauptmann, später Generalleutnant, und der Nationalen Volksarmee der DDR 374, 382 Mulligan, William 27 Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen 130 Naumann, Friedrich 77 Niedner, Alexander, Senatspräsident am Reichsgericht 363 Noske, Gustav, Reichswehrminister 28, 39–43, 45 f., 49, 58–60, 64–69, 72, 76 f., 101 f., 108 f., 121, 123, 128, 150, 153 f., 165, 182, 184, 197, 203, 205, 207, 233, 244 f., 251, 256, 285, 294, 300, 346, 381, 390 Oertzen, Friedrich Wilhelm von, Major 79 Oldenburg-Januschau, Elard von, Reichstagsabgeordneter (Konservative) 31 Ossietzky, Carl von 335, 363 f., 367 Ott, Eugen, Oberstleutnant 361, 374, 379–381, 383, 386 f. Pabst, Waldemar, Hauptmann 39, 41, 64, 66 Pacelli, Eugenio, Nuntius in München, später Berlin 227, 234 Papen, Franz von, Reichskanzler 361, 369 f., 372 f., 375, 377–380, 385 f. Pawelsz, Richard von, Oberst 77, 153 Pfeiffer, Adolf, Kapitän z. S. 80 Piesczek, Ernst, Geh. Kriegsrat 80 Planck, Erwin, Staatssekretär der Reichskanzlei 386 f. Plehwe, Friedrich-Karl von 355 Poincaré, Raymond, Französischer Ministerpräsident 76 Posadowsky-Wehner, Arthur von, Reichstagsabgeordneter (DNVP) 196, 199 Prager, Karl Ritter von, Oberstleutnant 79 Preuß, Hugo, Abgeordneter der Nationalversammlung 102, 389 Prittwitz und Gaffron, Maximilian Frhr. von, Generaloberst 324
Puttkamer, Alexander von, Reichstagsabgeordneter des Norddeutschen Bundes (Nationalliberale) 174 Pyta, Wolfgang, Prof. Dr., Historiker 375, 385 Rabenau, Friedrich von, Hauptmann 47, 75, 136, 159, 301 Radbruch, Gustav, Dr., Reichstagsabgeordneter (SPD), Reichsjustizminister 70 f., 117, 251, 256, 297, 305, 307, 322 Raeder, Erich, Admiral 329 Range, Harald, Generalbundesanwalt 393 Rarkowski, Franz Justus, Feldpropst der katholischen Militärseelsorge 229 Rathenau, Walther, Reichsaußenminister 122 Redslob, Erwin, Reichskunstwart 334 Reibert, Wilhelm, Dr. iur., Oberst 172 Reinhardt, Walther, General d. Inf., Preußischer Kriegsminister, Chef der Heeresleitung, Oberbefehlshaber Reichswehrgruppenkommando 2 27, 34, 37, 59 f., 66 f., 76, 78, 125, 156 f., 165, 169 f., 172, 182, 203, 205, 232 f., 243, 245, 319–321, 390 f. Reuter, Ernst von, Oberst 316 Rheinländer, Anton, Reichstagsabgeordneter (Zentrum) 58, 129, 155 Rissom, Carl 264, 270, 278 f. Rittau, Martin 134, 150, 203, 206 Rodenberg, von, Major 79 Rohdewald, Bodo von, Generalmajor 324 Röhm, Ernst, Hauptmann 84, 325, 328 Romen, Antonius, Dr. 264, 270, 278 f. Roon, Albrecht Graf von, Generalfeldmarschall, Preußischer Kriegsminister 260 Roosevelt, Franklin D., Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika 386 Rosenfeld, Kurt, Reichstagsabgeordneter (USPD) 155, 306, 307 Roßhaupter, Albert, Bayerischern Minister für militärische Angelegenheiten 319 Rumbold, Sir Horace, Britischer Botschafter in Berlin 372 Rundstedt, Gerd von, Generalleutnant, später Generalfeldmarschall 374 Runge, Ottto, Husar 38 Sauer, Wolfgang, Prof. Dr. 26 Savigny, Friedrich Carl von, Prof. Dr., Rechtsgelehrter 133 Scharnhorst, Gerhard Johann David von, Generalleutnant 237, 359 Scheidemann, Philipp, Reichstagsabgeordneter (SPD) 15, 29, 55, 103, 105, 125, 159 Scheringer, Richard, Leutnant, Artillerieregiment 5, Ulm 365 f. Schiele, Georg 71
Personenregister Schiffer, Eugen, Reichsjustizminister und Vizekanzler 67, 92 Schiller, Friedrich 103 Schivelbusch, Wolfgang, Dr., Historiker 386 Schlabrendorff, Fabian von, Dr., Richter am Bundesverfassungsgericht 137 Schlageter, Albert Leo 82 Schlegel, Erich, Feldpropst für die Reichswehr 226 Schleicher, Kurt von, General d. Inf., Reichswehrminister, Reichskanzler 31, 46, 79, 93, 98, 102, 106, 108, 110, 150, 256, 336, 354–359, 361 f., 366, 369 f., 372–383, 385–388, 394–396 Schlichter, Rudolf 334 Schmidt, Richard, Reichstagsabgeordneter (MSPD) 198 f. Schmidt-Hannover, Otto, Hauptmann a.D., Reichstagsabgeordneter (DNVP) 145 Schmitt, Carl, Prof. Dr., Staatsrechtler 44 f., 49, 52, 92, 131, 175, 178, 204, 331, 360 f., 368 f., 371, 374 f., 378 f., 382–386, 395 