Alfred Matusche und Lothar Trolle: Grenzgänger des DDR-Theaters 9783839443828

Artistic obstinacy and SED dictatorship? Julia Lind presents two different border crossers of theater in the German Demo

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German Pages 366 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens
3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens
4. Schlusswort: Grenzgänge und Weltanschauung
Literaturverzeichnis
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Alfred Matusche und Lothar Trolle: Grenzgänger des DDR-Theaters
 9783839443828

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Julia Lind Alfred Matusche und Lothar Trolle

Theater  | Band 111

Julia Lind (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bereichs Theaterwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Julia Lind

Alfred Matusche und Lothar Trolle Grenzgänger des DDR-Theaters

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 der Johannes GutenbergUniversität Mainz im Jahr 2016 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4382-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4382-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort  | 9 1. Einleitung  | 11 Gedanken zur Epochendarstellung | 11 Begriff des Grenzgängers | 13 Grenzgänger Matusche – der religiöse Arbeiter | 18 Grenzgänger Trolle – der postsozialistische Narr | 21 Grenzgänger – ästhetischer Raum und Wahrnehmung | 23

2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens  | 33 Van Gogh: Beispiel eines sozialistischen Künstlers? | 35 Raumanalyse Van Gogh (1966) | 37 Vincent und das bürgerliche Feld der Familie | 41 Das Proletarische Feld: Ausweg? Lösung? | 45 Raum des Künstlers: Erhoffte Identität  | 48 Tagseite | 49 Nachtseite  | 52 Einsamer Raum der Heilanstalt | 55 Letzte Station: Unwirklicher Raum | 58 Künstler ohne (gesellschaftlichen) Ort | 62 Zweimal Van Gogh: Interpretationen des Stücks in BRD und DDR  | 69 Das westdeutsche Fernsehspiel Van Gogh – ein Traumspiel | 70 Van Gogh in Karl-Marx-Stadt – poetischer Realismus auf der Bühne  | 76 Matusches Geschichtsbilder im Kontext DDR | 85 Die Dorfstraße (1955): Opferdiskurs während des Kalten Krieges | 90 Symbolik des Lichten am Deutschen Theater  | 97 Lichter Geschichtsraum als Zeugnis der »gefühlten Geschichte«  | 103 Flüchtlingslager: »Wüstes Land« in der Nachkriegsgesellschaft | 108

Der Regenwettermann – Täterdiskurs und Erinnerung an die Shoah  | 126 Kartierung und Semantisierung des geschichtlichen Raumes | 128 Deutsche Misere I: Humanismus und Krieg | 136 Angst und die moderne, säkularisierte Welt | 145 Abschied und religiöser Raum des Totengräbers | 150 Deutsche Misere II | 155 Topos Regenwettermann | 160 Sozialistischer kontra Magischer Realismus? | 167 Visuelle Wahrnehmung und Dramenmodell | 173

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens  | 179 Brecht-Diskurse und Subjektbegriff im Künstlerstück klassenkampf (svendborg 1938/39) | 183 Form: Erzähltes Theater? Ein Lesedrama? | 186 Raumanalyse: Zwischen nah und fern | 190 I Auftakt und Einzug des Chores | 190 II Der Garten und der Chor der mindestens fünf Frauen  | 192 III Eintritt ins Haus und Stimmen der Männer | 202 IV Auftritt Steffins Familie | 210 V Auftritt Brecht: Ein Vertriebener | 212 Politisierte Erinnerung – oder Erinnerung an einen politischen Dichter? | 217 Grenzgang des Lachens und Aushandlung von Identität | 222 Postsozialistischer Erinnerungsraum: klassenkampf des Freien Theaters München (1998) | 232 Auftakt: ein klanglicher Raum als Erinnerungsraum | 233 Ortswechsel: Von den lärmenden Städten in die Idylle Svendborg | 234 I Der Frauenchor: Zwischen Disziplinierung und Sehnsucht | 236 II Männerchor: Zwischen Didaktik und Slapstick | 240 III Straßenszene: Erweiterung der Perspektive | 246 Brecht-Lektüren in Ost und West: Zwischen Leib und Verstand? | 248 Fiktionale Geschichtsräume: Raum der Gleichzeitigkeit | 255 Reaktionen auf Geschichte: Erinnerung an die Shoah in Das Dreivierteljahr des David Rubinowicz (1991) | 261 Grenzerfahrungen in Hörspiel und Theater | 278 Hörspiel: Kinderchor im Wechselgesang mit dem Zeugen | 279 Inszenierte Abwesenheit im Theater: Der Chor und der stumme Zeuge | 282

Entgrenzter Geschichtsraum in novemberszenen (nach döblin) (1999) | 293 Textbild und Struktur | 297 Durch Raum und Zeit: Vom historischen Elsass nach Berlin 1989, zurück zu Rosa | 300 Gleichzeitige Geschichtsräume – Wiederkehrender Stillstand? | 316 Postsozialistischer Geschichtsraum im Theater und Hörspiel | 321 Hörspiel: novemberszenen als Zeitstück | 321 Theaterinszenierung und Chor im zeitgeschichtlichen Diskurs | 326

4. Schlusswort: Grenzgänge und Weltanschauung  | 335 Ästhetischer Raum und Handlungen des »Sehens« und »Gehens« | 337

Literaturverzeichnis  | 347 Primärliteratur | 347 Sekundärliteratur | 348 Onlinequellen | 360 Medien- und Aufführungsverzeichnis | 361 Archivverzeichnis | 362 Siglen | 363

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Juli 2016 am Fachbereich Philosophie und Philologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen. Sie wurde von der Stipendienstiftung Rheinland-Pfalz gefördert. Die mündliche Prüfung fand am 16.03.2017 statt und für die Druckfassung wurden nur stilistische Änderungen vorgenommen. Diese Studie wäre ohne die vielfältige Hilfe und Unterstützung von verschiedenen Personen und Institutionen nicht möglich gewesen. Zunächst möchte ich mich bei meinem verehrten Lehrer und Erstbetreuer Friedemann Kreuder für seine optimale Betreuung bedanken. Sein großes Engagement, seine wertvolle Kritik und sein Widerspruchsgeist führten dazu, dass ich meine Arbeit beständig weiter entwickeln und gut abschließen konnte. Ebenfalls bedanke ich mich bei meinem verehrten Lehrer und Zweitbetreuer Bernhard Spies, der meine Neugierde für das Forschungsfeld Literatur der DDR geweckt und meine Arbeit mit klugen Ratschlägen begleitet hat. Mein besonderer Dank gilt Lothar Trolle, mit dem ich bereits in der Frühphase meiner Promotion sprechen durfte und der mir Einblicke in seinen Schaffensprozess und sein Leben als freischaffender Künstler in der DDR gewährte. Ein großer Dank geht an Martin Paul Langner, den ich als Gastgeber auf der Tagung Kreationen des deutschen Dramas an der Pädagogischen Universität Krakow kennenlernte und der mich durch die Einbindung in verschiedene Projekte gefördert und in entscheidenden Phasen meiner Arbeit ermutigt hat. Auch möchte ich mich bei den Mitgliedern des Forums Junge Kulturwissenschaften der JGU Mainz bedanken, insbesondere bei Monika Frohnapfel, Caroline Kolisang und Benjamin Conrad, die mir aus ihrem jeweiligen disziplinären Hintergrund heraus wichtige Anregungen mitgegeben haben. Ausdrücklicher Dank gilt der Stipendienstiftung Rheinland-Pfalz für die zweijährige finanzielle Förderung und der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Zudem danke ich den Archiven und Gedächtnisinstitutionen für die gute Zusammenarbeit, wobei mein besonderer Dank Karl Sand gilt, dem Archivar des Deutschen Theaters, der mir umfangreiches Dokumentationsmaterial zu Alfred Matusche zusammenstellte.

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Viele Menschen aus meinem persönlichen Umfeld haben ihre Kraft und Zeit für das Gelingen des Projektes zur Verfügung gestellt. Besonderer Dank geht an Iris, die von dem Exposé bis zur letzten Fassung der Dissertationsschrift wichtige Schritte mit verfolgt hat. Mein großer Dank geht an Simone, Sophie, Kathie, Patrick und Tobias, die mir während der Schreibphase verlässlich beiseite standen. Von Herzen danke ich meiner Familie für die rückhaltlose Unterstützung: meinen Großeltern Leni und Friedrich, meiner Großmutter Elisabeth, meinen Schwestern Jana und Katrina, meinen Eltern Birgit und Uwe, meinen Schwiegereltern Helga und Gerhard und meinem Mann Tobias. Meinem Großvater Wilhelm Diestelhorst gewidmet

Die Weltanschauungen sind nicht Erzeugnisse des Denkens. Sie entstehen nicht aus dem bloßen Willen des Erkennens. Die Auffassung der Wirklichkeit ist ein wichtiges Moment in ihrer Gestaltung, aber doch nur eines. Aus dem Lebensverhalten, der Lebenserfahrung, der Struktur unserer psychischen Totalität gehen sie hervor. Die Erhebung des Lebens zum Bewußtsein in Wirklichkeitserkenntnis, Lebenswürdigung und Willensleistung ist die langsame und schwere Arbeit, welche die Menschheit in der Entwicklung der Lebensanschauungen geleistet hat.

Wilhelm Dilthey: Weltanschauungslehre. Abhandlung zur Philosophie der Philosophie, 86.

1. Einleitung G edanken zur E pochendarstellung Aus heutiger Perspektive, 25 Jahre nach dem Fall der Mauer, wird der Staat DDR sowie die darin hervorgebrachte Kunst, zu einem immer weiter zurückliegenden historischen Moment. Die dort verhandelten Themen, die politischen Überzeugungen und das zugrundeliegende Geschichtsmodell erhalten den Anstrich des Fremden. Es bleibt ein Nachhall von großen Namen wie Heiner Müller, Peter Hacks, Christa Wolf oder Anna Seghers, die in die Lehrbücher und das kulturelle Gedächtnis eingegangen sind. Um die Schlagworte wie sozialistische Dramatik, dialektisches Theater, oppositionelle oder affirmative Kunst bilden sich Zuweisungen, Bestandsaufnahmen und Ansichten über dieses kulturelle System heraus. Es entsteht ein Meinungsbild zur DDR, das sich aus einem Netz von Verknüpfungen und Assoziationen speist, die dazu tendieren, ein abgeschlossenes, wenn nicht homogenes, so doch geordnetes Bild einer Zeitepoche zu liefern. Selbstverständlich sind solche Epochen-Zuschreibungen immer nur Konstruktionen und Vereinfachungen eines dynamischen Diskurses, eines zerfaserten, geschichtlichen Verlaufs. Sie bilden die großen Linien – meist die Norm – ab und verdecken gleichzeitig die Einzelheiten. Ist der Kanon einer Kultur erst festgelegt, hat sich das Bild verfestigt, so ist eine Änderung schwerlich zu bewegen und sogenannte Seitenarme geraten leicht aus dem Blickfeld. Jedes kulturelle System lässt sich nach Lotman über die räumliche Struktur von nah und fern bzw. über das Verhältnis von Zentrum und Peripherie beschreiben.Je weiter man sich vom Zentrum entfernt, desto unkonventioneller und progressiver erscheint die Kultur; gerade der Grenzbereich des kulturellen Systems ist für neue Impulse offen, welche nach und nach vom kulturellen System aufgegriffen werden und sich so dem Zentrum annähern. Bei radikalen gesellschaftlichen Umwälzungen – Lotman nennt als Beispiel die Oktoberrevolution

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1917 – verkehrt sich das Verhältnis von Peripherie und Zentrum radikal und Bewertungssysteme ändern sich.1 Diese Umkehrung lässt sich in dem heutigen Verhältnis zur DDR-Kultur nachempfinden. Was an diesem kulturellen System aus heutiger Sicht so fremd – und vielleicht gerade deswegen so faszinierend erscheint – ist der Bezugsraum der Utopie vs. der Ideologie. Innerhalb des Systems der DDR konnte jedes künstlerische Produkt in Bezug zur vorgegebenen Weltanschauung gesetzt werden.Das Streben nach Einheitlichkeit und verbindlichem politischen Standpunkt erscheint aus heutigem Verständnis besonders befremdlich. Vor diesem Hintergrund muss auch die Kulturpolitik der SED und deren fast absurde Ausgrenzung der modernen Formen in den Auf baujahren gesehen werden. Das Konzept des sozialistischen Realismus war in deren Augen als Fortschritt und nicht als ein bloßes Zurückgreifen auf Formen des 19. Jahrhunderts gedacht. So stufte der Chefdramaturg des Deutschen Theaters Anfang der 1950er Jahre moderne Theaterformen der Weimarer Republik als Übergangserscheinungen ein und resümiert, dass an eine Weiterführung des Theaters von 1933 nicht zu denken sei.2 Subjektive Erfahrungswelten wie sie im Theater des Expressionismus hervorgebracht wurden, galten als Anzeichen einer degenerierten, egozentrischen Gesellschaft, die den Hitler-Faschismus erst möglich gemacht hatte. Für die neue Zeit, so das allgemeine Selbstverständnis, war der sozialistische Realismus die einzig mögliche Kunstform im politischen Klassenkampf. Diesen Kulturwandel und die dadurch veränderten Wahrnehmungen sucht die vorliegende Studie mitzudenken und die Dramatik von Alfred Matusche und Lothar Trolle in der Dialektik zwischen fremd und eigen zu zeigen. Beide Dramatiker waren Außenseiter des kulturellen Systems der DDR; beide gingen nicht in dessen Selbstbeschreibung auf, da sie Traditionslinien der Moderne fortführten, die im offiziellen System unterrepräsentiert waren und literarische Seitenarme beschreiben. Von der Grenze bzw. Peripherie aus sind ihre Modelle konzipiert, die andere Wahrnehmungsweisen auf das Zentrum geben. Dabei ist die Warte des 1909 geborenen Dramatikers Matusche von der Kultur der Weimarer Republik geprägt und lässt sich als Fortführung des »geschmähten« Theaters vor 1933 verstehen. In seinem politisch naiven und bildhaften Theater führte er Traditionslinien des expressionistischen wie naturalistischen Theaters fort. Ganz anders der zeitgenössische Autor Lothar Trolle, geboren 1944, der in seinem Theater avantgardistische, experimentelle Theaterformen in Abgrenzung zur offiziellen Kultur der DDR weiterentwickelte. Nach der Wende 1989 profiliert sich Trolle in der Bundesrepublik als

1 | Siehe Lotman 2010, 178f. 2 | Ihring 1998, 17.

1. Einleitung

Hörspiel- und Theaterautor, dessen DDR-Biografie in literarischen Strategien sowie der Themenwahl zum Ausdruck kommt. Unter Berücksichtigung dieser Grenzlagen werden die ästhetischen Modelle in der vorliegenden Studie im Sinne einer Fortschreibung untersucht und anhand ausgewählter Beispiele in der jeweiligen künstlerischen Tradition verortet. Mit dieser Herangehensweise sollen auch bestehende Einordnungen überprüft und auf die Anschlussfähigkeit der ästhetischen Modelle an literarische Strömungen aufmerksam gemacht werden. Der Begriff der Grenze wird in diesem Einordnungs- und Beschreibungsversuch zur zentralen heuristischen Kategorie, wobei die Autoren als Grenzgänger des DDR-Theaters vorgestellt werden.

B egriff des G renzgängers Ganz allgemein verweist der Begriff des Grenzgängers auf eine Zwischenstellung, auf einen Zustand der Unentschiedenheit und des Perspektivwechsels. In Lotmans Kulturtheorie ist der Grenzgänger durch seine Beweglichkeit definiert und bezeichnet diejenige Figur, die sich durch eine offene Denkweise und einen potentiellen Wahrnehmungswechsel auszeichnet. In Lotmans Sichtweise bezeichnet diese Figur eine fortschrittliche bis revolutionäre Position, da sie es vermag das vorgegebene Weltanschauungssystem zu wechseln und ihren angestammten Platz zu verlassen.3 Auch in Georg Simmels Raumsoziologie wird der Grenzgänger mit Fortschritt gleichgesetzt und als Ausdruck der Moderne interpretiert; wie Simmel in Die Großstädte und das Geistesleben (1903) ausführt, versinnbildlicht er den flexiblen modernen Menschen der Großstadt – ein Mensch, der sich nicht eindeutig einem bestimmten sozialen Milieu zuordnen lässt und seine Lebensgewohnheiten den äußeren Umständen flexibel anpasst.4 Im Raum der Großstadt schärfe der Mensch seine Denkfähigkeit und reagiere so auf die wachsende Komplexität seiner sozialen Umgebung.5 Im Kontext DDR stellen sich mit dem Begriff des Grenzgängers weniger positive Assoziationen ein, lässt der Begriff doch eher an die reale Grenze der Mauer, das geteilte Deutschland und die immaterielle Grenze des ideologischen Systemsdenken. Die politisch-reale Grenze ist dabei eng mit ästhetischen Ausgrenzungsmechanismen und dem Eingrenzen eines Kulturbegriffs verbunden. Während im wirtschaftsliberalen System des Westens die Kultur die Tendenz zur Grenzüberschreitung, Ausweitung und Pluralisierung verfolgte, zielte die Kulturpolitik im planwirtschaftlichen Osten zunächst auf 3 | Siehe Lotman 2012, 543. 4 | Siehe Simmel 1995, 119. 5 | Siehe Simmel 1995, 128.

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eine Begrenzung und Festlegung des Kulturbegriffs. Mit der bereits angesprochenen Verfemung der modernen Formenvielfalt wurden Wahrnehmungsweisen starkverkürzt und künstlerische Formen zu Gunsten der Vermittlung politischer Inhalte standardisiert. Dieses problematische Verhältnis zwischen künstlerischer Form und politischer Botschaft bringt der Grenzgänger Uwe Johnson auf den Punkt, wenn er schreibt: Dieser uralte Widerspruch zwischen dem Fortschritt der künstlerischen Form und dem Zurückbleiben der Aufnahmefähigkeit des Publikums, diesen Widerspruch hat die ostdeutsche Literatur im allgemeinen und persönlichen Fall ganz radikal zerschlagen, in dem dort eine gewisse Grenze der Verständlichkeit vorgeschrieben ist, man hat vereinbart: Das ist der Begriff von Volkstümlichkeit. 6

Durch die politische Inanspruchnahme der Kunst, so lässt sich generell behaupten, wurde deren Ausdrucks- und Gestaltungsspielraum enorm eingeschränkt. Besonders in den Auf baujahren wurde Kunst als Kampfmittel genutzt, das massenwirksam Inhalte transportieren und für das sozialistische System Partei ergreifen sollte. Das Schlagwort des sozialistischen Realismus war bindend – in diesem sollte, nach Shdanow, »[…] die wahrheitsgetreue und historisch konkrete künstlerische Darstellung mit der Erziehung der Menschen im Geist des Sozialismus« 7 verbunden werden. Das Gebot der Verständlichkeit, der Parteilichkeit und der Volkstümlichkeit äußerte sich dabei besonders in der darstellenden Kunst des Theaters. Statt an Formen des sozialistischen Theaters der 1920er Jahre (Experimentalbühne Piscators, Lehrtheater Brechts) anzuschließen, besann man sich auf bürgerlich-klassische Theatertraditionen, deren konventionelle Bühnenästhetik lediglich mit sozialistischen Inhalten »gefüllt« werden sollte. In den 1950er und 1960er Jahren dominierte das Ideal eines sozialistischen Nationaltheaters, das mit idealisiert-pathetischen Darstellungsformen einherging und Theaterkunst auf die Wiedergabe eines normativen Realismus reduzierte. Mitte der 1960er Jahre pluralisierte sich der Begriff des sozialistischen Theaters, wobei Spielformen artifizieller, phantasievoller und moderner wurden. Stuber geht in ihrer Studie detailliert auf die Anfänge und das Konzept des DDR-Theaters ein und zeigt auf, dass die kulturpolitische Linie noch während des Exils von später führenden Parteikadern wie Fritz Erpenbeck, Maxim Vallentin oder Johannes Becher festgelegt wurde. Man habe sich bereits 1944 auf das Konzept des sozialistischen Nationaltheaters als Weiterführung des kulturellen Erbes der Weimarer Klassik geeinigt.8 Mit dem Amtsantritt Erich Honeckers Anfang der 1970er Jahre liberalisierte 6 | Uwe Johnson zitiert aus Berbig 2000, 26. 7 | Stuber 1998, 72. 8 | Siehe Stuber 1998, 12f.

1. Einleitung

sich die Ausrichtung der Kulturpolitik, man nahm Abstand von der Idealästhetik und dem Pathos der Auf baujahre und eine Reihe von Reglementierungen wurden aufgelockert, sodass mehr Freiräume für Künstler entstanden.9 Trotz dieser Neuausrichtung und sukzessiven Aufnahme der Moderne, blieb der politische Auftrag weiterhin bestehen, Partei für das sozialistische System einzunehmen. Vor diesem Hintergrund ist der Begriff des Grenzgängers im Osten gänzlich anders konnotiert als im Westen und verweist auf eine grundlegende Problematik zwischen Parteilichkeit und Verständlichkeit auf der einen und subjektiver Wahrnehmungswelt auf der anderen Seite. Abseits dieser kulturpolitischen Zusammenhänge verweist der Begriff des Grenzgängers ganz allgemein auf das Phänomen der Grenzüberschreitung und die existentielle Erfahrung der Grenzsituation. In Anlehnung an Karl Jaspers sind damit Grunderfahrungen des menschlichen Daseins gemeint – wie Tod, Leid, Schuld und Gewalt. In der Psychologie der Weltanschauungen (1919) geht Jaspers auf die existentielle Bedeutung der Grenzsituationen für die Entwicklungsfähigkeit des Menschen ein. Das ganze Leben, so seine Prämisse, ist durch Antinomien strukturiert, die die Menschen in ständige Entscheidungs- und Grenzsituationen versetzen. Wenn der Mensch eine solche Situation bewusst durchlebt hat, geht er meist mit »Kraft« aus ihr heraus.10 Es handelt sich hierbei um Erfahrungen, die Bewusstseinsprozesse in Gang setzen und bisherige Gewissheiten aufheben. Sie bringen den Menschen an seine Grenzen, gehen mit Gefühlen der Unsicherheit, der Angst und der Trauer einher. Gleichzeitig fordern Grenzsituationen Entscheidungen ein und verändern den Blick auf die Welt. Der hier verwendete Begriff des Grenzgängers zielt also auf die Erfahrung, die sich bei der Überschreitung einstellt und fragt nach den Wahrnehmungsweisen, die dadurch evoziert werden. Diese Überschreitungen liegen auf einer ganz anderen Ebene als die politischer Differenzen, welche sich in der Kritik an der Partei bzw. am politischen Kurs äußert. Diese Grenzgänge sind mit Kategorisierungen wie dialektisches Theater oder affirmative Dramatik nicht zu fassen. Der hier verwendete Begriff des Grenzgängers bezieht sich ausdrücklich auf ästhetische Grenzüberschreitungen, die in der Dramatik verhandelt werden und mit bestimmten Erfahrungen während der Lektüre bzw. der Inszenierung einhergehen. Sie sind einerseits auf der internen Kommunikationsebene in die gewählten Gegenstände und Struktur der Texte, in deren Sprache eingebettet und damit auch grenzüberschreitend in dem Sinne, dass sie nicht auf ein bestimmtes politisches System gemünzt sind. Um ein Beispiel außerhalb des Kontextes DDR zu geben: Als ästhetischer Grenzgänger par excellence lässt sich Van Gogh nennen; die Motive, die er für seine Bilder nutzte – wie Bett, Blume, Wiese oder Himmel – waren schwerlich 9 | Siehe Stuber 1998, 207f. 10 | Siehe Jaspers 1919, 213.

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revolutionär oder aufwühlend. Nur in der Art und Weise wie er diese Motive wiedergab, schreckte er den Betrachter auf und brachte Unruhe in die gekannte Welt, in die Normalität dieser Motive. Gefühle wie Irritation, Argwohn und Überforderung scheinen spezifische Momente der Grenzerfahrung zu sein. Für diese Momente des ästhetischen Grenzgangs interessiert sich die vorliegende Studie. Mit diesem Untersuchungsschwerpunkt der Liminalität bzw. der Grenzerfahrung stellen sich Anknüpfungspunkte zu der Ritualtheorie des Ethnologen Arnold van Gennep und Victor Tuner ein. Obgleich das Ritual an sich zunächst eine Wiederholung beschreibt, in der bestimmte Konventionen, Bräuche, Sitten bestätigt werden, umschließt es gleichzeitig Erfahrungen der Destabilisierung bzw. der Entgrenzung. Diese ambivalente Struktur wird in Genneps Ritualtheorie Rites de passage (1909) deutlich, in der das Ritualin drei Phasen unterteilt ist: Der Trennungsphase, in der eine Loslösung aus gewohnten gesellschaftlichen Zusammenhängen stattfindet, z.B. durch Anlegen einer Maske/Kostüm; der Schwellen- bzw. Transformationsphase, in welcher im performativen Akt die gesellschaftliche Position neu ausgehandelt wird (z.B. Überschreiten einer Schwelle) und schließlich der Inkorporationsphase, in welcher die normative gesellschaftliche Strukturdurch eine gemeinschaftsbildende Aktion wieder hergestellt wird.11 Der Ethnologe Victor Turner führte van Genneps Ritualtheorie fort und stellte die Relevanz der Schwellenphase für soziale und kulturelle Praktiken heraus. Turners Ritualtheorie ist für die vorliegende Studie bedeutsam, da sie die Schwellenphase in den Mittelpunkt ästhetischer Erfahrung rückt und die Wirkungsweisen des Liminalen als einen wichtigen Motor kultureller Prozesse liest. Nicht nur in gesellschaftlichen Bräuchen und Sitten, sondern auch in kulturellen Praktiken wie die des Theater-Spielens oder des Lesens bilden sich liminale Zustände heraus, die gesellschaftliche Dynamiken evozieren. Turner definiert die Schwellenphase als Zustand des »Betwixt and Between«12, in dem sich feste Grenzen vorübergehend auflösen und in einer »Anti-Struktur« normative gesellschaftliche Rahmen wegbrechen. Diesen Zustand bewertet Turner durchaus positiv: Im Zustand des Liminalen bilde sich eine Gemeinschaft von Gleichen heraus, eine »Communitas«, in der sich der Mensch frei entfalten und sich neu erfahren könne, wodurch einenormes Potential an kreativerEnergiefreisetzt werde, das auch für therapeutische Zwecke einsetzbar sei.13 In seinen Überlegungen bezieht sich Turner vor allem auf die Performance-Kultur der 1960er Jahre und damit auf experimentelle Theaterformen von Peter Brook, Richard Schechner oder Jerzy Grotowsky. Die Wirkungsweisen dieser Grenzerfahrung vergleicht er mit dem 11 | Siehe Warstat 2005, 186. 12 | Siehe Warstat 2005, 187. 13 | Siehe Turner 1995, 15.

1. Einleitung

Kunsterlebnis des antiken griechischen Theaters, in der sich die Gesellschaft in der Katharsis von psychischen Belastungen und aufgestauten Emotionen befreite.14 In der Theoriebildung der Theaterwissenschaft ist Turners Liminalitäts-Konzept aufgegriffen worden, um Vorgänge ästhetischer Erfahrung und Formen der Transgression während der Aufführung zu beschreiben. In Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung (2003) führt Erika Fischer-Lichte aus, dass der Erfahrungs- und Erlebnisraum Theater mit dem Zustand der Schwellenphase bzw. liminalen Erleben verglichen werden kann. Abweichend von der gesellschaftlichen Bedeutung, die dem Ritual zukomme, kann die Grenzerfahrung im Theater allerdings als ein individueller und reversibler Zustand beschrieben werden.15 Für die Untersuchung der literarischen Grenzgänge in der Dramatik von Matusche und Trolle sind rezeptionsästhetische Ansätze der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser und Robert Jauß richtungsweisend, da diese die Reaktion des Lesers sowie die Sinn-Produktion während der Lektüre in den Blick nehmen. Iser stellt in Die Appellstruktur literarischer Texte (1971) das (sinnliche) Ereignis der Lektüre in den Vordergrund und rekonstruiert den Text als einen Erfahrungsraum, der einen Dialog zwischen Text und Leser impliziert. Generell zeichne sich Literatur dadurch aus, einen schwebenden Zustand zwischen empirischer Realität und Fiktion herzustellen, da die lebensweltlichen Erfahrungen des Lesers nicht deckungsgleich mit der dargestellten, fiktionalisierten Welt seien.16 In dieser »Unbestimmtheit« des literarischen Textes sieht Iser das eigentlich Aufregende und Spannende der Literatur verwirklicht. Die »Unbestimmtheit« kann als der produktive Abstand zwischen Leser und Text definiert werden, die sich z.B. in semantischen Leerstellen im Text ausdrücken. Diese rufen eine Reaktion seitens des Lesers hervor und lassen ihn aktiv an der Herstellung von Sinn antizipieren, sodass sich die eigentliche Poetizität des Textes entfalten kann.17 Generell nehme in der Literatur der Moderne der Grad an Unbestimmtheit zu, wie an Texten wie James Joyces Ulysses (1922) deutlich wird, in der durch das Verfahren der Montage viele semantische Leerstellen erzeugt werden.18 Die Wirkungsweise von Unbestimmtheitsstellen im Text lässt sich gut mit der Wirkung von liminalen Zuständen bzw. Turners Konzept der Liminalität vergleichen. Durch die Unbestimmtheit wird der Leser im Unsicheren gelassen; diese fordert seine Vorstellungskraft heraus, um Kohärenz herzustellen. In Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie (1991) führt Iser diesen Ansatz fort und stellt die ästhetische Erfahrung 14 | Siehe Turner 1995, 21. 15 | Siehe Warstat 2005, 187. 16 | Siehe Iser 1971, 6. 17 | Siehe Iser 1971, 13. 18 | Siehe Iser 1971, 29.

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des Lesers als lebensweltliche Qualität in den Mittelpunkt seiner Forschung. Der spielerische Reiz einer Lektüre erhöht die Denkfähigkeit, bereichert das Vorstellungsvermögen und steht in Relation zu menschlichen Grundbedürfnissen.19 Der Ansatz von Robert Jauß ergänzt den von Iser insofern, dass er die historische Bedingtheit von Rezeptions- bzw. Produktionsprozessen herausstellt. In seiner Rede Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft (1967) entwickelt Jauß den Begriff des »Erwartungshorizontes«, der Auskunft über das Verhältnis von Rezeption und Produktion gibt und Bewertungsverfahren des Textes in den Fokus rückt. Dabei stellt Jauß den möglichen Horizontwandel heraus, der daraus resultiert, dass ein zeitgenössischer Leser den Text anders wahrnimmt und beurteilt als ein späterer Leser.20 Die Grenzerfahrung zielt bei Jauß nicht auf Entzug von Sinn bzw. Bedeutung, sondern verweist auf Einordnungspraktiken von Texten: Entspricht ein Text nicht dem Erwartungshorizont, stellen sich seitens des Lesers Irritation und Ablehnung ein. Letztlich zeigen die rezeptionsästhetischen Ansätze von Iser und Jauß, dass die Frage nach der literarischen Grenzerfahrung auch an historische und soziale Horizonte des Lesers gebunden ist. Mit dem Konzept des impliziten Lesers löst Iser das überzeitliche Konzept des idealen Lesers ab und weist auf die Subjektivität von Bedeutungskonstitution und sinnstiftenden Prozessen hin. Auch betont er mit seinem anthropologischen Konzept die gesellschaftlichen Effekte des Lesens und zeigt, dass der Umgang mit moderner Literatur in Relation zur Einübung kultureller Techniken und Selbstverständnissen steht. Wie am Beispiel von van Gogh gezeigt, kann die Ablehnung eines Werkes als Zeichen von Überforderung verstanden werden, welche auf die historischen Rahmenbedingungen des Rezipienten verweist. Die Grenzerfahrung äußert sich gerade in dem Moment, wenn etwas als anders oder fremd empfunden wird. Die Wandelbarkeit des Erwartungshorizontes soll in den Lektüren der Texte von Matusche und Trolle mitgedacht und gezeigt werden, dass die dort verhandelte Grenzerfahrung relativ und an historische Wahrnehmungsgewohnheiten gebunden ist. Grundsätzlich verweist die Grenzerfahrung auf den Moment, in dem ein bestimmtes Konzept von Welt in Frage gestellt wird.

G renzgänger M atusche – der religiöse A rbeiter Mit Matusche begegnen wir einem Autor, der 1909 – zu Beginn des 20. Jahrhunderts – noch in die Welt des Wilhelminischen Kaiserreiches und damit in den sozialen Raum einer klar gegliederten Klassengesellschaft hineingebo19 | Siehe Iser 1991, 15. 20 | Siehe Müller-Oberhäuser 2004, 309.

1. Einleitung

ren wurde. Seine Herkunft, und damit der Lebensraum des Arbeiters, dient in allen seinen Stücken als Vorlage für den dramatischen Raum. Seine Stücke bilden eine Topografie von Nebenschauplätzen der Geschichte heraus: Sie spielen in den Hinterhöfen der Berliner Arbeiterviertel, verweisen auf die dichte Industrielandschaft bei Leipzig, zeigen Baustellen-Baracken, die den Auf bau der neuen Städte der DDR bezeugen oder präsentieren LPG-Kneipen als Treffpunkt der nun in Kollektiven organisierten Arbeiterschaft. Vom thematischen Horizont her gesehen, steht Matusches Dramenwerk in der Tradition sozialkritischer Dramatik und lässt sich durchaus mit avancierten Dramatikern wie Gerhardt Hauptmann, Maxim Gorki, Sean O’Casey oder Ernst Barlach vergleichen. Doch im Gegensatz zu Hauptmanns Die Weber oder Gorkis Nachtasyl zeigen seine Dramen eben nicht mehr das Arbeitermilieu als unterdrückte Klasse, die gegen existentielle Nöte ankämpft und auf eine Revolution bzw. eine radikale Veränderung der Verhältnisse hofft. Matusche geht von der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aus, in der die DDR bereits gegründet und damit die angestrebte sozialistische Revolution bereits erlangt wurde. Seine Dramen sind ausgehend von der geschichtlichen Situation des real existierenden Sozialismus sowie von der DDR-Ideologie des Antifaschismus heraus konzipiert. Die Zeitstücke dokumentieren auch die Spannung zwischen den gesetzten Hoffnungen und dem tatsächlichen Leben in der DDR. In dieser Diskrepanz zeigt sich eine Art Identitätssuche der sich neu ausrichtenden Gesellschaft und gibt ein differenzierteres Bild von deren Befindlichkeiten. Sie beinhalten die Grenzerfahrung des gesellschaftlichen Umbruchs, der den Wegfall vertrauter Einteilungssysteme zwischen besitzender und besitzloser Klasse markiert, so dass ein entscheidendes Abgrenzungs-Merkmal entfällt. Die sozialistische Gesellschaft ist noch im Werden, muss sich selbst erfinden und eigene Identität schaffen. In allen Stücken problematisiert Matusche diese Orientierungslosigkeit und versucht durch Erinnerungen an den Klassenkampfein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Diese Stabilisierung der Identität trägt auch schablonenhafte, durch das sozialistische Geschichtsverständnis und deren Weltanschauung geprägte Züge. Daneben werden allgemein-menschliche Anliegen und existentielle Grundsituationen reflektiert und zivilisationsbedingte Ängste, Traumata und Sorgen in Szene gesetzt. Dabei misst Matusche den mentalen Zustand des Landes und bestimmt die Probleme, die dem eigentlichen politischen Ziel im Wege stehen. Es waren weniger inhaltliche Belange, denn die ästhetische Erfahrung und ungewohnte Wahrnehmungsweisen, die die Zuschauer an Matusches Dramatik irritierten. Aus den Theaterkritiken der 1950er Jahre geht Argwohn und Irritation gegenüber der Dramenästhetik hervor, die als »undramatisch«,

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»naturalistisch« und »undialektisch« kritisiert wurde.21 Vergleicht man seine Dramenästhetik mit der von erfolgreichen Dramatikern wie Hedda Zinner, Rudi Strahl oder Erwin Strittmatter, wirkt die Komposition und Sprache seiner Stücke beinahe altmodisch und aus der Zeit gefallen. Die Figuren sprechen wenig, die Sprache ist durch einen Andeutungsstil geformt, in Metaphern verknappen sich die Inhalte auf ein Wesentliches. Diese Darstellungsform wurde von den Kritikern als sperrig empfunden. Es sind untypische Zeitstücke: sie dienen weder der schnellen Unterhaltung, einem sich lustig machen über Alltagsprobleme des realen Sozialismus (vergleichbar mit Heinar Kipphardt, Rudi Strahl), auch sind sie nicht belehrend angelegt, sollen nicht wie im dialektischen Theater Argumente hinsichtlich bestimmter gesellschaftlicher Problemlagen austauschen (wie bei Helmut Baierl, Peter Hacks, Heiner Müller). Für den Regisseur Rolf Winkelgrund haben seine Stücke etwas Apolitisches an sich, wodurch sie im kulturellen System des DDR-Theaters wie eine Blaupause wirkten: Für mich war so etwas wie Matusches ›Nacht der Linden‹ ein bisschen auch Balsam für die Seele, dass es sowas gab. Ich meine, es ist eine Übereinstimmung und Zustimmung auch im Ganzen, romantischer Art, emphatischer Art; auch in meiner persönlichen Neigung die Widersprüche nicht zu leugnen, aber ein bisschen wegzudrücken. 22

Es ist die verknappte Sprache, die lyrischen Bilder, die Verlangsamung und ungewohnte Seherfahrung, die die Vorbehalte sicher beeinflusste und die dazu führten, dass seine Dramatik (zumindest in den 1950er und 1960er Jahren) wenig im Spielplan berücksichtigt wurde. Hinzu kam ein in den Kritiken meist unbenanntes Merkmal, welches die christliche Symbolik sowie den biblischen Bezugsraum in Matusches Dramatik betrifft. Es gibt kaum ein Stück, in dem keine biblische Figur auftritt oder Raumbezüge zum Sakralen/Überhöhten eröffnet werden. Christliche Ikonografie wie die des Sämanns oder direkte Bezugnahmen auf biblische Legenden wie Hiob oder das Buch Daniel prägen die bildliche Sprache Matusches und den Grundton der Dramatik. In diesem Bezugssystem äußert sich eine geradezu religiöse Herangehensweise an das Gesellschaftsmodell Kommunismus. Nicht aus einem rationalen Verständnis oder der Linie der Partei heraus, sondern aus einem emotionalen Impetus nähert sich der Autor dieser Utopie einer klassenlosen Gesellschaft an und versteht diese als Ausdruck einer von christlicher Nächstenliebe und 21 | In meiner Magisterarbeit zu Matusches Zeitstücken konnte ich anhand der Rezensionen zur Inszenierung von Die Dorfstraße 1955 am DT und am Beispiel der Inszenierung Kap der Unruhe an der Volksbühne Berlin diese Zuschreibungen herausarbeiten. Siehe Diestelhorst 2011. 22 | Winkelgrund 2009, 245.

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Gleichheit geleiteten Menschengemeinschaft. Diese Ästhetik eines religiösen Sozialismus ist nicht ohne die Einflüsse der künstlerisch-geistigen Strömungen der Weimarer Republik zu denken und wird in der Studie als besonderes Merkmal seiner Dramatik untersucht.23

G renzgänger Trolle – der postsozialistische N arr Auch der 1944 geborene Lothar Trolles stellt in seinen Stücken die soziale Frage und nimmt vorwiegend die Umgebung des einfachen Menschen in den Blick. Doch sind es nicht mehr wie bei Matusche öffentliche Treffpunkte wie die LPG-Kneipe, in denen sich eine Gemeinschaft abbildet, sondern typische Orte der Vereinzelung – wie die Single-Wohnung oder der isolierte Arbeitsplatz. Insofern lässt sich nicht mehr von einem Milieu sprechen, das in seinem Habitus und Sprache dargestellt wird; es wird nicht mehr die Welt des Zwischen abgebildet, sondern ein postsozialistischer Raum, in dem der Monolog bzw. das monologische Sprechen zur zentralen Kategorie geworden ist. Mit diesem Raummodus geht eine generelle Entsinnlichung der Welt einher, ein Herausreißen aus Zusammenhängen und kongruenten Wirklichkeiten. Mit dieser Vorgehensweise wird eine Dialektik zwischen der Oberfläche der Gesellschaft, deren räumlichen Strukturen, und den Erfahrungen des Subjekts aufgestellt. Die Verhältnisse der modernen Massengesellschaft spiegeln sich in chorischen Formen wieder, wobei die Vielstimmigkeit des Chores der Einstimmigkeit des Individuums entgegengesetzt wird. Die idealistische Vorstellung des Individuums, d.h. ein Unteilbares, wird dabei durch die des Dividuums, also ein Teilbares, ersetzt und im Sinne Mauthners gezeigt, dass »das Ichgefühl«24 bzw. die Identität eine Illusion darstellt, »weil der Mensch mit hundert Fäden an die Gesellschaft gebunden ist und sich gar nicht als ein freies Individuum empfinden kann«25. Mit dem Verfahren der Montage und dem Einsatz des Chores dekonstruiert Trolle einheitliche Strukturen zu einem disparaten Bündel an Stimmen, Ansichten, Gedanken. Der Grenzgänger Trolle konfrontiert die vorgegebene Welt mit einer absurden Weltsicht. Seine literarischen Strategien konditionierte er im einsprachigen System der DDR – dieses bot viele Reibungspunkte. Gerade die verbotene, »westlich-dekadente« Literatur des Absurden, der Phantastik oder der Groteske, die auf irrationale Seiten der Zivilisation und damit, im Sinne der Dialektik der Aufklärung, auf die Schattenseiten der Vernunft verweisen, finden in Trolles Werk Anklang. Das Unerklärliche, die Sinnlosigkeit der menschlichen 23 | Siehe Serke 1998, 176. 24 | Mauthner 1980, 552. 25 | Mauthner 1980, 201.

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Existenz, die daraus resultierende unfreiwillige Komik der Sinnkonstruktion bilden die schwarzhumorige Basis seiner Stücke. Diese zeugen von einem spielerischen Zugang zur Welt; der Autor versetzt seine Figuren in eine Art Träumerei, in der geheime Wünsche, Ängste und Phantasien freigesetzt werden. Existentiellen Erfahrungen wie dem Gefühl der Enge, der Entfremdung und der Verlassenheit stellt er die Wirkungsmächtigkeit des Subjekts und die Freiheit des Imaginierens, Denkens und Fabulierens gegenüber. Ähnlich der Tradition des sozialen Dramas setzt Trolle Ohnmacht bzw. Grenzen des Ausdrucks der empirisch erfahrbaren Wirklichkeit voraus. Die Sprachlosigkeit seiner Figuren kompensiert er durch die Sprachmächtigkeit der Literatur und betont: »Ich habe das Gefühl, das die klassische, an Goethe geschulte Sprache, tiefere Wünsche und Sehnsüchte der Menschen genauer erfasst. In dem Verkäuferinnen-Stück [Die 81 Min. des Fräulein A.] sind die ganzen Zwischenspiele teilweise aus einer anderen Welt.«26 Trolles Zugang zur Welt ist nicht zuletzt durch seine Generationszugehörigkeit zu erklären. Als Hineingeborener hat er einen desillusionierten, skeptischen Zugang und ein Gefühl für die Widersprüche für die Selbstbeschreibung des offiziellen Systems der DDR entwickelt. In den 1960er Jahren ging er zum Philosophiestudium nach Ostberlin, wo er als Bühnenarbeiter am Deutschen Theater (DT) tätig war und erste Kontakte zur dortigen Theaterszene knüpfte.27 In dieser Zeit beginnt er Theatertexte zu schreiben, die aufgrund ihres Nihilismus und der absurden Weltsicht in der DDR so gut wie unspielbar sind. Allein auf Spektakeln, die ab den ausgehenden 1960er Jahren an Volksbühnen veranstaltet wurden, werden einzelne Szenen gezeigt. Trotz dieses Ausschlusses aus dem offiziellen kulturellen System lässt sich Trolle im kulturellen Feld der DDR verorten. Er gehörte der Subkultur bzw. der Künstlerszene des Prenzlauer Berges an, bewegt sich im Umkreis von Heiner Müller und ist mit Künstlern wie Einar Schleef, Thomas Brasch oder Barbara Honigmann befreundet.28 Von 1983 bis 1987 gab er zusammen mit Uwe Kolbe und Bernd Wagner die inoffizielle Literaturzeitung Mikado heraus.29 Sich in der Peripherie des kulturellen Systems der DDR bewegend, wird er auch in der westdeutschen Theaterszene rezipiert und insbesondere von freien Theatergruppen wie dem Freien Theater München gespielt. Mit der Wende 1989 erlangte Trolle erstmals eine größere Öffentlichkeit, wurde von Frank Castorf am Deutschen Theater in Berlin inszeniert und arbeitete am Frankfurter Schauspiel unter Peter Eschberg und am Berliner Ensemble unter Heiner Müller und Stephan Suschke als Hausautor. Die in dieser Zeit entstandenen Texte stehen im Fokus 26 | Trolle zitiert in Suschke 2009, 48. 27 | Trolle 2007, 421f. 28 | Eke 2002, 337. 29 | Siehe Kolbe/Trolle/Wagner 1988, 7-10.

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der vorliegenden Studie, da sie Trolles Position als kultureller Grenzgänger herausstellen und zeigen, inwiefern er einen skeptischen und fremden Blick auf die Berliner Republik wirft. Trolle wendet in seinen Texten Walter Benjamins Methode der literarischen Montage an, d.h. die Kunstfertigkeit »ohne Anführungszeichen zu zitieren«30, sodass in seinen Texten ein komplexes Ineinander von Gegenwart der Berliner Republik der 1990er Jahre und sozialistischer Vergangenheit entsteht. Dabei holt er das kulturelle bzw. ideologische Erbe der DDR in Erinnerungsbruchstücken hoch und komponiert einen Raum der geschichtlichen Gleichzeitigkeit, in dem, ähnlich wie Heiner Müller es über die Literatur von Thomas Brasch beschreibt, die »Spuren und Narben seiner DDR-Biografie«31 zum Ausdruck kommen.

G renzgänger – ästhe tischer R aum und W ahrnehmung Aus den Beschreibungen wird deutlich, dass Matusche und Trolle sich als Grenzgänger zwischen den kulturellen Systemen denken lassen. Ihre ästhetischen Modelle lassen sich ohne den kulturellen Bezugsraum DDR nicht verstehen – ohne das Wissen um die geschichtlichen Hintergründe nicht einordnen. Fest steht, dass beide ästhetischen Modelle innerhalb der DDR einen geschichtlichen Erwartungshorizont nicht einlösen und somit störend, blockierend und irritierend auf das zeitgenössische Publikum wirken. Auf sehr unterschiedliche Weise entwerfen Trolle und Matusche Gegenmodelle zur Doktrin des sozialistischen Realismus und hinterfragen das Konzept eines normativen Realismus – verstanden als eine Realitätsbehauptung, die auf der Gewissheit beruht, eine objektive Realität anhand des Typischen und Normativen wiedergeben zu können. In beiden Modellen wird dem gesicherten Wissen und Ordnungssystemen eine Wirklichkeit entgegen gestellt, die von Momenten der Krise durchzogen ist und in der der Rezipient die Perspektive eines Außenseiters einnimmt. In dieser Konzeption betrachtet der Mensch Realität nicht als gesichertes Ganzes, sondern von einer Grenze aus. Hierdurch können Weltanschauungen hinterfragt und die Sicht auf den Raum verändert werden. Beide Künstler entwerfen dabei Raum- und Zeitwahrnehmungen, die rationale Sichtweisen auf die Realität entgrenzen und Gewissheiten verunsichern. Beide schließen sich dabei an künstlerische Traditionen der Moderne an, in denen lineare Realitätsdarstellungen aufgehoben und durch traumhafte und subjektive Wahrnehmungsweisen aufgebrochen werden. Wobei beide Dramatiker geschichtliche Grenzsituationen in Szene setzen, die Übergangsräume 30 | Benjamin zitiert in Kranz 2011, 109. 31 | Auf die »Spuren und Narben der DDR-Biografie« von Trolles Generation verweist Heiner Müller in einem Text über Thomas Brasch. Siehe Müller 1982, 154.

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bzw. Wendepunkte deutscher Geschichte beschreiben. In beiden Perspektiven werden Krisen inszeniert, die mit dem Zustand des »Betwixt and Between« (Turner) einhergehen, in dem sich Grenzen auflösen und Unruhe sowie Unsicherheit gestiftet wird, gleichzeitig aber auch das Vorstellungsvermögen anregt und Kreativität freisetzt wird.32 Trotz dieser aufgezählten Gemeinsamkeiten unterscheiden sich die beiden Autoren grundsätzlich – nicht nur hinsichtlich ihrer Generation und Sozialisation, sondern vor allem hinsichtlich des unterschiedlichen Zugangs zur Welt. Die Weltanschauung, aus der diese Grenzerfahrung gestaltet wird, ist eine jeweils andere. Während Matusches Dramatik von einer starken Hoffnungssymbolik durchdrungen ist und Realität durch romantisierende und religiöse Motive überhöht wird, schlägt bei Trolle die Vorstellung einer Utopie direkt in eine Form von Ideologie um und das Misstrauen gegen sämtliche geschlossene Systeme ist spürbar. Während also bei Matusche Kraft aus den Grenzerfahrungen wie Leid, Tod und Schuld gezogen werden soll, um das aus seiner Sicht »bessere Deutschland« aufzubauen, sind Trolles Grenzerfahrungen nicht in ein sinnstiftendes System eingebettet. In seinen Texten baut er komische Situationen auf, die die Welt-an-sich als inkongruent darstellen und Identität, Narrativ in ständiger Aushandlung mit dem Anderen vorstellen.33 Um diesen markanten Gegensatz zwischen den Modellen ganz einfach und verallgemeinert auszudrücken, beleuchtet Matusche die tragische, Trolle die komische Seite des Grenzgangs. Tragik und Komik als die Grundkategorien des Dramas sind in der Ästhetik sehr alte und besetzte Begriffe: Aristoteles grenzt beide deutlich voneinander ab. Dient die Tragödie dazu, Erkenntnis über die Conditio humane – deren Abgründe, Fehler und Missgeschicke zu gewinnen, dient die Komödie zur Erleichterung von denselben.34 Diese Dialektik, zwischen Schwere/Sichtbarmachen tiefgehender Gemütsregungen auf der einen und Leichtigkeit/Loslösung von der Schwere der Existenz auf der anderen Seite, lässt sich auf die zu untersuchenden Modelle übertragen. Zwei gegensätzliche Wahrnehmungen von Welt stehen sich gegenüber: In Matusches Grenzsituationen werden Gefühle wie Angst, Mitleid, aber auch Hoffnung und Spiritualität in sprachliche Bilder übersetzt. In dem dramatischen Raumüberwiegen visuelle Wahrnehmungsformen, wobei Gefühle und Erinnerungen in Chiffren und Metaphern eingeschlossen werden. Bei Trolle, so lässt sich etwas polemisch formulieren, ist für solche Tragik und Emotionalität kein Ort und keine Zeit. Im Gehen wird der Raum erkundet, wobei keine einheitlichen Gedächtnisbilder, sondern eher filmische Sequenzen und Oberflächenstrukturen aufgebaut werden. Durch die 32 | Siehe Turner 1989, 95. 33 | Siehe Kreuder 2005, 170. 34 | Siehe Aristoteles 1982, 33.

1. Einleitung

Dominanz von Bewegungsfiguren sowie auditive Wahrnehmungen, erscheint der dramatische Raum unübersichtlich und episch ausgedehnt. Es zeigt sich, dass jedes der ästhetischen Modelle seine eigene Wahrnehmung von Raum und Zeit hervorbringt. Während Matusches Figuren die Welt vorwiegend sehend und fühlend wahrnehmen, erkunden Trolles Figuren die Welt eher gehend und hörend. Diese Art und Weise, wie Räumlichkeit hervorgebracht wird und in welcher Beziehung Grenze und Raum zueinander stehen, scheint der Schlüssel zur Betrachtung und Analyse der ästhetischen Modelle zu sein. Ausgehend von dieser Hypothese ergeben sich die Forschungsfragen, unter denen die Theatertexte und Inszenierungen gelesen werden sollen: Wie ist der ästhetische Raum strukturiert? Welche Grenzen werden überschritten? Und welche Wahrnehmungen werden durch diese Grenzüberschreitungen evoziert? Um diese Forschungsfragen zu beantworten und den Gesamtkomplex von Grenze-Ästhetik-Wahrnehmung zu untersuchen, wird der ästhetische Raum des Textes aber auch der der Theaterinszenierungen sowie Hör- und Fernsehspiele untersucht. Dabei interessieren einerseits – im Sinne Isers – der Erlebnisraum des literarischen Textes und die ästhetische Erfahrung des impliziten Lesers während der Lektüre, zum anderen die semiotische Struktur und die Konstitution eines kulturellen Modells bzw. eines bedeutungsstiftenden Raumes. Unter Rekurs auf Juri Lotmans Strukturtheorie (Struktur des künstlerischen Textes [1972]) lassen sich die ästhetischen Modelle als Raummodelle lesen und die Grenzgänge in der Struktur der Texte verorten. Lotman begründet seine Theorie auf der Annahme, dass der Mensch die Welt vorwiegend visuell wahrnimmt, wodurch diese über räumliche Strukturen gefasst werden kann. Topologie und Topografie werden zu zentralen Begriffen, um kulturelle Systeme zu beschreiben, besonders Oppositionspaare wie nah-fern, unten-oben oder linksrechts erhalten in diesem Zusammenhang den Status universeller Beschreibungskriterien. Von dieser Prämisse ausgehend leitet Lotman seine These ab, dass sich jeder künstlerische Text als Raum-Modell lesen lässt, das gleichzeitig ein Modell von Welt abbildet. Um dieses Modell zu erarbeiten, sollte die Raumstruktur eines Textes hinsichtlich räumlicher Ordnungsstrukturen, entweder nach topologischen Oppositionsbeziehungen oder nach Topografien erfasst, und diese mit einer Semantik verknüpft werden. Aus der Semantisierung des Raumes ergibt sich ein Gefüge von semantischen Feldern, die klar voneinander abgegrenzt sind. Jedes der Felder bildet eine eigene Weltanschauung bzw. ein gesellschaftliches Ordnungssystem ab, dem die Figuren genau zugeordnet werden können.35 Um diese Textmodelle zu bewerten, entwickelt Lotman die für meine Analyse so wichtige Theorie des Grenzgangs. Die dort abgebildete Welt erhalte revolutionären Charakter, wenn eine der Figuren ihren zugeord35 | Siehe Lotman 2012, 531.

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neten Platz verlässt und in das semantische Anti-Feld wechselt. Diese Überschreitung stellt das Ereignis des Textes dar, da damit eine vorgegebene Welt radikal in Frage gestellt wird: »Ein Ereignis wird als das gedacht, was geschehen ist, obwohl es möglich war, daß es nicht geschah. […] Ein Ereignis ist also stets die Übertretung eines Verbots, ein Faktum, das stattfand, obwohl es nicht stattfinden durfte.«36 Einen Sujetabschluss erhalten die Texte, wenn die Figur des Grenzgängers einen Platz im semantischen Anti-Feld findet und eine neue Ordnung dadurch bestätigt wird.37 Das Ereignis der Grenzüberschreitung lässt sich in Matusches Dramen noch ziemlich genau nachzeichnen, da der ästhetische Raum seiner Dramen – dessen Spielorte und Figurengruppen – sich gut in semantische Felder und Weltanschauungen aufteilen lassen. Eindeutig kann eine Grenzgänger-Figur im Sinne Lotmans benannt und semantische Anti-Felder aufgezeigt werden. Diese genaue Zuteilung ist so in Trolles Theatertexten nicht möglich, da er seine Texte nicht nach der Konvention des aristotelischen Dramas gestaltet und nur vereinzelt mimetische Strategien einsetzt. Trotzdem lassen sich Trolles Theatertexte nach räumlichen Strukturen ordnen und in Gegensätzen denken. Im Grunde wird in seinen Theatertexten das Ereignis der Grenzüberschreitung zu einer Strategie im Text, d.h. zu einem intertextuellen Verfahren ausgebaut. Gerade das Verfahren der Komik (Herabsetzung eines Gegenstandes, kindlicher Blick) geht mit Oppositionspaaren wie nah-fern und hoch-tief einher. Über diese binären Strukturen lassen sich auch die Dialogizität des nicht mehr dramatischen Theatertextes, die Verfahren der Intertextualität und parodistische Schreibweisen herausarbeiten. Die strukturalistische Raumanalyse, mit der der Text objektiviert und durchmessen wird, wird durch rezeptionsästhetische Ansätze ergänzt, in der die Rezeptionserfahrungdes impliziten Lesers in den Blick genommen wird. Dabei arbeite ich mit der Methode des Close-Readings38, d.h. mit einer textnahen und intensiven Lektüre, um die räumlichen Strukturen in den Theatertexten sowie Theater-, Hörspiel und Filminszenierungen nachzuvollziehen. Die Figur der Grenze wird in diesem Lektüreprozess als dynamischer, transitorischer Ort gedacht und als Raum ästhetischer Erfahrung vorgestellt. Mit der Methode des Close Readings sollen die historischen und sozialen Kontexte nicht ausgeblendet, sondern die kulturellen Dimensionen des Grenzgangs herausgearbeitet werden. Damit folge ich Lotmans Theorie der Semiosphären aus der Studie Innenwelten des Denkens (2012), in der die Grenze als »Motor der Kultur« und als »Übersetzungsmechanismus« definiert wird. Die Ränder eines kulturellen Systems werden als Grenz-Raum angenommen, der sich 36 | Lotman 2012, 537. 37 | Siehe Lotman 2012, 543. 38 | Siehe Nünning 2004, 87f.

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dadurch definiert, dass Gegensätze wie fremd/eigen bzw. innen/außen aufeinander prallen und aus diesem Zusammenprall kulturelle Dynamiken entstehen.39 Diese Dynamiken lassen sich hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen (fremd-eigen) und psychologischen (innen-außen) Dimension weiter ausdifferenzieren und unter Rekurs auf entsprechende Raumkonzepte untersuchen. In der Diskussion der gesellschaftlichen Dimension des Grenzgangs wird besonders Michel Foucaults Konzept der Heterotopie evident. In dessen Aufsatz Von anderen Räumen (1967) geht Foucault auf die räumliche Verortung des Anderen innerhalb einer Kultur ein und nimmt so die strukturelle Ausgrenzung von gesellschaftlich tabuisierten Themen in den Blick. Die Geschichte der Heterotopien (Gefängnisse, Psychiatrien, Friedhöfen) ist ein Indikator dafür, wie die Gesellschaft mit Formen des Irrationalen (Wahnsinn, Tod, Sexualität) umgeht, diese unterdrückt und ausgrenzt. Sehr konkret lässt sich Foucaults Konzept auf die Dramatik von Matusche beziehen, der Heterotopien wie Friedhöfe und Psychiatrien in seiner Dramatik einsetzt, um Wahrnehmungswechsel zu erlangen und gesellschaftliche Gegenräume zu inszenieren.40 Auch Trolle setzt Heterotopien in abgewandelter Weise ein: er nutzt sie als Ausgangsorte für Träumereien; statt eindeutig fixierter Orte, erhalten diese Heterotopien transitorischen Charakter. Dadurch, dass bei Trolle das Raum-Zeit-Kontinuum systematisch aufgebrochen wird, entsteht ein Wahrnehmungsraum, der sich mit Michelde Certeaus Konzept des Nicht-Ortes beschreiben lässt. In die Kunst des Handelns (1988) zeigt de Certeau wie Wahrnehmungseinstellungen durch Bewegungsabläufe in modernen Großstadttopografien geprägt sind und Orte im Modus des Vorübergehens erfasst werden: »Das Herumirren, das die Stadt vervielfacht und verstärkt, macht daraus eine ungeheure gesellschaftliche Erfahrung des Fehlens eines Ortes«41. Mit beiden Raumkonzepten lassen sich gesellschaftliche Dimensionen und Dynamiken des Grenzgangs beschreiben und so lebensweltliche Erfahrungen näher erfassen. Die psychologische Dimension des Grenzgangs schließt sich direkt an die gesellschaftliche Dimension an. Für die Gefühlswelt des Ausgeschlossenen bzw. die Erfahrung des Identitätsverlustes interessieren sich beide Autoren gleichermaßen und schaffen Räume der Krise, um diese auszudrücken. Diese Räume zeichnen sich dadurch aus, dass feste Zuschreibungen wegfallen und das Individuum sich nicht mehr sicher verorten kann. Es ist zu beobachten wie die Figur Halt sucht, um sich seiner Selbst wieder zu bemächtigen bzw. zu behaupten. Es geht also in der Diskussion darum, welche Gefühle durch den Grenzgang hervorgebracht und welche Strategien gefunden werden, mit der Grenzsituation umzugehen. Wichtig für die Diskussion ist Gaston Bachelards 39 | Siehe Lotman 2010, 182. 40 | Siehe Foucault 2012, 319f. 41 | De Certeau 1988, 197.

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phänomenologische Studie Poetik des Raumes (1960). Bachelard versteht die Einbildungskraft des Menschen bzw. dessen Imaginationskraft als immanenten Teil der Wirklichkeitserfahrung. Eine objektive Raumwahrnehmung ist demnach gar nicht möglich – jeder Mensch lebe in seiner eigenen Räumlichkeit, wobei die Grenzen zwischen drinnen und draußen fließend sind.42 Das von Lotman vorgeschlagene Ordnungssystem nach topologischen Gegensatzpaaren, würde Bachelard stark anzweifeln. Er argumentiert für ein bewegliches, relatives Raummodell, da sich seiner Überzeugung nach, das Sein nicht fixieren lasse.43 Aus dieser Dialektik zwischen drinnen und draußen leitet Bachelard ab, dass es einen unaufhörlichen Austausch zwischen dem Menschen und dem ihn umgebenden Raum gebe, was sich im Bild der Spirale ausdrücke.44 Gerade im dichterischen Bild spiegelt sich die ganze Phänomenologie des Raumes und stellt sich eine Verbindung zwischen der Oberfläche (draußen) und dem Unterbewussten des Menschen (drinnen) ein. Dies lässt sich, in Anlehnung an Bergsons Gedächtnistheorie, an Raum-Metaphern wie die des Hauses zeigen, in welchen bestimmte Gefühle und Erfahrungen über eine Zeit hinweg »abgelegt« und bei Bedarf »hervorgeholt« werden können.45 Noch tiefergehend seien aber Raum-Bilder, die unabhängig von individuellen Erfahrungen stehen und eine metaphysische Dimension annehmen. Zu diesen zählt Bachelard etwa das Bild des Runden, welches ganz allgemein als Sinnbild des Lebens bzw. des Daseins verstanden werden kann und so auch mit Gefühlen des Glücks einhergeht.46 In der Analyse soll gezeigt werden, wie beide Modelle solche »Räume des Inneren«, d.h. die poetische Wirkung der Sprache nutzen, um mentale Prozesse des Grenzgangs darzustellen. Während bei Matusche sprachliche Bilder und Topografien eine zentrale Funktion einnehmen, um Bewusstseinszuständen Ausdruck zu verleihen, schafft Trolle über intertextuelle Strategien Räume des Unheimlichen, des Phantastischen und des Komischen, in denen sich das Gefühl der Krise spiegelt und die Grenze zwischen innen und außen aufhoben wird. Insgesamt verfolgt die Studie das Ziel, die ästhetischen Modelle im kulturhistorischen Kontext vorzustellen und die in den Texten verhandelten Wirklichkeitserfahrungenzu diskutieren. Ästhetische Erfahrung und Wirklichkeitswahrnehmung werden dabei zusammen gedacht, sodass soziale und ästhetische Grenzgänge zueinander in Relation gesetzt werden können. Anhand der Art und Weise wie die Dramatiker den ästhetischen Raum model42 | In diesem Zusammenhang polemisiert Bachelard gegen Heidegger, der die Vorstellung vertritt, dass sich das Sein örtlich fixieren lässt. Siehe Bachelard 1960, 244. 43 | Siehe Bachelard 1960, 243. 44 | Siehe Bachelard 1960, 245. 45 | Siehe Bachelard 1960, 41f. 46 | Siehe Bachelard 1960, 263.

1. Einleitung

lieren, lassen sich Fragen der Identität und des Geschichtsbildes behandeln. Entsprechend diesem skizzierten Hintergrund teilt sich die Studie in zwei Untersuchungsperspektiven auf: Die erste Perspektive legt den Schwerpunkt auf die Aushandlung von Identität und Identitätskonzepten. Anhand der Künstlerdramen Van Gogh (1968) von Matusche und klassenkampf (svendborg 1938/39) (1998) von Trolle wird gezeigt, welche Strategien die Dramatiker anwenden, um Identitätsprozesse darzustellen. Beide Autoren greifen in ihren Künstlerstücken die Frage nach der Vereinbarkeit von Kunst und Leben auf – in beiden Texten wird der Künstler an einen Exilort versetzt, um die Erfahrung des aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen nachzuempfinden. In diesem Spannungsverhältnis stehen sich zwei Identitätskonzepte gegenüber: Während in Matusches Künstlerdrama das Ideal eines autonomen Menschen anstrebt wird, ist Trolles Künstlerstück von einem modernen Subjekt-Verständnis geleitet. So folgt Matusche einem Konzept von Identität mit sich selbst, d.h. das Ideal eines autonomen Individuums, welches nach Jaspers das Individuum erst schrittweise, in der Reflexion des bloßen Da-Seins und durch das Durchleben von Grenzsituationen erlangt.47 Trolles Identitätskonzept hingegen sperrt sich gegen jegliche Vorstellung eines einheitlichen Ichs und ist vergleichbar mit Judith Butlers performativem Ansatz, in der das Ich als ein Vorläufiges verstanden wird, welches stets in Aushandlung mit dem Anderen entsteht.48 Die zweite Perspektive widmet sich der in den Modellen verhandelten Geschichtsdarstellung sowie Formen der Erinnerung. Anhand Matusches Der Regenwettermann (1965) und Die Dorfstraße (1955) sowie Trolles Das Dreivierteljahr des David Rubinowicz (1990) und novemberszenen (nach döblin) (1998) werden Texte in den Blick genommen, die zentrale und belastende Ereignisse der deutschen Geschichte behandeln und sich dabei mit der Shoah, mit Verbrechen der deutschen Wehrmacht, mit Erfahrungen von Flucht und Vertreibung sowie der deutschen Revolutionsgeschichte auseinandersetzen. Bei der Analyse der Geschichtsdramen und Erinnerungstücke stehen Fragen der Reaktion auf die Ereignisse, nach der herausgestellten Grundwahrnehmung und nach dem zugrunde liegenden Geschichtsbild im Vordergrund. In der Diskussion um das Erinnern deutscher Geschichte beziehe ich mich unter anderem auf James Youngs Ausführungen zu der in-sich-gebrochenen deutschen Erinnerungskultur und das von ihm vorgestellte Konzept des Gegen-Monuments.49 Auch greife ich in diesem Zusammenhang theaterwissenschaftliche Forschungen auf, die sich mit der Relation von Geschichte und Theater beschäfti47 | Jaspers resümiert: »Bei vollständig und allseitig ausgebildeten Persönlichkeiten müßten alle Antinomien am deutlichsten, ihr Erlebtwerden am tiefsten sein.« Jaspers 1919, 213. 48 | Siehe Schrödl 2005, 125. 49 | Siehe Young 1997, 57f.

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gen und Darstellungsstrategien in den Blick nehmen. So können unter Rekurs auf Friedemann Kreuders Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers (2002) die bildhaften Gedächtnisräume in Matusches Dramatik diskutiert werden. Trolles Fiktionalisierung des Tagebuchs von David Rubinowicz wird vor allem unter Berücksichtigung von Freddie Rokems Geschichte aufführen (2002) und Michael Bachmanns Der abwesende Zeuge. Autorisierungsstrategien in Darstellungen der Shoah (2010) gelesen und gezeigt, welche Strategien Trolle anwendet, um traumatische Erfahrung des Zeugen der Shoah darzustellen. In der Gegenüberstellung beider Modelle kann gezeigt werden, wie sich im Laufe des Jahrhunderts die Sicht auf die Geschichte änderte und der Geschichtsraum unter anderen ästhetischen Vorzeichen und Wahrnehmungsmodi modelliert wird. Dabei können zwei sehr unterschiedliche Sichtweisen auf das 20. Jahrhundert herausgestellt und im Sinne von Hayden Whites Studie Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses (1986) gegensätzliche Strukturierungen von Geschichte (Tropologie) vorgestellt werden.50 Bei der Diskussion der Darstellungsweisen eines subjektiven Realismus, der Wahrnehmungsmodi und Weltanschauungen, zeigt sich, dass die Figur des Grenzgangs eine zentrale Beschreibungskategorie bildet um Wirklichkeitserfahrungen auszudrücken. Mit dem Konzept des Grenzgangs lassen sich Konzeptionen von Realitäten bzw. die Relativität von Zeit-Raum-Wahrnehmung in der Dramatik von Lothar Trolle und Alfred Matusche aufzeigen und zwei gegensätzliche Wahrnehmungsmodelle – Matusches Modell des Sehens und Trolles Modell des Gehens – in ein Spannungsverhältnis setzen. Mit der »Post-Struktur«, verstanden als eine Struktur, die über die Grenze hinausgeht, lassen sich postmoderne Wirklichkeiten als auch existentielle Grunderfahrungen erfassen. Mit dieser Ausgangsthese schließt sich die Studie der Position von Fischer-Lichte an, die ästhetische Erfahrung generell als Ausdruck einer Schwellenerfahrung begreift und performative Prozesse in Verbindung zu persönlicher Verunsicherung, Irritation und Formen der Destabilisierung setzt, die einen Wahrnehmungswechsel erzeugen.51 In Anlehnung an Turners Liminalitäts-Konzept wird Grenzerfahrung als ästhetische Erfahrung angenommen, die zwar mit Formen der Verunsicherung und Destabilisierung einhergeht, gleichzeitig aber auch kreative Energienfreisetzt. Diese Dynamik zwischen Liminalität und Produktivität ist auch in Isers rezeptionsästhetischer Theorie formuliert, welche die Unbestimmtheit des literarischen Textes als zentrale Kategorie während der Rezeption hervorhebt. In der vorliegenden Studie wird Grenzerfahrung als ästhetische Erfahrung angenommen, die mit Formen der Verunsicherung wie einer kreativen Produktivität einhergeht. Die50 | Siehe White 1986, 21. 51 | Siehe Fischer-Lichte 2001, 356.

1. Einleitung

se Ästhetik wird in Relation zum Geschichtsbild als auch zum Subjektbegriff vorgestellt und gezeigt, wie Grenzerfahrungen wie Identitätsverlust im jeweiligen ästhetischen Modell verhandelt werden und sich die Form der Darstellung in Abhängigkeit zur Weltanschauung bzw. zum Zugang zur Welt ändert. Zum Schluss der Studie wird die Frage des Politischen nochmals aufgegriffen und die beiden Theatermodelle hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Anspruches befragt und gezeigt, dass die Figur des Grenzgangs auch als politische Figur gedacht werden kann.

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2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens

Auf dem Einband der gebunden Werkausgabe der Dramen Alfred Matusches ist in schwarz-weißem Druck die Zeichnung Regen von Vincent van Gogh (1853-1890) abgebildet.1 In grober Strichführung ist ein Sämann zu sehen, der mitten auf einem Feld steht und Ähren auf den Acker wirft. Die ihn umgebende Landschaft scheint in Bewegung, wellenförmig schlängeln sich die Konturen des Feldes; dicht darüber hängen schwere Wolken vom Himmel, der so der Erde näher zu rücken scheint. Leichte Regenfäden überziehen die Landschaft und stellen eine zusätzliche Verbindung zwischen Himmel und Erde her. Das Gleichnis vom Sämann, welches im Lukas-Evangelium die Verbreitung des christlichen Glaubens symbolisiert, hat van Gogh oft variiert.2 Immer wieder malte er diese Figur – mal bei gleißender Sonne, mal im Regen. Sie versinnbildlicht sein ideales Künstlerbild oder nach Thomas Noll »die Preisung der künstlerischen Schöpferkraft«3. Das biblische Gleichnis von der Saat, die aufgeht und die Frucht der Empfängnis hervorbringt, ist in der Literatur eine verbreitete Motivik, um das Entstehen des Genius zu beschreiben.4 Die vom Herausgeber suggerierte Nähe zwischen der biblischen Allegorie des Sämanns, der Bildästhetik van Goghs und Matusches Dramenwerk soll in dem folgenden Kapitel diskutiert und besonders die enge Verflechtung zwischen Bild und Sprache herausgestellt werden. Dabei soll deutlich werden, dass Matusche nicht nur das von van Gogh vorgeschlagene christlich geprägte Künstlerbild adaptiert, sondern dass dessen gesamte künstlerische Ausrichtung zum Fluchtpunkt seiner Dramatik wird. Die starke Identifikation mit diesem Ausnahmekünstler lässt sich auf die Anfänge von Matusches Dichterlaufbahn zurückdatieren; in einem kurzen Essay Einer geht allein, der 1974 in Sinn und Form veröffentlicht wurde, glorifiziert und idealisiert er van Goghs Künstlerleben: »Ein wildes, glühendes Leben war in und um ihn. […] Vergan1 | Siehe Umschlag der Werkausgabe Matusche 2009. 2 | Siehe Noll 1994, 101. 3 | Noll 1994, 102. 4 | Zum Verhältnis von Geniegedanken und Künstlerdrama siehe Birkner 2009, 48f.

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genheit will er gar nicht anerkennen, nur berstende Gegenwart, die zukunftsschwanger ist.«5 Es ist die enge Verknüpfung von Kunst und Leben sowie die in den Bildern zum Ausdruck kommende Gegenwärtigkeit, welche Matusche an diesem Avantgarde-Künstler so fasziniert. Seine Bilder würden dem Betrachter eine metaphysische Ebene eröffnen und so Raum für die gefangene Seele des zivilisierten Menschen geben.6 Mit dieser Ansicht steht Matusche dem Expressionismus nahe, welcher, wie Anz herausstellt, in einem Spannungsverhältnis zur zivilisatorischen Moderne steht und dem mechanisierten Zeitalter eine sinnliche Ausdrucksmöglich entgegen halten wollte.7 Vor allem die Verbildlichung des Unendlichen bzw. des über die Grenzen der Vorstellungskraft Hinausgehenden thematisiert Matusche anhand Weizenfeld mit Krähen, eines der letzten Bilder van Goghs: Das Schauen fließt aus ihm, van Gogh, heraus und bildet sich wie ein Kreis, darinnen sein Bild lebt. So schaut er lange Stunden, die schwarzen Vögel, die reifen Felder und die glühende Sonne, die so brennt wie Gottes Augen. Dann rafft er sich und schreitet gerad, etwas fieberglühend, durch sein Bild, durch seine letzte geschaute Welt, geht diesen erdenen Schollenweg bis an die letzte gedachte Linie seines Denkens heran und steht dann vor seiner großen Leere. 8

Aufgabe der modernen Kunst, so wird aus dieser Bildinterpretation deutlich, sei nicht die illusionistische Wiedergabe der Welt, sondern die Überschreitung einer Sinngrenze. Es ist der grenzüberschreitende Moment und die Transzendierung der Wirklichkeit, die Matusche hier so bewegt und welche er zum Anspruch seiner eigenen Dramatik machen wird. In dem 1966 veröffentlichten Künstlerdrama Van Gogh verleiht er diesem Kunstideal einen dramatischen Rahmen und zeigt den Antagonismus zwischen diesem unbedingten, eine Autonomie anstrebenden Künstler und den Anforderungen des modernen Lebens auf.9 Mit diesem Künstlerdrama schafft er van Gogh ein literarisches Denkmal, wobei er einerseits die von ihm beschriebene Wirkung der Bilder in Sprache umzusetzen versucht, gleichzeitig aber auch großen Wert auf die gesellschaftlichen Strukturen bzw. die Nachempfindung der Epoche des imperialen Zeitalters legt.

5 | Matusche 1974, 823. 6 | Ebd. 7 | Anz 2010, 18f. 8 | Matusche 1974, 283. 9 | Matusche 1966.

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Van G ogh : B eispiel eines sozialistischen K ünstlers ? Mit der Stoff-Wahl, der Dramatisierung eines Künstlerlebens im 19. Jahrhundert, stand Matusche im Jahr 1966 abseits der Kulturnorm, knüpfte er damit doch an eine zutiefst bürgerliche Literaturtradition an. Das deutschsprachige Künstlerdrama entstand Ende des 18. Jahrhunderts im Übergang von der höfischen zur bürgerlichen Epoche. Als berühmtestes Muster für diese Gattung gilt Goethes Torquato Tasso (1790). Problematisiert wird die Diskrepanz zwischen Talent bzw. Schöpfergeist und Bedingungen der realen Welt.10 Die Dramen zeichnen sich durch einen hohen Grad an Selbstreflexion aus, beinhalten sie doch das Nachdenken über die eigene Positionierung in der Gesellschaft. Da der Künstlerkonflikt meist in einer bürgerlichen Welt angesiedelt ist bzw. in einer Gesellschaft, die den Bedingungen des Marktes folgt, galt diese Gattung aus Sicht der SED-Kulturpolitik als überholte Form. Aus deren Perspektive spiegeln diese Stücke Konflikte einer Gesellschaft wider, die angesichts des real existierenden Sozialismus offiziell überwunden waren. Auch das im klassischen Künstlerdrama tradierte Künstlerverständnis, das den schöpferischen Geist und dessen Eigenmächtigkeit hervorhebt, steht im starken Gegensatz zu dem sachlich-handwerklich orientierten Künstlerbild der DDR und den dortigen Produktionsbedingungen. Ziel der kulturpolitischen Anstrengungen war es, den Künstler aus seiner Isolation der »bürgerlichen« Stube in ein Kollektiv zu bringen, die Kunst im planwirtschaftlichen Sinne an gesellschaftliche Zwecke zu koppeln und als Handwerk neben andere Berufe zu stellen. Für diesen Zweck wurde die Kunst in geplante, geordnete Strukturen gebracht. Wolfgang Emmerich geht in der Kleinen Literaturgeschichte der DDR auf die Bedingungen des Schreibens in der DDR, die Kulturpolitik und die Zensur ein. Hierbei arbeitet er den Zwiespalt, in dem sich die DDR-Schriftsteller befanden, heraus: einerseits unterstützt und gefördert seitens des Staates, andererseits gegängelt und bevormundet.11 Die Postulate der Kulturpolitik standen bekanntlich im Spannungsverhältnis zu den realen Gegebenheiten. Faktisch war die individuelle Freiheit im hohen Maß eingeschränkt. Die Künstler standen in einem Abhängigkeitsverhältnis zum politischen Kurs und den Anforderungen des Gesamtplans der Kulturpolitik. Wollten sie am (offiziellen) kulturellen Leben der DDR partizipieren, mussten sie ihre Kunst dementsprechend ausrichten oder eine prekäre Existenz in Kauf zu nehmen. Selbst wenn sich ein Künstler am vorgegebenen Kurs orientierte, war dies keine sichere Garantie für eine Veröffentlichung seines Werkes. Der Kurs und die Gesetzmäßigkeiten des von der SED geführten »Kulturmarktes« waren schwankend und unberechenbar. Wie gegenüber dem 10 | Siehe Japp 2004, 2. 11 | Siehe Emmerich 2000, 50.

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Gros der DDR-Bürger, hegte die Parteiführung gegen die Künstler ein großes Misstrauen und nutzt das Ministerium für innere Sicherheit, um deren ideologische Standfestigkeit zu prüfen. Zwar liberalisierte sich diese Kulturpolitik ab den ausgehenden 1960er Jahren zusehends – Emmerich betont, dass mit Veröffentlichungen von Peter Hacks, Johannes Bobrowski, Heiner Müller, Günther Kunert oder Christa Wolf viele Freiräume geöffnet und ein neues Selbstbewusstsein unter den Künstlern geschaffen wurde12 – doch änderte diese partiale Liberalisierung nichts an den grundsätzlich restriktiven Strukturen und dem ungleichen Machtverhältnis zwischen Partei und Künstlern. Je nach politischem Kurs wurden die Möglichkeiten der Kunstschaffenden neu ausgelotet und über die bestehende Kunst Urteile gefällt. Letztendlich ging es der politischen Führung darum, Oberhand zu gewinnen und darüber zu entscheiden, welche Fragen überhaupt im öffentlichen Raum diskutiert und welche Möglichkeiten des Individuums dargestellt werden dürfen. Bei der Diskussion dieser Fragen geriet vor allem das Theater als öffentlicher Ort in den Blick. So wurde auf dem elften Plenum des SED-Zentralkomitees im Dezember 1965 der bereits veröffentlichte Theatertext Der Bau von Heiner Müller sowie die Inszenierung Moritz Tassow von Peter Hacks kontrovers besprochen – mit der Konsequenz, dass Müller sein Stück überarbeiten musste und die Inszenierung Moritz Tassow abgesetzt wurde.13 Obgleich Matusche keinen Künstler der Gegenwart sondern die Konflikte eines Malers in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts fiktionalisiert hat, wurde sein Drama in den 1960er Jahren nicht gespielt. Vergleichbar mit Ralf Kirstens Film Der verlorene Engel (1966), der einen Tag aus dem Leben des expressionistischen Künstlers Ernst Barlach behandelt, unterlag auch Matusches Van Gogh der staatlichen Zensur.14 Nachdem 1961 das Stück als Hörspiel unter der Regie von Wolfgang Schonendorf gesendet und 1966 in einem Sonderheft der Literaturzeitschrift Sinn und Form unter dem Titel Probleme der Dramatik erstmals einer Leserschaft zugänglich gemacht worden war,15 dauerte es insgesamt sieben Jahren bis es 1973 unter der Regie von Peter Sodann in der damaligen Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) am Theater zur Uraufführung kam.16 Für die Analyse von Matusches Künstlerdrama drängt sich vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund die Frage auf, inwiefern sich das Stück tatsächlich auf die Verhältnisse in der DDR übertragen lässt und inwieweit die Künstlerfigur van Gogh im Widerspruch zum sozialistischen Künstlerverständnis steht. 12 | Siehe Emmerich 2000, 174f. 13 | Siehe Fiebach/Hasche 1994, 56. 14 | Der Film von Ralf Kirsten kam im April 1971 in die Kinos. Siehe Prinzler 1995, 280. 15 | Siehe Matusche 1966. 16 | Siehe Fischborn 2009, 295.

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Um diese Frage zu diskutieren, soll in der Strukturanalyse der soziale Raum des Künstlers aufgearbeitet, strukturelle Merkmale aufgezeigt und schließlich nachvollzogen werden, auf welche Weise Matusches Künstlerfigur van Gogh einen Identitätsraum auf baut. Die Leitfragen lauten: Wie werden dem Leser das Leben des Künstlers und seine Entwicklung präsentiert, inwiefern wird dabei die Bildästhetik von van Gogh aufgegriffen? Wie konstituiert sich das Subjekt? Welche Bedeutung kommt der Räumlichkeit bei der Aushandlung von Identität zu? Im Anschluss an die Textanalyse stelle ich zwei Lesarten des Dramas in Ost- und Westdeutschland vor, die vor dem Hintergrund des Kalten Krieges dem Künstlerdrama eine andere politische Lesart einschreiben.

Raumanalyse Van Gogh (1966) Als literarischer Bezugstext bzw. Hypotext im Sinne Gérard Genettes diente, wie aus einer Vielzahl intertextueller Verweise hervorgeht, die 1959 im Berliner Henschel Verlag herausgegebene Briefsammlung Als Mensch unter Menschen. In zwei Bänden sind dort Briefe gesammelt, die van Gogh Zeit seines Lebens an den jüngeren Bruder Theo schrieb. Sie geben einen unmittelbaren Einblick in das Denken und Fühlen des Malers und zeigen ihn als gebildeten, in der Kunstgeschichte und der Literatur versierten Menschen, der seine Umwelt, die Natur und die ihm fremde Welt der Arbeiter sehr genau beobachtete und schließlich zeichnete. Auch zeigt sich, dass van Gogh ein liebevolles Verhältnis zu seiner Heimat, seinen Eltern und einen besonderen Respekt vor dem Beruf des Vaters hatte, der als protestantischer Pfarrer arbeitete.17 Aus dem facettenreichen Leben wählt Matusche das Leitmotiv der christlichen Gesinnung aus und macht es zum Fluchtpunkt der Handlung. Das Stück ist keinesfalls als biografisch genaues Drama zu verstehen. In vielen Punkten widerspricht es der tatsächlichen Historie, wie etwa in dem dargestellten Vater-Sohn-Konflikt in der ersten Szene. Zwar hatte van Gogh Streit mit den Eltern, als er sich entschloss Künstler zu werden, doch geht aus den Briefen eine große Dankbarkeit für die Unterstützung und Liebenswürdigkeit der Familie hervor.18 Matusche versetzt van Goghs Leben auf eine allgemeinere Ebene, spitzt Widersprüche zu, verdichtet und erhöht die Figuren, indem er sie in einen symbolischen Bezugsraum setzt. In achtzehn Bildern wird dem Leser der Lebensweg van Goghs vorgeführt. Die Szenen sind lose miteinander verknüpft, die gespielte Zeit umfasst siebzehn Jahre und damit den historischen Zeitraum von 1873 bis 1890. Skizzenhaft werden in der spröden, verknappten Sprache von Matusche zentrale Stationen aus dem Leben inszeniert. In diesen Szenen verdichten sich die Konflikte 17 | Siehe Erpel 1959a, 11-30. 18 | Siehe Erpel 1959a, 137.

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van Goghs mit seiner Umwelt. Meist gehen sie mit Entscheidungsmomenten einher und stellen so die Entwicklung des Künstlers auf pointierte Weise dar. Im Mittelpunkt des Dramas stehen einerseits der Auszug des Sohnes aus dem Elternhaus und seine ersten beruflichen Erfahrungen, andererseits die letzten zwei Lebensjahre, die hauptsächlich in Südfrankreich spielen. Die verschiedenen Szenen lassen sich nach Lotman in fünf semantische Räume zusammenfassen. Jeder dieser Räume ist eng an ein bestimmtes gesellschaftliches Milieu bzw. an ein »soziales Feld« (Pierre Bourdieu) gekoppelt. In der Analyse der soziologischen Struktur soll neben dem historisch gebundenen Begriffs des Milieus, der von Pierre Bourdieu geprägte Begriff des sozialen Raumes bzw. des sozialen Feldes genutzt werden. Seine Raumsoziologie ist wertneutraler und hebt die topografische Strukturierung von Machtverhältnissen in einem bestimmten sozialen Umfeld hervor. Wie Bourdieu in seiner maßgebenden Studie Die feinen Unterschiede (1982) zeigt, lässt sich die »innere Logik der sozialen Welt«19 über räumliche Konfigurationen und die Anordnung der Akteure im sozialen Raum darstellen. Diese Kategorisierungen sind unabhängig von historischen Epochen; sie definieren eine Gesellschaft als ein Gebilde unterschiedlicher sozialer Positionen, die in Relation zu Habitus, Tätigkeiten und Gütern gesetzt werden können. In den am weitesten entwickelten Gesellschaften gibt es nach Bourdieu zwei Unterscheidungsprinzipien, nach denen sich der soziale Raum aufteilen lässt: das ökonomische und das kulturelle Kapital. Die Akteure eines sozialen Feldes lassen sich über räumliche Nähe bzw. Distanz zu diesen beiden Dimensionen des Kapitals in ein Verhältnis setzen. So sind Akteure, die der Arbeiterklasse angehören, meist mit weniger kulturellem Kapital ausgestattet als die bürgerliche Klasse und nehmen dementsprechend Distanz zu diesem Pol ein. Diese Dynamik sei weniger durch die Schulbildung, sondern durch Einflüsse des sozialen Raums und der Ausbildung eines klassenspezifischen Geschmacksinns bedingt. Insofern ist die Art und Weise wie ein Kunstwerk wahrgenommen wird, letztendlich durch die soziale Zugehörigkeit des Wahrnehmenden bestimmt.20 Es wird deutlich, dass Bourdieu den Schwerpunkt auf die Interaktionen zwischen den gesellschaftlichen Akteuren legt, womit er auch das Performative und Spielerische in der Aushandlung von Identität in den Blick nimmt und sich von fest umrissenen Beschreibungen einer sozialen Klasse verabschiedet. Dieses räumliche-interaktionistische Prinzip fasst er wie folgt zusammen: »Die Position, die jemand im sozialen Raum einnimmt, […] bestimmt auch seine Vorstellungen von diesem Raum und die Positionen, die er in den Kämpfen um dessen Erhalt oder Veränderung bezieht.«21 Damit schärft der Soziologe 19 | Bourdieu 2012, 354. 20 | Siehe Bourdieu 2014, 60f. 21 | Bourdieu 2012, 365.

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den Blick auf gesellschaftliche Dynamiken und zeigt anhand der feinen Unterschiede in Habitus, Geschmack und Erscheinungsbild, welche Faktoren ihre Klassifikation und Zuordnung bedingen. Um die sozialen Dynamiken in Matusches Drama zu beschreiben und zu strukturieren, wende ich Bourdieus Raumsoziologie an. Hierbei gehe ich besonders auf die Interaktion der Künstlerfigur im sozialen Raum des Dramas ein. Dieser bildet eine differenzierte Gesellschaftsstruktur ab, in der die Figuren um Positionen konkurrieren, die in Relation zum kulturellen und ökonomischen Kapital gestellt werden können. In den ersten Szenen befindet sich van Gogh noch im bürgerlichen Milieu seiner Familie (Szene 1-3). Dieses zeichnet sich durch die Nähe zum ökonomischen und kulturellen Kapital aus, Habitus und Tätigkeiten der Akteure entsprechen dem Feld der Wirtschaft. Selbst im privaten Bereich wird der Machtkampf um Güter weitergeführt. Von dort wechselt der Akteur in ein proletarisches Milieu (Szene 4-6), distanziert sich so vom ökonomischen Kapital und versucht sich in der Rolle des Hilfspredigers. Sein Versuch der Abgrenzung von der eigentlichen kulturellen Prägung gelingt nicht, und er versucht sich nun in dem Feld der Kulturproduktion – nicht mehr als Verkäufer sondern als Produzent – zu positionieren (Szene 7-12). Im Boheme-Milieu versucht der Künstler eine autonome Stellung aufzubauen und am Pol der Avantgarde zu arrivieren. Von dieser Position wird der Künstler verbannt und in einen außerhalb der Gesellschaft liegenden Raum der Irrenanstalt verwiesen (Szene 13-15). Der nun als abnorm gekennzeichnete Maler wird auf Geheiß des Bruders nach Nordfrankreich gebracht. Die letzten Szenen spielen in einem sozialen Zwischenraum, in dem sich Figuren verschiedener sozialer Felder und damit Dispositionen begegnen (Szene 16-18). Im Ganzen entfernt sich der Akteur von den beiden prägenden Einflüssen und Machtpolen des kulturellen und ökonomischen Kapitals. Es wird dadurch immer schwieriger seine soziale Position festzulegen. Diese »Verlegenheit« lässt sich durch einen ergänzenden Blick auf die psychologische Positionierung des Akteurs kompensieren. Mit der Analyse der visuellen Dramaturgie rücken rezeptionsästhetische Aspekte bzw. die Lektüreerfahrung des impliziten Lesers in den Vordergrund der Lektüre. Die Wahrnehmung wird dabei auf die bildliche Sprache und Symbolik der Szenen gelenkt. Das Künstlerdrama basiert neben der genannten Briefsammlung zum großen Teil auf Bildern van Goghs. Figuration und Spielorte können auf die Bildwelt van Goghs bezogen werden, entsprechen sie doch ziemlich genau den gemalten Personen und Schauplätzen. Bereits die Titel und die kurzen Szenenbeschreibungen kündigen die Nähe zwischen dem dramatischen Werk und der Malerei an. Je nachdem wie vertraut der Leser mit der Malerei van Goghs ist, geben diese schon einen imaginären Raum vor. Die enge Verflechtung von van Goghs Bildwelt und Dramenstruktur wird bereits in der ersten Szene Familienbild deutlich, in welcher Matusche verschiedene

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Bildmotive miteinander verbindet. Der Spielort der Szene, van Goghs Elternhaus, entspricht dem Bild Pfarrhaus in Nuenen (1885)22, die Figur der alten Frau, die von Vincent den Rat erhält, ihr schwarzes Kopftuch durch ein helles zu ersetzen, erinnert an das Bild Kopf einer Bäuerin mit weißer Haube (1885)23. Die Lebensgeschichte des Malers und dessen Werk sind in dieser Dramenkonzeption eng miteinander verbunden: In der Raumstruktur des Stücks schlägt sich die künstlerische Entwicklung van Goghs nieder. Der Maler wandte sich im Laufe der Zeit von der naturnahen Abbildung ab und entwickelte eine abstrahierte Bildästhetik, in der die Umwelt in einer starken Farbgebung und Bewegungsstruktur wiedergegeben wird. Dieser Wechsel von einer realistischgenauen Sicht auf die Welt hin zu einer subjektiven Sichtweise lässt sich in der Raumstruktur des Dramas nachvollziehen. Innerhalb des Handlungsverlaufs findet eine Verschiebung von der äußeren zur inneren Handlungsebene statt. Dies wird anhand der Szenentitel deutlich. Die Titel der Anfangsszenen beziehen sich auf den äußeren Handlungsstrang des Dramas und geben Informationen zum Ort (Die Pfarrhauslaube) oder zu zentralen Motiven der Handlung (Das Fischnetz, Das Familienbild). Spätere Szenentitel beziehen sich stattdessen auf die innere Handlungsebene und somit auf Gefühle und Stimmungen des Künstlers (Klarheit, Strahl im Chaos). Im Ganzen wird die Diskrepanz zwischen historischem und fiktivem Raum im Verlauf der Handlung größer. In den letzten Szenen lebt der Künstler in einem wahnhaften Raum, die Todesszene wirkt in ihrer Harmonie und plötzlichen Ruhe fast irreal. Auch die zur Geltung kommende Farbgebung und die Lichtverhältnisse stehen in Verhältnis zur Bildwelt van Goghs. Dominieren zu Beginn des Stücks, in Analogie zur ersten Schaffensphase, dunkle Farben, wechselt mit der Ortsveränderung und dem veränderten Blick auf die Welt auch die Farbigkeit. Grüne, rote und besonders gelbe Farbtöne bestimmen die Farbigkeit und visuelle Dramaturgie des Künstlerraumes. Hierbei ist ein Zusammenhang zwischen der Entfremdung des Künstlers von der Welt und der Wahrnehmung der Farbe zu verzeichnen. Je weiter sich der Künstler im Laufe der Handlung von der Gesellschaft entfernt, desto ausdrucksstärker treten die Farben hervor. Insbesondere das Sonnen- und Sternmotiv als Sinnbild der inneren Wandlung und Erleuchtung kommt zum Vorschein. Mit Gaston Bachelards Poetik des Raumes lässt sich die Raumästhetik des Stücks in Beziehung zu dem inneren Raum des Künstlers lesen und aus der psychologischen Disposition heraus verstehen. Wie in der Einleitung aufgezeigt, fragt Bachelard nach den existentiellen Erfahrungen, die der Mensch in einer bestimmten Räumlichkeit durchlebt und welche psychologische und identitätsbildende Qualität diese aufweist. Hierbei stellt er eine grundlegende Beziehung zwischen Sein und Räumlichkeit her 22 | Siehe Alyson Stein 1995, 12. 23 | Siehe Alyson Stein 1995, 14.

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und entwickelt davon ausgehend die These, dass mit jedem bewohnten Raum auch subjektive Erfahrungswerte verbunden sind, welche sich im Bewusstsein des Einzelnen als Bilder einspeichern. Hierbei unterscheidet er zwischen anziehenden und abstoßenden Bildern. Unter dem Begriff der »Topophilie« skizziert Bachelard seine Theorie vom glücklichen Raum, die besagt, dass die Orte, die der Mensch bewohnt hat, mit Besitzwerten angereichert sind. Ein großer Teil dieser Besitzwerte setzt sich aus imaginierten Werten zusammen, welche das Bild von einem Raum bestimmen. Über die »Topoanalyse«, die Bachelard als Ergänzung zur Psychoanalyse entwickelt, können diese Zusammenhänge zwischen Räumlichkeit, Gedächtnis und Psyche an die Oberfläche bzw. zu Bewusstsein gebracht werden: Die Topoanalyse wäre also das systematische psychologische Studium der Örtlichkeiten unseres inneren Lebens. […] Um unser Sein in der Rangordnung einer Ontologie zu analysieren, um unser Unbewusstes, das in primitiven Erdhütten untergebracht ist, müssen wir, am Rande der Psychoanalyse, unsere großen Erinnerungen entgesellschaften und uns auf die Ebene der Träumerei erheben, denen wir in den Räumen unserer Einsamkeit folgen. 24

Die imaginierten sprachlichen Bilder, die in dem Künstlerdrama eingesetzt werden, können unter Rekurs auf Bachelard als Ausdruck der Gefühlslage des Protagonisten gelesen und in ihrer psychologischen Bedeutung interpretiert werden. Der Aspekt der Entgesellschaftung von der Bachelard spricht, wird in dem Stück abgebildet. Dabei wird nachempfunden, wie der Künstler in Zuständen von Träumerei einen Zugang zu den tief sitzenden Bildern seiner Seele findet und die Umgebung als »Örtlichkeit unsres inneren Lebens«25 wahrnimmt. Im folgenden Close-Reading werden die beiden Raumebenen, zum einen der äußere, soziologisch erfassbare, zum anderen der innere Raum der »seelischen« Zustände, näher dargestellt. In dieser Gegenüberstellung bildet sich der für das Künstlerdrama so paradigmatische Antagonismus zwischen Gesellschaft und Individuum heraus.

Vincent und das bürgerliche Feld der Familie In den ersten drei Szenen eröffnet sich dem Leser der historische Raum des holländischen und britischen Bürgertums des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In diese Zeitspanne fällt das imperiale Zeitalter – und auch die Pfarrersfamilie van Gogh trägt den Stolz dieser bürgerlichen Epoche. Die Ära gilt als imperiales Zeitalter und umfasste den Zeitraum von 1875 bis 1914. In dieser Epoche entwickelte sich im alten Europa die Weltwirtschaft in enormem Tempo, die 24 | Bachelard 2012, 169. 25 | Ebd.

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Industrieproduktion wuchs an und die Absatzmärkte globalisierten sich. Nationalstaaten wie England, Frankreich oder Holland vergrößerten ihren internationalen Einfluss, bauten ihre Imperien aus und teilten sich als Kolonialmächte die Welt untereinander auf.26 Diese neue Stellung in der Welt stärkte das bürgerliche Selbstbewusstsein und vergrößerte den lebensweltlichen Horizont über die nationalen Landesgrenzen hinaus. Auch in van Goghs Familie waren Wirtschafts- und Bildungsbürgertum vereint, stolz sind die Familienmitglieder auf ihr kulturelles aber auch ökonomisches Kapital. Da ist zum einen der als Kaufmann arbeitende Onkel, der neben dem Kunstgeschäft in Den Haag noch zwei weitere Filialen in Paris und London betreibt und in dessen Londoner Filiale Vincent als Kunsthändler arbeitet (zweite Szene).27 Zum anderen gibt es in der Familie eine ganze Reihe von Pfarrern; neben dem Vater üben noch zwei Onkel von Vincent das Pfarramt aus. Bei seinem Onkel Pieter wird er in die Lehre gehen (dritte Szene). Diese enge Verflechtung zwischen Familie und Berufsstand ist typisch für das Zeitalter. Die Familie van Gogh bildet dabei ein in sich geschlossenes System, denn die Familienmitglieder ähneln sich in ihrer Erscheinung und ihrem Habitus. Matusche zeichnet ein Negativbild dieser bürgerlichen Schicht und führt die van Goghs in ihren schlechten Eigenschaften vor. In der ersten Szene Familienbild zeigt er, wie patriarchalisch diese Familie geordnet und in ihrer sozialen Praxis auf Außenwirkung bedacht ist. Bis auf Vincent haben sich die Familienmitglieder vor dem Pfarrhaus versammelt, um sich anlässlich des Auszugs des Sohns aus dem Elternhaus fotografieren zu lassen. Der Vater nennt die Familie »seine kleine Gemeinde, der ich aufs innigste vorstehe«28. Gegenüber dem Fotografen nimmt er höflich-versierte Ausdrucksformen an. Die Familie stellt sich in Pose, wobei der Vater in der Mitte des Bildes steht, daneben bleibt zunächst eine leere Stelle für den Sohn. Er erläutert dem Fotografen: »Heute soll mein Ältester bei seinem Ausgang aus dem Vaterhaus diesen Platz einnehmen.«29 Sein Stolz über die Erfolge des Ältesten wird konterkariert durch den harschen, autoritären Tonfall, den er gegenüber dem sich mal wieder verspätenden Vincent anschlägt. Harsch befiehlt er ihm: »Stell dich neben mich.«30 Die Scheinheiligkeit durchschauend weigert sich Vincent mit der Familie porträtiert zu werden, sagt er habe keine Zeit mehr und flieht regelrecht aus dem Familienbild. Der Auszug des Sohnes ist somit von einer Rebellion gegen die hierarchischen Familienstrukturen begleitet und fordert die Familienharmonie heraus. Der Vater nennt ihn daraufhin einen verlorenen Sohn, 26 | Siehe Hobsbawm 1989, 79. 27 | Siehe Matusche 2009a, 395f. 28 | Matusche 2009a, 394. 29 | Matusche 2009a, 394. 30 | Ebd.

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macht aber gegenüber dem Fotografen gute Miene und lässt sich keine Kränkung anmerken. Die Hoffnungen, die an den Ältesten geknüpft sind, werden, wie der Leser schon nach der ersten Szene vermutet, enttäuscht. Er wird erst den kaufmännischen Beruf des Kunsthändlers, dann den des studierten Pfarrers verwerfen. Aus Sicht der Familie scheitert Vincent, sie empfinden ihn als wortkarg, seltsam und egoistisch. Seine Handlungs- und Denkweise ist dem Vater unverständlich. Dies lässt sich in der zweiten Szene Das Fischnetz nachvollziehen, als der noch junge Vincent erkennt, dass der kaufmännische Beruf nicht seinen Berufsvorstellungen entspricht. Schauplatz der Szene ist eine Londoner Straße in der Nähe der Themse an einem nebeligen Tag. Ein Invalide steht am Straßenrand und spielt die Drehorgel. Als ein Ehepaar vorbeigeht, ruft er ihnen nach: »Für Englands Ehre und Ruhm!«31, wodurch sich der Ehemann verpflichtet fühlt, dem Invaliden ein paar Pennys zu geben, hat dieser sich doch für das Imperium verkrüppelt. Seine Frau wendet ein, dass sie noch ein Bild kaufen wollen und sich daher die Pennys sparen sollten. In Gedanken an den baldigen Kauf spricht die Frau die Hoffnung aus, dass es noch Rembrandts gebe, da sie unbedingt noch ein Bild für das neue Speisezimmer benötigten. Hierbei erinnert sie sich daran, dass »dieser Holländer«32 ihnen empfohlen hat, einen »Ölschinken« zu kaufen. Der Ehemann bestätigt ihr, dass sich ein Stillleben in dem Zimmer sehr gut machen würde. Ohne den Invaliden weiter zu beachten, verlassen sie die Szene in Richtung Kunsthandel. Kurz darauf taucht Vincent auf, redet mit dem Invaliden und erzählt, dass er entlassen wurde, weil er keinen Betrug mitmachen wollte. Was genau er mit Betrug meint, erläutert er zunächst nicht. Erst als unerwartet sein jüngerer Bruder Theo erscheint, klärt sich die Situation auf. Vincent empört sich über den geringen Kunstverstand der Kundschaft, die mehr an Dekor und Ornament für die Wohnungseinrichtung als am Gegenstand selbst interessiert ist. Dem »neureichen Pack« habe er ins Gesicht gesagt, dass sie sich »einen Ölschinken« aufhängen sollten.33 Die Gemälde nur an ihrem Geldwert zu messen, so hört man aus seiner Empörung heraus, scheint ihm Betrug an der Kunst zu sein. Dass er mit seiner Einschätzung des Kunstverständnisses seiner Kunden richtig liegt, bestätigt die Tatsache, dass das Ehepaar, wie der Leser zuvor beobachten konnte, die ironische Bezeichnung »Ölschinken« offensichtlich nicht verstanden hat. Vincent erklärt, dass er nicht fürs Geschäft tauge. Gemeinsam überlegen die Brüder, welche beruflichen Alternativen es für ihn gibt. Als Theo sieht, wie fasziniert Vincent von dem Methodistenprediger ist, der auf der Straße ein Publikum um sich gesammelt hat, rät er ihm zu seinem Onkel Pieter nach Holland zurückzukehren und ein 31 | Matusche 2009a, 396. 32 | Ebd. 33 | Matusche 2009a, 397.

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Theologiestudium aufzunehmen. Da der Onkel krank ist, könne Vincent in der Pfarre aushelfen und so den Beruf erlernen. Mit diesem pragmatischen Vorschlag will der Bruder verhindern, dass sein leidenschaftlicher Bruder zur Schande der Familie anfängt als Straßenprediger zu arbeiten: »Denk an Vater, du kannst nicht Straßenprediger werden.«34 Als Vincent zurück nach Holland zieht, begibt er sich wieder in das sichere Familiennetzwerk. In der Szene Pfarrhauslaube wird er feststellen, dass sein Ideal vom Prediger als »Menschenfischer« weit vom Alltag des bürgerlichen Pfarrers entfernt steht. Wie zuvor sein Kunstideal in Konflikt mit der marktwirtschaftlichen Realität des Kunstmarkts geriet, spiegelt sich in dem Konflikt zwischen Onkel und Neffen der Widerspruch zwischen dem Ideal eines gläubigen Christen und den Anforderungen eines Pfarramtes. So gerne der Onkel es hätte, dass die familiäre Tradition des Pfarramtes gewahrt bleibt, so wenig traut er seinem Neffen diesen Beruf zu. ONKEL PIETER: Er wird ein schöner Pfarrer werden. Und reden kann er auch nicht. Zu Vincent Sag mal was. VINCENT: Geht auf Hollands fetten Weiden noch ein Samen auf? ONKEL PIETER: Unkraut meinst du? VINCENT: Das Wort Christi. ONKEL PIETER: Dazu ist die Kanzel da. Hinterher, nach der Predigt, kannst du meinetwegen einen Spaziergang machen, über Hollands fette Weiden, wie du sagst. Wenn ich es nur könnte. 35

Das Aneinander-Vorbei-Reden der Figuren verdeutlicht die gestörte Beziehung zwischen den Verwandten. Während Vincent in einem Gleichnis spricht, nimmt der Onkel seine Rede wörtlich. Es zeigt sich, dass der sterbenskranke Onkel seinen Glauben an Gott verloren hat. Sein Amt übt er nur aus Gewohnheit aus, es ist ihm zur Pose geworden. Ähnlich wie der Vater achtet er streng darauf, dass der Schein gewahrt bleibt, ist aber gleichzeitig von Wirkungslosigkeit seines Berufes überzeugt: »Jeden Sonntag habe ich auf der Kanzel gestanden, und die Worte des Glaubens gingen durch die Luft auf die Gemeinde nieder, durch die Luft.«36 Der ebenfalls als Pfarrer arbeitende Onkel Franz zeigt Verständnis für die resignierte Haltung von Onkel Pieter. Diese beiden Pfarrer schrecken Vincent in ihrer Bequemlichkeit, Oberflächlichkeit und Engstirnigkeit ab. Die Staatskirche, die sie vertreten, erscheint ihm heuchlerisch und

34 | Ebd. 35 | Matusche 2009a, 400. 36 | Sammer 2008, 104.

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Sinn entleert. Er rebelliert gegen die bigotte Lebenshaltung und ruft aus: »Euer Gott ist nicht meiner.«37 Matusche modelliert einen christlich besetzten Symbolraum, den er dem bürgerlichen gegenüberstellt. Hierfür greift er auf die christliche Symbolik des Fisches zurück, um van Gogh in der Nachfolge Jesu bzw. als Apostel des Glaubens zu inszenieren.38 So tritt Vincent in der ersten Szene als Angler mit Fischnetz auf, schenkt der alten Frau den Fisch, was in diesem Zusammenhang als eine geheime Übereinkunft zwischen Christen interpretiert werden kann. Diese demonstrative Solidarität mit den Schwachen wird im Verlauf des Dramas zum wesentlichen Charakterzug des Künstlers ausgebaut. Arbeiterfiguren und prekäre Existenzen fühlen sich zu Vincent hingezogen. Dies wird bereits in der ersten Szene im Gespräch zwischen der jüngeren Schwester und der alten Frau deutlich. Als die Schwester sich über die Unzuverlässigkeit und den Egoismus Vincents empört, wendet die alte Frau ein, dass er sie immer unterstützen würde. Sie unterstreicht seine christliche Grundhaltung und betont, dass die Schwester ihr nur etwas geben würde, »[w]enn etwas übrigbleibt. Vincent gibt gleich. Silbrig glänzende Fische.«39 Dadurch, dass Vincent der alten Frau die Fische bringt, bezeugt er seine Loyalität und Verbundenheit ihr gegenüber. Diese Verbindung steht für das Prinzip der Nächstenliebe und deutet auch auf eine verschwiegene Übereinkunft zwischen Künstler und randständigen Figuren hin. Der forcierten Hochmütigkeit der Schwester setzt er seine Mildtätigkeit und Mitleid mit der alten Frau, dem blasierten Ehepaar in London seine Solidarität mit dem Invaliden entgegen. Durch diese Aktionen entfernt sich der Protagonist vom bürgerlichen Milieu; es drängt ihn an die gesellschaftlichen Ränder, welche die Schattenseiten des imperialistischen Zeitalters freigeben. In London dreht er für den Invaliden den Leierkasten. Die daraus erklingenden Orgeltöne erinnern an einfache Arbeiterlieder und die sozialistische Arbeiterbewegung, die sich im 19. Jahrhundert angesichts der Ausbeutung der Arbeiterschicht in den Industriebetrieben herausbildete. Mit seinem Entschluss als Laienprediger ins Kohleabbaugebiet Borinage zu gehen, wechselt der Protagonist vom bürgerlichen ins proletarische Feld, wo er ein wahrhaftigeres Leben zu führen hofft.

Das Proletarische Feld: Ausweg? Lösung? Zu Lebzeiten van Goghs steht das Borinage im südlichen Teil Belgiens im spannungsvollen Kontrast zur bürgerlichen Welt. Es war eines der größten Bergbaugebiete Europas, an dem sich auch die sozialen Probleme der Zeit konzen-

37 | Matusche 2009a, 401. 38 | Siehe Matusche 2009a, 393f. 39 | Matusche 2009a, 393.

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trierten und die revolutionäre Arbeiterbewegung eines ihrer Zentren hatte.40 Matusche zeigt in dem Stück, wie van Gogh unter dem Eindruck der harten Lebensbedingungen der Arbeiter anfing zu zeichnen und begann die prekären Zustände zu dokumentieren. Diese Darstellung stimmt mit der Künstler-Biografie überein: in seiner ersten Schaffensphase versuchte van Gogh mit Kohlezeichnungen wie die Zeichnung Grubenarbeiter (1880) die Lebenswirklichkeit der Arbeiter einzufangen. Die kleinen Szenen geben Einblick in das Leben der Bergarbeiter, zeigen sie in gebückter Haltung, zerrissener Kleidung und mit müden Gesichtern.41 Auch aus den Briefen, die Vincent in der Zeit als Hilfsprediger im Borinage an seinen Bruder schreibt, gehen seine Anteilnahme und sein Mitgefühl hervor.42 In der Szene Im Borinage skizziert Matusche eine geschichtliche Situation, in der die Arbeiterschicht anfängt sich gegen die Verhältnisse zu wehren. In seiner neuen Rolle als Hilfsprediger wird van Gogh Zeuge eines Grubenunglücks und gesellt sich zu der aufgeregten Menschenmenge vor dem Grubeneingang. Vor den Toren des Schachtes, die von Soldaten versperrt werden, haben sich die Frauen der Bergarbeiter versammelt, um zu erfahren, was mit ihren Männern passiert ist. Ein Mann, der mit leicht spöttischem Unterton als Revoluzzer bezeichnet wird, verteilt Flugschriften und ruft gegen die Zustände auf. Er flieht, als ein Sergeant auftritt, um die versammelte Menschengruppe zu vertreiben. Der Sergeant entdeckt die Handzettel und verdächtigt sofort den ihm unbekannten Hilfsprediger die »Hetzschriften« verfasst zu haben. Vincent widerspricht, will aber – angesichts der katastrophalen Zustände – helfen und gibt sein letztes Hemd, welches als Verbandszeug für die verwundeten Arbeiter dienen soll. Verdutzt über so viel Aufopferungsbereitschaft starrt ihn der Sergeant an. In diesem Moment trifft vollkommen unvermittelt, Deus ex Machina, Theo ein und hilft Vincent aus der misslichen Lage. Er fordert ihn auf, nach Amsterdam zu gehen, dort Malunterricht zu nehmen und sich in Anatomie zu schulen. Für die Sache, wie Vincent betont, will er den Rat seines Bruders befolgen. Sein Ziel ist es, die Arbeiterfrauen zu porträtieren. Momentan würden diese sich noch sträuben, noch seien die Frauen nicht so weit. Von den anwesenden Arbeiterfrauen wird Vincent als Fremder wahrgenommen, seine selbstlose Hilfe scheint unerwünscht zu sein. Vincent resümiert: »Du spürst nicht die Sache, der sie dienen. Das Leid ist nutzlos.«43 Auch in den nächsten beiden Szenen wird Vincent als Fremdling im proletarischen Milieu wahrgenommen. In der Szene Hausstand wird er in einem düsteren Raum bei seinen Zeichenaufgaben gezeigt. Er hat ein Verhältnis mit 40 | Siehe Schlenstedt 1985, 630-646. 41 | Siehe Erpel 1959a, 102f. 42 | Siehe Erpel 1959a, 76. 43 | Matusche 2009a, 403.

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einer Frau angefangen, die bereits einen unehelichen Sohn hat. Zu dritt wohnen sie auf engstem Raum. Diese Frau entspricht der Prostituierten mit der van Gogh eine Zeit lang zusammen wohnte und in dem Aktbild Sorrow in gebeugter Haltung porträtiert hat.44 In dieser Szene bleibt die Frau die ganze Zeit über stumm und namenlos. Ihr dürftiges Zimmer, das sie sich nun mit ihrem Sohn und Vincent teilt, symbolisiert die Armut ihrer Klasse. Ein Bett steht in der Ecke, es gibt einen Tisch, an dem Vincent zeichnet, und einen Verschlag voll mit Kartoffeln und Krautköpfen. Die Dunkelheit des Raumes betont zudem die trostlose Atmosphäre.45 Die Raumästhetik entspricht der sozialkritischen, düsteren Malerei der frühen Phase des Künstlers, in welcher van Gogh in besonders dunklen Farben die Tristesse des Alltags, bäuerliche Szenen, Porträts und Aktbilder malte. Unvermittelt betritt ein Arbeiter das Zimmer und fordert Vincent auf, sich von der Prostituierten zu trennen; die Verbindung der beiden bringe die Gewohnheiten der Männer durcheinander und stifte Unordnung: »Wie soll das denn werden, wenn Du mit ihr in die Kneipe kommst, wo sie doch jeder gehabt hat. Man muß ja wegsehen. Soll das noch gemütlich sein?«46 Der Arbeiter zeigt keinerlei Verständnis für Vincents Verhalten, auch die Prostituierte, die mit dem Arbeiter das Zimmer betreten hat, steht ihm nicht bei, sondern bleibt stumm. Als der Arbeiter ihn am Ende der Szene fragt, was für ein Mensch er denn sei, stellt er Vincents (Künstler-)Identität grundsätzlich in Frage. Von dem Arbeiter aus dem proletarischen Umfeld verdrängt, verlässt Vincent den Ort und kehrt zurück ins Borinage. In der Szene Strohhütte ist der Künstler an einem Tiefpunkt angelangt. Körperlich versehrt, an Typhus erkrankt, haust er ganz allein in einer Hütte, sein Bett ist ein einfaches Strohlager. Zwar ist noch Dämmerung, doch langsam fällt Licht in die klägliche Behausung. Als er das Fenster öffnet, stellt er fest: »Es ist ja Tag.«47 In diesem Moment tritt der Sergeant aus der vorherigen Szene ein. Er hat den Flugblätter verteilenden »Revoluzzer« gefasst und führt ihn an einem Strick in die Strohhütte. Er vergleicht beide Existenzen und resümiert: »Ihn verstehe ich noch. Auch wenn er bei dem Grubenunglück die Flugschriften verteilt hat. Aber du bist ein Narr.« 48 Er betrachtet die geschwächten, vom Typhus gezeichneten Männer und bemerkt sarkastisch: »Anscheinend wollt ihr so ins ›Goldene Zeitalter‹ hinein.«49 Der Sergeant gebraucht den von Vergil geprägten Begriff, um auf die Utopien anzuspielen, die beide für sich verfolgen. Der Revoluzzer betrachtet in der jetzt hellen Hütte Vincents Bilder und 44 | Siehe Alyson Stein 1995, 84. 45 | Siehe Matusche 2009a, 404. 46 | Siehe Matusche 2009a, 405. 47 | Matusche 2009a, 406. 48 | Ebd. 49 | Ebd.

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fragt, warum er keine Farben nutze. Diese Befragung löst in dem Maler eine Initiation aus. Er beschließt nicht mehr die Trostlosigkeit des Arbeiterelends zu malen, sondern das Gegenteil, nämlich warme, intensive und farbenfrohe Räume. Selbstgewiss formuliert er, so würde er der Wahrheit näher kommen.50

Raum des Künstlers: Erhoffte Identität In Südfrankreich versucht der Maler seine Künstleridentität zu festigen. Weit entfernt vom kommerziellen Kunstmarkt der Städte in der ländlichen Umgebung der Stadt Arles zieht er in das gelbe Haus. Dieses Haus ist im kulturellen Gedächtnis zum Sinnbild einer versuchten Künstlerutopie avanciert. So schreibt der junge Brecht im Juni 1921 in sein Arbeitsjournal: »Man sollte doch irgendwo ein gelbes Haus gründen, wie van Gogh meint, in das man Leute mit Ideen und Wuchs zusammenpfercht, die dann sehen, wie sie miteinander zurecht kommen.«51 Aus soziologischer Sicht versucht sich van Gogh am autonomen Pol des künstlerischen Feldes weiter zu etablieren. Bourdieu beschreibt in Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes (1999), wie sich die Struktur des künstlerischen Feldes durch die wirtschaftlichen Prozesse im Laufe des 19. Jahrhunderts änderte. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Künstler sich vorwiegend über Mäzene finanzierte, verselbstständigt sich der Berufsstand im Laufe des Jahrhunderts und die künstlerische Arbeit wurde an die Regeln des Marktes gekoppelt. Innerhalb dieses Marktes unterscheidet Bourdieu zwischen dem autonomen und heteronomen Pol. Künstler des heteronomen Pols orientieren sich am Massengeschmack und kommerziellen Erfolg des Werkes, Künstler des autonomen Pols hingegen lehnen weltlichen Ruhm ab und orientieren sich am ideellen Wert der Kunst, sie verstehen sich als Avantgarde. An diesem autonomen Pol der Avantgarde unterscheidet Bourdieu zudem zwischen Arrivierten und Anwärtern.52 In Matusches Darstellung des Künstler-Raums klingt die Bohème des 19. Jahrhunderts an, was vorerst Freiheit verheißt. Die Topographie ist zunächst von der idyllischen Landschaft und Helligkeit der Provence geprägt, später verkehrt sich diese Idylle ins Gegenteil. In jeder Szene ist die Freiheit schon beschattet und ein Moment der Bedrohung und des Defizits enthalten. In diesem Raum versucht Vincent seine Identität zu stabilisieren. In den ersten vier Tagesszenen scheint diese Hoffnung sich zu verwirklichen, in den darauffolgenden Nachtszenen wird dieses Glück wieder dekonstruiert. Während die Tagesszenen durch die Erfahrung von Freundschaft, Liebe und künstlerischer Schaffenskraft gekennzeichnet sind, dokumentieren die Nachtszenen eine Dekonstruktion der Künstleridentität und spiegeln Krise und Ausgrenzung. Im 50 | Siehe ebd. 51 | Brecht 1994, 229. 52 | Siehe Bourdieu 1999, 197f.

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Verlauf der Handlung verdüstern sich die Farben; der intensive Farbenrausch mit den grünen Farben des Kornfeldes, den gelben Sonnenblumen, den roten Äpfeln der Allee schlägt um in eine dämmrige Farbenwelt der halbdunklen Innenräume des Nachtcafés und des Bordells.

Tagseite Die Tagesszenen beginnen und enden in Vincents gelbem Haus in Arles. Das neu eingerichtete Haus symbolisiert die stabilisierte Identität des Künstlers. Für Bachelard ist das Haus ein Ort, an dem sich Träume, Ängste und Erinnerungen des Menschen in Bildern speichern lassen. Es ist ein höchst phänomenologischer Ort, der mit Imaginationswerten angereichert ist und so eine hohe poetische Bildkraft besitzt: »Denn das Haus ist unser Winkel der Welt. Es ist – man hat es oft gesagt – unser erstes All. Es ist wirklich ein Kosmos. Ein Kosmos in der vollen Bedeutung des Wortes. Ist nicht, als Intimität gesehen, noch die schlichteste Wohnung schön?«53 In diesem Zusammenhang kann der hohe Symbolwert des Hauses in der Szene gelesen und die Veränderung in ihrer Bedeutung differenziert werden. Am Anfang betont Matusche die Offenheit des Hauses, in der die Haustür offen bleibt, sodass jeder es unangekündigt betreten kann. Diese Offenheit spiegelt die psychische Disposition des Künstlers wider, der sich in einem zufriedenen, angstfreien Zustand befindet. Matusche zeigt Vincent vor der Staffelei sitzend und ein gerade entstandenes Bild begutachtend. Es entspricht dem berühmten Bild Vincents Schlafzimmer in Arles54, auf dem ein kleines Zimmer mit massivem Holzbrett abbildet ist, das weit in den Raum hineinragt. Die blaue Wandfarbe wirkt leicht schmutzig, wodurch die gelbe Farbe des Bettes noch stärker hervorsticht. In der Szene ist Vincent äußerst zufrieden mit sich und resümiert seine derzeitige Lebenssituation: »Im eigenen Haus, dank Theo. Und im Süden.«55 Die Zeit der Unbehaustheit, wie er sie in der Strohhütte im Borinage erlebt hat, scheint vorbei. In diesem glücklichen Moment betritt ein Briefträger das Zimmer, er bringt den Geldbrief des Bruders. Gesellig setzt er sich an den Tisch und trinkt seinen Feierabendschnaps. Die Figur erinnert an das Bildnis Joseph Roulin (1888). Sie plaudern über die Landschaft, der Briefträger erzählt eine Anekdote von einem Besuch im Pariser Louvre und äußert seine Bedenken gegen die Kunst der Moderne und die frivolen Nacktbilder. Auch Vincents Schlafzimmerbild kritisiert er: »Und das Bild da? Was zeigt’s? Ein Bett. Was soll ein Mensch mit dem Bett eines anderen anfangen, auch wenn es nur auf einem Bild zu sehen ist.«56 Der Briefträger plaudert solange mit dem Künstler wie er denkt, dass 53 | Bachelard 1960, 35. 54 | Siehe Alyson Stein 1995, 172. 55 | Matusche 2009a, 407. 56 | Matusche 2009a, 408.

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dieser seinen Lebensunterhalt über die Kunst bestreitet. Obwohl er sich über die Unsittlichkeit der Bilder im Louvre beklagt, toleriert er den Maler, weil er davon ausgeht, dass dieser wirtschaftlich arbeitet und sich so in gesellschaftliche Strukturen eingliedert. Als er erfährt, dass Vincent von den Almosen seines Bruders lebt und bislang kein einziges Bild verkaufen konnte, verliert er die Fassung: »Nein, so was. Ich sitze hier und trinke bei Ihnen – und höre nicht auf das, was die Leute sagen.«57 Der verblüffte Vincent erfährt, dass er von den Bewohnern schon den Spitznamen der rote Fuchs erhalten habe und seine unkonventionelle Lebensweise und sein apartes Aussehen beargwöhnt werde. Dem Briefträger wird es in Vincents Umgebung unbehaglich und er wendet sich zum Gehen. Wie der Sergeant sieht er keinen Sinn in der Lebensführung van Goghs. Allerdings empfindet er Mitleid für den »Hungerleider«58 und erteilt ihm den Rat, sich als Stubenmaler zu verdingen. Aufgeschreckt von diesem Vorschlag bewegt sich Vincent ins Freie und sagt sich: »Ich muß doch das Haus verschließen.«59 In dieser Bewegung zeigt sich die Brüchigkeit der mühsam aufgebauten Künstleridentität – mit dem Abschließen des Hauses reagiert die Figur auf die Gefahr des Selbstverlustes. In der sommerlichen freien Natur rund um Arles begegnen dem Künstler lebensbejahende und sinnliche Frauenfiguren, die sein Selbst mehr festigen bzw. seine Identität als Künstler bestätigen. Weibliche Verlockung wird zum tragenden Motiv – der Naturraum zum Locus amoenus. Während er ein grünes Kornfeld zeichnet, trifft Vincent in der Szene Mittag auf eine Bäuerin und leistet ihr in der Mittagspause Gesellschaft. Zwischen den beiden entwickelt sich eine intime Unterhaltung, in der die Bäuerin Vincents künstlerische Arbeit bestätigt. Im Gegensatz zu dem Briefträger erkennt sie die Qualität seines Bildes an und gibt auf Vincents knappe Fragen längere, tiefsinnige Antworten. Sie versteht instinktiv, dass es sich bei dem gemalten Kornfeld um kein realistisches Abbild, sondern um ein Gleichnis handelt, das den Bibelgleichnissen ähnelt, die sie aus den Sonntagspredigten kennt. Die Bäuerin vertritt ein äußert bodenständiges Prinzip, ihr Zugang zur Welt ist naiv und bildungsfern. Sie glaubt, dass die höheren Ideen von Liebe oder Natur nicht für sie gelten: »Liebe ich meinen Mann? Weiß es nicht. Die Nachbarn und sie mich? Aber sonntags in der Kirche hören es alle aus dem Dorf, daß wir uns lieben sollen.«60 Sie hat eine Ahnung von der romantischen Liebe, spürt aber, dass diese Idee für sie nicht gilt. Bürgerliche Konvention sind ihr fremd, der einfache Materialismus liegt ihr näher. Mit Bewusstsein für den Augenblickgenießt sie die scheinendende Sonne und mit dem Körper im Gras zu liegen. Sie fordert den Maler auf 57 | Ebd. 58 | Ebd. 59 | Matusche 2009a, 409. 60 | Ebd.

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diese sinnliche Erfahrung mit ihr zu teilen.61 Obgleich sie verheiratet ist, lockt sie Vincent zu sich, der Maler folgt dieser bäuerlichen Einfachheit. In der folgenden Szene Roter Fuchs und gelbe Katze trifft Vincent auf das Mädchen Jacky. Sie wird ihm zur Muse, inspiriert ihn, nimmt die Natur ähnlich intensiv wie der Maler wahr. Sie begegnen sich an einer Apfelallee an einer Bude, wo Jacky auf die Ernte aufpasst. Sie ist frech und fordert ihn auf, ihr einen von den Äpfeln zu geben, die er gerade vom Baum gepflückt hat.62 Das Mädchen hat auffallend helles Haar und nennt sich die gelbe Katze. Mit ihrem blonden Haar erinnert sie an das 1882 von van Gogh gemalte Bild Mädchen an einer Haltestelle.63 Auf dem Bild ist ein junges Mädchen zu sehen, das allein, mit einem Korb im Arm und das Gesicht dem Maler zugewandt, auf der Straße steht. Sie trägt ihr langes blondes Haar offen. Sie könnte das Vorbild für diese traumhafte Figur Jacky sein, die sofort mit Vincent vertraulich redet und ihm ihre Lebensgeschichte erzählt. Sie weiht Vincent ein, dass sie von zu Hause ausgerissen ist und das Ziel ihrer Reise das Meer sei. Ihre freie, ungebundene Lebensweise, die voller Sehnsucht und Lebensfreude ist, wirkt impulsgebend auf den Maler. Sie fühlen sich zueinander hingezogen. Vincent versenkt sich in ihrem Haar, berührt ihre Stirn und findet in ihrer Nähe Ruhe. Die beiden erscheinen wie Liebende. Mit dem Blick auf ein Sonnenblumenfeld beschließt Jacky: »Das Meer kann nicht schöner sein als jetzt das Land. Die Sonnenblumen leuchten, sie haben das Gold des Sommers gesammelt.«64 Unvermittelt löst sich Vincent aus der Umarmung und folgt dem wilden Impuls sofort die Sonnenblumen zu malen. Um zu gewährleisten, dass ihn niemand stört, schließt er diesmal das Haus ab. Das ist tragisch, denn so hört er in der folgenden Szene mit dem Titel Sonnenblumen nicht, wie Jacky an seine Tür klopft. Sie hat ihm zum Malen einen Strauß Sonnenblumen gebracht. Später wird er dies bereuen und die zahlreichen Sonnenblumen-Bilder (z.B. Sonnenblumen (1888)65, die in Arles entstanden, mit Jacky assoziieren. Als Jacky zu dem verschlossenen Haus kommt, kündigt sich Bedrohung und eine Umkehr des glücklichen Künstlerraumes an. Jungen aus Arles wollen mit roter Farbe das gelbe Haus beschmieren. Jacky verhindert den Vandalismus, vertreibt die Jungen und beschützt so Vincents Haus. In dieser Szenerie taucht plötzlich der von Vincent erwartete Maler Gauguin auf. Er fragt Jacky, ob Vincent in diesem Haus wohne, diese bejaht merklich aufgewühlt und empört sich, dass dieser »seine gelbe Katze« nicht hineinlasse. Während Gauguin sich noch über diesen Spitznamen amüsiert, trifft die enttäuschte Jacky die Entscheidung, nun 61 | Siehe Matusche 2009a, 410. 62 | Siehe Matusche 2009a, 411. 63 | Siehe de la Faille 1939, 44. 64 | Matusche 2009a, 411. 65 | Siehe Alyson Stein 1995, 173.

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ans Meer zu gehen und verschwindet unvermittelt aus der Szene. Gauguin überlegt sich einen Trick, um ins Haus zu gelangen und pfeift das Lied des Styx aus Orpheus in der Unterwelt »Ich war ein Prinz einst von Arkadien«. Zu van Goghs Lebzeiten war diese Melodie sehr populär. Mit dem musikalischen Zitat stellt Matusche einen Bezug zu der von Offenbach komponierten Antikenparodie her, die 1870 in Paris Premiere hatte und eine Sensation der Saison war. Das Libretto zu der Operette stammt von Hector Crémieux. In der DDR hat Peter Hacks unter Vorlage des Librettos eine eigene sozialistische Version dieser Operette geschrieben, die 1965 veröffentlicht wurde und Matusche sicherlich kannte.66 Diese Melodie weckt Vincent aus seinem Trancezustand auf und ruft Erinnerungen an Paris wach. Als Vincent von Gauguin erfährt, dass Jacky verschwunden ist, ist er bestürzt. Doch wie die Figur des Styx in Offenbachs Oper rät Gauguin ihm davon ab, ihr zu folgen und ermahnt ihn: »Stell dich nicht so an mit der Kleinen. Ich habe eine Frau verlassen und Kinder.«67 Kameradschaftlich rät er seinem Kollegen, nicht der Frau nachzutrauern, sondern sich auf seine Kunst zu konzentrieren und die Sonnenblumen zu malen. In Analogie zu dem antiken Mythos um das Liebespaar Orpheus und Eurydike zieht Gauguin den Künstler mit in die Unterwelt, verstößt die geliebte Frau und lässt die Kunst zum wichtigsten Lebensgegenstand werden.

Nachtseite Mit dem Einzug Gauguins verwirklicht sich van Goghs Traum in einer Künstlergemeinschaft zu leben. Doch nimmt dieser utopische Raum bald Züge einer Unterwelt an. Der Maler schirmt sich von der Außenwelt ab, konzentriert sich manisch auf seine Kunst und den Kollegen Gauguin. Es ergeben sich Spannungen zwischen den beiden Malern, deren gegensätzliche Persönlichkeiten van Gogh in zwei Stuhlporträts zum Ausdruck gebracht hat. Während er sich selbst als rustikalen, hellen Holzstuhl malte, ist Gauguin durch einen eleganteren Stuhl mit dunkleren Holztönen symbolisiert. Zudem ist van Goghs Stuhl am Tag, Gauguins hingegen mit einer brennenden Kerze auf dem Stuhlsitz in der Nacht gemalt.68 Die Spannung zwischen den Künstler greift Matusche in der Bildlichkeit der Szene auf, die Farbigkeit in der Szenerie verdunkelt sich. Zudem verweisen die Szenentitel Absinth und Amoklauf auf Bedrohung und Aggression. Der stark dosierte, grüne Alkohol Absinth führt durch den Inhaltsstoff Wermut zu Visionen und erinnert kulturgeschichtlich an Exzesse und Abstürze der Künstlergeneration dieses Zeitalters.69

66 | Siehe Offenbach 1970. 67 | Matusche 2009a, 416. 68 | Siehe Alyson Stein 1995, 224f. 69 | Siehe Kreuzer 1968, 212.

2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens

In der Szene Absinth ist van Gogh zunächst abwesend. Unter einem klaren Sternenhimmel sitzt eine verwitwete Arlesierin auf der Terrasse eines Cafés. Die Szenerie erinnert an van Goghs Bild Terrasse des Cafés an der Place du Forum am Abend (1888)70 und das Porträt Die Arlesierin (1888)71. Die Frau plaudert mit einem Kellner, blickt in den Sommernachtshimmel und wünscht sich beim Anblick einer Sternschnuppe Glück in der Liebe. Nach und nach füllt sich die Bar, Gauguin trifft mit suchendem Blick ein, dann findet sich eine Gruppe von feiernden Schaustellern ein. Ein dickleibiger Schausteller wirft ein Auge auf die Arlesierin. Er setzt sich zu ihr und wirbt um diese leicht verbitterte, zu stark geschminkte Frau: »Machen Sie diesen Zufall zum Schicksal. Zu ihrem und meinem Schicksal. Sie an meinem Glücksrad zu sehen! Ich habe meine Fülle, Madame dagegen ihre Schminke.« 72 Geschickt weiß ein Mädchen der Gruppe die Situation so zu dirigieren, dass der Schausteller die Gruppe, samt der Arlesierin, zu sich nach Hause an seinen Kanonenofen einlädt. Nachdem die Gruppe das Lokal verlassen hat, befinden sich nur noch die beiden Maler an der Theke. Sie trinken Absinth. Die Szenerie erinnert an das Bild Das Nachtcafé an der Place Lamartine in Arles (1888)73, in dem im starken Rot-Grün-Kontrast die schummrige Atmosphäre eines Nachtlokals eingefangenen ist. In Matusches Szene halten Vincent und Gauguin in dieser Atmosphäre ein Zwiegespräch, in welchem sie ihre Situation kritisch reflektieren. Der kühl denkende Gauguin warnt van Gogh vor seiner ungebremsten Schaffenskraft und ermahnt ihn: »Dein Schädel platzt ja bald« 74 Mit dem Bild des überhitzten Kopfes greift er das Ikarus-Motiv auf, warnt den Künstler vor Selbstüberschätzung und Eigensinn. Vincent ist sichtlich überspannt. Nun, nachdem Jacky ihn verlassen hat, hat er keine kühle Stirn, um sich zu erholen. Im Gegensatz zum idealistischen Vincent, ist Gauguin weitaus pragmatischer, sucht die Geselligkeit. Seine Lebensweise ist viel mehr auf Genuss und weltliche Anerkennung ausgerichtet. Er misst sich an der Karriere und dem Erfolg von zeitgenössischen französischen Malern des Impressionismus wie Manet oder Renoir. »Und wer kennt uns?« fragt er Vincent und beklagt: »Wir stecken in der eisigen Isoliertheit.« 75 Vincent setzt sich viel weniger mit materiellen Fragen auseinander, er hat sich vollständig von den gesellschaftlichen Normen und Maßstäben seiner Epoche entfernt. Er begreift sich als Avantgarde, die, da sie ihrer Zeit voraus ist, immer

70 | Siehe Alyson Stein 1995, 184. 71 | Siehe Alyson Stein 1995, 203. 72 | Matusche 2009a, 419. 73 | Siehe Alyson Stein 1995, 183. 74 | Matusche 2009a, 421. 75 | Matusche 2009a, 421.

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das Schicksal habe, nicht verstanden zu werden. Er resümiert: »Die Zeit will, daß sie gefordert wird, sonst wäre sie selbst nichts.« 76 Die angetrunkenen Künstler sind ihrer Uneinigkeit müde und gehen auf Gauguins Vorschlag hin in ein Bordell. Dort sind sie bekannte Gäste. In dem Bordell herrscht eine heimelige Atmosphäre, die Bordellchefin sitzt im Salon, ihre Angestellten sind gerade dabei Eierkuchen zu backen. Die beiden Männer setzten sich und warten. Im Gegensatz zu dem sich weltmännisch gebenden Gauguin, der spielerisch mit Frauen umgeht, nimmt Vincent die Würde der Frauen sehr ernst. Dies wird in der Szene Amoklauf nur allzu deutlich. Während Vincent schweigt, macht Gauguin Konversation. Als die Mädchen kommen, trägt er zur Unterhaltung bei, singt Lieder, spielt auf der Gitarre und kokettiert mit den Mädchen. Der gebildete Gauguin findet einen Zeitvertreib, in dem er aus der griechischen Mythologie zitiert und überlegt, welche der drei Mädchen seine Schönste sein soll und den goldenen Apfel des göttlichen Paris verdiene. Es liegt nahe, dass sich Matusche hier von dem 1964 am Deutschen Theater uraufgeführten Stück Die schöne Helena von Peter Hacks inspirieren ließ. Dieser fertigte unter Vorlage von Hector Crémieux’ Opernversion ein Stück an, in dem der Streit um den goldenen Apfel den Auftakt der Geschichte gibt.77 Den empfindlichen Vincent erinnert das Apfelgleichnis an Jacky, er ist gedanklich abwesend und reagiert nicht, als ein Mädchen ihn anspricht und ihn damit aufzieht, er solle seine tiefe Liebe beweisen, indem er sich mit dem Rasiermesser das Ohrläppchen abschneide. Gauguin spottet: »Er träumt. Ich habe von einem Apfel für die Schönste gesprochen, aber er sieht sich und eine gelbe Katze an einer Obstbude stehen.« 78 Provoziert von diesen Worten greift sich Vincent sein Rasiermesser und geht auf Gauguin zu. Die Mädchen schreien, er wendet sich von ihnen ab und rennt hinaus. Die berühmte Tat wird hinter den Kulissen ausgeführt, erst nach vollzogenem Spektakel erscheint der verwundete Vincent wieder im Zimmer und legt das in Papier gewickelte Ohrläppchen als Geschenk für die Kokotte auf den Stuhl. In der Interpretation von Matusche wird das Abschneiden des Ohrläppchens nicht als Tat eines Geisteskranken gedeutet, sondern mit seinem Erschöpfungszustand und der aufwühlenden Erinnerung an seine geliebte Jacky erklärt. Die Affekthandlung spielt sich in dem außerhalb der Gesellschaft stehenden Raum des Bordells ab, der nach Foucault als Heterotopie definiert werden kann, da dort umgekehrte moralische Gesetze gelten. Als Vincent mit einer blutenden Wunde am Ohr zurückkommt, streichelt eines der Mädchen über den Verband und fordert ihn auf, sofort ins Spital zu gehen.79 Der Konflikt scheint in diesem internen sozialen Kreis aufgelöst, 76 | Ebd. 77 | Siehe Hacks 1964. 78 | Matusche 2009a, 424. 79 | Siehe ebd.

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doch spannt er sich auf tragische Weise in der gesamten Stadt aus. Die aufgeregten Bürger fordern den Maler auf, die Stadt sofort zu verlassen. Dieser Konflikt zwischen Bürger und Künstler wird im Drama ausgespart. Auf die Szene im Bordell folgt die in der Nervenheilanstalt. Unter dem Titel Endlos scheinende Gang geht die dramatische Figur an den Gittern der Insassen der Heilanstalt vorbei. Ironischerweise steht am Ende dieses Ganges die nächste Szene mit dem Titel Die Freiheit der Gesellschaft. Die Gesellschaft, namentlich die Bürger von Arles, haben sich per Petition die Freiheit genommen, den Maler als wahnsinnig und gefährlich zu erklären und aus der Stadt zu verweisen.

Einsamer Raum der Heilanstalt Nachdem sich van Gogh das Ohrläppchen abgeschnitten hat, wird er in die Heilanstalt in St. Remy gebracht. Dieser Anstalt obliegt gerade im 19. Jahrhundert die Funktion abnormes Verhalten zu kanalisieren.80 Dieser von der Gesellschaft abgeschlossene Raum stellt nach Foucault eine Abweichungsheterotopie dar, d.h. ein Raum dem die soziale Aufgabe zukommt, Formen des Irrationalen bzw. Anormalen von der Gesellschaft auszuschließen und fernzuhalten. Die Bedeutung der Heterotopie geht nach Foucault weit über die einfache Ausgrenzungsfunktion einer Heilanstalt hinaus, allein ihre bloße Existenz verweist auf strukturelle Mechanismen und Machtgefüge der Gesellschaft. Im Umkehrschluss geben Heterotopien Auskunft über den Zivilisationsstand, über Tabus, Normen und Konventionen einer Gesellschaft. In diesen »andersartigen Räumen«81 spiegeln sich die Sehnsüchte und Wünsche einer Zivilisation wider; in ihnen kommen sexuelle, fanatische, triebhafte, neurotische Seiten ungefiltert zum Vorschein. Neben Bordellen und Psychiatrien wertet Foucault auch Friedhöfe, Rummelplätze, Schiffe als Heterotopien, als Räume außerhalb aller Räume der Gesellschaft. Ihre strukturelle Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie über das Potential verfügen, einen Wahrnehmungswechsel hervorzurufen und lineare Modelle von Zeitlichkeit und Räumlichkeit aufzubrechen.82 Hat Vincent das Bordell als Sehnsuchtsort sexueller Phantasien noch aus freiem Willen besucht, mit der Absicht ein Mensch unter Menschen zu sein,83 wird sein Gang in die Anstalt unter Anwendung von Gewalt ausgeführt. Sein Handeln bzw. seine Person wird als pathologisch eingestuft und so systematisch von der Gesellschaft ausgegrenzt. Diesem Weg in die Anstalt widmet Matusche in dem Drama besondere Aufmerksamkeit. Die nur drei Sätze fassende Szene mit dem Titel Endlos scheinender Gang drückt einen fundamentalen Verlust an Orientierung des Subjekts aus. Vincent ruft: »Wohin bringt ihr mich? Schlagt nicht. 80 | Siehe Foucault 2012, 322. 81 | Foucault 2012, 321. 82 | Siehe Foucault 2012, 323f. 83 | Siehe Matusche 2009a, 422.

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Ich bin doch nur krank.«84 Die sonst leere, weiße Papierseite hebt sich grafisch ab und drückt mit dieser Leerstelle die Unfassbarkeit der Vorgänge aus. Diese Optik bzw. die durch die Buchtypografie hervorgehobene Leerstelle erzeugt ein Innehalten während der Lektüre des Künstlerdramas. Auf der nächsten Seite erfolgt ein Perspektivwechsel. Vom Fenster seines Büros beobachtet der Direktor der Heilanstalt, wie Vincent im Innenhof sitzt und malt. Er ist genervt, da bald »Tischzeit« ist, und der »Herr aus Paris« sich zu dem verabredeten Termin verspätet hat.85 In diesem Moment tritt Theo auf und kündigt an, Vincent nach Nordfrankreich bringen zu lassen. Als er sich über die Art und Weise, wie sein Bruder behandelt wurde, beschwert, verweist der Direktor selbstgerecht auf die Petition der Bürger von Arles und bemerkt sarkastisch, dass er sich ja innerhalb der Mauern frei bewegen könne. Als Beweis zeigt er dem besorgten Bruder, wie Vincent die Insassen im Innenhof malt. Theo ist von der Inhaftierung und der Situation des Bruders entsetzt: »Er malt, als wolle er dem Tod entgehen. Ich muß zu ihm.« 86 Vincent befindet sich in einer Krisensituation, da er faktisch von der Gesellschaft exkommuniziert ist und sich seiner selbst nur noch über die Malerei vergewissern kann. Auf die Frage Theos, warum er auch hier male, antwortet er: »Ich wollte es herausfordern, daß ich auch hier noch da bin.«87 Das Bild, das er malt, entspricht zwei unterschiedlichen Bildern aus dem Werk van Goghs. Matusche hat Bildmotive aus der Schwarz-Weiß-Zeichnung Die Wanderung der Gefangenen (1890)88 und dem idyllischen Bild Garten des Hospitals in Arles (1888)89 zusammengefügt. Er kontrastiert so die liebliche Umgebung des Innenhofes mit der Trostlosigkeit der stumpf im Kreis laufenden Gefangenen. Wie in van Goghs Zeichnung wird der Künstler in der Szene von den Insassen nicht beachtet, laufen diese doch automatisiert und bezuglos voreinander her. Der Bruder geht in der folgenden Szene Herausforderung in den Innenhof. Als Vincent ihn wahrnimmt, freut er sich über die Maßen, dankt ihm für die finanzielle Unterstützung und verspricht ihm das Geld unter allen Umständen zurückzugeben. Theo ist über den Zustand des Bruders so bestürzt, dass er ihn an den Schutz Gottes ermahnt. Daraufhin setzt sich Vincent in einem Selbstgespräch mit seinem Glauben auseinander.

84 | Matusche 2009a, 425. 85 | Siehe Matusche 2009a, 426. 86 | Matusche 2009a, 427. 87 | Matusche 2009a, 428. 88 | Siehe Alyson Stein 1995, 221. 89 | Siehe Alyson Stein 1995, 230.

2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens THEO: Glaubst du an Gott Vincent? VINCENT: Das ist ein großes und lebendiges Wort, von diesem Wort aus begann es. Die Menschwerdung im Menschen. Der Mensch braucht das Du, um zu seinem Ich zu gelangen. Sich selbst zu begegnen, das ist ein Weg, sage ich dir. Dich zu entreißen, aus der Einsamkeit heraus, und wieder in ein Unfaßbares hinein, das doch nur mit dir Gestalt werden kann. […] Der Mensch hat nicht nur die Unendlichkeit vor sich, er muß auch mit ihr fertig werden. Wenn der Mensch sie und alles erfaßt hat, wird er wissen, was Unendlichkeit ist, und mit dieser leben. Ich sehe Sterne auf mich zurasen, aber ich irre mich, ich stürze ihnen entgegen. Nur die Erdenschwere hält mich noch. Seine Malgeräte entfallen ihm. THEO: Was ist dir? Ist es das Furchtbare? Hält ihn, mit ihm niedergehend. Ja, Kopf an Kopf, und einschlafen wie in unserer Kindheit. 90

In dieser Situation der tiefsten Vereinzelung setzt sich das vereinsamte Ich mit seiner Existenz und der Frage nach dem Tod auseinander. Seine Überlegungen zielen nicht auf seine individuelle Situation, sondern nehmen allgemeinen Charakter an. Die Künstlerfigur spricht nun nicht mehr innerhalb der internen Kommunikationsebene zu seinem Bruder, viel mehr wendet sie sich an die imaginierte Menschheit bzw. direkt an das Publikum. In seiner Rede umkreist er die Möglichkeit der Utopie. Hatte der Sergeant angesichts des jämmerlichen Zustands des Künstlers noch spöttisch vom Traum des Goldenen Zeitalters geredet, wendet sich Vincent dieser Möglichkeit nun ernsthaft zu. Der Glaube erscheint ihm dabei als eine Voraussetzung für das humanistische Ziel der Menschenbildung (»Die Menschwerdung des Menschen«91). Auch müsse sich der Mensch in seinem Sein verstehen. Erst durch diesen Prozess könne er die existentielle Leere bzw. Sinnlosigkeit des Daseins (»die Einsamkeit«92) überwinden. In diesem wahnhaften Monolog redet sich der Künstler in Rage. In seiner Rede schwingt die Sehnsucht nach der Einheit von Körper und Geist mit, eine Form der Transzendenz, die ihn in der Unendlichkeit aufgehen lasse. In diesem Zusammenhang zitiert Matusche aus dem Briefwechsel zwischen van Gogh und seinem Bruder Theo, wo Vincent schrieb, dass er in der Malerei die »[…] Unendlichkeit mehr empfinde als alles Übrige.«93 In dieser Szene zeigt sich eine Selbstverlorenheit des Malers. Schon zuvor zeichnete sich sein Charakter durch fortwährende Unruhe, unmotivierte Handlungen und Suchbewegungen aus. Auf der rastlosen Suche nach Identität wurde er immer weiter aus dem sozialen Raum ausgegrenzt – eine innere Rastlosigkeit, die sich im künstlerischen Werk ausdrückt. So bemerkt Jaspers in einer 90 | Matusche 2009a, 428f. 91 | Matusche 2009a, 428. 92 | Ebd. 93 | Erpel 1959b,157.

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Studie zu van Gogh: »In allen Werken ist ein angespanntes Suchen.«94 In dieser Weltabgewandtheit erfährt er das eigene Ich als etwas nicht Fixierbares. Diese Erkenntnis und die Erfahrung des Selbstverlustes lassen sich mit Bachelards Phänomenologie des Raumes lesen. Dieser sucht das Sein im Raum zu verorten und kommt zu dem Schluss, dass eine Fixierung unmöglich sei. Bachelard stellt eine Dialektik von Drinnen und Draußen auf und definiert die Seinsweise des Menschen als halboffen und spiralförmig: »Und wenn es das Sein des Menschen ist, das man bestimmen möchte, dann ist man nie sicher, sich selbst näher zu kommen, wenn man in sich selbst ›heimkehrt!«95 Zum Ende des Ausbruchs kehrt er von der exzentrischen Ebene des Monologs wieder auf die dialogische Ebene des inneren Kommunikationssystems zurück. Seine Ankündigung, dass er von einer fremden Macht ergriffen werde, weist schon auf den kommenden Selbstmord hin. Dramaturgisch ist dieser Monolog als Entscheidungsmonolog einzuordnen, da das in die Krise versetzte Ich sich einer hypostasierten Gesellschaft gegenüberstellt und überlegt, welchen Rang es in dieser inne hat und eine, für den weiteren Dramenverlauf existentielle Entscheidung trifft.96

Letzte Station: Unwirklicher Raum In den letzten Szenen des Dramas wird die enge Verknüpfung zwischen Bildraum des Werkes van Goghs und dem Sprachraum des Dramas nur allzu deutlich. Der Künstler entfernt sich von der sozialen Umgebung und in der Darstellung des Raumes erhöht sich die subjektive Wahrnehmung, in der Gefühlszustände auf den ihn umgebenen Raum projiziert werden. Die Szenen konzentrieren sich auf die Innerlichkeit des Malers und zeigen sein Aus-derWelt-treten. Ist die Figur zu Beginn des Dramas noch ganz klar in der Welt verortet und positioniert sich im bürgerlichen Feld, so entfernt er sich im Verlauf des Dramas nicht nur vom bürgerlichen Milieu, sondern auch von der Bohème und der Avantgarde. Besonders in den letzten Szenen werden von den Figuren die Position des Außenseiters, des Wahnsinnigen der Gesellschaft, und die in der letzten Lebensphase geschaffenen Bilder reflektiert. In einem Dialog zwischen dem Maler und seinem Arzt Dr. Gachet wird das soeben gemalte Landschaftsbild in Beziehung zu seinem mentalen Zustand gesetzt und so eine psychologische Bedeutungsebene eröffnet. DR. GACHET: In ihren jetzigen Bildern ist keine Ruhe mehr. VINCENT: Habe ich diese jemals gehabt? DR. GACHET: Es flammt die Landschaft, selbst der Himmel auf.

94 | Jaspers 1949, 158. 95 | Bachelard 2012, 173. 96 | Von Matt 1976, 83.

2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens VINCENT sich erhebend: Obwohl ich nicht mehr in Arles bin. Hier im Norden ist die Sonne längst nicht so kräftig wie im Süden. DR. GACHET: Sie sind der Sonne zu nahe gekommen. 97

Das hier imaginierte Bild der unruhigen, entflammten Landschaft spiegelt die innere Unruhe und die Nervosität des Malers wieder. Dieser Bildraum kann unter Rekurs auf Gaston Bachelards Theorie der Poetik des Raumes als Widerhall einer tieferen Bewusstseinsebene verstanden werden. Bachelard, der sich mit dem Sein des Menschen in der Welt beschäftigt, entwickelt die Theorie der Poetik des Raumes. In Anlehnung an Bergsons Gedächtnistheorie entwickelt Bachelard eine Phänomenologie des Raumes. In dieser werden die Erfahrungen, die ein Individuum in einer bestimmten Räumlichkeit durchlebt, in Verhältnis zu seinem individuellen Gedächtnis und den dort abgespeicherten Bildern gesetzt. Nach Bachelard habe das dichterische Bild das Potential, diese abgespeicherten Gefühle und Erfahrungen hervorzuholen. An einer Reihe von literarischen Beispielen verdeutlicht er seine These und zeigt, dass diese poetischen Bilder ein hohes Maß an Ursprünglichkeitswerten besitzen, d.h. sie vermögen ein bestimmtes Gefühl und Raumerlebnis auszudrücken, welches außerhalb von logischen Zusammenhängen steht. Bei der Lektüre dieser dichterischen Bilder stellen sich beim Leser Empfindungen ein, die unwillkürlich eine Verbindung zum individuellen Gedächtnis und damit den abgespeicherten Raumbildern herstellen. Diese Wirkungsweise fasst er folgendermaßen zusammen: »Das dichterische Bild ist keinem Schub unterworfen. Es ist nicht das Echo einer Vergangenheit. Eher ist es umgekehrt: durch den Aufklang eines Bildes werden Echos in der fernen Vergangenheit geweckt, und es ist kaum abzusehen, bis zu welcher Tiefe diese Echos hinabreichen, ehe sie verhallen.«98 Auch die in dem Künstlerdrama entworfenen Bilder verlagern die Handlung auf eine innere Ebene und reichern den abgebildeten Raum mit imaginierten Gefühlswerten an. Die verschiedenen Topographien und Spielorte des Dramas – darunter Vincents gelbes Haus, das schummrig beleuchtete Café in Arles oder das Sonnenblumenfeld der Provence – sind mit Imaginationswerten angereichert. Diese symbolische Anreicherung verleiht den Bildern eine psychologische Tiefendimension, welche dazu dient, eine Sinngrenze zu überschreiten und aufzuzeigen, welchen Einfluss die Imagination auf die Wirklichkeit besitzt.99 Dieser letzte semantische Raum lässt die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmen. In der Umkehrszene Gelbe Katze und roter Fuchs wird Vincent mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Neben dem Haus des Arz97 | Matusche 2009a, 430. 98 | Bachelard 1960, 10. 99 | Bachelard 1960, 28f.

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tes steht der Wohnwagen eines Schaustellerehepaares. Hier wohnt die Arlesierin, die mittlerweile mit dem beleibten Schaubudenbesitzer verheiratet ist. Ohne sie wiederzuerkennen malt Vincent die Frau. Erst als sie ihn anspricht und an die Schicksalsnacht in Arles erinnert, beginnt ein Gespräch zwischen ihm und dem Ehepaar. Dieses versichert dem misstrauischen Vincent, sich nicht bei der Bürgerpetition beteiligt zu haben. Während sie reden, fängt der Schaubudenbesitzer plötzlich an zu weinen, da ihn Vincent an das Schicksal von Jacky erinnert: »Ich weiß auch, was Sie betroffen hat, unserem Kätzchen ist es nicht anders gegangen.«100 Es stellt sich heraus, dass die vagabundierende Jacky auf ihrem Weg zum Sehnsuchtsort Meer in der Hafenstadt von Matrosen vergewaltigt wurde. Dort haben die Schausteller das traumatisierteMädchen aufgegriffen, durch die Gewalttat hat sie den Verstand verloren. Als kurz darauf Jacky und Vincent wieder aufeinandertreffen, ist die Harmonie des ersten Treffens zerstört. Zwar singt Jacky eine Strophe über die einstige Verbundenheit des roten Fuchses und der gelben Katze, doch erkennt sie Vincent nicht mehr, als er ganz nah und ostentativ vor ihr steht. Schon in der Liedstrophe kündigt sie an, dass ein »gräßliches Vieh«101 die Verbundenheit und Einheit der beiden untergraben hat. Symbolisch für die Versehrtheit steht auch das kaputte Glücksrad der Schausteller, was bedeutet, dass Fortuna die Liebenden verlassen hat. Die nächste Szene Strahl im Chaos findet nachts statt und entspricht der Stimmung des berühmten Bildes Sternennacht (1889).102 Von der Begegnung mit Jacky aufgewühlt, halluziniert Vincent und spricht zu sich selbst. Angesichts der Gewalttat, die an seiner Geliebten verübt wurde, setzt er sich mit dem Motiv des Mordes auseinander und klagt: »Schweigen, immer das Letzte. […] Die Ordnung bleibt ungestört. Außerdem üben wir das Morden immer feiner mit der Seele.«103 Da wird es an einem entfernten Punkt hell, in der Helligkeit erstrahlt der einstige Künstlerkumpan Gauguin. Er erzählt Vincent, dass er gerade dabei sei, seinen Südseetraum Tahiti zu verlassen. Er hat einen Reisekoffer mit Bildern dabei, die er in Paris ausstellen will, um endlich Ruhm zu erlangen. In der Ferne sind der tropische Strand und eine winkende Frau zu erkennen. Sie war zwei Jahre Gauguins Geliebte, nun will er sie zurücklassen. Vincent ermahnt ihn seine Frau nicht zu verlassen: »Verlaß sie nicht. Auch sie hat dir Bilder gegeben. Denk an Jacky mit den Sonnenblumen.«104 Doch Gauguin verschwindet bzw. seine Gestalt verwandelt sich in die von Jacky. Sie spricht nur kurz, wie eine Sternschnuppe blinkt sie einen Augenblick auf, um gleich wieder zu verschwinden. 100 | Matusche 2009a, 431. 101 | Matusche 2009a, 432. 102 | Siehe Alyson-Stein 1995, 242. 103 | Matusche 2009a, 433. 104 | Matusche 2009a, 433.

2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens JACKY: Schön, daß du noch an mich denkst, Roter Fuchs. Fröhlich Komm die Milchstraße entlang! Enttäuscht Nein? Immer vergebens mit dir. Entschwindet. VINCENT: Strahl im Chaos! Sang nicht eben jemand auf dem Erdenstern. Nicht das Schweigen ist das Letzte! Wirft sich herum und schießt sich in die Brust 105

Vincent hat diesen Schicksalsfunken verpasst. Anders als die Schausteller, die auf die Macht des Schicksals und dessen Glücksversprechen vertraut haben, ist er nicht zur richtigen Zeit mit seiner Liebe mitgegangen. Diese Erinnerung an Jacky, an den Verlust und an ihr tragisches Schicksal, lassen den Künstler verzweifeln. Er empfindet den schmerzlichen Verlust eines nicht gelebten Lebens, den Brustschuss setzt er sich aus dem Affekt heraus und mit der Gewissheit, dass »das Schweigen nicht das Letzte« sei. Mit diesem letzten Satz revidiert er die Eingangsthese des Selbstgesprächs. In der Tradition des expressionistischen Dramas wird der Freitod innerhalb eines kosmischen, übernatürlichen Raums situiert und geht, wie in der abschließenden Szene mit dem Titel Klarheit deutlich wird, mit dem Moment der Erlösung einher. Es bildet sich ein transdifferenter Ort heraus, der gemäß dem Bewusstseinszustand van Goghs zwischen Leben und Tod angesiedelt ist. Die Todesszene spielt in einem hellen, freundlichen Zimmer: »Das Fenster [steht] an diesem schönen Sommertag weit offen.«106 Der baldige Tod wirkt in der freundlichen Atmosphäre recht harmlos. Diese Raumkonzeption steht im Widerspruch zur historischen Überlieferung, nach der van Gogh in der Nacht unter starken Qualen im Beisein seines Bruders Theo starb.107 Es wird deutlich, dass Matusche nicht aus der historischen Perspektive, sondern aus heutiger Sicht auf van Goghs Leben blickt und die Wirkmächtigkeit dieses Grenzgängers in dem harmonisierten Schlussbild hervorheben möchte. Auch erinnert er damit an van Goghs humanistisches Streben: »Ich wollte ein Mensch unter Menschen sein, und mit jedem damit anfangen«108 und zitiert damit den Titel unter dem der Briefwechsel zwischen Vincent und seinem Bruder herausgegeben wurde.109 Dr. Gachet blättert in einem Kunstband, in dem der Künstler noch nicht verzeichnet ist. Er verspricht ihm, dass sich dies ändern wird und seine Bilder wie die Saat eines Sämanns aufgehen und rezipiert werden. Mit diesem hoffnungsvollen Zukunftsblick endet das Stück; durch die Voraussicht auf den Nachruhm wird der Moment des Sterbens nebensächlich: »Tot? Nein, das ist nur ein Wort.«110 Der allwissende Doktor bescheinigt van Gogh, dass seine Kraftanstrengung, sich als Maler zu 105 | Matusche 2009a, 429. 106 | Matusche 2009a, 435. 107 | Alyson Stein 1985, 19. 108 | Matusche 2009a, 435. 109 | Siehe Erpel 1959. 110 | Matusche 2009a, 435.

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verwirklichen, nicht umsonst war. Die Botschaft des Dramas lässt sich damit auf eine (heilsgeschichtliche) Formel reduzieren: Die Leiden des verkannten Künstlers in der Welt werden durch die Wirkung des Werkes aufgehoben.

Künstler ohne (gesellschaftlichen) Ort Insgesamt spiegeln sich in der Raumstruktur das Selbstbewusstsein des modernen Künstlers und damit der Versuch der Autonomisierung wider. Die Tragik des rebellierenden, um Freiheit ringenden Malers liegt darin, dass er, je mehr er sich seinem Kunst-Ideal annähert, sich umso weiter von der realen Umgebung und seinem Ideal einer Menschengemeinschaft entfernt. In keinem der dargestellten sozialen Felder vermag der Mensch van Gogh zu arrivieren bzw. sich einen Identitätsort auf bauen. Seine Stellung im künstlerischen Feld ist höchst prekär, seine Freiheit und Identität als Maler abhängig von der materiellen Fürsorge seines Bruders. Aufgrund der mangelnden Affektkontrolle des leidenschaftlichen Charakters wird er als anders und wahnhaft eingestuft und aus der normalen Gesellschaft gedrängt. Strukturell reiht sich das Stück in die literarische Tradition von Künstlerdramen ein, die die Topik des verkannten Künstlers behandeln. Nina Birkner hat in ihrer Studie über Modelle des Künstlerdramas im 20. Jahrhundert gezeigt, wie verbreitet dieses Sujet in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war. Die Traditionslinie zieht sich von Hauptmann über Sorge und Johst bis zu Jahnn.111 Diese Stücke ähneln sich in ihrem dramaturgischen Auf bau. Zunächst wird dem Zuschauer der Künstler in seiner Andersheit vorgestellt. Hauptmanns Künstlerfigur Michael Kramer schreckt seine Umgebung durch seine Hässlichkeit und sein verstocktes Wesen ab, Sorges Dichtergestalt verliert sich in Visionen einer neuen Dramatik, Johsts Grabbe-Figur findet nur in der Einsamkeit seine schöpferische Kraft und Jahnns Chatterton lebt träumerisch zwischen Erscheinungen und realem Leben. So unterschiedlich diese Künstlerfiguren auch gezeichnet sind, jeder von ihnen besitzt Selbstgewissheit über eine Art Vorbestimmung zum Genie, die ihn schließlich aus der gesellschaftlich vorgegebenen Ordnung ausbrechen lässt. Obgleich z.B. der Künstler 111 | Birkner untersucht in ihrer Feldstudie Künstlerdramen des 20. Jahrhunderts dahingehend, wie sich die Positionierung des Künstlers im kulturellen Feld geändert hat. Zu Beginn des Jahrhunderts überwiegt das Modell des verkannten Künstlers, d.h. ein Anwärter auf das kulturelle Feld, der unter den Regeln des Marktes leidet. Siehe Birkner 2009, 48f. Dem gegenüber steht das Modell des verfemten Künstlers, z.B. in Brechts Baal, in dem der Künstler nicht als Opfer, sondern als Rebell auftritt. Siehe Birkner 2009, 72-77. Diese beiden Modelle gehen vom Künstler als Genie aus. Im Gegensatz zu diesem Geniekonzept stehen die Künstlerdramen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Siehe Birkner 2009, 204.

2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens

Michael Kramer großes Talent besitzt, widerstrebt es ihm, seinem Vater zu folgen und an der Kunsthochschule zu arrivieren, Sorges Dichter schlägt die angebotene Rente des Mäzens aus, da er auf ein eigenes Theater hofft, Chatterton verlässt die von seiner armen Mutter organisierte Stelle als Schreiber des Advokaten und setzt sich nach London ab. Die Kunst wird den Figuren zum eigentlichen Lebenszweck, die schöpferische Arbeit bringt die Künstler an einen sakralen, metaphysischen Ort. Ihre Haltung ist von einer Unbedingtheit geprägt, die sie vereinsamen lässt. Sie leben ohne gesicherte finanzielle Grundlage, geschweige denn gesellschaftlicher Anerkennung. Am Ende der Dramen wird die Spannung zwischen existentieller Not und Kunsttraum so groß, dass der Freitod als einzige Lösung bzw. Erlösung von den unhaltbaren Bedingungen erscheint. In den Dramen ist der antagonistische Konflikt zwischen Künstlerexistenz und bürgerlichem Leben konstitutiv; eine Lösung lässt sich für die Künstler nur im Jenseits erreichen.112 Matusches Künstlerdrama grenzt sich insofern von dem Modell des verkannten Künstlers ab, als dass van Goghs Malerei als Modell einer engagierten Kunst interpretiert werden kann. Es wurde in der Analyse herausgearbeitet, dass der christlich gesinnte Maler von einer humanistischen Idee, einer gesellschaftlichen Utopie angetrieben wird. Seine Initiation erhält er im Borinage, wo er seine Bestimmung erkennt und beginnt als Künstler mitethischem Bewusstseinzu arbeiten. Erst nachdem der Revoluzzer, d.h. ein Arbeiter, Kritik an seinen düsteren Zeichnungen geäußert hat, entschließt er sich den Ort und damit auch die Wahrnehmung auf die Welt zu wechseln. Neben dem Aspekt der engagierten Kunst weicht Matusche hinsichtlich der Begründung ab, warum der Künstler bei der Zusammenführung von Kunst und Leben scheitert. Birkner arbeitet heraus, dass der verkannte Künstler sich als auserwählt stilisiert, besonders im expressionistischen Drama von Sorge oder Johst trägt er messianische Züge. In seinem Wesen wird das Genie hervorgehoben und der Künstler als ein von der Wirklichkeit entrückter Mensch dargestellt.113 Auch Matusches van Gogh wird durch die typischen Merkmale – eigen, impulsiv und sensibel – als eigenwilliger Mensch charakterisiert und somit seine Andersartigkeit herausgestellt. Allerdings wird im Unterschied zu den genannten Künstlerdramen bei Matusche dieses Wesen des Künstlers bzw. seine psychische Veranlagung nicht als Ursache seiner Ausgrenzung inszeniert, sondern eine strukturelle, durch äußere Umstände bedingte Entfremdung zwischen Künstler und Gesellschaft gezeigt. Das Etikett des anormalen bzw. des verrückten Genies wird van Gogh von außen, d.h. von den Bewohnern von Arles, zugeschrieben. Nicht die psychologische Disposition des Individuums macht Matusche für das Misslingen der Selbstverwirklichung verantwortlich, sondern die gesellschaftlich-öko112 | Siehe Birkner 2009, 58f. 113 | Siehe Birkner 2009, 49f.

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nomischen Strukturen des 19. Jahrhunderts. In dem dargestellten historischen Raum ist die soziale Struktur dieser imperialen Zeitalters nachgezeichnet, welches im Zeichen der Kolonialisierung und Ausweitung des Welthandels stand. In der Dramatis Personae zeichnet sich ein Querschnitt der gesellschaftlichen Klassen ab, wobei soziale und habituelle Unterschiede zwischen bürgerlichen und proletarischen Figuren besonders hervorgehoben sind. Matusche beleuchtet die Schattenseiten der Industrialisierung und verdeutlicht, dass van Goghs Entscheidung Künstler zu werden, durch die Realität der Ausbeutung der Arbeiterschaft bedingt wurde. Damit greift Matusche die marxistische Kritik am kapitalistischen System auf, in der »[…] die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst«114 ist. Mit seiner beruflichen Entscheidung grenzt sich der Maler ganz bewusst von der bürgerlichen Sphäre und dessen Wertesystem ab. Nur als Künstlerexistenz scheint er sein Menschheitsideal verwirklichen zu können. Mit der Flucht aus der bürgerlichen Gesellschaft geht eine Prekarisierung seiner Existenz einher: verstärkt befindet er sich in einem sozialen Raum, der von zwielichtigen, halbseidenen Personen wie Kokotten, Landstreichern, Prostituierten und Schaustellernbevölkert ist. Damit bewegt sich der erfolglose Künstler in einer gesellschaftlichen Sphäre, die Karl Marx in der geschichtstheoretischen Abhandlung Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852) abschätzig als Lumpenproletariat bestimmt hat: Neben zerrütteten Roués der Aristokratie mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Maquereaus, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen […].115

Diese lose Ansammlung von prekären Existenzen am Rande der bürgerlichen Gesellschaft beurteilt Marx als reaktionär, unpolitisch sowie passiv und grenzt diese Schicht entschieden von dem Proletariat der Lohnarbeiter ab. Während sich das arbeitende Proletariat als Interessengruppe organisiert und an den Arbeiterkämpfen beteiligt, die Marx als revolutionär versteht, sei das Lumpenproletariat mehr ein Subsystem der mittelständischen bürgerlichen Gesellschaft, wodurch es seinen reaktionären, konservativen Charakter erhält: Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung 114 | Marx/Engels 1972, 26. 115 | Marx 2007, 68f.

2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens hinein geschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.116

Matusches Darstellung dieses Milieu ist mit der Marxschen Kritik vereinbar. Die Probleme des Künstlers van Gogh ergeben sich auch daraus, dass er durch seine Aussteiger-Attitüde zwangsläufig diesem Milieu zugehört, das wenig politisches Bewusstsein besitzt und an der Gesellschaft im Grunde nicht mehr partizipiert. Insofern ist sein Traum einer Künstlerkommune rein von der gesellschaftlichen Struktur her im Vorfeld zum Scheitern verurteilt und bei Matusche nur als scheinbarer Ausweg und Lösung konzipiert. Wie Helmut Kreuzer in seiner Studie zur Boheme hervorhebt, dient auch dieses randständige Milieu als Projektionsfläche bürgerlicher Sehnsüchte und somit als Ort, der Freiheit vom bürgerlichen Regelsystem verspricht. Da sich das Phänomen der künstlerischen Boheme in kapitalistischen wie sozialistischen Gesellschaften zeige, definiert Kreuzer diese soziale Gruppe als »potentielles Komplement zu den bisherigen geschichtlichen Formen der Industriegesellschaft«117. Die künstlerische Boheme, die sich im 19. Jahrhundert vor allem in den Europäischen Großstädten herausbildete, gilt auch als Auffangbecken rebellierender Bürgerkinder, die aus dem standardisierten Leben ausbrechen und sich im städtischen Raum Freiräume und Künstlerexistenzen schufen. Es handelt sich also um ein Milieu, das mit der Moderne aufkam und in dem sich auch die Vervielfältigung der Lebensentwürfe spiegelt. Matusche zeichnet dieses randständige BohemeMilieu in seiner Ambivalenz: einerseits wertet er es mit einem romantischverklärenden Anstrich gegenüber dem Bürgertum auf und inszeniert es als Rückzugs- und Fluchtort vor den wirtschaftlichen Zwängen dieses imperialistischen Zeitalters. Die Romantisierung der Boheme endet allerdings dort, wo die ökonomische Bedingtheit zum Vorschein tritt. Matusche zeigt als Kehrseite die Verlorenheit des idealistischen und leidenschaftlichen Künstlers innerhalb dieses Milieus, der begreift, dass sein humanistisches Ideal sich auch in diesem weltfernen Kreis nicht realisieren lässt. Die anschließende Wendung nach innen, die der Künstler in den letzten Szenen vollzieht, die mit ekstatischen Momenten und dem existentiellen Gefühl der Einsamkeit einhergeht, scheint die letzte Konsequenz dieser gesellschaftlichen Strukturen zu sein. Diese Dynamiken des gesellschaftlichen Raumes des 19. Jahrhunderts, die anhand des internen Kommunikationssystems nachgezeichnet wurden, lassen sich auch auf der Ebene der Perzeption bzw. auf der des externen Kommunikationssystems nachvollziehen. Auf der Wahrnehmungsebene stellt sich durch das wechselhafte Ineinander von Bild und Sprache eine eigentümliche Wirkung zwischen Bewegung und Stille ein, die mit der Wirkung des lyrischen 116 | Marx/Engels 1972, 35. 117 | Kreuzer 1968, 45.

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Dramas des Fin de Siècle – man denke an Hofmannsthals Dramen-Fragment Der Tod des Tizian – verglichen werden kann. Darüber hinaus stellen sich Bezüge zu der im18. Jahrhundert so beliebten Darstellungsform Tableau vivant ein. Im bildverliebten Barockzeitalter bildete sich diese Kunstform heraus, die ein Intermedium zwischen Gemälde und Theater darstellt und dem Zuschauer vorführt, wie Bilder lebendig werden. Dabei werden in aufwendigen Produktionen berühmte kunsthistorische Werke en Detail nachgebildet und dem Publikum im Theaterraum vorgeführt. Auf diese Weise erreichte das an-sichleblose Bild eine dreidimensionale Tiefenwirkung und in der Inszenierung des Bildes entstandeine neue Relation zwischen gemalten Objekt und zeitgenössischen Publikum. Wie die Theaterwissenschaftlerin Brandl-Risi hervorhebt, ist die Kunstform durch eine eigenwillige Mischung aus Starrheit des Bildes und Bewegung des lebendigen Körpers charakterisiert, durch welche eine besondere ästhetische Erfahrung hervorgebracht wird: »Die regungsloseräumliche Konfiguration, die das Tableau vivant auszeichnet, korrespondiert mit der zeitlichen Disposition eines gedehnten Augenblicks.«118 Rückbezogen auf die Dramenästhetik des Künstlerdramas lässt sich folgern, dass durch die Versprachlichung des Bildes ähnliche Effekte entstehen wie bei der performativen Nachbildung des Kunstwerkes. Im Textraum des Dramas werden Bilder der Epoche inszeniert – die Dramatis Personae und die Schauplätze wirken wie aus den Kunstwerken van Goghs ausgeschnitten und sind so als gesellschaftlicher Spiegel konzipiert. Das Zitieren des Bildes bzw. die bildhafte Sprache wirkt sich auf das Zeitempfinden während der Lektüre aus: Auch in Matusches Künstlerdrama scheint die nachgebildete Welt in der Bildlichkeit zu erstarren bzw. in dieser eingeschlossen zu sein, wodurch eine Verlangsamung der Rezeption erzielt wird. Indem Matusche den Blick auf die subjektive Welt des Malers, dessen Bildwelt und Farbeindrücke lenkt, rückt er auch dessen WeltWahrnehmung in den Vordergrund. Der Leser/Zuschauer wird dabei an die von Matusche so euphorisch hervorgehobene Grenze zwischen Kunst und Leben geführt. Es scheint, dass je einsamer und isolierter der Künstler ist, desto eindringlicher werden die Bilder, die er für diese Entfremdung findet. Deswegen hat die Todesszene bei Matusche auch so etwas Friedliches und Gelöstes. Kurz vor seinem Tod, so suggeriert das letzte Szenenbild, scheint der Maler ganz bei sich selbst bzw. einer eigenen, autonomen Bildwelt angekommen. In dieser Szene steigern sich seine Wahnvorstellungen, gleichzeitig eröffnet sich ihm eine andere Bewusstseinsebene, die einen Grenzgang beschreibt und mit dem eingangs beschriebenen Bild Weizenfeld mit Krähen vergleichbar ist. Diese Sichtweise auf van Gogh, die die Entfremdung in der Gesellschaft mitdenkt und diese in der Ästhetik der Bilder aufzuzeigen sucht, deckt sich mit der des

118 | Brandl-Risi 2013, 326.

2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens

expressionistischen Künstlers Oskar Kokoschka, der rückblickend über den Einfluss von van Goghs Werk auf die Moderne schreibt: Ich bin mit jenen einer Meinung, die glauben, daß die billige Bekanntheit, die man van Goghs Krankheit gibt und lediglich Füllmaterial biografischer Schauergeschichten ist, einem neuen Verständnis für das Werk dieses genialen Mannes weichen sollte […] Der Künstler sah der Wahrheit des Daseins ins Auge, so beunruhigend sie auch sein mochte, statt die Augen vor der tragischen Sinnlosigkeit des mechanistischen Lebens zu verschließen.119

Kokoschka stellt hier van Gogh in Zusammenhang mit dem Phänomen der Entfremdung und den Einschnitten, die mit dem Auf bruch der Moderne, der Industrialisierung und der damit verbundenen kompletten Umgestaltung des sozialen Lebens einhergingen. In der Bildästhetik van Goghs sei die Intensität, aber auch die Verwirrung, die diese Zeit stiftete, erfasst. Indem Matusche die Suchbewegung des Künstlers zeigt, dessen soziales Engagement und christliche Grundsätze hervorhebt, zeichnet er einen Menschen, der für diese gesellschaftliche Entwicklung höchst sensibel war. Der von ihm fiktionalisierte Maler trägt dieses »unglückliche Bewusstsein« in sich, ihn stoßen die bigotte Haltung seiner Familie, die Engstirnigkeit der Arbeiter, die Unbekümmertheit des Kollegen Gauguin ab. Sein Anspruch Kunst und Leben miteinander in Einklang zu bringen, drängt ihn aus den geordneten Strukturen heraus. Seine Bewegung führt in die Zukunft, in die Erwartung einer glücklicheren Zeit. In seinem Leben allerdings führt sie an Orte, die außerhalb der Gesellschaft stehen und schließlich an einen Ort, der nur in der Vorstellung bzw. durch die Imaginationskraft des Künstlers existiert. In der Vereinsamung und Isolation sucht der Künstler das Gespräch mit sich selbst und nimmt die Räumlichkeit aus einer stark phänomenologischen Sichtweise heraus wahr, wobei im Sinne Bachelards Bilder des Unendlichen hervortreten. Mit dieser Lesart steht Matusche auch in der Nähe von Antonin Artauds Text Van Gogh, Selbstmörder durch die Gesellschaft. Artaud argumentiert gegen die Annahme, dass van Gogh ein pathologischer Fall gewesen sei. Im Gegenteil, er sieht in seinen irrationalen Zügen ein künstlerisches, revolutionäres Prinzip und in seinen Bildern eine Wahrhaftigkeit, die wie ein »griechisches Feuer« wirke und so die Wirklichkeit entlarve.120 Das Menschenbild, welches dem Künstlerstück unterliegt, lässt sich mit dem der Frühromantiker, vor allem mit der Universalpoesie Friedrich Schleiermachers vergleichen. Bei Schleiermacher wird der aufklärerische Erziehungsgedanke, den Menschen zum Bürger zu erziehen durch die Formel 119 | Kokoschka zitiert in Alyson Stein 1995, 377. 120 | Siehe Artaud 1979, 8.

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Menschwerdung des Menschen ersetzt und so ein Spannungsverhältnis zwischen Kultur und Zivilisation eröffnet.121 Der Theologe und Philosoph kritisiert damit die Idee des souveränen Subjekts wie es von den Vertretern der Aufklärung, vor allem Immanuel Kant, postuliert wurde. Nach Kant wird der Mensch durch die Bewusstwerdung seiner Veranlagung als vernunftbegabtes Wesen zum Subjekt, d.h. zur handelnden Person in der Gesellschaft. Freies Handeln und Identitätsfindung sind in dieser Sichtweise eng an die Möglichkeiten eines »individualistischen Personalismus« geknüpft. Von diesem grenzt sich Schleiermacher durch die Betonung der sozialen Interaktion bei der Herausbildung von Identität mit dem Konzept des »dialogischen Personalismus« ab.122 In seinem Subjekt-Begriff werden christliche Werte und religiöse Sichtweisen (Vorbild Jesus Christus) auf den Menschen einbezogen.123 Wie Schleiermacher denkt Matusche das Subjekt in seiner sozialen Beziehung zur Welt und stellt in Formulierungen wie »Chaos« oder »Unendlichkeit« auch die Grenzen des vernunftbegabten Subjekts dar. In seiner Darstellung fühlt sich der Künstler von der Überkomplexität der Welt herausgefordert. Auch diese Welterfahrung lässt sich auf Denkfiguren der deutschen Romantik, vor allem auf Schlegel, beziehen.124 Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, so lässt sich resümieren, dass Matusches Lesart des Künstlerlebens eindeutig in ideologischen Bezugssystemen steht. Der Autor nutzt das Leben van Goghs als Folie, um sein Idealbild eines Künstlers darzustellen, der ohne Zweckgedanken und ohne Rückhalt, sich einer Sache hingibt. Es ist die Lesart eines überzeugten Kommunisten, der eine historische Situation erlebte, in der eine von ihm gewollte und forcierte gesellschaftliche Utopie umgesetzt wurde. Auf bildhaft-einprägsame Weise erinnert er an einen Künstler der Moderne und liest dessen Werk und Leben unter sozialistischen Vorzeichen. Er stilisiert van Gogh dabei zur biblischen Figur des Sämanns und stellt damit einen Künstler dar, der sein Schaffen ganz in den Dienst einer Sache stellt und ein in der Zukunft liegendes Ziel verfolgt. Es ist nicht zu übersehen, wie nah christliche Heilslehre und marxistische Weltsicht aneinander gekoppelt sind. Der Hilfsprediger van Gogh und der Revoluzzer erwarten das gleiche Ziel, beide hoffen auf das Goldene Zeitalter, welches sie von dem Zeitalter des Imperialismus erlöst. Alles in allem ist das postulierte Künstlerverständnis nicht als Kritik, sondern als Aufruf zu verstehen, sich an die ideelen Werte zu erinnern, die für die aktuelle sozialistische Gesellschaft von Bedeutung sind. Vom heutigen Standpunkt aus bzw. aus postsozialistischer Perspektive liegt es näher, zeitkritische 121 | Siehe Nowak 1986, 232. 122 | Siehe Kwiatkowski 1985, 305. 123 | Siehe Nowak 1986, 202f. 124 | Siehe Safranski 2007, 63.