Schneller, Ernst, Reichstagsabgeordneter (KPD) 56 Schneppenhorst, Ernst, Bayerischer Minister für militärische Angelegenheiten 214 Schniewindt, Rudolf, Oberstleutnant 79 Schnitzler, Arthur 315 Schoch, Karl von, Generalleutnant a.D., Reichstagsabgeordneter (DVP) 114, 247 Schoeler, Roderich von, Generalleutnant, Oberbefehlshaber Reichswehr-Gruppenkommando 2, Kassel 53, 124 Schönstedt, Karl Heinrich, Preußischer Justizminister 239 Schöpflin, Georg, Reichstagsabgeordneter (MSPD) 61, 80, 81, 97, 103, 155, 164, 216, 341 Schreiber, Theodor, Ministerialrat 80 Schröder, Geh. Admiralitätsrat 80 Schrötter, Karl Wilhelm von, Preußischer Justizminister 237 Schulte, Karl-Anton, Reichstagsabgeordneter (Zentrum) 332 Schultzen, Wilhelm, Dr., Generaloberstabsarzt 116, 187, 302 Schwamborn, Paul Anton Josef, Generalvikar der kath. Militärseelsorge 228, 229 Schwerin von Krosigk, Johann Ludwig Graf, Reichsfinanzminister 387 Seeckt, Hans von, General d. Inf., 1926 Generaloberst, Chef der Heeresleitung 53, 59 f., 66 f., 69, 74–76, 78, 82 f., 86–89, 91–99, 103–106, 108–110, 116, 120, 122–125, 127 f., 138, 150 f., 157, 159–161, 166, 171, 185–188, 195, 198,
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204 f., 211 f., 215, 221, 233, 249, 255 f., 274 f., 294, 301, 323–326, 328, 332 f., 348, 354–358, 367, 369–371, 373, 375, 390–392, 395 Seiberth, Gabriel, Dr., Historiker 375 Semler, Paul, Ministerialrat 80, 104–106, 129, 198, 202 f., 205 f., 209 f., 223, 244 f., 326, 340 f. Seppel, Max, Reichstagsabgeordneter (SPD) 145 Severing, Carl, Preußischer Innenminister, Reichsinnenminister (SPD) 361, 369, 373 Siehr, Ernst, Reichstagsabgeordneter (DDP) 61 Simons, Walter, Reichsaußenminister, Präsident des Reichsgerichts 73, 227, 234 Sinzheimer, Hugo, Reichstagsabgeordneter (MSPD) 243 Smend, Rudolf, Prof. Dr., Staatsrechtler 180 Sohl, Georg, Heeresanwalt 307 Sophokles 17 Souchon, Hermann, Leutnant 38 Spahn, Peter, Abgeordneter der Nationalversammlung (Zentrum) 338 Speidel, Hans, Dr., Hauptmann, später General 378 Spohn, Klemens von, Generalmajor 312, 315 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von, Major i.G., später Oberst i.G. 151 f., 371 Stieff, Hellmuth, Oberleutnant, später Generalmajor 367 Stock, Christian, Parlamentarischer Staatssekretär 70, 108 Stolzmann, Paulus von, Generalleutnant 255 Stresemann, Gustav, Dr., Reichskanzler 82, 85, 95 f., 356, 361 Stücklen, Daniel, Reichstagsabgeordneter (MSPD) 116, 127, 145, 185, 268, 284, 302 Stülpnagel, Edwin von, General d.Inf. 376 Stülpnagel, Joachim von, Oberstleutnant 93, 359 f., 376, 381, 387 Thaer, Albrecht von, Oberst 246 Thoma, Richard, Prof. Dr., Staatsrechtler 175, 178 Thomas, Wendelin, Reichstagsabgeordneter (KPD) 187, 300, 323 Torgler, Erwin, Reichstagsabgeordneter (KPD) 146 Triepel, Heinrich, Prof. Dr., Staatsrechtler 204 Trotha, Adolf von, Vizeadmiral 72 f. Tucholsky, Kurt 171, 201, 335 Vogel, Kurt, Oberleutnant 37 f. Waitz, Johannes, Oberst, Vertreter des preußischen Kriegsministeriums im Verfassungsausschuss 100, 101 Waldersee, Georg von, Generalmajor a.D. 324
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VIII. Literatur und veröffentlichte Quellen
Wangenheim, Conrad von 71 Wehler, Hans-Ulrich, Prof. Dr., Historiker 361 Wendt, Hans Friedrich, Oberleutnant, Artillerieregiment 5, Ulm 365 f. Westhoff, Oberleutnant 365 Wette, Wolfram, Prof. Dr. 27 Wheeler-Bennett, John W. 26 Wiedfeldt, Otto, Deutscher Botschafter in Washington 95 Wienstein, Richard, Regierungsrat 295 Wilhelm I., Deutscher Kaiser 18, 21, 150, 237, 313 f., 358 Wilhelm II., Deutscher Kaiser 18, 29–31, 54, 75, 118, 134, 139, 238, 240, 300, 317
Wilhelm von Preußen, Deutscher Kronprinz 99, 166, 316 Wilhelm von Preußen, Enkel Kaiser Wilhelms II. 99 Winterstein, Theodor von, Pfälzischer Regierungspräsident 43 Wirth, Joseph, Dr., Reichskanzler 76, 297, 354, 376 Wohlfeil, Rainer, Prof. Dr. 27 Wurtzbacher, Ludwig, Oberst 79 Yorck von Wartenburg, Ludwig Graf, General 17 Zietz, Luise, Reichstagsabgeordnete (USPD) 144