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Töne herauszuhören, besonders wenn man den Einfluss der Staatszensur auf die Sprachbehandlung berücksichtigt. Tatsächlich lassen sich manche Passagen und Formulierungen aus dem Stück auch als versteckte Anklage gegen die Künstlersituation in der DDR lesen. Als künstlerischer Grenzgänger, der keine Konzessionen an den von der Partei bestimmten Kurs machte, befindet sich der Dichter paradoxerweise in einer ähnlichen Situation wie die verkannten Künstler in der bürgerlichen Epoche. Die Anspielungen auf die eisige Isoliertheit, die Grundproblematik der Ortlosigkeit und die Fassungslosigkeit über den enggefassten Kunstsachverstand können auch als Anspielungen auf einen Staat verstanden werden, der Freiraum und Wirkungsmöglichkeiten der Künstler auf wechselhafte Weise einschränkte.

Zweimal Van Gogh: Interpretationen des Stücks in BRD und DDR Wie wurde diese Kritik an der zivilisatorischen Moderne und das sich auf expressionistische Denkfiguren beziehende Stück in der DDR aufgenommen bzw. von der Kulturpolitik behandelt? Die Kunstwissenschaftlerin Ulrike Goeschen zeichnet nach, dass bis in die 1960er-Jahre die Strömungen der ästhetischen Moderne, vor allem der Expressionismus, kritisch rezipiert und vor dem Hintergrund der Expressionismus-Debatte der 1930er-Jahre auch als schändlich, zersetzend oder zu subjektiv diskreditiert wurde. Zwar gab es eine Reihe von Künstlern, die wie Matusche durch diese Strömung der 1920er-Jahre geprägt waren und sich auch für deren Vertreter, z.B. für die Künstlervereinigung Brücke, einsetzten. Doch hatte in der zeitgenössischen Kulturpolitik die gegnerische Fraktion die Oberhand, die den Expressionismus insgesamt als nicht sozialistisch einstufte und als Sinnbild der Entfremdung und Dekadenz des modernen Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft auffasste.125 Unter diesen zeitgeschichtlichen Voraussetzungen ist es nicht verwunderlich, dass das Künstlerdrama Van Gogh zumindest in den 1960er-Jahren in der DDR nicht gespielt wurde. Zunächst gelangte es in Westdeutschland an eine größere Öffentlichkeit und wurde am 27. April 1969 im Hessischen Rundfunk als Fernsehspiel unter der Regie von Thomas Fantl gesendet. Erst als sich die Kulturpolitik der DDR liberalisiert hatte, inszenierte es Peter Sodann im Juni 1973 in der damaligen Karl-Marx-Stadt (Chemnitz). Obgleich beide Inszenierungen den Text größtenteils linear inszenieren, sind die Auslegungen vollkommen unterschiedlich.

125 | Zur Expressionismusdebatte siehe Goeschen 1999, 21-23 und zur Rezeption des Expressionismus ebd., 108-113.

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Das westdeutsche Fernsehspiel Van Gogh – ein Traumspiel Drei Jahre nachdem das Stück in der Literaturzeitschrift Sinn und Form im Jahr 1966 veröffentlicht worden war, wurde es am 27. April 1969 als SchwarzWeiß-Film im Hessischen Rundfunk ausgestrahlt. Regie führte der gebürtige Prager Thomas Fantl. Der Film war mit bekannten Fernsehdarstellern, wie Herbert Fleischmann als van Gogh, Til Ervig als der Bruder Theo, und Gisela Hahn als Jacky, besetzt. Der Studiodreh entspricht auf weiten Strecken der Vorlage: Es ist ein ruhiges, besonnenes, auf die Kraft der literarischen Vorlage setzendes Kammerspiel. Die Literaturverfilmung beginnt vor einem diffusen, grottenartigen Hintergrund; langsam fährt die Kamera zurück und erweitert den Blickwinkel bis der Zuschauer schräg von vorn auf van Gogh blickt, der vor einer Staffelei steht und sein (letztes) Bild malt. Der Maler tritt zurück, sodass der Zuschauer ihn nicht mehr sehen kann und man hört einen lauten Schuss. Der versuchte Selbstmord bzw. van Goghs Brustschuss wurde an den Anfang des Filmes gestellt. Dadurch lassen sich die folgenden Szenen als Rückschau auf das Leben des tödlich verletzten Künstlers interpretieren. Durch diese Umstellung der Szenenfolge wirkt der Film wie der wortwörtlich vorbeiziehende Lebensfilm eines Sterbenden. Nachdem der Knall verklungen ist, beginnt die Handlung mit der vorletzten Szene des Stücks, in der der Maler seine Freunde halluziniert. Van Gogh erscheint wieder im Blickfeld des Zuschauers, er wendet sich so, dass man sein verwundetes, durch ein Pflaster verdecktes Ohr sehen kann. Dann wandelt er in einem Raum, in dem durchsichtige Organza-Vorhänge von der Decke hängen, die das Bild unscharf werden lassen. Dahinter lässt sich ein grottenähnlicher Hintergrund wahrnehmen. Ein leiser beunruhigender Klang tönt in die Stille hinein. Van Gogh beginnt zu sprechen, die Replik ist dem Selbstgespräch aus der siebzehnten Szene Strahl im Chaos entnommen.126 Er spricht vom Schweigen nach einem begangenen Mord, was in diesem Zusammenhang als Anspielung auf den im Vorfeld begangenen (versuchten) Selbstmord zu verstehen ist. Diese Worte wirken bedrohlich, besonders in der musikalisch unterlegten unheimlichen Umgebung. In dieser Atmosphäre erscheint in einiger Entfernung zu van Gogh sein Bruder Theo. Der Dialog zwischen den beiden ist aus Repliken der zweiten Szene Das Fischnetz und der fünfzehnten Szene Herausforderung zusammengefügt. Theo bedankt sich für das Fischnetz, van Gogh verspricht seinem Bruder, er werde ihm das Geld wiedergeben oder sterben. Mit dieser Montage werden die drängenden Geldprobleme von van Gogh hervorgehoben. Nachdem Theo verschwunden ist, erscheinen ihm die Gestalten von Gauguin und Jacky. Der Film orientiert sich nun am 126 | Dieses sowie die folgenden Zitate sind dem 1996 im Hessischen Rundfunk gesendeten Fernsehspiel Van Gogh in der Regie von Thomas Fantl entnommen.

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Szenenverlauf von Strahl im Chaos, nur endet die Szene nicht mit dem Brustschuss van Goghs, sondern mit seinen letzten Worten: »Nicht das Schweigen ist das Letzte«. Erst die dritte Filmszene entspricht der Anfangsszene des Theaterstücks. Im gleichen Studio, vor dem gleichen Hintergrund, der jetzt wie ein lichtdurchflutetes Geäst wirkt, ist mit einer Hauswand das Pfarrhaus angedeutet. Dieser Andeutungsstil hat desillusionierende Wirkung und stellt das Konstruierte des Films heraus. Langsam nähert sich die Kamera der Szenerie, zunächst fängt sie das Gespräch zwischen Theo, der nach seinem Bruder Ausschau hält und seiner genervten Schwester ein. Als die Stimme einer älteren Frau ertönt, die das Gespräch kommentiert, schwenkt die Kamera um und zeigt die Frau, die auf der rechten Seite des Hauses sitzt. Die Schwester (Marianne Lochert) und Theo wenden sich ihr zu. In Habitus und Kleidung heben sich die akkurat gekleideten Pfarrerskinder von der möglicherweise als Magd dienenden, ganz in schwarz gekleideten Frau (Else Knott) ab. Im Gegensatz zu der quirligen, stolzen Schwester, die ihre Haare hochgesteckt hat, trägt sie ein schwarzes Kopftuch, hat ein mildes, tapferes Gesicht und scheint besonnen in sich zu ruhen. Wenn die Schwester mit ihr spricht, muss sie zu ihr hinaufschauen und nimmt so die Haltung eines Dieners ein. Die Augen blicken beim Reden meist zu Boden. Die Szene ist leicht umgeschrieben, sodass die Auseinandersetzung zwischen der Schwester und der alten Frau ohne Unterbrechung in den Mittelpunkt der Szene rückt. Aus der warmherzigen Stimmlage der Alten wird deutlich, dass sie Vincent sehr mag. Auf ihre besorgten Fragen zu Vincents Weggehen reagiert die Schwester verärgert: »Tun sie nicht so, von uns nimmt er Abschied.« Als der Bruder aufgeregt davon spricht, dass auch er in die Welt reisen will, fragt die alte Frau, was Vincent denn in den großen Städten wolle. Darauf antwortet die Schwester stolz, dass die van Goghs überall seien, ob als Kunsthändler in Paris und London oder als Pfarrer in Holland. Diese hinzugefügte Replik verdeutlicht den Stolz des Bürgertums. Umso deutlicher wird auch, dass Vincent, der im Film stets eine Arbeitsjacke und eine einfache Hose trägt, sich vom Rest der Familie und damit den bürgerlichen Figuren optisch unterscheidet. In seiner bescheidenen Haltung ist er mit der alten Frau vergleichbar. Als er auftritt, geht er sofort zu ihr, blickt sie freundlich an und gibt ihr die gerade gefangenen Fische. Zudem macht er ihr den Vorschlag, ihr schwarzes Kopftuch durch ein weißes zu ersetzen. Die Kamera zoomt dabei ganz nahe an das Gesicht der alten Frau, fokussiert damit ihre Mimik und lässt an ihren Augen sichtbar ablesen, wie sehr sie sich über die Zuwendung von Vincent freut. Die starke Beziehung zwischen der alten Frau und Vincent wird dadurch betont, dass sie sich beim Abschied in die Augen blicken, zuvor hat die Frau immer den Blickkontakt vermieden. Am Schluss der ersten Szene gibt Vincent seinem Bruder das Fischnetz, dieser strahlt über das ganze Gesicht, geht zu der alten Frau und bezeugt ihr, dass sie ab jetzt die

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Fische von ihm kriegen werde. Da die Figur des Pfarrers aus der Szene gestrichen und damit der Vater-Sohn-Konflikt ausgespart wurde, liegt der Akzent der Szene darin, die Solidarität und Gutherzigkeit Vincents gegenüber der alten Frau zu zeigen und die Diskrepanz zwischen ihm und der restlichen Familie vorzuführen. Diese Akzentuierung verstärkt Matusches Negativzeichnung der bürgerlichen Familie und stellt die entgegengesetzten Haltungen pointiert heraus. Die zum Ausdruck kommende Figurenkonstellation, in welcher sich Vincent an der betulichen Bürgerlichkeit seiner Umgebung aufreibt, wird in den folgenden Szenen noch verstärkt. Die als Pfarrer arbeitenden Onkel, gespielt von Paul Gogel und Friedrich Kolander, strahlen durch ihre bloße Körperlichkeit Wohlstand und Gemütlichkeit aus. Beide sind etwas korpulent, ihr schwarzer Talar liegt straff über dem Bauch und der noch jüngere Pfarrer hat sogar ein Doppelkinn. In ihrer Erscheinung verkörpern sie das Gleichnis der fetten Weiden Hollands. Zu diesem Sinnbild bildet Vincent schon in körperlicher Hinsicht einen Kontrast. Er hat ein aufmerksames Gesicht mit wachen Augen. Im Film wird sein unruhiger Geist in die Nähe des Revoluzzers gestellt. Im Borinage, als Vincent in einer Strohhütte haust, tritt der Sergeant mit dem gerade gefangen genommenen Revoluzzer (Hans Joachim Krietsch) ein. Er stellt beide nebeneinander, um ihre Staturen miteinander zu vergleichen. Ihre Ähnlichkeit ist eindeutig, sie sind ungefähr gleich groß, haben eine ähnliche Körperstatur, tragen beide einen Vollbart und haben den gleichen entschlossenen, auffordernden Gesichtsausdruck. Auch die beiden Musen-Figuren bilden einen starken Kontrast zu den behäbigen Pfarrer-Figuren und bestärken die im Dramentext angelegte Figurenkonzeption. Die junge Bäuerin (Doris Alt), die Vincent auf dem Feld trifft, hat eine sehr selbstbewusste Haltung: sie wirkt mit ihrem langen schwarzen Kleid und dem hellen Kopftuch anmutig und hat eine klare, energische Stimme. Das Mädchen Jacky (Gisela Hahn) trägt im Gegensatz zu der Bäuerin ein helles Kleid, in Zusammenspiel mit ihren langen blonden Haaren, erscheint sie wie ein Engel. Die Kamera zoomt nah an ihr Gesicht heran und zeigt es im Close-up. Sie blickt in Richtung des Zuschauers, van Gogh steht dicht neben ihr und blickt sie unentwegt an. Während sie aus ihrem Leben erzählt, sind in der Mimik van Goghs seine starken Gefühle für sie abzulesen. Die Faszination des Malers für dieses hübsche Mädchen wird besonders herausgearbeitet und so die Liebesgeschichte betont. Van Goghs Zuneigung zu dem Mädchen, das so anders ist als die anderen Frauenfiguren des Stücks, wird in der Bordellszene deutlich. Im Gegensatz zu Jacky, die ihr Haar offen trägt, tragen die Frauen Hochsteckfrisuren, zudem Korsett. Die Unbehaglichkeit von Vincent wird allzu deutlich, verkrampft sitzt er auf dem Sessel, während Gauguin es sich in bequemer Körperhaltung mit den Frauen behaglich macht. Am Kopf des Tisches sitzt die Chefin des Bordells, die sich durch ihre schwarze Kleidung abhebt und ihre Machtposition innerhalb des sozialen Feldes betont. Mimik und Blicke sind in Naheinstellung

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festgehalten, die Kamera richtet den Blick von einem zum anderen und schwenkt einmal um den Tisch herum. Das Zusammensein wird plötzlich aufgelöst als van Gogh aufspringt, sein Rasiermesser herauszieht und sich in gebückter Angriffshaltung vor Gauguin stellt. Die Gesichter der beiden Kontrahenten sind im Schuss/Gegenschuss Verfahren aufgenommen. Kurz darauf stürzt van Gogh aus dem Zimmer, und Gauguin reist ab. Im Anschluss erscheint van Gogh mit verbundenem Ohr, die verletzte Körperseite dreht er ostentativ Richtung Zuschauer. Als er zum Schluss des Films wieder auf Jacky trifft, ist ihr Blick abgewendet und die Augen weit aufgerissen. Leise singt sie ein Lied vor sich hin. Er geht zu ihr, streichelt sie, doch sie bemerkt nichts davon. Daraufhin versucht van Gogh ihren Blick aufzufangen, ruft laut ihren Namen, doch sie reagiert noch immer nicht. Da wendet er sich ab, schlägt bestürzt die Augen zu und die Kamera schwenkt um. Der Zuschauer sieht nun, wie van Gogh ebenso wie in der Anfangsszene zwischen den Vorhängen umhergeht. Er spricht wieder die gleichen Worte: »Schweigen, immer das Letzte.« Wie ein Refrain umschließt die Replik die vorangegangene Handlung. In der anschließenden Sterbeszene wird der Moment der Erlösung besonders herausgestellt: Das Bett des sterbenden van Goghs wirkt durch die weißen Bettbezüge und die helle Kleidung ungewöhnlich hell und strahlend und hebt sich von der restlichen Umgebung ab. Der Arzt blickt auf das letzte Bild von van Gogh und resümiert über sein Werk: »Die Saat geht auf, van Gogh, in einem Licht, das wir aushalten werden.« Die Lichtführung und Raumgestaltung der Szene betont das Sinnbild des Sämanns mit filmischen Mitteln und stellt das Hoffnungs-und Erlösungsprinzip des Künstlers heraus. Zuletzt gleitet die Kamera durch den Raum, verharrt bei van Gogh, wandert weiter zum Arzt und dann an der Wand entlang zur Staffelei, auf dem das letzte Bild Die Vögel zu sehen ist. In dieser Einstellung verharrt die Kamera und es folgt der Abspann. In der Ausstattung, im Kostüm und im Habitus der Figuren ist die sozialkritische Aussage des Stücks betont. Der Maler wird als sensibler, nachdenklicher Mann dargestellt, der freundlich mit seiner Mitwelt umgeht. In den meisten Szenen sitzt er in Malerpose an einer Staffelei und ist in ein Bild vertieft. Seine handwerkliche Arbeitskleidung und die bescheidene Haltung heben sich von den bürgerlich gekleideten Familienmitgliedern ab. Auch distanziert sich der Maler von den historischen Kostümen des Figurenensembles – z.B. von der Arlesierin, den Kokotten oder dem eleganten, modisch gekleideten Gauguin. Diese Figuren lassen sich vom Zuschauer unmittelbar aufgrund ihrer äußeren Erscheinung in der Historie verorten. Durch das neutralere Kostüm erhält van Gogh einen überzeitlichen Charakter, zudem gleicht er in seiner einfachen Kleidung den im Film auftretenden Arbeiter- und Bauernfiguren. Die Filmästhetik entspricht dem Genre der 1960er Jahre. Die Schauspieler spielen ihre Rolle psychologisch genau, der Rollentext ist pointiert herausgearbeitet.

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Sie sprechen langsam, die Gefühle und Erinnerungen, die an die Repliken geknüpft sind, spiegeln sich in ihren Bewegungen und im Gesichtsausdruck wieder. Die Gesten sind dabei nicht groß, eher verhalten und passend zu der Kammerspielästhetik. Der dramatische Höhepunkt des Films vollzieht sich, wenn Vincent aufspringt und mit seinem Rasiermesser auf Gauguin zugeht. Ansonsten ist es ein ruhiger, langsamer Film mit längeren Kameraeinstellungen und wenigen Schnitten. Bemerkenswert ist die dramaturgische Neuordnung der Szenenfolge. Indem der Brustschuss an den Anfang des Filmes versetzt wurde, hebt Fantl das gesamte Stück auf die Ebene eines Traumspiels. Die Stationen aus van Goghs Leben erscheinen wie der Film, der angesichts des nahenden Todes vor seinem geistigen Auge vorüberzieht. Der halluzinierende Zustand van Goghs wird atmosphärisch durch eine leicht flirrende Musik unterstrichen. Aufschlussreich ist auch, dass Fantl die Visionsszene Strahl im Chaos an den Anfangs- und Schlusspunkt der Literaturverfilmung gesetzt hat. Durch diese wiederkehrende Struktur wird Vincents Anklage über die unbescholtenen Mörder zentral positioniert und rahmt die Binnenhandlung ein. Bezieht man den zeitgeschichtlichen Kontext und die Biografie des Regisseurs in die Interpretation des Films mit ein, ergibt sich für die dramaturgische Umstellung eine tieferliegende Lesart. Der Regisseur Thomas Fantl (1928-2001), ein gebürtiger Prager, stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie. Nach der Besetzung der Tschechoslowakei 1939 durch die deutsche Wehrmacht wurde er als Jugendlicher zunächst in Theresienstadt, dann im Vernichtungslager Auschwitz und kurz vor Kriegsende in Buchenwald interniert. Er überlebte das Lager in Buchenwald und kehrte nach Prag zurück, wo er sich 1948 an der Filmakademie einschrieb. Nach erfolgreich abgeschlossenem Studium arbeite er als Filmassistent für den systemkritischen Regisseur Jiri Weiss. 1954 erhielt Fantl in der damaligen Tschechoslowakei ein Arbeitsverbot und emigrierte 1957 schließlich in die BRD. Hier konnte der junge Filmemacher miterleben wie sich in der Amtsperiode von Adenauer ein Schweigen über die jüngste deutsche Geschichte, vor allem über die Täter des Holocaust legte. Nachdem während der Nürnberger Prozessen 1946-1949, zunächst die Hauptkriegsverbrecher und später die leitenden Personen von Militär, Industrie und Staatsapparat angeklagt und verurteilt worden waren, schien die dringende Frage der Schuld geklärt. Erst zwanzig Jahre später, im Rahmen des ersten Auschwitzprozesses von 1963 bis 1965 in Frankfurt a.M. wurden auch rangniedrige Mitglieder der Lagermannschaft des Vernichtungslagers, d.h. Adjutanten, Ärzte und Wächter vor Gericht angeklagt, die bis dahin in der BRD ein normales, bürgerliches Leben geführt hatten.127 Das Beweismaterial war in der 1958 eingerichteten Bundesstelle zur Aufklärung der NS-Verbrechen gesammelt worden. In vielen Fällen war die Justiz zu spät und hatte mit 127 | Siehe Weniger 2008, 110.

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Verjährungsfristen zu kämpfen. So waren Tötungsdelikte seit 1960 verjährt und für die Anklage des Mordes mussten niedere Beweggründe sowie Heimtücke nachgewiesen werden. Angesichts dieser Ausgangslage fielen die Strafen in der Regel verhältnismäßig milde aus.128 Die Dramaturgie des Fernsehspiels lässt sich zu der skizzierten »zweiten deutschen Schuld« (Glaser) und zu der Biografie des Holocaust-Opfers Fantl in Bezug setzen. Mit der Umstellung der Szenenfolge verweist der Regisseur auf ein (bedeutsames) Schweigen der Täter, das von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung mitgetragen wurde. An diese unbehelligten Mörder scheint Vincent stellvertretend für den Regisseur in dem 1969 ausgestrahlten Film zu ermahnen. Es sind die Erfahrungen eines verfolgten Menschen, die anklingen, wenn Vincent am Anfang des Filmes spricht: Nach einem Mord tritt einer aus dem Haus und grüßt freundlich die Überlebenden, und ist die Polizei nicht pfiffig genug, bleibt der Mord in der Welt und der Mörder auch. Die Ordnung beleibt ungestört. Außerdem üben wir das Morden immer feiner mit der Seele.129

An dieser Stelle ließe sich einwenden, dass die Thematik des Stücks keine Analogie zu den zeitgeschichtlichen Vorgängen in der BRD zulässt und eine solche Interpretation weit hergeholt sei. Doch wurde in der Raumanalyse herausgearbeitet, dass die Grundthematik des Stücks eben nicht das Scheitern dieser Künstlerpersönlichkeit ist, sondern Ausgrenzungsstrategien in einem bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhang und der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft. Fantl findet in dem Stück eigene Lebenserfahrung in zweifacher Hinsicht gespiegelt: zum einen in den Repressionen gegen ihn als Künstler, zum anderen gegen ihn als Menschen. Die im Stück gezeigte stückweise vollzogene Ausgrenzung aus der Gesellschaft, die Suche nach einem Ort und das Leben der Paria bieten Assoziationsspielräume zwischen dargestelltem Künstlerleben und dem Leben des politisch verfolgten Regisseurs. Schon 1964 hatte Fantl mit dem Spielfilm Zeit der Schuldlosen, der auf einem Theaterstück von Siegfried Lenz basiert, die Frage der Kollektivschuld problematisiert. Obwohl der Film mit einer Riege bekannter Schauspieler wie Erik Schumann, Peter Pasetti und Wolfgang Kieling aufwarten konnte, fand er keine große Resonanz. Erst zwanzig Jahre später hat sich der Regisseur wieder der Schuldfrage zugewendet und seine Lebenserfahrungen, diesmal ohne fiktionale Distanz, in dem Dokumentarfilm Theresienstadt. Bahnsteig nach Auschwitz (1985) filmisch geschildert.130 Es wäre nur allzu verständlich, dass 128 | Siehe Werle 1995, 23f. 129 | Matusche 2009a, 433. 130 | Siehe Weniger 2008, 111.

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die traumatische Erfahrung eine frühere Vergegenwärtigung verhinderte, die Erinnerung aber auf sublimierte, versteckte Art und Weise in die Produktion einfloss.

Van Gogh in Karl-Marx-Stadt – poetischer Realismus auf der Bühne Einen Monat bevor Matusche starb, wurde das Künstlerdrama am 8. Juni 1973 am Schauspielhaus der damaligen Karl-Marx-Stadt uraufgeführt. Laut Theater der Zeit wurde es ein Publikumserfolg, was für den Autor, so betont der Theaterkritiker Martin Linzer, eine späte Genugtuung für »[…] die lange Zeit des Wartens«131 gewesen sei. Regie führte der in der DDR als Theater-Schauspieler bekannte Peter Sodann. Die Inszenierung kann auf Basis des Jürgen Serke-Archivs anhand von Theaterkritiken und Szenenfotos rekonstruiert und in den zeitgeschichtlichen Kontext eingeordnet werden. Bei den Theaterkritiken handelt es sich um Rezensionen aus lokalen Zeitungen wie der SED-Bezirkszeitung Freie Presse, die nur in Karl-Marx-Stadt, den Sächsischen Neuesten Nachrichten und dem Sächsischen Tagesblatt, die auch in Dresden und Leipzig gelesen wurden. Auch wenn nur wenig Archivmaterial vorhanden ist, lässt sich anhand der Beschreibung des Bühnen- und Kostümbildes die ästhetische Ausrichtung der Inszenierung herausfiltern. Die Theaterkritiken gleichen sich im zustimmenden Tenor: Sie loben vor allem die Ensembleleistung, die poetische Ausstattung und Bühnenmusik der Inszenierung. Etwas kritischere Töne schlägt Martin Linzer in einer Rezension für Theater der Zeit an, da er die inhaltliche Qualität des Stücks höher bewertet als die theatrale Umsetzung. In allen Rezensionen wurden jedoch die Qualität des Künstlerdramas und damit die Leistung des Autors hervorgehoben. Diese durchweg lobenden Worte standen nicht zuletzt damit in Zusammenhang, dass Matusche kurz zuvor den Nationalpreis der DDR (Lessingpreis) für sein Lebenswerk erhalten hatte. Aus den Rezensionen sind keine Bedenken gegen Stoffwahl oder Gattung zu hören – im Gegenteil: Matusche wird ausdrücklich dafür gelobt das Leben van Goghs als Beispiel eines sozialistischen Künstlerlebens interpretiert und dargestellt zu haben. Keiner der Rezensenten sieht einen Widerspruch zwischen dem im Stück forcierten modernen Künstlerverständnis und der DDR-Doktrin. Im Programmheft und auf der Bühne wird der Beispielcharakter herausgestellt und die inszenierte Künstlerbiografie historisch-dialektisch gelesen. So führt Klaus Walther aus: »Es geht um den Weg des Menschen auf der Suche nach Glück und menschlicher Existenz in einer Gesellschaft, die diese Erwartung nicht realisieren kann.«132 Für den Kritiker 131 | Linzer 1973, 18. 132 | Walther 1973.

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diene der Aufführungstext dazu, die sozialistische Identität zu stabilisieren. Am Beispiel van Goghs werden seiner Meinung nach »[…] notwendige, exemplarische Verhaltensweisen […], die erst im Sozialismus verwirklicht werden können«133, aufgezeigt. Der auf der Bühne installierte historische Raum bilde das Zeitalter des »brutalen Kapitalismus«134 ab und damit die Negation der Zuschauer-Wirklichkeit und der sozialistischen Gesellschaft. Dem Zuschauer werde das ausgehende 19. Jahrhundert als imperiales Zeitalter vorgeführt, in dem ein Künstler wie van Gogh zwangsläufig an den gesellschaftlichen Verhältnissen scheitern musste. Wie Walthers Kritik verdeutlicht, lässt sich die Inszenierung gemäß der marxistischen Geschichtsphilosophie lesen und die dramatisierte Künstlerbiografie als eine zwangsläufige, sich aus den gesellschaftlichen Strukturen ergebene Entwicklung beschreiben. An diesem Beispiel sollte dem Zuschauer die Errungenschaft der historischen Situation vor Augen geführt und dessen Zugehörigkeitsgefühl zum Staat DDR gesteigert werden. Durch diese Aufführung wird van Gogh in das kulturelle Gedächtnis der DDR integriert und als sozial engagierter Künstler erinnert. Diese Lesart der Geschichte wird dem Zuschauer zunächst im Bühnenbild veranschaulicht: Auf der Hinterbühne steht hinter einem Schleiervorhang ein Jahrmarktskarussell, welches innerhalb des Aufführungskontextes als Zeichen für die kapitalistische Weltordnung fungiert. Dieses zeichenhafte Karussell weckt Erinnerungen an die Gesellschaftssatire Jahrmarkt der Eitelkeiten (1849) von Thackeray. Dieser hat die viktorianische Epoche bzw. das Londoner Bürgertum, dessen Snobismus und Sozialneid, spitzzüngig beschrieben und so die bösartige, eitle und gierige Seite des bürgerlichen Milieus porträtiert.135 An diesem Karussell wehen, wie Klaus Walther erläutert, Geldscheine, »[…] die gleichsam die angebeteten Fahnen jener alten Welt [seien]«136. Die schauspielerische Aktion auf der Bühne werde regelmäßig angehalten, sodass der Handlungsverlauf pausiert wird. In diesen Pausen wenden sich die Figuren um und blicken auf das Karussell im Hintergrund und verweisen damit auf dieses sich drehende »Symbol des sozialen Mechanismus der kapitalistischen Welt«137. Für kurze Zeit wird damit der Ablauf der Geschichte abgebrochen und explizit auf die kapitalistischen Strukturen, welche die Gesellschaft zusammenhalten, verwiesen. Das semiotische Zeichen des Karussells ist im Zusammenhang des DDR-Theaters auch stark besetzt durch Brechts Unterscheidung zwischen dem Planetarium- und dem Karussell-Typus in der Dramatik bzw. in der Schauspieltechnik. Der P-Typus ist in der Lage Abstand von seiner 133 | Ebd. 134 | DP 1973. 135 | Siehe Thackeray 2004. 136 | Walther 1973. 137 | Linzer 1973, 18.

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Figur zu halten, d.h. sich nicht vollständig mit dieser zu identifizieren und bestimmte Gesten so weit zu verfremden, dass sie dem Zuschauer deutlich werden. Der K-Typus hingegen entspricht der Einfühlungsmethode, in der der Schauspieler die Rolle verkörpert und sich so ganz mit dem fiktiven Charakter identifiziert.138 Durch diese Darstellungsweise, so die Kritik Brechts, verliere sich der Zuschauer in Sentimentalität und sein Bewusstsein sei gedankenverloren, wie das des Fahrenden in einem Karussell. Die Schauspieltechnik des P-Typus entspreche mehr dem marxistischen Weltbild, da sie den Zuschauer zu einer wachen Rezeptionshaltung animiere und gesellschaftliche Kräfte freisetze, die dazu fähig sind, den Weltlauf zu verändern.139 Mit diesem Bild des Karussells wird ein eindeutig negativ codiertes Bild inszeniert, das einerseits als ein Zeichen für die Mechanismen des Marktes aber auch nach Brecht als eine Beschreibungsfigur für den Wahrnehmungsmodus des Menschen im kapitalistischen System gedeutet werden kann. Die Rezensenten betonen, wie sehr Kostüme, Bühnenbild und Requisiten sich an der Bildwelt van Goghs orientieren. So bemerkt Walther die sparsam eingesetzten Requisiten würden »[…] die Erinnerung an die Bilder des Malers intensivieren«140. Und der Rezensent des Sächsischen Tageblatts bekräftigt: »Auch die Masken […] sind vielfach wie aus den Bildern geschnitten.«141 Einstimmig ist sich die Theaterkritik in der Leistung des Ensembles. Wie zuvor in der Inszenierung von Volker Brauns Hinze und Kunze war fast das gesamte Ensemble in die Inszenierung mit einbezogen. Allerdings wendet Linzer ein, dass man den Schauspielern anmerken würde, wie wenig Erfahrung sie mit nicht-naturalistischen Texten hätten.142 Die Darstellung von van Gogh durch den Regisseur Peter Sodann wird von den regionalen Zeitungsrezensenten als hoch konzentriert, sensibel und als »schlechthin unübertreffliche Leistung«143 beschrieben. Abweichend dazu resümiert Martin Linzer zu dieser Doppelfunktion Schauspieler/Regisseur: »Schließlich […] blieb für mich, Peter Sodann, viel der Figur van Goghs schuldig an Klarheit, Schärfe, Präzision, auch an Poesie – worum die Inszenierung insgesamt weitgehend bemüht war.«144 Die wenigen Szenenfotos vermitteln den Eindruck einer Ästhetik, die zwischen genauer historischer Abbildung und Poesie schwankt. Ein Foto zeigt eine Momentaufnahme aus der Szene Amoklauf. Der müde wirkende van Gogh (gespielt von Peter Sodann) sitzt vor einem Glas Absinth im Nachtcafé. Sein be138 | Siehe Brecht 1993, 386-387. 139 | Siehe Brecht 1993, 387-391. 140 | Walther 1973. 141 | DP 1973. 142 | Siehe Linzer 1973, 18. 143 | DP 1973. 144 | Linzer 1973, 18.

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sorgter Malerfreund Gauguin (gespielt von Dietmar Huhn) tritt an ihn heran. Das Mobiliar – die hellen abgerundeten Stühle, der Tisch mit dem geschwungenen Tischbein und der runden Platte, die darauf stehenden Absinthgläser, die Straßenlaterne und vor allem die Kleidung von Gauguin – entspricht dem Pariser Bohèmestil des 19. Jahrhunderts und der Bildwelt van Goghs. Es handelt sich demnach um eine präzise und historisch genaue Ausstattung. Anhand der Kleidung wird auch die in der Raumanalyse herausgearbeitete Tagund Nachtseite zwischen den Malern sichtbar. Während van Gogh sommerlich helle Arbeitskleidung trägt, hat Gauguin einen samtartigen schwarzen Blazer über dem weißen Kragenhemd an und trägt eine gemusterte Weste und ein passendes Tuch. Er scheint auf sein Äußeres bedacht: seine Frisur, der Oberlippenbart und die Koteletten entsprechen der damaligen Mode, wohingegen sich van Gogh einen Vollbart stehen lässt. Van Gogh scheint in dieser Aufmachung seinen Selbstporträts entsprungen zu sein. Vergleicht man das Kostüm van Goghs mit dem im Film, so wird deutlich, dass er als Wandlungsfigur angelegt ist. Der Prozess der Wandlung war für das DDR-Theater besonders in den Auf baujahren eine wichtige Darstellungsstrategie, um Bewusstseinsprozesse von Figuren zu veranschaulichen. In Produktionsstücken wie Friedrich Wolfs Bürgermeister Anna wurde anhand einer Wandlungsfigur gezeigt, wie sich die anfängliche Skepsis gegenüber der Planwirtschaft in Befürwortung und aktive Teilhabe an dem neuen System wandelte.145 Diese Aufgabe für das neue System Überzeugungsarbeit zu leisten, war ein wesentliches Merkmal des frühen DDR-Theaters. Es sollte den Zuschauer dazu bewegen, sich mit seinem neuen Staat zu identifizieren, mehr noch einen Stolz für die kulturelle Leistung des Landes zu entwickeln. Kulturgeschichtlich wollte die SEDFührung dabei an die Weimarer Klassik anschließen und das kulturelle Erbe von Lessing, Goethe, Schiller u.a. aufrecht erhalten bzw. weiter führen. Dieses Konzept des sozialistischen Nationaltheaters prägte bis in die 1960er Jahre die Theaterarbeit in der DDR.146 Anhand der in der Theater der Zeit abgedruckten Szenenbilder lässt sich nachvollziehen, wie die Wandlung van Goghs vom Kunsthändler zum Künstler äußerlich erkennbar gemacht wurde. In der Londoner Straßenszene ist sein Haar glatt zurückgekämmt und in Form gebracht. Er trägt unter dem schwarzen Anzug ein weißes, gestärktes Hemd, der Kragen liegt steif am Hals an, der von einer seidig glänzenden Krawatte umbunden ist. Später gleicht sich sein Äußeres immer mehr der Vorstellung bzw. dem Klischeebild des Malers van Gogh an. Statt der steifen, geformten Maßkleidung trägt er nun locker sitzende Hosen und Hemden. Auf einer Abbildung sieht man den Maler neben der Bäuerin (gespielt von Christel Leuner) sitzen. Die Kleidung hat die Strenge verloren, das Hemd liegt lässig an, die ganze Freiheit 145 | Siehe Emmerich 2000, 152f. 146 | Siehe Stuber 1998, 13.

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äußert sich darin, dass er kein Schuhwerk trägt und sich so sprichwörtlich auf freiem Fuß bewegt. Bei Thomas Fantl ist ein solcher Wandel nicht inszeniert – der dargestellte van Gogh verändert sich während des Filmes äußerlich nicht, auch nicht in seiner Rolle als Kunsthändler. Zudem gleicht der vollbärtige van Gogh-Darsteller Herbert Fleischmann mit seinen etwas älteren Gesichtszügen mehr dem vom Leben gezeichneten Maler als der noch zehn Jahre jüngere Kollege Sodann. Ähnlich wie in Fantls Fernsehspiel nutzt auch Peter Sodann in der Aufführung die Möglichkeit der Bühnenmusik. So wird über die expressive Musik von Henry Berthold die unheimliche Stimmung, die vom Karussell im Hintergrund ausgeht, weiter bestärkt. So schreibt ein Rezensent: »Als Begleiterscheinung zu dem Zeitkarussell können sich kreischende Dissonanzen zu infernalischer Lautstärke steigern […].«147 Diese in zunehmendem Maße entnervenden Töne werden zwischenzeitlich von warmen Cello-Weisen unterbrochen. Der Theaterkritiker Linzer war von dem kontrastreichen Musikkonzept weniger überzeugt, da es die Aufführung »unangemessen theatralisierte«148. Eine Besonderheit in der Inszenierung war nach Meinung aller Rezensenten die Poesie des ästhetischen Raumes. Diese wurde durch die Bildhaftigkeit der Ausstattung aber auch durch traumhafte Figuren wie Jacky (gespielt von Christine Krüger) erzielt. Durchweg hervorgehoben wurde dementsprechend die Liebesszene zwischen Jacky und van Gogh. Christine Krüger spiele das Mädchen Jacky sehr ausdrucksstark, findet Martin Linzer und betont, dass sie diese poetische Figur, die zwischen Traum und Wirklichkeit angesiedelt sei, überzeugend dargestellt habe.149 Der Rezensent des Sächsischen Tageblatts stellt den von ihr gespielten nahtlosen Übergang von »[…] Temperament, erwachender Liebe [und] geistiger Umnachtung […]«150 heraus. Insgesamt sehen die Rezensenten in der Inszenierung von Van Gogh ein Beispiel an Willenskraft und ein Bekenntnis zum Humanismus. Sie ordnen den Künstler als Utopist ein, der an den Bedingungen seiner Zeit scheiterte. Mit diesem Thema und auch mit dem poetischen, traumhaften Realismus reiht sich die Inszenierung in eine kulturgeschichtliche Tendenz ein. In den 1970ern liberalisierte sich die Kulturpolitik, wurde offener für moderne Formen und subjektive Wahrnehmungsformen. Es zeichnete sich in der Kultur der DDR eine Tendenz zur Innerlichkeit wie zur Historisierung ab, in der der Blick weg von der gegenwärtigen Situation gelenkt wurde. Anders als in den Auf baujahren waren auf den Bühnen der DDR neben dem sozialen Raum der Arbeiter und Bauern, d.h. Fabriken oder landwirtschaftliche Produktionsstät147 | DP 1973. 148 | Siehe Linzer 1973, 18. 149 | Siehe Linzer 1973. 150 | DP 1973.

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ten, verstärkt historische oder antike, mystische Räume zu sehen und es wurden entfernte geschichtliche Kontexte dargestellt.151 Dabei erweiterte sich das Spektrum des Figurenrepertoires in der zeitgenössischen Dramatik – neben Arbeitern, Bauern und Parteifunktionären traten vermehrt auch bürgerliche Figuren des 18. oder 19. Jahrhunderts, Künstlerfiguren und auch märchenhafte oder mythologische Figuren auf. So wendet sich Peter Hacks in der erfolgreichen Produktion Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe (1974) den Liebschaften zwischen Goethe und Frau Stein in der Kulturstadt Weimar zu oder versetzt Ulrich Plenzdorf in Die neuen Leiden des jungen W. (1972) Goethes Figur des Stürmer und Drängers in eine realsozialistische Umgebung. Auch in der Fernsehdramatik ist der Trend zur Historie zu beobachten.152 In der 1973 ausgestrahlten Fernsehserie Stülpner Legende, die in der Gegend des Erzgebirges in der historischen Epoche der Aufklärung spielt, war ein Teil des Karl-Marx-Städter-Ensembles beteiligt. Die Serie handelt von dem Räuber Karl Stülpner, gespielt von Manfred Krug, der einem ostdeutschen Robin Hood gleicht, sich gegen die Ungerechtigkeit der feudalen Herrschaft stellt und die arme Bevölkerung mit Wild aus dem Jagdgebiet der Adeligen versorgt. Anhand dieser märchenhaften Gestalt wird exemplarisch die Errungenschaft der sozialistischen Revolution angesichts der Ungerechtigkeit in der höfischen Welt aufgezeigt.153 Diese Inszenierungen verlagern aktuelle politische Diskussionen auf Epochen, in denen die politische Gesamtlage und das Machtgefüge einfacher zu durchschauen und zwischen den Klassen genauer zu unterscheiden war. Die Rückwendung bedeutet somit eine Vereinfachung gegenüber der sozialistischen Gegenwart – waren in der DDR in den 1970er die Verhältnisse doch um ein vielfaches komplexer als in den klar gegliederten Klassengesellschaften der bürgerlich-feudalen Epoche. In diesen verknappten Gegenüberstellungen konnten starke Gefühle abgerufen werden und damit zustimmende Einstellungen, die das System der DDR dringend benötigte. In den 1970er Jahren wurde eine Politik des Status quo verfolgt, die im großen Gegensatz zu der radikalen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Auf baujahre und der Emphase der Auf baugeneration stehen, wie sie im Programm des Bitterfelder Weges zum Ausdruck kamen. Diese neue politisch-wirtschaftliche Ausrichtung verfolgt das Ziel, den Lebensstandard zu erhöhen und ein Wohlstandsniveau abzusichern, was zu einer »Verbürgerlichung« des sozialistischen Systems führte.154 Die Vision einer kommunistischen Gesellschaft, deren politische Konzeption weit über die Wohlstandsprogrammatik der 1970er hinausgeht, wurde relativiert und durch pragmatische Formeln ersetzt. In den 151 | Siehe Theaterchronik in Fiebach/Hasche 1994, 76-90. 152 | zu Plenzdorf siehe Emmrich 2000, 249-251. 153 | Siehe Stülpner-Legende. 154 | Siehe Weber 2006, 80f.

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Ohren der jungen Generation klangen die Parolen und Ideen der Auf baugeneration antiquiert und überholt, der beschworene Geist der Utopie und die Aufbruchsstimmung der ersten zwei Jahrzehnte waren in den 1970er Jahren sichtlich gedämpft. Unter dem Schlagwort »Ankunft im Sozialismus« rückten subjektive Empfindungen und individuelle Wahrnehmungen in den Vordergrund.155 Angesichts der empfundenen Starrheit des gesellschaftlichen Systems und der festen Installierung des Überwachungs-und Machtapparates bei gleichzeitigem Abnehmen eines utopischen Geistes schien der in Van Gogh problematisierte Antagonismus zwischen Leben und Kunst wieder aktuell. Dies verdeutlicht Christoph Schroths Inszenierung von Kap der Unruhe 1971/72 an der Volksbühne Berlin (Theater im 3.Stock): Der Arbeiter Kap wird dort als proletarischer Künstler inszeniert, der sich über klassische Musik und eine ungebundene Lebensweise eine eigene, antibürgerliche Welt auf baut. Kap steht dem zum Stillstand tendierenden Sozialismus kritisch gegenüber. Ähnlich dem Stürmer und Dränger Werther schwankt Kap zwischen Verträumtheit und Idealismus: Sein Habitus steht im Widerspruch zur genügsamen Mentalität seiner Umgebung. Schroth greift die Stürmer und Dränger-Pose von Kap auf und veranschaulicht in der Inszenierung, wie sich die politische Utopie im Alltag des realen Sozialismus verkleinert und die revolutionäre Figur zum Grenzgänger bzw. zum Außenseiter wird. Wie Sodann nutzt auch Schroth dabei das Kostümbild, um den Kontrast zwischen rebellisch-freiheitsliebenden und bürgerlich-angepasstem Gestus herauszustellen. Der Vergleich zweier Szenenfotos, auf denen zum einen die umworbene Frau Annerose mit ihrem Mann Bob zu sehen ist und zum anderen der Nebenbuhler Kap, macht die Unterschiede zwischen diesen beiden Arbeitertypen deutlich. Während der Arbeiter Bob (gespielt von Armin Müller-Stahl), seine Frau Annerose (gespielt von Annekatrin Bürger) im Arm haltend, mit seiner Brigade seine Beförderung überschwänglich feiert, steht der Kranfahrer Kap (gespielt von Arno Wyzniewski) verträumt und unbeteiligt daneben. Der hochgewachsene Bob, gekleidet in festlicher Kleidung mit Fliege, Weste und Hut, entspricht dem Bild des stolzen, arrivierten und aufstrebenden Arbeiters. Demgegenüber zeigt der Arbeiter Kap, in der Ecke sitzend und den Kopf in nachdenklicher Pose stützend, eine demonstrativ ablehnende Haltung. In-sich-zurückgezogen distanziert er sich von den Feierlichkeiten und bleibt trotz des ihn umgebenden Trubels ganz ruhig. Der Arbeiter tritt hier als weltabwesender Künstler auf, der seinen Gedanken nachsinnt und sich für die weltlichen Bedürfnisse, deren Eitelkeit und Ruhmsucht, wenig interessiert. Die inszenierten Figuren betonen die Differenz zwischen den Arbeitern und stellt den Widerspruch zwischen den unterschiedlichen Haltungen heraus, der sich als Widerspruch zwi155 | Siehe zu der wachsenden Kluft zwischen Utopie und Geschichte Emmerich 2000, 239.

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schen Leben und Verinnerlichung verallgemeinern lässt: Der ehrgeizige und seine persönlichen Interessen folgende Bob lebt im Moment, während Kap, dem eine Vision einer anderen Welt vorschwebt, ganz in der Tradition vom Werther, in seiner eigenen Welt versinkt. Kap ist eine Ausnahme-Figur; mit dieser Figurenkonzeption – der Arbeiter als Künstler – versucht Matusche die Kluft zwischen Arbeiter- und Kunstwelt zu überbrücken bzw. ein alternatives Arbeiterbild vorzustellen. In der Volksbühne Berlin arbeitete man eng mit dem Berliner Betrieb NARVA (Kombinat Berliner Glühlampenwerke) zusammen. Regelmäßig wurden Gespräche mit Vertretern des Betriebes über aktuelle Inszenierungen geführt.156 Als Schroth mit seinem Produktionsteam zusammen mit den Vertretern der NARVA den Dramentext bzw. die Aufführung bespricht, werden unter den Arbeitern (u.a. Dreher und Polierer) Vorbehalte und Unverständnis gegenüber einer solchen Figur laut. Vor allem die fehlende Männlichkeit und Willenskraft irritierten die Arbeiter: »Er müßte härter sein, sich durchsetzen, als Angeber.«157 Akzeptanz erfährt die Figur Kap in Hinblick auf seine Unruhe und seinen unbequemen Geist, wobei ein Arbeiter betont: »Kap liebt den Kran, hängt an ihm, will nicht seßhaft werden. Das verstehe ich, das ist schön raus gearbeitet. Ich bin Arbeiter, bleibe bei meinem Kran.«158 Nur wenige der befragten Arbeiter verknüpfen Kaps Unruhe mit den Zielen der sozialistischer Utopie und der Idee, dass die revolutionäre Umwälzung stetig gelebt bzw. in der Haltung der Arbeiter vorangetrieben werden sollte. Ein Lehrling kommentiert: »Für die Jugend ist es aber schwer zu begreifen, zu glauben, daß alles wahr ist, was uns so erzählt wird. Lenin und Oktoberrevolution, das wird uns von hinten und vorn reingestopft. Und das zu glauben, daß der Sozialismus einen Sinn hat, das ist schwer.«159 In diesen kritischen Aussagen zeigt sich der idealistische Charakter von Matusches Dramen. In seinem Weltbild hebt sich der Unterschied zwischen revolutionärem Arbeiter und Künstler auf und die Konflikte eines van Gogh oder Hölderlin lassen sich auf die Verhältnisse des realen Sozialismus übertragen. Sein Ideal entspricht dem Konzept des Bitterfelder Weges von 1958, welches auf der einen Seite die Künstler dazu aufforderte in die Betriebe zu gehen und von der Produktion zu lernen, auf der anderen Seite die Arbeiterschaft selbst zur Kulturproduktion aufforderte. Obgleich das Projekt zumindest auf Seiten der Arbeiter Erfolge verzeichnete und sich zahlreiche »Brigaden schreibender Arbeiter« bildeten, wurde dieses Kulturreform Anfang der 1960er Jahre revidiert und die angestoßene Zusammenführung von Kunst und Leben wieder zurückgenommen.160 Für das Theater der 156 | Siehe Schroth 2009, 175f. 157 | Lieben zitiert in Schroth 2009, 201. 158 | Kloss zitiert in Schroth 2009, 225. 159 | Roth zitiert in Schroth 2009, 229. 160 | Zum Bitterfelder Weg siehe Emmerich 2000, 128-131.

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DDR hatte vor allem das Konzept des Arbeitertheaters sowie der Volksbühne prägenden Einfluss. Stuber hebt die Bedeutung der Volksbühne für die Entwicklung der Theaterpraxis in der DDR hervor, insbesondere die Konzepte der Volksbühnen-Intendanten Benno Besson und Christoph Schroth, die in den 1970er Jahren die Idee des Bitterfelder Weges aufgriffen, Arbeitertheater in ihre Produktion einbezogen, körperbetonte Spielformen entwickelten und mit Hilfe von Spektakeln und Theaterfesten die Grenze zwischen Realität der Betriebe und Theater weiter öffneten.161 Stuber resümiert: »Diese Volksbühnenkonzeption der Volksbühne in der Tradition des teatro dell’arte war nicht weniger als das Modell einer veränderten Gesellschaft.«162 Das utopische, träumerische Moment dieser Theaterkonzeption ist auch in Matusches Künstlerfiguren angelegt, die die Grenze zwischen Bildungsbürgertum und Arbeiterschaft überwinden und so die Ideale der Gleichheit der neuen sozialistischen Gesellschaftsform verwirklichen wollen. Wie anhand der Inszenierungen in BRD und DDR gezeigt werden konnte, lässt sichdie Aussagekraft von Matusches Künstlerdrama nicht auf eine politische Dimension beschränken. Zwar kann das Stück aus einer marxistischen Perspektive gelesen und als Beispiel genutzt werden, um den Antagonismus zwischen kapitalistischem Wirtschaftsystem und Künstlerleben darzustellen, doch geht es über diese politische Lesart hinaus. Wie am Beispiel des Fernsehspiels Van Gogh gezeigt werden konnte, kann es auch als überzeitliche Mahnung und als Beispiel einer strukturellen Ausgrenzung aus der Gesellschaft gelesen werden. In dieser Lesart werden traumhafte und irrationale Elemente herausgestellt, wie sie in der visuellen Dramaturgie angelegt sind. Der Regisseur betont dabei jene ästhetische Erfahrung, die im kulturellen System der DDR Einordnungsprobleme evoziert und in der Theaterinszenierung von Sodann durch eine eindeutige politische Lesart ersetzt wurde. Der Ausgrenzungsdiskurs und die Frage nach den grundsätzlichen Bedingungen des Menschseins, gehen über die engen Grenzen des DDR-Theaters hinaus. Die dort verhandelte psychologische Struktur der Ausgrenzung, die sich auch im sozialen Raum nachvollziehen lässt, bildet ein breites Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten. Die Raumästhetik des Stücks, welche auf tiefer liegende Bewusstseinsebenen abzielt, ist wenig dazu geeignet, im Konzept des Lehrtheaters des DDR-Theaters aufzugehen. Der bildliche Darstellungsmodus, die Einbeziehung sinnlicher Eindrücke und die hohe Subjektivität gehen über das objektive Realitätskonzept der normativen Kultur der DDR hinaus, was sich im Folgenden an den Geschichtsdramen Matusches zeigen lässt.

161 | Siehe Stuber 1998, 222f. 162 | Stuber 1998, 223.

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M atusches G eschichtsbilder im K onte x t DDR Der Großteil des Werkes stellt in Form von Zeitstücken und Geschichtsdramen eine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte dar. Seine Geschichtsdramatik schwankt zwischen politischer Parteinahme auf der einen und einem unbestimmten, bildhaften Darstellungsstil auf der anderen Seite. In dieser Ambivalenz ist die gesellschaftliche Utopie möglichst offen gehalten; weniger durch alltagspolitische Debatten, denn durch einen Diskurs um grundlegende humanistische Fragen bestimmt. Diese Auseinandersetzung ist eng verbunden mit der Lebensgeschichte des Autors; aus der eigenen Erfahrung und Erinnerung heraus kreiert er Szenen, in denen Geschichte greif bar wird. In der Gesamtschau ergibt sich für sein Werk folgende Chronologie: Es beginnt 1933 in Berlin zur Zeit von Hitlers Machtergreifung (Das Lied meines Weges), führt in die Kriegsgebiete des Zweiten Weltkrieges (Der Regenwettermann, Nacktes Gras, An beiden Ufern) zeigt die zerstörten Städte und traumatisierten Menschen im Nachkriegsdeutschland (Die Dorfstraße, Welche von den Frauen?), problematisiert den Auf bau der DDR angesichts der schuldbeladenen Vergangenheit (Nacht der Linden) und hinterfragt die angebliche Ankunft im Sozialismus (Kap der Unruhe), wobei auch skurrile Seiten des DDR-Alltags aufzeigt werden (Prognose). In jedem der aufgezählten Theatertexte wird Geschichte in konzentrierter bildhafter Form dargestellt, geschichtliche Situationen in Momentaufnahmen durchgespielt und über Handlungsmöglichkeiten innerhalb des vorgegebenen geschichtlich-sozialen Raumes nachgedacht. Dabei ist der soziale Raum konsequent aus einer sozialistischen Perspektive konzipiert, was bedeutet, dass die Stücke an Nebenschauplätzen der Geschichte spielen, an denen im Sinne Benjamins die »Verlierer der Geschichte«163 zu Wort kommen. Deren geschichtliche Erfahrung wird in das Narrativ des Vorwärtsschreitens eingespannt, sodass die Darstellung der Vergangenheit in all diesen Stücken zur Besserung der Gegenwart bzw. zum Auf bau der Zukunft dient. Durch diesen Ansatz relativieren sich die geschichtlichen Katastrophen und die deutsche Misere wird in ein sinnstiftendes Gebilde versetzt. Aus dieser Struktur wird bereits ersichtlich, dass das zugrunde liegende Geschichtsbild der Dramen aus einem sozialistischen Standpunkt aus modelliert ist und vom Prinzip Hoffnung im Sinne Blochs geleitet ist.164 Bloch geht in seinem philosophischen Hauptwerk von der Grundthese aus, dass der Mensch nicht ohne Hoffnung leben kann und somit die Utopie ein existentielles Bedürfnis darstellt. Abgrenzend zu psychoanalytischen Theorien des Unterbewussten von Sigmund Freud und C.G. Jung entwickelt Bloch

163 | Siehe Benjamin 1974a, 697. 164 | Siehe Bloch 1990, 4.

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den Begriff des »antizipierenden Bewusstseins«165 bzw. des »Noch-Nicht-Bewußten«166. Diese Bewusstseinszustände kommen z.B. im Tagtraum vor und sind im Gegensatz zu den Nachtträumen des Unterbewusstseins positiv besetzt. Nach Bloch stellen sie eine treibende Kraft im Menschen dar, welche im jugendlichen Trieb des Drängens, im Modus des Träumens und im Gefühl der Sehnsucht zum Ausdruck kommt. Dieses Bewusstsein tendiere anders als das Unterbewusste nicht zur Verdrängung, sondern dazu, aus sich heraus zu gehen, die Welt zu erweitern und zu verändern. Wenn dieser Drang nach Veränderung bzw. das antizipierende Bewusstsein nicht ausgelebt werde, habe dies ähnliche Folgen, wie sie Freud für die Triebunterdrückung beschreibt. Während sich die Triebunterdrückung auf die Psyche des Ichs auswirkt und Phobien und Neurosen fördern, wirkt sich das Nicht-Ausleben des Bedürfnisses nach Partizipation lähmend auf die Gesellschaft aus. Ohne dieses Grundgefühl, etwas ändern zu können, stelle sich ein Vakuum ein, welches das Grundgefühl von Tristheit und Leere zur Folge habe.167 Matusche knüpft an die existentielle Bedeutung des Hoffens und der damit gegebenen Möglichkeit des Neuanfangs an und konzipiert Figuren, deren politisches Bewusstsein erst im Werden ist. Im Mittelpunkt seiner Dramen stehen Figuren, die im Handlungsverlauf ein antizipierendes Bewusstsein nach Bloch entwickeln und sich aktiv für eine Veränderung der Gesellschaft einsetzen. Dabei sind es weniger politische Ideen, die ihre Handlung leiten, sondern innere, moralische Einstellungen, die durch den Moment des Hoffens verstärkt werden. Durch diese Konzeption sind sämtliche Dramen Matusches auf einen utopischen, »nochwerdenden« Ort ausgerichtet. Mit seinen Geschichtsdramen stellt sich Matusche in eine Gattungstradition, der, angesichts des politischen Auftrages der DDR-Künstler, große Bedeutung zukam. Wie das Künstlerdrama, entstand diese Gattung im Zuge der Aufklärung und geht mit der Herausbildung eines bürgerlichen Selbstbewusstseins einher. Stellt das Künstlerstück eine Auseinandersetzung mit der Stellung des Individuums in der Gesellschaft dar, so gilt das Geschichtsdrama als Form der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichtlichkeit und dient somit als Rahmen, die eigene Position innerhalb der Historie zu reflektieren. Im deutschen Sprachraum kann Goethes Drama Götz von Berlichingen (1773), welches unter dem Eindruck der Shakespeare Dramen entstand, als erstes Ge165 | Der zweite Teil seines Werkes ist mit dem Begriff »Das antizipierende Bewusstsein« betitelt. In dem Teil grenzt er diese Bewusstseinsform zum Unterbewusstsein im Sinne Freuds wie Jungs ab, siehe Bloch 1959, 57f. 166 | Den Begriff des Noch-Nicht-Bewussten verwendet Bloch, um die menschliche Grunderfahrung der Utopie am individuellen Beispiel zu beschreiben, siehe Bloch 1959, 131. 167 | Siehe Bloch 1959, 86f.

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schichtsdrama gewertet werden. In dieser Dramenform löste sich die strikte, auf Aristoteles zurückgehende Trennung zwischen Geschichte und Drama auf.168 Nicht der Mythos oder wie im barocken Drama die Allegorese, in welcher sich das Drama der Philosophie annähert, sondern eine engere Bindung zwischen (gegenwärtiger) Geschichte und Bühne wird herausgestellt. Jürgen Schröder zeichnet in seiner Studie zum Geschichtsdrama die Entwicklungslinien vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart nach und zeigt, wie sich mit Anbruch der Moderne die Wahrnehmung von Geschichte bzw. das Verhältnis von Individuum und Geschichte fundamental änderte: Stand zur Zeit der Aufklärung das souveräne Subjekt, welches sich handelnd in den geschichtlichen Prozess einbringt, im Vordergrund, liest sich die Entwicklung des Geschichtsdramas im 19. Jahrhundert als eine Abkehr von einer mündigen hin zur unmündigen Geschichte. In Geschichtsdramen der beginnenden Moderne, etwa in Georg Büchners Dantons Tod (1835), kündigt sich ein Geschichtsverständnis an, in dem Geschichte weniger über personale Handlungen und Entscheidungen strukturiert ist, sondern über Prozesse und Dynamiken, in die der Einzelne keine Möglichkeit hat, einzugreifen: »Bei Büchner hat das große Individuum schon zu Beginn die Bühne der Geschichte verlassen und den Kampf aufgegeben.«169 Das Ideal der Aufklärung eines souveränen, selbstbestimmten Individuums wird in diesem Geschichtsbild relativiert und ist durch die in der Moderne verstärkte Grunderfahrung des Verlustes an Souveränität und Handlungsfähigkeit geprägt. In diesem Zusammenhang bezieht Schröder die Entwicklung des Geschichtsdramas auf das Modell der deutschen Misere, in der die deutsche Geschichte als Abfolge missglückter Revolutionen und Kriegskatastrophen begriffen wird.170 Das sozialistische Geschichtsdrama stellt nach Schröder einen Versuch dar, sich dieser »Entmündigung« entgegen zu stellen und sich der Geschichte wieder zu bemächtigen, wobei die Geschichtskonzeption eng mit der marxistischen Theorie verbunden ist. So kündigt Das Manifest der Kommunistischen Partei (1848) an: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen«171, um anschließend den Parteimitgliedern die Ausbeutung der Arbeiterklasse und der Mittelstände durch die Bourgeoisie seit dem Siegeszug der Industrialisierung vor Augen zu führen und dazu aufzurufen, das Rad der Geschichte umzudrehen und eine Herrschaft des Proletariats zu erringen.172 Entsprechend diesem Geschichtsbild können nach Schröder die Geschichtsdramen der DDR von der westlichen Perspektive abgegrenzt werden. Als sich im Westen ein all168 | Siehe Aristoteles 1982, 29. 169 | Schröder 1994, 190. 170 | Siehe Schröder 1994, 258. 171 | Marx/Engels 1972, 23. 172 | Siehe Engels/Marx 1972, 23-37.

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gemeiner Geschichtsskeptizismus ausbreitete, lieferte im Osten die Geschichte die Grundlage zur politischen Positionierung: »Während die Geschichte in den kapitalistisch-demokratischen Staaten sozusagen exkommuniziert und aus dem Lande verwiesen wurde, erhob man sie in den kommunistischen auf einen mit absoluter Herrschergewalt ausgestatteten Thron.«173 In diesem Zusammenhang ist die Sonderstellung des Geschichtsdramas im Theater der DDR zu verstehen, in welchem die Schaffung von historischem Bewusstsein zum wesentlichen Merkmal wird. Der historische Stoff wurde genutzt, um für das neue Gesellschaftssystem oder in den Worten der sozialistischen Propaganda für das »bessere Deutschland« zu werben. Das Geschichtsdrama der DDR folgte einem didaktischen Programm und setzte darauf, dem Zuschauer (pathetische) Siegergefühle zu vermitteln. Anhand der geschichtlichen Darstellung sollte dem Bürger der DDR die Errungenschaft dieses Gesellschaftssystems vor Augen geführt und ihm eine Orientierung über die wichtigsten Etappen und Entwicklungsstufen der sozialistischen Bewegungen gegeben werden. In diesem Geschichtsbild kehrt sich das Machtgefüge der bürgerlichkapitalistischen Welt um und es bildet sich eine Siegergeschichte der bisher unterprivilegierten Klassen heraus. Besonders in den ersten zwei Jahrzehnten der DDR nahmen Zeitstücke und Geschichtsdramen eine wichtige Position in der Spielplankonzeption ein. Diese Dramen lassen sich nach Grad der Anpassung an das offizielle nationale Geschichtsbild, Reflexionsgrad und Darstellungskonvention unterscheiden. In der Literaturgeschichte hat sich die Einordnung nach den Unterscheidungskriterien affirmativ und dialektisch etabliert: auf der einen Seite Dramen, die den Geschichtspathos uneingeschränkt bedienten und eine Siegergeschichte repräsentierten (die bestätigende, affirmative Dramatik), auf der anderen Seite Dramen, die Geschichte trotz des politischen Auftrages kritisch, in ihren Widersprüchen darstellten (dialektische Dramatik).174 Das affirmative Drama tendiert zur Harmonisierung und Idealisierung der geschichtlichen Situation; die Dramen bestätigen den offiziellen politischen Kurs und arbeiten mit einer konventionellen aristotelischen Dramenästhetik, die auf einer Protagonist-Antagonist-Struktur Spannung aufbaut und den Zuschauer zur Identifikation mit den Helden des Sozialismus führen will. In dieser Dramatik werden formalisierte Erinnerungsmodelle (etwa die Erinnerung an die Widerstandshelden) und typisierte Figurenkonzeptionen (Wandlungsfigur) genutzt, um geschichtliche Entwicklungen darzustellen. Zu den Vertretern der affirmativen Dramatik zäh-

173 | Schröder 1994, 258. 174 | Dieses Unterscheidungskriterium zwischen affirmativer und dialektischer Dramatik wird vor allem in der Literaturgeschichte von Wolfgang Emmerich angewandt. Siehe Emmerich 2000, 95f.

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len Hedda Zinner, Friedrich Wolf oder Helmut Baierl.175 Auf einem höheren Reflexionsniveau ist das dialektische Drama angesiedelt, welches einen selbstkritischen Blick auf die eigene Geschichte wirft, etwa die jüngste faschistische Vergangenheit mit bedenkt und ambivalente, in-sich-zerrissene Protagonisten entwirft. In den Dramen der kleinen Pädagogik (Brecht) sollte das Publikum zu einem Verständnis über das wechselseitige Verhältnis zwischen Gegenwart und Geschichte gelangen und seine eigene Rolle innerhalb des neuen Staates reflektieren.176 Diese Traditionslinie des dialektischen Dramas ging von Brechts Konzept des Lehrtheaters sowie Geschichtsverständnis aus. Dieser zielte darauf, innerhalb der Gesellschaft der neu gegründeten DDR, auch ein neues gesellschaftliches Bewusstsein herzustellen und die unter der Hitler-Diktatur indoktrinierten und eingeübten Denkweisen aufzubrechen. Wie Heiner Müller schildert, sagte Brecht 1948 in einer Diskussion um das Theater: »[…] was dieses Land braucht, sind zwanzig Jahre Ideologiezertrümmerung«177. Um diese Aufgabe zu erfüllen, nutze er geschichtliche Stoffe, um einen »kritisch-entlarvenden Blick«178 einerseits auf die Vergangenheit, gleichzeitig aber auch auf die Gegenwart zu richten. DDR-Dramatiker wie Heiner Müller, Peter Hacks oder Volker Braun stehen in der Tradition von Brechts Lehrtheater und führen in ihren frühen Stücken Brechts Konzept eines didaktischen Theaters weiter. Im Rahmen der Produktionsstücke, etwa in Müllers Der Lohndrücker (1956/57), Brauns Hinze und Kunze (1967) oder Hacks Die Sorgen und die Macht (1960), setzten sie sich kritisch mit gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR auseinander, mit dem Ziel, den Zuschauer ein Bewusstsein für die geschichtliche Situation zu geben, gleichzeitig diese aber auch von den Vorzügen des sozialistischen Systems zu überzeugen.179 In diesem literaturhistorischen Zusammenhang steht der Außenseiter Matusche mit seinen Geschichtsdramen und Zeitstücken, die überwiegend im Zeitraum der 1950er und 1960er Jahre entstanden sind. Diese Geschichtsentwürfe stehen unter dem Eindruck des Anfangs, des Aufbaus der DDR und der Idee der politischen Utopie einer sozialistischen Gesellschaft. Die Rezeption sowie die Konzeption der Stücke sind durch die ideologischen Kämpfe auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs geprägt; in der Geschichtsdarstellung kommt der Streit, um die Deutungshoheit der Geschichte zum Ausdruck. Zu brisanten politischen Themen wie Aufrüstung, Grenzkonflikte und Kollektivschuld nehmen seine Dramen Stellung und bringen die Konflikte auf eine höhere Reflexionsebene. Aufgrund der Komplexität aber auch Poetizität seiner Dramen ist es schwierig, Matusche eindeutig in 175 | Siehe Emmerich 2000, 156f. 176 | Siehe Stillmark 2015, 14. 177 | Brecht zitiert in Stillmarck 2015, 16. 178 | Schröder 1994, 271. 179 | Siehe Emmerich 2000, 353f.

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eine der aufgezeigten Traditionslinien der DDR-Dramatik einzuordnen: seine Dramenkonzeption scheint weder mit der affirmativen noch mit der dialektischen Dramatik des didaktischen Theaters übereinzustimmen. In den folgenden Analysen wird zu zeigen sein, inwiefern die Ideologie des marxistischen Geschichtsverständnisses in den Dramen reproduziert und strukturell bestätigt wird oder inwieweit es von diesem abweicht und »blinde Flecken« bzw. unterdrückte Erinnerungen verhandelt, die dem offiziellen Geschichtsbild entgegen laufen und auf gesamtdeutsche Geschichte verweisen. Beginnend Mitte der 1950er Jahre mit der Inszenierung Die Dorfstraße wird dabei zunächst die Darstellung der Flüchtlingssituation im Nachkriegsdeutschland in den Blick genommen, um schließlich anhand von Der Regenwettermann zu zeigen, wie Matusche den in den 1960er Jahren angestoßenen Diskurs zur Rolle der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg aufgreift und zu einem Diskurs über die Frage von Schuld und Verantwortung im Sinne der Existenzphilosophie Jaspers ummünzt. In beiden Stücken baut Matusche einen sozialen Raum auf, der die Perspektive von »unten« spiegelt und Geschichte aus machtfernem Blickwinkel der »Verlierer« erleben lässt. Auch zeigt er innerhalb dieses sozialen Raumes andere Räume im Sinne von Foucaults Konzept der Heterotopie auf, in denen innerhalb der vorgegebenen gesellschaftlichen Raumes Machtverhältnisse außer Kraft gesetzt und Wahrnehmungswechsel evoziert werden.

Die Dorfstraße (1955): Opferdiskurs während des Kalten Krieges Anfang der 1950er Jahre war der Ruf nach neuer sozialistischer Dramatik in der DDR laut, man benötigte dringend aktuelle Stücke, um sich als sozialistisches Theater zu positionieren und die Umwälzungen innerhalb der Gesellschaft zeitnah auf der Bühne zu spiegeln. Um diesem Mangel entgegen zu wirken, rief 1951 die neu eingerichtete Kommission für Kultur einen Wettbewerb für zeitgenössische Dramatik aus. Auch Matusche reichte dort ein Stück ein und gelangte so erstmals, mit über vierzig Jahren, an die Öffentlichkeit. Obgleich das Stück von der Kommission angenommen wurde, dauerte es noch zwei Jahre bis es von Hannes Fischer inszeniert wurde. Der Inszenierung ging eine intensive Überarbeitung des Textes voraus, wobei dem Dramaturg Heinar Kipphardt die Aufgabe eines Mentors zukam, der die Bearbeitung des Stücks anleitete. Aus einem Bericht, den Kipphardt an die Staatliche Kunst-Kommission180 schrieb, geht hervor, dass für ihn die Mängel vor allem in der losen Szenenfolge, der schwachen Spannungs- und Handlungsdramaturgie und dem Fehlen einer Gegenhandlung lagen. Bevor 1953 das Ministerium für Kultur eingerichtet wurde, war von 1951 bis 1953 die Staatliche Kunstkommission 180 | Siehe Staadt 2011, 56.

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für Leitung und Aufsicht der kulturellen Einrichtungen der DDR zuständig. Sie hatte zentrale Verfügungsgewalt über die wichtigsten kulturellen Institutionen in der Hauptstadt Berlin, zu denen neben den Hochschulen auch das Deutsche Theater, die Komische Oper oder das Berliner Ensemble gehörten. Die Dorfstraße ist mehr ein Zeitporträt, denn ein Zeitstück im ursprünglichen Sinne. Es spielt 1945 in einem Dorf an der neuen Oder-Neiße-Grenze. An vier Schauplätzen werden die Konflikte unter ansässigen Dorf bewohnern, schlesischen Flüchtlingen und den polnischen und russischen Besatzern panoramahaft dargestellt. Der Hauptkonflikt kreist um die neu auszuhandelnden Besitzverhältnisse: der Gutshof eines Adeligen soll kollektiviert werden. Allerdings geschieht die Inbesitznahme nicht ohne Tragik; wie so oft in Matusches Dramen ist der Anfang des sozialistischen Staates von einem Mord überschattet. Um ihr Eigentum zu verteidigen, erschießt die Gutsherrin Elleonor den Russen Rokossi. Dieser sackt zu Boden und ruft noch aus: »Gebt den Boden nicht her, auf den ich falle.«181 In dem Stück entfaltet sich ein klares politisches Programm; es wird suggeriert, dass sich der prekären Situation der Flüchtlinge nur über die Umstrukturierung der gesellschaftlichen Verhältnisse entgegen wirken lässt. Diese zweite Neufassung, welche die Klassenkonflikte so klar herausstellt, überzeugte die Dramaturgie. Trotz dieser sehr langen Bearbeitungszeit, bescheinigt Kipphardt Matusche in einem Bericht an die Kunstkommission »ein außergewöhnliches dramatisches Talent«182 und schließt mit der Hoffnung, dass er »unseren Theatern noch manches Stück schreiben wird.« Die hohen Erwartungen, die an das Debüt dieses Dramatikers geknüpft waren, spiegeln sich auch in den Rezensionen zur Uraufführung am 9. Februar 1955. Dieser wurde seitens der Presse viel Aufmerksamkeit geschenkt. Dies lag zum einen daran, dass das Deutsche Theater in den 1950er Jahren als die wichtigste Bühne der DDR galt, vor allem aber daran, dass der »Nachwuchsdramatiker« Alfred Matusche eine gesellschaftlich zwar brisante, aber im Theater kaum bearbeitete Thematik behandelt hatte. In der Deutschen Woche wird dieser Aspekt besonders herausgestellt: Es geht um das Schicksal der Umsiedler aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße. Es geht um die Verbitterung dieser Menschen, die jedoch nicht Verbitterung bleibt, wenn man ihnen den Weg in ein neues Leben weist, anstatt, wie es leider bei uns geschieht, aus verständlichen Ressentiments ein schmutziges politisches Geschäft zu machen.183

Unabhängig von der politischen Gesinnung sind sich die Journalisten über die Brisanz des Themas einig: Mit den Flüchtlingsschicksalen an der Gren181 | Matusche 2009b, 180. 182 | Kipphardt 2009, 174. 183 | Deutsche Woche 1955.

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ze greife Matusche ein Thema auf, das »schon lange in der Luft lag« und sozusagen nur darauf gewartet habe, auf der Bühne dargestellt zu werden. Der Premiere habe man daher mit »um so größerer Spannung« entgegen gesehen, schreibt die westdeutsche Deutsche Volkszeitung.184 Und die SED-Zeitung Neues Deutschland bekräftigt: »Ein solches Gegenwartsstück haben wir uns seit langem gewünscht, ein Stück, das fruchtbare Diskussionen auslösen wird.«185 Der Spiegel geht auf den Artikel im Neuen Deutschland ein und schreibt, dass das Stück ein »bisher unbewältigtes Thema« aufgreife, bezweifelt allerdings die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung: »Das bisher unbewältigte Thema wird von dem sowjetischen Blatt, schon weniger mutig, so benannt: ›Die OderNeiße-Linie und der schicksalhafte Anstoß, den ihre Errichtung für das Leben deutscher Anwohner beiderseits des Schlagbaums bedeutete.‹«186 Nach Aussage des Spiegels gebe es eine Diskrepanz zwischen den Inhalten des Stücks und der Diskussion innerhalb der DDR-Medien. Hier würde das, was in dem Stück noch ziemlich direkt benannt ist (»Neiße gleich Scheiße«), ziemlich stark abgemildert und in propagandistische Bahnen gelenkt.187 Mit diesem Kommentar berührt Der Spiegel die eigentliche politische Brisanz, die sich an dem Grenzthema offenbart. Die DDR-Regierung war nicht an einer öffentlichen Diskussion der Flüchtlingsschicksale interessiert, sondern daran, für die Notwendigkeit der neuen Grenze und damit für die Umsiedlungspolitik zu argumentieren. Im Jargon der SED-Politik wurde die Grenze als Friedensgrenze bezeichnet, am 6. Juli 1950 unterzeichneten die Regierungschefs Walter Ulbricht und Józef Cyrankiewicz den Vertrag von Görlitz, in dem die polnisch-deutsche Grenze völkerrechtlich anerkannt wurde. Eine solche völkerrechtliche Anerkennung der neuen Grenze war in der BRD-Regierung Anfang der 1950er Jahre undenkbar. Unter der Kanzlerschaft von Adenauer (1949-1966) nahm man eine revisionistische Haltung ein. Die Grenzziehung entspräche nicht dem Potsdamer Abkommen, wäre im Eigeninteresse der sowjetischen Besatzungsmacht und damit unrechtlich. Die CDU unter Adenauer nahm eindeutig die Partei der Vertriebenenverbände ein und schürte damit deren Sehnsucht, wieder in die »Heimat« zurückkehren zu können. Auch die Oppositionspartei SPD unter Kurt Schumacher schloss sich dieser Meinung an. Dieser formuliert am 17. August 1951: »Keine deutsche Regierung und keine deutsche Partei können bestehen, die die Oder-Neiße Linie anerkennen wollen.«188 Erst mit dem Regierungsantritt von Willy Brand 1969 entspannt sich das Verhältnis zu Polen, mit dem Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 wurde die neue Entspan184 | Elsberg 1955. 185 | Knietzsch 1955. 186 | Der Spiegel1955. 187 | Siehe Hartenstein 2007, 195. 188 | Hartenstein 2007, 204.

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nungs-Politik besiegelt.189 Von dieser Entspannung zwischen den Lagern waren die deutschen Staaten im Jahr 1955 noch weit entfernt: für die Ostgrenze zu sein, hieß gegen die Bundesrepublik zu sein. In der DDR-Ideologie drehte sich die Ansicht: Wer gegen die neue Grenzziehung sei, nehme eine kriegstreiberische Haltung ein. Die Anerkennung der Grenze bewirkte auch einen ganz anderen Umgang mit der deutschen Vergangenheit. Während im Westen durch die Ablehnung der Grenze Ressentiments bestärkt wurden, wurde den Flüchtlingen im Osten unmissverständlich klar gemacht, dass es kein »zurück« mehr gibt. Diese Vorwärtsmentalität, die einen rigorosen Schlussstrich zieht und ganz auf die Solidarität zwischen den sozialistischen Ländern setzt, spiegelt sich auch in dem Programmheft zur Aufführung wieder. Dort wird das im Dramentext eher komplizierte Verhältnis zwischen Polen und Deutschen beschönigt und in der offiziellen Ideologie verankert. Nicht das Schicksal und die Kriegserfahrung der schlesischen bzw. polnischen Flüchtlinge kommen zur Sprache, sondern die Grausamkeit des NS-Regimes. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird zunächst auf die Leiderfahrung der Polen und Juden gelenkt und Ausschnitte aus Willi Bredels Roman Das schweigende Dorf (1949), das an die Zwangsdeportationen von polnischen Jüdinnen erinnert, und ein Requiem an Auschwitz von Heinar Kipphardt angeführt. Im Anschluss an die Erinnerung der Verbrechen während des Nationalsozialismus wird an die sozialen Verbrechen der Großgrundbesitzer und die Situation schlesischer Arbeiter während der NS-Diktatur erinnert. Zwei Opferdiskurse stehen hier also nebeneinander, auf der einen Seite die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus und damit die Opfer des Faschismus; auf der anderen Seite die Landarbeiter als Opfer des kapitalistischen Wirtschaftssystems. In dieser Parallelführung der beiden Opferdiskurse zeigt sich ein Grundzug der Geschichtsschreibung der sich neu konstituierenden DDR; das Leid der jüdischen Opfer, die Menschheitskatastrophe des Holocaust, ist fest im antifaschistischen Diskurs verankert und wird in gesellschafts- bzw. wirtschaftspolitischen Zusammenhängen gedacht.190 Durch die Engführung der Verbrechen des Faschismus mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem konnte die Überlegenheit des sozialistischen Systems begründet und eine klare Trennlinie zwischen alter und neuer Ordnung gezogen werden. Genau aus diesem Grund ist die Doktrin vom Antifaschismus so bedeutsam für den Gründungsmythos der DDR und dessen Selbstdarstellung als das »bessere« Deutschland. Ähnlich wie in Westdeutschland zeugt diese Abgrenzung vom Faschismus von einem enormen Verdrängungsmechanismus und von der Idee, man könne die neue Epoche mit einer Stunde Null begin-

189 | Siehe Hartenstein 2007, 210. 190 | Zum Antifaschismusdiskurs und den Erinnerungsformen zum Holocaust in der Nachkriegsliteratur der DDR siehe Bach 2007, 49.

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nen.191 Die historische Situation von 1945 wird im Sinne einer »Auf bau-Erzählung« modelliert, wobei schmerzliche Erfahrungen und Erinnerungen systematisch ausgeblendet werden. Diese Strategie des Ausblendens zeigt sich in der offiziellen Sprachpolitik: die Flüchtlinge aus den Ostgebieten dürfen sich nicht als solche benennen, sondern werden laut der Sprachvereinbarung Umsiedler genannt; Auch das Wort »Vertreibung« ist in diesem Kontext tabuisiert und wird im Geschichtsbild der DDR vielmehr als eine Befreiung dargestellt. In der Argumentation des offiziellen Diskurses konnten sich die Vertriebenen sogar glücklich schätzen, jetzt in der DDR zu sein. Beschönigend nannte man die Umsiedler auch Bodenempfänger, womit indirekt auf die Bodenreform hingewiesen wurde, die im September 1945 als erste Kollektivierungsmaßnahme der SBZ in Kraft trat. Unter dem Slogan: »Junkerland in Bauernhand« wurden rund 7000 Großgrundbesitzer von über 100 ha entschädigungslos enteignet. Das Land wurde unter Landarbeitern, Umsiedlern und Kleinbauern aufgeteilt. Allerdings erhielt die Masse der Kleinbauern so wenig Land, dass sie nicht rentabel damit wirtschaften konnten, ab 1952 schlossen sich diese Bauern in LPGs (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften) zusammen.192 Treibende Kraft bei diesen Maßnahmen war die SMAD, die Sowjetische Militäradministration in Deutschland, welche die Interessen der UDSSR vertrat und half, nach Vorbild der Sowjetunion Stalins das sozialistische System in Ostdeutschland aufzubauen.193 Die schlesische Bevölkerung, welche auf den großen Domänen und Gutshöfen im Osten gearbeitet hatte, würde so aus der »Knechtschaft« von ihren »Junkern« befreit. In der DDR erhalten sie durch die Bodenreform die Chance des Neuanfangs und können dort ihr eigenes Land bestellen. In diesem Diskurs werden die Flüchtlinge als Sieger der Geschichte umgedeutet: in der DDR ist jeder von ihnen Teil eines Produktionskollektivs und kann sein Land selbstverantwortlich bestellen. In dieser Darstellung wird der Konflikt an der Grenze zu einem Klassenkonflikt umgemünzt. Es geht nicht mehr um die Frage einer gesamtdeutschen Schuld, sondern um die Schuldigkeit des kapitalistischen Systems, personifiziert in der Figur des nazistischen Großgrundbesitzers. Ein Ausschnitt aus Die deutschen Bauern von Ernst Goldenbaum und Notizen eines schlesischen Landarbeiters fungieren im Programmheft dazu, das ausbeuterische Verhalten der Gutsherren und die Versklavung der Bauern zu veranschaulichen. Mit diesem Material wird der im Stück verhandelte Konflikt um das Gut der adeligen Familie Boguslaw vorbereitet und zeitgeschichtlich verortet: Zur Spielzeit – Anfang September 1945 – erfolgte die erste Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone. Die Bodenreform wird in diesem Bericht als große Befreiungsaktion der Arbeiter und Bauern inszeniert. Ver191 | Zum Phänomen der Verdrängung siehe Glaser 2004, 17. 192 | Siehe Weber 1993, 13. 193 | Siehe Weber 1993, 5.

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schwiegen werden dabei die tatsächlichen Konflikte, die sich zwischen den Flüchtlingen, ansässigen Bauern und ehemaligen Großbauern entluden. Tatsächlich verlief die Zwangskollektivierung nicht konfliktfrei, zudem erhielten die Kleinbauern so wenig Land, dass es kaum zum Leben reichte.194 Neben den Gutsbesitzern wird der Westen als Feindbild inszeniert. In einem Ausschnitt aus einem Referat der IV. Tagung des Weltfriedenrates klagt man Westdeutschland als großen Verhinderer und Kriegstreiber an, wobei der 1955 von der BRD verabschiedete Entschluss eine Bundeswehr aufzubauen, als »Wiederauferstehen der Wehrmacht« beschrieben wird.195 Dem Programmheft ist eine Landkarte der Sowjetischen Besatzungszone hinzugefügt, die eine Übersicht über die genaue Anzahl der Flüchtlinge, deren Herkunft und Ansiedlung im Jahr 1945 gibt. Beschönigend und gemäß dem Politik-Jargon der SED werden die Umsiedler hier als »Bodenempfänger« bezeichnet; ein Begriff, der auf die bereits kurz nach dem Krieg eingeleitete Kollektivierung der Landwirtschaft verweist. Aus der Karte geht hervor, dass insgesamt 435.485 Flüchtlinge in der Sowjetischen Zone angesiedelt und 9800 Güter im Zuge der Umverteilung enteignet wurden. Neben der Übersicht zur Bodenreform ist eine Grafik von Tomasz Gleb zu sehen, die eine Gruppe schlesischer Landarbeiter im Abhängigkeitsverhältnis zu einem Großgrundbesitzer darstellt. Im Habitus des Herrschenden sammelt der Gutsherr die Abgaben der Landbevölkerung ein. In einem kurzen Porträt wird auch Matusche in diesen geschichtlichen Kontext eingebunden und von Rudolf Harnisch als »ein bärtiger Mann in Hemdsärmeln«196 vorgestellt. Dieser Handwerkersohn mit interessantem Gesicht, habe 1945 »auf volkseigenen Gütern selbst mit anpackt« und hautnah erlebt, wie die Eingesessene und Neubürger ihre neue Ordnung selbst schufen.197 Diese optimistischen Darstellungsstrategien, die das gesellschaftlich »Neue« inszenieren und als Errungenschaft feiern, stehen im Kontrast zu denen in Matusches Stück. Wird im Programmheft die »Diskussion« um die Grenze in eindeutige ideologische Bahnen gelenkt, wird bei Matusche die Grenzproblematik in ihrer ganzen gesellschaftlichen Brisanzverhandelt, wobei politisch sehr unterschiedliche Standpunkte zur Sprache kommen. Statt die Grenze als Friedensgrenze zu feiern, wird die neue Grenzziehung als tiefer Einschnitt in die Lebenswelt der Menschen thematisiert und gezeigt, mit welcher Verlusterfahrung diese neue Grenze einhergeht. In dem Stück ist das Bemühen zu erkennen, die geschichtliche Situation in ihrer ganzen Ambivalenz darzustellen, wobei die Stimmen der deutschen Flüchtlinge denen der ansässigen Bevölkerung und den polnischen und russischen Besatzern gegen194 | Siehe Weber 1993, 11f. 195 | Siehe Kipphardt 1955. 196 | Hanisch 1955. 197 | Kipphardt 1955.

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überstehen. In der Figurenrede sind dabei nicht allein die materiellen Sorgen, sondern auch die mentale Verfasstheit gespiegelt, wobei auch Ressentiments und revanchistische Gefühle zum Ausdruck gebracht werden. Es wird gezeigt, welchen Schmerz und Verlust die Umsiedlung bedeutet und das tiefgreifende Gefühl der »Unbehaustheit« und Unsicherheit transportiert. Zwar wird der Auf bau einer sozialistischen Gesellschaft als notwendiger Schritt argumentiert, doch ist dieser gleichsam als kräftezerrender Prozess dargestellt. Aufgrund dieser Diskrepanzen zwischen offiziellem Geschichtsbild und dem so vielschichtigen Erfahrungsporträt der Aufführung kam es auch in der Kritik zu Verwunderung. Irritiert fragt ein Journalist der westdeutschen Presse angesichts dieser Unstimmigkeiten nach der eigentlichen Absicht der Aufführung: Wollte man politische Propaganda treiben, so muss das geschickter geschehen oder wollte man eine Autorenbegabung fördern, so hätte auch diese Fassung, die noch alle Mängel eines Erstlingswerkes aufwies, noch nicht zur Diskussion gestellt werden dürfen, oder, und das ist die dritte Frage, wurde Langhoff von höherer Stelle anempfohlen, diese Arbeit anzunehmen?198

Aus west- wie ostdeutschen Rezensionen geht Irritation und Verwunderung angesichts der ambivalenten Figurenkonzeption und Handlungsführung hervor. Beide Lager bewerten die Inszenierung insgesamt als wenig gelungen, wobei dieses Nicht-Gelingen nach Meinung vieler Kritiker weniger durch die Leistung der Regie bzw. der Schauspieler, sondern durch die Dramaturgie und die Schwächen des Dramentextes bedingt ist. Das Neue Deutschland beklagt Matusches verknappte Sprache und schreibt: »seine sparsamen Dialoge und die allzu große Kargheit des Wortes«199 mache es den Schauspielern schwer, vielschichtige Charakter zu bilden. Man bedauert die Mängel der Dramaturgie, da der Regisseur sich auf »ausgezeichnete Schauspieler stützen [konnte], die jeder Figur ein Höchstmaß an Profil gab.200 Aus diesen Kritiken lässt sich eine ambivalente Seherfahrung herauslesen. Die Aufführung verunsicherte insofern, dass ein Wahrnehmungsraum aufgebaut wurde, der nicht dem Erwartungshorizont entsprach und dem propagierten Weltbild entgegenlief. Besonders in den Flüchtlingsszenen entstehen Momente, die Ost- wie Westkritiker gleichermaßen berührte. In der krassen Realistik der Sprache und Erzählung von der Schwere der Flucht, des Heimatverlusts und des Lagerlebens wird auf der Bühne ein Erinnerungsraum für eine gesamtdeutsche Leiderfahrung geschaffen, die außerhalb der politischen Grabenkämpfe und aktuellen politischen Interessen stand. In der Inszenierung zeigt sich also der Widerspruch zwischen einer 198 | SOS Berlin 1955. 199 | Knietsch 1955. 200 | Ebd.

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Idealästhetik und den Anforderungen des sozialistischen Realismus auf der einen und einer psychologisch genauen, einer Leiderfahrung nachsinnenden Ästhetik, auf der anderen Seite. Diese widerspruchsvolle Inszenierung, die mit Erwartungen brach und zwischen diesen Polen der Propaganda und kollektiver Kriegs-Erinnerung schwankt, soll im Folgenden nachgezeichnet werden.

Symbolik des Lichten am Deutschen Theater Die Vorzüge der Bodenreform und der Umsiedlungspolitik, die im Programmheft so hervorgehoben werden, waren nicht deckungsgleich mit den Erfahrungen der Flüchtlinge in der Nachkriegszeit. Im Aufführungsjahr 1955 war die Umsiedlungspolitik bereits durch die Realität widerlegt worden. Selbst die wichtigste Schriftstellerin der DDR, Anna Seghers, hatte in ihrer 1953 publizierten Erzählung Die Umsiedlerin mit der Frauenfigur Niet eine Figur entworfen, an der die Widersprüche der Flüchtlingssituation zum Ausdruck kamen. In der Erzählung wird gezeigt, wie wenig die einheimische Bevölkerung Rücksicht auf die Rechte der Umsiedler nimmt, ihnen die eigene Wohnung verweigert. Erst als Niet sich traut, sich in der Öffentlichkeit bei einem Parteifunktionär zu beschweren und ihr Recht einzufordern, verändert sich die gesellschaftliche Situation. Durch ihr eigenes Handeln erreicht sie, dass sich ihre private Situation verbessert und sie in eine eigene Wohnung ziehen kann.201 Was in der Erzählung von Seghers an Kritik möglich war, galt nicht für die wichtigste Staatsbühne der DDR Mitte der 1950er Jahre. Unter Aufsicht und Leitung der staatlichen Kunstkommission wurde eine Idealästhetik eingefordert, die dem Zuschauer die Vorzüge des sozialistischen Systems aufzeigte und nach Westen hin propagierte. Das Theater der Hauptstadt Berlin lag auch im weltpolitischen Zentrum, die Ausrichtung der Aufführungen lassen sich so auch immer in Beziehung zum politischen Kurs setzen. Gerade zu Zeiten des KoreaKrieges und der Wiederbewaffnung der BRD 1955 bezog das Deutsche Theater eindeutig Stellung. Unmissverständlich wurde der Kalte Krieg auf der Bühne und in den Theaterrezensionen weitergeführt, jede Aufführung konnte als Statement zur aktuellen politischen Lage gelesen werden und stand schon im Vorfeld unter Agitationsverdacht. Neben Matusches Dorfstraße wurde 1955, als Reaktion auf den Anschluss der BRD an die NATO, Johannes Bechers antifaschistisches Kriegsdrama Winterschlacht aufgeführt. Brecht, der auch Regie führte, hatte sich stark für dieses fast vergessene Stück eingesetzt, dass an die Grausamkeit des Zweiten Weltkrieges erinnert und zeigt, wie sich der Wehrmachtssoldat Höderer in einen Pazifisten wandelt. Aufgrund der Brisanz der politischen Lage, bediente sich Brecht hier den Strategien des Illusionstheaters um eine stärkere Breitenwirkung zu erzielen.202 Unter diesem Repräsentationsdruck und der Politisie201 | Siehe Seghers 2009, 338. 202 | Siehe Rühle 2014, 543.

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rung des Theaters verflachte der künstlerische Anspruch und affirmative Darstellungsformen wurden zur Norm. Während noch in den Aufbaujahren von dem Intendanten Wolfgang Langhoff ein psychologisch-genaues und in der Ausstattung eher »armes Theater« verfolgt worden war, wandelte sich die Theaterästhetik unter den neuen kulturpolitischen Vorzeichen. Anfang der 1950er wechselte Langhoffs Inszenierungsstil von der präzisen realistischen Nachahmung hin zu einem stilisierten Darstellungsstil, in dem mit großen Volksszenen und sozialistischem Pathos in Form von Agitationsliedern versucht wird, starke Bühneneffekte zu erzielen. Die kulturpolitische Engführung auf das Konzept des sozialistischen Realismus, im Sinne einer romantisch-verklärenden Sicht auf die sozialistische Gesellschaft, ging auch mit der Einschwörung auf einen gemeinsamen Schauspielstil einher. Im Stanislawski-System sah die kulturpolitische Führung ein Vorbild für die neue sozialistische Schauspielkunst, dem sich die Regisseure der DDR anpassen sollten und welches auf der Ersten StanislawskiKonferenz im April 1953 den Theatermachern »nähergebracht« werden sollte.203 Unter den Theatermachern gab es große Vorbehalte gegen diese Engführung des Theaters, verstanden viele sich doch eher in der Tradition eines Max Reinhardt, denn in der des unbekannten russischen Regisseurs Stanislawski.204 Doch nur wenige waren in der Position, diesen Vorbehalten öffentlich Nachdruck verleihen zu können. Umso bedeutsamer war die Kritik, die Brecht auf der Stanislawski-Konferenz an der kulturpolitisch forcierten und von Langhoff vertretenden Theaterästhetik äußerte, in der die Diskrepanz zwischen propagandistisch-idealisierender und materialistischer Ästhetik offen zu Tage tritt.205 Eröffnet wurde die Konferenz von Langhoffs Egmont-Inszenierung als Beispiel eines sozialistischen Theatermodells. In seinem Referat wendet sich Brecht entschieden gegen Langhoffs »naive« Interpretation des Klassikers. Die Naivität liegt für ihn in der affirmativen, unkritischen Übernahme der klassischen Figurenkonzeptionen. Langhoff habe Egmont als gefeierten Volkshelden inszeniert, ohne dessen Bürgerlichkeit zu hinterfragen bzw. seinen Klassenstandpunkt herauszustellen.206 Brecht bezweifelt den geschichtlichen 203 | Im Vorfeld der Stanislawski-Konferenz fand im Januar 1953 der Ersten Theaterkongreß der DDR statt, auf welchem das sowjetische Theater als Vorbild für den Aufbau des sozialistischen Nationaltheaters propagiert wurde. Siehe Rühle 2014, 460. 204 | Siehe Rühle 2014, 460. 205 | In der Theatergeschichtsschreibung der DDR (Theater der Zeitenwende) aber auch der BRD (Theater durch den eisernen Vorhang) wurden die beiden Theatermacher als Antipoden bzw. als Stellvertreter verschiedener Theaterkonzepte einander gegenübergestellt. Neuere theaterwissenschaftliche Forschung wie die Studie von Anja Klöck Heiße West- und kalte Ostschauspieler? (2008) gibt eine differenzierte Sicht auf die Schauspielpraxen in DDR und BRD. 206 | Siehe Schlenker 1977, 126.

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Erkenntniswert dieser Inszenierung und kritisiert die Darstellung des Widerstandkämpfers als zu stilisiert. Egmont sei zu ordentlich gekleidet; historisch genauer sei es, den Widerstandskämpfer so abgehetzt und verschlissen darzustellen, wie es die Lebensbedingungen der Illegalität bedingen: Die Symbolik des Lichten leuchtet mir überhaupt nicht ein, und um Naturalismus handelt es sich keineswegs bei der ursprünglichen Konzeption, denn Anzeichen der Verfolgung gehören nicht ins Gebiet des Zufälligen, Unwichtigen, gesellschaftlich Unbedeutenden. Die Erinnerung an den Widerstandskämpfer hingegen gefällt mir, und die realistische Lösung wäre demnach, eine Kleidung zu wählen, die manche Unbill erkennen lässt und zugleich die Bemühung des Manns, sie sauber zu halten. Ich glaube, so hätte auch Stanislawski, der sehr differenziert vorging und niemals idealisierte, entschieden. 207

Brecht plädiert in diesem Zusammenhang für ein Volkstheater als ein Kunsttheater, in dem das Volk möglichst realistisch und gleichzeitig würdevoll dargestellt werde. Das Leiden der Bevölkerung sollte aus einem plebejischen Blick möglichst wirklichkeitsnah gezeigt werden, um Bewusstsein für die Dringlichkeit der gesellschaftlichen Änderung zu wecken. Eine allzu glatte und harmonische Darstellungsweise erscheint ihm als kontraproduktiv, da sie die aktuellen wie vergangenen Widersprüche in der Gesellschaft verharmlose und somit kein Nachdenken über die gesellschaftliche Situation befördere. In den Inszenierungen des Berliner Ensembles zeigt Brecht verschiedene Wege auf, sich die Klassiker anzueignen und mit Mitteln des Epischen Theaters zu erzählen. Zudem sucht er in Produktionen wie Strittmatters Katzgraben den Anforderungen der Partei entgegen zu kommen und die Stanislawski-Methode innerhalb eines erhöhten Realismus anzuwenden.208 Rühle skizziert die Genese der Katzgraben-Inszenierung: In »jambisch gehobener Volkssprache« hat Strittmatter einen modernen Klassenkampf in einem Dorf in der SBZ 1947 dargestellt und zeigt die Konflikte nach der ersten Bodenreform und Kollektivierungsphase. Brecht sah in Strittmatters Produktionsstück ein Modell der neuen sozialistischen Dramatik. Ein Jahr Arbeit steckte Brecht in diese Inszenierung, während die erste Uraufführung am 23. Mai 1953 verhalten (voller Brecht-Ressentiment) aufgenommen wurde, erhielt die überarbeitete Fassung nach der zweiten Premiere am 28. Dezember 1955 größeren Zuspruch. Trotz dieser Kompromisse und Weiterentwicklung des sozialistischen Theatermodells, wurde die Arbeit des Berliner Ensembles in den angehenden 1950er Jahren von führenden kulturpolitischen Funktionären wie Fritz Erpenbeck nicht wirklich anerkannt 207 | Brecht 1998, 153. (Brecht ist offen für die Stanislawski-Methode: »Gerade wir Deutschen, deren Theater zwischen ideenlosen Naturalismus und purem Idealismus schwankt, können da von Stanislawski lernen.« Brecht 1998, 153. 208 | Siehe Rühle 2014, 463f.

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bzw. respektiert. In einer Grundsatzdebatte über die Ausrichtung des sozialistischen Theaters polemisiert Erpenbeck gegen das Berliner Ensemble und lehnt das »[…] Epische Theater als gangbaren Weg in die Zukunft ab.«209 Doch mit den großen Erfolgen im Ausland und nach Brechts Tod 1956 etablierte sich die Ausrichtung eines dialektischen bzw. fragenden Theaters in der Arbeit der Nachfolger Manfred Wekwerth, Peter Palitzsch sowie Benno Besson.210 Aus diesen Zusammenhängen wird deutlich, wie begrenzt die künstlerischen Spielräume für die Regie am Deutschen Theater bzw. für den Nachwuchsregisseur Hannes Fischer gewesen sein muss. Dieser hat ebenfalls an der Stanislawski-Konferenz 1953 teilgenommen und sich dort solidarisch zu Langhoff positioniert.211 Trotzdem bleibt zu fragen, inwieweit sich die Inszenierung als Tradierung dieser von Brecht kritisierten Ästhetik des Lichten verstehen lässt bzw. welche Ziele mit dieser Symbolik verfolgt wurden. Welche eigenen Akzente setzt Fischers Regie und an welche Erinnerungsdiskurse knüpft die Inszenierung an? Anhand west- und ostdeutscher Rezensionen sowie den von Abraham Pisarek, Willy Saeger und Eva Kemlein fotografierten Szenen, lässt sich die Ästhetik dieser Geschichtsdarstellung erfassen. Zunächst stellt sich der Eindruck einer eher nüchternen Bühnenästhetik ein; die von Bernd Kistner konzipierte Bühne ist reduziert, stellt aber den klassenspezifischen Charakter der sozialen Räume und Figuren klar heraus. Die zwei Innenräume stehen für die konkurrierenden Klassen, sie spiegeln nach Lotman oben und unten dieses sozialen Raumes: auf der einen Seite ein bürgerliches Wohnzimmer im Gut des Grafen Boguslaw. Mit wenigen Mitteln ist der soziale Raum der oberen Klasse bezeichnet: hohe Decken, Kronleuchter und elegant geschwungene Fenster verweisen auf ein großbürgerliches Milieu und auf einen gehobenen Lebensstandard. Auf der anderen Seite ist ein karger Raum mit einfachen Holzmöbeln, niedrigen Decken und ein Holzofen als Zeichen für das proletarische Milieu zu sehen. Interessant ist die Ausstattung der Dorfkneipe, die als Zwischenraum bezeichnet werden kann, wo der Innenraum in eine Art Gartenlaube übergeht. Im Hintergrund der Gastwirtschaft ist hinter den lediglich angedeuteten Wänden des Innenraumes das Flüchtlingslager zu erkennen. Das Lager ist durch eine karge Landschaft bezeichnet, nur die Existenz eines Stacheldrahtes verweist in diesem leeren Raum auf dessen funktionale Bestimmung; ein Telefonmast weist darauf hin, dass das Dorf nicht weit entfernt liegt. In diesem ästhetischen Raum spiegelt sich das kulturelle Modell einer Klassengesellschaft wider; die Einteilung der Gesellschaft in »oben« und»unten« ist über semiotische Zeichen organisiert. Diese klassenspezifischen Zuschreibungen setzen sich im Kostümbild fort. Historisch konkret ist das Kostüm ent209 | Erpenbeck 1998, 164. 210 | Siehe Rühle 2014, 655f. 211 | Siehe Stuber 1998, 344f.

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worfen; auf der Arbeiterkleidung sind Flecken des Gebrauchs zu sehen, die Kleidung ist zerlumpt und den Bedingungen der Lebenssituation angepasst. Flüchtlingsfrauen und Mägde des Dorfes tragen Kopftücher, unförmige, weite Röcke und einfache Hemden. Die Männer tragen abgetragene Anzüge, zu kurze Hosen und aufgeknöpfte Hemden. Ihre Haare sind zerzaust oder unter einem Hut versteckt. Auch im Kostüm sind die Klassenunterschiede unübersehbar, im Gegensatz zu den ärmlich aussehenden Flüchtlingen ist die bürgerliche Frau Boguslaw gut frisiert und wie ihr Mann Ernst adrett gekleidet.212 Eine idealästhetische bzw. propagandistische Ausrichtung ist weniger in der Ausstattung, denn in der Rollenbesetzung zu sehen. In der Besetzungsstrategie zeigt sich die kulturgeschichtliche Verschränkung zwischen der Ästhetik des Theaters und der des Films. Die Produktionen der DEFA waren in den Aufbaujahren der DDR ein wichtiges Instrument der Propaganda; massenwirksam konnte man hier für die sozialistische Sache werben und ein geschichtliches Bewusstsein für den politischen Kampf und die Sinnhaftigkeit der DDR schaffen. Die Ästhetik von Filmproduktionen und Theater war geprägt durch die kulturelle Leitlinie des sozialistischen Realismus. Während auf dem Theater Geschichtsdramen gezeigt wurden, drehte die DEFA aufwendige Historienfilme, die aus sozialistischer Perspektive deutsche Geschichte erzählten und so ein Bewusstsein für die Geschichte der KPD und den politischen Kämpfen während der Weimarer Republik zwischen Vertretern der Industrie, der NSDAP und der sozialistischen Bewegung schufen. Im Ensemble des Deutschen Theaters gab es zahlreiche Theaterschauspieler, die zugleich auch in bekannten DEFAProduktionen mitspielten und in der Bevölkerung sehr populär waren. Einige Schauspieler hatten im Historienfilmen Ernst Thälmann mitgewirkt, in dem mit viel Aufwand die Biografie des KPD-Vorsitzenden und antifaschistischen Widerstandskämpfers erzählt wird. Der erste Teil mit dem Untertitel Sohn seiner Klasse kam 1954 in die DDR-Kinos, er erinnert an den Matrosenaufstand von 1918 und die Gründung der KPD. Das bekannteste weibliche Gesicht war das der Schauspielerin Karla Runkehl (1930-1986), die in dem Film die Widerstandskämpferin Änne Jansen spielte und ihr einen Ausdruck von Integrität bei gleichzeitiger Unschuld gab.213 Entsprechend diesem »Image« spielt Runkehl in Die Dorfstraße mit der Figur Duschenka eine »engelgleiche« und charakterstarke Frauenfigur. Der Polin Duschenka wurden in der Kriegsgefangenschaft beide Augen entfernt, als blinde Frau kommt ihr im Drama eine geradezu mythische Rolle als Seherin zu. Auch der Schauspieler Wilhelm Koch-Hooge (19162004) war auf Vorbildfiguren festgelegt: Für seine Rolle als aufrechter Kommunist Hans Löning in dem Film Stärker als die Nacht wurde er 1955 in Locarno 212 | Siehe Dokumentation der Bühnenbilder (Foto Heinz Hofmeister) Archiv Deutsches Theater. 213 | Habel/Wachter 2002, 324.

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als bester Schauspieler ausgezeichnet.214 Diese Rolle wurde seine Paraderolle, auch in Fischers Inszenierung hat er mit dem kommunistischen Widerstandskämpfer Rokossi eine sehr positiv besetzte Rolle inne. Der überaus bekannte und beliebte Gerhart Bienert (1898-1986) galt als einer der letzten großen Volksschauspieler, der vorrangig berlinerische Typen und Arbeiterfiguren spielte. Bereits als junger Schauspieler hatte er während der Weimarer Republik in Filmen wie Fritz Langs M – eine Stadt sucht ihren Mörder (1931), Dudows Kuhle Wampe (1932) oder von Sternbergs Der blaue Engel (1930) mitgespielt. Im ThälmannFilm profiliert er sich in der Rolle des Arbeiters Otto Kramer. In Fischers Inszenierung spielt er die wichtige Rolle des schlesischen Arbeiters Max, der von den Kritikern viel Aufmerksamkeit erhielt.215 Anders als der Sympathieträger Bienert war der Schauspieler Herwart Grosse (1908-1982) auf das Schurkenfach spezialisiert. In Der Rat der Götter(1950) spielte er den Direktor der IG-Farben. Auch in Fischers Inszenierung übernimmt Grosse mit der Figur des Oberleutnants Ernst die Rolle einer moralisch zwiespältigen Figur.216 Diese Besetzung verdeutlicht, wie vorgeprägt bzw. verfestigt die Rollenbilder bereits durch die DEFA-Produktionen waren. Die Schauspieler reproduzieren hier Zuschreibungen, die bereits im kulturellen System der DDR tradiert wurden. Aufgrund der Deckungsgleichheit zwischen den Rollenzuschreibungen und der hohen Popularität der Schauspieler ist zu vermuten, dass allein durch die Besetzungsliste im Publikum eine bestimmte Erwartungshaltung geschürt wurde. Auch bestätigt die Inszenierung mit dieser Besetzungsstrategie gewohnte Seh- und Wahrnehmungsmuster. Auch in der Ästhetik der DEFA-Filme griff die Symbolik des Lichten: besonders der Thälmann-Film gilt heute als Beispiel einer idealistischen Ästhetik und stellt ein Zeugnis für die Propaganda der 1950er Jahre dar. Die verklärende Darstellung der Geschichte kommt besonders in der Schlussszene des zweiten Teils zur Geltung, wenn die Rote Armee als Sieger und Befreier gefeiert und die Wirklichkeit der Vernichtungslager beschönigend dargestellt wird. Die Szenen der Befreiung gestalten sich als ein Fest; verharmlosend steht die Ästhetik des Films den tatsächlichen geschichtlichen Ereignissen gegenüber. Es wird Ordnung und Aufrichtigkeit suggeriert, wo in Wirklichkeit Chaos, Angst und Verzweiflung herrscht. Für Gefühle und Ängste der Überlebenden, aber auch der beteiligten Soldaten schafft der Film keine Bilder. Systematisch werden Grenzerfahrung des Krieges und der strukturellen Gewalt aus dem Gedächtnis ausgespart und durch agitatorisch-pathetische Geschichtsdarstellung nach dem Konzept des sozialistischen Realismus ersetzt. Zwar hat sich die DEFA von dieser seichten Ästhetik später distanziert, doch gilt sie in der Rückschau als Beispielhaft für 214 | Habel/Wachter 2002, 195. 215 | Habel/Wachter 2002, 28. 216 | Habel/Wachter 2002, 122f.

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die Geschichts- und Menschendarstellung in den 1950er Jahren. Aus heutiger Sicht kann diese Ästhetik des Lichten als Ausdruck einer gesellschaftlichen Notwendigkeit gelesen werden. So arbeitet der Filmwissenschaftler Klaus Finke in dem Aufsatz DEFA-Film als nationales Erbe? Thesen zum DEFA-Film und seiner wissenschaftlichen Aufarbeitung (2001) heraus, dass der neue Staat DDR diesen Mythos bedurfte und mit dem heroisierenden Parteikommunismus die Krisensituation und den Sinnverlust nach dem Zweiten Weltkrieg zu überdecken versuchte. Aus dem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts reiche es nicht aus, die Propaganda nachzuzeichnen und in den Denkweisen des Kalten Krieges stehen zu bleiben. Ziel sollte sein, zu verstehen, was hinter dieser Propaganda liegt, worin sie sich begründet und wie sie sich kulturgeschichtlich auswirkte.217 Finke betont die ambivalenten Aussagepotentiale der DEFA-Filme, die einerseits als »Selbstbild des Sozialismus«218 und Mittel der Verdeckung, andererseits auch als historische Zeugnisse der Sozialgeschichte und »[…] als Bilder der sozialistischen Lebenswelt, d.h. als Bilder, in denen authentische Spuren der vergangenen Epoche auf bewahrt sind […]«219, verstanden werden können.

Lichter Geschichtsraum als Zeugnis der »gefühlten Geschichte« Auch in Fischers Inszenierung wird der Ausgang der Geschichte harmonisiert und versucht, den Zuschauer mit einer optimistischen Haltung aus der Aufführung gehen zu lassen. Besonders in der Schlussszene wird der politische Plan, eine sichere und friedliche Zukunft aufzubauen, auf die Ästhetik übertragen. Die Szene wirkt aus heutiger Sicht pathetisch bis gewollt und lässt sich auch als »naive Ästhetik« beschreiben. In dieser ist die Diskrepanz zwischen den Zielen einer objektiven Realitätsdarstellung und dem intendierten Geschichtsbild eingeschrieben, was dazu führt, dass die Szenen mehr Auskunft über die Wirkungsabsicht, denn über eine tatsächliche geschichtliche Situation vermitteln.

217 | Siehe Finke 2001, 105-107. 218 | Finke 2001, 107. 219 | Finke 2001, 106.

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Abb. 1: Die Dorfstraße, Schlussszene: Karla Runkehl als Duschenka, Ernst Kahler als Capotka, Herwart Grosse als Ernst.

©Stiftung Stadtmuseum Berlin, Foto Abraham Pisarek, Quelle: Archiv Deutsches Theater Berlin.

In der Schlussszene trifft der Oberleutnant Ernst auf die blinde Duschenka: Der Polin wurden im Kriegslazarett beide Augen entfernt und dem schwerverletzten Ernst einoperiert. In der Szene versucht er Worte für seine Schuld zu finden. Ein polnischer Soldat mahnt: »Schweigen Sie, es ist unmenschlich.«220 Ernst befolgt das Schweigegebot und bietet an, beim Wiederauf bau Polens zu helfen. Mit beiden Händen greift Duschenka seine Hand und ertastet so den Anderen. Obgleich eine wirkliche Sühne unmöglich erscheint, wirkt dieses Bild doch wie ein Akt der Versöhnung bzw. des Aufeinander-zu-Gehens. Jänsen wirkt sehr jung und unschuldig, trotz ihrer Blindheit blickt sie ihn direkt an; sie stehen Angesicht zu Angesicht, wobei ihre beiden Körper aufrecht zueinander stehen und so eine innere Haltung der Geradlinigkeit transportiert wird. Ähnlich wie der Schluss des Thälmann-Films wirkt diese um Versöhnung bittende Szene idealistisch und licht, wenn mit dem Gestus der Ergriffenheit die 220 | Matusche 2009b, 183.

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Friedensbotschaft gesendet wird. In dieser Szene wird ein ästhetischer Raum geschaffen, der sehr grundlegende Gefühle wie das der Freundschaft, der Verbindung zwischen den Menschen erzeugt, und damit Gefühle von Wärme. Es ist also ein Raum, der dazu dienen soll, eine offene, geneigte Einstellung im Zuschauer zu erzeugen, der mit Freundlichkeit auf die polnischen Nachbarn blickt und Empathie für ihre Situation empfindet. Die Inszenierung solcher ästhetischer Räume wird im Kontext der angespannten geschichtlichen Situation verständlich, da der Friedensschluss zwischen Polen und Ostdeutschland eine wichtige Grundlage bedeutete, um den neuen Staat aufzubauen. In die Strategie der Harmonisierung spielte sicher auch das Wissen über die tatsächliche Haltung der deutschen Bevölkerung hinein und die Annahme, dass die jahrelang indoktrinierten Feindbilder der Naziideologie mit dem politischen Machtwechsel sicher nicht plötzlich aus den Köpfen der Bevölkerung verschwunden waren. Das Bild der Freundschaft, des »guten« polnischen Nachbarn musste also erst künstlich erzeugt werden; mit der Erzeugung solidarischer Gefühle des Zusammenhaltens verfolgte man das Ziel, die nachhaltig im kollektiven Bewusstsein eingeprägten Feindbilder zu überwinden bzw. einen Wahrnehmungswechsel hervorzurufen. Denkt man daran, mit welchem Pomp in derselben Zeit die französisch-deutsche Freundschaft gefeiert wurde, so relativiert sich diese Idealästhetik. Sie ist nicht allein Ausdruck eines bestimmten politischen Systems, sondern auch einer bestimmten zeitlichen Epoche. In beiden deutschen Staaten griff man auf pathetische und populäre Inszenierungsstrategien zurück und nutzte eine Autorisierung von »oben«, um eine politische Botschaft zu senden. In der BRD war es das kulturell stark geprägte Franzosenbild, welches dabei im Vordergrund stand und die französisch- deutsche Freundschaft, die als Grundlage für ein starkes Europa gebraucht wurde. Die ästhetischen Räume dieser Freundschaftsinszenierung waren dabei verstärkt durch religiöse Formen und Rituale der kirchlichen Institutionen geprägt, wie die Versöhnungsmesse von Reims 1962 verdeutlicht, in der neben dem Raum der Kirche auch geistliche Musik genutzt wurde, um den Effekt der politischen Botschaft zu verstärken.221 In der DDR suchte man andere Wege die politische Botschaft zu erhöhen und mit starken Gefühlen aufzuladen. In Matusches Stück ist ein solcher Weg beispielhaft gezeigt: hier wird die polnisch-deutsche Freundschaft zu einer Art Schicksalsgemeinschaft uminterpretiert. Erst durch Duschenkas Augenlicht ist es Ernst möglich, zu sehen. Durch ihre körperliche Versehrtheit – als Ausdruck des Krieges und der Schuld der deutschen Wehrmacht – sind sie unwiederbringlich miteinander verbunden. Dadurch, dass er durch ihre Augen sieht, verändert sich gleichsam seine eigene Wahrnehmung. Für den Soldaten besteht nun der politische Auftrag darin, Sühne zu leisten und die Nachkriegswelt aus polnischer Perspektive 221 | Siehe zum Aussöhnungsprozess Ludwig/Linsenmann 2011, 27f.

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zu betrachten. Auch in dieser Verkettung der Einzelschicksale, die über den eigenen Willen und Souveränität hinausgeht, ist eine religiöse Bedeutungsebene zu erkennen. Die polnisch-deutsche Freundschaft wird nicht als eine Möglichkeit, sondern als der zwingende Fortgang der Geschichte dargestellt. In der Logik des Kalten Krieges wollte man der anderen Seite ihr jeweiliges Pathos nicht zugestehen und wählte Strategien der Ernüchterung, um die Botschaft zu untergraben. Nicht überraschend zeichnet sich in den ost- und westdeutschen Zeitungen ein klares Meinungsbild ab. Auf ostdeutscher Seite wird die Leistung der Regie wie die der Schauspieler besonders betont und die Schlussszene als die zentrale Botschaft der Aufführung herausgestellt und als »erschütternd« und »ohne falschen Pathos« beschrieben. In »echter Menschlichkeit« seien die Konflikte gestaltet worden.222 Auch setzt sich in der Sprachbehandlung der Rezensionen eine Strategie der Harmonisierung fort, die die Konflikte weniger scharf benennt und in ein freundlicheres Licht taucht. Während in dem Dramentext die Konflikte in einer Alltagssprache gestaltet werden, die von derben, fremdenfeindlichen Ausdrücken wie »Polacken« durchdrungen ist, ersetzten die Kritiken diese Realistik durch eine formelhafte, verallgemeinernde Sprache. Diese Abmilderung kommt vor allem in der SED-Zeitung Neues Deutschland zum Ausdruck, die die prekäre Flüchtlingssituation gänzlich ausspart und sich ganz auf die Botschaft der Schlussszene fokussiert. Zusätzlich zum Szenenfoto ist der Dialog zwischen Duschenka und Ernst mit dem Kommentar abgedruckt: »Die ganze Unmenschlichkeit dieses Krieges wird in dieser Schlussszene zwischen dem Deutschen, der Polin und einem ehemaligen Partisanen sichtbar.«223 Eher vorsichtig beurteilt die westdeutsche Wochenzeitung Der Spiegel die Schlussszene als »vielleicht nicht ganz reale Anschauung der Dinge.«224 Doch erkennt der Kritiker auch die hohe Symbolkraft der Szene an und gesteht ihr – trotz der Unbeholfenheit – doch einen »Schimmer von naiver Poesie«225 zu. Insgesamt zeigt sich die westdeutsche Presse sehr überrascht über die differenzierte Figurendarstellung und die wenig politisierte Sprache des Dramatikers. Um dieser Meinung Nachdruck zu verleihen, druckt Der Spiegel das Szenenbild mit dem angeschossenen Russen Rokossi ab und kommentiert, wie ungewöhnlich es sei, auf einer ostdeutschen Bühne den Mord an einem kommunistischen Partei-Genossen zu erleben: Auf Ostberliner Bühnen sind die Großgrundbesitzer meist erzreaktionäre Blödlinge oder brutale Nazis. Ein Landadel der gegen Hitler gekämpft hat und dennoch sein Eigentum nicht willig preisgibt, ist schon eine ungewöhnliche Zumutung des Autors Matusche an 222 | Deutsche Woche 1955. 223 | Knietzsch 1955. 224 | Der Spiegel 1955. 225 | Ebd.

2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens seine Genossen. Natürlich wird das Gut trotz adeligem Antifaschisten unter den Vertriebenen aufgeteilt. In ohnmächtigen Zorn schießt die entrechtete Erbin den Russen nieder, der die Reformen erzwungen hat. 226

Abb. 2: Die Dorfstraße, Sterbeszene: in der Mitte kniend Wilhelm KochHooge als Rokossi.

©Stiftung Stadtmuseum Berlin; Foto: Abraham Pisarek; Quelle: Archiv Deutsches Theater Berlin.

Matusches Gutsbesitzer, der alte Boguslaw, weicht tatsächlich sehr von dem stereotypen Bild des »Junkers« ab. Sein Enkel leistete als Offizier Widerstand gegen den Nationalsozialismus, er war bei einer Offiziersrevolte gegen Hitler beteiligt und wurde von den Nazis hingerichtet.227 Während die Erschießungsszene des russischen Besatzers Rokossi (Koch-Hooge) in der westdeutschen Zeitung prominent herausgestellt ist, bleibt sie in der ostdeutschen Kritik meist unerwähnt. In der ostdeutschen Berliner Zeitung ist statt des Szenenfotos eine Zeichnung dieser Szene abgedruckt, auf der die Mimik des gefallenen Helden sehr viel energischer und kämpferischer wirkt. Dass eine russische Vorbildfigur, ein Kommunist und Widerstandskämpfer, so tragisch auf der Bühne ermordet wird, passt nicht so recht in die zu erzielende Auf bau-Stimmung. Doch ist der sterbende Soldat von Matusche weniger als Opfer denn als 226 | Ebd. 227 | Matusche 2009b, 161.

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Held konzipiert, der noch im Sterben ausruft: »Gebt den Boden nicht her, auf den ich falle.«228 Sein Tod wird nicht als Opfer- sondern als Heldentod interpretiert, der den Flüchtlingen Antrieb und Elan geben soll, um weiter zu kämpfen. Für Matusches Dramatik ist der Tod eines antifaschistischen Helden eher typisch, oft sind es in seiner Dramatik die Vorbilder, die sterben müssen. In Erinnerung ihrer Taten erfolgt schließlich der Auf bau der sozialistischen Gesellschaft. Doch unabhängig von der Intention bleibt in der Inszenierung das Bild eines zu Boden sinkenden Kommunisten, der von den Arbeitern noch gehalten wird, als Eindruck der Schwäche und Verletzlichkeit zurück. Es ist also ein Bild, dass den Gefühlen der politischen Gegenseite Raum gibt: die Ressentiments gegenüber den »Russen« können sich hier entladen und alte Feindbilder vom »Bolschewismus« bestätigt werden. Durch eine solche Reproduktion von Feindbildern werden mentale Grenzen zu dem »Anderen« weiter vertieft – statt zu einem Wahrnehmungswechsel, führen solche Bilder zur Verfestigung der eigenen Wahrnehmung und zur Bestätigung des vorgeprägten Weltbildes.

Flüchtlingslager: »Wüstes Land« in der Nachkriegsgesellschaft Abseits dieser kontrovers diskutierten Szenen, stehen jene, die sich ganz unmittelbar mit der Situation der Flüchtlinge beschäftigen. Diese riefen mehr Zustimmung denn Polemik hervor. Rezensenten aus Ost wie West waren sich über die Qualität der Flüchtlingsdarstellung überraschend einig. Die Thematik der Flucht und Vertreibung, die im Programmheft mit so viel Mühe versucht wurde, politisch zu instrumentalisieren, wurde abseits politischer Lagerbildung als »wahrhaftig« empfunden. Mit viel Empathie und Einfühlungsvermögen besprechen die Rezensenten die dargestellten Krisen der Flüchtlingsfiguren. Dieses Rezeptionsverhalten ist im Grunde nicht verwunderlich, wenn man die Fluchterfahrung als eine kollektive Kriegs- bzw. Nachkriegserfahrung begreift, die viele Menschen durchlebt haben und die eine gemeinsame Erfahrung zwischen Ost- und Westdeutschland bildet. Auch verweist diese Empathie auf die zeitgeschichtliche Situation: zehn Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Folgen noch sehr real und gegenwärtig. Bis 1950 waren 12 Millionen Deutsche aus den Ostgebieten umgesiedelt worden. Der Großteil der Flüchtlinge (7 Millionen) stammte aus Gebieten östlich von Oder und Neiße, die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe aus der Tschechoslowakei (3 Millionen). In fast allen Teilen Deutschlands gehörten Flüchtlingslager zum Landschaftsbild und waren damit Teil des sozialen Raumes der Nachkriegsgesellschaft. Die Flüchtlinge lebten noch Jahre nach der Aufnahme in einer der Besatzungszonen in improvisierten Wohnräumen; viele der ehemaligen Zwangsarbeiterlager waren zu Flüchtlingslagern umfunktioniert worden. Besonders in den ländlichen Regionen war die ansässige Bevölkerung mit den 228 | Siehe Matusche 2009b, 180.

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mittellosen »Fremden« konfrontiert, wobei der sowjetische Sektor (mit 24,3 Prozent) im Verhältnis zur Gesamteinwohnerzahl mit Abstand die meisten Flüchtlinge aufnahm. Doch auch im britischen (14,5 Prozent) und im amerikanischen Sektor (17,1 Prozent) war die Anzahl der neu einzubürgernden Flüchtlinge enorm und eine Herausforderung für die sich neu konstituierende Bundesrepublik.229 Aufgrund des akuten Wohnraummangels waren nicht nur im Osten, sondern auch in Westdeutschland die Bürger verpflichtet, Wohnraum für die Flüchtlinge abzutreten. Insofern musste sich, auch wer nicht persönlich betroffen war, mit dieser Flüchtlingssituation bzw. mit den neu ankommenden Menschen auseinandersetzen. Die Integration dieser aus Schlesien, Pommern, Tschechien und Ungarn stammenden Deutschen hat die deutsche Gesellschaft nachhaltig geprägt und ist auf unterschiedliche Weise in das kollektive Gedächtnis eingegangen. Dadurch, dass die Flucht ein Massenphänomen war, kann dieser Ort des Lagers auch als nationaler Erinnerungsort bezeichnet werden: Er ist in vielen Familiengedächtnissen präsent und mit gelebter Erfahrung, wie improvisiertes und beengtes Wohnen, Warten und Ungewissheit, verknüpft. Darüber hinaus ist das Lager auch Sinnbild für die Übergangszeit und die gesellschaftliche Situation Nachkriegsdeutschlands. In ganz Deutschland wurden solche Barackenlager eingerichtet, sie gehörten also zum sozialen Raum dieser Zeit. Auch wer nicht direkt von der Flucht betroffen war, wurde mit diesem Ort und den dort lebenden Menschen konfrontiert. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund soll der inszenierte Ort des Flüchtlingslagers diskutiert werden: als Ort, der als negativer Erfahrungsraum in das kollektives Gedächtnis der deutschen Bevölkerung eingegangen ist und an dem sich viele Probleme der Nachkriegsgesellschaft spiegeln. Insofern bildet in der Inszenierung das Flüchtlingslager einen wichtigen gemeinsamen Erfahrungsraum ab, der nach Foucault als Heterotopie bezeichnet werden kann. Verschiedene Grundsätze, die Foucault für die Heterotopie als Raum außerhalb aller gesellschaftlichen Räume beschrieben hat, kommen in der Inszenierung sinnfällig zur Geltung. Das wesentlichste Merkmal dieses Raumes liegt in der Fähigkeit, die gesellschaftliche Situation zu spiegeln und deren Widersprüche in gedrängter Form wiederzugeben. Damit fungiert dieser Ort auch als Ort der Erkenntnis, an dem sich gesellschaftliche Strukturen und Mechanismen zeigen lassen.230 Das Flüchtlingslager stellt eine Krisenheterotopie dar, in der der Versuch unternommen wird, den durch den Krieg in Unordnung geratenen Raum zu disziplinieren bzw. aus dem Zentrum zu verlagern. An einem dezentralen, vorübergehend eingerichteten Ort werden die Flüchtlinge vorläufig angesiedelt, bevor sie weiter in die Gesellschaft integriert werden. In der Inszenierung liegt das Flüchtlingslager an der Peripherie des Dorfes, direkt an 229 | Siehe zu den Zwangsumsiedlungen Oltmer 2005, 1-2. 230 | Siehe Foucault 2012, 321.

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der neuen Oder-Neiße-Grenze. Durch diese Randposition wird das Elend des Lagers aus dem gesellschaftlichen Fokus gerückt und die Flüchtlinge als Fremde wahrgenommen, die eine zusätzliche Last darstellen. Die Gutbesitzerin bekräftigt: »Die Neiße ist jetzt die Grenze. Ihr seid fremd hier.«231 Allein durch die Raumanordnung an der Grenze werden die Flüchtlinge zu »Fremden« gemacht und ihnen in der Interaktion mit den Dorfbewohnern die Identität des Fremden zugeschrieben und eine Ordnung des Anderen konstruiert. Abb. 3: Die Dorfstraße, Auflösung des Flüchtlingslagers.

©Deutsches Theatermuseum München; Foto: Willy Saeger; Quelle: Archiv Deutsches Theater Berlin. Das Bühnenbild des Lagers bietet sich als Projektionsfläche an: es ist leer, schlicht und karg gehalten. Es ist kein Zelt oder anderweitige Unterkunft zu sehen, nur die Flüchtlinge mit ihren Gepäckstücken. Dass es sich um ein Lager handelt, wird allein durch die Dekoration wie Holzmasten und Stacheldraht angedeutet. Auffällig ist, dass sich unter den Flüchtlingen fast nur Frauen befinden. Möglicherweise sind sie noch von ihren Ehemännern getrennt, da diese noch in Kriegsgefangenschaft sind. Die Frauen sind gezeichnet von der Wanderschaft, tragen einfache Kleidung, Kopftücher, wadenlange Mäntel und Röcke. Mit Seesäcken und Weidenkörben beladen, setzen sie sich nur mühsam in Bewegung und versuchen ihr schweres Gepäck zu transportieren. 231 | Matusche 2009b, 153.

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Das Szenenbild wirkt düster und weckt Assoziationen an die Trümmerfrauen der Nachkriegsjahre. Am Horizont ist ein stilisierter Wolkenhimmel zu sehen, der dieser Szene etwas Unbewegtes verleiht. Allein die physische Anwesenheit der Flüchtlinge bewirkt eine beständige Konfrontation mit der Vergangenheit. Nicht nur mit deren Armut und Hungerleiden werden die Dorf bewohner konfrontiert, sondern auch mit deren Heimatlosigkeit und dem damit einhergehenden Hass auf die polnischen Besatzer. Nach dem Soziologen Georg Simmel kann das Flüchtlingslager an der Grenze auch als ein leerer Raum bestimmt werden. In seiner Raumsoziologie bezeichnet der leere Raum einen Grenzraum, der zwischen zwei Herrschaftsgebieten liegt und ein »wüsten Land«232 markiert, das zu niemand gehört. Aus geopolitischer Sicht nimmt dieser Raum eine wichtige Funktion im wechselseitigen Verhältnis zwischen den Kulturen ein. Einerseits schafft er eine Pufferzone und fungiert als schützendes Vakuum, gleichzeitig bietet er auch Möglichkeiten der Begegnung auf neutralem Raum, da in dieser Zone die Regelsysteme der jeweiligen Kulturen außer Kraft gesetzt sind.233 Ähnlich wie in Simmels »wüstem Land« befinden sich auch die Flüchtlinge in einem Raum, an dem soziale Hierarchien und Regelsysteme nicht mehr gelten und Identitäten neu ausgehandelt werden. Ergänzend dazu kann nach Klaus Lösch der Raum des Flüchtlingslagers auch als »Zone der Unbestimmtheit«234 definiert werden, d.h. als ein Zwischenraum, an dem Identitätskonzepte brüchig werden und der von Gefühlen wie Unsicherheit und Angst besetzt ist. Verstärkt wird diese Situation durch die schmerzhaften Erfahrungen des Krieges und der Flucht, welche in die Gegenwart hineingetragen werden. Es handelt sich um einen Zustand, in dem feste Zuschreibungen ungültig werden und der mit einer Erfahrung der Transdifferenz einhergeht, welche von »Momenten der Ungewissheit, der Unentscheidbarkeit und des Widerspruchs«235 geprägt ist. Die Zeitlichkeit dieses Flüchtlingslager lässt sich nach Foucault als ein Heterochronie beschreiben, da auch hier die »Menschen einen absoluten Bruch mit der Zeit vollzogen haben«236. Aus ihrem vorherigen Leben herausgerissen, sind sie im Lager an einem Ort, an dem Zeit nicht durch einen geregelten Arbeitsalltag strukturiert ist. Auch akkumulieren sich in diesem Raum die verschiedensten individuellen Gedächtnisse, Zeitachsen überschneiden und überlagern sich. An diesem an-sich-geschichtslosen Ort der Grenze akkumulieren die verschiedenen Kriegs-Gedächtnisse. Viele der Flüchtlinge haben auf dem Weg zu diesem Ort Traumatisches erlebt, entweder noch in ihrer alten Heimat unter 232 | Siehe Simmel 2012, 311. 233 | Siehe Simmel 2012, 310. 234 | Zum Begriff der Transdifferenz siehe Lösch 2005, 28. 235 | Lösch 2005, 23. 236 | Foucault 2012, 324.

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dem feindlichen Militär oder auf der Flucht. Diese Zeit kurz vor Kriegsende war durch Unwissenheit und Desinformation geprägt. In den wilden Vertreibungen entlud sich der ganze Hass gegen die Deutschen – ganz gleich, ob sie persönlich an den Verbrechen beteiligt waren oder nicht. Besonders die zurückgebliebenen Frauen waren dieser Gewalt schutzlos ausgeliefert und Opfer von Massenvergewaltigungen. Auch nach der Potsdamer Konferenz im Juli 1945, die die Umsiedlung »nach humanistischen Prinzipien«237 vereinbarte, wurden die deutschen Umsiedler oftmals so behandelt, wie sie vorher ihre Feinde behandelt hatten. Ausgrenzungsmechanismen der Nationalsozialisten wurden auf die deutschen Flüchtlinge übertragen, Gruppen mit weißen Armbinden oder mit Hakenkreuzen auf dem Rücken markiert und in Viehwaggons transportiert.238 Zentrale Erinnerungsbilder dieser Geschichte werden in der Inszenierung bzw. dem Dramentext abgerufen. Flüchtlinge aus Schlesien aber auch Polen kommen zu Wort, die von überfüllten Waggons, Kälte und Hunger erzählen. Meist sind diese Erinnerungen auf Schlagworte und Erinnerungsfetzen reduziert, entsprechend der chaotisch-unstrukturierten Zeit des Unterwegsseins sind sie verschwommen und aus sämtlichen Zusammenhängen gerissen.239 In diesen Erinnerungspassagen lässt Matusche sehr viel Raum für den Schock über das Erlebte, für den Unglauben, das dies einem selbst passierte, für Sentimentalität, Heimweh und auch Ressentiment. Es sind also »politisch unkorrekte« Erinnerungen, die dem subjektiven Empfinden der einzelnen Flüchtlinge Ausdruck verleihen. So etwa, wenn die Flüchtlingsfigur Bettina begründet, warum sie nicht in die Kirche gehen möchte: »Ich will nicht. Auf dem Flüchtlingstransport hat man eine alte Frau, gerade gestorben, aus dem Zug geworfen. Sie lag am Bahndamm bei 27 Grad Kälte. Das war meine Mutter. Der Zug ruckte an. Ihr Mund stand offen, es sah gräßlich aus. Gott hat es verdient, dass man auch seine Kirchen zerschossen hat.«240 Schonungslos versucht die Figur durch Benennung der Leiderfahrung diese zu verarbeiten bzw. in ihre eigene Geschichte und Selbstbild zu integrieren. Indem sie das Erlebte nacherzählt bzw. in die Form einer Erzählung bringt, findet sie auch einen Weg mit dieser Erfahrung des Verlustes umzugehen. Das Erzählen bringt eine nachträgliche Ordnung in diesen Schock-Moment und ist eine Form des Trostes. Insofern spiegelt sich in der Flüchtlingsproblematik eine Wiederholungsgeschichte: In der Vertreibung erfahren diese Menschen stellvertretend, was sie den Völkern angetan bzw. was diese unter dem deutschen Terror erleiden mussten. Auch die Orte wiederholen sich: Die deutschen Flüchtlinge bewohn237 | Zur Potsdamer Konferenz siehe Kossert 2008, 31. 238 | Kossert geht auf die Vertreibungspraktiken ein. Siehe Kossert 2008, 33f. 239 | Diese traumatische Erinnerungsstruktur zeigt Sabine Bode in der Mentalitätsstudie Die vergessene Generation. Siehe Bode 2015, 112f. 240 | Matusche 2009b, 156.

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ten teilweise die gleichen Räume, in denen zuvor Zwangsarbeiter gelebt hatten. In ehemaligen Arbeitslagern wurden Flüchtlingslager mit Baracken eingerichtet, in denen die Menschen teilweise jahrzehntelang lebten bis sie sich eine eigene Wohnung leisten konnten bzw. Wohnraum für sie organisiert worden war. Um wieder sozialen Status zu erlangen, galt das Gebot, sich schnell und unauffällig den neuen Lebensbedingungen anzupassen und sich eine neue kulturelle Identität aufzubauen.241 Vor diesem geschichtlichen Hintergrund lässt sich die Mentalitätsgeschichte der 1950er Jahre verstehen, in der Verantwortungsbewusstsein und Schuldeingeständnis der deutschen Umsiedler eher schwach ausgeprägt war. Sich als Opfer zu fühlen und Ressentiments gegenüber den Besatzern zu haben, entsprach in Nachkriegsdeutschland der allgemeinen Stimmungslage, wie ausländische Berichte über die mentale Verfassung des Landes, etwa Hannah Arendts Bericht Besuch in Deutschland (1950), bezeugen.242 Besonders unter den Flüchtlingen bzw. den Umsiedlern überwogen Gefühle des Verlustes und der Trauer über den verlorenen Lebensstandard, wie das verlorene Haus oder das vertraute Lebensumfeld. Auch in Matusches Flüchtlingsszenen kommen Ressentiments sowie verhärtete und abgestumpfte Gefühle gegenüber den Besatzern zum Ausdruck. Wie Lösch es in seiner Kulturtheorie beschreibt, überlagern sich in diesem »Raum der Unbestimmtheit« verschiedene Identitätskonzepte, die im offensichtlichen Widerspruch zueinander stehen.243 Es werden soziale Dynamiken innerhalb der Flüchtlingsgruppe gezeigt, in denen verschiedene Wahrnehmungen dieser veränderten Situationen aufeinander prallen und zu Konflikten unter den deutschen Flüchtlingen führen. Es ist ein Kampf zwischen denen, die die neuen Machtverhältnisse akzeptieren und sich der neuen Ordnung fügen und jenen, die weiter auf ihren alten gesellschaftlichen Status beharren. Insofern kommt an diesem Grenzraum auch die Erfahrung der veränderten Machtverhältnisse zum Ausdruck. Auf der intersubjektiven Ebene werden die Konflikte unter den Flüchtlingen sinnfällig gespiegelt und gezeigt, dass diese nicht nur Ausdruck der prekären Lebensverhältnisse sind, sondern auch auf tiefer liegende Probleme verweisen. In diesen Szenen wird eine inoffizielle Sicht aufgedeckt, die abseits der propagierten polnisch-deutschen Freundschaft liegt und die Ressentiments sowie Verletzungen auf beiden Seiten aufzeigt. Matusche entwickelt dafür eine spannungsgeladene Situation, in der die verheiratete Flüchtlingsfrau Anna mit einem polnischen Grenzsoldaten, Capotka, eine 241 | Andreas Kossert geht in der Studie Kalte Heimat auf die Erfahrung der Flüchtlinge in Nachkriegsdeutschland ein. Siehe Kossert 2008, 43-47. 242 | Arendt diagnostiziert in ihrem Bericht eine allgemeine Realitätsflucht bei den Deutschen, eine Flucht ins Universelle, Mythologische, Formelhafte. Siehe Arendt 1999, 45. 243 | Siehe Lösch 2005, 28f.

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Liebschaft eingeht. Als die anderen Flüchtlinge davon erfahren, wird sie stark angefeindet, wütend jagen sie sie über eine Weide und beschimpfen sie als Kollaborateurin. Eine ältere Flüchtlingsfrau schreit boshaft: »Reißt ihr die Sachen vom Leibe und zeigt, was ein nackter Mensch wert ist. Zum Huren!«244 Abb. 4: Die Dorfstraße, Flüchtlingsszene: In der Mitte Anny Stöger als Anna und Judith Harms als ältere Flüchtlingsfrau.

©Stiftung Stadtmuseum Berlin; Foto: Abraham Pisarek; Quelle: Archiv Deutsches Theater Berlin. Das Szenenfoto zeigt, wie die ältere Flüchtlingsfrau sich in drohender Pose vor Anna stellt und sie anklagt: »Wir haben nichts zu fressen. Ich habe schon keine Hosen an, vor lauter Lumpen. Ich könnte auch alles haben.«245 Auch von den anderen Flüchtlingen ist die junge Frau umringt und wird anklagend angeschaut. Die ältere Frau legt ihre Hand auf Annas Blazer und durchsucht ihre Kleidung nach Ware vom Schwarzmarkt wie »Ei, Speck, Tabak«246 Als sie bei ihr Essbares findet, eskaliert der Konflikt noch weiter, Anna wird von der Flüchtlingsfrau geohrfeigt und zu Boden gestoßen. Die Gewalthandlung ist einerseits geleitet durch den im Lager herrschenden Hunger, darüber hinaus ist die Aggression vor allem dadurch zu erklären, dass Anna mit ihrer Beziehung zu dem Polen 244 | Matusche 2009b, 161. 245 | Matusche 2009b, 162. 246 | Ebd.

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Capotka gegen eine wichtige Regel dieser Schicksalsgemeinschaft verstoßen hat. Die russischen und polnischen Grenzsoldaten werden von ihnen weiterhin als Gegner wahrgenommen. Aus Sicht der Flüchtlinge hat sie eine moralische Grenze überschritten und ihre Landsleute verraten, da sie sich dem »Feind« angeschlossen hat. In ihren Augen sind diese Soldaten Schuld am schmerzhaften Heimatverlust. Auch hat sie durch ihr Zugehen auf die polnischen Soldaten, das was »deutsch« ist bzw. das, was eine »deutsche« Frau tun darf, radikal in Frage gestellt. Insofern kommt in dieser Empörung auch die Verletzung eines Nationalstolzes zum Ausdruck, der wiederum auf ein tiefes Verbundenheitsgefühl mit der »Heimat« gründet. Im Denken der Flüchtlingsfrauen ist die deutsche Identität eng mit der regionalen Kultur und dem geografischen Raum verbunden, wobei die heimatliche Landschaft stark mit sentimentalen Gefühlen aufgeladen ist.247 Diese Gefühle wurden besonders durch das Weltanschauungssystem des Nationalsozialismus bestärkt, in dem die Heimat romantisiert und die bäuerliche Lebensweise oder der Wald verklärt und mit nationalen Attributen versehen wurde. Über den Einfluss und die machtvolle Struktur des deutschen Heimat-Diskurses schreibt der Historiker Claus-Christian Szejnmann: »Heimat became a way of making one’s attachment to the nation thinkable, configuring identity not as the property of an individual but as a cultural construct emerging at the intersection of people and space.«248 Der Kult um den eigenen Grund und Boden ging vor allem mit politischen Zielen einher, so wurden die deutsche Expansionspolitik und die kriegerischen Handlungen damit erklärt, mehr »Lebensraum« für die deutsche Bevölkerung gewinnen zu wollen. Dass nun gerade dieser Raum genommen wurde, wiegt also doppelt schwer. In der harten, brutalen Sprache der verhärmten Flüchtlingsfrau zeigt Matusche, wie stark das nationalistische Weltbild in ihrem Denken verankert ist und welchen Schock diese Grenzüberschreitung in ihr auslöst. Die polnischen Soldaten werden als »Nestbeschmutzer« gesehen, die sie unrechtmäßig von »ihrem Boden« vertrieben haben. Der Schock der Flüchtlinge geht über die prekären Lebensumstände hinaus; er verweist auf verletzten Nationalstolz und eine Beleidigung der »Ehre«, auf die mit Ausgrenzung reagiert wird: »Scher dich fort! Tritt nicht wieder zu uns! Bei uns Flüchtlingen hast du nichts mehr zu suchen.«249 In dieser Gruppendynamik zeigen sich wichtige Aushandlungsprozesse von Identität und die soziale Funktion der Grenzgängerin Anna. Matusche zeigt, welches Selbstbild die ehemalige Offiziersfrau von sich hat, wenn sie sich selbst als »Grenzhure« bezeichnet.250 Auch sie fühlt sich schuldig und 247 | Zum Heimat-Diskurs in der deutschen Kultur siehe Boa 2000, 5. 248 | Szejnmann/Umbach 2012, 4. 249 | Matusche 2009b, 162. 250 | Matusche 2009b, 172.

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glaubt mit ihrem Grenzgang, die Heimat verraten zu haben. In einem längeren Monolog bezeugt sie, dass sie sich in diesem »wüsten Raum« des Flüchtlingslagers verloren vorkommt bzw. das Gefühl habe, ihre menschliche Würde zu verlieren. Als ein Soldat ihr bezeugte, dass ihr Mann gestorben sei, habe sie sich zum »Tauschen« an die Grenze begeben. Damit deutet sie an, dass sie aus dem Gefühl des Verlorenseins aber auch der Abstumpfung, ihren Körper verkauft und gegen Ware getauscht habe. Mit diesem Tauschhandel hat sie einen neuen Status erlangt, was sich in ihrem Äußeren zeigt: Im Gegensatz zu den anderen Flüchtlingsfrauen, deren Armut über dunkle, unförmige Kleidung transportiert wird, trägt Anna adrette Kleidung und ist gut frisiert. Während Anna die veränderten Machtverhältnisse anerkennt, beharren die anderen Flüchtlinge auf ihren vergangenen Status und bleiben so in einem Opferstatus. Als besitzlose Klasse bilden sie eine homogene soziale Gruppe, in der eigene Regeln gelten, die konträr zu den neuen Machtverhältnissen stehen. Abb. 5: Die Dorfstraße, Flüchtlingsszene: vorne links Herwart Grosse als Ernst mit Inge Huber als Elleonor, auf dem Boden liegend Anny Stöger als Anna.

©Stiftung Stadtmuseum Berlin; Foto: Abraham Pisarek; Quelle: Archiv Deutsches Theater Berlin. Im Halbkreis stehen die Flüchtlinge um die am Boden liegende Anna. Diese hält ihren Kopf versteckt und liegt als Opfer zusammengekrümmt vor ihnen. Der Zorn der Gruppe richtet sich gegen sie, nicht nur, weil sie materiell besser gestellt ist, sondern weil sie mit ihrer Handlung das Selbstverständnis der

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Gruppe hinterfragt. Suchend und auf Bestätigung wartend, richtet sich der Blick mancher Flüchtlinge in Richtung des Ehepaares Boguslaw, die als Gutsbesitzer und Deutsche eine Autorität im Dorf darstellen. Es wirkt, als würden sie von diesen erwarten, dass sie ihnen Unterstützung geben bzw. ihre Handlung legitimieren und Anna zusätzlich bestrafen. Doch obgleich die beiden in direkter Nähe stehen, mischen sie sich nicht in den Konflikt ein und wenden den Blick ab. In dieser Proxemik und Blickrichtung wird die Zerrissenheit der Nachkriegsgesellschaft exemplarisch deutlich. Der Riss verläuft einerseits zwischen ansässigen Dorf bewohnern und Flüchtlingen, aber auch zwischen den gesellschaftlichen Klassen bzw. zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen. Demonstrativ schließt die Gutbesitzerin Elleonor die Augen vor dem Elend und den Konflikten der Flüchtlinge. Zu ihrem Angestellten Hettner sagt sie später: »Ich will die Flüchtlinge nicht sehen.«251 Diese Darstellung entspricht einer grundlegenden Erfahrung vieler Flüchtlinge, eine zusätzliche Last für die Bevölkerung zu sein und sich daher möglichst unauffällig in die Gesellschaft integrieren zu müssen. Die Gestik des Wegsehens kann auch als Zeichen für die Ignoranz der oberen Klasse vor dem drängenden Flüchtlingsproblem gelesen werden und verdeutlicht deren Beharren auf dem Status quo. Besonders die Gutsbesitzerin Elleonor will nicht wahrhaben, dass man nicht einfach zu »normalen Verhältnissen«252 übergehen kann und die prekären Verhältnisse im Lager auch die Mithilfe und Verantwortung seitens der Besitzenden fordert. Doch auch unter den Flüchtlingen gibt es diesen Gestus der Verdrängung und des Weg-Sehens. Auch sie bleiben in gewohnten und im Nationalsozialismus erlernten Denksystemen verhaftet. Es ist für sie schwer bis unmöglich die polnischen/sowjetischen Soldaten nicht als Feind, sondern als Befreier wahrzunehmen. Diese weltanschaulichen Differenzen, die die neue Grenze aufwirft, werden unter jenen Flüchtlingen vertieft, die bereits im Dorf »angekommen« sind und dort auf der untersten sozialen Stufe leben. Martin Linzer hebt als Kritiker der Theater der Zeit die schauspielerische Leistung dieser im Dorf lebenden Flüchtlinge besonders hervor: Gute und ausgezeichnete gab es unter den Darstellern der Flüchtlinge. Dabei war wiederum auffällig, dass unsere Schauspieler naturalistisch angelegte Charaktere im Allgemeinen darstellerisch besonders gut bewältigen. So in erster Linie Gerhard Bienert als tatkräftiger Realist Max, dessen Bauernschläue und Vitalität bei ihm einenhervorragenden Interpreten fanden. Neben ihm Hans Schoelermann als Gustav in einer mehr kommentierenden als handelnden Rolle. 253

251 | Matusche 2009b, 161. 252 | Matusche 2009b, 160. 253 | Linzer 2009, 146.

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Abb. 6: Die Dorfstraße, Gespräch zwischen den neuen Dorf bewohnern stehend Hans Schoelermann als Gustav, sitzend Gerhart Bienert als Max.

©Stiftung Stadtmuseum Berlin; Foto: Eva Kemlein; Quelle: Archiv Deutsches Theater Berlin.

Diese »naturalistisch« angelegten Figuren sind jene schlesischen Flüchtlinge, die im Dialekt sprechen und deren Herkunft sich in der Sprache manifestiert. Auch unter diesen Figuren kommt der Heimat-Diskurs zum Ausdruck: die Figuren sprechen von der heimatlichen Landschaft, den Domänen Schlesiens, ihrem ehemaligen Leben in den Dörfern. Einträchtig stehen die beiden schlesischen Flüchtlinge und Arbeiter Max und Gustav in dem Szenenbild beieinander und teilen sich den Schluck aus der Flasche. Max, der von Gerhart Bienert gespielt wird, fungiert als Beispiel dafür, dass eine Lösung der Flüchtlingsproblematik möglich ist. Die Rolle ist ganz auf Bienerts Profil des einfachen und beherzten Arbeiters zugeschnitten. Auf dem Szenenbild wirkt er wie ein souveräner, ausgeglichener und selbstbewusster Typ. Später wird er kämpferisch für die Flüchtlinge des Lagers eintreten und mit ihnen zusammen das Gut stürmen. Er verkörpert den stolzen und tatkräftigen Arbeiter und damit den von der Kulturpolitik verlangten »neuen Menschen«254. Allerdings weicht die254 | Siehe Rühle 2015, 378f.

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se Verkörperung des Schauspielers Bienert von der Figur ab, die Matusche im Stück konzipiert hat. Dort wirkt der Arbeiter Max nicht ganz so strahlend und beschreibt sich selbst als langsam im Denken: »Ich bin doch saudumm.«255 In der Hierarchie der Dorfgemeinschaft steht der zugezogene, mittellose Max auf der untersten Stufe. Weil er sich am Abend ein bisschen Geld verdienen wollte, hat er den alten Boguslaw auf das Gut gefahren. Erst als der Wirt ihm eröffnet, dass Boguslaw seinen Anspruch auf das Gut geltend machen will, obgleich es den Flüchtlingen versprochen wurde, wird er kämpferisch. Es kommt zum Moment der Wandlung, da er jetzt begreift, dass die Flüchtlinge umgehend aktiv werden und sich das Recht auf das Gut einholen müssen: »Ich seh rot!« und »Die Dorfstraße wie derheeme.«256 sind seine wütenden Ausrufe. Der schlesische Arbeiter Max kämpft für eine neue Heimat. Dass er mit der alten endgültig abgeschlossen hat, kommt in einer kurzen Szene des Wiedersehens mit seiner eigentlichen Frau Bertl zum Ausdruck. Gerade diese Szene wurde in den Rezensionen als besonders eindrücklich und wahrhaftig hervorgehoben. Abb. 7: Die Dorfstraße, Schlesisches Ehepaar mit Felicitas Wenck als Bettina und Gerhart Bienert als Max.

©Stiftung Stadtmuseum Berlin; Foto: Eva Kemlein; Quelle: Archiv Deutsches Theater Berlin. 255 | Matusche 2009b, 175. 256 | Ebd.

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Das Szenenbild zeigt das ehemalige Ehepaar wie es schweigend nebeneinander sitzt und auf den Boden blickt. Ihre Körperhaltung ist dabei angespannt, mit geneigten Kopf und gerunzelter Stirn sehen sie besorgt und nachdenklich aus; ihre Hände halten sie wie im Gebet zusammen; es wirkt, als müssten sie etwas »Schweres« ertragen. Warum sich die Eheleute verloren haben bzw., warum sie nicht wussten, ob der andere überhaupt noch lebt, wird dem Zuschauer nicht mitgeteilt. Allerdings wird suggeriert, dass sie den anderen mehr für tot hielten und daher begannen, sich ein neues Leben aufzubauen. Durch bloßen Zufall hat Max erfahren, dass sich seine Frau Bertl in dem Flüchtlingslager befindet. Die Situation ist deswegen so bedrückend, weil beide sich in der Zwischenzeit andere Partner gesucht haben. Über Körperhaltung, Mimik und Gestik wird eine Verbundenheit zwischen diesem Paar vermittelt, das in den Rezensionen mehrfach herausgestellt wurde. Der Spiegel betont: »Wortkarg und verlegen, aber freundschaftlich, rührend, jedoch unsentimental teilen die auseinandergetriebenen Eheleute einander das Nötigste mit.«257 Der Westberliner Rezensent Florian Kienzl bemerkte an derartigen Szenen des in seiner Sicht kaum gelungen Schauspiels immerhin doch ›so was wie ein dichterisches Gefühl‹«258 In dieser Szene kann der Zuschauer nachfühlen, was es heißt, als Flüchtling zu leben. Es zeigt das improvisierte Einrichten in einem neuen Leben, während man emotional noch tief in einem anderen verhaftet ist. Nach Aleida Assmann, die sich mit unterschiedlichen Formen des Schweigens in kulturellen Kontexten auseinandergesetzt hat, kann dieses gemeinsame Schweigen der Eheleute als eine Mischung aus innigem Schweigen – als Ausdruck der Vertrautheit untereinander – und strategischem Schweigen verstanden werden.259 Das strategische Schweigen verweist auf Regionen, die man gezielt nicht thematisieren möchte, da die Erinnerung daran zu schmerzhaft ist. Diese Form des Schweigens tritt meist im Umgang mit Scham und Schuld, Schmerz und Trauma auf, wobei Assmann darauf hinweist, dass man zwischen dem »überwältigten Schweigen« der Opfer und dem »defensiven Schweigen« der Täter unterscheiden müsse.260 In der Kommunikation zwischen dem Ehepaar, das sich »nur das Nötigste« mitteilt, wird diese Ambivalenz des Schweigens deutlich. Es zeigt einerseits die innige Vertrautheit des zurückliegenden gemeinsamen Lebens, andererseits verweist es auf die Hilflosigkeit darüber, dem anderen nicht helfen oder seinen Schmerz lindern zu

257 | Der Spiegel 1955. 258 | Ebd. 259 | Assmann verdeutlicht die Schwierigkeit, das innige Schweigen als Ausdruck von Vertrautheit auf der Bühne zu realisieren am Beispiel von Shakespeares King Lear. Siehe Assmann 2013, 53. 260 | Siehe Assmann 2013, 57.

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können. In dem Schweigen liegt also auch ein Schutz des Selbstbildes, es soll die Integrität des anderen bewahren. Besieht man die reine Oberfläche dieses sozialen Raumes und analysiert diesen hinsichtlich der feinen Unterschiede in der Kleidung, so zeigen sich soziale Diskrepanzen zwischen dem Ehepaar. Während Bertl ihr »gutes Sonntagskleid«261 trägt, ein helles mit Blumen bedrucktes Kleid und weißem Kragen, trägt Max die einfache Kleidung des Arbeiters, eine dunkle Hose, ein weißes Hemd, darüber Hosenträger. Gerade diese bürgerliche Kleidung beargwöhnt Max bei der Begegnung und sagt, sie sehe wie eine Städterin aus. Auf diesen Vorwurf reagiert Bertl mit Verwunderung: »Sollte ich nicht das Beste retten? Die alten Sachen habe ich dagelassen, in Langenbiehlau.«262 Dieser kurze Dialog zeigt – aus sozialistischer Sicht – die Klassenunterschiede oder besser die Bewusstseinsunterschiede zwischen den beiden Figuren. Es wird suggeriert, das der bereits im System angekommene Max sich von den alten (bürgerlichen) Werten gelöst und eine sozialistische Gesinnung angenommen hat. Offensichtlich lebt er seine proletarische Herkunft, muss sich am Sonntag nicht »verkleiden« und hat einen Stolz auf seine politische Klasse entwickelt. Seine Frau hingegen »versteckt« ihre proletarische Herkunft und greift auf bürgerliche Repräsentationstechniken zurück. Dieses Sonntagskleid ist auch ein Zeichen bewahrter Bürgerlichkeit, repräsentiert es doch die vertraute Ordnung, welche sie versucht in die neue Zeit hinüber zu retten. Diese sozialen Implikationen sind in den Rezensionen nicht reflektiert, sondern das allgemein Menschliche und die Gefühlslage der Flüchtlinge in dieser Grenzsituation. Auch Peter Edel ist beeindruckt von dieser Szene, allerdings bemängelt er die Einseitigkeit der Perspektive. Während das Schicksal der deutschen Flüchtlinge ausführlich geschildert und illustriert ist, wird das Schicksal der polnischen Flüchtlinge zwar mehrfach erwähnt aber nicht mitleidend dargestellt. Die Härte der schweren Zeit, des Neubeginns hätte aber auch in den Gestalten der ehemaligen polnischen Partisanen und Zwangsarbeiter spürbar werden müssen. Würde auch in ihrer Haltung mehr zum Ausdruck kommen, wie viel Grauen sie gesehen und erlitten haben, wie schwer es ist dies zu vergessen, so bekäme gerade dadurch ihre Bereitschaft, den besiegten, aus der Bahn geworfenen Menschen trotz allem die Hand zu reichen ein menschlich überzeigendes Gepräge. 263

Insgesamt ist es erstaunlich, wieviel Raum der deutschen Opferperspektive in Fischers Inszenierung gelassen wurde. Gerade wenn man bedenkt, wie 261 | Matusche 2009b, 164. 262 | Ebd. 263 | Edel (BZ am Abend) 1955.

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sehr der Flüchtlings-Diskurs im offiziellen kulturellen System der DDR unterdrückt wurde. Es war ein Gebot, die eigene Vergangenheit, etwa die schlesische Identität zu vergessen und sich den neuen Bedingungen anzupassen. Raum für Trauer und Verlusterfahrung war nur im internen Familienkreis, nicht aber in der Öffentlichkeit möglich. Während auf den Bühnen der BRD mit dem Theater des Absurden von Beckett bis Ionesco Raum für die Grundsituation des Menschen und der Erfahrung von Sinnverlust geschaffen wurde, waren die Bühnen der DDR bis in die 1960er Jahre vor allem auf Sinnstiftung und Wiedergabe einer objektiven Realität festgelegt. Für den Wahnsinn des 20. Jahrhunderts gab es keine ästhetischen Ausdrucksformen, die Bühnen waren auf Sinnstiftung und Verständlichkeit festgelegt, auf eine Sicht der Wirklichkeit und auf ein Weltanschauungssystem reduziert. Mitte der 1950er Jahre waren Gefühle des Sinnverlustes Zeichen der Schwäche und damit nicht systemrelevant. In der vorherrschenden Idealästhetik sollten die »Sieger« der Geschichte mutig, entschlossen und sicher auf der Bühne inszeniert werden. Der Spielraum bzw. der Erfahrungsraum im Theater wurde durch den politischen Auftrag und das aristotelische Theaterverständnis (Theater als Mimesis) stark eingegrenzt. Fischer-Lichte, die die Relation zwischen den verschiedeneren Kunst-Modellen und ästhetischer Erfahrung untersucht hat, weist auf die Aporien dieses mimetischen Kunstmodells hin: »Weder die Möglichkeit entscheidender subjektiver Unterschiede in der Erkenntnis des Wirklichen wird anerkannt, noch auch ein Einfluss der verwendeten signifikanten Systeme […].«264 Es zielt auf eine verbindliche Erkennbarkeit der Welt ab, die nur eine Sicht auf die Welt zulässt und in dieser Eindimensionalität einen sicheren Ordnungsrahmen der Erkennbarkeit schafft. Wie Günther Erbe bezüglich der Verfemung der Moderne im kulturellen System der DDR herausgearbeitet hat, standen hinter den Dekadenz- und Formalismus-Vorwürfen gegenüber der bürgerlichen Kunst, auch die Bedenken den Zuschauer mit dem Subjektivismus der Moderne zu verwirren und destruktive Wirkungen wie eine zu starke Ich-Bezogenheit und Gefühle der Verlorenheit zu erzielen.265 In diesem Zusammenhang wird verständlich, warum die Thematik der Grenze ein Novum auf der Bühne der DDR war. Selten wurden Bilder von Flucht und Vertreibung inszeniert oder Grenzerfahrungen im Theater dargestellt. Eine berühmte Ausnahme stellte Brechts Mutter Courage-Inszenierung 1949 am Deutschen Theater dar, in der die Erfahrungen des Krieges unmittelbar eingefangen und aus dem geschichtlichen Horizont des Dreißigjähren Krieges erzählt wurden. Die Inszenierung schuf prägende Bilder für die bereits benannte Schwere und das Leid des Krieges. Ähnlich besitzlos und durch das Unterwegssein gezeichnet, fährt die Courage mit ihrem Planwagen durchs 264 | Fischer-Lichte 2001, 29. 265 | Siehe Erbe 1993, 55f.

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Land. Kostüme und Requisiten waren so ausgewählt, dass sie der historischen Situation und den Bedingungen des Lebens einer Marketenderin gerecht wurden und die gewählten Requisiten selbst von diesem Leben »erzählten«.266 Brecht notierte zur Wirkung der Aufführung: »Als der Wagen der Courage 1949 auf die deutsche Bühne rollte, erklärte das Stück die immensen Verwüstungen, die der Hitlerkrieg angerichtet hatte. Die zerlumpten Kleider auf der Bühne glichen den zerlumpten Kleidern der Zuschauer.«267 Trotz des aufgezeigten Leids war die Inszenierung nicht hoffnungslos. Brecht stellt heraus, dass in der Haltung der stolzen Courage »Gerechtigkeitsgefühl, Freiheitsdrang und gerechter Zorn«268 betont sind. Dies wird auf im Szenenbild ersichtlich: Mit langen, festen Schritten zieht die Courage voran und es liegt nicht an ihrer fehlenden Kraft, sondern allein an ihrer »verkehrten« Weltsicht, dass ihre Verhältnisse sich nicht ändern. Mit seiner Konzeption des Epischen Theaters umgeht Brecht die Aporien eines mimetischen Theaters, das nur eine Version der Wirklichkeit bereit hält. Für die, die »sehen« können und das Missverständnis der Courage begreifen, hält die Inszenierung eine andere Wirklichkeit bereit. In Brechts Konzept eines sozialistischen Theaters wird Realität nicht gestutzt, sondern mit allen Bühnenmitteln episch entfaltet, um »[…] ein Übermaß an Stofflichen, das sich in keine grade Linie bringen lässt«269 zu erzeugen. Auch plädiert Brecht in den Diskussionen um ein sozialistisches Theater nachdrücklich für eine Darstellung der Wirklichkeit in Widersprüchen. Auch in Die Dorfstraße gibt es eine »Überfülle an Realität« – auch hier werden Widersprüche aufgezeigt, ohne sie gleich zu glätten, sondern mit dem Ziel, sie bestehen zu lassen. Die Trauer um den Verlust der Heimat, der Hass auf die Besatzer wird gezeigt als ein gesellschaftliches Faktum, welches sich nur schwerlich über politische Maßnahmen wie die Bodenreform lösen lässt. Auf der Bühne werden traumatische Erfahrungen behandelt, die in die Gegenwart hineinragen. Es handelt sich um tragisch-tiefgreifende Ereignisse, über die nur geschwiegen werden kann und die durch die Friedensbotschaft am Schluss zwar »gekittet«, aber nicht »geheilt« werden können. In diesem Zusammenhang ist interessant zu erwähnen, dass in der ersten Fassung, die noch den Titel Die Grenzgänger trug, der Figur des Gutsbesitzers viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Aus Kipphardts Sicht, war diese Figurenkonzeption hinderlich für die Gesamtaussage des Stücks, deswegen wurde sie gestrichen.270 In der Originalfassung wurde der Gutsbesitzer im Moment des Umbruchs gezeigt; ein Bildungsbürger, der sich in seinem Haus verschanzt 266 | Siehe Berlau 1952, 245f. 267 | Brecht 1998, 158. 268 | Brecht/Wolf 1998, 60. 269 | Stuber 1999, 136. 270 | Siehe Kipphardt 2009, 170f.

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und Schallplatten von Beethoven hört. Dieses Motiv der Weltflucht als Reaktion auf die Grenzsituation ist ein wichtiges Motiv in Matusches Dramatik. Für ihn ist dieser Eskapismus auch positiv besetzt und wird als Ausdruck von Humanität verstanden. Wie in Van Gogh gezeigt, interessiert Matusche sich sehr für subjektive Wahrnehmungen, Gefühlswelten und die »heilende« Kraft der Kunst. Durch diese werden auch schützende Räume aufgebaut, wobei die Kunstwelt den Status eines Fluchtraumes einnimmt. Die Neigung, sich eine Gegenwelt aufzubauen, lässt sich auch als Abwehrsystem verstehen, als Ausdruck von der Souveränität des Subjekts. Diese »hedonistischen« und bildungsbürgerlichen Motive wurden aus der Neubearbeitung konsequent gestrichen. Dadurch wurde die Perspektive weg von der Situation des Einzelnen hin zur gesamten Handlungsführung gelenkt und die mentale Verfasstheit dieses Bildungsbürgers stark verkürzt. Die Bearbeitung zeigt beispielhaft, wie sich das Konzept des sozialistischen Realismus in die Dramatik einschreibt und mit einer starken Verkürzung der Wahrnehmung einhergeht bzw. andere Erfahrungshorizonte systematisch ausgrenzt. Trotz dieser Änderungen und der eigentlichen Deckungsgleichheit mit dem sozialistischen Weltbild fiel die Inszenierung in der Presse durch und führte nicht zum Durchbruch des aufstrebenden Talents Matusche. Wurde ein Zeitstück erwartet, das bezüglich der neuen Oder-Neiße-Grenze eindeutig Position bezog, wurde dies durch die perspektivische Vielfalt und die ambivalente Figurendarstellung enttäuscht. Fast schon widerwillig lobt Eylau in der Berliner Zeitung die unpathetische Sprache der Figuren: »Die Dialoge, so sehr sie hinter Naturalismus und Beiläufigkeit ihre eigentliche Aussage verbergen, drängen doch hin zu dieser Aussage, mühen sich das Ungesagte aus der Tiefe zu heben, rühren den Zuschauer an, auch wo sie ihm unbequem und manchmal ärgerlich sind.«271 Insofern erkennt er die sprachliche Qualität und die psychologische Dimension dieses Theaters an, das an Bereiche rüttelt, die selten im öffentlichen Raum angesprochen wurden. Diese »Tiefe« oder psychologische Dimension ist ein Kennzeichen von Matusches Dramatik, dass die Kritiker unter unterschiedlichen Bezeichnungen aufgreifen und oft in Bezug zu einem »Wahrheitsdiskurs« setzen, etwa als »Mut zur Wahrhaftigkeit« (Peter Edel) benennen. Die Bezeichnung eines wahrhaftigen Theaters deutet darauf, dass in dieser Darstellung Emotionen freigesetzt und Bilder geschaffen werden, die möglicherweise eigenen Erfahrungshorizonten entsprechen und im Sinne Bachelards einen mentalen Raum öffnen, der unter der Oberfläche des politischen Diskurses liegt. Gleichzeitig misstraut Eylau dieser Theatererfahrung und misst die Aufführung an dem Auftrag, den ein repräsentatives sozialistisches Theater inne habe. Er fragt sich, welchen Zweck eine solche »Aufrüttelung« verfolgt? Was kann diese in der aktuellen politischen Situation leisten? Worin besteht die Relevanz? Da er 271 | Eylau 1955.

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in dieser Theaterästhetik keine Sinnhaftigkeit erkennt, bezweifelt er, dass es sich, trotz der dichterischen Tiefe, um ein echtes Schauspiel handelt. In dieser Sichtweise spricht er Matusches Theatermodell die politische Relevanz ab. Für ihn ist es ein Theater, das den konventionellen Rahmen sprengt, seinen Erwartungshorizont übersteigt und das er nicht zuordnen kann.272 In ihrer Kritik an der spannungsarmen Dramaturgie ähneln sich Ost- und Westkritiker: auch wundern sich beide Seiten über die Inkohärenz des dargestellten Weltbildes. Zwar sieht man die Sinnfälligkeit eines losen, wie Eylau beschreibt, photographischen Realismus, der wie ein Zeitporträt wirkt und der Unsicherheit der direkten Nachkriegszeit Ausdruck verleiht, doch sei die »Zwischenwelt« oder Zeit des Übergangs zu deprimierend und verstörend für den Zuschauer. Das Theater habe die Aufgabe, die widersprüchliche Realität zu lösen, da »[…] jeder Ausschnitt aus der Wirklichkeit, den das Theater gibt, sinnvoll und bewußt in den Zusammenhang des Ganzen gestellt und aus ihm heraus gestaltet sein [soll].«273 Anders gesagt, Theater sollte die Kompetenz haben, dem Zuschauer die Welt zu erklären und ein bestimmtes Weltbild zu vermitteln. Es soll Sinn stiften, nicht Verunsicherung. Abrupte Geschehnisse, die nicht eindeutig durch die Handlung motiviert werden, passen nicht in ein solches Inszenierungskonzept und fordern Widerspruch heraus. Besonders in der von Fritz Erpenbeck geschulten DDR-Theaterkritik und dessen Maßstab eines normativen Realismus, fiel das Stück durch. Schon nach zwei Monaten wurde die Inszenierung nach zehn Aufführungen abgesetzt. Im Vergleich zu anderen Aufführungen zeitgenössischer Autoren, wie das Geschichtsdrama Der Teufelskreis von Hedda Zinner mit durchschnittlich 28 Vorstellungen, war dies eine sehr geringe Zahl.274 Die Erwartungshaltung gegenüber der Kunstkommission wurde damit offensichtlich nicht eingehalten. So resümiert der junge Theaterkritiker Martin Linzer für die Theater der Zeit: »Die gewünschte und notwendige politische Aussage in das Geschehen nahtlos einzubeziehen, das Thema überhaupt konsequent in eine einheitliche dramatische Gesamthandlung umzusetzen, ist dem Autor nicht gelungen.«275, 276 272 | Siehe Eylau 1955. 273 | Eylau 1955. 274 | Siehe Spielplanchronik des Deutschen Theaters in Kuschnia 1986, 499-520. 275 | Linzer 2009, 140. 276 | Während der 1950er und 1960er Jahre, in denen das Leitbild des sozialistischen Nationaltheaters vorherrschte, wird Matusches Dramatik nur selten gespielt. Erst ab den ausgehenden 1960er Jahren, als sich das Theater der DDR grundsätzlich änderte, der idealästhetische Kurs aufgegeben und das Theater sich für moderne Ästhetiken öffnete, standen seine Stücke regelmäßiger auf dem Spielplan und wurden Uraufführungen nachgeholt. Es bildete sich ein fester Kreis von Regisseuren wie Peter Sodann oder Rolf Winkelgrund, die sich auch heute noch für das Werk einsetzen. Allerdings wurde

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Der Regenwettermann – Täterdiskurs und Erinnerung an die Shoah Die Schwierigkeit mit einem solchen Dramenmodell in der DDR zu avancieren, lässt sich auch an dem zweiten Beispiel – welches die Deutschen mehr aus einer Täter-, denn aus einer Opferperspektive darstellt – verdeutlichen. Das Geschichtsdrama Der Regenwettermann war zunächst als Fernsehspiel konzipiert und wurde am 20. November 1963 im Fernsehen der DDR gesendet.277 Ähnlich wie in Der Dorfstraße wird auch hier ein gesellschaftlichbrisantes Thema behandelt: Matusche fragt nach der Verantwortung der Wehrmacht und zeigt am Beispiel einer Massenerschießung der jüdischen Bevölkerung in Polen deren Schuld auf. Im Gegensatz zur Flüchtlingsthematik war die Thematisierung der Wehrmachtsverbrechen im ostdeutschen Theaterdiskurs nicht neu. Während sich in der jungen Bundesrepublik ein Schweigen über die Verbrechen der Wehrmacht legte und im zeitgeschichtlichen Diskurs streng zwischen den Kriegsverbrechen der SS sowie der SA und dem Kriegseinsatz der Wehrmacht unterschieden wurde278, gab es diese Differenzierungen in der DDR nicht. Im Gegenteil – Theaterstücke wie Johannes Bechers Winterschlacht oder Hedda Zinners Der Teufelskreis wurden dazu genutzt, um die Wehrmacht als konstitutiven Teil des nationalsozialistischen Systems darzustellen und gegen die Aufrüstungspolitik der BRD zu protestieren.279 Aus ihrem antifaschistischen Selbstverständnis mischte sich die DDR in die Debatten der Bundesrepublik ein, beklagte die mangelnde Entnazifizierung, worin sie eine Weiterführung des faschistischen Systems bestätigt sah. Der NATO-Beitritt 1955 und die damit einhergehende Einführung der Bundeswehr wurde seitens der DDR als Auferstehen der Wehrmacht deklariert und der Westen ganz generell für die ungenügende juristische Aufarbeitung der faschistischen Verbrechen angegriffen.280 Während der heißen Phasen des Kalten Krieges, also in den 1950er und 1960er Jahren, hatten die öffentlichen Fernsehanstalten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs den politischen Auftrag, sich konfrontativ mit dem anMatusche nie wieder auf einer so repräsentativen Bühne wie dem DT gespielt. Vielmehr waren seine Stücke auf Landesbühnen oder an kleineren Bühnen vertreten. Die letzte Inszenierung eines Matusche-Stücks in der DDR war von Leander Hausmann, der sich das Erbe »neu« aneignete und eine provokant-träumerische Version des Produktionsstücks Kap der Unruhe am Landestheater Parchim zeigte. Siehe Verzeichnis der Inszenierungen in Fischborn 2009, 293-297. 277 | Siehe Fischborn 2009, 294. 278 | Zur zweiten deutschen Schuld siehe Glaser 2004, 118. 279 | Zur Inszenierung von Winterschlacht 1955 am DT siehe Rühle 2014, 543; zu Teufelskreis siehe Rühle 2014, 1271. 280 | Siehe Müller 2010, 21f.

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deren politischen System auseinanderzusetzen und die öffentliche Meinung je nach politischem Kurs zu leiten. Dem Genre Fernsehspiel kam in der DDR, so Knut Hickethier in seiner Studie zur Fernsehdramatik in den 1960er Jahren, ein hohes Sendungsbewusstsein und klassenkämpferischer Anspruch zu.281 Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges kann Matusches Fernsehspiel auch als Anklage gegen die Wiederbewaffnung der BRD interpretiert werden, da in dem Drama eindeutig an die Kriegsschuld und die Mitwirkung der Wehrmacht an der Shoah in Polen erinnert wird. Unter diesen politischen Vorzeichen lässt sich die dargestellte Verstrickung der deutschen Wehrmacht in die planmäßige Tötung der jüdischen Bevölkerung nicht als Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, sondern als Kritik an der westdeutschen Bundeswehr und deren faschistischen Vergangenheit verstehen. Darüber hinaus steht das Drama auch im Kontext der Frankfurter Auschwitzprozesse (1963-1965), welche das Bewusstsein der Bevölkerungfür die Tötungsmaschinerie Holocaust und die dafür Verantwortlichen schärfte. Die Bühnenfassung des Stücks wurde erst fünf Jahre nach der Ausstrahlung des Fernsehspiels, 1968, am Hans-Otto-Theater Potsdam uraufgeführt. Von dieser Uraufführung in der Regie von Günter Rüger sind in der SerkeSammlung nur wenige Szenenfotos erhalten, die den Eindruck einer betont nüchternen und reduzierten Inszenierung vermitteln.282 Nach dieser Uraufführung wurde das Stück nur noch selten gespielt: 1974, kurz nach dem Tod des Autors, gab es eine Inszenierung am Maxim Gorki Theater in der Regie von Hella Len.283 Nach der Wende wurde es 1995 von der freien Theatergruppe theater 89 gespielt, die sich zum Ziel gesetzt hat, an selten gespielte DDR-Dramatiker zu erinnern. Die Inszenierung in der Regie von Frank Joachim wurde 1996 im Rahmen des Festivals Politik im Freien Theater in Bremen gezeigt.284 Aus den Kritiken zu der Inszenierung geht hervor, dass sich im zeitlichen Abstand von über dreißig Jahren, sich die Bedeutung des Stücks gänzlich verändert hat und die Anklage gegen die Rolle der Wehrmacht unter der neuen politischen Situation der Wiedervereinigung gelesen wurde. Auf dem Festival zeigte die Theatergruppe eine Version, die im direkten Zusammenhang zur kontrovers diskutierten Wehrmachtsausstellung stand, die unter dem Titel Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 die Aufarbeitung der Schuld der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg als wichtige Erinnerungsaufga281 | Hickethier 1987, 151f. 282 | Siehe Archiv Theatermuseum Solingen. 283 | Die Dramaturgie des Potsdamer Theaters, welches außerhalb des kulturpolitischen Machtzentrums Berlin lag, setzte sich sehr für Matusche ein; in den 1970er Jahren inszenierte der Regisseur Rolf Winkelgrund dort mehrere Stücke Matusches. Siehe Fischborn 2009, 293-297. 284 | Siehe Bundeszentrale für politische Bildung 2007.

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be der neuen Berliner Republik betrachtet.285 Aus dieser kurzen Rezeptionsgeschichte wird deutlich, wie sich das Geschichtsdrama von seiner intendierten Botschaft im Verlauf der Geschichte entfernte. Wie sehr sich die Wahrnehmung auf dieses Geschichtsdrama unter den veränderten historischen Bedingungen änderte, wird auch an den Ausführungen der Literaturwissenschaftlerin Ursula Heukenkamp deutlich, wenn sie die Reaktionen ihrer Studenten auf die Lektüre wiedergibt. In einem Seminar zur Literatur über den Zweiten Weltkrieg zeigten sich die Studenten sehr berührt von der naiven Eindeutigkeit der Zeichen und Bilder im ›Regenwettermann‹. Es war kein Stück mehr aus einer anderen Zeit, sondern betraf sie, die selbst durch die Vorzeichen des Endes der DDR bewegt waren. Ganz anders wirkte dann das gleiche Stück zehn Jahre später. Da wurde es in der Inszenierung des theaters 89 weitgehend melodramatisch präsentiert und traf wieder auf andere Erwartungen. Die Aufführung war als Akt der Wiedergutmachung gemeint, gelang aber nicht, weil die Regie dilettantisch war. 286

Aus Sicht der ostdeutschen Dozentin (Jahrgang 1938) wird nicht nur die Diskrepanz zwischen Lesewirkung und Aufführung aufgezeigt, sondern auch eine »Entpolitisierung« des Stücks bezeugt. War im Entstehungskontext die Frage um deutsche Kollektivschuld und der Einsatz der Wehrmacht ein vorrangiges Anliegen, rücken nun die ästhetische Erfahrung und die von Matusche konzipierten Erinnerungsbilder in den Vordergrund der Rezeption. Diese beschriebene Kluft ist typisch für die Bewertung von den Aufführungen von Matusches Stücken, bei denen meist zwischen der poetischen Sprachkraft des Dramas und der verflachenden Realisierung unterschieden wurde. In der folgenden Untersuchung soll das dem Geschichtsdrama zugrunde liegende Geschichtsmodell sowie die Wirkungsästhetik aus einer postsozialistischen Perspektive herausgearbeitet und diskutiert werden.

Kartierung und Semantisierung des geschichtlichen Raumes In dem geschlossenen, sich über sechs Szenen hinstreckenden Drama, sind die Konstituenten Zeit und Raum dicht aneinander gedrängt. In einer Spielzeit von vierundzwanzig Stunden und an nur drei unterschiedlichen Spielorten wird der Konflikt zwischen den verschiedenen Figurengruppen ausgetragen, spitzt sich in der letzten Szene zu, und endet in einer Katastrophe. Die Handlung ist kurz erzählt: Sie beginnt am 21. Juni 1941, also genau einen Tag vor dem Überfall auf die Sowjetunion. Es wird eine Wehrmachtseinheit ge285 | Siehe Rischbieter 1997, 36. 286 | Heukenkamp 2009, 54.

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zeigt, die sich in einer polnischen Kleinstadt in der Nähe des Grenzflusses zur Sowjetunion einquartiert. Der Hauptmann lässt die Soldaten zunächst in Unwissenheit, erst am Abend gibt er den Marschbefehl auf die Sowjetunion bekannt und fügt den Befehl hinzu, die verbliebene jüdische Bevölkerung der Stadt zu ermorden. Am anderen Morgen werden alle Juden auf dem Marktplatz der Stadt versammelt, zu einer Sandgrube getrieben und dort erschossen. Nur einer der Soldaten – ein kommunistisch gesinnter Arbeiter – hadert angesichts dieses Befehls mit seinem Gewissen. Er verweigert den Schießbefehl und wird vom Hauptmann per Standgericht zum Tode verurteilt. Bevor er dieses vollstrecken kann, kommt der Soldat ihm zuvor und begeht Selbstmord. Ein jüdischer Junge, der sich im Militär-Quartier verstecken konnte, wird Zeuge des Freitodes. Auch der im Sterben liegende Soldat sieht, dass der Junge überlebt hat. Das Drama über die Verstrickung der deutschen Wehrmacht in den Holocaust endet mit diesem Akt des Widerstandes und dem überlebenden jüdischen Jungen als Hoffnungsfigur. In dieser Inhaltsangabe wird das zugrunde liegende Geschichtsmodell nur allzu deutlich: Matusche konzipiert hier ein Modell, welches durch die Staatsdoktrin des Antifaschismus und das entsprechende Geschichtsbild der DDR geleitet ist. Dabei nutzt er Strategien, die Carsten Gansel in seiner Studie zu Formen der Erinnerung in der DDRLiteratur als typisch herausgearbeitet hat.287 So wird die Handlung des Widerstandshelden Gless durch die Erinnerung an einen anderen antifaschistischen Helden geleitet und so auf den lang andauernden Kampf der Kommunisten gegen den Faschismus hingewiesen. Dieses »Prinzip Erinnerung«, welches durch Rückblicke in die Narrative integriert wird, zeigt Gansel als eine bewährte Methode in der Geschichtsdarstellung. Durch diese Strategien wird eine moralische Überlegenheit des Arbeiters im Vergleich zu den bürgerlichen Figuren bewiesen, welche als opportunistisch und sich dem faschistischen System anbiedernd dargestellt werden. Selbst die jüdischen Figuren werden in diesem Geschichtsbild differenziert und zwischen dem aktiven, widerständigen Juden (als Kämpfer gegen den Faschismus) und den passiven, sich ihrem Schicksal ergebenen Opfern des Faschismus unterschieden. Die Gleichsetzung der beiden historischen Ereignisse – den Überfall auf die Sowjetunion 1941 und die Massenerschießung der jüdischen Bevölkerung – verstärkt das Verbrechen der Wehrmacht und suggeriert eine gewisse Gleichsetzung: der Holocaust wird parallel mit dem Angriff auf den »sowjetischen Bruder« gedacht und beide Verbrechen zueinander in Beziehung gesetzt. Durch diese Analogie werden beide geschichtlichen Ereignisse im antifaschistischen Diskurs verortet.288 Trotz dieses ideologisch so besetzten Geschichtsbilds, das mehr verdeckend und anklagend als aufklärend arbeitet, gibt es in diesem Geschichts287 | Siehe Gansel 2009, 31. 288 | Bach 2007, 111.

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drama auch eine Gegengeschichte; d.h. Abweichungen und Perspektivbildungen, die das vorgegebene Modell differenzieren und Raum zum Nachdenken über die Geschichte Polens, der jüdisch-polnischen Kultur und der imperialistischen Geschichte Deutschlands eröffnen. Matusche erweitert die deutsche Täter-Perspektive durch polnische und jüdische Sichtweisen. Polnische Figuren geben einen fremden Blick auf die deutsche Kultur; die jüdischen Figuren ergänzen das Geschichtsmodell durch eine religiöse Perspektive, sodass gemeinsame kulturelle Wurzeln zwischen Christentum (Altes Testament) und Judentum (Hebräische Bibel) hervorgehoben werden. Eine weitere Differenzierung liegt in der Erweiterung des Erinnerungsraumes bzw. in der Einholung individueller Gedächtnisse: in Analepsen geben die Figuren Einblicke in ihre Geschichte und persönlichen Erfahrungshorizonte. Durch diese Erinnerungen werden Handlungsmuster der verschiedenen Figuren in einen größeren Bedeutungszusammenhang gebracht und politische sowie soziale Aspekte in den Erinnerungsdiskurs einbezogen. Diese Gegen-Geschichten, die in Matusches Geschichtsdrama zum Ausdruck kommen, lassen sich in Beziehung zu James Youngs Konzept des Gegen-Monuments setzen. In der Studie Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocaust (1997) untersucht Young nationale Formen des Gedenkens an den Holocaust in Deutschland, Polen, Israel und USA und weist nach, auf welche Weise nationale Erinnerungskulturen konstruiert werden und in welcher Relation sie zu politischen und gesellschaftlichen Bedingungen des jeweiligen Landes stehen. Young betont: »Je nach Standort und dem jeweiligen Denkmalschöpfer erinnern diese Denkmäler an die Vergangenheit gemäß unterschiedlicher nationaler Mythen, Ideale, politischer Bedürfnisse.«289 Das Zusammenspiel von nationalen Mythen und Vergangenheitsdiskursen konkretisiert er am Beispiel Deutschlands: Während in Westdeutschland nach 1945 eine Vergessenskultur gefördert wurde, in der die Mahnmale der Vergangenheit ziemlich schnell aus der Landschaft verschwanden, gehörte es zur Strategie der sowjetischen Besatzer, Ruinen wie die des Reichstages stehen zu lassen und der Bevölkerung als Mahnmal vor Augen zu führen. Diese Erinnerungsstrategie war eingebunden in das politische Selbstverständnis als Sieger über Nazideutschland aus der Geschichte hervorgegangen zu sein.290 Dieses Erinnerungsdispositiv zeigt sich exemplarisch an dem Gedenkort Buchenwald, welcher nach Young zu einem »heiligen Ort des deutschen Kommunismus«291 stilisiert wurde, an dem am Nationalfeiertag der DDR an die kommunistischen Widerstandskämpfer und Opfer des Faschismus gedacht wurde. Mit der Wende 1989 wurde ein vollkommen neues Konzept für den Gedenkort ausgearbeitet, in dem auch die Geschichte 289 | Young 1997, 27. 290 | Siehe Young 1997, 115. 291 | Young 1997, 117.

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Buchenwalds als sowjetisches Speziallager in die Erinnerung einbezogen wurde. Neben der Selektivität von Gedenkorten wie Buchenwald problematisiert Young zudem die allgemeine Funktionsweise des Monuments im Hinblick auf das deutsche Tätergedächtnis. Zunächst stellt er fest, dass normalerweise ein Denkmal auf die positiven Errungenschaften einer Nation verweise und so die Identität stabilisiere. Die Mahnmale an die Opfer des Holocaust stehen dazu im Widerspruch, erinnern sie doch an historische Ereignisse, die Scham und Schuld hervorrufen. Eine in-sich-gebrochene Erinnerung präge die deutsche Gedächtniskultur an den Holocaust. Zudem habe die Gesellschaft aufgrund der deutschen Teilung ein sehr widersprüchliches Verhältnis zur Vergangenheit. Für Young erscheint es fraglich, ob das konventionelle Mahnmal sinnvoll für die Trauerarbeit sei. Nicht zuletzt, da es auf einen nationalen Diskurs und damit auf eine Lesart der Geschichte ausgerichtet ist, sei es schwierig mit der komplexen Geschichte Deutschlands vereinbar. Young gibt Beispiele von deutschen Künstlern, die, um an die Verbrechen des Nationalsozialismus zu gedenken, ganz anders vorgingen und statt eines fest installierten Monuments ein »Gegen-Monument«292 entwarfen. Die vorgestellten Konzepte haben gemeinsam, einen offenen Erinnerungsraum zu evozieren und mit der Dialektik von Vergessen und Erinnern spielerisch umzugehen. Dabei bezeugen die Gegen-Denkmäler die Leerstelle und die bleibende »Wunde«, die der Holocaust in der Gesellschaft hinterlassen hat. Als Beispiel eines Negativ-Monuments dient Young Horst Hoheisels Rekonstruktion des Aschrott-Brunnens in Kassel. Der von dem jüdischen Industriellen Aschrott gestiftete Brunnen wurde während des Nationalsozialismus als »Judenbrunnen« diffamiert und 1939 zerstört. In den 1960er Jahren wurde anstelle des historischen Brunnens ein Springbrunnen mit Blumenbeet angelegt, sodass befragte Bürger davon ausgingen, dass der Brunnen während des Bombardements auf Kassel zerstört worden war. Diese Geschichtsvergessenheit greift Hoheisel in seinem Konzept auf und betont: »Ich habe den neuen Brunnen als Spiegelbild des alten in den Platz hinunter gesenkt, um die Geschichte des Ortes als offene Wunde und offene Frage in das Bewusstsein der Kassler Bürger zu retten […].«293 Während die Passanten über diesen Platz gehen, soll ihnen die Geschichte des Brunnens bewusst werden. Hoheisels Gegen-Denkmal fordert demnach von den Bürgerinnen und Bürgern aktive Teilnahme und Partizipation am Gedenken ein. Auch das Medium Buch in Zusammenspiel mit dem typisch jüdischen Gedenkstein wird in Hoheisels Gegen-Monumenten zum Träger von Erinnerung. So beauftragte Hoheisel in einem anderen Projekt Schüler damit, über Juden zu forschen, die in ihrer Nachbarschaft oder möglicherweise in ihrer eigenen Wohnung gelebt haben. Deren Geschichte sollten sie aufschreiben 292 | Siehe Young 1997, 57. 293 | Siehe Young 1997, 78.

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und das beschriebene Papier um einen Gedenkstein wickeln. Anschließend wurden die so umwickelten Steine gesammelt und am Kassler Bahnhof als Denk-Stein-Sammlung an jenem Bahnsteig installiert, an dem Juden deportiert worden waren.294 Der Theaterwissenschaftler Friedemann Kreuder zeigt in Formen des Erinnerns im Theater Michael Grübers performative Strategien des Theaters auf, um Gedenk-Räume deutscher Geschichte zu inszenieren. Er demonstriert, dass das Gedächtnistheater von Grüber ähnlich funktioniert wie die von Young vorgestellten Gegen-Monumente zeitgenössischer deutscher Künstler. Grüber nutzt in seinen Inszenierungen die Suggestionskraft von Erinnerungsorten bzw. Gedenkorten wie dem Olympia-Stadion in Berlin, der Ruine des Grand Hotel Esplanade am Potsdamer Platz oder dem sowjetischen Friedhof in der Nähe der Gedenkstätte Buchenwald. Aus der Perspektive eines westdeutschen Künstlers inszeniert er Gedächtnisräume zur deutschen Vergangenheit, wobei er die Strategie verfolgt, unterdrückte Linien der Geschichte hervorzuholen bzw. im assoziativen Verfahren miteinander zu verbinden. Hierfür nutzt er das Prinzip der offenen Montage und reichert die Aufführungsorte mit Bildern, Objekten, literarischen Texten und Szenen an, sodass sich widersprüchliche und weitläufige Fluchtlinien auf den Gedenkort ergeben.295 Kreuder reflektiert, inwiefern seine Erinnerungen an die Aufführungsbesuche von Grübers Theater als Ausgangsbasis einer Theaterhistoriographie genutzt werden können. Bei seinen Überlegungen bezieht er sich auf die Studie Wir sind Erinnerung: Gedächtnis und Persönlichkeit (1999) des amerikanischen Gedächtnisforschers Daniel Schacter, der verdeutlicht hat, dass Mechanismen des Erinnerns eng mit der eigenen Identität verbunden und somit durch die bereits gemachten Lebenserfahrungen vorgeprägt sind. Aus diesem Grund können über die Auswahl dessen was nach einem Theaterbesuch erinnert wird, Rückschlüsse auf den persönlichen Erfahrungshorizont des Erinnernden gezogen werden. Kreuder definiert Erinnerungen als »komplexe subjektive Konstruktionen«296 und betont, dass nicht nur die eigenen Vergangenheit, sondern auch die Zukunft, d.h. mit welcher Absicht erinnert wird, den Erinnerungsprozess steuert und beeinflusst. Diesen offensichtlichen Mangel an Objektivität wertet Kreuder als Vorteil und Gewinn für die Theaterhistoriographie: Durch Einbeziehung der Subjektivität des Erinnerungsmaterials verlagert sich der Schwerpunkt von

294 | Siehe Young 1996, 85f. 295 | Gedenkort wird hier im Sinne von Pierre Noras Konzeption des Gedächtnisortes verstanden, d.h. als Speichermedium nationaler Geschichte. Diese Orte können materiell sein, im Sinne traditioneller Monumente, aber auch immateriell im Sinne sprachlicher Gedächtnisorte, wie z.B. die Nationalhymne. Siehe Nora 1990, 16f. 296 | Siehe Kreuder 2002, 10.

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einer faktischen Geschichte hin zu einer Erfahrungsgeschichte.297 Anders als der sachliche Blick des Historikers Young auf Monumente, in dem psychologische Faktoren wie Verdrängungsmechanismen bewusst ausgeschlossen sind, greift die Theaterhistoriographie gerade die Bedingtheit des abgespeicherten Erinnerungsmaterials auf und stellt Geschichte in Relation zu persönlicher Lebenserfahrung und ästhetischer Erfahrung während der Aufführung. Der Schreibprozess kann somit als beständige Wechselbeziehung zwischen kulturellem und persönlichem Gedächtnis verstanden werden, in der die Aufführungserfahrung bzw. die Reflexion sinnlicher Eindrücke auf die eigene Lebenserfahrung/indviduelle Gedächtnisse und auf kollektive Erfahrung/nationale Gedächtnisse rückbezogen und diskutiert wird. Die Strukturen einer solchen Geschichtsschreibung können am Beispiel von Kreuders Theaterhistoriographie der Inszenierung Winterreise, die 1977 im Berliner Olympia Stadion stattfand, verdeutlicht werden. Hier veranschaulicht er, auf welche Weise Grüber die besondere Aura dieses Gedächtnisortes und die wetterbedingte Atmosphäre nutzt, um über die Kälte in der deutschen Geschichte bzw. der Kälte des Systems des Nationalsozialismus nachzudenken. Mit Bachelards Topo-Analyse geht er dabei besonders auf den von Grüber genutzten Topoi der Kälte ein und zeigt, wie Erinnerungsbilder mit Kälteempfindungen angereichert und die sprachlichen Implikationen der Schlagworte »Kalter Krieg« oder »politische Eiszeit« in der Installation aufgegriffen werden. Dadurch, dass Kreuder die in der Inszenierung angelegten Erinnerungsbilder und Topoi wie Totengarten oder Kälte, Schnee und Eis herausarbeitet, fokussiert er den Blick auf den atmosphärischen Zustand der Bundesrepublik sowie auf die Fluchtlinien, die zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts hinführten. Am Beispiel der »Person in Schwarz« diskutiert er, wie sich in dieser Bewegungsfigur verschiedene Geschichtsstränge einschreiben bzw. Lektüren eröffnet werden: So kann die Person in Schwarz innerhalb der Topografie des Stadions als »flüchtige KörperInschrift«298 der Sportler von 1936, aber auch als die von den Nationalsozialisten zum Volksdichter vereinnahmte Hölderlin-Figur gelesen werden, wodurch sich wiederum eine Fluchtlinie zur Biografie Hölderlins und der zeitlichen Epoche der französischen Revolution hergestellt.299 Das Beispiel verdeutlicht, dass im Gegensatz zu einem Denkmal, welches ein spezielles geschichtliches Ereignis oder Opfergruppe hervorhebt und so einen geschichtlichen Horizont eingrenzt, die Geschichtsschreibung von Grübers Theater immer in Relation zur persönlichen Erfahrung und Hintergrundwissen des Betrachters steht. Diese Form der Erinnerung vergleicht Kreuder mit einer rhizomatischen Gedächtnis-Struktur, die auf diskursive und assoziative Art und Weise weite ge297 | Siehe Kreuder 2002, 12. 298 | Kreuder 2002, 79. 299 | Siehe Kreuder 2002, 83.

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schichtliche Bögen entwirft und ein breites Spektrum an geschichtlichen Erfahrungen assoziieren lässt. Denn (die Materialien zu) Grübers Inszenierungen eröffnen komplexe Denk-, Gedenk-, und Gedächtnis-Räume, welche Reflexionen auf die Geschichte der Opfer des Nationalsozialismus evozieren, ferner die Geschichte der revolutionären Intellektuellen von den Jakobinern bis zur 68er Generation, die nationalen Geschichten der BRD und DDR oder auch die Geschichte der Aufklärung bzw. der westlichen Zivilisation in historisch-kritischer Erinnerung 300

Zwar kann die Lektüre eines Theatertextes nicht mit der Erfahrung einer Theateraufführung bzw. mit performativen Bild-, Licht- und Bewegungsräumen gleichgesetzt werden, doch kann dargelegt werden, dass auch Matusches Drama Imaginations- und Denkräume evoziert, die als »Denk-, Gedenk- und Gedächtnis-Räume«301 im Sinne Kreuders interpretiert und unter Rekurs auf Young auch als Gegen-Gedächtnis zum offiziellen Siegergedächtnis der DDR verstanden werden können. In dem Drama werden Erinnerungsbilder versprachlicht, die sich nicht genau zuordnen lassen, mehr Sinnbilder für Bewegung und Widerständigkeit sind, als dass sie ein konkretes politisches Anliegen verfolgen. Der titelgebende Name »Regenwettermann« wird in dem Stück auf unterschiedliche Personen bezogen und bezeichnet weniger ein bestimmtes Individuum, denn eine geistige Haltung, die unabhängig vom historischen oder nationalen Kontext ist. Über die figurengebundene Perspektive setzt Matusche eine allgemein menschliche Ebene, auf der überindividuelle Themen wie Entscheidung, Schuld oder Verantwortung verhandelt werden und zeigt, wie sich die Figuren in Grenzsituationen verhalten. Dabei wird deutlich, wie sehr das Verhalten der Figurengruppen durch ihre geschichtliche Erfahrung, ihre religiöse bzw. politische Weltanschauung bestimmt ist. Es entsteht ein Spiel zwischen Fremd- und Eigenwahrnehmung; jede der Figurengruppen – deutsche Soldaten sowie die jüdische und polnische Familie – eröffnet eine andere Blickachse auf die geschichtliche Situation. Hinsichtlich der Erweiterung der Perspektive kann Matusches Form der Erinnerung zu aktuellen Diskussionen der Gedächtnisforschung in Bezug gesetzt werden. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg plädiert in Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization (2009) dafür, sich von der Konzeption eines competive memory zu verabschieden und damit von der Annahme, dass nationale Erinnerungskulturen sich voneinander abgrenzen sollten und im Zuge der Identitätsbildung um ihren Platz in der Sphäre des Öffentlichen konkurrieren müssten. Für Rothberg ist genau das Gegenteil 300 | Kreuder 2002, 16. 301 | Kreuder 2002, 16.

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der Fall – die Sphäre des Öffentlichen, gedacht im Sinne Hannah Arendts – sei genau der gesellschaftliche Raum, in dem gegensätzliche, nationale Gedächtnisse in Bezug zueinander gesetzt bzw. miteinander verknüpft werden sollten. Dabei kann die Dominanz eines Erinnerungsdiskurses dazu dienen, andere Erinnerungsstränge darin einzubetten und zu diskutieren. Besonders hinsichtlich der Erinnerung an den Holocaust sei dieses Konzept des »Multidirectional Memory«302 ein Weg mit den unterschiedlichen Gedächtnissen bzw. den Täter- und Opferperspektiven umzugehen und diese nicht zwangsläufig in Konkurrenz zueinander zu stellen. Statt die jeweilige eigene nationale Identität und den eigenen Erinnerungsdiskurs in den Vordergrund zu stellen, sucht dieses Konzept die Gemeinsamkeit zwischen den verschiedenen Identitäts- und Erinnerungsdiskursen zu erhellen: Fundamental to the conception of competitive memory is a notion of the public sphere as a pregiven, limited space in which already-established groups engage in a life-anddeath struggle. In contrast, pursuing memory’s multidirectionality encourages us to think of the public sphere as a malleable discursive space in which groups do not simply articulate established positions but actually come into being through their dialogical interactions with others […] 303

Matusches Form der Erinnerung kann insofern mit Rothberg Konzept eines Multidirectional Memory verglichen werden, da es die Sphäre des Öffentlichen in den Vordergrund stellt und veranschaulicht, wie sich diese Öffentlichkeit unter den Bedingungen der totalitären Herrschaft der Nationalsozialisten verändert. Es stellt dar, wie die verschiedenen Figurengruppen auf diese Veränderung des gesellschaftlichen Raumes reagieren und konfrontiert die unterschiedlichen Wahrnehmungen miteinander. Die Erinnerung an die Shoah in Polen wird gleichzeitig zu der Erinnerung an den kommunistischen Widerstand behandelt; an die Erfahrung der deutschen Diktatur heftet sich jüdische als auch polnische Geschichte. In der Gedächtnis-Topografie der polnischen Stadt schreiben sich Erfahrungen des deutschen Imperialismus, Erinnerungen an Gewalt und Verbrechen der Nationalsozialisten aber auch Erinnerungen an das friedliche Zusammenleben im multikulturellen Galizien und Traditionslinien eines bürgerlichen Humanismus ein. Die perspektivische Offenheit ist in der Ästhetik des Dramas angelegt. Obgleich es zunächst der aristotelischen Dramenkonvention entspricht, sogar die Einheit von Zeit und Ort weitestgehend erfüllt, lässt sich nicht von einer kontinuierlich verlaufenden Zeit sprechen. Das Zeit-Raum-Kontinuum des Dramas wird durch Denkpausen, Rückblicke, Tagträume aufgebrochen und so, ähnlich wie Kreuder es 302 | Rothberg 2009, 5. 303 | Ebd.

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für das Gedächtnistheater von Grüber beschreibt, ein »Ineinander von Räumen und Zeiten« geschaffen. Dabei wirkt einerseits die gefühlte Geschichte, welche die psychologische Dimension des Raumes umfasst, andererseits die Ideen-Geschichte, welche in der gesellschaftlichen Dimension zum Ausdruck kommt. Wie im Künstlerstück Van Gogh sind die einzelnen Szenen mit ausdruckstarken Titeln versehen, die den Inhalt der Szene in Stimmungen und Motive übersetzen und so metaphorisch verdichten, wodurch der dramatische Raum topografisch vorstrukturiert wird. Die Aneinanderreihung der Titel Soldaten – Angst – Abschied – Weißleuchtender Jasmin – Des Fuhrmanns Fuhre – Wo die Bussarde sind verweist bereits auf eine Handlungsdramaturgie mit Auftakt, Wendepunkt und Katastrophe. In der folgenden Dramenanalyse nehme ich eine Kartierung des dramatischen Raumes vor und verknüpfe die Spielorte – Schule, Haus des Lehrers, jüdischer Friedhof und Sandkuhle – mit den dort verhandelten Topoi. So lassen sich die topologischen Felder den Weltanschauungen zuordnen bzw. das Textkontinuum als »[…] Organisationsprinzip für den Auf bau eines ›Weltbildes‹«304 im Sinne Lotmans lesen. Die Dramenanalyse ist geleitet von der Frage, inwiefern Matusche ein Gegengedächtnis zum Mythos des kommunistischen Antifaschismus auf baut und somit von der Siegergeschichte der DDR abweicht. Um diese Fragen zu beantworten, werden Grenzerfahrungen und Weltbilder der unterschiedlichen Figurengruppen in den Blick genommen und unter Rekurs auf Jaspers Psychologie der Weltanschauungen und Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft diskutiert. Auch soll gezeigt werden, inwiefern von den Figuren Grenzen ihres vorgegebenen semantischen Feldes überschritten, Weltbilder gewechselt und so von Matusche »Helden« der Geschichte inszeniert werden.

Deutsche Misere I: Humanismus und Krieg Langsam baut Matusche die Konfliktsituation zwischen deutschen Soldaten und Einwohnern der Stadt auf. Die Gespräche zwischen den Soldaten, einem polnischen Lehrer und einem jüdischen Jungen entwickeln sich zufällig und fangen harmlos an. In der Tradition des Intimen Theaters von Johannes Schlaf arbeitet Matusche Probleme in der Kommunikation und Bewusstseinsprozesse der Figuren heraus. Schlaf interessiert sich dabei für Kommunikationsstörungen und parapsychologische Vorgänge, die Handlungen der Figuren steuern und in ihrem Sprachverhalten zum Ausdruck kommen.305 Auch Matusche interessiert sich für Bereiche der Störung zwischenmenschlicher Kommunikation, wobei er die Aufmerksamkeit auf unbewusste Handlungen bzw. sinnliche Wahrnehmungsprozesse lenkt, die mit der Sprache schwerlich wiedergegeben werden können. Seine Dramatik unterscheidet 304 | Siehe Lotman 2012, 538. 305 | Siehe zu Schlafs Konzept des Intimen Theaters siehe Kafitz 1992, 65f.

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sich insofern von Schlafs Konzept des Intimen Theaters, dasser diese Sprachstörungen in soziale Kontexte integriert bzw. diese aus der politisch-sozialen Situation heraus motiviert. In seiner Sprachkonzeption liegt ein Hauptaugenmerk auf Zwischentönen und Andeutungen, d.h. dem, was zwischen den Zeilen gesagt und nur angestoßen wird. Diese Verknappung der Sprache verweist weniger auf ein Unvermögen der Figuren, ihre Gedanken und Gefühle adäquat zum Ausdruck zu bringen, sondern ist den Bedingungen der Kommunikationssituation geschuldet. Die Figuren sprechen nur laut aus, was gesagt werden darf bzw. bringen in ihrer Zurückhaltung eine enorme Vorsicht zum Ausdruck. Matusche verwendet eine verknappte lakonische Sprache, setzt Pausen und beredtes Schweigen und verwendet einen Andeutungsstil, um Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren darzustellen. Oftmals verweigern sich die sperrigen, verknappten Dialogen einer eindeutigen Sinnzuschreibung und der Rezipient ist dazu aufgefordert, den mitschwingenden Subtext der Figurenrede durch wiederholtes Lesen und Nachdenken herauszuarbeiten. Die kurzen Bemerkungen lassen das eigentlich Gemeinte zum Teil nur erahnen und erst im Verlauf des Dramas bzw. durch Einbezug der zeitgeschichtlichen Umstände ist der Redeinhalt zu verstehen. Der Grundkonflikt oder die Grundspannung ist in der ersten Szene durch den Schauplatz der Schule vorgegeben, in der die humanistische Bildungswelt auf die des Krieges trifft. Dies wird zu Beginn deutlich, wenn deutsche Soldaten sich in der Schule einquartieren und eine scheinbar harmlose Konversation mit dem polnischen Lehrer beginnen. Ausgerechnet in einer Schule richtet sich das Militär ein – zwischen Schulbänken und Lehrmaterial. Der eigentliche Krieg scheint in diesem Umfeld zunächst weit weg, der vorsichtigfreundliche Umgang wirkt seltsam normal. Doch konfrontiert der Lehrer sie bald – auf unterschwellig-aggressive Weise – mit der Kriegssituation. Hierbei stellt er seine bürgerliche Identität heraus und verweist auf seine kulturellsprachliche Kompetenz: »Wir unterhalten uns, weil ich deutsch kann.«306 In vorwurfsvollen Ton beantwortet er Fragen nach seinem jetzigen Alltag: GLESS: »Der reine Schichtwechsel. Und alles in ihrer Wohnstube?« WAREN: »Und doppelter Unterricht. Sie halten doch nachmittags den gleichen wie vormittags? LEHRER: »Ja, anders geht es nicht. Sie sind nun einmal wieder da.« 307

Mit dieser Anspielung eröffnet der Lehrer das weite Feld der deutschen Misere – »Sie«, das sind die Deutschen im Allgemeinen und die beiden Soldaten im Besonderen. Diese übergehen seine Anspielung auf die in der Geschichte 306 | Matusche 2009c, 60. 307 | Matusche 2009c, 59.

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Polens immer wieder stattfindenden deutschen Besatzungen. Mit vordergründiger Naivität entgegnen sie, noch nie an diesem Ort gewesen zu sein.308 Doch lässt sich der Lehrer durch diese vordergründige Ahnungslosigkeit nicht davon abhalten weitere indirekte Kritik zu äußern. So fragt er, ob er sich bei dem Hauptmann persönlich bedanken solle, dass er die Schulbänke behalten dürfe. Aus seiner Haltung wird eine Kränkung des Nationalstolzes deutlich. Nachdem sich Polen, in der kurzen Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, zum souveränen Nationalstaat entwickeln konnte, ist das Land wieder besetzt und muss sich den Regeln eines anderen Landes unterordnen. Waren fühlt sich seinerseits vom Verhalten des Lehrers provoziert und demonstriert ihm seine Überlegenheit, indem er ihn mit Häme nach Galizien befragt, als eine Region, in der sich das Volk Israel zu Hause fühlt. Der Lehrer entgegnet scharf mit einer Gegenfrage, ob er nicht wüsste, dass viele abtransportiert seien? Diese direkte Frage wehrt Waren ab mit dem ignoranten Prinzip: »Wir geben uns nicht mit Juden ab.«309 Mit diesem kurzen Meinungsaustausch zur Situation der Juden steigt Matusche in die zentrale Thematik des Stücks ein, wobei die Frage im Vordergrund steht, wie sich diese polnische Stadt seit dem Einmarsch der Deutschen verändert hat. Sinnierend blickt der Soldat Gless aus dem Fenster und fragt den Lehrer nach dem gegenüberliegenden Park mit den uralten Bäumen. Der Lehrer informiert ihn, dass es sich bei dem Park um den alten jüdischen Friedhof handelt. Er fügt hinzu, dass der Totengräber einer der letzten sei, der noch in der Stadt ist. Gless bemerkt seine Anteilnahme und entgegnet: »Es bedrückt sie mit den Juden?«310 Auf diese sehr persönliche Frage reagiert der Lehrer ausweichend und verabschiedet sich, indem er die ersten Verse von Goethes Ein Gleiches rezitiert. Dieses Gedicht fungiert im Sinne Pierre Noras als Gedächtnisort an das humanistische Deutschland. Nach Nora dienen nicht nur geografische Orte zur Stabilisierung und Bewahrung eines kollektiven Gedächtnisses, sondern auch abstrakte sprachliche Orte, die ein gemeinsames Literaturgedächtnis und damit eine Gruppenidentität schaffen.311 Die Erinnerung an Goethes Gedicht schafft ein Band zwischen dem polnischen Lehrer und den Soldaten und gibt Raum für ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis. Von dem polnischen Lehrer ist das Zitat als eine unmissverständliche Ermahnung gedacht, dass er Deutschland in seiner humanistischen Tradition in Erinnerung behalten wolle. Dabei ist die Atmosphäre des Gedichts schon von einer »unruhigen Stille« erfüllt: Das lyrische Ich, welches beim Anblick des in der Morgendämmerung liegenden Tals absolute Ruhe verspürt, ist auch 308 | Siehe Matusche 2009c, 59. 309 | Matusche 2009c, 61. 310 | Ebd. 311 | Siehe Nora 1990, 16f.

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Ausdruck eines Wissens um die eigene Vergänglichkeit. Dieses Wissen ist hier nicht als Bedrohung, sondern als baldige Erlösung gedacht, d.h. als eine seltsame Todessehnsucht. Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch. 312

Obgleich nur die ersten Verse des Gedichts rezitiert werden, löst das Zitat bei Gless Assoziationen und Bedeutungszuschreibungen aus, die sich von der eigentlichen Bedeutung des Gedichtes weit entfernen und auf persönliche Erfahrungshorizonte des Soldaten verweisen. Gless vertraut dem anderen Soldaten an: »Diese Worte, diese Verse waren Leben geworden.«313 Die Stimmung, die von diesen Versen ausgeht, lässt ihn an die Atmosphäre im gegenwärtigen Deutschland bzw. an die im totalitären Regime denken. Mit diesen Versen wird das Bewusstsein dieser Figur stimuliert und er beginnt, von seinen Erfahrungen in Hitler-Deutschland zu erzählen. Durch das Goethe-Zitat erfolgt ein Raum- und Zeitwechsel, beide Soldaten geben Einblick in ihr früheres, ziviles Leben. Hierbei wird ein sozialer Raum skizziert, in dem sich Waren und Gless ganz unterschiedlich verorten. Matusche konzipiert hier einen klaren klassenspezifischen Gegensatz, der sich auch auf die bisherige Kriegserfahrung bezieht. Weil Gless dem proletarischen Milieu angehört und als Telegrafenarbeiter zunächst uk, d.h. unabkömmlich war, wurde er erst jetzt in den Krieg eingezogen und hat die Nazi-Diktatur während des Krieges bisher als Zivilist erlebt. Im Gegensatz dazu gehört Waren als Lehrer dem bürgerlichen Milieu an und meldete sich schon 1939 freiwillig zum Kriegsdienst. Da er schon seit zwei Jahren im Kriegsdienst steht, liegt ihm das humanistische Deutschland, welches der polnische Lehrer mit seinem Zitat anmahnt, ferner denn je. Klassenspezifische Zuschreibungen verändern sich in dieser Kriegssituation: der Arbeiter wird zum Vertreter des humanistischen Deutschlands, der Lehrer zum erfahrenen Soldaten. Waren versucht seine frühe und freiwillige Meldung zum Kriegsdienst zu rechtfertigen. Er verteidigt sich, im Grunde Pazifist zu sein. Lediglich aus strategischen Gründen habe er sich schon vor zwei Jahren

312 | Goethe 1990, 99. 313 | Matusche 2009c, 61.

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für den Krieg gemeldet, damit sein Vater Rektor einer Schule bleiben konnte.314 Seine Rechtfertigung erzielt das Gegenteil, es verstärkt die Gegensätzlichkeit zwischen den Figuren und es wird deutlich, dass Matusche die Figur aus klassenspezifischen Zuschreibungsmustern heraus konzipiert: Auf der einen Seite der bürgerliche Waren, der als schwacher, interessenloser Charakter gezeichnet wird und der für die gesellschaftliche Position des Vaters, entgegen seiner behaupteten pazifistischen Haltung und humanistischen Bildung, handelt. Der Arbeiter hingegen erhält in dieser Konstellation einen moralischen Vorteil, es kündigt sich hier die rhetorische Figur des »besseren« Deutschen an. So ist es auch die Arbeiterfigur, welche die Unterhaltung nochmals auf den Lehrer und dessen polnische Sichtweise zurückbringt. Waren unterbricht ihn wirsch, er habe bereits an den Deutschen genug. Über die Polen möchte er sich keine Gedanken machen. Doch Gless führt das Gespräch auf eine gedanklich höhere Ebene und fragt Waren: »Warum führen wir Krieg? Immer nur wir?« Dieser antwortet: »Weil wir mit uns nicht fertig werden.«315 Diese Gedanken an Deutschland und über das Wesen des Deutschen bleiben unkommentiert und werden so als These bzw. als offene Frage an den Rezipienten weitergegeben. Es stellt sich ein Schweigen ein, das Raum zum Nachdenken gibt und nach Wolfgang Iser auch als Unbestimmtheit des Textes definiert werden kann. Damit ist gemeint, dass der Leser die gedankliche Leerstelle mit eigenem Wissen oder eigenem Erfahrungshorizont ergänzen sollte.316 Mit dieser Leerstelle wird eine Reaktion herausgefordert und dazu ermutigt, entweder der These zuzustimmen oder sie abzulehnen und für jede der Positionen Argumente zu finden. Das an dieser Stelle angeregte Nachdenken über die Gründe der deutschen Misere lässt im zeitgeschichtlichen Zusammenhang an Adornos Thesen zum Wesen des Deutschen denken, wenn er in seinen Schriften zur Kultur fragt: Was ist deutsch? Zu Beginn seiner Überlegungen gibt Adorno seinen Bedenken Ausdruck, dass er sich unwohl fühlt, überhaupt eine solche Frage zu stellen, da bereits die Fragestellung die Gefahr der Idealisierung und Stereotypisierung des Deutschen einschließt.317 Auch sei es gerade eine Lehre des Krieges, sich auf humanistische Werte wie Autonomie und Selbstverantwortung gemäß Kants Vernunftbegriff zu besinnen und der »kollektiven Hörigkeit«318 entschieden entgegen zu treten. Allerdings, so denkt Adorno weiter, entbehren manche Stereotype zum Wesen des Deutschen seiner Ansicht nach nicht auch einer gewissen Wahrheit. Die zwingenste Eigenschaft des deutschen Wesens sieht er in der Wagnerischen Formel: »Deutsch 314 | Siehe ebd. 315 | Matusche 2009c, 62. 316 | Siehe Iser 1971, 19. 317 | Siehe Adorno 1977b, 691. 318 | Adorno 1977b, 692.

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sein heißt, eine Sache um seiner Selbst willen zu tun.«319 Diese Eigenschaft sei in seiner Wirkung äußerst ambivalent: einerseits seien die Leistungen auf dem Gebiet der Philosophie oder der Musik ohne diese radikale Weltvergessenheit kaum möglich, andererseits ist auch der Größenwahn und der Vorrang des Kollektivs eine Konsequenz aus diesem Wesenszug. Adorno stellt heraus, dass diese Eigenschaft des Deutschen historisch begründet ist. Während in anderen westlichen europäischen Ländern die Verbürgerlichung die Gesellschaft nachhaltig änderte, sei in Deutschland die absolutistische Herrschaftsform tief verwurzelt: »Allein schon ohne den deutschen Ernst, der vom Pathos des Absoluten herrührt und ohne den das Beste nicht wäre, hätte Hitler nicht gedeihen können.«320 Adorno resümiert, dass es wichtig sei, die Stereotype kritisch zu hinterfragen und mit den eigenen Erfahrungen abzugleichen. In diesem Denkprozess werde die Dialektik des Wesens deutlich und man erhalte Abstand zum Konzept einer Nationalität: »Jede Einsicht, daß an dem, was deutsch ist, das eine nicht ohne das andere sich haben läßt, entmutig jede eindeutige Antwort auf die Frage.«321 Dieser kurze Exkurs zu Adornos Reflexionen über das Wesen des Deutschen ist eine Reaktion auf eine Leerstelle in Matusches Drama; in der Redepause zeigt sich die Appellfunktion des literarischen Textes, durch die die Frage vom Rezipienten aufgegriffen, weitergedacht und durch eigene Gedächtnisbilder angereichert werden kann. Diese Lesewirkung lässt sich nach Iser als Ereignis des Textes beschreiben, da sie eine Interaktion zwischen Leser und Text hervorruft.322 Die knappe Antwort »weil wir mit uns selbst nicht fertig werden« verweist auch auf eine Sinnverweigerung. Es wird suggeriert, dass es etwas Nicht-Verstehbares im Wesen der Deutschen gebe, das sich schwerlich über die Verstandesebene lösen lasse. In dieser Antwort schwingt der Verweis auf ein irrationales, nicht fassbares Element mit. Um diese Unfassbarkeit zu unterstreichen, schweift der Blick über die verregnete Stadt zu dem gegenüberliegenden jüdischen Friedhof. Dieser scheint Teil der Frage bzw. Antwort zu sein und übt eine enorme Anziehungskraft auf den Soldaten Gless aus. Zu gerne würde er diesen Ort besuchen und dort vor dem Weltgeschehen flüchten. »Nichts. Der Regen. Die alten Bäume.« Spöttisch kommentiert Waren die verträumte Art von Gless; zusammen blicken sie nun auf die verregnete Stadt hinaus. Da bemerkt Waren einen Jungen, der sich ganz sonderbar verhält und auf einer Brücke herumtänzelt, wobei er das Lied von Regenwettermann singt. Diese Begegnung mit dem Jungen scheint Teil der angedeuteten Unfassbarkeit zu sein. Die spielerische Selbstvergessenheit in der sich der Junge 319 | Adorno 1977b, 693. 320 | Adorno 1977b, 695. 321 | Ebd. 322 | Siehe Iser 1971, 6.

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befindet, die die äußeren Umstände der deutschen Besatzung und des Krieges auszublenden scheint, übt großen Eindruck auf den Soldaten. Sein seltsames, unkonventionelles Verhalten weckt Neugier und eine Erwartungshaltung. In diesem spielenden Jungen wird ein Gegenbild zum Soldaten aufgebaut – die Figur kann nach Schillers Schrift Über eine ästhetische Erziehung des Menschen (1795) als Homo ludens bezeichnet werden.323 In dieser selbstvergessenen Figur kommt ein humanistisches Menschenbild zum Ausdruck, welches nach Ganzheit strebt und Freiraum entgegen der Regelhaftigkeit der Vernunft sucht. Gerade diese Konfrontation zwischen spielerischer und kriegerischer Welt gibt der Diskussion der deutschen Misere eine weitere Dimension. Dem pflichtbewussten Soldaten, der sich als Teil eines Kollektiven versteht, wird ein Einzelner gegenübergestellt, dessen Handlungen sich nicht nach Befehlen und äußeren Gegebenheiten, sondern inneren Lustempfinden richten. Die Figur des Spielenden deutet auf die Grenze des Denkens, auf das chaotische, sich dem Verstand entziehende. Es wird ein Spielraum geschaffen, der auf sinnliche Erfahrungswerte und subjektive Räumlichkeit verweist. Wie anhand Van Gogh gezeigt, werden auch hier Strategien des expressionistischen Theaters eingesetzt, d.h. es wird versucht eine Ganzheit im Erleben zu schaffen und den Menschen nicht nur über den Verstand, sondern über sämtliche Sinne, synästhetische Eindrücke wie Gerüche, Köpererfahrung und Atmosphären zu erreichen. Diese Strategien gehen über den Horizont des Intimen Theaters hinaus, welches vorrangig innerseelische Prozesse bzw. Nuancen nonsprachlicher Kommunikation darstellt, um letztlich die determinierte Situation des Menschen zu verdeutlichen. Dem expressiven Verhalten des Jungen liegt allerdings ein freiheitlicheres und damit positiveres Menschenbild zu Grunde. Durch seine Körperlichkeit und seinen Gesang behauptet sich der Junge in diesem kriegerischen Raum. Die Art und Weise wie der Junge im Regen umherstreift und selbstvergessen dieses Lied singt, erinnert den Soldaten Gless an seine eigenen Erfahrungen als Telegrafenarbeiter. Im Folgenden baut Matusche eine emotionale Verbindung zwischen dem Arbeiter Gless und dem Jungen auf. Der Soldat erzählt ihm, dass er das Lied vom Regenwettermann aus seiner Heimat kennt. Auch erinnerte ihn die freiheitsliebende Haltung des Jungen an einen älteren Kollegen, der bei jedem Wetter auf den Mast stieg und sehr unerschrocken war. Dann berichtet der Soldat, wie sich nach der Machtübernahme die Stimmung änderte – und auf einmal eine angespannte Stille in den Straßen herrschte. Unter der Diktatur hatte sich ein Schweigen ausgebreitet – ähnlich unheim323 | Fischer-Lichte greift Schillers Konzept der ästhetischen Erziehung in der Studie Ästhetische Erfahrung auf: Durch diesen spielerischen Aspekt wird die Autonomie der Kunst unterstrichen und innere Wirklichkeit herausgestellt. Siehe Fischer-Lichte 2001, 31.

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lich wie es in dem amerikanischen Dokumentarfilm Inside Nazi-Germany aus dem Jahr 1938 beschrieben wird. Die Arbeit als Telegrafenarbeiter, die zuvor von romantischer Sehnsucht getrieben war, im Freien zu arbeiten, veränderte sich: »Keiner sagte ein Wort, nicht einmal zublinzeln taten die Arbeiter sich noch.«324 Mit diesen kurzen Worten umschreibt er, wie sich Anpassungsdruck und Angst vor repressiven Maßnahmen in der Bevölkerung ausbreiteten und die Widerstandskraft unter der Arbeiterbewegung gebrochen wurde. In diesem Zusammenhang wird eine für die DDR paradigmatische Erinnerungsfigur aufgebaut und an jene kommunistisch/sozialdemokratisch gesinnten Arbeiter gedacht, die aufgrund ihrer politischen Überzeugung zu den ersten Opfern des nationalsozialistischen Regimes zählten. Um den politischen Widerstand frühzeitig zu brechen, wurden nach Hitlers Machtübernahme 1933 insbesondere Mitglieder der KPD in Arbeitslagern interniert. Auch der alte Telegrafenarbeiter, so berichtet Gless weiter, wurde »weggesperrt«. Als Gless auf diese Lager für politische Gefangene zu sprechen kommt, unterbricht Waren ihn und warnt: »Überleg, was du sagst, der Junge hört zu.«325 Die Erinnerung an den deutschen Widerstand reißt plötzlich ab, als ein höher stehender Soldat, der Hauptfeldwebel Escher, eintritt. Dieser gibt bekannt, dass sich morgen alle Juden auf dem Marktplatz sammeln sollen. Besorgt fragt Dani, ob der Totengräber auch dabei sei. Erst jetzt erfahren die Soldaten, dass er jüdisch ist. Bis auf seinen Onkel, den Totengräber und dessen Schwester Rebe, wurde seine gesamte Familie bei dem letzten Transport mitgenommen. Von seinem älteren Bruder hat er die übergroße Jacke geerbt, die ihn so seltsam aussehen lässt. Gless rät ihm, nicht mehr nach seiner Schulbank zu suchen und wieder in den Regen zu gehen. Der Junge erwidert, er habe die Bank längst gefunden und weist auf eine, in der sein Name, Daniel, eingeritzt ist. Er setzt sich auf die Bank und sagt, dass er sich in der Schule immer sicher gefühlt habe. Dieser Ort bedeutet ihm viel mehr als eine Bildungsstätte; er ist ihm ein Zufluchtsstätte und Vergewisserung der eigenen Identität. Die Soldaten, die genau wissen, dass dieser Schutzraum sich nun für den Jungen in einen gefährlichen Ort verwandelt hat, deuten seinen Namen um. Gless hat die Assoziation von Daniel in der Löwengrube und fragt ihn, ob er die biblische Geschichte kennt. Passend zu diesem biblischen Thema ertönt vom Lehrerhaus der Kinderchor mit dem Vers: »Herr, deine Güte reicht so weit.« Der Hauptfeldwebel Escher beendet abrupt das Gespräch und schickt den Jungen fort: »Hau ab, Judenjunge.«326 Er befiehlt den Soldaten, sich fortan von Juden fernzuhalten und verweist auf den Lohn, den sie dafür erhalten werden.

324 | Matusche 2009c, 64. 325 | Ebd. 326 | Matusche 2009c, 65.

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Am Ende dieser Szene hat sich der öffentliche Raum der Schule, der es vermochte die verschiedenen ethnischen Gruppen der Stadt zusammenzubringen, in einen Ort des totalitären Regimes verwandelt. Unter dem totalitären Raum lässt sich ein Raum der Homogenität und Vereinheitlichung verstehen. Nach Hannah Arendts politischer Theorie handelt es sich dabei um einen Machtraum, in dem das Individuum sämtlicher Handlungsmöglichkeit beraubt ist. Weder hat es die Möglichkeit, sich in den Bereich des Privaten zurückzuziehen, noch im öffentlichen Raum zu partizipieren. Dieser totalitäre Raum ist von einer Weltlosigkeit durchdrungen, in der die Gesellschaft gleichgeschaltet, d.h. zu einer indifferenten Masse geformt und kulturelle Unterschiede systematisch eingedämmt bzw. ausgegrenzt werden. In diesem gleichgeschalteten und damit interessenlosen Raum wird politisches Handeln unmöglich: Das Wesentliche der totalitären Herrschaft liegt also nicht darin, dass sie bestimmte Freiheiten beschneidet oder beseitigt, noch darin, dass sie die Liebe zur Freiheit aus den menschlichen Herzen ausrottet; sondern einzig darin, dass sie die Menschen, so wie sie sind, mit solcher Gewalt in das eiserne Band des Terrors schließt, dass der Raum des Handelns, und dies allein ist die Wirklichkeit der Freiheit, verschwindet. 327

Genau um diesen Handlungsspielraum und die Frage, wie viel oder wie wenig Entscheidungsfreiheit der Mensch unter totalitären Bedingungen hat, geht es in den folgenden Szenen. In diesen zeigt sich die Ohnmacht des Einzelnen angesichts des sich veränderten gesellschaftlichen Raumes. An diesem Wandel wird deutlich, wie sehr die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum dazu dient, das Selbst zu stabilisieren und den Menschen handlungsfähig zu machen. Unter den Bedingungen des Terrors, d.h. unter der ständigen Kontrolle und Überwachung von außen, ist diese Grenze zwischen privater und öffentlicher Sphäre nicht mehr gegeben. Mit der Auflösung dieser Grenze, welche nach Arendt eine Voraussetzung für Freiheit und Handlungsfähigkeit des Menschen bildet, stellt sich ein Gefühl der Ohnmacht ein; die nächste Umgebung, die eigenen vier Wände, verändern sich unter den Bedingungen des totalitären Regimes. In Matusches Drama können die Figuren ihrer selbst nicht mehr sicher sein. Jederzeit kann ihr Haus vom Militär besetzt oder sie selbst abgeführt werden. In dieser Situation der Ungewissheit werden die Bewohner mit dem eigenen Tod konfrontiert. Nach Jaspers können diese Extremsituationen als Grenzsituationen definiert werden, da in ihnen der Mensch auf die Endlichkeit seines Lebens gestoßen wird. Grenzsituationen zeichnen sich dadurch aus, unvermeidlich und unabdingbar zu sein, sodass sie mit endgültigen Entscheidungen einhergehen. Wie der Mensch sich in solchen Grenz327 | Arendt 2008, 955.

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situationen verhält, sei durch psychologische sowie durch weltanschauliche Dispositionen beeinflusst. In seiner Studie Psychologie der Weltanschauungen (1919) unterscheidet Jaspers zwischen verschiedenen Geistestypen und Weltanschauungen, um zu zeigen, wodurch Entscheidungsfindung und Handlung in Grenzsituationen bedingt werden. Seine Untersuchung ist von den übergreifenden Fragen geleitet: Wie geht der Mensch mit Grenzsituationen um? Was gibt ihm Halt?328

Angst und die moderne, säkularisierte Welt Die Grenzsituation des Lehrers ist durch seine Ungewissheit geprägt. Er ist Vater einer einzigen Tochter und weiß nicht, ob diese – wie schon seine jüdische Frau – mit den anderen jüdischen Bewohnern abtransportiert werden wird. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht er seine Tochter zu beschützen. Nervös versteckt er das Mädchen in seinem Haus und verbietet ihr dieses zu verlassen. Ganz offensichtlich befindet sich der Lehrer in einer Grenzsituation, in einem Raum des Dazwischen. Er steht zwischen der Macht und den Opfern, zwischen Juden und Polen, zugespitzt zwischen Leben und Tod. Diese Zwischenstellung manifestiert sich in der Szene Angst, welche im Haus des Lehrers spielt. Es ist das Haus, von dem aus in der ersten Szene singende Kinderstimmen zu hören waren und welches nun nicht mehr nur als privater Wohnraum, sondern gleichzeitig auch als Schulraum dient. Schon diese Umfunktionierung bezeichnet diese Zwischenstellung des Lehrers. Auch die Anordnung seines Hauses – es steht direkt neben dem jüdischen Friedhof und dem Haus der Familie des Totengräbers – macht die Zwischenstellung deutlich. Einerseits ist er nachbarschaftlich mit der jüdischen Familie verbunden, andererseits sucht er seine Tochter zu retten. Die Szene spielt am Abend. Erst in der schützenden Dunkelheit der Abenddämmerung darf die Tochter das Haus verlassen. Während sie im Garten nach Erdbeeren sucht, steht ihr Vater auf der Veranda. Er atmet die abgekühlte Luft tief ein und sagt zu sich: »Diese frische Luft. Nur so zu leben.«329 Anschließend befiehlt er seiner Tochter ins Haus kommen, in der Abenddämmerung sehe sie eh nichts mehr. Halka antwortet trotzig und verärgert über die Ängstlichkeit ihres Vaters, das sei ihre einzige Möglichkeit sich frei zu bewegen. Eindeutig nimmt sie eine moralisch höher stehende Position ein: »Morgen sind die Nachbarn weg. Sie sollen noch welche haben.«330 Auf den Einwand seiner Tochter weiß der Vater nichts zu erwidern. Ohne weiter auf das Schicksal der Nachbarn einzugehen, verweist er auf das regnerische Wetter, um sie zu überreden, wieder ins Haus zu gehen. Ihn zieht es in den als sicher empfundenen Innenraum: Demonstrativ 328 | Siehe Jaspers 1971, 229-232. 329 | Matusche 2009c, 67. 330 | Ebd.

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wendet er sich um, blickt in den Wohnraum und fragt seine Tochter, wie er die Schulbänke stellen könnte, sodass auch der fünfundzwanzigste Schüler am Unterricht teilnehmen kann. Forsch unterbricht Halka seine Überlegung und erinnert daran, dass das überflüssig ist, da sich morgen alle Juden der Stadt stellen müssen. Auf diese Konfrontation reagiert der Vater beschwichtigend. Er eilt sich zu sagen, dass dieser Befehl nicht für sie gelte. Erst jetzt erfährt der Leser, dass die Tochter jüdisch ist. Trotz dieser Beschwichtigung wird nur deutlich, wie besorgt er um seine Tochter ist. Die ganze Zeit über bleibt er angespannt, lauscht nach jedem verdächtigen Geräusch; nach Schritten, die sich nähern, nach Stimmen, die zu hören sind. Er mahnt: »Verstärkte Streifen haben sie eingesetzt, damit kein Jude übrigbleibt.« In dieser bedrohlichen Situation ist, aus seiner Sicht, für Mitleid kein Platz. Absichernd legt die Figur eine gesellschaftliche Maske auf und nutzt den Berufs des Lehrers und seine polnische Staatszugehörigkeit, um ihr Leben zu schützen. Die Tochter reagiert auf die Vorsicht des Vaters mit Unverständnis, sie will ihr Handeln nicht durch Angst leiten lassen, sondern durch das Gefühl des Mitleids. Gerade weil ihre Mutter das gleiche Schicksal erlitten habe, sei sie moralisch dazu verpflichtet, ein Zeichen zu setzen und den Nachbarn ihr Mitgefühl auszudrücken. Sie ermahnt den Vater: »Du hast nicht so gesprochen, als Mutter noch lebte. Du wolltest es aufnehmen.«331 In diesem Dialog werden zwei Positionen aufgezeigt, mit Grenzsituationen umzugehen: Die des Lehrers ist von Angst, die der Tochter von Mut geleitet. Die Tochter versucht gegen die Sorgen des Vaters anzureden, ihm seine humanistischen Ideale zu vergegenwärtigen. Der Lehrer erinnert sich daraufhin an die unbeschwerte Zeit vor dem Krieg, an den »Glanz des Lebens«. Dieses leichte Leben verknüpft er mit dem Bild eines bunten Blumenstraußes: »Unsagbar, ein Sommerabend, ein Strauß dieser Gartenblumen im braunen Krug auf dem Tisch.«332 Die Symbolik deutet auf ein gesellschaftliches Klima, in dem ein liberales Weltgefühl herrscht und die Religionszugehörigkeit eine untergeordnete Rolle spielt. Seine Tochter Halka ist die Einzige, die von diesem Bild übrig geblieben ist. Er blickt seine Tochter an und sagt, sie sei genauso schön wie ihre Mutter. Gleichzeitig ruft das Bild Erinnerungen an die Zeit danach und an die Deportation seiner Frau wach. Dass sie unter den Ersten war, die abtransportiert wurde, sieht der Lehrer als Strategie an, die Bevölkerung möglichst schnell zu separieren und zu homogenisieren. Dies wird in dem an seine Tochter gerichteten Kommentar deutlich: »Es war eine Warnung, verstehst du kleine Halbjüdin?«333 Möglichst schnell sollte der Zusammenhalt zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen gebrochen werden. Gegen diese Aus331 | Matusche 2009c, 68. 332 | Ebd. 333 | Matusche 2009c, 67.

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grenzungsmechanismen protestiert der Lehrer, er steht für das humanistische Prinzip der Gleichheit. In seinem säkularisierten Weltbild sind religiöse oder ethnische Grenzen unwesentlich, seine Familie gibt dafür ein Beispiel. Auch verwehrt sich der Lehrer, die von den Deutschen eingesetzte ethnisch-religiöse Markierung Jude überhaupt zu übernehmen. Das Beschreibungsvokabular der Besatzer, in welchem seine Tochter zur »Halbjüdin« degradiert wird, kann er nur auf ironisch-sarkastische Weise bzw. mit einem verächtlichen Unterton gebrauchen. Die fremden Zuschreibungen empfindet er als übergriffig und unterstreicht, dass für seine Familie diese absolut nicht zutreffen – weder ging er in die Kirche, noch seine Frau in die Synagoge. Gegen die Stigmatisierung und Ausgrenzung protestiert er und ruft mehr zu sich selbst als zu seiner Tochter: »Sie war keine Jüdin, meine Frau war sie!«334 Mit diesem Ausruf thematisiert er, dass seine Frau erst von den Nazis zur Jüdin gemacht wurde. Nach Jaspers Einteilungen der unterschiedlichen Geistestypen, gehört diese Figur zu jenen, die Halt in einem »festen Gehäuse«335 suchen und die nach dem Werteprinzip des Liberalismus leben. Diese werden verabsolutiert, d.h. die Werte wie allgemeine Menschenrechte, Verträge, Bindungen mit einem religiösen Pathos hochgehalten und als absolut objektiv angesehen. Gerade durch diese rationalistische Sichtweise, in der streng zwischen »Wert und Wertträger« unterschieden werde, entstehe eine »Blindheit für Persönlichkeiten«336. Matusche konfrontiert dieses liberale Weltbild des Lehrers mit dem fremden Blick des Soldaten Gless. Wie in Hauptmanns Die Weber (1892) fungiert die Figur des Fremden in diesem Zusammenhang dazu, die Handlung voranzubringen, aufzudecken und die stagnierende Situation zu dynamisieren. Unerwartet, über die Hintertür der Veranda, tritt der Soldat in den privaten Raum ein. Unter dem Vorwand, Stühle für das Militärlager holen zu wollen, beginnt er ein Gespräch mit dem Lehrer. Zunächst berichtet er noch recht neutral von dem Vorfall, dass ein Junge, der vorher im Regen spielte, in die Schule kam und nach seiner Bank Ausschau hielt. Er gibt ihm zu verstehen, dass der Junge verstanden hat, was morgen passiert: »Ein Junge kam aus dem Regen in die Schule. Da war er noch froh und sang ein Lied. Als er wieder herausging nicht mehr.«337 Vorwurfsvoll fragt er den Lehrer, wie er so unbeteiligt bleiben kann, wo er doch direkt neben dem Totengräber wohnt und sein Mitgefühl für die Juden in ihrem ersten Gespräch gezeigt hat. Er schließt seine Anklage mit dem Satz, dass der Junge morgen auf den Marktplatz gehen wird »[…][z]uletzt mit dem Gefühl, daß auch sein Lehrer ihn aufgegeben hat. Als den Fünfund-

334 | Matusche 2009c, 68. 335 | Jaspers 1971, 304 336 | Jaspers 1971, 324. 337 | Ebd.

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zwanzigsten.«338 Der Lehrer verteidigt sich, zum einen wusste er nicht, dass es diesmal wirklich alle sein werden, zum anderen sei er selbst Opfer der Besetzung und habe Angst vor den deutschen Soldaten: »Klagen Sie mich nicht an. Eisenbeschlagene Stiefel, auch Sie haben sie an.«339 Gless ist der Meinung, dass dieses angstgeleitete Verhalten der Diktatur in die Hände spielt. Wie vor Gericht befragt er ihn weiter, die Situation spitzt sich zu, als er ganz direkt fragt: »Ist je ein Jude wiedergekommen?«340 Der Lehrer antwortet mit einem schlichten Nein. Daraufhin fragt der Soldat, ob von den deportierten Juden je ein Lebenszeichen kam. Aufgeregt ruft die Tochter »Vater!« dazwischen, um ihn aus dieser Situation zu holen. Mit diesem Vorwurf, der Lehrer habe Dani aufgegeben, eröffnet Matusche einen Schulddiskurs. Es ist dabei eher befremdend, dass gerade ein Wehrmachtssoldat die Anklage gegen den polnischen Lehrer erhebt, der viel ohnmächtiger ist als er selbst. Es wirkt gerade so, als ob der Soldat aus einer höher stehenden moralischen Stellung den Lehrer maßregelt. Durch diesen Schulddiskurs werden Opfer- aber auch Täterbilder ausdifferenziert. Einerseits wird zwischen den polnischen und jüdischen Opfern unterschieden und gefragt: Wie kann der Nachbar unschuldig bleiben? Andererseits wird mit Gless das Bild eines guten, moralisch denkenden Soldaten aufgebaut, der sich durch seine Haltung von den anderen Soldaten abhebt. Dennoch ist es sehr provokant, dass ein Soldat als Ankläger auftritt. Diese Figurenkonstellation lässt sich vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund verstehen. Mit Gless wird das Bild eines explizit sozialistisch denkenden und handelnden Soldaten aufgebaut, der selbst Opfer der Wehrmacht unter den Nationalsozialisten ist. Vor der Folie des Kalten Krieges stehen hier nicht Soldat und Lehrer einander gegenüber, sondern zwei weltanschauliche Positionen. Wie schon zuvor zwischen Halka und dem Vater zwei grundsätzliche Haltungen unterschieden worden sind, wird nun bürgerlich-liberale und sozialistische Weltsicht einander gegenübergestellt. Der Lehrer als idealtypischer Vertreter des humanistischen Prinzips wird mit der Schuldfrage konfrontiert und damit mit der Frage, inwieweit das bürgerliche Weltbild versagt hat. Es wird suggeriert, dass wenn seine liberale Welt erst zusammengebrochen ist, er dem Terror nichts mehr entgegen zu halten hat. Ihm werden auch Eigennutz, Selbstbezüglichkeit, Schwäche sowie fehlende Solidarität unterstellt. Der Versuch des Lehrers sich aus der Politik herauszuhalten, wird als Mitschuld eingestuft, seine unbeteiligte Haltung würde letztlich die Macht forcieren und bestätigen. Dadurch, dass er seine Handlungen von Angst leiten ließe, verliere er seine humanistische Haltung. Es wird suggeriert, dass der Lehrer zwar ein hehres Menschenbild vertrete 338 | Matusche 2009c, 69. 339 | Ebd. 340 | Ebd.

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und dieses in Friedenszeiten auch gelebt habe, doch nun in den Kriegszeiten dieses Ideal nicht ausreiche. Jetzt, wo die schützenden Grenzen des Privaten verschwunden sind, hat er nichts, was er dem Terror entgegen stellen könnte. Seiner modernen liberalen Weltsicht sind sämtliche Bezugssysteme entglitten, sie stimmen einfach nicht mehr. Mit diesem Schulddiskurs soll der Lehrer in seiner Opferrolle hinterfragt und die Schwächen seines Weltbildes aufgezeigt werden. Dem Verhalten des Lehrers stellt Matusche die des Regenwettermanns entgegen. Dieser vertritt die sozialistische Position, welche sich durch Mut, Hoffnung und Widerstand auszeichnet. Im Anschluss an seine Befragung zitiert der Soldat Gless das schon in der ersten Szene imaginierte Bild des Regenwettermanns, der gegen die »Stille« der Diktatur anschreit. Als Gless die Ohnmacht des Lehrers erkennt, sagt er zu sich: »Jetzt verstehe ich den Alten, der geschrien hat, den Regenwettermann von zu Hause.«341 Die Tochter des Lehrers steht außerhalb dieses Schulddiskurses – im Umgang mit ihr ist Gless um ein vielfaches freundlicher. Er stellt sich ihr nicht als Soldat, sondern als ein Besucher eines fremden Landes vor. »Ich bin das erste Mal in einem fremden Land. Dieser Abend, Juni, so herrlich.«342 Diese Worte haben Wirkung auf das Mädchen, sie baut Vertrauen zu dem Soldaten auf und wird ihm gegenüber offener. Wieder ist es Gless, der die Unterhaltung beginnt und diese durch seine Fragen steuert. Zunächst noch recht unverfänglich mit der Frage, ob er eine von den Erdbeeren essen dürfe, worauf Halka erwidert, dass diese für ihre Nachbarn seien. Daraufhin thematisiert Gless wieder die Situation der Juden und fragt, ob sie nicht alle vereint sein sollten in dieser Nacht. Das Mädchen stimmt ihm zu und fügt an, dass sich in dieser Nacht die gläubigen Menschen an Gott wenden würden. Dieser Zuwendung zu Gott bzw. der Existenz Gottes steht der Soldat sichtlich skeptisch gegenüber. Er provoziert das gläubige Mädchen als er erwidert, dass er hier keinen Gott erkennen könne; er sehe nur eine sehr »traurige Stadt im Dunst des Regens«. Diese düstere, pessimistische Beschreibung ihrer Heimat verletzt Halka, sie reagiert sehr emotional und verrät sich dabei gegenüber dem Fremden: »Diese Stadt ist erst durch den Einmarsch der Deutschen so geworden. Früher war es eine freundliche, lebensfrohe Stadt in der die verschiedenen Menschen, Kulturen, Volksgruppen friedlich zusammenwohnten.« Zum Ende ihres Ausbruchs stellt sie die Frage: »Warum musste Mutter sterben?« Diese Frage ist eine Offenbarung gegenüber dem Soldaten, einerseits, dass sie selbst jüdisch ist, andererseits, dass sie weiß, was mit den Juden passiert. Der Lehrer kommt in diesem Moment mit den Stühlen zurück. Er fühlt sich von dem Soldaten brüskiert, der seine Tochter so schamlos ausgehorcht hat. Dieser entgegnet schlicht, jetzt könne er ihn besser verstehen. Kurz bevor der Soldat gehen will, hören sie den Nachbarn ein Lied vom Tod singen. 341 | Matusche 2009c, 69. 342 | Matusche 2009c, 70.

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Der traurige Gesang des Totengräbers ist ein Gesang für alle Opfer. Halka, die sich sofort mit diesen identifiziert ruft: »Ich will nicht sterben!« Als Gless geht, nimmt er den Korb mit den Erdbeeren, um ihn an den Zaun der Nachbarn zu hängen und solidarisiert sich so mit Halka. Insgesamt benutzt Matusche in der Szene die Folie des Fremden, um Bezüge zwischen den Figuren herzustellen. Gerade Fremden obliegt es, gewohnte Wahrnehmungen aufzubrechen, zu irritieren, Unruhe zu erzeugen und neue Sichtweisen einzunehmen. Auffällig ist, dass der Soldat in dieser Szene wie ein Ankläger auftritt. Hierbei treten zeitgeschichtliche Bezüge hervor: Die Anklage-Rhetorik lässt sich auf die 1963 beginnenden Auschwitzprozesse beziehen und somit als eine in die Dramatik verlagerte Anklage gegen die BRD. Dies liegt nahe, da sich die DDR als Ankläger der BRD positionierte und in der Presse diesen Gerichtston aufgriff.343 Über diesen zeitgeschichtlichen Kontext hinaus lassen sich Analogien zur direkten Nachkriegsgeschichte ziehen. Sehr leicht könnte ein deutsches Publikum die Schuldfrage, welche dem Lehrer gestellt wird, auf sich beziehen. Diese zielt auf grundlegende Fragen, wie sie Jaspers 1946 in seinem Aufsatz zur Schuldfrage den Deutschen stellte. Hierbei unterschied er zwischen krimineller, politischer, moralischer und metaphysischer Schuld, wobei er nur der metaphysischen Schuld zugestand, ein ganzes Kollektiv in Haftung nehmen zu können. Diese umfasst den weitreichendsten Schuldbegriff, da sich das Individuum zwar nicht vor einem staatlichen Gericht, aber vor dem eigenen Gewissen bzw. vor Gott rechtfertigen muss. Insbesondere Jaspers Konzept der metaphysischen Schuld, welches »[…] eine Solidarität zwischen Menschen als Menschen […]«344 hervorhebt, ist auf Matusches Schulddiskurs übertragbar. In der Befragung des Lehrers wurde eine Grenzsituation aufgebaut, die vor allem die Mitwisserschaft unter Nachbarn thematisiert und nach der Mit-Verantwortung fragt. Unabhängig davon, welche historischen Bezüge man herausstellt, lässt sich zusammenfassen, dass die hier geschilderte Grenzsituation des polnischen Lehrers als Folie dient und nicht einen Opfer-Täter-Diskurs zwischen Polen und Juden beabsichtigt. Die hier gestellte Schuldfrage tatsächlich als Angriff auf Polen zu interpretieren, wäre angesichts der Deutsch-Polnischen Freundschaft, die in der DDR proklamiert wurde, abwegig.

Abschied und religiöser Raum des Totengräbers Das Haus des Totengräbers bildet das Gegenstück zu dem des Lehrers; die Grenzsituation ist weniger von Angst und Aufregung, sondern mehr von Trauer, Stille und Nachdenken beherrscht. Aus den Repliken geht eine Ergebenheit in das Schicksal hervor. Geschäftig bringen die Bewohner noch den 343 | Müller 2010, 100f. 344 | Jaspers 1946, 31.

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Haushalt in Ordnung. Es gibt von ihnen keine Anklage, sondern eine Demut vor Gott. Es wirkt fast so, als ob die Judenverfolgung als naturgegeben hingenommen und als eine über die Jahrhunderte erfahrene historische Tatsache anerkannt wird. Diese Grenzsituation scheint »Normalität« zu sein. Sie haben schon zu viel gesehen, zu viel Leid erfahren, als dass sie diese Situation als Moment des Schocks wahrnehmen oder Aufruhr in ihnen aufkeimen könnte. Was bleibt ist Resignation. In diesem Sinne ist die Szene vom Abschied bestimmt, wie der Titel schon angibt. Der Totengräber und seine Schwester Rebe nehmen Abschied vom Leben, von dem Friedhof und dem Haus. Sie räumen den Schuppen auf und bringen noch alles in Ordnung. Ihr Leid ist ein stilles, nur in dem Lied, das der Totengräber noch anstimmt, kommt es zum Ausdruck. Hier besingt er ihr baldiges Ende und beklagt das »Herzweh«, welches vom eiskalten Schnee überdeckt wird. Dies ist die einzige Sentimentalität, die er sich erlaubt. Ansonsten herrscht Lakonie. Nüchtern stellt er fest, dass der Friedhof nun geschlossen wird, niemand mehr dort begraben werden wird. Er will dies als Fakt hinnehmen und nicht über das innere Leid reden. Zaghaft wendet seine Schwester Rebe ein, worüber sie sonst reden sollen: »Daß es nicht aufhört zu regnen?«345 Der Totengräber greift das Bild des Regens auf und wendet es auf die Lebensmetapher des Baumes an. Er erwidert: »Wer zählt die Tropfen an jedem Blatt? Und jedes Blatt selbst?«346 Der Regen verstanden als Zeichen der Trauer, der Tropfen auf jedem einzelnen Blatt als Schicksal der einzelnen Individuen. Für den gläubigen Totengräber ist der Leidensweg des Einzelnen immer im Verhältnis zur religiösen Gemeinschaft und zur Instanz Gottes zu sehen. Er schöpft Kraft und Hoffnung aus seinem Glauben, dass der Einzelne vor Gott nicht allein ist, sondern in einer Glaubensgemeinschaft verankert. Er versucht seine Schwester zu beruhigen: »Das Leben hat jeder als seins angesehen, Gott häuft zusammen.« Doch Rebe kann aus diesen Worten kaum Trost ziehen. Sie ist nicht bereit mit ihrem Leben so abschließen, wie es der Totengräber vermag. Was war ihr Leben fragt sie sich? Wofür hat sie gelebt – für den Sohn ihrer Schwester, den sie großgezogen hat? Der Totengräber hat keinen Sinn für diese Fragen, verweist auf die Ausweglosigkeit ihrer Situation und darauf, dass es nun, in diesem Moment darauf ankommt, die letzte Nacht zusammen zu verbringen. Sie rufen nach Dani, der noch draußen auf der Hausschwelle sitzt, neben ihm der Korb Erdbeeren – das Geschenk von Halka. Immer noch hat er seine übergroße Jacke an und ist in Gedanken an die Ereignisse des Tages vertieft. Die Unterhaltung mit den Soldaten und ihr Vergleich mit dem biblischen Daniel haben ihn aufgewühlt Auch er stellt dem Totengräber eine entscheidende Frage: »Was ist stärker als die Macht?«347 Sein 345 | Matusche 2009c, 71. 346 | Ebd. 347 | Ebd.

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Reflexionsvermögen über die historische Situation ist viel größer als die des Onkels. Für ihn steht fest, dass eine Macht wechseln kann und man sie nicht als naturgegeben hinnehmen sollte: »In der Geschichte ist es aber nicht immer die gleiche Macht.«348 Die Szene nimmt nun die Form einer Liturgie an, sein Onkel liest aus der hebräischen Bibel die Geschichte von Daniel in der Löwengrube vor. Überrascht und ungläubig hört Dani die Geschichte, in der ein Jude Herr über ein Land wurde. Sehr schnell versteht er die alttestamentarische Fabel und das Sinnbild der Löwengrube. Er schlussfolgert für sich, beim Anblick der entmutigten Verwandten: »Hier ist nicht die Löwengrube.« Er beschließt dem biblischen Vorbild zu folgen und verlässt das Haus des Totengräbers. Er verschwindet in die Dunkelheit und lässt seinen Onkel und seine Tante zurück. Sie bleiben an ihrem Platz, wagen auch nicht laut zu rufen, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihre Gedanken kehren zu den letzten Angelegenheiten zurück, die sie noch besorgen müssen: So muss der Jude Levi noch bestattet werden, denn wer, so fragen sie sich, wer soll einen toten Juden begraben, wenn kein Jude mehr da ist? Mit dem Rückbezug auf das Buch Daniel verweist Matusche auf die Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen und stellt den jüdischen Glauben als die Wurzel des christlichen Glaubens heraus. Auch der bildliche Name der Schwester »Rebe«, der auf einen Weinstock anspielt, ist ein Symbol für diese Verwurzelung. Das Buch Daniel verbindet die Religionsgruppen miteinander und bildet einen gemeinsamen Erinnerungsort. Je nach Haltung interpretieren die Figuren die Botschaft des gemeinsamen Glaubens unterschiedlich. Auch dient dieser Erinnerungsort als Mittel der Verständigung. Obgleich alle Figuren hoch religiös sind, ziehen sie verschiedene Schlüsse aus der Geschichte. Für die Figur Daniel zeigt die Geschichte von Daniel in der Löwengrube, dass es Möglichkeiten des Widerstands gibt. Er bildet anhand der Geschichte ein politisches Bewusstsein heraus, sie gilt ihm als Beweis der Veränderbarkeit von historischen Machtsituationen. Anders die Figuren Totengräber und Rebe, die an die erlösende Kraft Gottes glauben und denken, sie müssen sich ihrem Schicksal fügen. Nach Jaspers finden sie in der Grenzsituation Halt im Glauben und in religiösen Praktiken. Im Gegensatz zum Lehrer, der sich als vereinzelt empfindet, sehen sie sich als Teil eines großen Ganzen, das sie selbst nicht erfassen können und das ihnen undurchschaubar ist. Ihre Weltsicht steht der rationalistischen des Lehrers diametral entgegen, sie finden »Halt im Unendlichen«349. Gerade über diese Weltabgewandtheit und Ohnmacht der Familie ist Daniel empört. In ihm wird Widerstand wach und er beginnt, über seine Handlungsmöglichkeiten nachzudenken. Aus dem Glauben und seinem Gott-Vertrauen schöpft er die Kraft das Undenkbare zu tun und Grenzen zu 348 | Ebd. 349 | Jaspers 1971, 332.

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überschreiten. Diese jüdische Figur wird bei Matusche zur Widerstandsfigur, die entsprechend der marxistischen Sicht auf die Geschichte, deren Veränderbarkeit erkennt. Von einer Idee anregt, dem Bild der Löwengrube, begibt sich dieser Held in den von den Deutschen besetzten Raum. Die Grenzüberschreitung wird wahrnehmbar durch die Spuren von Daniel auf dem Fensterbrett. Der Hauptmann wird diese Fußspuren auf dem Fensterbrett ignorieren. Zwar wundert er sich für einen kurzen Moment, doch da ihm die Vorstellung zu abwegig erscheint, wehrt er sogleich den Verdacht ab und konzentriert sich auf die für ihn drängenden Probleme. Da in dem »begrenzten« Weltbild des Anderen diese Handlung nicht gedacht werden kann, geht der Plan auf, der Junge kann sich unbemerkt in der Schule verstecken und so der Exekution entgehen. Das Modell, welches Matusche hier konzipiert, ist im Umkehrschluss höchst konfrontativ und könnte bei genauer Betrachtung auch als Angriff auf die Opfer des Holocaust gewertet werden. Im Umkehrschluss sagt er ja, dass weil diese jüdische Familie kein politisches Bewusstsein entwickelte, es keinen Widerstand gab. Diese Argumentation entspricht ganz der Logik der DDR-Geschichtsschreibung. Diese fußte auf dem Grundsatz, dass die sozialistische Gesellschaft als Sieger aus der Geschichte hervorgegangen ist. Gedachte man der Vergangenheit sollte vor allem daran erinnert werden, dass der jetzige Frieden und die sozialistische Gesellschaft den Helden des Antifaschismus zu verdanken war. Unter diesem Erinnerungsdispositiv formte sich das kollektive Gedächtnis der DDR aus. In diesem selektiven Umgang mit der Vergangenheit wurden belastende und schuldbeladene Aspekte ausgeblendet. Die Opfer des Holocaust wurden auf verallgemeinerte, politisierte Weise in das Gedenken einbezogen. Nicht die Religion oder die Ethnie der Opfer sondern deren politisches Engagement und Einstellung stand im Vordergrund der Erinnerungspolitik, wodurch eine starke Marginalisierung und Homogenisierung der Opfer stattfand.350 Ausgehend von dieser Grundtendenz stellt Bach in ihrer Studie zur Nachkriegsliteratur der DDR Literaturen vor, die eine Ausnahme bilden und die jüngste deutsche Vergangenheit weniger stilisiert darstellen. Matusches Geschichtsdrama lässt sich in diesem Zusammenhang zu Willi Bredels Das Schweigende Dorf (1948) und Stephan Hermlin Zeit der Gemeinsamkeit (1949) in Bezug setzen, da in diesen literarischen Darstellungen Opfer- wie Täterperspektive beleuchtet werden. Während Bredel unter Einbeziehung von Jaspers Kollektivschuldthese Mitverantwortung und Schuld der Deutschen thematisiert,351 zeigt Stephan Hermlins Roman über den Aufstand im Warschauer Getto die Perspektive jüdischer Figuren auf, wobei er zwischen der jungen und älteren Generation unterscheidet. Die ältere Generation vertritt in Hermlins Roman eine orthodoxe Glaubenseinstellung, wertet die Erfahrung des Gettos 350 | Siehe Bach 2007, 108f. 351 | Siehe Bach 2007, 133.

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als Prüfung vor Gott und integriert diese in die jüdische Leidensgeschichte. Dagegen sieht die jüngere Generation sich in der Nachfolge der historischen Widerstandsfigur Bar Kochba352 und verbindet diese jüdische Widerstandstradition mit der politischen Lektüre von Lenins Schriften.353 Wie in Matusches Drama stellt Hermlin die Jugend als Sinnbild der Hoffnung dar, führt sozialistische und jüdische Identität zusammen und grenzt diese politisierte Jugend von dem unpolitischen, orthodoxen Judentum ab. Diese Figurenkonzeption weicht zwar von einer schematischen Darstellung passiver jüdischer Opfer ab, suggeriert aber auch eine Bewertung der Opfer, was hinsichtlich des Aspekts der Schuld höchst problematisch ist. Im zeitgeschichtlichen Kontext der 1960er Jahre kann diese Figurenkonzeption in Bezug zur Diskussion um Arendts Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen gesetzt werden. Das 1963 veröffentlichte Buch, welches in einem bisweilen polemischen Ton den Eichmann Prozess dokumentiert, wurde in der gesamten westlichen Welt, insbesondere unter Israelis und zionistischen Gruppen stark kritisiert. Vielen galt die Autorin als Verräterin, die gegen die jüdischen Interessen arbeitete, wenn sie etwa auf Grundlage der Gerichtsprotokolle die Rolle der Judenräte und deren Handlungsspielräume während des nationalsozialistischen Terrors diskutiert. Das Buch wurde als generelle Anklage gegen die Juden interpretiert, sich zu passiv verhalten zu haben und somit eine Mitschuld am Holocaust zu tragen. Eine solche Schuldzuweisung war von Arendt in keiner Weise intendiert, vielmehr sollte die historische Abhandlung und Darstellung der Gerichtsprotokolle dazu beitragen, die Abläufe zu verstehen, einen Überblick über die historischen Vorgänge zu erhalten.354 Worauf es Arendt aber sehr wohl ankam, und dass wird in ihrer vorherigen Studie zu den Ursprüngen totalitärer Herrschaft deutlich, die Frage des Politischen im Hinblick auf den Holocaust zu klären. Um gesellschaftliche Phänomene wie den Antisemitismus zu verstehen, sei es notwendig, sich mit der Position der Juden innerhalb des politischen Raumes bzw. der Sphäre des Öffentlichen zu beschäftigen. In diesem Kontext stellt sie in einer historischen Abhandlung heraus, dass die jüdischen Minderheiten in den verschiedenen europäischen Nationalstaaten – gerade durch ihre Paria-Rolle – keine Möglichkeit hatten, ein politisches Bewusstsein herauszubilden. Die ethnische Minderheit war in den Prozess der Herausbildung der Nationalstaaten und dem Aufbau des politischen Systems nicht integriert.355 Diese Situation bedingte eine apolitische Haltung, welche Arendt als Weltlosigkeit beschreibt, was so viel bedeutet, dass das Individuum ohne Einbindung in ein Parteien352 | Bar Kochba: in der jüdischen Geschichte Anführer in Befreiungskämpfen gegen die Seleukiden bzw. die Römer. Siehe Bach 2007, 166. 353 | Siehe Bach 2007, 162f. 354 | Siehe Arendt 1978, 9-11. 355 | Siehe Arendt 2008, 73f.

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system, ohne Interessenvertretung im öffentlichen Raum existiert. In ihrer Schrift Vita activa beschreibt sie diese ins Private zurückgedrängte Position als einen Zustand des Mangels: »Beraubt nämlich der Wirklichkeit, die durch das Gesehen- und Gehört werden entsteht, beraubt einer objektiven, d.h. gegenständlichen Beziehung zu anderen […].«356 Auch bei Matusche werden Fragen des Handlungsspielraumes eröffnet und Verhaltensweisen durch die jüdische Figur Daniel hinterfragt. Diese lässt sich unter Rekurs auf Arendts poltischer Theorie als Grenzgänger im doppelten Sinne beschreiben. In der Figur verbindet sich politisches Bewusstsein mit der Glaubensfrage bzw. der jüdischen Identität. Mit Lotman gesprochen überwindet er die Grenze zwischen innen und außen, welche dem Gegensatzpaar privat-öffentlich entspricht. Die Figuren, die es nach innen zieht, d.h. in den privaten Bereich, lassen sich mit Hannah Arendts Terminologie als »weltlos« beschreiben. Sie sind demnach auf sich selbst zurückgeworfen, auf ihre religiöse Gemeinschaft und somit apolitisch. Auf der anderen Seite stehen die Figuren, die es nach außen zieht, die einen Weltbezug aufbauen. Gehen sie raus in den öffentlichen Raum und entfernen sich von dieser gläubigen Gesellschaft, so stellen sie Weltbezug her. In diesem Beispiel ist es die Figur Daniel, welche sich aus der Glaubensgemeinschaft löst und Weltbezug herstellt. Er nimmt Kontakt zu den Deutschen (Soldat Gless) und zu Halka auf: Mit seinem Handeln erweitert er seinen politischen Horizont, zieht Schlüsse, die er sonst nicht zu denken gewagt hätte. Für Matusches Konzeption eines religiösen Sozialismus ist diese Szene beispielhaft, da hier eine antinomische Struktur hergestellt wird.

Deutsche Misere II In den letzten drei Szenen blendet Matusche wieder das semantische Feld der deutschen Soldaten ein, wobei Gruppendynamiken, die zur Grenzüberschreitung führen, im Zentrum stehen. In dem besetzten Land wird eine Karte von der »deutschen Heimat« imaginiert, Gemeinschaftsgefühl hervorgerufen und die deutsche Identität beschwört. Anschließend werden die Ortsansässigen mit diesem deutschen Machtgefühl konfrontiert, wobei dem polnischen Lehrer sowie dem Totengräber Aufträge erteilt werden, die sie unfreiwillig zum Teil dieses Apparats machen. Schließlich steht in der letzten Szene die Auflehnung des Soldaten Gless gegen diesen totalitären Raum. Diese Dynamik entsteht allmählich. Zunächst sitzen die Soldaten abends versammelt in der Schule, warten, trinken Schnaps und spielen Skat. In dem Schulraum will keine rechte militärische Stimmung aufkommen, der Hauptmann beschwert sich: »Mir ist es zu eng in diesem Lehrmittelkabinett. Ausgestopfte Vögel, Hamster und alle möglichen Sorten von Gräsern.«357 Bevor der Vorgesetzte eintrifft, entwickelt 356 | Arendt 2012, 424. 357 | Matusche 2009c, 78.

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sich zwischen den antagonistischen Figuren Gless und Waren ein Gespräch über die Situation in Deutschland. Hierbei teilen sie einander ihre privaten Erfahrungen mit, wobei die Motive ihres Handelns zum Vorschein kommen. Als Gless Warens zitternde Hände bemerkt und ihn darauf anspricht, entgegnet dieser: »Was uns bevorsteht wissen wir nicht, aber was hinter uns die teure Heimat ausmacht. Eisenstäbe, das Fallbeil. Ich weiß Bescheid, mein Schwager ist Gefängnispfarrer in Plötzensee. Und jeder wird, bei aller Standhaftigkeit, blaß.«358 Diese Äußerung zeigt sein vollkommenes Ohnmachtsgefühl und verweist auf den fehlenden Handlungsspielraum, auf den Hannah Arendt in ihrer Theorie zum totalitären Regime verwiesen hat. Mit dem Gefängnis Plötzensee wird ein zentraler Gedenkort für den Widerstand gegen das NS-Regime abgerufen, wobei mit der Nennung des »Fallbeils« auf die besondere Tötungspraxis mit Guillotine verwiesen wird.359 Auf dieses Bekenntnis des Soldaten, dass sein Handeln allein durch Angst motiviert ist, reagiert Gless sehr heftig. Wie bereits gegenüber dem polnischen Lehrer übernimmt er die Funktion des Anklägers und erhebt sich moralisch über die anderen Soldaten. Unter der Anwesenheit der Vorgesetzten reißen (wie schon in der ersten Szene) das vertrauliche Gespräch und die kritischen Töne sofort ab. Nun kreisen die Gespräche der Soldaten um den bisherigen Kriegsverlauf, die zu beklagenden Toten und den kommenden Einmarsch in Russland. Nicht mehr Angst und Zwang, sondern Pflicht des Soldaten und Stolz auf das eigene Land werden als Handlungsmotive herausgestellt. Zitterten dem Soldaten im vertraulichen Gespräch mit Gless zuvor noch die Hände bei dem Gedanken an den Krieg, so bezeugt er jetzt seine Begeisterung gegenüber dem Hauptmann mit dem Ausruf: »Vorwärts über Steppengras!«360 Wieder wird der Opportunismus dieser bürgerlichen Figur herausgestellt, die angesichts der Autorität der Vorgesetzten ihre moralische Haltung verliert und um sich zu profilieren, Informationen weitergibt. Damit biedert er sich dem faschistischen System an, welches in der Szene vor allem durch Hauptfeldwebel Escher und Hauptmann Fränkel repräsentiert wird. Der Hauptmann ruft: »Wir wollen nicht pathetisch sein. Aber der Führer Adolf Hitler ist überall. Auch hier.« Es wird deutlich, dass diese omnipräsente Anwesenheit des »Führers«, der die Geschicke des Krieges lenkt, auf die Soldaten ungemein beruhigend wirkt. Als oberster Befehlshaber der Wehrmacht trägt Hitler die Verantwortung für die Kriegshandlungen. Dadurch werden sie moralisch entlastet und entschuldet. Sie gruppieren sich um diesen Befehlsgeber, blicken zu ihm hinauf, er wird nach dem Soziologen Harald Welzer zu einer

358 | Ebd. 359 | Von Gostomski 1993, 16. 360 | Matusche 2009c, 78.

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»horizontalen Identitätsfigur«361. Auch in der Ferne dienen die nazistischen Parolen, Propaganda und Mythen als handlungsbestimmende Orientierung. Das bisherige Wertesystem, welches durch die Weimarer Verfassung so mühsam festgelegt worden war, gilt nicht mehr. In dieser Kriegswelt wird aus dem pazifistisch gesinnten und humanistisch gebildeten Lehrer ein kriegslüsterner Soldat. Gemeinsam feiern sie den baldigen triumphalen Einmarsch in Russland. Nur der Arbeitersoldat Gless wehrt sich mitzufeiern bzw. mit ihnen zusammen zu trinken. Sie empfinden sich als Deutsche, das Ich ist mit Nationalstolz verschmolzen, es gibt keine innere Abgrenzung mehr, das Gedenken an den Führer schürt eine Solidarität unter ihnen und grenzt sie von den Opfern ab. Ein Machtgefühl, verbunden mit Spaß, Euphorie und dem Gefühl der Erhabenheit breitet sich aus. Vom Alkohol wehmütig und redselig finden sich die Soldaten in ihre neue Gemeinschaft ein. Zur Betäubung der Ängste und des Gewissens dienen Alkohol und Zigaretten, sie werden zum Schmiermittel des Krieges. Es ist der kleine Materialismus wie er in Brechts Mutter Courage so eindrücklich dargestellt wird, der die Begehrlichkeiten weckt und auf die niederen Instinkte zielt. Waren wird ganz euphorisch bei dem Gedanken an den Feldzug. Zusammen mit Escher und Fränkel blasen sie die fiktiven Fanfaren. Diese Gefühlslage nutzt der Hauptmann, um den Soldaten den Auftrag der Massenerschießung zu erteilen. Es wird deutlich, dass es sich um zwei übereinanderliegende Grenzüberschreitungen handelt: An der Oberfläche handelt es sich um die Überschreitung einer politischen Grenze und damit die Erweiterung der Gebietshoheit und des politischen Territoriums. Diese Kriegshandlung wird in der Nazi-Propaganda als große Leistung gepriesen werden und dient der Außendarstellung des Dritten Reiches, da es dessen Stärke gegenüber dem kommunistischen System zeigt. Unter dieser glorreichen Geschichte liegt die versteckte Geschichte des Schreckens des Krieges; Sie führt in den irrationalen, unfassbaren Bereich des Holocaust und der fabrikmäßigen Tötung von Menschen. Diese Grenzüberschreitung geht heimlich, ohne Fanfaren vor sich. Nur nebenbei erwähnt der Befehlshaber, dass mit dem Einmarsch in Russland auch »Säuberungsaktionen« stattfinden. Dieser Überschreitung einer moralischen Grenze werden nur zögerlich Widerworte entgegengesetzt: »Nicht mehr die SS?«362, um doch ziemlich schnell in das Weltbild zu integrieren: »So wird auf uns nicht aus dem Hinterhalt geschossen.«363 In der bürokratischen Sprache kommt ein Pflichtbewusstsein, ein Ordnungssinn zum Ausdruck, der in seiner sprachlichen Form verdeckend wirkt und das tatsächliche Verbrechen ver361 | Der Kulturwissenschaftler Harald Welzer hat sich mit den Mechanismen des Krieges, speziell mit dem »normalen« Täter und den von Wehrmachts-Einheiten ausgeführten Massenexekutionen auseinandergesetzt. Welzer 2005, 108f. 362 | Matusche 2009c, 78. 363 | Ebd.

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kleinert. Von den Opfern sprechen sie wertneutral mit emotionalem Abstand. Als Gless einwendet, dass sich nur noch alte Menschen und Kinder in der Stadt befänden, wiegelt Escher ab: »Die werden groß. Ich will meine Ruhe haben, wenn ich wieder auf meinem Bauernhof bin.«364 Die Figur fühlt sich nicht als Angreifer – oder gar als Verbrecher – sondern als Beschützer seines Lebensraumes, seines bäuerlichen Friedens. Die Aggression wird so paradoxerweise umgekehrt: Die Opfer werden zu den angeblichen Aggressoren, die Aggressoren zu den Verteidigern. In diesem Zusammenhang werden auch Goethe und die deutsche Klassik als Besitz proklamiert. Auf Warens Lästerei über den polnischen Lehrer und dessen Mahnung an das humanistische Deutschland, entgegnet der Hauptfeldwebel empört: »Den Goethe haben doch wir.«365 Nach Jaspers ist es typisch für den Mensch der Masse, dass er Halt in einem festen ideologischen Gehäuse sucht: »[…] so will der Mensch der Menge gerade wissen, wem er nachfolgen soll, was er tun soll, will Gehäuse und Rezept.«366 Diese Lebenseinstellung geht mit einer ganz bestimmten Wahrnehmungsweise einher, in der alles beglaubigt und autorisiert werden muss.367 In der Szene Des Fuhrmanns Fuhre wird dieses begrenzte Weltbild mit dem religiösen konfrontiert. Die zentrale Thematik dieser kurzen Szene ist die gegensätzliche Sichtweise auf den Tod bzw. der unterschiedliche Umgang mit dem Sterben. Es wird deutlich, dass sich unter dem ideologischen Gerüst und der Formel des Heldentodes ein unheimliches Vakuum auftut. Dem Glauben und religiösen Weltbild hat dieser totalitäre Raum mit seinen Mechanismen von Gleichschaltung und Entindividualisierung nichts entgegenzusetzen. Der von ihm wahrgenommene Raum ist vollkommen ohne metaphysische Bedeutungsebene, was durch den kurzen Wortwechsel zwischen dem Totengräber und dem Soldaten Escher deutlich wird: ESCHER: Du bist bald ein Nichts. TOTENGRÄBER: Ein Nichts? Lieber Herr! Aus dem Nichts geht keine Welt hervor, und geht eine zugrunde, ist es nicht das Nichts, was sie aufnimmt. ESCHER: Dann ist ja alles in Ordnung. TOTENGRÄBER: Was Sternenstaubes ist. Dreck haftet. 368

In diesem kurzen Dialog treffen zwei Weltanschauungen aufeinander, die unterschiedliche Antworten auf die existentielle Frage des Todes geben. Auf der einen Seite die Weltanschauung des Totengräbers, diese ist fest im Glauben 364 | Matusche 2009c, 82. 365 | Matusche 2009c, 81. 366 | Jaspers 1971, 321. 367 | Siehe ebd. 368 | Siehe Matusche 2009c, 85.

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verhaftet, der seine Welt mit Bedeutung anreichert. Sein Glaubensbekenntnis kommt in der Metapher des »Sternenstaubes« zum Ausdruck. In seiner Weltanschauung ist der Tod als ein natürlicher Bestandteil des Lebens in seinen Alltag integriert. Er hat keine Furcht vor ihm. Zumindest zeigt er seine Furcht nicht vor den Deutschen. Wie in der Szene Angst gezeigt, singt er ein Lied über den baldigen Tod und beruhigt sich mit seinem Glauben an die Erlösung. In seinem Weltbild ist der Friedhof ein Bestandteil einer funktionierenden Kultur, einer Ehrung der Toten und Teil eines metaphysischen Raumes. Für den Hauptmann ist der Tod ein Ärgernis. Besonders der Tod des Juden Levi wird für ihn zu einem drängenden Problem. »Wir können ihn nicht liegen lassen. So ein toter Jude macht mehr Aufsehen als hundert noch lebende Juden.«369 Der Tod darf nicht sichtbar sein, er muss im Dunklen, im Versteckten, im Unsichtbaren stattfinden. Diese Befürchtung, es würde »Aufsehen« erregen, zielt auf die eigentliche Funktion der Sandgrube – die der Verdunklung. Durch diese Unsichtbarkeit ist die Sandkuhle als »Unort«370 zu bezeichnen, zwar ist dieser Ort handlungsbestimmend und in den Köpfen der Menschen bzw. der Figuren äußerst präsent, doch wird dieser Ort nur in der Sprache realisiert. Eine erhöhte Aufmerksamkeit wäre fatal. Der Hauptmann hat aus Lust an der Demütigung den perfiden Plan entwickelt, dass der Totengräber den toten Levi in der Sandgrube begraben soll. Anschließend wird er als Erster exekutiert. Dem Lehrer wird befohlen, nach der Exekution, die Leichen der Juden zu begraben. In dieser Handlung wird seine Zwischenstellung zwischen Opfern und Tätern manifestiert und bis auf unerträgliche Weise gesteigert. Er soll damit die Schuld den Soldaten abnehmen, die sich mit dieser »Drecksarbeit« nicht abgeben wollen. Will der Lehrer seine Tochter vor der Exekution bewahren, hat er keine andere Möglichkeit als seine Nachbarn zu begraben. Mit diesem Befehl wird auch die Schuld verschoben. Nach der Erschießung können sich die Soldaten so von den Opfern distanzieren und brauchen sich die Gesichter der Leichen nicht mehr anzuschauen. Diese Strategie, die Matusche hier beschreibt, ist die gleiche wie sie in den Konzentrationslagern angewendet wurde, in denen die sogenannten Sonderkommandos für das Verbrennen und Wegschaffen der Leichen aus den Gasöfen zuständig waren.371 Mit diesem Massengrab in der Sandgrube, in dem die Körper verschüttet und den Menschen jegliche Individualität genommen wird, entsteht ein Gegenbild zum würdevollen Friedhof. Die für die 369 | Matusche 2009c, 81. 370 | Siehe zum Begriff Unort Däumer, Kreuder u.a. 2010, 13. 371 | In einer Studie zu Bildern des Holocaust zeigt der französische Kunsthistoriker Didi-Hubermann die Bedeutung der Fotografie in Zusammenhang mit der Erinnerung an Auschwitz auf: Er widmet seine Studie den wenigen Fotos, die von den Lagerinsassen von den Verbrennungen der Leichen und den Gasöfen gemacht werden konnten. Siehe Didi-Hubermann 2007, 15f.

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jüdische Kultur so wichtige Gedächtnisleistung des Friedhofs, auf dem jedes Grab einem Erinnerungsbuch gleicht und für Jahrhunderte an die Toten gedacht wird, wird komplett verschüttet und zerstört. Dadurch, dass der Lehrer in den Ablauf dieses Massenmordes integriert wird, lässt er sich nicht mehr eindeutig abgrenzen. Die klare Abgrenzung zu den Tätern ist aufgeweicht und die zwiespältige Rolle herausgearbeitet. Auch die Integrität des Totengräbers wird mit den Bildern des Fuhrmanns verletzt. Zwar arbeitet er aus seiner Pflicht als gläubiger Jude heraus, doch wird er dadurch unfreiwillig in die Verdunklungsmaschine des Holocaust einbezogen. Die Bilder des Fuhrwerks, des Totenbestatters, der die Leichen von den Exekutionsorten, dem Feldweg, der Straße, dem Waldrand wegschafft und zu den Massengräbern bringt, gehören zum Gedächtnisraum des Holocaust in Polen. Aufgrund seines Glaubens an Gott und dem Gebot der Totenruhe tritt der Fuhrmann so seinen Dienst für die deutschen Besatzer an und säubert den eroberten Raum von den Leichen und den sichtbaren Überbleibseln des Gewaltregimes.

Topos Regenwettermann Dieser Topos verhält sich zu allen behandelten semantischen Feldern kontrastiv und bildet einen Gegenraum heraus. Er lässt sich nicht eindeutig einem Feld zuordnen, sondern verweist auf den Bereich des Utopischen – im Sinne einer über die Zeit und über den Ort hinausgehenden Bedeutung. Aus jedem der vorgestellten semantischen Felder lassen sich Figuren bestimmen, die potentiell zu diesem Topos gehören. Die jüdisch-polnische Halka, der jüdische Daniel und der deutsche Gless, diese Figuren sind durch eine Haltung miteinander verbunden, die nicht an eine bestimmte Ideologie, sondern im Sinne Blochs, an die Bewegungsfigur des Voranschreiten gebunden ist. Es sind Figuren, die eine andere Welt als die Gegebene fordern und sich dementsprechend verhalten. Zwar haben sie kein explizit politisches Bewusstsein, doch ein, wie Bloch es nennt, träumerischen Zugang zu dem »Noch-Nicht-Bewußte[n], Noch-Nicht-Gewordene[n]«372 . Diesen Zugang zu den Vorstufen der Utopie erlangen die Figuren in ihren Wachträumen, dort artikuliert sich auf verkürzte, anspielende Weise etwas »unabgegoltenes«373, dessen eigentlicher Gehalt erst artikuliert werden muss. Nach Bloch gibt es verschiedene Arten von Träumen und verschiedene Arten des Unbewussten. Der Nachttraum sei unpolitisch und habe, wie er am Beispiel der deutschen Romantik verdeutlicht, den Hang zum kontemplativen »Versinken«, Imaginieren und Grübeln.374 Er charakterisiert den Nachttraum nach Freud als Regulation der geheimen, verbotenen Wünsche und stellt heraus, dass weil der Träumende in dieser Situation gegen 372 | Siehe Bloch 1990, 4. 373 | Bloch 1990, 115. 374 | Siehe zur deutschen Romantik Bloch 1990, 154.

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die von Gesellschaft aufgestellten Gesetze verstößt, dieser stark mit Angstgefühlen besetzt sei und das Ich in einen Zustand der Hilflosigkeit versetzt werde.375 Im Tagtraum dagegen sieht Bloch das Revolutionäre, das Neue, das für die Gesellschaft Produktive verwirklicht. In ihm äußere sich nicht nur die Phantasietätigkeit des Menschen, sie sei also nicht bloß Illusion, sondern Teil einer möglichen Welt.376 In Blochs Denken sind diese Wachträume eng mit bestimmten Affekten verwoben; lösen etwa die dunklen Träume der Nacht Angst und Furcht im Menschen aus, so stellt sich im Wachtraum ein Gefühl der Weite und des Hoffens ein. Während der Nachttraum sich im Dunklen und Geheimen abspiele, sei die Erfahrung des Tagtraumes anderen mitteilbar und eigne sich einen größeren Zusammenhalt zu stiften.377 Diese Erfahrung des »Nochnicht« habe aber nichts mit dem Freudschen oder Jungschen Unterbewusstsein zu tun, es sei eher als psychische Kraft zu verstehen, die im Neuen bzw. in der Jugend stecke. Genau diese positive Funktionsweise des Wachtraumes ist es, die Matusche unter dem Topos des Regenwettermannes herausstellt. Anhand der Handlungsweise der Figuren zeigt er das Zusammenspiel von Traum, Weltsicht und gesellschaftlicher Partizipation auf. Durch den Wachtraum wird eine bestimmte Wahrnehmungsweise auf die Welt erwirkt, was in der Szene mit der titelgebenden Chiffre Weißleuchtender Jasmin deutlich wird. Die Szene spielt in der Schule, durch ein Fenster leuchtet der Jasmin vom Jüdischen Friedhof her in den Raum hinein. In dieser Szenerie wird der Ort des Friedhofes zu einer Heterotopie erhöht. Ähnlich wie die Heilanstalt im Künstlerstück Van Gogh fungiert er als Raum außerhalb aller Räume, von dem eine andere Wahrnehmungsweise möglich ist. Dieses »Andere«, worauf dieser Ort verweist, wird von den meisten deutschen Soldaten nicht wahrgenommen. Für sie ist es eben ein Areal mit schönen alten Bäumen, das zu den Juden gehört. Im Gegensatz zu seinen Kameraden ist Gless sichtlich fasziniert von dieser unsichtbaren »Sphäre der Anwesenheit«378, die von diesem Ort ausgeht. GLESS: »Der Jasmin leuchtet weiß vom jüdischen Friedhof. Es sind dichte Hecken dort. Das Grün der Büsche schimmert grau, noch in der Dämmerung, aber das Weiß leuchtet in der feuchten Luft, vibriert, eine Bewegung in der Monotonie des Regens.« FRÄNKEL: »Für so was haben Sie Sinn?« 379

Etwas befremdend ist es schon, dass der Soldat angesichts dieser Kriegssituation diese Ruhe hat, sich auf die Natursymbolik so einzulassen und dem 375 | Siehe zum Nachttraum Bloch 1990, 92-96. 376 | Siehe Bloch 1990, 110. 377 | Siehe Bloch 1990, 105. 378 | Böhme 1995, 35. 379 | Matusche 2009c, 79.

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auch leiblich nachzuspüren. Ganz offensichtlich nimmt er diesen Ort nicht nur mit seinem Verstand, sondern mit seinen gesamten Sinnen wahr. Über den Sehsinn entfaltet sich das Bild des »leuchtenden Jasmins«, über den Geruchs- und Tastsinn spürt er den synästhetischen Qualitäten dieses Raumes nach. Nach Böhmes Atmosphären-Theorie kann Atmosphäre als etwas höchst Reales begriffen werden, das das menschliche Verhalten unbewusst bestimmt und beeinflusst. So wie die leibliche Anwesenheit des Menschen im Raum gespürt werde, könne man auch die Anwesenheit von Dingen (Ding-Ekstasen) erspüren.380 Durch diese Wahrnehmungsweise wird dem jüdischen Ort ein vielschichtiges Bedeutungspotential zugeschrieben: Der Ort kann als religiöser Naturraum gleichzeitig aber auch als jüdischer Kulturraum wahrgenommen werden. Gless empfindet beim Anblick des Ortes ein Gefühl von Unendlichkeit, der Friedhof erscheint ihm als »weltenweiter Park«, der auf eine »Scheinewigkeit« verweist. Von ihm geht eine starke Hoffnungssymbolik aus, die weiße Blüte des Jasmins lässt sich als Zeichen für Unschuld, Frieden aber auch Göttlichkeit lesen. Diese Zeit-Raum-Erfahrung steht in Einklang mit den von Foucault beschriebenen Wirkungsweisen der Heterotopie: Gerade der Friedhof zeichne sich durch eine enorme Akkumulation an Zeitschichten aus, in der das Leben des Einzelnen zu verschwinden droht und sich ein »[…] absoluter Bruch mit der traditionellen Zeit«381 vollziehe. Dieses gebrochene Zeitempfinden und die Wirkung, die von diesem Ort ausgeht, lassen sich als Erfahrung von Transzendenz beschreiben. Des Weiteren schließt diese Wahrnehmung einen gänzlich anderen Umgang mit dem Tod ein, als zuvor für den Hauptmann Fränkel herausgearbeitet. Die Würde des verstorbenen Menschen ist eng an diesen Ort gebunden. Er fungiert bewahrend und beschützend. Die Grabsteine deuten auf das Gebot der Erinnerung (Zachor), in diesem Sinne ist der jüdische Friedhof ein steinernes Archiv, eine Chronik der dazugehörigen jüdischen Gemeinde. Er macht sie in der ganzen Stadt sichtbar. Auch heute sind es die jüdischen Friedhöfe, die nach der Zerstörung der Synagogen und der Vernichtung der Menschen, die letzten Erinnerungsspuren bilden. An diesen Bedeutungskomplex knüpft Matusches Chiffre an und zeigt den Friedhof als Stätte über den Tod hinaus, der mit der messianischen Hoffnung auf Erlösung verbunden ist.382 Auch in der letzten Szene steht Gless am Fenster und betrachtet den gegenüberliegenden Friedhof. Es ist Morgen und die Einheit wartet darauf, dass sich alle Juden auf dem Marktplatz versammeln. Spottend tritt der Hauptmann an ihn heran: »Ständig, wenn ich Sie sehe, stehen Sie am Fenster.«383 Allein durch 380 | Siehe Böhme 1995,35. 381 | Foucault 2012, 324. 382 | Siehe Studemund- Halévy 2011, 131f. 383 | Matusche 2009c, 86.

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diese Blickrichtung fühlt sich der Hauptmann provoziert und herausgefordert. Der Konflikt spitzt sich zu, als der Hauptmann ihn nach der Moral der Gruppe befragt. Als Gless angibt, es gäbe keinen Widerspruch, freut sich der Hauptmann über die »ausgezeichnete Kampfmoral«. Darauf entgegnet Gless mit einer Gegenfrage: »Hat Gott die Natur geschaffen, warum unseren Ekel auch? Das Anwidern jeder Gemeinheit, die wir dann doch ausführen.«384 Erzürnt über diesen Ungehorsam gibt Fränkel ihm den Befehl, selbst zu schießen. Er drückt ihn an die Wand und hält ihm die Pistole ans Genick, um ihm den Genickschuss sozusagen im Schnellkurs beizubringen. Als der sich weigert diesen Befehl auszuführen, eskaliert die Situation vollständig und Fränkel ruft ein Standgericht aus. Doch bevor der Hauptmann diese Todesstrafe ausführen kann, greift Gless selbst zur Waffe und begeht Selbstmord. Im Moment des Sterbens blickt er auf die Schulbank, in der Daniels Name eingraviert ist: Laut fragt er nach dessen Schicksal bzw. weiteren Lebensweg. Dieses Bild des Weges dient als Chronotopos und bewirkt einen Rückblick: Kurz bevor er stirbt, entsinnt er sich seiner Heimat und ruft sich die Industrielandschaft der Leuna in Erinnerung: GLESS: Rußverklebte Dämmerung. Feucht. Kein Land, nur Feldstreifen zwischen Dörfern und Siedlungen. Steigst vom Telegrafenmast herunter und fährst mit dem Rad nach Hause. Häuserreihen, schmal und niedrig. Die Luft ist rauchverhangen. Irgendwie war das gut. Eigentlich war so’ne Fahrt alles. Auch an Liebe. 385

Die Bilder der Industrielandschaft Leuna lassen sich nach Bachelards phänomenologischer Lesart des Raumes als Bilder des inneren Raumes definieren. Dieser träumerische Zustand, in den der Soldat kurz vor seinem Tod verfällt, ist nach Bachelard genau der Moment, in dem eine Verbindung zum Unbewussten möglich wird.386 Wirkungsvoll wird der sterbende Soldat in dieser Grauzone zwischen Tod und Leben in Szene gesetzt, um auf eine tief im Unterbewussten verankerte Gefühlsebene zu verweisen. Mit dieser Landschaft verbindet Gless Gefühle und Werte wie Unbeugsamkeit, Selbstbewusstsein und Freiheit. Die Träumerei, in die die Figur kurz vor seinem Tod verfällt, ist genau dieser existentielle Moment der Einsamkeit, der den Menschen zu sich selbst führt. In diesem Zustand fallen ihm kleine Wahrnehmungs-Details, wie das Licht der Abenddämmerung, der Straßenverlauf und die Anordnung der Häuser, der rauchverhangene Geruch, wieder ein. Eine Räumlichkeit, in der sich sein Selbst »irgendwie gut« gefühlt hat, in der er sich frei bewegen konnte und ganz bei sich war. Die Fahrt mit dem Rad durch diese Siedlungen erweckt ein Gefühl von Freiheit und diese Industrielandschaft vermittelt Sicherheit und 384 | Ebd. 385 | Matusche 2009c, 87. 386 | Siehe Bachelard 2012, 168.

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Geborgenheit. Durch die Erinnerung an diesen Raum findet der Arbeitersoldat einen Halt und das bestätigende Gefühl das »Richtige« getan zu haben. In diesem Handlungsakt, der Entscheidung gegen das Töten und für diesen »Wohlfühlraum« des Arbeiters liegt der Kern des Dramas. Der Arbeiter wird durch diese Entscheidung und diesen Handlungsakt zum moralischen Vorbild – mit Lotman gesprochen zur revolutionären Figur. Diese zeichnet sich dadurch aus, ohne Anlass das angestammte semantische Feld zu verlassen und damit gegen die vorgegeben Regeln und die Weltanschauung zu verstoßen. Sein Protest richtet sich gegen die als wahr angenommen Grundsätze der in dem Feld vertretenen Weltanschauung. Das Revolutionäre besteht darin, die Motivation zum Handeln aus sich selbst heraus zu ziehen, es gibt keine Motivation von außen. In diesem Aufstellen einer Antithese liegt nach Lotman das eigentliche Sujet begründet: »Gerade dasjenige, dessen Unmöglichkeit von der sujetlosen Struktur bestätigt wird, macht den Inhalt des Sujets aus. Das Sujet ist im Verhältnis zum ›Weltbild‹ ein ›revolutionäres‹ Element.«387 Auch trägt die Arbeiterfigur in Matusches Figurenkonzeption das revolutionäre Potential von Anfang an schon in sich, was durch die im Schluss inszenierten Erinnerungsbilder virulent wird. Anders gesagt, seine kulturelle Prägung ist so stark, dass er es »nicht schafft« sich dem neuem System anzupassen, unter der Extremsituation des Krieges tritt diese Differenz zwischen den Weltanschauungen offen zutage. Nach den Regeln einer konventionellen Dramaturgie, in der sich die Katastrophe nach und nach abzeichnet und sich in der letzten Szene im Konflikt zwischen zwei antagonistischen Figuren entfacht, sind die historischen Ereignisse extrem verdichtet. Der Widerstand des Soldaten wird als unerhörtes Ereignis inszeniert. In diesem Zusammenhang soll angemerkt werden, dass diese dramatische Situation, was die dargestellte »Moral der Truppe« betrifft, stark mit der tatsächlichen historischen Situation übereinstimmt. Welzer hebt in seiner Studie über die Teilnahme der Wehrmacht an den Massentötungen hervor, dass nur eine verschwindende Minderheit sich gegen den Schießbefehl wehrte. Nach seinen Erkenntnissen geschah dies allerdings weniger aufgrund der Angst vor den Konsequenzen, sondern ist viel eher durch die sozialen Dynamiken in einem vorgegeben Normalitätsrahmen zu erklären.388 Matusche benutzt in seiner Darstellung das von der DDR propagierte Bild einer faschistischen deutschen Wehrmacht. Um den Konflikt zuzuspitzen und den geschichtlichen Stoff für die Bühne aufzubereiten, entwirft er dieses Bild des sich selbst erschießenden Soldaten. Wie aus den Rezensionen zur Inszenierung des theaters 89 von 1995 hervorgeht, hat dieses Bild eine enorme Nachwirkung. In der Theater der Zeit ist das Bild des sterbenden Soldaten abgebildet und die Aufführung kurz mit dem Verweis auf 387 | Lotman 2012, 540. 388 | Siehe Welzer 2005, 131.

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die damalige Diskussion um die Wehrmachtausstellung besprochen.389 Auch in der Theaterkritik von Henning Rischbieter in der Theater heute wird das Bild des aus Gewissensnot sich selbst erschießenden Soldaten aufgegriffen und als »Kernszene« des Stücks benannt. In dieser Szene, so wird betont, zeige sich die ganze poltische Brisanz und Aktualität des Dramas. Ansonsten sei es, so der Verweis in Klammern, zu sehr poetisiert und ausweichend.390 Der Topos des Regenwettermannes ist exemplarisch für Matusches Dramatik; die Figuren, welche sich unter diesem Topos subsumieren, sind typische Außenseiterfiguren. Auch in seinem Widerstandshelden, dem Arbeitersoldaten Gless, kommt diese unbequeme, teilweise befremdliche Seite zum Ausdruck. Diese Figurenkonzeption grenzt sich von Strategien des sozialistischen Realismus ab. Sie passt weder in das Schema einer Wandlungsfigur, wie sie z.B. in Johannes Bechers Geschichtsdrama Winterschlacht (1954) realisiert wird, in der die Weltanschauung von faschistisch zu antifaschistisch wechselt. Auch mit dem parteinahen Widerstandskämpfer wie er in Bruno Apitz populären Roman Nackt unter Wölfen (1958) konzipiert ist, kann Gless nur bedingt verglichen werden, da seine Handlung an keine politische Funktionen gebunden ist.391 Matusches Arbeitersoldat entspricht mehr den Arbeiterfiguren aus Anna Seghers Das siebte Kreuz (1944): In dem Roman wird die Identität der Figuren einerseits über klassenspezifische Zuschreibungen und andererseits über Verortung in der regionalen Kultur (Rheinhessen) hergestellt.392 Stereotype Vorstellungen eines Arbeiterhelden oder Vorstellungen von »Männlichkeit« werden bei Matusche durch den Namen »Regenwettermann« irritiert, welcher von jeglichem Sieger-Pathos eines antifaschistischen Heldentums abweicht und kindlich-naiv anmutet. Dieser Name verweist nicht auf einen klassischen politischen Widerstandshelden, sondern auf ein volkstümliches Kinderlied, das, wie Gless verwundert feststellt, auch in Polen gesungen wird. Es zeigt sich, dass der Identifikationsraum des Regenwettermannes seltsam entpolitisiert ist und grenzüberschreitende Qualitäten aufweist. Er ist nicht auf eine gesellschaftliche Klasse beschränkt und geht so über rein politische Zusammenhänge hinaus. Auch treten in diesem Bezugsraum anarchistische Elemente auf, welche in der Betonung des »Freien« und der Bewegungsrichtung der Figuren nach außen deutlich wird. In der »Körperlichkeit« der Figuren manifestiert sich ein spielender und sich selbst befreiender Körper. Dies zeigt sich im Spiel des Jungen im Regen oder im Schrei der Figur »des Alten«, dem unangepassten Telegrafenarbeiter, der gegen die Diktatur rebelliert. Im historischen Kontext erinnert diese Figur an den Kommunisten Alfred Weiland, der 389 | Siehe Engelhard 1997, 52-55. 390 | Siehe Rischbieter 1997, 36. 391 | Siehe Bach 2007, 200. 392 | Siehe Seghers 2003, 19.

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von 1925 bis 1931 als Telegrafenarbeiter beim Telegrafenbauamt Berlin arbeitete, wegen Streikagitation entlassen und bis 1934 im sächsischen KZ Hohnstein in Schutzhaft genommen wurde. In der Nachkriegszeit engagierte sich der Rätekommunist für seine Vision eines internationalen, freien Sozialismus. Auch in der DDR wurde er bespitzelt, wegen trotzkistischer Umtriebe erneut verhaftet und im Zuchthaus interniert.393 Die Bedeutung der utopischen Figur des Regenwettermannes weist allerdings über die historische Person Weiland hinaus. In ihr kommt eine Grundhaltung zum Ausdruck, die unabhängig von politischen Einstellungen ist und in Zusammenhang mit Körperlichkeit und Lautlichkeit gedacht wird. In diesen Kategorien werden Themen der freien Kommunikation und der eigenen Meinung sowie das Bild des rebellierenden Körpers virulent. Insgesamt zeigt sich, dass diese Regenwettermänner – unabhängig von Alter, Geschlecht, Klassenzugehörigkeit oder Religion – einen fremden Blick in die Dramatik bringen. Diese Figuren ähneln in ihrer Funktionsweise dem soziologischen Modell des Grenzgängers wie es etwa Georg Simmel in seinem Essay über den Fremden oder Robert Ezra Park mit dem Konzept des marginal man diskutiert haben. Ganz allgemein besteht diese Funktionsweise darin, das Vertraute, das als normal empfundene, in Frage zu stellen und eine Auseinandersetzung darüber anzuregen.394 Die Diskussion fragt danach: Was wird in diesem vorgestellten Weltbild als fremd empfunden? Durch die Figur des Grenzgängers lassen sich demnach Wirklichkeitsvorstellungen und Wahrnehmungsweisen hinterfragen, Eigen- und Fremdbild einander gegenüberstellen. Die Figur des Regenwettermannes bringt eine andere Wahrnehmung in die bekannte Welt und bildet so den Prototyp des Grenzgängers. Über das Spiel, das Singen im Regen behauptet die Figur sein Selbst und grenzt sich zu den totalitären Strukturen ab. In dieser Abgrenzung steckt eine ungeheure Souveränität; auch vertritt die Figur eine kindliche Sicht auf die Welt und damit das Menschenbild des Homo ludens. In Matusches Dramatik kommt dieser Figur ein hoher Stellenwert zu; bereits in seinem ersten Zeitstück Welche von den Frauen? (1951/52), welches das zerstörte Nachkriegsdeutschland bebildert, taucht in der ersten Szene ein Junge auf, der wie Daniel im Regen spielt und das Lied vom Regenwettermann singt.395 Auch er hat übergroße Kleidung an, die von seinem Bruder stammt; zudem wurde der heimatlose Junge bezeichnenderweise in einer Schule untergebracht. Der ehemalige Widerstandskämpfer und Heimkehrer Ulrich sieht die Begegnung mit dem Jungen als Zeichen der Hoffnung: »Ich bin wieder in Deutschland. Du bist der erste Mensch, mit dem ich hier spreche. Es ist schön hier, auch wenn

393 | Siehe Kubina 2000, 29f. 394 | Reuter 2002, 13. 395 | Siehe Matusche 2009c, 226.

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es regnet.«396 Leitmotivisch verbindet diese Figur die historischen Situationen der Geschichtsdramen miteinander, wodurch eine Brücke zwischen sozialistischer Gesellschaft und totalitärer Herrschaft entsteht. Es ist die letzte Figur, die in dem Geschichtsdrama über den Zweiten Weltkrieg auftritt. Während aus der Ferne Maschinenpistolen und Schreie zu hören sind, kündigt er an: »[…] Ich gehe, Tut es. Bleibe stehen. Sehe mich um. Und gehe weiter. An der Tür. Die Bussarde, die erst in der Sandgrube waren, müssen ja auch irgendwo sein. Hinaus.«397 Mit diesen Worten thematisiert der Junge die Handlungspraktik des Sehens: durch das Bild der Löwengrube erkennt er den Ausweg aus der Grenzsituation. Nach dem Rückblick in die Vergangenheit, wechselt er die Haltung und blickt wieder nach vorne, um diese Kriegslandschaft hinter sich zu lassen. Im Schluss vollzieht sich die für die DDR politisch so wichtige Widerstands-Geschichte, in der die Geschichte als Fortschritt bzw. als Hoffnung gedacht wird. Schon der erzählende Titel Wo die Bussarde sind gibt diese Bewegungsrichtung vor.

Sozialistischer kontra Magischer Realismus? Das Geschichtsmodell von Matusche wurde in seiner Relation zwischen Utopie und Vergangenheit vorgeführt und es wurde gezeigt, wie der geschichtliche Raum durch Grenzsituationen geprägt und durch bewegliche und unbewegliche Figuren strukturiert ist. Der Schwerpunkt des Dramas liegt auf der Darstellung des totalitären Raumes, wobei Sichtweisen der Opfer als auch der Täter zur Geltung kommen. Unter Rekurs auf Hannah Arends politischer Theorie sowie Jaspers Psychologie der Weltanschauungen konnten die psychologischen Einstellungen und Weltanschauungen der Figuren verdeutlicht und das Geschichtsmodell weiter ausdifferenziert werden. Dabei erwies sich das topologische Oppositionspaar innen-außen in Verbindung mit dem sinnstiftenden Marker privat-öffentlich als hilfreich, um die Figuren in diesem Raumodell zu verorten. Als passive und somit dem Geschichtsverlauf ohnmächtig gegenüberstehende Figuren können jene beschrieben werden, die es nach innen und somit in den privat-apolitischen Raum zieht. Im Gegensatz dazu stehen aktive, sich dem totalitären Raum widersetzende Figuren. Diese beweglichen Figuren zieht es nach außen; der gesellschaftliche Raum wird von ihnen als wandelbar angenommen, wodurch Formen der Solidarität und des Widerstands möglich werden. In dieser antagonistischen Raumstruktur stimmt Matusche weitestgehend mit dem Geschichtsbild des sozialistischen Realismus und dessen Forderung nach einer geschichtlichen Darstellung in

396 | Ebd. 397 | Matusche 2009c, 88.

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»seiner revolutionären Entwicklung«398 überein. Der geschichtliche Raum ist somit aus sozialistischer Perspektive geformt und die Heldenfigur des Arbeitersoldaten eindeutig vom liberal-bürgerlichen und faschistischen Weltbild abgegrenzt. Auch wird deutsche Geschichte als »deutsche Misere« gelesen, d.h. als eine auf die Katastrophe zulaufende Geschichte gedeutet. Diese geschichtliche Fatalität findet seine Zuspitzung im totalitären Regime der Nationalsozialisten und der Tötungsmaschinerie Holocaust. Für beide Geschichtsdramen lässt sich resümieren, dass obgleich Matusche politisch auf »Linie« bleibt und sein Geschichtsbild aus einer marxistischen Perspektive heraus entwickelt und in einen Hoffnungsdiskurs versetzt, er stark vom normativen Konzept des sozialistischen Realismus abweicht. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und der sozialistischen Identität lassen sich nicht auf ein vorgeprägtes Erinnerungsmodell reduzieren. Das vermittelte Geschichtsbild gleicht einem Aushandlungsprozess, der zwischen gefühlter und politischer Geschichte schwankt. In das vielstimmige Geschichtsbild spielt das humanistische Menschenbild genauso hinein wie politische Motivationen. Immer wieder geht es um die Frage der Existenz: Wie erlebt der Mensch diese geschichtliche Situation? Welche Handlungsmöglichkeiten hat er? In der aufgezeigten Widersprüchlichkeit, der naiven Symbolik und emotionalen Tiefe übersteigt diese geschichtliche Darstellung das Reflexionsniveau der affirmativen Dramatik und lässt sich nicht in die normative Dramatik der DDR einordnen. Die zum Tragen kommenden Erinnerungsmodelle entsprechen allerdings auch nicht der dialektischen Geschichtsdramatik im Sinne Brechts, da politisches Bewusstsein nicht allein über den Weg der Argumentation und Didaktik erreicht wird, sondern über die Raumästhetik und poetische Strategien. Die Figuren durchleben die Entscheidungsprozesse eher intuitiv, ihre Handlungen können in einem politisch-naiven Raum verortet werden. Insofern lässt sich Matusches Modell schwerlich in die Tradition des dialektisch-lehrhaften Theaters einordnen. Die größte Abweichung liegt in der Ausarbeitung eines subjektiven Realismus: Matusche integriert eine irrationale Erfahrungswelt in die Realität. Durch plötzliche Rückblenden und Tagträume, wie die Gedanken an den alten Regenwettermann, wird die Gegenwart aufgebrochen und der Wahrnehmungsraum erweitert, sodass der ästhetische Raum mal in ein melancholisches, mal in ein hoffendes Bild getaucht wird. In diesem geschichtlichen Raum vervielfältigen sich die Realitätskonzepte und verschiedene Erfahrungsräume stehen nebeneinander. Die sichtbare Realitätsebene wird durch Traumstrukturen, Erinnerungsbilder und Formen der Transzendenz durchbrochen bzw. ergänzt. Chiffren wie der Weiß leuchtende Jasmin transportieren die Idee einer allwissenden Natur bzw. der Allmacht Gottes, die von den Figuren nicht rational verstanden, sondern erfühlt werden kann. In diesem Konzept ist in 398 | Stuber 1998, 72.

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den Sozialistischen ein Magischer Realismus integriert; religiöse Empfindungen tragen zur Handlung bei und wirken stärker als politische Parolen oder rhetorische Überzeugungsmuster. Gerade diese Wirkungsweisen eines überhöhten Realismus sind es, die die Eigenheit von Matusches Ästhetik ausmachen und von Literaturwissenschaftlern hervorgehoben werden. So ordnet Wolf Gerhard Schmidt Matusches Dramatik als ein Modell des poetischen Naturalismus ein, wobei er Formen der Transzendenz und Uneindeutigkeit in ihrer Wirkungsweise herausstellt: »In Matusches Dramen ist es vor allem die Natur, die mit dem menschlichen Bewusstsein kommuniziert und damit Mediatorfunktion besitzt für das Erleben von Transzendenz und Totalität.«399 Dieser naturmagische Zug sondert ihn stark von der sozialistischen Dramatik und deren Gebot eines objektiven Realismus ab. Der subjektive Realismus mit seinen poetisch-spirituellen Naturerfahrungen lässt Matusche viel mehr in Bezug zur Nachkriegsliteratur Westdeutschlands setzen. In den 1950er Jahren wurde dort die Lyrik zur wichtigsten literarischen Gattung; parallel zur Verdrängung des Politischen aus dem öffentlichen Diskurs wurde die Welt verstärkt aus einer spirituellmetaphysischen Sicht wahrgenommen. Die verschlüsselte und schwierig zu deutende Lyrik von Benn prägte das Jahrzehnt; unter dem Schlagwort Magischer Realismus wurden so unterschiedliche Literaten wie Günther Grass, Günther Eich oder Franz Kafka verortet, die gemeinsam hatten, ein Beschreibungsmodell eine gefühlte, nicht sichtbare Welt hervorzubringen.400 Kulturgeschichtlich verweist der Begriff des Magischen Realismus auf die nachexpressionistische Epoche der 1920er, die von einer allgemeinen Ernüchterung bestimmt war. In der Malerei wie in der Literatur wechselte der Ton, wobei ausdrucksstarke kräftige Farben und experimentelle Formen durch nüchterne Töne gemildert wurden und insgesamt sachlicher und reduzierter gearbeitet wurde.401 In diesem Realismuskonzept wird der radikale Subjektivismus des Expressionismus zurückgedrängt und die vorgegebene Realität nicht mehr radikal hinterfragt. Stattdessen werden subjektive Erfahrungen und Formen der Transzendenz in die »Ordnung des Sichtbaren« integriert und somit als Geheimnis der Welt inszeniert.402 Zu den Vertretern des Magischen Realismus zählen Lyriker wie Elisabeth Langgässer oder Wilhelm Lehmann, die in der Literatur-Zeitschrift Die Kolonne (1929-1932) in Erscheinung traten.403 Die von diesen Schriftstellern vertretene naturmagische Schule hatte großen Einfluss auf die westdeutsche Nachkriegsliteratur. 399 | Siehe Schmidt 2008, 543. 400 | Siehe Scheffel 1990, 2-6. 401 | Siehe Scheffel 1990, 11f. 402 | Siehe Scheffel 1990, 111. 403 | Siehe Scheffel 1990, 83.

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Nicht nur hinsichtlich des subjektiven Realismus, auch biografisch lässt sich Matusche zu dieser literarischen Strömung des Magischen Realismus in Beziehung setzen. Anfang der 1930er schloss er sich dem Lyriker-Kreis um René Schwachhofer in Leipzig an, der wie der Kolonne-Kreis christlich gesinnt war. Auch Schwachhofer war überzeugter Marxist, der in der DDR weiterhin als Lyriker und Liedtexter arbeitete. Seine Sprachbehandlung ist dabei ähnlich verknappt und symbolisch wie die von Matusche, zudem fällt in seinen Texten eine pathetische Verknüpfung von religiösen und marxistischen Inhalten auf.404 Bei Matusche wie Schwachhofer wird die Diskrepanz zum Kolonne-Kreis in der politischen Ausrichtung deutlich: Verschwommen konstruiert sich in ihrer Literatur ein Weltbild, in dem humanistische Ideale der Frühromantik bzw. ein christlicher Bezugsraum mit Zielen des politischen Klassenkampfes der Weimarer Republik zusammenfallen. Es wird die Idee eines religiösen Sozialismus deutlich, in dem religiöse und politische Weltanschauungssysteme zusammengedacht werden.405 Beide lassen sich in Bezug zu der Weltanschauung des 1926 gegründeten »Bundes der religiösen Sozialisten Deutschlands« setzen.406 Im Nachhall der Novemberrevolution von 1918 verfolgte dieser Bund die Zusammenführung der marxistischen Theorie mit den abendländischen Weltreligionen, d.h. mit den Botschaften des alten und neuen Testaments. Noch in der DDR bekannte sich Matusche zu dieser Weltanschauung und bezeichnete sich als gläubigen Marxisten.407 Eine Verwirklichung der klassenfreien Gesellschaft konnte aus seiner Sicht erst in der konsequenten Umsetzung christlicher Verhaltensnormen durchgesetzt werden. Das, was an seiner Dramatik innerhalb des kulturellen Systems der DDR als fremd oder anders empfunden wurde, verweist letztendlich auf die Kultur der Weimarer Republik. Es sind vor allem die Strömungen des Nach-Expressionismus und des Naturalismus, die Matusche nachhaltig prägten und sich anhand der Figurenkonzeption, des Realitätskonzeptes und der Sprachbehandlung nachweisen lassen. Wie an dem Künstlerdrama Van Gogh gezeigt, beeinflusste die expressionistische Malerei Matusche hinsichtlich der Ausdruckmöglichkeit eines subjektiven Realismus, der in die Normalität der Welt ein Gefühl des Unbehagens und der Unruhe hineinbringt. Das Lebensgefühl seiner Grenzgänger, Außenseiter und Visionäre entfacht sich an Vorstellungen eines freieren, ganzheitlichen Lebenskonzeptes wie es in Reformbewegungen der 1920er Jahre wie der Wandervogelbewegung gedacht wurde. Diese Vorstellungen sind durch einen tiefen Skeptizismus gegenüber der modernen Massengesellschaft geprägt – eine Gesellschaftskritik, die in Literaturen dieser 404 | Siehe Serke 1998, 176. Zu Schwachhofer siehe Besten 2011, 661-662. 405 | Siehe Heimann 1991, 15. 406 | Siehe Heimann 1993, 21. 407 | Siehe Sodann 2009, 25.

2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens

Jahre zum Ausdruck kommt. Man denke nur an Hesses Roman Der Steppenwolf (1927), der am Beispiel des Protagonisten Harry Haller das Thema der Zivilisationskritik aufgreift, die gesellschaftliche Struktur in Relation zur depressiven Psyche Hallers stellt und so dessen Unbehagen an der bürgerlichen Gesellschaft ausdrückt. Haller wird als innerlich zerrissen und im stetigen Widerstreit mit sich selbst dargestellt. Er leidet darunter, die »wölfischen« bzw. tierischen Seiten seiner Persönlichkeit in der zivilisierten, bürgerlichen Gesellschaft nicht ausleben zu können: »Auf diese Weise anerkannte und bejahte er stets mit der einen Hälfte seines Wesens und Tuns das, was er mit der anderen bekämpfe und verneinte.«408 Wie aus der Biografie Matusches hervorgeht, war der Dramatiker sehr empfänglich für diese Zivilisationskritik, schloss sich in den 1920er Jahren einer Künstlergemeinschaft an und ging mit dem befreundeten Maler Gerhard Bettermann (1910-1991) auf Wanderschaft.409 Das Ausbrechen aus der Gesellschaft und der Auf bau alternativer Lebensformen wurden als Wege gesehen, sich den negativen Einflüssen der Moderne zu entziehen. Das Weltbild des Dramatikers ist durch einen tiefen Skeptizismus gegenüber der technisierten Lebensweise in der modernen Großstadt geprägt. Damit steht er auch in der Tradition von Dramatikern wie Ernst Barlach (1870-1938), der ländliche Szenerien abseits der Großstadt zeigt und dessen Stil durch Figuren des Natürlichen und Einfachen bestimmt ist. Barlach, der sich in der Weimarer Republik zunächst als Bildhauer einen Namen machte und vor allem für seine Plastiken bekannt war, trat 1919 mit dem Stück Der Tote Tag als Dramatiker eines proletarischen Theaters in Erscheinung.410 Diese Affinität zum Einfachen zeugt von einem Unbehagen gegenüber der großbürgerlichen Kultur, welches einerseits typisches Zeichen für die Arbeiterliteratur der 1920er Jahre ist, aber auch mit allgemeinen zivilisationskritischen Tendenzen dieser Zeit in Zusammenhang steht, die später in die Kunst- und Kulturausrichtung des Nationalsozialismus eingegangen sind. Auch Matusches Emphase für jugendliche Bewegtheit und der darin sich begründende Utopie- und Hoffnungsdiskurs entspringt dieser zivilisationskritischen Geisteshaltung und ist mit der, ebenfalls durch den Expressionismus geprägten Philosophie von Ernst Bloch vergleichbar. Wie der Philosoph Bloch vertraut Matusche auf eine im Menschen angelegte Sehnsucht und Streben nach einer gerechteren Gesellschaft. Seine Helden tragen das von Bloch definierte antizipierende Bewusstsein in sich, welches insbesonders in Tagträumen und körperlichen Affekten zum Ausdruck kommt. In der Sensibilität für unbewusste, tieferliegende Motivationen und Gefühlswelten äußert sich auch ein Misstrauen gegenüber dem sprachlichen Ausdrucksvermögen und der Erkenntnisfähigkeit des Menschen. 408 | Hesse zitiert in Michels 1972, 342. 409 | Siehe Serke 1998, 78. 410 | Siehe Jansen 1972, 109.

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In der Sprach- und Figurenbehandlung, wie dem Einsatz von Pausen, der Gedankenverlorenheit oder den plötzlich auftretende Erinnerungsschüben, wird Matusches Interesse an gestörter Kommunikation und psychologischen Prozessen deutlich. Hierin liegt die Gemeinsamkeit mit dem expressionistischen Theater eines Georg Kaisers oder Ernst Tollers, welches sich stark für psychologische Anomalien interessierte.411 Darüber hinaus lässt sich Matusches Sprachkonzeption, wie die langsamen Einstellungen und die Reduktion der Sprache, mit dem Theater des Naturalismus vergleichen, insbesondere mit Schlafs Intimen Theater. Schlaf, der zusammen mit Arno Holz bereits in Familie Selicke (1890) einen konsequenten Naturalismus mitbegründete, arbeitete in seinen Folgedramen wie Meister Oelze (1892) das Konzept zu einem intimen Drama weiter aus und entwickelte, wie Dieter Kafitz herausstellt, »dialogische Mittel, um unbewußte und/oder bewußt verdrängte Gedanken und Gefühle«412 zum Ausdruck zu bringen. Diese Verfeinerung und Psychologisierung des Dialogs, in der Andeutungen und Ahnungen mitschwingen, sind auch für Matusches Dramen charakteristisch. Im Unterschied zum Naturalistischen Theater verwendet Matusche allerdings keine langen Nebentexte und Szenenbeschreibungen, um Mimik, Gestik und Sprachverhalten der Figuren näher zu charakterisieren. Wie bei Schlaf äußert sich auch bei Matusche im Sprachskeptizismus eine Kritik an der Oberflächlichkeit der Großstadtzivilisation, die einer tieferen Gedanken- und Gefühlswelt entgegenläuft. Dieser Skeptizismus lässt sich bei beiden Dramatikern auch am Wohnort ablesen – beide bevorzugten Kleinstädte und ländliche Vororte, an denen sie sich in ihrer Arbeit zurückziehen und in reizarmer Umgebung, den inneren Empfindungen, Naturerlebnissen und Monaden nachgehen konnten.413 Als Grenzgänger zwischen der Kultur der Weimarer Republik und der DDR steht Matusche nicht allein; die erste Riege der Künstler der Auf baugeneration – wie Johannes Becher, Bert Brecht, Anna Seghers oder Friedrich Wolf – waren sowohl künstlerisch als auch politisch stark von der Kultur der Weimarer Epoche aber auch von dem politischen Kampf der Exiljahre geprägt. Viele von ihnen standen in Konflikt mit dem offiziellen Kulturbegriff bzw. dem enggefassten, reaktionären Kunsthorizont der Parteifunktionäre und suchten auf verschiedene Weise den Pathos des Antifaschismus mit diesem Kulturbegriff in Einklang zu bringen. Die nachkommende Generation und damit die Vertreter des neuen sozialistischen Dramas wie Peter Hacks, Heiner Müller oder Heinar Kipphardt gehörten einer viel nüchterneren Generation an, die dem kulturellen Erbe der Weimarer Republik, den Ideen des Expressionismus, der 411 | Siehe Laqueur 1977, 146f. 412 | Kafitz 1992, 66. 413 | Zu Schlaf siehe Kafitz 1992,23./Zu Matusche siehe Serke 1998, 105.

2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens

Ausdruckskunst und dem emphatischen Hoffungsdiskurs eher skeptisch bis befremdet gegenüber standen.

Visuelle Wahrnehmung und Dramenmodell Die in den Dramenanalysen von Van Gogh und Der Regenwettermann gezeigte Bildlichkeit und visuelle Dramaturgie sollen abschließend hinsichtlich des Wahrnehmungsmodus genauer betrachtet und so die Rezeptionsebene näher beleuchtet werden. Denkt man über Bildwirkung in Verbindung mit der Gattung Geschichtsdrama nach, so wird die enge Verflechtung von Sehen und Geschichte nur allzu deutlich. Das Drama gibt dem Publikum ein Bild der Geschichte; es macht es sehend und zeigt Zusammenhänge auf. Dem Zuschauer wird ein Geschichtsraum vorgeführt, ihm werden Angebote unterbreitet, wie sich der Mensch als geschichtliches Wesen in diesem Raum verorten lässt und durch welche Machtkonstellationen dieser Raum bestimmt wird. Diese Wirkungsweise zwischen Geschichte und Sehen wird umso klarer, wenn man sich die allgemeine Verbindung von Erkenntnis und visueller Wahrnehmung vor Augen führt. Schon seit der Antike stehen diese beiden Bereiche in einem wechselseitigen Verhältnis: die Theorie, verstanden als eine Idee von einem Ding, ist wesentlich mit der Wahrnehmungsform des Sehens verknüpft: Die Wahrheit kann geschaut werden. Auch in dem griechischen Wort Theater ist diese enge Verbindung zwischen Sehen und Erkenntnis tradiert, da »théa« als »Schau« übersetzt werden kann und sich das Theater somit als »SchauRaum« ausweist.414 Auch Michel de Certeau hat in seiner Studie Praktiken im Raum über die Verbindung von Sehen und Geschichte reflektiert, kommt aber zu dem Schluss, dass sich der Geschichtsraum nicht nur durch die Praktik des Sehens, sondern auch durch die Raumpraktik des Tuns konstituiert. Am Beispiel einer einfachen Nacherzählung, der Wegbeschreibung, argumentiert er, wie Geschichte durch diese beiden Raumpraktiken wechselseitig hergestellt wird. Dabei beruft er sich auf eine New Yorker Studie, die darüber forschte, wie Einwohner sich gegenseitig Wege beschreiben. Dabei kristallisierten sich zwei Typen heraus: Am häufigsten wurde der Weg in einem aktiven Modus beschrieben, d.h. über Bewegungskoordinaten (erst rechts, dann links wenden). Ergänzt wurde dieser durch den passiven Modus, wobei auf spezielle Orte verwiesen wurde (wenn du die Tankstelle siehst). Von dieser Studie ausgehend, entwickelt de Certeau seine These, dass Geschichte sich im ständigen Wechselverhältnis von Raum und Ort organisiert, wobei über die Raumpraktik des Sehens Orte und über die Raumpraktik des Tuns Raum hervorgebracht wird. 414 | Siehe Kotte 2005, 337.

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Diese beiden Raumpraktiken lassen sich auch als symbolische und anthropologische Sprache verstehen.415 Mit der symbolischen Sprache werden Orte festgelegt, Wissen gespeichert oder eine Orientierung vorgegeben; mit der anthropologischen Sprache hingegen Raum produziert und Veränderungen hervorgerufen.416 Diese Dialekt zwischen anthropologischer und symbolischer Sprache lässt sich auch an den behandelten Dramen Van Gogh und Der Regenwettermann nachvollziehen: Beim Anblick des Sonnenaufgangs erfährt der Künstler eine Eingebung und erkennt den Weg, den er gehen muss. Die Widerstandsfigur Gless braucht das Bild des Regenwettermannes, um zu erkennen, wann man das richtige tut. An den Beispielen wird auch deutlich, dass die symbolische Sprache bzw. die Wahrnehmung des Sehens eine zentrale Rolle einnimmt: Diese Bilder motivieren die Handlung und geben die Richtung der Geschichte vor. Mit dieser Ausrichtung steht Matusches Geschichtsdrama dem naturalistischen Drama nahe, für das Schröder herausgearbeitet hat: »Der literarische Naturalismus ist der erste kollektive Versuch einer Selbstanklage des Bürgertums, eine demonstrative Warnung vor der eigenen Geschichte. Deshalb ist das ›Sehen‹ und die Vermittlung des ›Sehens‹ so zentral […].« 417 Zwar verhandelt Matusche in seinen Dramen nicht mehr »die Selbstanklage des Bürgertums«, sondern setzt sich mit der Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft auseinander, doch ist der Darstellungs-Modus durchaus mit dem naturalistischen Modell vergleichbar. In seinen Dramen ist es eben nicht mehr das Bürgertum, sondern die proletarische Klasse, die »sehend« gemacht werden soll. In den Dramen ist das Geschichtsbewusstsein der Figuren aufgrund ihres Klassenstandpunktes nicht so weit ausgereift. Meist haben sie einen begrenzten Horizont und um mit Pierre Bourdieu zu sprechen, nicht ausreichend kulturelles Kapital, um die geschichtlichen Zusammenhänge zu begreifen. Die Figuren in Matusches Dramen verstehen die geschichtliche Situation zunächst auf einer intuitiven und emotionalen Ebene – erst ahnen sie, bevor sie begreifen. Sie handeln also aufgrund einer spontanen Idee oder aus einer Empörung über ein Unrecht heraus; Ratgeber des Handelns sind mehr das Gewissen bzw. eine gefühlte Gerechtigkeit als eine fixierbare weltanschauliche Position. Dieser Umgang mit Geschichte kann nach der Geschichtstheorie von Hayden White als metaphorisch definiert werden. White unterscheidet verschiedene Formen der Geschichtsdarstellung nach Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie. Jede der Tropen lässt sich auf eine andere Freud’sche Bewusstseinsstufe beziehen. Die metaphorische Wahrnehmung der Welt entspricht der ersten Bewusstseinsstufe, d.h. der Wahrneh415 | Siehe de Certeau 2012, 348. 416 | Siehe de Certeau 2012, 351. 417 | Schröder 1994. 256.

2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens

mung eines Kleinkindes, welches kausale Bezugssysteme eher ahnt als denkt und die Welt als einen ungeordneten Komplex erfährt.418 In diesem Zusammenhang lässt sich anmerken, dass auch Schmidt den kindlich-naiven Erfahrungshorizont von Matusches Figuren herausstellt und diese Darstellungsstrategie damit erklärt, dass der Autor den Menschen ganz allgemein in seiner Gedankenwelt als sehr begrenzt voraussetzt. Ein wirkliches Begreifen bzw. eine Bewusstseinserweiterung könne nicht durch das Indoktrinieren eines weltanschaulichen Systems erlangt werden, sondern dadurch, dass man diese Gedankenwelt aufgreift und spielerisch in die Geschichte einbringt.419 Deswegen ist die Naivität von Matusches Dramatik nur vordergründig und vielmehr als Strategie zu verstehen, sein Weltbild möglichst effektiv zu vermitteln. Der geschichtliche Mensch wird dabei einerseits als Homo Oeconomicus, in seiner wirtschaftlich-gesellschaftlichen Situation, aber auch als Homo ludens, von einer sinnlich-körperlichen Seite aus wahrgenommen. In der Tradition von Schillers ästhetischer Erziehung des Menschen wird eine Ausbildung des Empfindungsvermögens angestrebt, mit dem der proletarische Mensch mutig gemacht werden soll, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und ein Bewusstsein für seine geschichtliche Situation zu entwickeln.420 Die Wirkung von Matusches Bild-Räumen und die Art und Weise wie sich Geschichte in dieser bildhaften Sprache einprägt, lässt sich zu den Ergebnissen von Kreuders Studie in Bezug setzen. Dieser unterstreicht im Fazit seiner Studie, dass die Gedächtnisräume in Grübers Theater sich einer eindeutigen Einordnung entziehen bzw. sich einer genauen Bedeutungszuschreibung verwehren. Gerade diese Uneindeutigkeit des Bildes sei für die nachhaltige Einprägekraft von Grübers Theater charakteristisch. Diese »Nachbrennkraft« von Grübers Theater vergleicht Kreuder mit den Imagines agentes, d.h. mit jenen Gedächtnis-Bildern, die von Praktikern der Ars memorativa genutzt wurden: »Die Gedächtnishieroglyphen der römischen Mnemotechnik muten ähnlich wie Grübers (szenische) Bilder bzw. Räume oft surreal an.« 421 Doch setzt Kreuder die Bilder der antiken Gedächtniskunst nicht absolut gleich mit denen von Grübers-Aufführungen. Unter Rekurs auf Aleida Assmann arbeitet er heraus, dass Grübers Bilder anders als die antiken nicht an einen bestimmten Gehalt geknüpft sind, sondern ins Unendliche interpretierbar und lesbar sind.422 Gerade in der Assonanz und in dem Störenden, welche dem Wunsch nach Kohärenz zuwiderlaufen, bilde sich das besonders Wirksame von Grübers Theaterästhetik heraus. Auch die in Matusches Dra418 | Siehe White 1991, 16f. 419 | Siehe Schmidt 2009, 541. 420 | Siehe Fischer-Lichte 2001, 31. 421 | Siehe Kreuder 2002, 145. 422 | Siehe Kreuder 2002, 146.

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matik gestalteten Erinnerungsbilder lassen sich als eindringlich, nachhaltig und uneindeutig beschreiben. Die Dramen bringen eine ganz eigene Bildwelt hervor, die die Atmosphäre der Schauplätze und die Gefühle der Figuren in den Vordergrund rückt. Durch die visuelle Dramaturgie entsteht ein Gedächtnisraum, der es dem Leser leicht macht, sich die geschichtlichen Spielorte plastisch vorzustellen und einzuprägen. Der geschichtliche Raum lässt sich als topografische Karte imaginieren und in Verbindung zu mentalen Bezugssystemen stellen, sodass sich z.B. das Böse an der Sandgrube, das Gute am jüdischen Friedhof ansiedelt. Während der Lektüre entfaltet sich ein kulturelles Modell und das Gefüge der Welt lässt sich auf räumlich-bildhafte Weise lesen. Da dieser Geschichtsraum als Karte bzw. nach de Certeau als »Schaubild« gelesen werden kann, wird die Beweglichkeit der Figuren zum geschichtlichen Ereignis. Der Leser/Rezipient kann die Bedeutung der Bewegungen und Grenzüberschreitungen nachvollziehen. Die Plastizität der Dramen wird vor allem durch Matusches poetische Sprache gefördert. Schon die Titel der einzelne Dramen bezeugen die dichterische Einprägekraft – sei es das Oxymoron Nacktes Gras, welches der Hilflosigkeit der Menschen während des Bombenangriffs auf Dresden Ausdruck verleiht oder der topografische Titel An beiden Ufern, wo bereits eine Kartierung vorgegeben wird. Matusches Geschichtsbilder bleiben lange im Gedächtnis haften und entfalten eine nachhaltige Suggestivkraft. Diese Fähigkeit des Bildes, ein eigenes Gedächtnis auszubilden bzw. Geschichte im Gedächtnis »fest zu verankern«, ist ähnlich traditionsreich wie die Verbindung von Sehen und Erkenntnis. Seit der antiken Mnemotechnik wird das Wissen über die Gedächtniskraft des Bildes tradiert und ist besonders im Ad Herennium herausgestellt: Wir sollten also solche Bilder aufstellen, die möglichst lange im Gedächtnis haften. Dies wird geschehen, wenn wir möglichst auffällige Gleichnisse wählen; wenn wir Bilder herstellen, die nicht nichtssagend und undeutlich, sondern aktiv sind (imagines agentes); wenn wir ihnen außerordentliche Schönheit oder einzigartige Häßlichkeit [sic!] beilegen. 423

Wie Grübers Gedächtnistheater ist auch Matusches Bildwelt außerordentlich dazu geeignet, solche Gedächtnisbilder zu transportieren und tiefere Ebenen des Bewusstseins anzusprechen. Der Autor greift bei der Bildkonzeption auf ein sehr unterschiedliches Repertoire zurück. Naturmagische Bilder, die die Natur »erklingen« lassen und Transzendenz vermitteln, wechseln sich mit Bildern von Arbeitermilieus und Industrielandschaften ab. Es wird keine schöne, harmonische Welt, sondern eine zutiefst in sich gebrochene Welt vermittelt. Die Hoffnungsmomente sind an die Randfiguren der Gesellschaft geheftet, 423 | Yates 1990, 18.

2. Grenzgänger Matusche: Modell des Sehens

wobei Vertreter des Arbeitermilieus mit humanistischen und christlichen Semantiken besetzt sind (das ruhige Arbeitergesicht, die mütterliche Magd) und so als Helfer der Gesellschaft präsentiert werden. Diese Ikonografie dient einerseits dazu, die heilsgeschichtliche Botschaft der kommunistischen Überzeugung zu bestärken, andererseits den Horizont um eine transzendente Ebene zu erweitern. Wie in Van Gogh der biblische Sämann, der den Glauben unters Volk bringen will, sind auch in den Geschichtsdarstellungen, biblische und sozialistische Inhalte miteinander verknüpft. Matusche gestaltet einen proletarischen Raum im Sinne Blochs, in dem das so dringend benötigte Gefühl des Hoffens erzeugt wird, denn »[d]er Affekt des Hoffens geht aus sich heraus und macht die Menschen weit«424 Sehnsüchte und Hoffnungen sind an die Randfiguren gekoppelt, sie weisen auf einen Raum, der frei von den Entfremdungsmechanismen der bürgerlichen Gesellschaft ist. Matusche tendiert dazu, dieses »Lumpenproletariat«, Figuren wie Schausteller, Wanderer und andere Außenseiterfiguren zu romantisieren und sie als Gegenbilder zur Normalität zu inszenieren. Diese Figuren funktionieren als Heterotopien, an ihnen sammeln sich jene Wünsche, die im gesellschaftlichen Diskurs unterdrückt sind und sie eröffnen einen Gegenraum zu der bestehenden Ordnung bzw. Gesellschaft. Dieser Gegenraum gestaltet sich kindlich-naiv, poetisch und zukunftsträchtig. Auch vermitteln diese Räume die Erfahrungen der Entgrenzung und der Transdifferenz, an ihnen werden Erfahrungen der Unsicherheit und Irritation nachempfunden. Durch diese Raumkonzeption wird Geschichte auf sehr ambivalente Weise dargestellt; das Hoffen ist bei Matusche immer sehr nah am Schrecken über die Misere. Er legt in seinen Dramen die Wunden der Geschichte offen und lässt die Figuren angesichts der Schrecken verstummen und allein die Bilder sprechen. Die Ambivalenz seiner Geschichtsräume spiegelt sich in der Mehrdeutigkeit und Offenheit der Bilder wider. So geht die Topik des Regenwettermannes weit über den zeitgeschichtlichen Kontext hinaus und verweist auf existentielle Erfahrungen. Seine Bilder vermögen es, den engen Horizont des DDR-Theaters zu übersteigen und lassen sich auch auf die gesamtdeutsche Geschichte beziehen. Auch fordert die Ästhetik eine verlangsamte Rezeption ein, wie bei der Lektüre von Gedichten, ist der Rezipient dazu angehalten, dem Bild nachzusinnen. Diese Ästhetik bedarf der Kontemplation, sie bewegt sich an der Grenze von Sprache und Bild. In diesem Sinne können Matusches visuelle Gedächtnisräume mit dem Erinnerungstheater von Klaus Michael Grüber oder Heiner Müller verglichen werden. Auch hier entsteht ein Raum des Nachsinnens, in dem vorgegebene bzw. tradierte Narrative hinterfragt und eine offene Assoziationsstruktur gefördert wird, die Raum für eigene Erfahrungen lässt.425 424 | Bloch 1990, 1. Zum Theaterbegriff siehe Bloch 1990, 497. 425 | Siehe Kreuder 2002, 146.

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3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

Auch auf dem Einband von Lothar Trolles Werkausgabe ist ein biblisches Motiv zitiert. Unter dem Titel Nach der Sintflut ist eine Grafik abgebildet, die den Eindruck einer Zerstörung hinterlässt und wie eine topographische Karte wirkt, die gerade überschwemmt wurde. Das abgebildete Kartensystem ist von hellen Wasser- und Farbflecken überzogen; auf der Karte sind einzelne Punkte mit Fähnchen markiert. Diese Punkte sind durch Stichpunkte ausgewiesen, die aufgrund der unordentlichen Verschriftlichung kaum zu entziffern sind. Die Karte scheint demnach die ursprüngliche Funktion eines Orientierungsmodells verloren zu haben und lässt sich ganz unmissverständlich als Sinnbild auf einen Zustand des danach verstehen: die Karte verweist auf einen Zustand nach den Ordnungen, nach den Systemen, nach der Auflösung von Grenzen. Statt eines Überblicks stiftet diese Kartierung Verwirrung. Mit schweifendem Blick sucht der Betrachter in dieser zentrumslosen Grafik nach Anhaltspunkten. Deutlich fordert diese Karte kognitive Anstrengung im Rezeptionsprozess heraus und der Betrachter ist dazu angehalten, selbst Kohärenz herzustellen und sich in dieser schwer zu entziffernden Abbildung zu orientieren. Diese Rezeptionsweise lässt sich auf Trolles Textmodell übertragen, welches während der ersten Lektüre eine ähnliche Verwirrung und Überforderung im Leser auslöst. Seine Theatertexte, die seit den 1990er Jahren vorwiegend als Textblöcke gestaltet sind, sind weder durch Absätze noch Teilüberschriften gegliedert; die langen Sätze sind meist in-sich-verschachtelt und durch ein ganzes System unterschiedlicher Klammern und Schriftgrafiken strukturiert. Das diffuse Schriftbild stellt eine Herausforderung an den Leser dar, da gewohnte Lesekonventionen etwa durch veränderte Groß- und Kleinschreibung und Orthografie irritiert werden. Erst durch eine intensive, genaue Lektüre und Aneignung der Struktur des grafischen Systems können Erzählperspektiven, Figurenreden sowie Zeit- und Raum-Ebenen erfasst und voneinander abgegrenzt werden. Die Sinnhaftigkeit dieser Texte erschließt sich dem Rezipienten erst in der vertiefenden Auseinandersetzung mit dem Textmaterial; erst muss die Struktur des Textes erarbeitet werden, um sich ein Bild vom eigentlichen Bedeutungshorizont machen zu können. Dieses Vorgehen entspricht

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den Analysekriterien, die Gerda Poschmann für den nicht mehr dramatischen Theatertext aufgestellt hat. Da der postdramatische Text von der dramatischen Theaterkonvention abweicht und in der Regel kein Figurenverzeichnis bzw. Szeneneinteilung vorgegeben ist, obliegt es dem Leser/Dramaturgen Sprecher zu definieren, den Text nach Sprechanteilen und Regietexten zu unterteilen und so die Rhythmik des Textes in eine adäquate Bühnensprache zu bringen. Als wichtiges Unterscheidungsinstrument definiert Poschmann die mittelbare und die unmittelbare Texttheatralität. Während die unmittelbare sich auf die externe Kommunikationsebene bezieht und den Text zunächst in Sprechund Regieanteile aufteilt, dient die mittelbare Texttheatralität dazu, die TextDialogizität auf der internen Kommunikationsebene näher zu bezeichnen und die Bezüge zwischen den verschiedenen Intertexten herauszuarbeiten.1 Während Matusches Dramatik der Idee unterliegt, dass die Wirklichkeit wie eine Karte aufgeschlüsselt und der Zuschauer sehend gemacht werden kann, stellt Trolles Textmodell diese Idee von Geschlossenheit und Ausdeutung radikal in Frage. Hinter der sichtbaren Welt ist keine Metaphysik, keine Ordnung oder sinnstiftendes System zu finden. Seine Grenzüberschreitungen führen nicht zu einer Ganzheit, sondern sind konstitutiver Bestandteil der Weltsicht. Die Welt wird in einem provisorischen Zustand gedacht und diese Unsicherheit ist in dem Modell künstlerisch umgesetzt. Es konditioniert den Leser dahingehend, sich mit dem Material Schrift und der Oberflächenstruktur aktiv auseinanderzusetzen. Identität im Sinne einer Originalität und einer Abgeschlossenheit des Werkes wird dabei durch Unfertigkeit, Improvisation und Ausstellung von Intertextualität ersetzt. Auch geht die Lektüre von Trolles Texten mit einer Grenzerfahrung einher, da die Autorschaft unbestimmt bleibt bzw. es schwierig ist, zwischen Zitat, Anspielung und Autor-Stimme zu unterscheiden. Durch diese Ästhetik werden konventionelle Wahrnehmungsweisen aufgebrochen und die aktive Teilnahme an der Herstellung von Sinn herausgefordert. Im Unterschied zu Matusches Modell ist weniger die raumbildende Handlung des Sehens, sondern die des Gehens evident. Diese Praktik bildet nach Michel de Certeau die aktive Variante der Raumwahrnehmung bzw. Raumgestaltung. Während die Wahrnehmungsform des Sehens mit einer passiven, kontemplativen Haltung verbunden ist, in der die Umgebung als statische Karte bzw. als Ort wahrgenommen wird, mobilisiert die Raumpraktik des Gehens diese Orte und ist gleichzusetzen mit kognitiver Anstrengung und Beweglichkeit. Gehend nehmen wir unsere Umgebung wahr, gehend werden Orte miteinander verknüpft und Zusammenhänge erschlossen. De Certeau bringt das Verhältnis von Ort und Raum auf folgende Formel: »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird z.B. die Straße, die der 1 | Siehe Poschmann 1997, 321f.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in Raum verwandelt.«2 Um die grundlegenden Unterschiede zwischen Ort und Raum deutlich zu machen, skizziert de Certeau zwei Verfahren, mit denen wir uns einen erzählten Raum vorstellen bzw. diesen sichtbar machen. Auf der einen Seite das Modell der »Karte« als visueller Zugang zur Welt, auf der anderen Seite das Modell der »Wegstrecke« als prozesshafter Zugang zur Welt.3 Selbstverständlich sind diese beiden Zugänge eng miteinander verbunden, entsprechen Sie doch den menschlichen Sinnen – dem Sehen und dem Hören – doch wie de Certeau anhand verschiedener narrativer Formen herausstellt, kann eine der Wahrnehmungsweisen dominieren.4 Diese Zusammenhänge konnten anhand der visuellen Dramaturgie für Matusches Modell gezeigt werden, in der die raumbildende Praktik des Sehensdominiert und die hohe Bildlichkeit zu einem starren Zeitkonzept und zur spezifischen Langsamkeit dieser Dramen führen. Trolles Texte hingegen zeichnen sich durch einen schnellen Wechsel von Orten, Zeiten und Kontexten aus. Aus diesem Grund kann die Raumpraktik des Gehens, die nach de Certeau auch das Fehlgehen oder das Vorbeigehen einschließt, als Schlüsselmotiv und Beschreibungskriterium für Trolles Textästhetik herangezogen werden. Mit diesem Modell des Gehens ist einerseits die »Beweglichkeit« der Texte erfasst, welche sich vor allem im spielerischen Umgang mit dem SprachMaterial und der hohen Intertextualität äußert, zum anderen die Rezeptionsweise, die mit einer kognitiven Beweglichkeit einhergeht bzw. diese vom Leser einfordert. Trolles Dramatik basiert größtenteils auf einem Weiterdenken und Ausweiten eines vorgegebenen fiktionalen Raumes; hierbei entsteht eine produktive Dynamik, die den Rezipienten in die Lage des Gehenden versetzt und ihm Handlungsanweisungen überträgt. In der Bewegung des Gehens bzw. während der Lektüre werden die im Text angelegten Denk- und Imaginationsräume freilegt, welche nach de Certeau als Nicht-Orte, d.h. als nicht-physikalische, erträumte, imaginierte oder erinnerte Orte definiert werden können.5 Speziell auf solche Orte, die während des Lesens oder während einer performativen Handlung hervorgebracht werden, konzentriert sich die Studie Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung (2010) von Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter und Friedemann Kreuder. Auf bauend auf Certeaus Konzept des Nicht-Ortes entwickeln sie den Begriff des Unorts, der ebenfalls einen imaginierten, flüchtigen, nicht-physikalischen Ort darstellt. Anders als de Certeaus Nicht-Ort, dessen Bedeutungshorizont oder Narrativ an einen bestimmten Ort gebunden bleibt, definiert sich der Unort durch seine Eigenart, »unabhängig 2 | De Certeau 2012, 345. 3 | De Certeau 2012, 347. 4 | Siehe de Certeau 2012, 347. 5 | Siehe de Certeau 1988, 197.

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von den physikalischen Gegebenheiten«6 zu sein und mit Phänomenen der medialen Transgression einherzugehen. Anhand weiterer Raumkonzepte der Kulturtheorie (Foucaults Heterotopie und Augés Nicht-Orte) stellen die Herausgeber den wirklichkeitskonstituierenden Charakter bzw. lebensweltlichen Bezug des Unorts heraus. So können mit diesem Konzept des Unorts oder vielmehr mit dem Vorgang der »Verunortung« Phänomene des Digitalen und des Globalen Zeitalters beschrieben werden, etwa die Erfahrung gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten – dem digitalen und dem realem Ort – zu sein.7 In dem vorangestellten Sintflut-Motiv äußert sich nicht nur eine rezeptionsästhetische, sondern auch eine thematische Ausrichtung von Trolles Dramatik. Dieser konzipiert lebensweltliche Räume, die in Unordnung geraten sind und chaotische, eskapistische und träumerische Formen annehmen. Dabei variiert er das Sintflut-Motiv und entwirft Szenarien einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Dies wird deutlich in Trolles Stück Hermes in der Stadt, das 1992 von Frank Castorf am Deutschen Theater inszeniert wurde und mit dem Trolle als Theaterautor erstmals eine größere Öffentlichkeit erlangte.8 Das Stück zeigt eine Großstadt im Moment des Verfalls, die von Dämonen, räuberischen Kindern und verbrecherischen Göttern heimgesucht wird – eine Stadt im Untergang, die Projektionsfläche für Ängste, Triebe und Grauen ist. In einem Vergleich zwischen Brechts Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und Trolles Hermes in der Stadt zeigt Nobert Otto Eke, wie in beiden Stücken die Stadt als Projektionsfläche menschlicher Begierden inszeniert wird. Während Brecht noch über das Lebensgefühl der Großstadt der 1920er Jahre sinniert und Versprechungen dieser Glitzerwelt entlarvt, ist Trolle schon ein paar Schritte weiter. Zwar dient in beiden Stücken die Großstadt als Projektionsfläche des kapitalistischen Glücksanspruchs, in der Begierden und Sehnsüchte erfüllt werden können, doch während bei Brecht die Figur des Paul Ackermann vergeblich nach einer Glücksformel sucht, kann der Gott Hermes seinen Trieb des Raubens und Stehlens in Trolles Stadt lustvoll befriedigen. Er inszeniert die wiedervereinigte Großstadt Berlin als Stadt im freien Fall, die genügend Möglichkeiten der gewaltvollen, räuberischen Tätigkeit bietet. Da Hermes gleichzeitig der Schutzgott der Literatur und der Künste ist, lässt Trolle ihn seine Verbrechen mit Versen von Klopstock und Schiller besingen. Dieser Untergang in ästhetischer Schönheit bietet eine ganze andere Sicht auf das Motiv des Weltuntergangs und den Zustand der Moderne als in Brechts kapitalismuskritischem Stück. Bei Trolle ist es nicht nur die kapitalistische Stadt, sondern auch das fehlgelaufene »Glücksexperiment« DDR, welches in seinem Verfall porträtiert wird. Eke betont in seinen Ausführungen wie sehr 6 | Däumer, Gerok-Reiter, Kreuder 2010, 13. 7 | Siehe Däumer, Gerok-Reiter und Kreuder 2010, 11. 8 | Siehe Trolle 2007, 598.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

Trolles Zugang zur Welt durch die Erfahrung des realen Sozialismus in der DDR geschult ist: »Die Erfahrung des Sozialismus als praktischem Anschauungsunterricht einer anderen Zeit hat auch den Klassiker Brecht zum Auf baumaterial werden lassen, zum Humus für eine neue dramatische Produktion.«9 In seinen Dramen wendet Trolle einerseits Brechts Prinzipien des epischen Theaters an und sucht durch verschiedene Methoden einen fremden Blick auf die gekannte Welt zu eröffnen, gleichzeitig distanziert er sich von jeglichen ideologischen Implikationen und nimmt von der politischen Position Brechts Abstand. Er wendet das Prinzip der Verfremdung als Methode der »Abstoßung und Anverwandlung«10 auf seine Erfahrungen des Sozialismus konsequent an und lässt sich gerade dadurch als postsozialistischer Autor klassifizieren. Diese Zusammenhänge können exemplarisch an dem Künstlerstück klassenkampf (svendborg 1938/39) aufzeigt werden, in welchem Trolle Brecht als historisches Material verarbeitet.

B recht-D iskurse und S ubjek tbegriff im K ünstlerstück klassenk ampf (svendborg 1938/39) Im Jahr 1998 näherte sich der Geburtstag von Bertolt Brecht dem 100. Jubiläum. Ein bedeutendes Datum, zu dessen Gedenken Trolle im Auftrag des Berliner Ensembles das Stück klassenkampf (svendborg 1938/39) verfasste. Aus Brechts ruhelosem Leben greift er eine kurze Zeitspanne, die schicksalsbestimmenden Jahre um 1938/39 heraus und verweist damit auf dessen (auswegloses) politisches Engagement während des Exils. Das Stück verweist auf den bedrohlichen Zeitraum kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, in dem die faschistischen Regime in Europa eine starke Allianz bildeten und HitlerDeutschland auf der Höhe seiner Macht stand. Unverhohlen stellten die Nationalsozialisten unter der Parole »Heim ins Reich« ihre Besitzansprüche an Österreich und Tschechien und schreckten mit ihrer aggressiven Auslandspolitik die verbleibenden demokratischen Länder auf: Der kommende Krieg deutete sich immer offensichtlicher an. Von seinem dänischen Exil aus analysierte Brecht die politische Entwicklung und kommentierte hämisch in seinem Arbeitsjournal die naive Unterschätzung »des Anstreichers«. Schon frühzeitig sah er einen kriegerischen Raubzug als unvermeidbar an.11 Als sich im September 1939 Brechts Vorahnung bewahrheitete, waren die Vorbereitungen

9 | Eke 2007, 88. 10 | Ebd. 11 | Siehe Brecht 1994, 319.

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für die weitere Flucht schon getroffen; er verließ das dänische Exil und floh mit seiner Familie weiter nach Schweden.12 Nicht nur der Zeitraum, vor allem dieser seltsam vom Zeitgeschehen abgeschnittene Ort, an dem Brecht lebte und arbeitete, ist wesentlicher Gegenstand des Theatertextes. So paradox es klingt, gehörte die dort verbrachte Zeit, so Trolle im Interview, zu Brechts glücklichsten und produktivsten Jahren.13 Um sich ein Bild von diesem ruhigen, idyllischen Ort zu machen und sich in diesen widersprüchlichen Lebensabschnitt einzudenken, fährt Trolle selbst nach Svendborg, besser gesagt, zum nahe gelegenen Skvosboskant, das direkt an der Ostsee auf der Insel Fünen liegt. Dort besichtigt er das berühmte Fachwerkhaus mit dem Strohdach und erkundet die Umgebung, in der Brecht mit seiner Familie von 1933 bis 1939 lebte. Die Vorstellung, dass das Gedächtnis an einen bestimmten Ort gebunden ist, geht weit in die Antike zurück. Aleida Assmann hat am Beispiel des Bildungsreisenden Pausanias gezeigt, wie dieser das alte, zerstörte Theben anhand der Ruinen-Landschaft rekonstruierte und so für die nachfolgenden Generationen ein kulturelles Gedächtnis an diesen Ort knüpfte.14 Die Konstruktion eines solchen Gedächtnisses ist dialektisch angelegt und entsteht zum einen aus der Aura, die dem Ort-an-sich innewohnt, zum anderen aus der Zuschreibung und semantischen Aufladung des Ortes durch den Betrachter. Potentiell kann jeder Ort zum Erinnerungsort werden.15 Dieser Versuch über den Exilort einen Zugang zum historischen Zeitraum und der Lebenswelt Brechts zu finden, ist in dem Theatertext reflektiert. Trolle bringt sich selbst als Besucher des Ortes in das Stück mit ein, und erzählt, wie er einen Nachmittag in der Nähe des Hauses verbringt. Von seinem Beobachterposten aus fingiert er einen »Chor der mindesten fünf Frauen«, der im Garten des Brecht-Hauses auftritt und zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermittelt. Doch sind die Erinnerungen dieses Frauenchores in sich widersprüchlich und ihre Erinnerungskraft stark begrenzt. In der Beschreibung des Chores reflektiert Trolle seinen Schreibprozess und resümiert, dass er an dem Ort nur das vorfinden kann, was er selbst an latent-abruf barem Material gespeichert hat. Immer wieder gibt der Autor seiner Enttäuschung darüber Ausdruck, wie wenig noch wahrzunehmen ist und brüskiert sich über die Leere und die Stille des Ortes. Der Erinnerungsort verweist auch auf den Abbruch der Gedächtnistradition: Nur das schriftlich Überlieferte kann während der Begehung des Ortes erinnert und figuriert werden. Neben der Reflexion des eigenen Erinnerungsprozesses nimmt die assoziative Einbindung zeitgeschichtlicher Umstände viel Raum im Theatertext ein. 12 | Siehe Engberg 1974, 222. 13 | Siehe Diestelhorst/Trolle 2012, 2. 14 | Assmann 2010, 313. 15 | Siehe Assmann 2010, 298-339.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

Bereits mit dem Titel klassenkampf wird die Perspektive auf Brechts politisches Engagement, auf seine Wendung zum Kommunismus und damit auf die wohl umstrittenste Seite Brechts gelenkt. Das mit dem Titel verbundene semantische Feld der marxistischen Klassentheorie scheint aus heutiger Sicht so weit weg wie die faschistische Epoche selbst. Der Begriff geht auf Karl Marx zurück und entstammt dem politischen Diskurs des 19. Jahrhunderts. Lange diente die Parole des Klassenkampfes als Schlagwort in den Machtkämpfen der sozialistischen Arbeiterbewegung. Für das Theaterkonzept und das Schreiben Brechts ist diese Parole ein Schlüsselbegriff, ohne die sein politisches Theater, seine Lehrstücke und Agitationsstücke nicht zu fassen wären. Dieser Begriff allein lässt den aufmerksamen Leser an den zeitgeschichtlichen Horizont der Weimarer Republik denken: An Brecht, der sich Ende der 1920er Jahre angesichts der Weltwirtschaftskrise und den blutigen Arbeiterkämpfen in Berlin radikalisierte, sich der kommunistischen Lehre zuwendete und für eine internationale Einheitsfront dichtete. In dieser Denkwelt wird die Handlungsweise des faschistischen Regimes mit den Regeln des kapitalistischen Wirtschaftssystems erklärt. Heute mutet die vereinfachte und auf eine Utopie ausgelegte Denkweise überholt bzw. unzeitgemäß an. Die Faszination, die von dieser Idee ausging, hat sich während der sowjetischen Epoche abgenutzt; der Begriff ging als Worthülse in das Propagandavokabular der SED ein. In diesem Zugang zu Brecht ist letztlich auch Trolles eigene Herkunft und DDR-Sozialisation einzubeziehen, ist er doch mit dieser Ideologie des Klassenkampfes aufgewachsen. Dieser Hintergrund sollte für das Verständnis des Stücks mitgedacht werden. Durch diesen ungewöhnlichen Blickwinkel und seine Herangehensweise schuf Trolle, so die Rezensentin Ingrid Seidenfaden, ein »skeptisches Anti-Monument«16, in dem Brecht nicht als überzeitlicher Klassiker der deutschen Literatur auf einen imaginären Sockel gesetzt, sondern aus der Perspektive seiner MitarbeiterInnen betrachtet und so nur indirekt vorkommt. Damit greift Trolle Strategien des Gegen-Monuments auf, wie sie James Young in seiner Studie zu Formen des Erinnerns beschrieben hat. Diese alternative Form des Gedenkens zeichnet sich dadurch aus, statt eine Illusion von Beständigkeit aufzubauen, die Flüchtigkeit von Erinnerung und damit die Unbeständigkeit von Identität zu thematisieren. Im Grunde verweist diese Art des Gedenkens auf die Brüchigkeit von Identität, welche nur durch beständiges, aktives Erinnern erzeugt und bestätigt werden kann: Die Negierung der Form aber bedingt nicht die Negierung der Erinnerung […]. In Frage gestellt wird die Illusion von einer Beständigkeit der Erinnerung, die dem Monument traditionsgemäß untersteht. Das Gegen-Monument widerspricht dieser Sicherheit, die Monumente der Geschichte verleihen, indem es auf seine flüchtige Existenz ver16 | Seidenfaden für die AZ 1998.

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Diese »negierte« Form der Erinnerung steht im krassen Gegensatz zu Matusches Künstlerdrama Van Gogh, das sich über die Bildästhetik und autobiografischem Material dem Maler annähert und zu einem einheitlichen, identitätsstiftenden Bild des Künstlers verdichtet. Dieser Vorstellung der Einheitlichkeit des Individuums widerspricht Trolles Text, stellt sie als Täuschung dar und zieht das Ideal mit Hilfe des Frauenchores ins Lächerliche. Ähnlich dem Chortheater von Einar Schleef oder Christoph Marthaler setzt Trolle seit den 1990er Jahren in seinen Texten das Mittel des chorischen Sprechens ein, wodurch sich nach Lehmann »ein kollektiver Körper manifestiert«18 und eine ganz spezifische Klangästhetik entsteht. Mit der Entkopplung von Person und Stimme wird die Betonung auf die Materialität bzw. auf den eigentümlichen Klang der Stimme sowie Sprechweise gelegt.19 Durch den strukturellen Einsatz des Chores ist nicht die individuelle Positionierung der Künstlerpersönlichkeit, sondern das Verhältnis zwischen Kollektiv und Individuum sowie Reflexionen zu Brecht wesentlicher Gegenstand des Theatertextes. In der Analyse soll dieser vielschichtige, ausufernde und inkohärente Erinnerungstext näher beleuchtet und gezeigt werden, wie Erinnerungsräume an Brecht evoziert und gleichzeitig die Form des Erinnerns reflektiert wird.

Form: Erzähltes Theater? Ein Lesedrama? Der Theatertext ist, wie bei Trolle seit den 1990er Jahren üblich, als Sprachblock konzipiert, d.h. es gibt keine Absätze, keine Einteilung in Bilder, Akte, Kapitel oder ähnliches. Auch gibt es kein Figurenverzeichnis oder eine vorhergehende Bühnenbildbeschreibung. Der Leser wird in diesen Erinnerungsstrom ohne eine vorgegebene Strukturierung hineingeworfen. Ort und Zeit sind allein durch den Zusatz im Titel (svendborg 1938/39) vorgegeben. Eine detaillierte Beschreibung von Ort und Zeit der Handlung ergibt sich aus der Lektüre. Sprech- und Regietext sind so miteinander verwoben, dass der Eindruck eines Erzähltextes entsteht. Im Gegensatz zur traditionellen Dramenform, in der der fiktionale Text vom Regietext unterschieden wird und sich so eine geschlossene Illusion auf bauen kann, wird diese Illusion bei Trolle systematisch und durchgehend gebrochen. Der Text liest sich wie ein kommentiertes Regiebuch, d.h. es stellt eine aufgeschriebene Aufführung dar, die wiederum mit Kommentaren des Autors versehen wurde. Trolle hat mit dieser Form Brechts 17 | Young 1997, 83. 18 | Lehmann 2005, 235. 19 | Siehe ebd.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

Episches Theater so weiter entwickelt, dass das Theaterstück selbst wie eine Erzählung wirkt. Diese Ästhetik wird im folgenden Ausschnitt deutlich. In der Szene treten unter der Bezeichnung ›die drei Schönen‹ die drei Frauen Helene Weigel, Ruth Berlau und Margarete Steffin als Chor auf. Trolle führt sie in einer Art Wettstreit zusammen, in dem jede der Frauen um die schönste Erinnerung an Brecht ringt. [Sie] geraten schnell in einen freundlichen Wettstreit, denn jede von ihnen möchte zu gern dieselbe Geschichte erzählen: Einmal stand ich mit ihm zusammen, und wir kuckten nach oben zu den Sternen. ›Siehst du dort die fünf Sterne, die ein W bilden? › Er zeigte auf das Sternenbild der Kassiopeia. ›Merk dir, dort, wo wir immer wir auch sind, werden sich unsere Augen treffen‹ bzw. […] Da er Elastik nicht leiden konnte, trug er immer graue Socken, die dann rutschten und kleine Wülste bildeten. […] Und nun fangen die drei Schönen tatsächlich an, Verse/Verszeilen aus den Svendborger Gedichten/ Steffinschen Sammlung (Ich bin aufgewachsen als Sohn/Wohlhabender Leute…//An einem frühen Morgen, lange vor Hahnenschrei/Wurde ich geweckt…//Als er im Traum die Hütte betrat der Verbannten/Dichter, die …//usw.) zu murmeln/zu flüstern/sich die Anfangszeilen ins Gedächtnis zu rufen und dann im Duett/Trio zu zitieren, doch da fühlt sich der Chor überflüssig/(so schnell wollen die Schönen sich doch nicht aus dem Garten/(von der Bühne) vertreiben lassen: Glotzt nicht so romantisch! bzw. Was ihr da kocht ist keine Wassersuppe sondern Suppenwasser! bzw. Wir sind doch hier keine Lackfabrik!20

Über die Typografie des Textes lassen sich die direkte Rede ›der drei Schönen‹ (kursive Schrift), und die vermittelnde Rede eines personalen Erzählers (gerade Schrift) unterscheiden. Der Regietext ist in Klammern gesetzt und so vom Sprechtext unterschieden. Diese drei Textteile lassen sich nach der Erzähltheorie von Genette über drei Erzählebenen voneinander abgrenzen. Die direkte Rede bildet demnach die metadiegetische Ebene, d.h. die Erzählung in der Erzählung. Die vermittelnde Rede spielt auf der intradiegetischen Ebene und gibt die eigentliche Erzählung wieder. Der in Klammern eingefügte Regietext stellt die extradiegetische Ebene dar und bildet damit einen (Bühnen-) Rahmen.21 Trolle reagiert auf den Zustand des Nicht-gespielt-Werdens, indem er seinen Text schon während der Lektüre spielen lässt und der Imagination des Lesers Spielangebote unterbreitet, die fortgeführt werden können. Unter umgekehrten Vorzeichen diskutiert Matthias Däumer in der Studie Stimme im 20 | Trolle 2007b, 231. Diese und weitere Hervorhebungen in den Zitaten aus Trolles Texten entsprechen dem Textbild der 2007 im Alexander Verlag erschienenen Werkausgabe Nach der Sintflut. Gesammelte Werke. 21 | Genette1998, 249f.

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Raum und Bühne im Kopf (2013) ein vergleichbares Medialitätskonzept, wobei er sich auf das performative Potential mittelalterlicher Artusromane und die Aufführungssituation bzw. das Verhältnis zwischen Rezitator und Publikum konzentriert. Däumer stellt die These auf, dass während der Lektüre der Romane prozesshafte, imaginierte Räume wahrgenommen werden können, die auf einen impliziten Autor bzw. impliziten Rezipienten verweisen.22 Ähnlich wie Däumer die performative Vermittlung des Romansrekonstruiert, soll auch für Trolles Text die implizite Aufführung im Text durch Aufschlüsselung der verschiedenen Kommunikationsebenen dargestellt werden. Diese impliziten Aufführungsebenen lassen sich über das topologische Oppositionspaar nahfern unterscheiden. Auf der metadiegetischen Ebene bildet sich der eigentliche Erinnerungsraum zu Brecht und damit die größte Entfernung zum Leser/Zuschauer heraus. Dieser Teil stellt eine Montage aus Briefen, Journaleinträgen, Autobiografien und Versatzstücken aus Brechts Gedichten, Prosatexten und Dramen dar, die nach einem assoziativen Verfahren zusammenfügt wurden. Diese zitierten Texte sind teilweise stark bearbeitet, gekürzt, umgestellt und neu zusammengefügt. Sie sind nicht als Zitat deklariert und gelten, so Genette, entweder als Plagiat oder als Anspielung. Durch diese Vermischung von fiktionalen und dokumentarischen Texten werden die Grenzen zwischen Werk und Leben fließend.23 Diese Erinnerungscollagen werden vom Chor als Träger des Gedächtnisses gesprochen. Während der chorischen Rede bildet sich ein fluider, assoziativer Gedächtnisraum heraus, der schnell die Zeiten wechselt, mal im Jahr 1938, mal weiter zurück, etwa in die Zeit der Weimarer Republik in Berlin spielt. Auf der intradiegetischen Ebene wird die Rahmenhandlung des Stücks erzählt. Ein peripherer homodiegetischer Erzähler berichtet, wie er einen Nachmittag in der Nähe des Brecht-Hauses verbringt. Von seinem Beobachtungsposten aus berichtet er, wie sich der Chor und die historischen Figuren an dem Ort bewegen. Er gibt die Rede des Chores wider und kommentiert dessen Verhalten. Dieser Erzähltext ist durchweg im Präteritum verfasst. Durch den starken Gegenwartsbezug und die interne Fokalisation wird dem Leser/Zuschauer eine große Nähe zum Geschehen suggeriert. Aufgebrochen wird diese Fiktion durch den in Klammern eingeschobenen Regietext. Dieser verweist permanent auf den fiktionalen Charakter und darauf, dass es sich bei dem Garten eigentlich um eine Bühne, bei dem Chor um Schauspieler handelt. Die extradiegetische Ebene umfasst Bühnenanweisungen und detaillierte Anmerkungen zur Spielweise, zur Mimik und Gestik des Chores.

22 | Siehe Däumer 2013, 32. 23 | Siehe Genette 2008, 10.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

Die drei Ebenen bilden ein in-sich-geschlossenes System. Sie greifen so ineinander, dass zunächst der Eindruck einer geschlossenen Erzählung und damit eines Raum-Kontinuums entsteht. Vom Leser erfordert es allerdings hohe Aufmerksamkeit, die Zeit- und Ortswechsel der Ebenen nachzuvollziehen. Auch führt Trolle oftmals Szenen nicht aus oder gibt Vorschläge für mögliche Improvisationen oder Repliken. Er gibt also keine endgültige Version des Textes vor, lässt Lücken und überlässt den Fortgang des Stücks dem Vorstellungsvermögen des Lesers bzw. den Einfällen der Regie. Norbert Eke vergleicht diese Leerstelle der Rahmung mit dem Prinzip der Blackbox, dem leeren Theaterraum, der auf das theatrale Ereignis wartet. Die hier dargestellte Form eines erzählten Theaters ordnet er als konsequente Fortführung des epischen Theaters ein: »Trolle hat die Vorstellung [des epischen Theaters] in eigenwilliger (und eigenständiger) Weise weiterentwickelt zu einem Drama des ›erzählten‹ Textes, das […] mit (eigentümlich subjektlosen) chorischen Sprechformen experimentiert.24 Trolles Ästhetik reiht sich in die von Lehmann beschriebene Entwicklungslinie der Episierung des Dramas ein, in der die interne Kommunikationsachse zur externen geöffnet und statt eines Dialoges zwischen den Figuren ein »Polylog« (Kristeva) zwischen Rezipient und Text aufgebaut wird.25 Die Ästhetik seines Theatertextes lässt sich mit experimentellen Formen angefangen von James Joyce über Herbert Achternbusch und Arno Schmidt hin zu Peter Handke vergleichen, welche ähnliche literarische Strategien einsetzen, um Leser- wie Erzählperspektiven zu erweitern. Trolles Modell steht demnach mit literarischen Traditionslinien in Einklang, in denen das lineare Raum-ZeitKontinuum gesprengt wird und sich in einem System von Überlagerung und Überschreibung ein Hypertext (Genette) herausbildet.26 Bei dieser radikalen Hinwendung zur Erzählung ist es nicht verwunderlich, dass die Gattungsgrenzen verschwimmen und Trolles Theatertexte auch als Lesedrama funktionieren. So wurde klassenkampf zunächst in einer Lesung am BE vorgestellt, bevor der Text vom Freien Theater München (FTM) in Szene gesetzt wurde. Blickt man auf die Aufführungspraxis in der DDR, die durch Regularien des Kulturministeriums bestimmt war, so hat diese Form des Lesedramas auch eine pragmatisch-zynische Konnotation. Die Wahl der Gattungsform lässt sich auch als Reaktion auf eine Situation verstehen, die Wolfgang Emmerich folgendermaßen beschreibt: »Viele Theaterstücke blieben für Jahre ›Lesedramen‹, ehe sie endlich zur Aufführung in der DDR gelangten.«27 Gerade Trolle war von dieser kulturpolitischen Praxis betroffen, erst zum Ende der DDR wurden seine Theatertexte auf staatlichen Bühnen gespielt. Eine Si24 | Siehe Eke 2002, 88. 25 | Lehmann 2005, 41. 26 | Siehe Genette 1993, 14f. 27 | Emmerich 2000, 348.

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tuation, die Trolle ironisch kommentiert: »Wer ungedruckt und ungespielt ist, bleibt ewig jung.«28

Raumanalyse: Zwischen nah und fern Die Raum- und Zeitstruktur des Theatertextes ist auf der intradiegetischen Ebene vorgegeben. Der Erzähler hält sich für einen Nachmittag im Garten des Hauses auf. Von diesem Ort aus imaginiert er die historischen Personen, die mit Brecht zusammenarbeiteten, ihn besuchten und in dem Zeitraum 1938/39 in Svendborg verweilten. In den Reden der Figuren eröffnen sich jeweils ganz unterschiedliche Perspektiven und Erinnerungsräume auf Brecht. Aus dieser perspektivischen Vielfalt lassen sich insgesamt fünf Struktureinheiten voneinander abgrenzen. Der erste Strukturteil gibt einen Überblick über die Landschaft, verortet das Landhaus und beinhaltet die Ankunft des Chores und des Besuchers am Exilort. Der zweite Strukturteil spielt im Garten des Hauses, es dominiert die Perspektive der Frauen, der Erzähler beobachtet, wie sich einzelne Mitglieder aus einem Frauenchor lösen und ihre Erinnerung an Brecht widergeben. Im dritten Teil nähert sich der Erzähler weiter dem Haus und beobachtet die Emigranten, die Brecht besuchen. Im vierten Teil wird die Perspektive auf Besucher aus Deutschland gelenkt. Im fünften Teil schließlich gelangt der Erzähler zu Brecht selbst und beobachtet ihn bei seinem Tagesablauf. In diesem Teil bricht das Bühnenstück ab, der Chor löst sich auf und der Erzähler verlässt den Ort. Insgesamt lässt sich eine Bewegung von der Peripherie zum Zentrum nachvollziehen. Der Erzähler nähert sich kontinuierlich Brecht an, erst durchstöbert er den Garten und beobachtet den Chor aus der Ferne, dann rückt er näher, die Perspektive verengt sich, und am Ende ist der Fokus ganz auf die Bewegung von Brecht gerichtet. In der folgenden Raumanalyse soll diese Bewegungsfigur weiter herausgearbeitet und gezeigt werden, in welchem Verhältnis Erzähler und Chor stehen.

I Auftakt und Einzug des Chores Gefährte glücklicherer Zeiten! Seit einigen Monaten haust dein Freund in einem schilfgedeckten, länglichen Hause auf einer Insel mit einem alten Radiokasten. Wie so manch anderen hat auch ihn der Zorn des Volkes hinweggespült. Obwohl seine Nase einen Sattel und sein Haar keine Locken im Nacken hat, mußte auch er den goldenen Staub seiner Heimat von den Füßen schütteln. 29

28 | Trolle zitiert in Emmerich 2000, 349. 29 | Trolle 2007b, 453.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

Mit diesen einladenden Worten beginnt das Stück. Sie stammen aus Briefen, die Brecht kurz nach seiner Ankunft in Svendborg an Freunde und Wegbegleiter aus der Berliner Zeit geschrieben hat. Die meisten seiner Freunde waren ebenfalls aus Deutschland emigriert. Trolle montiert hier drei unterschiedlich adressierte Briefe, die an den Zeichner und Satiriker George Grosz, der nach New York gegangen war, und an Walter Benjamin und Alfred Döblin, die nach Frankreich geflohen waren, gerichtet sind.30 Mit dieser Montage der Briefwechsel verweist Trolle schon ganz am Anfang des Textes auf die Exilsituation und das Prekäre dieser Situation und zeigt, wie sich Brecht über sein Sprachvermögen von diesem zu distanzieren versucht. In leichtem, frechem Tonfall wirbt Brecht für seinen neuen Zufluchtsort. Er spottet dabei über das Provinzielle der abgelegenen Insel und hebt gleichzeitig die Vorteile dieser abgeschotteten Lage hervor. Auffällig ist dabei, dass er nicht aus der Ich-Perspektive, sondern in der dritten Person Singular schreibt, sich selbst als »dein Freund« bezeichnet. Satirisch geht er mit sich selbst um, humorvoll beschreibt er seine Flüchtlingssituation. Die briefliche Einladung wird als dramaturgisches Mittel genutzt, um den homodiegetischen Erzähler und den Chor auftreten zu lassen. Zunächst formiert sich ein »Chor der mindestens fünf Frauen«31. Mit dieser Zahl wird auf die Frauen angespielt, die mit Brecht lebten und arbeiteten. Dieser Chor, so führt der Erzähler aus, beginnt nun »vom Haus, von dem Garten, von der Bühne Besitz zu ergreifen.«32 Auch der Chor beginnt nun zu sprechen und fordert seinerseits den Erzähler auf, sich auf den Weg nach Svendborg zu machen: »bieg du nun von der Kogvedvej ab, geh den Sandweg zu auf die Bodenwelle, und jetzt keine falschen Anstrengungen, stehenbleiben, womöglich noch sich auf die Zehenspitzen stellen und den Kopf recken, bringt hier gar nichts.«33 Die Sprache ist dabei filmisch genau; durch die hohe Faktizität und den Sinn für Momentaufnahmen kann sich der Leser genau vorstellen, wie der Erzähler den Weg hinter sich lässt und sich mit Spannung in der Umgebung umschaut: […] und da fällt ja schon dein Blick von oben auf das niedrige Haus mit dem Strohdach, und dann weiter entfernt die Pappeln, da vor dem Gartenzaun, und du siehst es auch schon zwischen den Stämmen der Pappeln, das Wasser und sein Glitzern, und darüber der Himmel und dann der Horizont, ein dunkler Küstenstreifen, der sich nach vorn schiebt. (Chor improvisiert:) ein Ruder liegt dem Dach – ein mittlerer Wind/der das

30 | Siehe Brecht 1998a, 417 u. 411. 31 | Trolle 2007b, 453. 32 | Ebd. 33 | Ebd.

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Grenzgänger des DDR-Theaters Stroh nicht wegträgt./Im Hof die Schaukel der Kinder. Pfähle/die Post kommt zweimal, wo Briefe willkommen wären./das Haus hat zwei Türen daraus zu fliehen. 34

In dieser Landschaftsbeschreibung ist das Gedicht Zufluchtsstätte von Brecht eingefügt. Es entsteht der Eindruck einer Verdopplung: Zwei Zeit-Landschaften überlagern sich, die heute wahrnehmbare und die vergangene Exillandschaft. Auf der einen Seite steht die Gegenwart und die neutrale Ortsbeschreibung des Chores, auf der anderen Seite die Vergangenheit und die Bedeutung des Ortes für Brecht. Der Dichter erzeugt die Atmosphäre von etwas Bedrohlichem. Er weiß, dass er auf der so friedlichen Insel nicht sicher ist, alles ist schon auf die Flucht vorbereitet. Die Topik der trügerischen Idylle greift der Chor auf und beschreibt, wie nachts vom Strand aus Suchscheinwerfer über das Getreidefeld wie Lichtkegel streifen. In dieser Verdopplung der Landschaft verschwimmen die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Der Weg zum Haus gestaltet sich für den Erzähler als eine Zeit-Reise in den Zeitraum der späten 1930er Jahre. Doch gelangt er nicht sofort zum Künstler Brecht bzw. zu dessen Haus, zuerst muss er den Bereich des Gartens durchqueren.

II Der Garten und der Chor der mindestens fünf Frauen Der Garten bildet einen Übergangsbereich, in welchem vorwiegend der Frauenchor als Träger des Gedächtnisses in Erscheinung tritt. Wütend berichtet der Erzähler, wie schwierig es sei, in den eingezäunten Garten zu gelangen. Auf der extradiegetischen Ebene wird die Überschreitung des Zaunes auf verschiedene Art und Weisen dargestellt: »(führt vor, wie man fremde Gartentüren öffnet, Gartenzäune umwirft usw.).«35 Als er feststellen muss, dass ein Stacheldrahtzaun ihm den Weg versperrt, ruft er empört aus: »Aus einem Garten kommt die Menschheit und nicht aus einem Sperrgebiet!«36 Mit diesem Ausruf erinnert er an den Garten als biblisches Symbol der Verwandlung bzw. des Grenzgangs. Es handelt sich um eine Grenze, die zwischen Leben und Tod, zwischen jenseitigem Paradies und diesseitiger Welt verläuft. Nachdem der Erzähler die Grenze überschritten hat, wird es ihm möglich die Erscheinungen zu erleben. Trolle nutzt die Symbolkraft des Gartens, dessen immanente Wandlungsfähigkeit, und lässt ihn zum Ort der Ungleichzeitigkeit werden. Auch nutzt er diesen Ort als Symbol des Weiblichen und wandelt ihn zum Performanceort eines Frauenchors.37 In dieser Traumlandschaft des Gartens, die in Anlehnung an den paradiesischen Garten Eden als Versuchung inszeniert 34 | Trolle 2007b, 453f. 35 | Trolle 2007b, 456. 36 | Ebd. 37 | Siehe Anaieva 2008, 120.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

wird, in der die Frauen als Dichtermusen oder Myriaden des Gartens hervortreten, wird das Raum-Zeit-Kontinuum aufgebrochen. Dieser Moment des Irrationalen lässt sich in dem Stück auch an den unterschiedlichen Zeitwahrnehmungen festmachen. Für den Besucher des Erinnerungsortes verläuft die Zeit kontinuierlich, er betont die verrinnende Zeit und fügt konkrete Zeitangaben hinzu (14:20 usw.), die den zeitlichen Verlauf des Nachmittages deutlich machen. Die Mitglieder des Chores sind dieser Zeit entbunden; sie spielen, wie es der Literaturtheoretiker Bachtin für den Chronotopos des Abenteuers ausgeführt hat, in einer »leeren Zeit«38. Am Beispiel der Abenteuerromane der Antike, in denen die Protagonisten auf eine Reise gehen und in der exotischen Welt des Anderen auf Fabelwesen, räuberische Völker, Nymphen und mythische Göttergestalten stoßen, verdeutlicht Bachtin die Struktur dieser irrealen Raum-Zeit. Auf seiner Reise kann der Abenteurer erstaunlich weite Wege zurücklegen und die exotischsten Länder bereisen, ohne eine Spur zu altern. Er kehrt zurück in die reale Welt, ohne sich äußerlich verändert zu haben.39 Dieses Aufeinandertreffen von leerer Zeit des irrationalen Raumes und die reale Zeitempfindung bildet nach Bachtin die Grundstruktur der antiken Abenteuerromane und literarischen Reiseberichte. Diese strukturellen Elemente lassen sich auch in Trolles »Reisebericht« finden. Bei dem Aufeinandertreffen des reisenden Erzählers auf die Frauen im Garten ergibt sich ein Zeitbruch. Die Reise selbst bleibt aber ohne Konsequenzen. Die Frauen verstecken sich hinter Büschen, klettern von Bäumen und versuchen stetig diesen Garten bzw. »[…] das Grün in Besitz zu nehmen«40. Der Frauenchor ist zunächst anonym. Im Verlauf des Theatertextes lösen sich einzelne prominente Frauen aus diesem Chor. Zunächst erscheint die Dänin Ruth Berlau, die den zugezogenen Künstler kennenlernen will, darauf folgt die enge Mitarbeiterin Margarete Steffin, und schließlich kommen die eigentlichen Hausbewohner, die Haushälterin Marie Ohm mit Brechts Tochter Babara und zuletzt die Ehefrau Helene Weigel zu Wort. Ihre Reden werden vom Chor wiedergegeben, ihre persönlichen Erinnerungen werden meist durch einen Auszug aus Brechts Notaten oder aus seinem Werk ergänzt. So entsteht ein Diskurs zwischen den Frauen und dem Dichter, der immer wieder abbricht und in der Stille des Gartens verklingt. Die unterschiedlichen Erinnerungen konkurrieren miteinander und liefern ein verworrenes, inkohärentes Bild. Die zu Wort kommenden Frauen streiten auch nach dem Tod Brechts um ihren Anteil bzw. um einen Platz in dieser Erinnerungslandschaft – hat doch jede der drei Schönen, wie Ruth Berlau, Margarete Steffin und Helene Weigel genannt werden, ihren Teil zur legendären Kollektivarbeit beigetragen. Besonders die 38 | Bachtin 2011, 18. 39 | Siehe ebd. 40 | Trolle 2007b, 453.

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Erinnerungen von Ruth Berlau und Margarete Steffin nehmen viel Platz in der Erinnerungslandschaft ein, da sie sich durch Publikationen wie Brechts Lai-Tai und Konfutse versteht nichts von Frauen bereits auf dem Buchmarkt positioniert haben. Im Gegensatz zu ihnen nimmt Brechts Ehefrau Helene Weigel verhältnismäßig wenig Platz in diesem weiblichen Erinnerungsreigen ein, da sie selbst kein Buch publiziert hat. Es wird deutlich, dass nur, was schriftlich fixiert wurde, einen Platz in diesem Garten erhält.

Auftritt Ruth Berlau Die junge, stürmische Ruth Berlau ist die erste Frau, die diesen Erinnerungsgarten betritt. Sie wird vom Chor feierlich angekündigt: »und nun kommt schon, die glücklicherweise den Rest der Woche nicht auf die Bühne der Königlichen muß […]«41. In dieser kurzen Bemerkung ist schon der Reiz, den die Frau auf die Männer ausübte, angedeutet. Sie wird als Schauspielerin der königlichen Bühne Kopenhagen eingeführt und ihr rebellischer Charakter durch eine kurze biografische Passage aus Berlaus Kindheitserinnerung skizziert. Die kurze Szene spielt in der katholischen Nonnenschule. Dort wurde ihr der Blick in den Spiegel verboten, wogegen sie sich widersetzt. Als sie dabei ertappt wird, antwortet sie, sie wolle nur die Sonnenstrahlen über den Spiegel einfangen. Von diesem Rückblick wechselt die Perspektive, und der Chor beschreibt ihren Weg zu dem Haus, wie sie auf ihrem Motorrad über das Land fährt, wie sie zunächst an dem Haus vorbeibraust und schließlich knietief im flachen Wasser der Ostsee landet. Mit dieser rasanten Fahrt zeigt er die temperamentvolle Seite der Frau, die schon mit dreizehn Jahren die Schule verließ und ungewöhnlich lange Reisen allein durch Europa machte. Nachdem sie viel zu schnell gefahren und ins Wasser gebraust ist, flicht er ein Gedicht aus Brechts Buch der Wendungen ein: »Ich habe dich weggeschickt zu fremden Kämpfen.«42 Die Verse spielen auf Berlaus Fronterfahrung im spanischen Bürgerkrieg an, wo sie als Journalistin Material für Brechts Stück Die Gewehre der Frau Carrar sammelte.43 Mit dieser Kampferfahrung öffnet sich der Assoziationsraum zur »roten Ruth«, so wurde Berlau in der dänischen Szene genannt, in der sie auch als Enfant terrible galt. Die selbstbewusste Frau hatte, als sie Brecht kennenlernte, ein Arbeitertheater in Kopenhagen gegründet und zuvor an der Königlichen Bühne die Figur der Anna aus Brechts Stück Trommeln in der Nacht gespielt.44 Dass sie als erste im Stück auftritt, entspricht der historischen Chronologie, da sie schon früh, im Sommer 1933, Kontakt zu Brecht knüpfte. Nach ihrer Bruchlandung in der Ostsee helfen ihr, Mitglieder des Chores wieder auf41 | Trolle 2007b, 454. 42 | Trolle 2007b, 454. 43 | Siehe Berlau 1985, 47. 44 | Siehe Berlau 1985, 19.

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zustehen. Der Erzähler beobachtet, wie Berlau ihr Motorrad neben dem Gartentor abstellt, sich ihre zerrissenen Kleider auszieht und während sie diese flickt, anfängt über Brecht zu sprechen. Ihre Erzählung ist verwoben mit Repliken aus Trommeln in der Nacht. Kurzzeitig schlüpft sie in die Rolle der Anna und ruft Sätze wie: »Bist du nicht in die Luft geflogen?« oder »In mir brannte ein merkwürdiges Feuer.«45 Danach fährt sie mit der eigentlichen Erzählung fort und berichtet, wie sie erfuhr, dass Brecht bei Karin Michaelis auf der Insel Fünen Zuflucht gefunden hatte und sich daraufhin auf den Weg dorthin machte. Besonders ausführlich schildert sie den Moment der ersten Begegnung zwischen ihr und Brecht, erzählt wie sie zunächst von Helene Weigel empfangen und bekocht wurde und Brecht sofort nach der Mahlzeit verschwand. Als sie nach dem Essen mit ihrer Schreibmaschine im Garten stand, kam auch Brecht heraus, näherte sich ihr und begrüßte sie mit einem »Hallo«, das ihr lange im Gedächtnis geblieben ist. Berlau resümiert: »Und auch das mache ihm erst einer nach, er sieht dich zum ersten Mal, gibt dir auch die Hand, doch tritt, während du noch die Wärme spürst, einen Schritt zurück.« 46 Den Moment der Begegnung hebt Trolle besonders hervor und lässt Berlau über diese paradoxe Erfahrung der gleichzeitigen Nähe und Ferne nachsinnen bzw. die Situation nachspielen, wobei die anderen Frauen des Chores dazukommen und ihr Spiel aufgreifen. Im Anschluss an diese Improvisationen richtet sich der Erzähler direkt an das Publikum und beklagt die Zäune, die den Garten einschließen und berichtet, wie er trotz des Hindernisses hinein gelangt. Nachdem er die Absperrung überwunden hat, macht er es sich im Gras bequem. Während er da liegt, schaut er sich um und spricht schließlich jemanden sehr vertraut an: »Wo sonst als hier, wo dicht am Haus ein Bach vorbeiplätschert und am Bach hohe Erlen stehen und in den Bäumen sich nur eine Vogelstimme meldet, find ich dich, für die man kein Grab übrighatte.«47

Auftritt Margarete Steffin Auf diese vertrauliche Anrede hin klettert Margarete Steffin von einem Baum herunter. Mit der traurigen Anrede verweist der Erzähler auf ihre tragische Geschichte. Steffin, die seit 1932 eine enge Mitarbeiterin und auch Geliebte von Brecht war, folgte ihm auch ins dänische Exil. Sie lebte in Svendborg, nur ein paar Kilometer von seinem Haus entfernt. Während der Zeit in Dänemark verschlimmerte sich ihre Tuberkulose-Krankheit, sie musste regelmäßig ins Krankenhaus. Als Brecht und seine Familie 1941 in die USA emigrierten, mussten sie Steffin in Moskau zurücklassen. Dort starb sie, weit weg von

45 | Trolle 2007b, 455. 46 | Trolle 2007b, 456. 47 | Trolle 2007b, 457.

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ihrem Geliebten und ihrer Familie, die in Berlin lebte.48 Zu diesem krankheitsbedingten Schicksal kam hinzu, dass Steffin in Dänemark als Geliebte mehr und mehr von der jüngeren Berlau verdrängt wurde. Diese doppelte Tragik hat Trolle in der Raumkonstellation aufgegriffen. Im Gegensatz zur dominanten Berlau spricht Steffin oft von Verstecken aus, steigt von einem Baum herunter oder sitzt versteckt hinter einem Gebüsch. Während Ruth Berlau stürmisch und temperamentvoll dargestellt wird, zieht sich Steffin zurück und bleibt im Hintergrund. Stehen bei der Konkurrentin alle Zeichen auf Auf bruch, ist ihr Verhalten von Bescheidenheit und Sachlichkeit geprägt. In ihrer Rede steht einerseits ihre enge Zusammenarbeit mit Brecht, andererseits ihre Tuberkulosekrankheit im Vordergrund. Die Aggression richtet sie gegen sich selbst. Dies wird in ihrer Rede deutlich, die mit dem autobiografischen Text Ich bin ein Dreck beginnt. In diesem richtet Steffin ihren ganzen angestauten Ärger gegen sich selbst und resümiert ihre missliche Situation als abgelegte Geliebte Brechts. Ihr wird schmerzlich bewusst, dass die glücklichste Zeit hinter ihr liegt. Sie blickt auf die besseren Zeiten zurück, in denen sie mit Brecht zusammenlag und ihre schwere Krankheit noch heilbar und weit entfernt schien. »O, ich muß eine wunderbare Zeit gehabt haben. Und ich war kein bißchen [sic!] Dreck. Es konnte natürlich nicht gutgehen, weil ich eben krank bin, auf der Brust, die ekelhafteste Krankheit der Welt.«49 Sie erinnert sich, dass Brecht ihr schon damals sagte, er habe das Gewissen eines Eisklumpens. Diesen Satz ruft sie sich ins Gedächtnis, wiederholt ihn und kreiert daraus ein Stegreifspiel bzw. nach Trolle eine »Clownnummer«.50 Das Spiel wirkt, als ob sie ihren Schmerz in Komik umzuwandeln und sich innerlich von Brecht zu distanzieren versucht.

Auftritt Marie Ohm und Martin Andersen Nexö Nach Steffins Improvisationen wird der Erzähler vom Chor angesprochen und gefragt, ob er denn berechtigt sei, sich so ins Gras zu fläzen. Der Erzähler ignoriert den Chor und träumt weiter, er imaginiert mögliche Szenen am Gartentor. Er fragt sich, ob es nicht möglich wäre, dass sich dort die ehemalige Haushälterin von Brecht, Marie Ohm, mit einem Dänen unterhält. Diese Träumerei verweist auf eine tatsächliche Begebenheit: Während des dänischen Exils bändelte die langjährige Haushälterin Brechts mit dem Fleischlieferanten an und heiratete diesen.51 Der Chor greift die Geschichte auf und stellt sich einen jungen Dänen vor, der einer ›gewissen‹ Marie einzureden versucht, sie

48 | Siehe Berlau 1987, 73. 49 | Trolle 2007, 457f. 50 | Trolle 2007, 457. 51 | Siehe Engberg 1971, 72.

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zu heiraten.52 Um sie zu beeindrucken, fängt er an von seiner gelehrigen und frommen Großmutter zu erzählen. Es handelt sich um eine Geschichte, die Brecht von der dänischen Schriftstellerin Karin Michaelis erzählt bekam und die er unter dem Titel Karins Erzählungen aufgeschrieben hat.53 Nach Marie und dem jungen Mann, beobachtet der Erzähler einen alten Mann, der am offenen Giebelfenster des Hauses steht und anfängt flüsternd aus seinen Kindheitserinnerungen zu erzählen: Für ein Proletarierkind ist nicht die Geburt, sondern die Empfängnis das Entscheidende. Von dem Tag an, da es sich zeigt; daß es ›schiefgegangen‹ war, lebt das Kind in den Seelen der Eltern als das Unvermeidliche. Als Offenbarung eines bösen Schicksals. Von mir berichtete die Mutter, ich hätte ihr, bevor ich noch geboren war, arge Fußtritte versetzt.54

Diese Erinnerungen stammen aus der Feder des dänischen Schriftstellers Martin Andersen Nexö. Dieser gehörte zum Künstlerkreis um Karin Michaelis und machte so auch mit Brecht Bekanntschaft. Drei Bände seiner Kindheitserinnerungen hat Brecht zusammen mit Steffin vom März 1938 bis Februar 1939 ins Deutsche übersetzt.55 In den Geschichten spiegelt sich das Leben des dänischen Arbeiterkindes, das in dem Armenviertel von Kopenhagen und auf der abgelegenen Insel Bornholm aufwuchs. Plastisch bildet der Autor die Lebensverhältnisse der dänischen Arbeiterschicht nach, zeigt das Leben eines Jungen, der schon früh arbeiten musste, sich als Hirtenjunge verdingte und als Hobby giftige Kreuznattern mit bloßen Händen fing. Diese Erinnerungen vermitteln ein anschauliches Bild von der Lebensrealität des Kindes. Die Probleme, die mit der Übersetzung der kraftvollen Sprache Andersen Nexös einhergingen, kommentiert der Chor sarkastisch: »Ja, das wär’s. An einem heißen Juninachmittag in einem Schatten zu sitzen und sich herumzustreiten über solche Schwierigkeiten.«56 Um diese Schwierigkeiten, die mit der langwierigen Übersetzung einhergehen, zu veranschaulichen, fügt Trolle verschiedene Briefe von Brecht und Steffin zusammen und dokumentiert so den Arbeitsprozess. Zuerst zitiert er einen Brief von Brecht an Andersen Nexö. In diesem lobt Brecht ausdrücklich die Qualität der Literatur, gibt zu, dass die derzeitige Übersetzung seinem sprachlichen Niveau bei weitem nicht gerecht werde und bittet um Aufschub: »Was tun? – Grete sagt, sie kann, wenn man ihr Zeit läßt, wenigstens 52 | Siehe Trolle 2007b, 458. 53 | Siehe Brecht 1973, 222. 54 | Trolle 2007b, 459. 55 | Siehe Engberg 1971, 222. 56 | Trolle 2007b, 461.

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die gröbsten Schnitzer beseitigen.«57 Es folgt eine Korrespondenz mit dem Verleger, in der er sich über die Veränderungsvorschläge des Lektors ärgert und den Verlag auffordert, die Verantwortung für die Übersetzung ihm zu überlassen. Während Brecht vor allem die organisatorischen und rechtlichen Belange klärt, geht Steffin in ihren Briefen sehr präzise auf die Übersetzungsarbeit ein. Ihre Erläuterungen der dänischen Grammatik sind alle an Brecht gerichtet, der Erzähler macht auf ihr Stirnrunzeln beim Verfassen der Briefe aufmerksam. In diesen maßregelt sie Brecht regelrecht, weil er so ungenau mit der dänischen Sprache umgeht. Kritisch fordert sie ihn auf, sich mehr mit der dänischen Sprache und Grammatik vertraut zu machen und belustigt sich über dessen Gespräche mit dem Tabakhändler: »Ich an deiner Stelle, Bidi, würde mir durchaus überlegen, ob ich meine Beziehungen zum Gastgeberland nicht doch über die täglichen Gespräche mit meinem Zigarrenhändler erweitere.«58 In dieser Auseinandersetzung wird ein leicht ironisches Bild von Brecht erzeugt. Die Vorstellung von dem berühmten Literaten in der alltäglichen Konversation mit seinem Zigarettenhändler, hinzu noch in gebrochener Sprache, hat durchaus komisches Potential. Der Chor improvisiert die Szene und erläutert die Schwierigkeit vom Dänischen ins Deutsche zu übersetzen. In diesem Zusammenhang werden neben den sprachlichen auch die kulturellen Grenzen und damit das Fremdheitsgefühl des deutschsprachigen Autors im dänischen Exil thematisiert.

Abgang Ruth Berlau Nach der ausführlichen Auseinandersetzung mit den Eigenheiten der dänischen Sprache, wechselt wieder die Fiktionsebene. Der Chor horcht und kommentiert: »[…] da muß doch noch anderes zu hören sein, als vom Wasser her dieser Lärm vom Rohrdrommelmännchen […].«59 Assoziativ zu den Vogelgeräuschen wird eine kurze Passage aus Berlaus Novellensammlung JedesTier kann es eingeschoben. Die Novellen handeln von Frauen, die aus verschiedenen Gründen ihre Sexualität nicht ausleben können. Ihre Probleme werden in der Gesellschaft tabuisiert, über Frigidität oder die eigenen Wünsche können sie nicht sprechen. Berlaus Text provoziert nicht nur durch die Thematik, auch die Sprache ist relativ lax und bedient sich der Umgangssprache. Dies wird in dem von Trolle gewählten Zitat deutlich: »als du das Vögeln lerntest, lehrte ich dich/So zu vögeln/daß du dich dabei nicht vergaßest.«60 Dieser mehrdeutige Text spielt auch auf Berlaus eigene Situation an. Obwohl sie noch mit dem Arzt Robert Lund verheiratet war, hatte sie mit Brecht eine Liebesbeziehung begon57 | Ebd. 58 | Trolle 2007b, 462. 59 | Ebd. 60 | Ebd.

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nen.61 Nach dem Zitat tritt Berlau selbst aus einem Gebüsch hervor. Sie ist in einem desolaten Zustand, rauft sich die Haare und kratzt sich am Ellenbogen. Auf ihr seltsames Verhalten hin ist in Klammern eine Szene eingeschoben, in der der junge Dramatiker Hebbel eine Art Gymnastikübung anwendet, in der man solange den Atem anhält, bis die Augen aus dem Kopf herausquellen wollen. Die dabei entstehenden Schmerzen würden ihn von der Gegenwart ablenken, die in ihrer Langweiligkeit und Hoffnungslosigkeit nicht zu ertragen sei.62 Dieser kurze Einschub weicht vollkommen vom eigentlichen Thema und Zeitraum ab, er verweist allerdings auf Brechts Vorliebe für Hebbel, dessen Tagebuch er während des dänischen Exils las. Hebbels Leben eines verarmten, vagabundierenden Dichters, der durch das Deutschland des Vormärz wanderte und dessen Dichtung unter widrigsten Umständen entstand, schien ihn, ähnlich wie das Leben der französischen Dichter Arthur Rimbaud oder Francois Villon, zu faszinieren. Nach diesem Exkurs setzt der Chor seine Beschreibung fort, erläutert, wie Berlau sich selbst malträtiert und wertet es »[…] als Versuch sich moralisches Verhalten beizubringen«63. Diese Aussage spielt auf Brechts Lai-tu-Geschichten an, die als Anhang zum Buch der Wendungen veröffentlicht sind.64 Es handelt sich um Parabeln, in denen Berlau unter dem Namen Lai-tu von dem Lehrmeister Me-ti erzogen und belehrt wird. Auch ihr Verhältnis zum Dichter KinJeh wird bei diesen Belehrungen aufgegriffen. Brecht tritt in den Geschichten mal als Lehrmeister Me-ti, mal als Dichter Kin-Jeh auf. Ausführlich zitiert Trolle aus den Parabeln, dabei wird auch die Situation zwischen Berlau, Brecht und ihrem Mann erläutert. Lai-Tu wird z.B. ermahnt nicht mehr mit ihrem Mann zu schlafen, wenn es ihr keinen Spaß mehr mache. In diesem Kontext rückt die sinnliche Seite der Beziehung zwischen Berlau und Brecht in den Vordergrund. Auch diskutiert Brecht mit sich selbst über sein Verhältnis zu ihr. Me- Ti und Ken-Jeh sprachen über die Schönheit der Lai-Tu: ›Ich glaube, glückliche Menschen kommen uns immer schön vor‹, sagte Me-Ti lächelnd, ›und du machst sie glücklich. ›Falsch‹, sagte Ken-Jeh, ›nicht ich mache sie glücklich, sie macht sich für mich glücklich.‹ 65

Diese Texte geben einen Eindruck davon, wie eng Privatleben und Literatur im Brecht-Kreis miteinander verwoben waren und demonstrieren, dass es keine wirklich klaren Grenzen gab. Selbst die eigene Affäre wurde ganz konkret in 61 | Siehe Berlau 2001, 3. 62 | Siehe Trolle 2007, 464. 63 | Ebd. 64 | Siehe Berlau 1987, 49. 65 | Trolle 2007, 465.

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der dichterischen Arbeit umgesetzt. Im Anschluss greift der Chor Versatzstücke aus dem Roman Jedes Tier kann es auf, ruft Berlau zu, damit sie das Spiel des Chores szenisch unterstütze. Doch die achtet nicht auf die »Spielangebote« des Chores und zieht sich hinter einem Gebüsch im hinteren Teil des Gartens zurück. Der Chor resümiert, dass an diesem Tag »[…] nicht mehr mit ihr zu rechnen [sei]«66. Es wird wieder still. Der Chor sieht sich um und beklagt erneut die Reglosigkeit der Landschaft – wieder ist nur das Rohrdommelmännchen in der Hitze des Julinachmittages zu hören.

Abgänge mit Margarete Steffin, Barbara und Helene Weigel In diese Stille fordert der Chor, dass etwas passieren solle, und beobachtet schließlich, wie eine Jalousie nach unten rasselt. Aus einem Gebüsch tönt die Stimme Steffins. Im Gegensatz zur vorherigen Passage schlägt sie einen sehr vertraulichen Ton an und geht auf ihre Gefühle ein. Sie spricht Brecht mit dem Kosenamen Bidi an. Den hier zitierten Brief hat sie auf der Krankenstation verfasst, in diesem spiegelt sich ihr bedrohlich schlechter Gesundheitszustand eindrücklich wider. Ihre Tuberkulose hat sich verschlimmert, an eine Genesung glaubt sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Sie schmückt die Atmosphäre und die Umstände in dem Krankenhaus aus und fingiert eine drastische Geschichte. Direkt neben ihr liegt, nur getrennt von einem Vorhang, ein sterbender alter Mann, der nachts von den Schwestern gewaschen und gelagert wird. Der Totengeruch zieht ihr in die Nase, er erinnert sie an ein Spiel in ihrer Kindheit: »Ich weiß; Einbildung, doch mir fällt ein, wie wir als Kinder die Arme so lange gerieben haben, bis die stanken und wir sie uns dann gegenseitig unter die Nase hielten. Riech mal! Totengeruch!«67 Hiernach bricht der Brief aus dem Krankenhaus abrupt ab und die Figur der Steffin wiederholt auf freche Weise die Kindheitserinnerung. Anschließend beobachtet der Erzähler, wie sie aus dem Gebüsch hervorkriecht, sich zusammen mit dem Chor vor dem Haus aufstellt und anfängt eine Geschichte von Brechts Tochter Barbara zu erzählen. Sie stellt Barbara als ein äußerst neugieriges, wissbegieriges Mädchen dar, deren Fragen ihr zeitweilig die Nerven raubten, und schildert, wie sich die Tochter trotz der widrigen Umstände der Emigration gut in der neuen Schulklasse einfügte. Sie betont den Erfindungsreichtum des Mädchens als sie für die Schule ein Bild malen musste, und ihre Solidarität, da sie ihre Schokolade mit jedem Hausmitbewohner teilt.68 Nach dieser kurzen Performance verschwindet Steffin wieder im Hintergrund des Gartens. Die Erzählung von Barbara bildet die Fuge zur nächsten Textpassage, in der ihre Mutter, Helene Weigel, auftritt. Der Chor hört, wie in der erneuten Stille des Gartens jemand 66 | Ebd. 67 | Trolle 2007b, 467. 68 | Siehe Trolle 2007b, 468.

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eine Tür hinter sich zuschlägt und aus dem Haus tritt. Von der Seitenbühne bzw. vom Gartenzaun ruft jemand dieser Person etwas zu – es handelt sich um Brechts Gedicht Empfehlung eines langen weiten Rockes, das auch als Liebeserklärung an seine Frau zu verstehen ist. Es wird wie ein Bühnenstichwort gesprochen: […] irgendwo schlägt jemand hinter sich eine Tür zu, und Schritte entfernen sich hastig, ruft (als würde er jemandem das Stichwort geben) in den Garten/(auf die Seitenbühne) Und wähl den bäuerlichen weiten Rock, bei dem ich listig auf die Länge dränge/Ihn aufzuheben in der ganzen Länge/an Schenkeln hoch und Hintern, gib den Schock,/und wenn auf unsrer Ottomane,/laß ihn verrutschen, daß in seinem Schatten//Durch den Tabakrauch wichtiger Debatten/Dein Fleisch an die gute Nacht gemahne.69

Der erotische Ton der Verse lässt eine eher ungewohnte Seite der, meist als Mutter und Hausherrin erinnerten Weigel hervortreten. Brecht baut eine Alltagssituation auf, in der er sich mit anderen Männern trifft, Zigarre raucht, diskutiert und heimlich zu seiner Frau herüber schielt. Dieser lüsterne Blick ist zwischen den beiden abgesprochen. Nach außen wirkt sie pragmatisch mit ihrem weiten Rock, nur das Ehepaar weiß, was dieser Rock bedeutet. Nach dem Gedicht tritt Helene Weigel selbst hervor, wischt sich die Hände an ihrer Schürze ab und beginnt vor dem Haus eine Rolle zu proben. Zusammen mit dem Chor fängt sie an zu spielen und schlüpft in die Rolle der Virginia aus dem Leben des Galilei, dessen erste Version, laut einer Notiz von Steffin, im November 1938 beendet wurde.70 Das in der Renaissance spielende Stück war hoch aktuell. Es handelt von der Verantwortung der Intellektuellen gegenüber dem Volk und dem erdrückenden Gefühl, den Ereignissen der Zeit trotz besseren Wissens nichts entgegen setzen zu können. Das Bild des Rockes, unter dem die Wahrheit versteckt ist, wird in der Schlussszene des Dramas aufgegriffen. Galilei ermahnt seinen Schüler Andrea: »Gib acht auf dich, wenn du durch Deutschland kommst, die Wahrheit unterm Rock.« 71 Trolle greift Brechts episches Drama spielerisch auf, er erfindet eine eigene Szene, in der die Hauptfigur Galilei mit seiner Tochter Virginia in einer Bibliothek sitzt und sie ihm, da seine Augen schmerzen, Inschriften aus Büchern des Herrn Montaigne vorliest. Der Vater kommentiert diese kleinen Lehrsätze und Gedanken: »Virginia: 2. Die Neugierde hat er ihnen geliehen, damit er sie quäle./Galilei: Unsinn./Virginia 15: Der Mensch ist brüchig. Galilei: Nicht brüchig genug«.72 Mit dieser Szene erinnert Trolle an den bedeutenden französischen Philosophen 69 | Trolle 2007b, 468. 70 | Siehe Engberg 1971, 212. 71 | Siehe Engberg 1971, 213. 72 | Trolle 2007, 469.

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Montaigne, dessen Bücher Galilei wahrscheinlich zugänglich waren und mit dem sich Brecht bei der Konzeption des Dramas sicherlich auseinandergesetzt hat.73 Den Beruf der Schauspielerin konnte Helene Weigel in den Jahren der Emigration immer seltener ausüben. Obgleich Brecht versuchte ihr geeignete Rollen zu schreiben, konnte sie aufgrund von Sprachschwierigkeiten ihre Karriere, die sie in den 1920er Jahren in Berlin begonnen hatte, nicht fortführen. Während der Emigration wurde sie verstärkt in die Hausfrauen- und Mutterrolle gedrängt – eine Lebensrolle, in der sie, spätestens mit dem Erfolg der Mutter Courage, auch auf der Bühne avancierte.74 Ihr unaufgeregtes, zeigendes, präzises Spiel wurde zum Vorbild epischer Schauspielkunst. In diesem Textabschnitt nähert sich der Leser dem Haus und dem Leben der Exilanten weiter an und bekommt eine Ahnung von der engen Verflechtung von Arbeits- und Liebesbeziehung. Nach der Probe nimmt auch Helene Weigel einen Platz im Hintergrund der Bühne, im Garten ein. Es folgt erneute Stille, in die der Chor verzweifelt hineinruft: »Ja, wo sind denn nun all die klugen Köpfe?« 75

III Eintritt ins Haus und Stimmen der Männer Während im zweiten Strukturteil vorwiegend weibliche und lustbetonte Erinnerungen an Brecht im Vordergrund stehen, werden im dritten Teil Männerstimmen laut und die vom Chor angesprochenen »klugen Köpfe« kommen zu Wort. Aus dezidiert männlicher Perspektive eröffnet sich nun der zeitpolitische Kontext. Zunächst betritt der Antistalinist und Marxist Karl Korsch zusammen mit Brechts engem Mitarbeiter, dem Komponisten Hanns Eisler, die Bühne. Danach trifft der lang ersehnte Gast Walter Benjamin ein. In den folgenden Textcollagen steht besonders Brechts politisches Anliegen, d.h. sein Versuch von Dänemark aus für die kommunistische Gesellschaftsordnung einzutreten, im Vordergrund. Zunächst beobachtet der Erzähler, wie jemand aus dem Haus kommt und die Tür hinter sich zuschlägt. Er hört jemanden im Tonfall von Hanns Eisler fragen: »Kennen Sie eigentlich Karl Korsch?« Eisler selbst ist nicht zu sehen, nur seine Stimme vernimmt der Erzähler. Er hört, wie dieser nun Brentanos Lied Sprich aus der Ferne anstimmt. In diesem romantischen Lied wendet sich das zerrissene Ich an eine jenseitige Welt und offenbart seine heimliche 73 | Zu Montaigne siehe Burke 1985. 74 | Sabine Kebir geht in ihrer Weigel-Biografie Abstieg in den Ruhm auf die tragische Seite der Schauspielerin ein, die in den 20er Jahren in Berlin ihre Karriere begann und sich durch ihr leises, eindringliches Spiel von den Stars abhob. Durch die Emigration wird die Karriere abgebrochen. Als Ehefrau von Brecht stellt sie sich selbst zurück und erst 1949 wird sie als Mutter Courage wieder auf einer deutschen Bühne stehen. Kebir 2000, 8f. 75 | Trolle 2007, 469.

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Todessehnsucht. Das Lied ist von großer Melancholie, thematisiert es doch Verlassenheit und stete Todessehnsucht eines einsamen Menschen. Diese tiefgründigen romantischen Verse werden nun durch die nüchterne Stimme des politischen Theoretikers Karl Korsch kontrastiert. Statt von einem Subjekt geht dieser von der Masse aus. Er referiert aus seiner wissenschaftlichen Arbeit über die revolutionäre Situation und Möglichkeiten des Klassenkampfes. Sprich aus der Ferne/Heimliche Welt/Die sich so gerne/Zu mir gesellt.//(Chor improvisiert (da im Garten/(auf der Bühne) sein Ruf ungehört verhallt) in der Stille die Stimme K.Ks. (Chor:) Die soziale Revolution des Proletariats ist wirkliche praktische Aktion der zu einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse vereinigten wirklichen Menschen im Kampf gegen eine andere gesellschaftliche Klasse […] (Chor improvisiert erneut:) Sprich aus der Ferne/Heimliche Welt 76

In dieser Textmontage wird mit gegensätzlichen Stimmungen und Sprachstilen gearbeitet, der Text ist über Wiederholungen, Pausen und Klänge rhythmisiert, sodass eine spannungsvolle Dynamik erzeugt wird. Das sehnsuchtsvolle Lied von Brentano vermittelt eine weltabgewandte, düstere Stimmung, und in diese düstere Weltferne ist die Theorie zur kommenden Revolution der Arbeiterklasse eingeschoben. Die Sprache des religiös empfindenden Romantikers trifft auf die des sachlich formulierenden Theoretikers. Zusammengehalten wird die Collage vom Impetus der Hoffnung. In beiden Texten schwingt die Voraussicht auf das Kommende mit, es werden Erlösungsmodelle imaginiert. Korsch hofft darauf, dass die Arbeiter die Revolution und eine gerechtere Weltordnung erringen, dazu tönt im Hintergrund der düstere Sound der Todessehnsucht. In dieser Gegenüberstellung kommen die dogmatischen Züge der marxistischen Theorie gut zum Ausdruck. Es werden die Gefahren dieser Utopie, ihre Nähe zu Heilsvorstellungen herausgestellt. Karl Korsch tritt im Stück nur indirekt, durch seine zitierte Abhandlung über die Geschichte des Marxismus, auf. Diese hat Korsch, der wegen seiner Kritik am Stalinismus 1926 aus der KPD ausgeschlossen worden war, bei seinem Aufenthalt in Svendborg verfasst.77 Im Arbeitsjournal vom Februar 1939 urteilt Brecht über Korschs Abhandlung, dass diese zwar im Vergleich zu Lenins Abriss ein ausgezeichnetes Buch, doch etwas zu formalistisch und schematisch geschrieben sei.78 Mit dieser Einführung wird eine ambivalente Haltung zur kommunistischen Ideologie erzeugt. Der Marxismus erhält eine bedrohliche Konnotation, auch der folgende Auftritt von Hanns Eisler wird von einer beunruhigenden Stimmung begleitet. Um seinen Auftritt einzuleiten, wird ein Zitat von Ruth 76 | Trolle 2007, 470. 77 | Korsch 1981, 8. 78 | Siehe Brecht 1994, 328.

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Berlau eingefügt. In diesem entsinnt sie sich: »Am ungeduldigsten wartete Brecht auf Hanns Eisler. Und endlich meldete auch er sich in Dänemark.« 79 Auch erinnert sie sich daran, dass Eisler und Brecht während der Arbeit das Radio laufen ließen und sich Hitler-Reden anhörten. Der Chor befiehlt daraufhin: »Radio an!«, und in Klammern wird vermerkt, dass im Garten bzw. auf der Bühne ein Radio installiert werden soll. Statt des Radios könne auch ein Fernsehapparat angeschlossen werden. Wichtig sei, dass »Hitler-Reden«, »Nazi-Gegröle« oder das Horst Wessel Lied über die Bühne schallen und den Hintergrund für Hanns Eislers Rede liefern, der Anekdoten aus seinem Leben erzählt. Die Einspielungen wecken Erinnerungen an die abgehackte Sprechweise der Faschisten, den Gleichschritt der Marschmusik, den Pathos des Krieges und die in die Propagandamaschine eingelullten Soldaten. Es wirkt befremdlich, wie Eisler anfängt in diesem faschistischen Klangraum charmant zu plaudern und eine Anekdote aus einem Wiener Kaffeehaus zu erzählen. Dieser Klangraum verweist auf Brechts Arbeitsweise: Sein Radio diente ihm als Verbindung zu Deutschland, die Reden Hitlers und Goebbels gaben ihm das Material, aus dem er seine deutschen Satiren und Gedichte wie Wörter, die der Führer nicht hören kann oder Die Sorgen des Kanzlers schuf.80 Der Komponist Hanns Eisler war, als er Brecht in Svendborg besuchte, sein engster Mitarbeiter. Er vertonte sämtliche Stücke und Liedtexte.81 Ihre Zusammenarbeit hatte schon in Berlin mit der Arbeit an den Stücken Die Maßnahme und Die Mutter begonnen. In der Zeit des Exils schufen sie auch Agitationslieder, etwa im Auftrag von Piscator das Einheitsfrontlied, welches hohe Bekanntheit erreichte, und dessen berühmte Verse »Und weil ein Mensch ein Mensch ist« sogar im spanischen Bürgerkrieg gesungen wurden.82 Mit der einfachen Grundmelodie und dem eingängigen Text ist diese Marschmusik für die Massen tauglich und erzeugt ein starkes Gemeinschaftsgefühl. In diesem Lied spiegelt sich die Grundauffassung wider, dass man dem Nationalsozialismus nur mit der Solidarität aller Arbeiterbewegungen Einhalt gebieten könne. Wie ähnlich sich im Grunde Arbeiter- und Kampflieder der Faschisten und Antifaschisten sind, stellt Trolle heraus, indem er die verschiedenen Agitationslieder parallel laufen lässt. Diese Gleichsetzung gemahnt daran, dass beide politischen Lager ähnliche Strategien entwickelten, um die Massen zu steuern bzw. für ihren Kampf einzustimmen. Die Gefahr der Vereinnahmung war Brecht bewusst, die Wirkung der Hymnen widerstrebte seinem Konzept der Verfremdung. Um 79 | Trolle 2007b, 470. 80 | Siehe Brecht 2007, 342. 81 | Siehe Jost 2010, 125f. 82 | Berlau, die an einem internationalen Kongress in Spanien teilgenommen hatte, berichtete, wie das Lied von Verwundeten gesungen wurde und welche Wirkung Melodie und Text auf die Menschen besaß. Siehe Berlau 1987, 47.

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die Wirkung zu kontrastieren, wird die Vertonung von Brechts Gedicht Die Teppichweber von Kujan-Bujak ehren Lenin eingespielt. Das Gedicht handelt von ärmlichen Webern in einer unwirtlichen Gegend des sowjetischen Reiches, die, statt ihre letzten Kopeken für eine Büste Lenins auszugeben, dem Vorschlag eines Genossen folgten und die Stechmücken im Sumpf des Kamelfriedhofs bekämpften. Brecht betont in dem Gedicht, dass die Teppichweber durch dieses Vorgehen, zunächst sich selbst halfen, aber durch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen auch dem sozialistischen System zu Ehren Lenins dienten.83 Die Vertonung des Gedichts wird in das Gemisch von Propagandaliedern der Nationalsozialisten eingespielt. Der Chor tritt dazu als Eisler auf und spricht über die Vertonung des Gedichtes, geht auf den Auf bau und einzelne Takte ein. Die ganze Zeit über muss der Chor gegen die Lautstärke der eingespielten Hitler-Reden ansprechen, bis sich plötzlich einige Mitglieder aus dem Chor lösen und ganz aufgeregt einen neuen Gast ankündigen: (der Chor improvisiert (bewußt) gegen die Hitler-Reden, das Gegröle aus dem Radio/ dem TV-Gerät H.E.s Vertonung von B.B.s ›Die Teppichweber von Kujan-Bulak ehren Lenin‹, bis einige seiner Mitglieder (unter Rufen wie Schnell! Schnell! Licht! Licht! usw.) im Garten (auf der Bühne) Zuschauerbänke/(Scheinwerfer) usw. installieren und den nächsten Gast ankündigen. (Chor:) Schnell! Schnell! Licht! (Chor improvisiert:) Benjamin ist hier. 84

Nach diesem euphorischen Ausspruch, den Brecht in sein Arbeitsjournal notierte, folgt ein Diskurs zwischen den Freunden Brecht und Walter Benjamin. Trolle zitiert abwechselnd aus Benjamins Tagebüchern und Brechts Arbeitsjournal, um einen Dialog, besser gesagt einen Gedanken-Diskurs, entstehen zu lassen. In diesem Wechselspiel zwischen den Zitaten der befreundeten Intellektuellen wird vor allem deren Gegensätzlichkeit herausgestellt. Schon die Charaktere sind grundverschieden. Benjamin, der vier Jahre jünger ist als Brecht, wurde 1892 in Berlin in ein gutbürgerliches, jüdisches Elternhaus geboren. Der Vater finanzierte dem äußerst Sprachbegabten das Studium, seinen Doktor schloss er mit Bestnote ab. Doch statt einer universitären Lauf bahn, wählte er den unsicheren Beruf des freien Literaturkritikers und Übersetzers. Vom universitären Betrieb distanzierte sich der unkonventionelle Denker, seine Habilitationsschrift Ursprung des Trauerspiels war zu seinen Lebzeiten nicht anerkannt – Benjamin galt als Außenseiter im akademischen Umfeld. Seine Schriften wurden postum durch berühmte Fürsprecher wie Hannah Arendt oder Theodor Adorno veröffentlicht. Die Vorbehalte gegenüber Benjamin sind aus heutiger Perspektive unverständlich – seine literaturwissenschaftlichen 83 | Siehe Brecht 2007, 183. 84 | Trolle 2007, 472.

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Arbeiten gelten als progressiv und vorbildlich in der Methodik. Seine Konzeptionen der Passage, des Flaneurs oder des Engels der Geschichte sind Schlüsselbegriffe zeitgenössischer Kulturtheorie, was nicht zuletzt auch in der Konzeption von Trolles ästhetischem Modell des Gehens virulent wird.85 In seinem Wesen trifft künstlerisch-empfindsamer und analytischer-wissenschaftlicher Geist auf spannungsvolle Weise zusammen. Besonders für die Aura von Orten und Kunstwerken war Benjamin empfänglich; wie Hanns Eisler interessierte er sich für moderne französische Literatur, die Brecht aus politischen Gründen ablehnte. In Dänemark arbeitete er an einem Aufsatz über Baudelaires Gedichtband Fleurs du mal. In diesem macht er darauf aufmerksam, dass Baudelaire schon Mitte des 19. Jahrhunderts für einen modernen Leser geschrieben hat. Die Ästhetik der Gedichte sei von den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen des Industriezeitalters bestimmt. Paradigmatisch für diese Zeit sei der Verfall der Aura, bzw. des reinen Kunstwerkes. Um zu zeigen, was er unter der Aura eines Kunstwerkes versteht, geht er in seinen Ausführungen auf unterschiedliche Arten von Wahrnehmung und Erinnerung ein. Er überlegt, wie die Erfahrungswelt des damaligen Lesers des 19. Jahrhunderts war, und bezieht sich dabei auf Henri Bergson und dessen Theorie der freiwilligen bzw. unfreiwilligen Erinnerung. Die unfreiwillige Erinnerung lässt sich anhand Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nachvollziehen, in der Geruch des Gebäcks die Erinnerung auslöst. Die freiwillige Erinnerung hingegen, so zeigt Benjamin anhand Baudelaire, gehe mit der Erfahrung des enttäuschten Blicks einher, die den Betrachter dazu veranlasst, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Nach Benjamin sei durch die enorme technische Entwicklung im 19. Jahrhundert die Zauberkraft der Ferne bzw. die Wahrnehmungsfähigkeit einer Aura verloren gegangen. Seiner Meinung nach lebe der moderne Mensch im Jahrhundert des Auges, in dem die Gegenwart durch die Fotografie festgesetzt werde und mit dem Moment des »Choks« arbeite.86 Über Benjamins Baudelaire-Aufsatz notiert der rationalistische Denker Brecht in sein Journal: »Alles Mystik. Bei einer Haltung gegen Mystik. In solcher Form wird die materialistische Geschichtsauffassung adaptiert! Es ist ziemlich grauenhaft.« 87 Diesen abwertenden, spöttischen Kommentar greift Trolle in seinem Theatertext nicht in der drastischen Weise sondern in sublimierter Form auf. Er gibt Brechts Journaleintrag in gekürzter Form wieder und stellt Brecht dar, wie er Benjamins Aufsatz liest und dabei Sätze wiederholt, um sie zu verstehen: »[…] Er geht von etwas aus, was er Aura nennt, was mit dem Träumen zusammenhängt (den Wachträumen). Wenn man einen Blick auf sich gerichtet fühlt, auch im Rücken erwidert man ihn. Die Erwartung, daß das, was man erblickt, einen selber er85 | Siehe zu Benjamins Biografie Witte 1985, 16f. 86 | Siehe Benjamin 1961, 201-245. 87 | Brecht 1994, 315.

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blickt, verschafft die Aura. […]« 88 Dies wiederholt er mehrmals und probiert dazu Bewegungen aus. Er murmelt vor sich hin: »Der Blick in den Rücken und die Versuche, diesen zu erwidern.« 89 Brechts Irritation über Benjamins Theorie der Aura wird auf diese Weise besonders herausgestellt. Auf der Metaebene ist diese Vorstellung, dass ein Kunstwerk erst unter dem Blick des Betrachters entsteht, auch das Konzept, von dem das Theaterstück ausgeht. Die historischen Figuren werden erst durch den Blick des Autors lebendig, er macht sich die Aura des Erinnerungsortes zunutze. Nach Brechts Improvisationen berichtet der Chor, wie Benjamin sich auf den Weg zu Brechts Haus macht. Der Literaturwissenschaftler war ein regelmäßiger Gast in Svendborg. Er quartierte sich in einer nahe gelegenen Pension ein, von der er zu Fuß zum Haus der Familie Brecht laufen konnte. Der Chor schildert, wie er einen schmalen Weg entlang läuft: »[Er] ist ja schon unterwegs, kommt den Trampelpfad unter dem Schwarzdorngestrüpp hervor […]«90und berichtet, dass Benjamin gerade das Gespräch, das er am Tag zuvor mit Brecht geführt hatte, auf einem Zettel protokolliert habe. Sie sprachen über Franz Kafka. Brecht hält ihn für einen geradezu prophetischen Autor, der »[…] im Grunde nur ein Thema hat, das Staunen von einem Menschen […]«91. Kafka zeige, wie der Mensch auf die sich verändernden Verhältnisse reagiert, die Irritation und Orientierungslosigkeit des modernen Menschen. Besonders die Tiergeschichten hebt er hervor, da man an ihnen menschliches Verhalten studieren könne. Der Chor improvisiert die unterschiedlichen Tiergeschichten, danach wird erneut der lang erwartete Gast nochmals angekündigt. Die Wiederholung wirkt wie eine Endlosschleife und verdeutlicht das lange Warten auf den Gast. Es entspricht der damaligen Situation, als Benjamin ungeduldig in Svendborg erwartet wurde, dieser aber sein Kommen immer wieder aufschob. Der Emigrant wohnte damals in Paris und konnte allein aufgrund seiner prekären Lebenssituation – er lebte von Gelegenheitsarbeiten – die Reise nach Svendborg schwer finanzieren. Die Briefe, die Margarete Steffin an ihn schrieb, zeugen davon, wie sehnsuchtsvoll man ihn in der doch etwas öden Umgebung erwartete.92 Erneut berichtet der Chor, wie Benjamin seinen Weg zu Brecht nimmt. Diesmal geht er nicht zu dem alten Fachwerkhaus, sondern läuft auf einem schmalen Weg, der von Sträuchern umwachsen ist, Richtung Strand. Auf einem nahegelegenen Steg an der Ostsee wartet Brecht bereits auf ihn. Der Chor gibt nicht nur sehr exakt die Bewegungen, sondern auch die Gedanken Benjamins wider: 88 | Trolle 2007b, 472. 89 | Ebd. 90 | Ebd. 91 | Ebd. 92 | Siehe Steffin 1999, 227f.

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Grenzgänger des DDR-Theaters O, wie es da unter seinen Schuhsohlen knirscht, da er näher ans Bewegte tritt, da im Wasser etwas sehen will, doch gleich wirft er einen letzten Blick aufs Wasser, dreht sich jetzt um, kommt nun landeinwärts, und gleich sehen wir dort, wo die Hecke nicht so dicht gewachsen ist, wo sie einige Lücken aufzuweisen hat, ihn vom Wasser näher kommen, gleich gibt auch er durch ein Handzeichen zu verstehen, er hat durchaus gemerkt, daß wir hier auf ihn warten, auf ihn, der gestern einem Freund erklärte: Ich kenne in der Literatur keine Stelle; die im selben Maß Kafkaschen Gestus aufweist, als gewisse Bekenntnisse eines Physikers (improvisiert Clownnummer): Für mich, wenn ich vor einer Türschwelle stehe, ein Zimmer zu betreten, ist das wahrhaftig ein äußerst kompliziertes Unternehmen. Denn erstens muß ich dabei ja ankämpfen gegen die Atmosphäre, die mit einer Kraft von einem Kilogramm auf jeden Quadratzentimeter meines Körpers drückt […] Und denke bitte auch daran, dieses schwierige Unternehmen mußt du zustande bringen, während du mit dem Kopf nach außen in den Weltraum an einem kugelförmigen Planeten hängst[…] 93

Präzise werden die Bewegungen im Raum nacherzählt, und die Figur, welche man schon durch die Hecke erkennen kann, wird verortet. Der beobachtete Benjamin kann seinerseits durch die lichte Stelle ›uns‹ bzw. den Chor sehen und grüßt ihn mit einem Handzeichen. In einer Rückblende geht der Chor nochmals auf sein Gespräch mit Brecht am gestrigen Tag und auf ihre Diskussion über Kafka ein. In dieser findet Benjamin überraschende Parallelen zwischen Kafkas Gestus und gewissen Bekenntnissen eines Physikers, womit nur Galileo Galilei gemeint sein kann, da Brecht gerade an dem Stück über Galilei arbeitete. Benjamin legt Brecht dar, worin die Parallelen bestehen, erklärt ausführlich, welche Wirkung die Schwerkraft auf ihn selbst beim Betreten eines Raumes ausübe und welches Gefühl dann in ihm entstehe. Seine Ausführungen nehmen groteske Züge an, die Vorstellung von Benjamin, der beim Betreten des Zimmers zu Boden gedrückt wird und gleichzeitig darüber philosophiert, ist komisch. In dieser absurden Szene wird weniger der Physiker Galilei als Benjamins Konzept der Aura parodiert. Auch lassen sich intertextuelle Bezüge zu Benjamins Erfahrungsprotokollen zum Haschischkonsum ziehen, die er während eines Aufenthaltes in Marseille schrieb. Akribisch hat er dort seine Körpererfahrung und Sinneswahrnehmung während des Rauschzustandes aufgezeichnet. Er versuchte zu ermitteln, wie sich Raum- und Zeiterfahrung, der Blick auf die Welt, gerade auch im Hinblick auf die verwahrlosten Seiten von Marseille, veränderte. Er entspannte sich und merkte, dass er die soziale Hässlichkeit ohne Angst wahrnehmen konnte. »Der Raum kann sich weiten, der Boden abschüssig werden, atmosphärische Sensationen treten auf: Dunst, Undurchsichtigkeit, Schwere der Luft […].«94 Diese Wahrnehmungsstudien des 93 | Trolle 2007, 473. 94 | Benjamin 1961, 344.

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Raumes gehen mit kafkaesken Erfahrungen einher. Diese Erfahrungen in Bezug zu Galileis Studien zu stellen, wirkt befremdlich. Aus dieser Diskrepanz zieht die Parodie von Benjamin seinen komischen Effekt; sie funktioniert auf einem niedrigen Niveau, stellt zwei vollkommen unterschiedliche Dinge, Benjamins Empfindsamkeit für den Raum und Galileis Weltbild, in einen Zusammenhang. Nach der Rückblende beschreibt der Chor, wie Benjamin erst noch ans Meer geht und auf dem nassen Steg beinahe auf Möwenexkrementen ausrutscht. Anschließend geht er zurück zum Garten und bemerkt, als er durch das Gartentor geht, seine Beobachter und wünscht »uns« (womit der Chor aber auch der Zuschauer gemeint sein kann) einen »Guten Abend«. Auch die Bewegungsbeschreibung entbehrt nicht einer gewissen Komik, Benjamin wird weniger als der berühmte Denker denn als etwas ungelenker Mensch wahrgenommen.95 Diese parodierende Darstellungsstrategie findet sich auch bei den anderen Intellektuellen. So wird Korschs Theorie durch Brentano konterkariert, Eisler durch die Stimme Hitlers und die Propagandalieder. Die Annäherung an diese Personen der Geschichte erfolgt von einem kritisch-reflexiven Standpunkt aus. Der leicht satirische Blick macht die Szenerie, die vergeistigten Gespräche, lebendig und erfahrbar und bringt sie dem Leser näher. Das von Trolle inszenierte Wechselspiel zwischen Brecht und Benjamin endet abrupt mit dem Verweis auf die ernste, nicht hinnehmbare Situation in Deutschland. Trolle zitiert aus Benjamins Tagebucheintragungen, in denen er einen emotionalen Ausbruch Brechts beschreibt. Der sonst so nüchterne Brecht sei richtig aufbrausend geworden, als er über die Publikation der Kriegsfibel sprach. Er sagte Benjamin, dass die Kinderlieder unbedingt in die Kriegsfibel aufgenommen werden müssten.96 Aufgrund des enormen, allumfassenden Machtanspruches der Nationalsozialisten dürften die Kinder auf keinen Fall ausgelassen werden. »Sie haben nichts Kleines im Sinn. Sie planen auf dreißigtausend Jahre hinaus. Ungeheure Verbrechen.«97 Dieser Wutausbruch bildet den Abschluss des Gespräches, im Anschluss improvisiert der Chor die Kinderballaden aus der Kriegsfibel. Trolle erinnert hier an Brechts Kriegsfibel, die 1949 in der DDR herausgegeben wurde. Sie stellt eine Sammlung von Fotoepigrammen und kommentierten Zeitungsausschnitten dar, die als Art Text-Bild-Kunst den Zweiten Weltkrieg dokumentieren. Noch 1955 setzte sich Brecht mit Nachdruck für eine Druckgenehmigung der Fibel in Westdeutschland ein.98

95 | Siehe Trolle 2007b, 475. 96 | Siehe Benjamin 1985, 539. 97 | Trolle 2007b, 475. 98 | Die Kriegsfibel erschien 1955 im Eulenspiegelverlag.

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IV Auftritt Steffins Familie Mit dieser dunklen Vorahnung des drohenden Weltkrieges und der Vorhersage des Schrecklichen endet der Wechselgesang zwischen Benjamin und Brecht. Eine Dame aus dem Chor erhebt Einspruch: »Und das war schon alles?«99, und kündigt eine »neue Nummer« Besuch aus Deutschland I an. Nach den berühmten Emigranten folgen mit Steffins Familie nun weniger berühmte Besucher aus Deutschland. Erst wird Steffins Schwester, die den verniedlichenden Namen Hoppchen trägt, dann ihre Eltern auftreten. Die zitierten Erinnerungstexte geben auch einen Eindruck von dem Leben in Nazideutschland wider. Margarete Steffin wird in den Texten ganz familiär Grete genannt – dies war auch der Kosename, den Brecht ihr gab. Unter soziologischen Gesichtspunkten unterscheiden sich diese Besucher stark von dem künstlerisch-intellektuellen Milieu, das sich in Svendborg um Brecht sammelte. Statt zur bürgerlichen Schicht gehören sie zum Berliner Arbeitermilieu, besonders der Vater gibt sich betont bildungsfern. Die stärkste Verbindung zwischen diesen beiden sozialen Gruppen liegt in der politischen Anschauung und ihrem sozialdemokratischen Engagement. Gretes Eltern entsprechen genau dem Milieu, das Brecht mit seinen Theaterstücken und Gedichten erreichen will. Insofern stehen die Besuche, ihr Verhältnis und Verständnis von Brechts damals aktuellem Werk im Vordergrund. Beim ersten Besuch gibt Brecht Gretes Schwester seinen gerade fertig gestellten Roman Die Geschäfte des Julius Cäsar zu lesen, der als Parabel zu den aktuellen politischen Vorgängen in Europa und vor allem zur Innenpolitik Nazideutschlands konzipiert ist. Um die Mechanismen und Ziele dieser in Deutschland installierten Diktatur zu verstehen, beschäftigte sich Brecht schon seit längerer Zeit mit dem römischen Imperium unter Julius Cäsar. In dem Roman werden Zusammenhänge zwischen Kriegswirtschaft, Arbeitslosigkeit und Kapital offengelegt. Diese von wirtschaftlichen Interessen geleiteten imperialistischen Kriege des römischen Reiches können nach Brecht als Parabel für die Vorgänge in Deutschland gelesen werden und die enge Verflechtung von wirtschaftlichen und politischen Interessen sowie den ausbeutenden Charakter des kapitalistischen Systems offenlegen. Als Gretes Schwester zu Besuch kam, hatte Brecht einen Teil des Romans schon geschrieben, doch war das Projekt ins Stocken geraten und er dringend auf Rückmeldung angewiesen. Ihr Besuch wird mit einem Auszug aus Brechts Arbeitsjournal angekündigt: »Jetzt bekomme ich Zuzug, Gretes Schwester, Frau eines Metallarbeiters, ist aus Deutschland hier. Sie liest an einem einzigen Abend das zweite Buch und findet es hochinteressant. Ausgefragt von Grete zeigt sie, dass sie alles verstanden hat.«100 Anschließend wird Hoppchen mit den Worten ihrer Schwester beschrieben und 99 | Trolle 2007b, 475. 100 | Ebd.

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beurteilt. Trolle zitiert dabei fast vollständig den Text Paradestück aus Steffins Erinnerungsbuch Konfutse versteht nichts von Frauen. In kecker, derber Berliner Mundart erzählt sie, dass ihre Familie die jüngere Schwester immer für »ein wenig doof«101 gehalten habe, und alle ziemlich überrascht waren, als sie so viel Eigensinn entwickelte. Ohne es jemandem mitzuteilen, verschwand sie plötzlich von zu Hause und zog mit ihrem Geliebten zusammen, um mit ihm in wilder Ehe zu leben. Die Familie ist verblüfft von so viel Eigensinn und Eigenständigkeit, galt sie doch als viel zu »schüchtern und lebensfremd«102, um sich von der Familie so abzukapseln. Nachdem der Charakter von Gretes Schwester auf diese Weise beschrieben wurde, tritt eine Frau aus dem Chor selbst als Hoppchen auf, zitiert aus Brechts Roman und äußert ihre Verwunderung: Sie könne nicht begreifen, wie jemand den Text nicht verstehen könne. Mit Inbrunst wiederholt sie den Satz: »Was gibt es denn daran nicht zu verstehen?«103 Ein anderes Mitglied des Frauenchores kündigt nach Hoppchens Abtritt die Nummer Besuch aus Deutschland II an. Wieder zitiert Trolle aus Steffins Buch, in welchem sie humorvoll den einwöchigen Aufenthalt ihrer Eltern schildert und berichtet, wie ihr Vater sichtlich abwehrend und skeptisch auf Brechts Texte reagiert. Der Vater wird von ihr als ein etwas grobschlächtiger Mann dargestellt, der auf dem Bau arbeitet, in derbem Berliner Dialekt spricht, gerne Bier trinkt und im Gegensatz zu Gretes Mutter der schönen Literatur fern steht. Als ihre Mutter ihm vorschlägt, die Svendborger Gedichte zu lesen, sagt er zu Grete: »[…] ein Mann müsse schön dumm sein, wenn er Gedichte lesen würde.«104 Außerdem fügt er hinzu, dass, wenn er schon so dumm sei, er es wenigstens heimlich tun solle, um seiner Frau die Peinlichkeit zu ersparen. Statt der Gedichte las er auf die Bitte seiner Frau hin Brechts gerade fertig gestelltes Stück Furcht und Elend im Dritten Reich. Nach dieser Lektüre änderte er seine Meinung über den ›Herrn Brecht‹ radikal. Die Szenerie, die dort von Nazideutschland entworfen wird, gefällt dem Berliner außerordentlich. Er empfindet die Szenen aus Deutschland als authentisch. Brecht hat trotz der Entfernung die Gestik der Diktatur einzufangen vermocht, in der sich die Realität und die Angst der Bevölkerung spiegeln. In den kurzen Szenen zeigt sich, wie die Gestapo und die NSDAP es verstehen, die Solidarität der Arbeiter zu unterwandern. Der Vater ist regelrecht bestürzt von der hohen Wahrhaftigkeit des Zeitstücks und ruft aus: »Wat da der Brecht jeschrieben hat, det stimmt allet!«105 Nach dem Theaterstück liest er auch die Gedichtsammlungen und redet mit Brecht darüber. Als Gretes Vater abreist, maßregelt er seine Tochter, 101 | Ebd. 102 | Trolle 2007b, 477. 103 | Trolle 2007b, 479. 104 | Ebd. 105 | Trolle 2007b, 480.

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sie solle die Manuskripte von »Herrn Brecht« ordentlich korrigieren. Im Anschluss an ihre Erzählung tritt ein Chor von Männern mit dicken Bierbäuchen auf, die wie eine Vervielfältigung ihres Vaters wirken. Diese zitieren aus den Svendborger Gedichten und rufen Sätze, die Gretes Vater an seine Tochter richtete: »Een richtig schönes Buch hätt dett werden können! Det wird jetzt alles nochmal abjetippt, haste verstanden!«106 Im Ganzen dokumentieren diese Besuche, wie Menschen aus der Arbeiterschicht auf Brechts Werk reagieren und zeigen auch die erwünschte Wirkung der Literatur auf. Nach Auskunft von Ruth Berlau drängte die Arbeitertochter Margarete Steffin Brecht immer so einfach zu schreiben, dass auch Arbeiter ihn verstehen könnten.107 Ähnlich wie in dem Einschub von Martin Andersen Nexös Kindheitserinnerungen wird mit den Familienbesuchen die Perspektive des Intellektuellen durch die des Arbeiters erweitert und gebrochen. Mit den Besuchen wird auf die zeitgeschichtliche Situation im Berlin der Dreißiger Jahre verwiesen – eine Zeit, wo »jedes Mädchen froh ist, wenn es einen sicher hat«108, da die Töchter aufgrund von Geldmangel bis zur Hochzeit zu Hause wohnten. In den Geschichten lässt sich die Lebensrealität der Klassengesellschaft erahnen, und auch die Eigenständigkeit und Emanzipation von Margarete Steffin wird deutlich. Auch dient diese Arbeiterperspektive dazu, innerhalb des Textes eine Spannung zwischen den verschiedenen Milieus aufzubauen. Es ist eine Abwandlung der antagonistischen Figurenkonzeption des konventionellen Dramas, wenn Trolle in dieser Textmontage die unterschiedlichen Sprachen von Arbeitern und linken Intellektuellen aufeinanderprallen lässt. Auch verdichtet sich durch diese Textmontage der zeitgeschichtliche Bezugspunkt, verweisen diese Erinnerungen doch auf die Grundanliegen des Klassenkampfes und auch auf Brechts eigene Intention, Teil dieser politischengagierten Literatur zu sein. Seine Parteinahme und sein Eintreten für die Sache des Kommunismus nahmen ihren Ausgangspunkt im Berlin der späten 1920er Jahre, wo in den Straßenkämpfen im Blutmai 1929 Demonstranten der kommunistischen Arbeiterbewegung von Polizisten niedergeschossen und in traditionellen Arbeitervierteln wie Wedding oder Neukölln zeitweise der Ausnahmezustand ausgerufen wurde.109

V Auftritt Brecht: Ein Vertriebener Nach den zwei Besuchen, die einen fremden Blick in die Brecht-Welt hineinbringen, fragt der Chor wieder: »War das alles?« Worauf die »Heldinnen des Nachmittages« Ruth Berlau, Margarete Steffin und Helene Weigel erscheinen, 106 | Ebd. 107 | Siehe Berlau 1985, 70. 108 | Trolle 2007b, 477. 109 | Siehe Hobsbawm 2003, 83f.

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die sich während der Männerszenen im Garten versteckt hielten und das Geschehen aus der Distanz beobachtet haben. Gemeinsam buhlen sie um die Aufmerksamkeit Brechts. In dieser Dreierkonstellation stellen sich Bezüge zur griechischen Mythologie her, erinnern sie doch an die drei rivalisierenden Göttinnen Venus, Athene und Helena, die um den goldenen Apfel zanken. Während sie aus ihrem Liebesleben berichten, geraten sie »[…] schnell in einen freundlichen Wettstreit, denn jede von ihnen möchte gern dieselbe Geschichte erzählen.«110 Jede von ihnen möchte erzählen, wie sie mit dem Geliebten zusammen in den Himmel blickte und er das Sternenbild der Kassiopeia als ihren gemeinsamen Fixpunkt auswählte. Diese Erinnerung bringt die drei Frauen in sentimentale Stimmung und gemeinsam beginnen sie Gedichte aus der Steffinschen Sammlung und den Svendborger Gedichten zu murmeln bzw. zu flüstern. Abrupt werden die vom Chor als Träumerinnen benannten Frauen aus ihrer Erinnerung herausgerissen und mit Wasser bespritzt. Der Chor ruft die berühmten trotzigen Brecht-Worte aus dem frühen Stück Trommeln in der Nacht: »Glotzt nicht so romantisch!«111, übernimmt die weitere Handlung und zeigt die Möglichkeiten auf, »die so ein Garten (eine Bühne) bietet.«112 Er lenkt den Blick auf Brecht, rekonstruiert dessen Alltag bis ins kleinste Detail und erzählt, wie er morgens aufsteht, im Garten umhergeht oder am Schreibtisch sitzt. Die einzelnen Bewegungen werden im Sekundenstil nachempfunden und Brecht dabei sehr genau in der Landschaft verortet. In der prosaischen Beschreibung sind Zitate aus Brechts Arbeitsjournal eingefügt, sodass die Raumund Landschaftsbeschreibung durch die nüchternen Gedanken Brechts kontrastiert wird. (Chor demonstriert:) Er, bei über 25 Grad im Schatten unter einem Kirschbaum stehend und durch eine Lücke in der Hecke am Gartenzaun nach drüben zum Wasser kuckend, hatte ganz andere Gedanken, als diesem fernen Glitzern hinterherzuträumen. (demonstriert es) Dieser… (nennt Namen) wird von dem Problem des ideologischen Verfalls magisch angezogen. Die Marxschen Kategorien werden da von einem Kantianer ad absurdum geführt, indem sie nicht widerlegt, sondern angewandt werden […] (Chor:) Er […] schwingt seine Beine unter der Bettdecke hervor, stellt seine Füße vor dem Bett da unten auf den Dielen ab, reibt sich die Augen, kuckt auf die Dielen da unten vor dem Bett, wirft dann einen Blick aus dem Fenster nach draußen, sieht Bäume, dann weiter weg das Wasser und noch weiter weg, im Frühdunst kaum zu erkennen, den Streifen Küstenwald am gegenüberliegenden Ufer des Sunds und denkt (Chor demonstriert:) Wir Deutsche haben einen Materialismus ohne Sinnlichkeit. Der Geist denkt bei uns immer über den Geist nach. Die Körper und Gemälde bleiben reglos. In den deutschen Liedern 110 | Trolle 2007b, 480. 111 | Trolle 2007 b, 481. 112 | Ebd.

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Grenzgänger des DDR-Theaters über den Wein ist die Rede von lauter lustigen geistigen Wirkungen. In die Liebe bringen wir etwas Gemütliches hinein.113

In diesen Szenen wird von Brecht das Bild des abgeschirmten Künstlers entworfen. Er wird isoliert dargestellt, ins Selbstgespräch vertieft, spaziert im Garten umher oder sitzt an seinem Schreibtisch. Es entsteht eine Antinomie zwischen der Gedankenwelt des Künstlers und der ihn umgebenden Außenwelt. Im Unterschied zum aristotelischen Drama, das auf dem Dialog beruht und sich in der Sphäre des Dazwischen (Szondi) abspielt, befindet sich die Künstlerfigur nie im direkten Gespräch mit einer anderen Figur. Wie in dem Gedicht An die Nachgeborenen, in dem Brecht beschwört, dass sich jedes Gespräch über Bäume angesichts der aktuellen Finsternis verbiete114, nimmt die Figur von der Landschaft, dem Kirschbaum und dem Meer mit dem glitzernden Wasser keine Notiz. Seine Gedanken schweifen ab, kreisen um die Situation in Deutschland. Brecht setzte sich in seinem berühmten Gedicht Über die Bezeichnung Emigranten (1937) mit seiner Lebenssituation auseinander, wenn er schreibt: Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten. Daß heißt doch Auswanderer. Aber wir Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß Wählend ein anderes Land. Wanderten wir doch auch nicht Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer. Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.115

Ähnlich wie in Matusches Van Gogh rückt auch zum Schluss von Trolles Text die Erfahrung des Exils in den Vordergrund, womit die Selbstverortung des Künstlers vor dem Hintergrund kultureller Fremdheit diskutiert wird. Während Matusches van Gogh sich im Gespräch mit sich selbst verliert, in tranceartige Zustände verfällt und sich die Subjektivität steigert, ist bei Trolle der wahrgenommene Raum seltsam zweigeteilt. Auf der einen Seite die exakte Beschreibung der Bewegung im Raum, die detaillierte Verortung der Figur in der Landschaft, auf der anderen Seite das Abschweifen von diesem Exilort in die Ferne, die Gedanken an die Heimat. Es legt sich eine Distanz zwischen Ort des Denkens und direkter Umgebung, die zuvor beschriebene Dialektik zwischen Nähe und Ferne führt sich in dieser Verortung des Künstlers fort. Diese Konstruktion korrespondiert mit Inhalten und Darstellungsformen der Exilliteratur – man denke an Heinrich Heine berühmten Nachtgedanken oder an zeitgenössische Flüchtlingsliteratur, z.B. Jenny Erpenbecks Roman Gehen113 | Trolle 2007b, 481f. 114 | Siehe Brecht 1990, 323. 115 | Brecht 1961, 137.

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Ging-Gegangen, in der das Phänomen der anwesenden Abwesenheit und die existentielle Bedeutung des Übergangs und der »Flüchtigkeit« in Zusammenhang mit Exil und Emigration diskutiert wird. Die Lebensbedingungen des Exils und die spezielle Form der Heimatlosigkeit waren zu Brechts Exilzeit ein brisantes politisches Thema – in einem Statement zur politischen Lage der aus Europa Geflüchteten konstatierte Hannah Arendt in dem Aufsatz We Refugees (1943), dass »Heimat« und nationale Identität vor dem Hintergrund des Antisemitismus ein gefährliches Konstrukt darstellen.116 Dem Modell der Assimilation stellt sie in ihrem Text das des »bewußte[n] Parias« entgegen, der sich seiner unsicheren, staatenlosen Lage bewusst ist und seine jüdische Identität hervorhebt.117 Auf der Rezeptionsseite führt Trolles Herangehensweise an Brecht zu dem Phänomen, dass je mehr Informationen der Leser über Brecht erhält, desto mehr erscheint er als Schimäre. Er begibt sich in einen Raum der Verunsicherung, in den der Transdifferenz. Durch Trolles Methode und den stetigen Wechsel der Kommunikationssysteme steht der Vorgang des Staunens im Mittelpunkt dieser Annäherung: Ungewohnte Perspektivbildungen und Widersprüche in diesem politischen Leben und Arbeiten sind herausgestellt. Ähnlich wie Brecht von dieser Außenwelt abgeschirmt ist, nie direkt zum Zuschauer/ Leser spricht, ist es dem Erzähler unmöglich ihn ganz zu erfassen. Gerade als er versucht, sich ihm noch weiter zu nähern, bricht das Stück mit dem Hinweis auf die Urheberrechte ab. Brecht bleibt, so könnte man es metaphorisch ausdrücken, im Dunkeln – solange er durch die Erbengemeinschaft so streng geschützt wird. Dieser Verweis auf die Urheberrechte lässt sich auch als Anspielung auf das schwierige Verhältnis zu den Brecht-Erben und der Situation des Berliner Ensembles verstehen. In den 1990er Jahren wurde von den wechselnden Intendanten wie Heiner Müller, Stephan Suschke oder Klaus Peymann kritisiert, dass der »Spielraum« mit Brecht umzugehen, sehr begrenzt sei.118 Auch Detlev Bauer stellt in seinen Ausführungen zur Brecht-Rezeption – auch mit Blick auf das Brecht-Jubiläum 1998 – die rigide Rechtevergabe der Brecht-Erben heraus, die wenig Raum für neue Lesarten und Impulse lasse.119 Bestätigt wird diese Kritik auch in einem aktuellen Verbotsverfahren gegen Frank Castorfs Baal-Inszenierung am Münchner Residenztheater. Dieser ironisiert die Situation des Verbots und verweist im Gespräch mit Peter Kümmel darauf, dass Brecht selbst sehr »lax« mit dem Urheberrecht umgegangen ist: »Ich glaube nicht, dass er sein Werk unter so eine Glasglocke stellen wollte.«120 116 | Siehe Arendt 1999, 16f. 117 | Arendt 1999, 20. 118 | Siehe Matussek 1997. 119 | Siehe Bauer 1999, 51. 120 | Siehe Kümmel 2015.

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Trolle verweist also in dieser Auseinandersetzung mit Brecht ausdrücklich auf die aktuellen Produktionsbedingungen. Diese Regulierung und Strenge mit der Brecht von seinen Erben zu einem Klassiker gemacht wird, der er nie werden wollte und dem seine eigene Praxis widerspricht, dämmt die künstlerische Weiterentwicklung und damit die Möglichkeiten des Theaters ein. Die Chorformationen brechen auseinander, der Männerchor traktiert sich gegenseitig, auch der Frauenchor zerfällt in Einzelstimmen. In dieses Durcheinander stürmen die Bühnenarbeiter und Inspizienten, der Chor wird vertrieben, und auch der Erzähler muss sich von dem Ort entfernen. Wie zu Beginn des Stücks die Ankunft des Erzählers, wird nun auch sein Rückzug sichtbar gemacht. (Chor improvisiert:) auch für dich »der auf der Stufe der Rolltreppe steht und nun von der Treppe unumkehrbar auf den Bahnsteig des Bahnhofes…geschoben wird«, bzw. »er am äußersten Ende der Straßenbahnhaltestelle steht und dorthin kuckt, wo auf den Gleisen unter den Platanen endlich die Straßenbahn näherkommen soll«, bzw. »der nun ein paar Augenblicke Ruhe hat, seinen Stuhl vom PC wegschiebt und jetzt seinen Blick durch das Fenster nach draußen richtet.«121

Trolle macht verschiedene Angebote, wie sich der Erzähler alias der Autor von seinem eigenen Stück, dem Chor und den Erinnerungen lösen und von der eigenen Fiktion entfernen kann. Zunächst entfernt er sich vom dänischen Erinnerungsort, indem er zurück zum Bahnhof geht und die Rolltreppe hochfährt. Dann entfernt er sich von dem Schreibprozess, indem er sich von seinem Computer entfernt und sich zurücklehnt. In dieser Szene wird die Künstlerfigur verdoppelt: einerseits wird der historische Künstler Brecht im Exil, andererseits der Künstler Trolle bei der Erarbeitung dieses Theatertextes gezeigt. Am Ende bricht die hochreflexive Struktur in sich zusammen und gerät außer Kontrolle. Inspizienten melden sich zu Wort, ermahnen daran, dass Brecht immer noch geschützt sei und vertreiben den Chor von der Bühne bzw. aus dem Garten. Der Autor wird auch aus dem Garten vertrieben, tritt den Rückweg an, muss seine »[…] Träumerei mit der Realität«122 beenden. Zusätzlich lässt Trolle Hunde bellen, die Polizei kommen und vom Inspizienten den Eisernen Vorhang zu Boden fallen. Diese Szenerie evoziert Assoziationen zur ehemaligen Ost-West-Grenze und spielt auf die Vereinnahmung Brechts als Aushängeschild der DDR an. In diesem Schluss wird Brecht mit der ehemaligen DDR in Verbindung gesetzt und an eine geschichtliche Epoche erinnert, in der der Begriff des Klassenkampfes für die Rezeption von Brecht noch relevant war.

121 | Trolle 2007b, 453. 122 | Ebd.

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Politisierte Erinnerung – oder Erinnerung an einen politischen Dichter? Inwiefern ist Trolles Stück noch als Künstlerstück zu begreifen? Inwiefern wird auch hier der Konflikt zwischen Leben und Kunst ausgefochten? Trotz der Diskrepanz, die dieser Theatertext zum klassischen Künstlerdrama einnimmt, gehört er in dem Sinn zum Genre, als dass das Leben eines Künstlers zum Gegenstand erhoben wird. Ähnlich wie Matusches Van Gogh behandelt er die Topik des verfemten Künstlers. Doch während Matusche in Form eines Stationendramas das Leben des Malers in einzelnen Szenen darstellt, ihn im sozialen Feld verortet und die gesellschaftlichen Bedingungen herausstellt, lässt Trolle seinen Künstler nur indirekt, als Zitat, in Erscheinung treten. Matusches Künstler dient als Projektionsfigur, auf ihn lassen sich die Sehnsüchte des nach Freiheit strebenden Subjekts projizieren – er ist als antibürgerliche Figur konzipiert, die mit dem Pathos des Ausgegrenzten romantisiert wird. Er verkörpert die Verwirklichung des humanistischen Ideals eines ganzheitlichen Subjekts, in den szenischen Bildern kommt der seelischen Zustand der Entfremdung zum Ausdruck und eine subjektive Erfahrungswelt wird in die Realität integriert. Auch in Trolles Künstlerstück wird auf der Suche nach der Künstler-Identität der Erfahrungsraum erweitert: Die Begehung des Ortes regt die Phantasie des »Suchenden« an und bringt ihn zum Tagträumen. In den freigesetzten Phantasien drückt sich der subjektive Zugang zum Künstlervorbild aus, auf den sentimentale, erotische und abenteuerliche Geschichten projiziert werden. In dieser Träumerei vervielfältigen sich die Stimmen und Perspektivbildungen und es entfaltet sich ein polyphoner Erinnerungsraum. Dieser zeigt, dass das Konzept des (Künstler-)Individuums und des Werkes eine Illusion darstellt und ersetzt das bürgerliche Künstlerbild durch das der Produktions-Gemeinschaft bzw. der Kollektivarbeit, inder das Kunstwerk im Prozess und durch die Mitarbeit vieler Individuen entsteht. Obgleich durch die gewählte postdramatische Form die Idee einer Künstleridentität dekonstruiert und durch eine perspektivische Vielfalt und Stimmenpluralität ersetzt wird, ist der Grundkonflikt des klassischen Künstlerdramas nicht aufgegeben. Zwar ist in dem Text kein Künstlerindividuum im Sinne eines »Genies« oder »Visionärs« dargestellt, der nach Autonomie strebt und dadurch mit der Gesellschaft in Konflikt gerät, doch wird auch in diesem Modell des Gehens über das Verhältnis von Kunst und Leben nachgedacht und über die Möglichkeiten reflektiert, ein künstlerisches Programm zu realisieren. Im Grunde geht es ja im politischen Theater von Brecht gerade um diese Frage der Vereinbarkeit von Kunst und Leben: Wie dem Zuschauer begreiflich machen, dass die auf der Bühne gespiegelten Konflikte ihn angehen bzw. sein eigenes Leben beeinflussen? Da dies eben nicht mehr auf der individuellen Ebene spielt, ist auch das Künstlerstück von Trolle überindividuell angelegt

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und kann mit der Kategorie des autonomen Künstlers nicht mehr bemessen werden. Wie in Brechts Theaterentwurf werden auch in Trolles Theatertext gesellschaftliche Dynamiken aufgezeigt, mit dem Ziel, die in der Gesellschaft praktizierten Erinnerungsmuster zu hinterfragen und andere Wahrnehmungen anzuregen. Der Autor entwirft dazu diskursive Erinnerungsräume zu der Theaterarbeit Brechts und überantwortet diese – in einem sehr assoziativen, fragmentarischen Zustand – dem Rezipienten. Wie Brecht zielt Trolle mit diesem offenen Verfahren auf einen denkenden, reflektierenden Zuschauer bzw. Leser und vertraut auf die »produktiven Rezeptionsprozesse«123, um Sinn zu stiften und ein Bewusstsein für die Problematik herauszubilden. Es geht bei diesem Verfahren also nicht darum, ein einheitliches Künstlerbild zu stiften bzw. zu ergründen, sondern, möglichst breitgefächert, Diskurse und Denkräume zu Brecht zu evozieren. Dabei adaptiert Trolle postmoderne Wahrnehmungsweisen, die der digitalen Informationstechnologie bzw. dem Überangebot an Informationen entsprechen, die durch Suchmaschinen generiert werden und zunächst einer zufälligen Informationsaneignung gleichkommen. Trolles Künstlerstück lässt sich unter Rekurs auf Birkners Studie zum Künstlerdrama in den literaturgeschichtlichen Kontext einordnen. Birkner hat gezeigt, wie sich das Bild vom Künstler und die Ästhetik der Künstlerstücke im Laufe des 20. Jahrhunderts wandelten. Stand im klassischen Künstlerdrama noch das Einzelschicksal, die Tragik des unangepassten, verkannten Künstlers im Mittelpunkt, setzten sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – auch in der Tradition von Brechts Baal – Künstlerdramen durch, die diesen Künstlerbegriff dekonstruierten und die Machtverhältnisse im Kulturbetrieb offenlegten. Diese literarische Entwicklung war Folge eines veränderten Kunstbegriffs, in dem der Genie-Begriff stark hinterfragt, Kunst entsakralisiert und als Ware definiert wurde. Dadurch nahm man dem Künstler auch das Potential zur tragischen Figur oder zur Projektionsfläche romantischer Vorstellungen. Der tragische Grundkonflikt wie er im Tasso ausgetragen wird – zwischen Freiheit der Kunst und materiellen Bedingungen – wird in den postdramatischen Stücken in sublimierter Form ausgetragen. Diese Entwicklung zeigte sich auch in der Skandal auslösenden Tasso-Inszenierung von Peter Stein am Bremer Theater 1969. In dieser werden die gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere die Abhängigkeit des Dichters Tasso von der Gunst des Hofes und der Mäzenin herausgestellt.124 Die Inszenierung steht im Kontext der 68er-Bewegung, in der verstärkt über die Rolle des Künstlers und dessen politischen Möglichkeiten nachgedacht wurde. Statt des verfemten oder verkannten Künstlers steht nun meist ein gerissener bzw. politische Künstler auf der Bühne, der als Medienästhet auftritt und Strategien entwickelt, sich auf dem kulturellen Feld zu posi123 | Siehe Fischer-Lichte 1993, 372. 124 | Zur Tasso-Inszenierung und politischem Theater siehe Marschall 2010, 247.

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tionieren. Hierbei werden die Machtverhältnisse und Strukturen des Feldes reflektiert, Identitätskonzepte und damit die Möglichkeit der Autonomie des Künstlers hinterfragt.125 Als Tribut zu Brechts frühem Dramenwerk konzipierte Albert Ostermaier, ebenfalls zum hundertsten Brecht-Jubiläum das Stück The making of b-movie. Ähnlich wie Trolle nutzt auch Ostermaier die Strategie Spiel im Spiel, um ein ambivalentes, unstetes Bild des Künstlers herzustellen. Die eigentliche Handlung wird in einen filmischen Rahmen gesetzt, auf der Bühne ist ein Filmset aufgebaut. Der Zuschauer beobachtet ein Kamerateam dabei, wie es über ein Theaterstück, das von einem Künstler namens Silber handelt, einen Film dreht. Der Dramentext selbst ist konventionell geschrieben, er handelt von dem gerissenen Künstler Silber, der seinen Freund Andre statt seiner selbst als Künstler ausweist und ihm die Identität eines Söldners aus Afrika zuschreibt. Die Kunstszene ist begeistert von diesem Exoten und vereinnahmt ihn schnell. Als am Ende der wirkliche Künstler auftritt, wird dieser ignoriert bzw. seine Identität nicht anerkannt. Ostermaier diskutiert unter Rekurs auf Brechts Künstlerstück Baal die Frage, wie es der Künstler in der heutigen Medienwelt es schaffen könnte, eigenständig und in Ansätzen zumindest authentisch zu bleiben.126 Abgesehen von der Frage nach der Künstlertopik und der Position im künstlerischen Feld, lässt sich zur Einordnung des Stücks die Studie von Uwe Japp heranziehen. In seiner Geschichte des Künstlerdramas im 20. Jahrhundert stellt dieser zwei große Entwicklungslinien heraus: die Politisierung und die Komisierung des Künstlers. Prominente Beispiele für das politische Künstlerstück seien Peter Weiss’ Hölderlin oder Tankred Dorsts Toller. In diesen Stücken dient das Künstlerleben als Folie, sich in politischen Debatten zu positionieren und über gesellschaftliche Antagonismen zu diskutieren. Diese politischen Künstlerstücke lassen sich zum Regietheater der 1960er Jahre und der bereits angesprochenen Tasso-Inszenierung von Stein in Bezug setzen, sind aber auch mit Matusches Van Gogh vergleichbar. Als Beispiele für den Trend zur Satire und Parodie gibt Japp Friedrich Dürrenmatts Der Meteor oder Thomas Bernhards Über allen Gipfeln ist ruh an. Die Komik entsteht in diesen Stücken oftmals aus der Diskrepanz zwischen dem tradierten Künstlerbild als »Genie« und den tatsächlichen Bedingungen des kulturellen Marktes. Insbesondere bei Bernhard wird mit dem Mittel der Ironie das kulturelle Feld bzw.

125 | Prägnant bringt Birkner die Entwicklung im Titel ihrer Arbeit Vom Genius zum Medienästhetik auf eine Formel. Sie schreibt dazu: »Während die Autoren von Künstlerdramen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts primär die Konflikte verkannter Genies in Szenen setzten, werden seit den siebziger Jahren zunehmend die Probleme verkannter und gerissener Künstlerfiguren fokussiert.« Birkner 2009, 204. 126 | Siehe Nickel 2009, 290-292.

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die Praxis im Literaturbetrieb als Etikettenschwindel vorgeführt.127 In Trolles klassenkampf werden beide Linien – die komisierende und politisierende fortgeführt. Doch lassen sich diese beiden Pole schwerlich auseinanderhalten – der »Sound« seines Textes ist ironisch, die historischen Figuren sind prosaisch bzw. ohne »Respekt« dargestellt – hinter dieser schelmischen Darstellung liegt allerdings ein politisches Anliegen. Die Komik fußt vor allem auf der Gestaltung des Chores, den Kommentaren des Erzählers, seiner freundlich-ironischen Haltung den Figuren gegenüber. Die politische Dimension des Stücks liegt zunächst ganz simpel in der Wahl des Sujets begründet, schon mit dem Titel zeigt Trolle, dass hier ein politischer Künstler behandelt wird. Darüber hinaus lässt sich der politische Anspruch an der gewählten Form der Erinnerung festmachen: Gerade weil Trolle diese Erinnerungen in einen selbstreflexiven Rahmen und in die Ästhetik der ›nahen Ferne‹ einbettet, wird ein anderer, verfremdeter Zugang zur Geschichte geschaffen. Es werden überraschende Verknüpfungen gefunden, politischen Debatten in fremde Kontexte versetzt, gestaunt und neue Fragen aufgeworfen. In diesem Umgang wird das Erinnerungsmaterial nicht ausgedeutet, sondern wieder gelesen. Beim Lesen wird die brechtsche Verfremdungstaktik angewendet und »[…] die Haltung des Staunenden und des Widersprechenden […] » eingenommen.128 In Uwe Japps Studie ist auffällig, dass die Vertreter der ostdeutschen Dramatik gänzlich fehlen. Auch dort gab es Künstlerstücke, die sich auf komödiantische oder politisierende Weise mit der Künstlerproblematik und den Gesellschaftsbedingungen der DDR beschäftigten, etwa Peter Hacks Moritz Tasso, Heinar Kipphardts Shakespeare dringend gesucht, Matusches Van Gogh oder Thomas Brasch’ Lovely Rita. Diese ostdeutsche Auseinandersetzung würde sicherlich eine Erweiterung des politischen Künstlerdramas bedeuten und Gegengeschichten erzählen. So z.B. Hacks Moritz Tasso, das 1965 in der Regie von Benno Besson an der Berliner Volksbühne aufgeführt wurde und einen ähnlichen Skandal hervorrief wie Peter Steins Bremer Inszenierung. Statt am Hofe hat Hacks den Tasso in die Umgebung der frühen DDR versetzt und als »rüpelhaften Bauern« bzw. als Rebell innerhalb des sozialistischen Systems dargestellt.129 Im Gegensatz zu den bereits genannten Vertretern der westdeutschen Linken wie Peter Stein, Peter Weiss oder Tankred Dorst, die in ihren Stücken auch über die verfehlte 68er-Revolte reflektieren, ist es eindeutig, dass Trolle das Problem des Künstlers aus der Perspektive der ostdeutschen Linke wahrnimmt. Man kann resümieren, dass Brecht in Trolles Stück aus einer spezifisch ostdeutschen Sicht wahrgenommen und besonders aus den Widersprüchen zwischen den Zielen der kommunistischen Bewegung der 1920er/30er 127 | Siehe Japp 2004, 263f. 128 | Brecht 1963, 33. 129 | Siehe Rühle 2014, 1110.

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Jahre und der formalisierten Brecht-Rezeption in der DDR reflektiert wird. Schon der Titel klassenkampf ist eine höchst ambivalente, Widersprüche erzeugende Parole. Für den, in das sozialistische System hineingeborenen Trolle, ist die politische Kampfparole des Klassenkampfes ein Begriff, der Ablehnung und Abgrenzung hervorruft. Es ist ein ideologisch besetzter, sprachlich toter Begriff, der an erstarrte Denkweisen und ein konformistisches, einsprachiges System erinnert. Für Brecht hingegen, und hierin begründet sich ist das Fremde, das Trolle in dem Text hervorholen will, ist die internationale Parole des Klassenkampfes ein lebendiger Begriff, der durchaus dazu dient, gesellschaftliche Situationen zu beschreiben. Trolle versucht also die Sprache der Monokultur DDR zu beleben und in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit vorzuführen. An diese Parole des Klassenkampfes heften sich Narrative zum DDR-Theater, an ihm lässt sich die Utopie einer sozialistischen Gesellschaft bzw. Theaters ableiten. Auch heften sich an den Begriff Erinnerungsräume an Leitfiguren des kulturellen Systems wie an Helene Weigel als Intendantin des BE, Hanns Eisler als Namensgeber der Musikhochschule und Komponist der Nationalhymne oder Ruth Berlau als Herausgeberin der Modellbücher des BE. Es werden in diesem Künstlerstück ganz unterschiedliche Fluchtlinien zum kulturellen Gedächtnis des DDR-Theaters eröffnet, wobei insbesondere an die Geschichte des Berliner Ensembles erinnert wird, das noch nach der Wende vom Ruhm Brechts gezehrt hat und dessen Bewahrungs- und Gedenkstrategien im offensichtlichen Gegensatz zum Gründungsmythos als Ort revolutionärer und sozialistischer Theaterkunst steht.130 Auch fließen in dieses Stück Einsichten des Zeitzeugen Trolle ein, bewegte sich der Autor doch bereits seit den 1960er Jahren in der Theaterszene Ostberlins und kennt viele der im Text fiktionalisierten Personen noch aus eigener Lebenserfahrung. Aus diesem Grund ist die aufgezeigte Vermischung der Erinnerungsebenen, die Strategie des Spiel im Spiels und die gewählte Form der Intertextualität auch der eigenen Künstlerposition geschuldet: In der postmodernen Ästhetik lassen sich die ganz realen Widersprüche des Grenzgängers Trolle erkennen. Sie verweisen auf spezifische Wahrnehmungsweisen und Erinnerungsformen eines ostdeutschen Künstlers. Trolle stellt die Fremdheit aus, die Brechts politisches Theaterkonzept heute hervorruft und stößt den Leser auf viele Ungereimtheiten und erstaunliche Momente. Die Art und Weise wie die Hypotexte miteinander verknüpft sind und wie sie »vorgetragen« werden, ist der eigentlich interessante Aspekt dieses Theatertextes. Der Grundton im Umgang mit diesem Material liegt in der Parodie, verstanden als Gegengesang, der einen verfremdeten, verzerrten, spöttischen Blick auf die Brecht-Welt wirft. In dem Text wird nicht ein bestimmter Originaltext parodiert, sondern das literarische Verfahren der Parodie auf den Gesamtkomplex angewendet. Reminiszenzen und Anspielun130 | Siehe Heeg 2000, 16.

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gen an die Brecht-Welt sind vielfältig und lassen sich nicht auf eine bestimmte Form der Textparodie reduzieren.

Grenzgang des Lachens und Aushandlung von Identität Der Künstler bzw. das Alter Ego von Trolle überschreitet in diesem Stück mehrere Grenzen: Durch den Traumzustand überschreitet er die Grenze zwischen geträumter und realer Welt. In der Begehung des Ortes verschieben sich die Zeitgrenzen – zwischen der Zeit des Exils und der Zeit des Besuchers. Und schließlich verschieben sich durch den parodistischen Umgang mit dem historischen Erinnerungsmaterial zu Brecht, die Grenzen zwischen Eigenem und Fremden. Alle diese Grenzgänge verfolgen das Ziel, sich dem Künstler Brecht zu nähern, sich dessen geistige Welt anzueignen und in dieser Annäherung das Eigene auszuhandeln. Diese Aneignung und Aushandlung von Identität ist begleitet von einem Lachen, von einer komischen Seite des Grenzgangs. Dieses Lachen wird insbesondere durch das Verhalten des Chores erwirkt. Vom antiken Chor, gedacht als würdevoller Zeuge der Vergangenheit bzw. Vermittler einer mythischen Wahrheit, ist ein verwirrter, zerstreuter, unvollständiger Chor geblieben.131 Es handelt sich um einen erträumten Chor, der während der Betrachtung des Ortes, aus den Imaginationen und Wissensbeständen des Besuchers heraus entsteht. In dem ständigen Hin und Her zwischen Stille und Sprechen, zwischen Da-Sein und Verschwinden, konstituiert sich diese Traumhaftigkeit des Chores. In dieser Ästhetik wird kein einheitliches Bild von Brecht vermittelt, sondern die Geschlossenheit eines historischen Bildes aufgebrochen, um sich in viele einzelne, auch sich widersprechende Erinnerungsbruchstücke zu entfalten. Der Traum-Chor stiftet weniger Sinn, sondern fragmentiert das Gedächtnis und formuliert eine zerstreute, oszillierende Form des Gedenkens. Den einzelnen Frauen dieses Chores scheint ihre eigentliche Aufgabe in diesem Traumspiel nicht bewusst, der eigene Standpunkt nicht ganz klar. Fragend stehen sie sich selbst gegenüber und reflektieren die eigene Rolle während des Spiels. Statt eine Gemeinschaft zu bilden oder einen gemeinsamen Standpunkt wiederzugeben, vermittelt dieser Chor Desorientierung, Unsicherheit und improvisierte Bedeutung. Er dient dazu, das gesicherte Wissen über Brecht neu zu denken und andere Wege zu suchen, mit diesem Klassiker umzugehen. In diesem Neu-Denken der Brecht-Welt und der Gestaltung des Chores zeigt sich das Produktive dieses Traum-Chores. Das Lachen entsteht dabei durch den Kontrast zum politischen Chor in Brechts Dramenkonzeption und den Zielen des kollektiven Klassenkampfes. Um die Fallhöhe deutlich zu machen, soll im Folgenden der Einsatz und Funktion des Chores bei Brechts skizziert werden. 131 | Zum Begriff des Chores siehe Haß 2005, 49.

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Der Chor bei Brecht ist in erster Linie ein Instrument, um politische Inhalte zu vermitteln und um die Gesellschaft gemäß der marxistischen Weltsicht darzustellen. Brecht sieht für den Chor keinen Sonderstatus im Sinne eines Zuschauers auf der Bühne oder einer kultischen Figur vor. Wie in Aristoteles Poetik fungiert der Chor in seinem Theater als Mitspieler und damit als Vertreter einer bestimmten sozialen Gruppe. Darüber hinaus übernimmt der BrechtChor eine Reihe weiterer Funktionen, um gesellschaftliche Vorgänge aufzuzeigen und insbesondere das Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe zu reflektieren.132 Für Brecht bedeutet der Chor ein wesentliches Mittel, um den »widerspruchsvollen Komplex«133, in dem sich das Individuum im kapitalistischen System befindet, darzustellen. Wie Detlev Bauer in seiner Untersuchung des Chores in Brechts Theater betont, kommt diesem eine Doppelfunktion zu: Einerseits kommentiert er die Ereignisse auf der Bühne, um Abstand zur gekannten Welt zu erzeugen und diese ironisch zu brechen. Andererseits greift er als Mitspieler aktiv in die Handlung ein und ist so Teil der dargestellten Welt.134 Die Vorstellung eines selbstbestimmten, souveränen Individuums wird in Brechts Weltanschauung als Illusion entlarvt und angesichts der Mechanismen der Massengesellschaft als nicht zeitgemäß aufgefasst. Erst mit der Überwindung des Privaten, des Konzepts des bürgerlichen Individuums, lasse sich eine kommunistische Gesellschaft realisieren: »Ein Kollektiv ist nur lebensfähig, von dem Moment an und so lang, als es auf die Einzelheiten der in ihm zusammengeschlossenen Individuen nicht ankommt.«135 Diese Idee des Kollektivs und des gemeinsamen Klassenkampfes, der zu einer gerechteren Gesellschaft führt, ist in Trolles Chorkonzeption entfernt enthalten. Trolles Chor der mindestens fünf Frauen stellt auch einen Rest der Idee eines Künstlerkollektives dar, in dem sich der Einzelne bzw. in diesem Fall die Einzelne der übergeordneten Sache fügte. Auch die von Brecht erprobten Strategien der Verfremdung führt Trolle fort, indem er dem Chor die bereits beschriebene Doppelfunktion zuspricht: Einerseits kommentiert der Chor seine eigene Handlung und fungiert als Erzähler, der von den Ereignissen an diesem Exilort berichtet, andererseits treten einzelne Chormitglieder immer wieder aus diesem Kollektiv heraus und sondern sich so vom Chor ab, um ihre eigene Geschichte zu erzählen. Durch diese Gestaltung dynamisiert sich der Chor und Zuordnungssysteme werden geändert. Die Unterschiede zwischen Chor 132 | In der Studie Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts typologisiert Detlev Bauer verschiedene Formen des Chores. Da Brecht den Chor auf sehr vielfältige Weise einsetzt, lassen sich verschiedene Chorkonzepte von seinem Theatermodell ableiten. Siehe Bauer 1999, 51f. 133 | Bauer 1999, 58. 134 | Zum Choreinsatz in Die Mutter und Der Brotladen siehe Bauer 1999, 57. 135 | Brecht zitiert in Bauer 1999, 59.

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und Individuum werden in diesem Wechselspiel hinterfragt und eindeutige Zugehörigkeit destruiert. Dieses Verfahren entspricht Brechts Überzeugung, dass »[das Individuum […] immer mehr als ein widerspruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung, ähnlich einer Masse […]«136 werde. Auch sollte der Chor keine starre Gruppe bilden, sondern eine wandelbare, aus den Interessenlagen der Einzelnen sich zusammensetzende Einheit, die während der Aufführung wachsen aber auch schrumpfen kann. Auch bei Brecht ist der Chor weniger als geschlossene Einheit, sondern als dynamische Gruppe bzw. als chorisches Ensemble zu verstehen.137 Trotz dieser Bezugnahme auf Brechts Chortheater lassen sich – vor allem hinsichtlich der ideologischen Inanspruchnahme des Chores – wesentliche Unterschiede zwischen Brechts und Trolles Chortheater ausmachen. Offensichtlich untergräbt sein Chor der mindesten fünf Frauen Brechts Prinzipien, historisiert dessen Weltanschauung und überführt den politisch-agitierenden Chor in eine Haltung des Staunenden. Während bei Brecht der Chor eindeutig zu einer sozialen Klasse in Beziehung gesetzt werden kann, ist Trolles Chor sprunghaft und auf keine eindeutige Haltung festzulegen. Statt den Chor für politische Zwecke zu nutzen, vermenschlicht er ihn und hebt »niedere« Instinkte hervor: Er lässt ihn sich langweilen, zweifeln und spotten. Dient bei Brecht der Chor dazu, gesellschaftliche Vorgänge aufzudecken und Geschichte in ihrer Modellhaftigkeit darzustellen, so wird deutlich, dass Trolles Chor der Aussagekraft einer geschlossenen Geschichte und der Gestaltungskraft des Kollektivs misstraut und stattdessen mit den chorischen Stimmen die Brüchigkeit von Identität und die Subjektivität von Erinnerungen hervorhebt. Durch die Gestaltung eines explizit weiblichen Chores verweist Trolle auch auf die Konsequenzen, die Brechts kollektive Arbeitsweise mit sich brachten. Ferner stellt die strikte Unterscheidung zwischen Männern und Frauen Brechts Arbeits- und Lebensgewohnheiten heraus. Die geschlechtliche Unterscheidung wird durch eine topografische Trennung noch weiter verstärkt: Während der Frauenchor im Garten auftritt, sind die Männer (bis auf Benjamin) nicht leiblich figuriert, sondern als Stimme aus dem Haus vernehmbar. Schon hier kündigt sich eine Unterscheidung zwischen Körper-Lust (Frauenchor) und vergeistigter Ratio (Männerchor) an. Zusätzlich sind diese Chöre unterschiedlich im Tagesablauf verortet: Während die Frauen zur Nachtmittagsstunde auftreten, sind die Männer gegen Abend (wenn auch das Radio angeschaltet wird) zu hören. Diese auffällige Einteilung in Frauen- und Männerchor, in Körper und Stimme, lässt sich auf verschiedene Weise auf Brecht beziehen, etwa auf den festgelegten Tagesverlauf und den durchgeplanten Alltag Brechts. Diese

136 | Brecht zitiert in Bauer 1999, 58. 137 | Siehe Bauer 1999,66.

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Struktur kommt schon in der Hauspostille, im Gedicht Vom armen B.B., zum Ausdruck: In meine leeren Schaukelstühle vormittags Setze ich mitunter ein paar Frauen Und ich betrachte sie sorglos und sage ihnen: In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen. Gegen Abend versammle ich um mich Männer Wir reden uns da mit ›Gentlemen‹ an. Sie haben ihre Füße auf meinen Tischen Und sagen: Es wird besser mit uns. Und ich Frage nicht: Wann?138

In der Konstituierung eines genderspezifischen Raumes greift Trolle den Chauvinismus und Phallogozentrismus Brechts auf – Charaktereigenschaften, die der amerikanische Literaturwissenschaftler John Fuegi in seiner kontrovers diskutierten Biografie The Life and Lies of Bertolt Brecht beleuchtet hat.139 Dem Leser wird die Ambivalenz der politischen Produktion und die Machtstrategien innerhalb des Brecht-Kosmos vorgestellt: Wie in dem zitierten Gedicht sind weibliche und männliche Chorformationen in Trolles Text strikt voneinander getrennt, die Frauen treten am frühen Nachmittag, die Männer am frühen Abend auf. Zudem gibt es deutliche Trennlinien zwischen den einzelnen Rollenauftritten der Chormitglieder, meist enden diese mit einer kleinen Improvisation, auf die ein Moment der Stille folgt. Diese genauen Grenzziehungen entsprechen Brechts eigenen ästhetischen Anforderungen, der sagt, dass die Übergänge der Montage »nicht verschmiert« sein dürfen bzw. die Grenzen klar bestehen bleiben sollten.140 Durch diese Einzelauftritte wird im Frauenchor die Situation des Wettkampfes gefördert. Die Mitglieder des Frauenchores stehen, wie in der Analyse gezeigt, in einer abstrusen Konkurrenzsituation zueinander. Die Frauen kämpfen um ihren Anteil auf der dargestellten Gedächtnisbühne. In diesem Kampf um den Platz im kulturellen Gedächtnis, um Redezeit und Aufmerksamkeit, wird der Klassenkampf in einen Gedächtniswettbewerb umfunktioniert. Dieses Spiel ist nicht mehr geleitet von politischen Fragen, sondern von Marktstrategien: Wer bekommt wie viel Aufmerksamkeit? Auf wen wird der Spot gerichtet, wo ist die Redezeit schon abgelaufen? Die scharfe Trennung zwischen weiblich und männlich lässt sich auf weitere Oppositionspaare übertragen, die den Grundmotiven des 138 | Brecht 1999, 147f. 139 | Siehe Fuegi 1998, 892f. 140 | Fischer-Lichte 1993, 367.

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epischen Theaters entsprechen. In seiner Schrift Das epischen Theater (1939) formuliert Brecht das Ziel, das Theater der Wissenschaft anzunähern und die bisher voneinander getrennten Bereiche, die des Belehrens und der Unterhaltung, zusammenzuführen: »Die Lust am Lernen hängt also von vielerlei ab; dennoch gibt es lustvolles Lernen, fröhliches, kämpferisches Lernen«141 In Trolles Text ist Brechts Anspruch, unterhaltende und lehrhafte Intentionen des Theaters miteinander zu verbinden, reformuliert. Die Fähigkeit des Chores zu sich selbst Distanz einzunehmen, oder wie es in Inszenierungen des Berliner Ensembles praktiziert wurde, zwischen darstellenden und zeigenden Modus zu unterscheiden, greift Trolle in der Gestaltung des Chores auf. Die kleinen Improvisationen und Zwischenspiele, in denen die Chormitglieder das zuvor Erzählte nochmals körperlich nachspielen und Gesten dafür suchen, entspricht Brechts Verfremdungstechniken und der Methode des epischen Theaters, dem Zuschauer den gleichen Vorgang sowohl zu erzählen als auch vorzuspielen. Von der Wirkung her lässt sich Trolles Text auch mit Heiner Müllers Mauser-Inszenierung 1991 am Berliner Ensemble vergleichen, in der Müller Sprechtext und Darstellendes Spiel voneinander entkoppelte. Wie Fischer-Lichte herausstellt, griff Müller damit auf die Tradition des japanischen Puppenspiels zurück, das auch Brecht angewendet hat. Allerdings inszenierte Müller die Trennung noch radikaler: Während bei Brecht bzw. in der japanischen Tradition noch eine semantische Beziehung zwischen dem gesprochenen Text und dem gestischen Spiel erkennbar war, verzichtete Müller auf derartige Bezugnahme, was zu einer Betonung der spezifischen Materialität der Aufführungselemente wie die Qualität der Stimme oder die Körperlichkeit des Schauspielers führte.142 Auch in Trolles Modell rückt die Materialität der Sprache – Lautlichkeit und Wortklang – in den Vordergrund. So ist in seinem Text die Aufmerksamkeit auf den Klang der Sprache bzw. auf das zu Hörende gelenkt und die gegenläufige Wirkung von Sprachmelodie und politischer Agitation thematisiert.143 Mittels der Entkopplung von Sprache und Musik können Widersprüche zwischen Gefühl und Ratio aufgebaut werden, etwa wenn zu Karl Korsch’ Monolog zur marxistischen Theorie im Hintergrund ein romantisches Lied von Brentano gesungen wird. Der Einsatz von Musik, z.B. Einspielungen von Agitationsliedern, waren auch in Brechts Theater ein probates Mittel, um Antithesen herzustellen. Brecht notierte dazu, dass er mit dem Einsatz von Gesang »das Geschehen nicht opernhaft illustrieren und emotional vertiefen, sondern ›antithetisch‹ vertiefen wollte«144. Die Gegenüberstellung von romantisch-mystischem Volkslied und neomarxistischen Theorie spiegelt 141 | Brecht 1978, 987. 142 | Siehe Fischer-Licht 1993, 431. 143 | Siehe Fischer-Lichte 1993, 435. 144 | Bauer 1999, 57.

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zwei Formen wider, sich mit dem »Volk« auseinanderzusetzen – einerseits über das Gefühl, andererseits über den Verstand. Auch verweist diese Gegenüberstellung von romantischer Musik und marxistischer Theorie auf eine widerspruchsvolle Gleichzeitigkeit, da die revolutionäre Idee des Klassenkampfes aus der gleichen geschichtlichen Epoche stammt wie die Ideen der Romantik, wobei in beiden Strömungen das Volk verklärend inszeniert wurde. Die Parodie auf Brechts Theater lässt sich auch in der konkreten Figurengestaltung und dem Umgang mit dem »Klassikern« nachweisen. Auch hier folgt die Gestaltung des Chores den Thesen Brechts, der frühzeitig eine »Klassikerzertrümmerung« forderte. Trolle nutzt die Fallhöhe des Ausgangsmaterials und verwendet Verfahren der Adjektion, der Montage und der Isolierung, um die historische Figur bzw. den literarischen Klassiker herabzusetzen. Dabei greift er Brechts Maxime »Die Wahrheit ist konkret« auf und betrachtet die geschichtsträchtigen Figuren als Material, d.h. aus einem geradezu soziologischen Interesse heraus. Walter Benjamin, der mit seinen Geschichtsthesen und seiner Literaturtheorie zu einem der wichtigsten Denker der Weimarer Republik gehört, wird hier in Nahaufnahme gezeigt und die Bewegungen seines Körpers samt seiner Ungeschicklichkeiten und Phobien herausgestellt. Mit dem Oppositionspaar nah-fern oder auch oben-unten, lässt sich die Wirkung dieser Nahaufnahme gut beschreiben. Dadurch, dass Benjamin so nah herangeholt wird, entsteht ein parodistischer Blick auf die historische Person. Er wird »geerdet«, in dem Sinne, dass seine geistigen Ideen in Bezug zu seinen Körper gesetzt werden. Die Idee der Aura und der paradoxe Zustand der nahen Ferne werden in dieser Darstellung im konkreten Raum des dänischen Exils verortet und an diese zeitgeschichtliche Landschaft gebunden. Die Szenen zeigen, dass Benjamins Überlegungen zu Kafka nicht im geschichtslosen Raum, sondern Ende der 1930er Jahre in der Nähe der dänischen Ostsee geführt wurden. Trolle nutzt die Diskrepanz zwischen oben und unten: Benjamins Idee der Aura wird durch sinnliche Eindrücke, Geräusche, Klänge, Bewegungskarten ergänzt und erfahrbar gemacht. Die Komik entsteht dabei durch die Kluft zwischen profaner und geistiger Ebene, um diese Distanz zu überbrücken, stellt sich ein Lachen ein. Diese Fallhöhe zwischen Materialismus und Vergeistigung werden vor allem in der Zusammenführung von Brechts und Benjamins Gedanken zu Kafka pointiert zum Ausdruck gebracht. In dieser Verdichtung und Gegenüberstellung entfaltet sich eine Dialogizität, die über eine einfache Klassiker-Parodie hinaus geht und auf Parallelen zwischen den beiden unterschiedlichen Denkern aufmerksam macht. Dabei isoliert Trolle einzelne Passagen aus Brechts wie Benjamins Überlegungen zu dem Werk und stellt diese kontrastiv gegenüber. In der Studie Philosophers and Thespians (2009) analysiert der Theaterwissenschaftler Freddie Rokem die Zwiegespräche zwischen Brecht und Benjamin, um das wechselseitige Verhältnis zwischen Denken und Repräsentieren zu verdeutlichen. In der Analyse der Tage-

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bucheinträge und Notizen vergleicht er dessen Positionen und Denkmuster und arbeitet heraus, dass für beide Denker Kafkas Gleichnis Das nächste Dorf als Schlüsseltext gewertet werden kann – das Motiv der Reise, das einen Identitätsbruch herbeiführt, ist auf verschiedene Weise in Benjamins Geschichtsverständnis und in Brechts Theaterkonzept eingegangen.145 Von solch einer tiefgreifenden Analyse ist Trolles Szene weit entfernt, allerdings wird auch hier das Moment der Gemeinsamkeit zwischen dem Theatermacher und klugen Beobachter Brecht und dem Literaturphilosophen Benjamin beleuchtet. Auf der Metaebene des Textes stellt sich eine Beziehung zwischen dem Spiel der Figuren und der formulierten Theorie her: Das Probieren der eigenen Rolle, der traumhafte Zustand des Exils, die ständige Hinterfragung des Wissens sind in Brechts Verfremdungstheorie formuliert. Die enge Verflechtung von Spielästhetik, Dramenform und Ideen eröffnet eine weitere Lesart, die auf die Dialektik zwischen Theater und Philosophie abzielt. Mit dieser Adaption von Brechts Chortheater und Anwendung der Verfremdungs-Verfahren auf Brecht selbst entsteht ein Gegengesang. Dieser schwankt zwischen Wertschätzung und Kritik. Dies kann auf die einfache Text-Parodie als auch auf die parodistische Schreibweise bezogen werden: »Ihr spezifisches indirektes Verfahren (›Zeigen‹ statt ›Sagen‹) ist oftmals unmittelbarer und wirksamer als diskursive Kritik.«146 Auf die gesellschaftlich-politische Dimension der parodistischen Schreibweise, die die Zweisprachigkeit des ästhetischen Wortes herausstellt, hat Michail Bachtin in verschiedenen Schriften, vor allem in Rabelais und seine Welt, hingewiesen. Sein Parodie-Verständnis ist aus einer klaren, weltanschaulichen Disposition entwickelt, die die klassenspezifische Unterscheidung von oben und unten aufgreift und den grotesken, lachenden Körper des Volkes einer vergeistigten Hochkultur gegenüberstellt. In seinem Kulturmodell dominieren die oberen Schichten auf elitäre Weise das kulturelle System, welches durch eine Einsprachigkeit charakterisiert ist, die den Bezug zum Volk, d.h. zu den unteren Schichten, verloren habe. Das Volk hingegen ist nach Bachtin mit einer sehr körperlichen Wahrnehmung verbunden, da es viel näher am »Boden« ist und sich die existentiellen Bedingungen menschlichen Lebens (einerseits dem Sterben, andererseits die Erneuerung und Hervorbringung von Leben) ganz konkret äußern.147 In der Parodie werde nun die vergeistigte, sich vom Boden entfernte Kultur der Eliten mit der des Volkes konfrontiert, wodurch eine produktive gesellschaftliche Kraft entstehe: Das parodistisch-travestierende Schaffen bildet das eigenständige Korrektiv des Lachens und der Kritik gegenüber der einseitigen Ernsthaftigkeit des hohen direkten Wor145 | Rokem 2010, 118f. 146 | Wünsch 1999, 260. 147 | Siehe Bachtin 1995, 71.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens tes, das Korrektiv der Realität, die allemal reicher ist und, vor allen Dingen, mehr an Widerspruch und Redevielfalt enthält, als in der hohen und direkten Gattung der Fall sein kann.148

Wie Lotman zeigt sich Bachtin fasziniert von Wahrnehmungswechseln und Grenzgängen, die Literatur auslösen und vermitteln kann. Durch den Wahrnehmungswechsel von unten nach oben lasse sich die Kultur demokratisieren und erstarrte Denk-Systeme und Konventionen aufbrechen. Sein Interesse am schöpferischen und befreienden Potential der komischen Literatur ist eng mit den historischen Bedingungen verbunden, in denen er seine Theorie entwickelte. Wie Renate Lachmann im Vorwort zu Rabelais und seine Welt ausführt, entstand diese in den 1930er Jahren unter dem Eindruck des totalitären Regimes der Stalin-Ära. Das Körperkonzept des karnevalesken Leibes ist im genauen Gegensatz zu dem Körperkult unter Stalin konzipiert; während dort der Volkskörper als gesunder, gestählter, fast schon mechanischer Körper glorifiziert wird, zeigt Bachtin einen Volkskörper, der unbeherrscht, zügellos und durch alle menschlichen Laster verwundbar ist. In seinem Kulturmodell kommt der Mensch auf ambivalente Weise zum Vorschein und er betont insbesondere jene Facetten, die vom totalitären Regime ausgeschlossen bzw. ausgegrenzt wurden.149 Seine Faszination an der Volkskultur kommt vor allem in der Emphase für den Karneval zum Ausdruck; in der Sprache des Narren, des Schelms und des Tölpels sieht Bachtin eine tief im Volk verwurzelte kulturelle Praktik des Widerspruchs und der Selbstbehauptung. Hier äußere sich eine eigenständige Haltung, die vollkommen unberührt von der offiziellen Kultur ist und sich somit den Zwängen der Welt entzieht. Voller Pathos verweist er auf die Bedeutung der Karnevalskultur und die Bühnen der mittelalterlichen Marktplätze und verweist auf die besondere Stellung der Narrenfigur in dieser Welt: Es ist ihre Eigentümlichkeit und ihr besonderes Recht, fremd auf dieser Welt zu sein. Mit keiner auf dieser Welt vorhandenen Lebenslagen solidarisieren sie sich, nicht eine behagt ihnen; sie bemerken die jeder Lebenslage anhaftenden Kehrseite und Lüge. Deswegen kann ihnen jede beliebige Lebenslage nur als Maske dienen.150

Auch wenn Bachtins Kulturmodell aufgrund seiner Starrheit und der sozialromantischen Verklärung der Volkskultur auch kritisch hinterfragt werden kann, möchte ich doch zentrale Gedanken seiner Parodie-Konzeption aufgreifen, um Trolles parodistisches Schaffen genauer in den Blick zu nehmen und 148 | Bachtin 1979, 314. 149 | Siehe Bachtin 1995, 10. 150 | Bachtin 2010, 88.

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Verständnis für die Bedeutung des Komischen innerhalb seines Textmodells zu erlangen. Auch bei Trolle entsteht der komische Effekt durch den Blick von »unten« (Volkskultur) auf die offizielle Hochkultur (Brecht). Er nutzt die Diskrepanz zwischen oben und unten, verstanden als eine Diskrepanz zwischen Geist und Körper bzw. zwischen Kunst und Leben, um Komik zu erzeugen und sich dem Klassiker anzunähern. Dem Chor setzt er eine Narrenmaske auf, um Widersprüche aufzudecken und den Menschen in seiner Unbeholfenheit darzustellen.151 Auch nutzt er die Strategie des »Nichtverstehens«, um tradierte Denkmuster hinsichtlich der Brecht-Rezeption zu hinterfragen und neue Bezugssysteme zu eröffnen. In seinem parodistischen Scheiben ist die Lust am Widerspruch, eine Lust am grotesken Leib zu spüren. Die Annäherung an Brechts kollektiven Künstler-Kosmos erzeugt ein vielstimmiges Gedenken, in dem neben ironisch-fragenden auch tölpelhafte, hysterische, leidende, sinnlich-fordernde, sentimentale und auch aggressive Stimmen zu Wort kommen. Möglicherweise lässt sich Trolles Textmodell so gut mit Bachtins Theorie erklären, da auch dieser Autor seine Schreibstrategien innerhalb eines sehr regulierten, normativen Systems entwickelte. Sein parodistischer Stil kann als Reaktion auf die Erfahrung der SED-Diktatur verstanden werden, in der sich der Spott an der offiziellen Sprache der DDR konditionierte. Die schwarzhumorigen bis absurden Stücke, die Trolle während der DDR geschrieben hat, zeugen von der Fähigkeit, die Dinge von der anderen Seite zu beleuchten und das Groteske der normativen Realität herauszustellen. Es ist ein leises, subtiles Lachen, das in seinen Texten erzeugt wird – vergleichbar mit der hintergründigen Komik des russischen Schriftstellers Daniil Charms. Die in Trolles Texten erzeugte Redevielfalt lässt sich mit Bachtins Definition der Dialogizität des Wortes beschreiben. In Ästhetik des Wortes (1979) differenziert Bachtin zwischen dem Wort im Roman und jenem in der Poetik, wobei er eine ähnliche Dichotomie entwickelt wie in seinen Ausführungen zur Parodie. Nach Bachtin sei es der Sprache bzw. dem Gebrauch des Wortes in der Literatur eigen, neben der vom Autor intendierten Wortbedeutung, eine vom Autor unabhängige, die dem Wort durch den vielfältigen Gebrauch in den sozialen Realitäten eigen ist, wiederzugeben. Dieses Eigenleben, welches in jedem Wort mitschwingt, werde in der Hochkultur, vor allem im Bereich der Poetik und Formen des hohen Stils, getilgt, sodass die Bedeutung »zentralisiert« und vereinheitlicht werde. Das Wort im Roman hingegen »dezentralisiert« den Gegenstand und erweitert den Kontext perspektivisch.152 Beiden Wortästhetiken spricht Bachtin eine besondere Wahrnehmung zu: So evoziere die Homogenität einer Gattung, etwa das poetische Bild, eine weltabgewandte, in die Tiefe gehende Auseinandersetzung mit dem verhandelten Gegenstand. Der gleiche Gegenstand im Roman 151 | Bachtin 2010, 92. 152 | Siehe Bachtin 1979, 178.

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zeichne sich dagegen durch seine Disparatheit aus, da durch die Vermischung der Stile geschichtliche und soziale Bedeutungshorizonte mitschwingen: Anstelle der jungfräulichen Fülle und Unerschöpflichkeit des Gegenstandes selbst eröffnet sich dem Prosaschriftsteller die Vielfalt der Wege, Bahnen und Tropen, die das soziale Bewusstsein in ihm angelegt hat. Zusammen mit den inneren Widersprüchen im Gegenstand selbst enthüllt sich dem Prosaschriftsteller die soziale Redevielfalt ringsum, jenes babylonische Sprachengewirr, das jeden Gegenstand umgibt […]153

Bachtins Theorie ist vor allem aus einer rezeptionsästhetischen Sicht heraus konzipiert, da sie die kommunikative Situation zwischen Sender (Autor/Text) und Empfänger (Leser/Hörer) mitdenkt. Für ihn ist der Resonanzraum der Sprache, die subtilen Töne, die mitschwingen und welche sich nicht auf einen eindeutigen Sinn reduzieren lassen, für die Wirksamkeit des Textes ausschlaggebend. Während die aus seiner Sicht monologisch konzipierten Texte, auf eine eindeutige Antwort hin ausgerichtet sind, wobei die Autoren die Sprache nach rhetorischen Leitlinien zielgerichtet einsetzen, ist die Sprache im Roman offener angelegt und die Reaktion weniger vorhersehbar. Es ist interessant das Bachtin in seinen Ausführungen durchweg vom Hörer eines Textes, nicht aber vom Leser spricht. Mit der Akzentuierung des Hörers, der auf das Wort reagiert, verlagert sich der Schwerpunkt auf die Materialität der Sprache und auf das sinnliche Ereignis des Textes – auf Stimme, Klang und Melodie eines Wortes, die unterschiedliche Reaktionen, Assoziationen und Gedankengänge hervorrufen. Bachtin fasst zusammen: »nicht der Gegenstand dient hier als Arena, sondern der subjektive Horizont des Hörers. Aus diesem Grund hat diese Dialogizität einen mehr subjektiv-psychologischen und – oft – zufälligen Charakter […]«154 Durch diese Dynamiken verliert die Intention des Autors an Bedeutung und die Relativität von Bedeutungsdimensionen des Textes wird herausgestellt. Auch in Trolles Modell rücken Materialität der Sprache und die ästhetische Erfahrung des Hörens in den Vordergrund. Anhand der Inszenierung des Freien Theater Münchens kann im Folgenden gezeigt werden, auf welche Weise dieser vielstimmige Erinnerungsdiskurs an Brecht auf der Bühne realisiert wurde, inwieweit die dargestellte Dialogizität des Textes sich entfaltet und die beschriebenen parodistischen Verfahren sich in ästhetischen Kategorien wie Körperlichkeit und Lautlichkeit fortschreiben.

153 | Bachtin 1979, 171. 154 | Bachtin 1979, 175.

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P ostsozialistischer E rinnerungsr aum : klassenk ampf des F reien The aters M ünchen (1998) Im Juli 1998 fand die Uraufführung von klassenkampf unter der Regie von Kurt Bildstein und Georg Froscher im Theater des Kulturzentrums Feierwerk in München statt. Spricht man über den Raum der Aufführung so ist zunächst auf den Ort und den kulturellen Rahmen hinzuweisen und festzuhalten, dass das Stück in der freien Szene produziert wurde. Mit dem Freien Theater München (FTM) verbindet Trolle eine länger zurückreichende Zusammenarbeit; schon 1989 wurden seine Texte Weltuntergang Berlin und kurz darauf Das Kind vom FTM produziert. Die Theaterformation ist seit Jahrzehnten Bestandteil der deutschsprachigen Freien Szene und wurde 1970 von dem Tänzer Georg Froscher und dem Schauspieler/Akrobat Kurt Bildstein gegründet. Ihre Theaterarbeit ist eng mit gesellschaftlichen Zielen verbunden; sie postulieren das Konzept eines partizipatorischen, experimentellen, körperbetonten, weltoffenen Theaters und haben den Anspruch ein Gegenmodell zum bürgerlichen, literarisierten Theater zu sein.155 Mit Environment-Theater, Spektakeln und Straßenfestivals etablierten sie sich in der Freien Szene, wobei auf dem Spielplan neben Klassikerproduktionen (Shakespeare, Brecht) auch zeitgenössische Autoren wie Peter Handke, Heiner Müller oder eben Lothar Trolle stehen. Die Teilnahme an zahlreichen internationalen Festivals und die Aufnahme von ostdeutschen sowie sowjetischen oppositionellen Autoren zeugen von der grenzüberschreitenden Ausrichtung und dem politischen Engagement dieser Theatergruppe. Zudem tritt eine starke lokale Ausrichtung als ›Schwabinger Theater‹ hervor. So setzen sie sich auch mit Künstlern wie Karl Valentin auseinander, die eng mit der lokalen, bayrischen Kultur verwoben sind. 1977 war das FTM mit zwei Valentin-Produktionen bei den Berliner Festwochen eingeladen.156 Trotz dieser langen Tradition in der freien Theaterszene und dem skizzierten Anspruch Kulturvermittler auf lokaler wie internationaler Ebene zu sein, ist das Theater auf der Stadtkarte Münchens so gut wie unsichtbar. Im Gegensatz zu den staatlichen Bühnen, die im Zentrum der bayrischen Landeshauptstadt ihren festen Platz haben, die repräsentativen Bauten an der Maximilianstraße bespielen und so für jeden Besucher/Einwohner der Stadt als wichtiger Teil der kulturellen Identität und Stadtgeschichte wahrnehmbar sind, besitzt das FTM keine eigene Bühne. Die Theatergruppe ist demnach auch ›frei‹ in dem Sinn, dass sie an keinen Ort gebunden ist. Seit der Gründung bespielte sie ganz unterschiedliche Orte und Plätze in München – die Inszenierung von klassenkampf fand auf dem Gelände des Feierwerks statt, ein Kulturzentrum, 155 | Froscher/Bildstein 2015. 156 | Siehe Homepage des Freien Theaters München, Froscher/Bildstein 2010.

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das abseits des Zentrums, im westlichen Teil Münchens in der Nähe des Hansaparks liegt. Allein der Spielort außerhalb des innerstädtischen Bereichs ist schon ein Statement und erzählt etwas über die Positionierung dieser Theatergruppe auf dem kulturellen Markt. Eine Aufführung des FTM, so sollte man annehmen, besucht man nicht zufällig. Der Besucher dieser Aufführung gehört zu einem kleinen, informierten Kreis, nach Bourdieu zu einer Subgruppe auf dem Markt, der sich bewusst für eine avantgardistische Aufführung entschieden hat und sich ganz gezielt an diesen Ort begibt. Entsprechend diesen Voraussetzungen ist seine Erwartungshaltung, etwas anderes zu sehen und zu erfahren, sehr hoch. Konkret auf das Thema der Inszenierung bezogen, erwartet der Zuschauer womöglich eine neue Sicht auf das tradierte Brechtbild. Die folgende Inszenierungsanalyse basiert auf einer Video-Aufzeichnung der Uraufführung, wodurch eine Blickführung auf die Aufführung und eine Interpretation des Aufführungstextes bereits im Ausgangsmaterial angelegt ist.

Auftakt: ein klanglicher Raum als Erinnerungsraum In dem länglichen Raum des Off-Theaters befinden sich die Sitzbänke sehr dicht an der Bühne. Der abgedunkelte Bühnenraum ist weitgehend leer; statt mit einem Bühnenbild, wird mit einer Licht- und Videoinstallation gearbeitet. Gemäß den rund angeordneten Sitzen, die wie ein Ausschnitt eines Amphitheaters wirken, sind mehrere Leinwände – einmal in der Mitte und zwei schräg an beiden Seiten angebracht. Noch während die Zuschauer den abgedunkelten Raum betreten und ihre Plätze auf Holzbänken einnehmen, fängt die Performance an. Auf den Leinwänden werden nun Filme der nationalsozialistischen Epoche eingespielt. Dabei werden Ausschnitte inszenierter Massenaufmärsche gezeigt, die die von Benjamin beschriebene Ästhetisierung der Politik während des Faschismus eindrücklich vor Augen führt.157 Die in blauem Licht getönte Filmcollage stellt sich aus Archivbildern des Parteitages der NSDAP 1938 in Nürnberg zusammen. An Bilder der Führungsriege, die in Limousinen vorfährt und von frenetisch jubelnden Menschenmassen mit Hitlerrufen begrüßt werden, reihen sich Bilder, in denen der Diktator wild gestikulierend Worte herausbrüllt. Über diesen dokumentarischen Filmsequenzen sind rollende Köpfe eingeblendet – es wirkt wie eine dadaistische Filmcollage. Der Lärmpegel ist hoch, parallel zu den Geräuschen der jubelnden Massen und der schreienden Stimme Hitlers, tönt ein immer lauter werdender und dann wieder abschwellender metallischer Klang durch den Raum. Von diesen Archivbildern und vergangenen Massenstürmen wechselt die Perspektive abrupt zum Publikum. Auf der Leinwand sind nun die gerade gefilmten Zu157 | Diese Gedanken formuliert Benjamin im Nachwort zu Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Siehe Benjamin 1974b, 506.

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schauer zu sehen, wie sie in Zeitlupe den Zuschauerraum betreten. Diese Bildabfolge von den Massen der faschistischen Epoche hin zum Publikum suggeriert eine befremdliche Verbindung. Die Irritation über diese Assoziationskette ist den Blicken der Zuschauer deutlich abzulesen. Auch der störende, nervenaufreibende Ton, der den Raum durchzieht, stellt eine weitere zeitliche Brücke zwischen dem geschichtlichen Raum und dem Gegenwartsraum dar. Der Klang transportiert das Gefühl der Gefahr, wodurch eine aufgereizte Stimmung erzeugt wird. Lautlichkeit und Bildprojektion stellen Mittel dar, den Zuschauer in diesen Erinnerungsdiskurs um Brecht einzubeziehen, fordern sie doch schon zu Beginn der Aufführung eine Reaktion des Zuschauers ein.

Ortswechsel: Von den lärmenden Städten in die Idylle Svendborg Als die Zuschauer zum Sitzen gekommen sind, verstummt der metallische Klang; es tritt eine Pause ein und wird wohltuend still im Raum. Auf den Leinwänden ist nun eine Wiese im satten, leuchtenden Grün projiziert – ein Zeichen für die idyllische, friedliche Insel Fünen in Dänemark. Die nun sich ausbreitende ruhige Stimmung bildet einen starken Kontrast zu den lärmenden Massen zuvor. Durch diesen harten Schnitt zwischen Lärm, Reizüberflutung der Medienbilder auf der einen und Stille und weite Landschaft auf der anderen Seite, vermag der Zuschauer den paradoxen Zustand des brechtschen Exils nachzufühlen: Der Raum ist von einer vordergründigen, bedrohlichen Ruhe geprägt. Nach einem Moment der Stille, in der nur Windgeräusche zu hören sind, tritt ein Mann in einem dunkelgrauen Arbeitskittel auf. Seine Kleidung erinnert einerseits an die schlichte Arbeitskleidung, die Brecht bevorzugt trug, gleichzeitig wirkt sie aber auch wie die Uniform eines kommunistischen Parteigenossen. In gewichtigem Tonfall und angespannter, aufrechter Haltung ruft er zum Publikum: »Gefährte glücklicher Zeiten! Seit einigen Monaten haust dein Freund in einem schilfgedeckten, länglichen Hause auf einer Insel mit einem alten Radiokasten.«158 Ein anderer Mann in gleicher Kleidung löst ihn ab und spricht im gleichen Duktus weiter. Obgleich sie Brechts Briefe rezitieren und auch durch die Kleidung als Brecht gekennzeichnet sind, hat man nicht den Eindruck, dass dieser gerade sprechen würde. Brechts sprachliches Stilmittel der Verfremdung, etwa in seinen eigenen Briefen von sich in der dritten Person zu sprechen, wird so in der Performance konsequent umgesetzt. Zu diesen Männern treten schließlich noch zwei Frauen auf, die sich abseits von ihnen positionieren. Ihre Bewegungen und ihre Kleidung sind sehr elegant. Sie übernehmen den poetischen Text und sprechen chorisch und 158 | Dieses sowie die folgenden Zitate sind einer nicht-veröffentlichten Aufnahme einer Aufführung von George Froschers und Kurt Bildsteins klassenkampf-Inszenierung aus dem Jahre 1998 entnommen.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

rhythmisch präzise mit einem eingeschobenen »Oh« die Verse aus den Svendborger Gedichten. Ihre Sprechweise folgt dabei nicht der natürlichen Betonung und Kadenzen, sondern ist verfremdet. Unvermittelt wird der Zuschauer in diesen Erinnerungsraum Brechts versetzt, ihm wird nicht erklärt, wie dieser Erinnerungsprozess zustande kommt, da anders als in dem Lesedrama kein Erzähler auftritt. Die Gegenwartsebene bzw. die Rahmenhandlung, die im Theatertext vom Reisenden bzw. von Trolles Alter Ego besetzt ist, bleibt hier leer. Die Distanz schaffende und Reflexionsräume eröffnende Rolle des kommentierenden Erzählers ist hier unbesetzt, mit der Konsequenz, dass der Diskursraum über die Form der Erinnerung, wie sie im Theatertext geführt wird, nicht eröffnet wird. Der Erzähler ist teilweise durch einen Spielleiter ersetzt, welcher die einzelnen Auftritte ankündigt. Die insgesamt sieben Darsteller, davon vier Männer (Kurt Bildstein, Markus Danzeisen, Peter Pruchniewitz, Uli Zentner) und drei Frauen (Eva Dietzfelbinger, Gabriele Graf, Ute Niff ka) gruppieren sich zu Männer- und Frauenchören und nehmen in der Performance ihren eigenen Bereich auf der Bühne ein. Ihre Sprechweise wirkt militärisch, folgt agitatorischen Sprachmustern der 1930er Jahre und ist somit assoziativ mit dem Titel klassenkampf verbunden. Gerade das Auftreten der Ansager lässt sich mit der Chorformation der vier Agitatoren in Brechts Lehrstück Die Maßnahme (1930) vergleichen.159 Die politisch-geistige Haltung des Klassenkampfes wird insbesondere auf die Körperinszenierung übertragen: Die Körper sind angespannt, sie strengen sich an, ächzen, schwitzen und stöhnen – wobei sie aber auch nach genauesten Vorgaben und Bewegungsabläufen agieren. Sprechweise und Körper-Choreographie haben einen geradezu militärischen Duktus, der fordernd und auch anklagend wirkt. Allerdings lassen sich deutliche Grenzen zwischen der Gruppe der Männer und der der Frauen ziehen, was in den unterschiedlichen Funktionen ersichtlich wird. Während die Männer hauptsächlich führende und lehrende Rollen einnehmen, hat der Frauenchor zunehmend erzählenden bzw. ausschmückenden Charakter. Ein Wechselspiel zwischen Männer- und Frauenchor, zwischen der Stimme Brechts und dessen Geliebten, prägt die gesamte Inszenierung. Dieses Rollenschema ist angelehnt an die Raumstruktur des Theatertextes; in der Zweiteilung drückt sich auch die Ambivalenz zwischen Lust und Ratio aus. Auch in der Proxemik zeigt sich dieses Wechselspiel der beiden Chorformationen. Während der Männerchor den ganzen Bühnenraum bespielt, d.h. akrobatisch den Raum in Besitz nimmt, bleibt der Frauenchor statisch, auf seinem vorgegeben Platz. Erst im Laufe der Performance lockert sich diese Unbeweglichkeit, wobei die Frauen die Disziplinierung ihrer Körper aufgeben und ihre ganz eigene Geschichte ausdrücken. Vergleichbar mit der Inszenierung von Matusches Der Regenwettermann wird auch in dieser Insze159 | Siehe Brecht 1978, 257.

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nierung der im Text angelegte Diskursraum verkürzt und auf den Aspekt des Politischen hin reduziert. Während in der Inszenierung von Matusches Zeitstück die sinnlich-expressive und spielerische Seite ausgespart und allein die politische Seite, d.h. die Schuld der Vätergeneration bzw. die der Wehrmacht diskutiert wurde, ist auch in der Inszenierung des Münchner Theaters die Tendenz zu bemerken, den Diskurs um Brecht auf die Standortbeschreibung eines sozialistischen Künstlers zu verknappen und die Erfahrung des Klassenkampfes exponiert herauszustellen: Auf der einen Seite der politische Kampf der Männer, auf der anderen Seite der von Lust und Schmerz besetzte Kampf der Frauen.

I Der Frauenchor: Zwischen Disziplinierung und Sehnsucht Der weibliche Chor ist in seiner äußeren Erscheinung sehr attraktiv und stilvoll. Die Frauen tragen schwarze, eng anliegende, hochgeschlossene Cocktailkleider, Schuhe mit hohem Absatz, stilvoll frisierte Haare und dezent mit rotem Lippenstift und Lidschatten geschminkte Gesichter. Die modische Richtung der Kleider lässt sich schwerlich als semiotisches Zeichen für die Epoche der 1930er Jahre ausmachen, vielmehr handelt es sich um zeitgenössische Kleidung. Der Gestus dieses Frauenchores verändert sich während der Performance: Im ersten Teil sprechen sie im Stakkato und treten so kontrastierend zur Kleidung in einem anti-weiblichen bzw. maschinellen Duktus auf. Der Garten ist hier nicht mit der Vorstellung von Muse bzw. Eros verbunden, sondern mit der Frau als verlässliche Gefährtin im politischen Kampf. Wünsche und Sehnsüchte dieser Frauen müssen dieser Funktion untergeordnet und diszipliniert werden. Diese Darstellung des weiblichen Chores erinnert an einen Brecht, der Ruth Berlau animiert, sich militärisch zu ordnen, ihren Alltag zu strukturieren, um ihre labile Psyche in den Griff zu bekommen.160 Die Dramaturgie des Frauenchores orientiert sich dabei am Theatertext; zunächst treten die Frauen aus der Chorformation heraus und geben in kurzen Einzelszenen sich als Geliebte Brechts zu erkennen. Zuerst wird Ruth Berlau angekündigt: Die Darstellerin entspricht mit ihren sehr hohen Plateauschuhen und dem durchsichtigen Kleid, das wie ein Unterkleid wirkt, den geschürten Erwartungen der dänischen Femme Fatale. Die Darstellerin ist dünn und groß, hat ein junges Gesicht, ihre körperbetonte Kleidung wirkt aufreizend. Unter dem kurzen durchsichtigen grauen Kleid ist ihr nackter Oberkörper zu erkennen, ihr Haar ist zu einem langen Zopf gebundenen, ihr Gesicht geschminkt. Diese Frau scheint stolz und wütend, sie redet mit Nachdruck, ihre Intonation ist wie die des Spielleiters überartikuliert, sie betont fast jedes Wort, wobei Schlüsselwörter wie »Ich«, »Brecht«, »Karin Michaelis« besonders herausstechen. Ihre Sprache ist temperamentvoll, laut rufend, aber an keiner Stelle einfühlend. Sie 160 | Siehe Brecht 1998b, 266.

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wechselt das Tempo, wird etwa bei der Beschreibung der Landschaft und des Weges zum Exilhaus Brechts schneller, verlangsamt aber ihr Tempo als sie ihren ersten Eindruck von Helene Weigel wiedergibt. Genüsslich spricht sie aus: »Kann sein, dass sie große Ohren hatte«, wobei sie das Personalpronomen besonders betont. Abschluss und gleichzeitig Höhepunkt ihres Monologs bildet die Begegnung mit Brecht im Garten, als er sie mit einem »Hallo« ansprach und noch während des Sprechens auf Distanz ging. Diese Szene spielt sie nach, wobei im Hintergrund verschiedene Brecht-Darsteller auf der Bühne erscheinen und ihr auf verschiedene Art und Weise die Hand geben und mit dem paradoxen, gleichzeitig warmen wie distanzierenden »Hallo« begrüßen, woraufhin Berlau für sich resümiert: »Ja, Herr Brecht, stets auf Distanz.« Kurz nachdem Ruth Berlau abgetreten ist, wird ein geschminktes, nicht mehr ganz junges Gesicht in Großaufnahme eingeblendet, das mit aufgeschlagenen Augen in den Raum blickt. Eine Frau mittleren Alters erscheint mit Mikrofon auf der Bühne, sie wendet sich vom Publikum ab und ihrem eigenen, auf die Leinwand projizierten Gesicht zu. In dem folgenden Selbstgespräch wird klar, dass es sich bei der Frau um Brechts Mitarbeiterin und Geliebten Margarete Steffin handelt. Sie erzählt von ihrer Krankheit, von ihren Erlebnissen mit Brecht, blickt zurück auf die schönen Zeiten. Ihre Stimme ist beherrscht, sie spricht mit Nachdruck, doch nicht ganz so laut wie ihre Rivalin Ruth Berlau. Dadurch, dass sie mit ihrem eigenen Bild spricht und nur von der Seiten- bzw. Rückansicht zu sehen ist, scheint es, als würde sie nicht für diesen Moment und für das Publikum, sondern für jemand anderes sprechen. Auch ihre Attitüde ist im Wesentlichen wütend, doch im Gegensatz zur Berlau weniger auf Brecht bezogen, sondern auf sich selbst. Sie betont den Satz: »Ich bin ein Dreck.« Der Inhalt der Rede widerspricht ganz offensichtlich dem Auftreten und dem Äußeren der Darstellerin. An ihr ist kein Anzeichen von Krankheit zu erkennen, im Gegenteil – sie strahlt Eleganz und Souveränität aus, in der Art wie sie mit Mikrofon, kurzem Kleid, Pumps, Föhnfrisur und geschminktem Gesicht vor dem Bildschirm steht. Zum Schluss wird der Raum abgedunkelt und es ertönt die Stimme des Spielleiters aus dem Off: »Die M.S. verschwindet.« Danach folgt Stille, in diese Stille spricht der Spielleiter vom Mauscheln und den Geräuschen in den oberen Stockwerken der privaten Zimmer.

Die Veränderung des Frauenchores Während der Frauenchor sich zu Beginn noch sehr synchron bewegt; souverän, elegant und stilvoll auftritt, verliert er im Laufe der Performance diese forcierte Contenance, wird impulsiver, entblößt seine Gefühle und seinen Körper. In den Szenen zum Besuch aus Deutschland legen die Frauen ihre Cocktailkleider ab. Sie trage nun Unterkleider bzw. Negligés, ihre Bewegungen und Stimmen werden emotionaler, rufender, fordernder. Sie betasten ihre Körper, legen die Hand auf intime Körperteile und steigern sich teilweise in eine Ver-

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zückung. Statt des kontrollierten Körpers, der in der Gruppe funktionieren muss, erscheint ein freier, sich abtastender Körper, der genießt, nachfühlt und nachsinnt. Zu den seidenen grauen Unterkleidern tragen sie weiße Kniestrümpfe und schwarze Pumps, was etwas mädchenhaft wirkt und zum beschriebenen Charakter der eher naiven Schwester Hoppchen passt. Chorisch erzählen sie die Ausreißergeschichte von Gretes Schwester, wobei ihr Kosename Hoppchen mit lauter Stimme und vollem Körpereinsatz besonders betont wird. Als semiotisches Zeichen für den Freiheitswillen des Mädchens ist im Hintergrund ein blühender Strauch eingeblendet, der sich im Wind bewegt. Dieses etwas »kitschige« Zeichen passt auch zu dem spöttischen Ton, den die Familienmitglieder anschlagen, wenn sie von dem eigensinnigen, verträumten Mädchen sprechen und ihrer Irritation über deren plötzlichen Selbstständigkeit Ausdruck verleihen. Im Anschluss zitiert der Frauenchor aus Brechts Roman Die Geschäfte des Julius Cäsar, besonders herausgestellt wird dabei die Szene, in der ein römischer Bürger Schwierigkeiten hat, eine Arbeitsstelle zu erhalten und unter seiner Arbeitslosigkeit leidet. Eines der »Hoppchen« löst sich aus dem Chor, stellt sich an den vorderen Bühnenrand und nimmt Augenkontakt zum Publikum auf. Während der restliche Chor die Geschichte vom arbeitslosen Römer wiederholt, fragt sie ins Publikum: »Was gibt es denn daran nicht zu verstehen? Das ist doch wirklich ganz einfach.« Mit Nachdruck wiederholt sie die Frage, auch der Romanauszug wird nochmals erzählt. Nach dieser eindringlichen Verdoppelung gliedert sich »Hoppchen« wieder in den Frauenchor ein. Zum Schluss dieser Hoppchen-Szene fragen die Frauen: »Und war das schon alles?« Als würden ihre Körper dem widersprechen, werden ihre Bewegungen nun freier, wilder, widerspenstiger – zudem fangen sie an zu kreischen, zu stöhnen und geben sich auf der Bühne körperlichen Reaktionen hin, die durch ihre Gedanken und Erinnerungen an Brecht ausgelöst werden. Statt des mädchenhaften Auftritts von Hoppchen werden die Frauen nun »weiblicher« und geben Einblicke in sexuelle Erfahrungen. Diese Chorszenen zeigen die seltsame Vermischung von sexueller und Arbeitsbeziehung, die die Zusammenarbeit mit Brecht prägte und Konkurrenzsituationen zwischen den Frauen entstehen ließ. Ruth Berlaus Erinnerung an eine Abtreibung wird von allen Chormitgliedern performativ dargestellt; eine Erfahrung, die sich tief ins Körpergedächtnis eingeschrieben hat. Mit heftigen, wütenden Bewegungen stößt eine Akteurin gegen ihren Unterleib und wiederholt damit den sexuellen Akt als Gewalterfahrung, die heftige Gefühle auslöst. Den Erinnerungstext Berlaus sprechen die Frauen nicht synchron, sondern fallen sich gegenseitig ins Wort, betonen mit großen Gesten ihren Bauch, spielen die Abtreibung nach und rufen in drastischer Tonlage: »Da schwammen meine Zwillinge im dunklen Blut.« Nach dieser Erregung ernüchtert der Ton und lakonisch resümiert der Frauenchor: »Der eine Stellung hat, muss sorgen, dass er keine Kinder hat.« Jede Frau wiederholt diesen Satz für sich, murmelt

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ihn wie ein Mantra vor sich hin; zusammen wirken diese versetzt gesprochen Sätze wie der Refrain eines Liedes. Dann wechselt die Stimmung in lustvolle, freudige Erinnerung an Brechts Liebesverse. Die drei Frauen rücken eng zusammen, stellen sich wie Sängerinnen im Halbkreis auf und rufen sich die romantischen Momente mit Brecht ins Gedächtnis. Ihre Stimmen sind freudig erregt, wenn sie Brechts Treueschwur an Margarete Steffin gemeinsam nacherzählen: »Siehst du dort die fünf Sterne, die ein W bilden?« In ihrer Erinnerung zeigt Brecht auf das Sternenbild der Kassiopeia und beschwört die jeweilige Geliebte: »Merk dir, dort, wo immer wir auch sind, werden sich unsere Augen treffen.« Auf der Leinwand sind ihre Gesichter in einer blaugetönten Großaufnahme zu sehen, die zitierten Worte wirken tröstend und ihre Körper beruhigen sich. Allmählich kippt die Stimmung von nostalgisch zu wütend, die Frauen steigern sich im Zorn, werden lauter bis sie sich schließlich gegenseitig anschreien und um die schlimmste Erfahrung konkurrieren. Mitten in diesem lärmenden Geschrei ändern sich wieder Stimmung und Sprechweise; die Frauen sprechen ruhiger, besonnener und akzentuierter. Sie wenden sich von den Liebeserfahrungen ab, distanzieren sich also von ihrem weiblichen Körper und treten als Sprachrohr von Brechts Gedankenwelt auf. Chorisch tragen sie seine Gedanken zur Zeitgeschichte vor und geben Einträge aus seinem Arbeitsjournal wieder: »Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten.« Doch dürfen die Frauen diese politischen Verse nicht weiter aussprechen, aus dem Dunkeln treten die beiden Brecht-Darsteller hervor, nehmen ihnen die Mikrofone ab und sprechen nun selbst: »Vertriebene sind wir.« So verschwinden die Frauen hinter den Repliken Brechts. Zum Ende der Performance wird nur noch der Männerchor anwesend sein, die Frauen sind gänzlich verstummt. Mit diesem Wechsel von privatem zum öffentlichen Raum werden die Frauen interessanter Weise von den Männern abgelöst, verstummen und ziehen sich ins Dunkle zurück. In dieser Dramaturgie sind die Mitarbeiterinnen ins Private zurückgedrängt; in eine Innerlichkeit, die sich auch in dem entblößten, nur mit Negligé bekleideten Körper ausdrückt. Die Pumps, die sie tragen, unterstreicht dabei gleichzeitig ihre Weiblichkeit. Während die Frauen als verletzbare, Lust empfindende Subjekte inszeniert werden, sind die Männer im Raum des Öffentlichen verortet. Diese Genderaufteilung wird in der Inszenierung ungebrochen durchgeführt und so die Geschlechtsidentität im Sinne Judith Butlers Gendertheorie fortlaufend performativ reproduziert.161 Die Identität der einzelnen Frauen verschwimmt in dieser chorischen Darstellung, ihre persönliche Erfahrung ist nicht mehr von der Erfahrung der anderen Frauen abzugrenzen. Mit diesem Frauenchor wird ein Machtverhältnis aufgezeigt, in dem die Identität der »drei Schönen« auf komplexe Weise mit der von Brecht 161 | Siehe Schrödl 2005, 125.

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verknüpft ist. Diese kritische Lesart entspricht der bereits zitierten Studie The Life and Lies of Bertolt Brecht des amerikanischen Germanisten John Fuegi. In dieser stellte er auf Basis von Interviews und Archivmaterial, das erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zugänglich war, dar, bei welchen Texten, die Frauen ihren urheberrechtlichen Anteil nicht geltend gemacht haben bzw. wo ihre Mitarbeit in dem kollektiven Arbeitsprozess unterschlagen wurde. Über Brecht urteilt Fuegi: »Das fertige Werk blieb für ihn ein Werk Brechts. So wie er konnten sich viele seiner Zeitgenossen ›das Fräulein an der Schreibmaschine‹ nur als ›Sekretärin‹ vorstellen […].«162 Auch zeigt er, mit welchen Strategien Brecht arbeitete, um die Abhängigkeitsverhältnisse aufrecht zu erhalten, schriftstellerische Alleingänge der Frauen zu blockieren, z.B. indem er mit bezaubernden Texten, Sonetten und Gedichten sich der Treue der Frauen vergewisserte.163

II Männerchor: Zwischen Didaktik und Slapstick Im Gegensatz zum Frauenchor, der sich ganz offensichtlich aus den Geliebten Brechts zusammenfügt, d.h. aus Frauen, bei denen die Erinnerung an Brecht starke Gefühle wie Wut, Schmerz und Leidenschaft auslöst, ist der Männerchor weniger gefühlsbetont und distanzierter. Auch lässt er sich schwerer zuordnen. Natürlich ist er in erster Linie als Brecht-Chor zu verstehen, dafür sprechen die zahlreichen Zitate aus Brechts Werk sowie das Kostüm: ein grauer Arbeitskittel – ein Kleidungsstück, das Brecht bekanntlich bevorzugt trug und das auf seine Tätigkeit als »Kopfarbeiter« verweist. Die historische Person Brecht tritt dem Zuschauer nicht als ein Individuum bzw. als eine identifizierbare Person gegenüber, sondern zerfällt innerhalb des Männerchors in diverse Gedanken, Aussagen, Theorien, aber auch Gesten, Körpersprachen und Gewändern. In den Abschlussszenen werden diese Arbeitsanzüge durch Gewänder ausgetauscht, die an Brechts Vorliebe für den chinesischen Gelehrten Konfuzius erinnern. Trotz dieser naheliegenden, durch das Kostüm hervorgerufene Bezugnahme, greift die einfache Analogie auf Brecht nicht weit genug – spricht der Männerchor doch auch Stimmen von Zeitgenossen wie Karl Korsch oder Hanns Eisler und zerfällt teilweise in Stimmen von Margarete Steffin oder Walter Benjamin. Dieser Männerchor steht auf einer allgemeineren Stufe, er verkörpert das weitgehend männliche Kollektiv der politischen Klassenkämpfer, von denen Brecht hier zwar der Wortführer, aber eben auch nur Teil einer Bewegung war. Im Gegensatz zu den Frauen, die sich erst im 162 | Fuegi 1998, 897. 163 | Fuegi beschreibt ziemlich detailliert die Beziehungen zwischen den Frauen Brechts, die Eifersuchtsszenarien und Verhältnisse während des Exils. Dabei arbeitet er die Anteile der Mitarbeiterinnen an der Brecht-Produktion heraus und zeigt, warum manche Mitarbeiterinnen niemals Rechte eingeklagt haben. Siehe Fuegi 1998, 892f.

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Laufe der Performance auf der Bühne ausbreiten, dominiert der Männerchor von Anfang an das Feld und erzeugt eine spielerische Dynamik. Dieser Chor ist äußerst beweglich und in manchen Szenen sehr akrobatisch. In weiten Teilen der Inszenierung ist ihre Körpersprache aktiv und dominant. Auch kündigen die Männer als Spielleiter die »Nummern« an und beherrschen so die Bühne und damit eben auch den Erinnerungsraum. Ist im Theatertext die Übersetzungsarbeit flüchtig behandelt, bekommt sie in der Inszenierung viel Aufmerksamkeit und die Auseinandersetzung mit der dänischen Kultur, die kulturellen und sprachlichen Unterschiede werden dem Zuschauer sinnfällig vor Augen geführt. Die ersten Szenen, in denen der Männer- bzw. Brechtchor auftritt, sind bestimmt von der Topik der Grenzerfahrungen und der kulturellen Fremdheit. Dies konkretisiert sich zunächst in einer Szene zur Übersetzungsarbeit, in der ein Machtdiskurs zwischen dem dänischen Arbeiterschriftsteller Andersen Nexö und dem deutschen Brecht sichtbar gemacht wird. Ein durch seine blonden Haare dänisch aussehender Mann betritt mit zwei Brecht-Darstellern die abgedunkelte Bühne. Sie positionieren sich im Dreieck, sodass der »Däne« weiter vorne im Rampenlicht im Fokus der Zuschauer steht. Die anderen Figuren stehen im hinteren, abgedunkelten Bereich. Er zittert, wie unter Strom ist sein Körper in ständiger Bewegung, seine Worte bringt er mit Zischlauten hervor. Aus dem Off geben die Brecht-Darsteller dem Zuschauer bekannt, dass es sich bei diesem schlotternden Mann um den DDR-Klassiker und dänischen Arbeiterschriftsteller Martin Andersen Nexö handelt. Dieser hebt sich durch seine skandinavisch wirkende Kleidung von den Brecht-Darstellern ab. Er trägt eine kurze graue Hose und ein graues Unterhemd dazu robuste schwarze Schuhen mit schwarzen Strümpfen. Besonders seine blonden, zum Zopf gebundenen Haare zeichnen ihn als Dänen aus. Seine Arme hängen längs am Körper runter, er wirkt wie eine Marionette, die von den Brecht-Darstellern durch Klatschen der Hände ferngesteuert, d.h. an- und ausgeschaltet wird. Sie lassen den Arbeiterschriftsteller aus den von Steffin und Brecht übersetzten Buch Erinnerungen zitieren. Die Stimme Andersen Nexös ist dabei vollkommen außer Atem und die Stimme variiert in der Laustärke – wird mal lauter, mal leiser. Auch der Rhythmus der Sprache ist unbeständig, mal dehnt er die Worte, mal spricht er sie schneller. Durch abrupte Pausen geraten die Kindheitserinnerungen ins Stocken und werden bruchstückhaft. Manche Sequenzen werden wiederholt, etwa wenn er von seinem hart arbeitenden Vater erzählt, der sich frühmorgens die Risse in der Haut mit Kerzenwachs einrieb. Seine Mimik ist während des Sprechens freudig erregt; die Bewegung und Körpersprache hat auch eine sexuelle Konnotation und sein Körper wirkt teilweise wie in verzückter Ekstase. Aus dem Off schneiden die Brecht-Darsteller ihm immer wieder das Wort ab und kommentieren in der »Pose des Meisters« die Qualität dieser dänischen Arbeiterliteratur. Brecht

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wird hier als Spezialist und Besserwisser inszeniert, der sich durch die Übersetzungsarbeit mit Margarete Steffin überlegen fühlt. Im Anschluss an diese Machtdemonstration tritt Andersen Nexö ab, die beiden Brecht-Darsteller treten vor und fangen an im Chor über das Dänische zu dozieren. Hierbei vergleichen sie die deutsche mit der dänischen Sprache und erklären, dass im Dänischen die Ausdruckformen begrenzt seien. Die Worte, die in Trolles Text von Steffin stammen, werden hier von Brecht-Darstellern ausgesprochen.164 Mit belehrendem Gestus sprechen sie direkt zum Publikum, nehmen mit großem Elan die Struktur des dänischen Satzbaus – vom Partizip, indirekten Objekt bis Schlussverb – auseinander und erklären dem Zuschauer die dänische Grammatik. Auf diesen Gestus des Lehrers folgt der Gestus des Fremden: Die Szenerie wechselt und der Zuschauer verfolgt ein amüsantes Gespräch zwischen Brecht und seinem dänischen Zigarrenverkäufer. Nun wird die vorherige Szene parodiert, indem Brechts tatsächliches Sprachniveau gezeigt wird. Der Zuschauer wird Zeuge einer denkwürdigen Unterhaltung, in der sich der große Literat auf dem niedrigsten Niveau, in rudimentärer Grammatik, mit einem Zigarrenverkäufer über verschiedene Tabak-Marken austauscht. Die Kommunikation ist äußert reduziert und allein die wiederholenden Anreden »Herr Brecht« und »Herr Jakobsen« und die Namen der Tabak-Marken wie »Kuba Zigarre« bestimmen das Gespräch. Die Kommunikation läuft also größtenteils über nonverbale Zeichen, es wird weniger ein konkreter Inhalt verhandelt, denn ein soziale Situation bzw. Zusammenkunft erzeugt. Doch dem Zuschauer wird kaum Zeit gegeben, sich darüber zu amüsieren, da er selbst in diese Fremdheitssituation eingebunden wird. Der Brecht-Chor wechselt seine Rolle und tritt nun als eine Art Volksschullehrer auf, der dem Zuschauer verschiedene Aufgabe erteilt, etwa das Wort »notgezwungen« auf Dänisch nachzusprechen. Diese steigen bereitwillig auf den Sprachkurs ein und formen nun selbst die fremden Worte. Durch die eigene Beteiligung in diese sprachlich reduzierte Welt, vermag der Zuschauer »nachzufühlen«, wie sich der Emigrant Brecht der fremden Sprachwelt annäherte. Es offenbart sich das Gefühl der Fremde, die Grunderfahrung der schwierigen interkulturellen Kommunikation. Insgesamt wird in dieser Szene der didaktische Auftrag des epischen Theaters spielerisch aufgegriffen und belehrendes und unterhaltendes Theater zusammengeführt. Von diesen Sprachschwierigkeiten im Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung ist die anschließende Chor-Performance weit entfernt. Diese ist durchgehend von einer Lehrhaltung geprägt, der Männerchor nimmt die Haltung des Belehrenden an, der Gedankengänge von Geistesgrößen der Zwanziger Jahre durchspielt. Dabei verändert der Chor seinen Habitus: Wie der Frauenchor wird er körperbetonter und exaltierter. Hierbei wird der ganze Büh164 | Siehe Trolle 2007b, 462.

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nenraum als Spielraum genutzt. Mit heftigem Körpereinsatz, die Hemden geöffnet, sprechen die Männer mit lauten Stimmen abwechselnd Gedanken von Brecht und Walter Benjamin. Die szenischen Anweisungen wiederholen sich: »Benjamin sieht/Benjamin behauptet«, Auszüge aus deren Gedankenwelten werden hinaus posaunt. Etwa wenn Benjamin beschreibt, welche Schwierigkeiten es ihm bereitet, ein fremdes Zimmer zu betreten. Hierbei wird der Spieler von der Last des Raumes, dessen Schwerkraft niedergedrückt und macht so mit seinem Körper das Gesagte sinnfällig. An anderer Stelle kann der Zuschauer beobachten, wie Brechts Aussagen zu Kafkas Tierparabeln, von einem anderen Chormitglied durch stöhnende Ausrufe eines imaginierten verletzten Tieres begleitet wird. Dabei liegt er langgestreckt auf dem Boden und stößt leidende Laute heraus. Nach diesem schweißtreibenden Körpereinsatz kommen die Männer, noch ganz außer Atem, auf Deutschland zu sprechen. In aufgeheizter Atmosphäre zitieren sie aus Brechts Arbeitsjournal, geben dessen Sicht auf Deutschland während der 1930er Jahre wieder. Abwechselnd sprechen sie seine radikalen Ansichten und Provokationen ins Mikrofon: »Die Deutschen sind ein Scheißvolk« oder »Augsburg eine Scheißstadt«. Dieses verhasste, aus seiner Sicht kleinbürgerliche Deutschland, wird in den folgenden Szenen durch die beiden Nummern »Besuche aus Deutschland« vorgestellt. Nach diesen Einschüben treten die Männer zum Schluss der Aufführung nochmals mit anderem Kostüm auf. Sie tragen nun weiße Hemden zu schwarzen Hosen, die mit ihrem breiten Bund entfernt an asiatische Gewänder und damit an Konfuzius erinnern. Wie in Trolles Theatertext schließt auch die Inszenierung mit Brechts Tagesablauf ab. Der Ansager, den der Zuschauer schon vom Beginn der Aufführung kennt, tritt in einem dunklen Anzug auf und berichtet im nüchternen Ton, was Brecht in diesem Moment gerade macht. Abgekoppelt von dieser äußeren Beschreibung der Bewegungsabläufe, geben zwei Brecht-Darsteller dessen Gedankengänge und Reflexionen wieder. Sie sprechen betont nüchtern und wirken geradezu mechanisch. Dabei ist der Sprechtext an bestimmte Körperbewegungen gebunden und die Bewegungs- und Sprechchoreografie wird mehrmals wiederholt. Die Akteure reproduzieren die gleichen Textstellen aus Brechts Journal, wobei sie sich die Sätze aufteilen; einer beginnt, der andere führt den Satz zu Ende. In gleichmäßigem Sprechrhythmus und absolut synchronen Körperbewegungen geben sie Brechts Gedanken zur deutschen Literatur oder zum deutschen Faschismus wieder. In Anlehnung an Heiner Müllers Hamletmaschine lässt sich hier von einer Brechtmaschine sprechen, in der sich Brechts Denken verselbstständigt bzw. in einzelne Ausschnitte und Gedankenfetzen zerrissen wird. Auf diese Weise wird der Sinnzusammenhang zergliedert und der Produktionsprozess herausgestellt. Dabei sind Aussagen Brechts zur politischen Situation durch Wiederholung oder Dehnung eines Wortes besonders betont. Während des mechanischen Bewegungsablau-

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fes zitieren die Männer, wie automatisiert, bekannte Gesten, etwa die erhobene Faust der Internationalen oder den ausgestreckten Arm des Hitlergrußes. Schließlich finden sie wieder zum einheitlichen Chor zusammen, die Bewegung erstarrt, sie halten sich an den Händen und sprechen absolut synchron. Wie Marionetten stehen die beiden Männer zum Schluss am Bühnenrand, in gerader Haltung blicken sie eine Zeit lang ins Publikum, bevor das Licht ausgeht und so der Erinnerungsraum von der Bühne verschwindet.

Kollektives Gedächtnis: Gegenüberstellung der totalitären Regime Der Erinnerungsprozess während der Performance ist weniger von einem Ort, oder, wie es bei anderen Gedächtnistheatern praktiziert wird, von einem tatsächlichen Gebäude oder Environment ausgehend, sondern durch mediale Impulse provoziert. Während in Trolles Text die Beschreibung des Hauses und der Landschaft dazu dient, die historischen Figuren zu verorten und dem Leser eine Orientierung zu geben, ist die Inszenierung ohne festes Bühnenbild und damit schwebend verortet. Allein durch Projektionen und Filmeinspielungen werden die Zeitebenen angedeutet und in der Sprache imaginiert. Immer wieder muss sich der Zuschauer eine Orientierung verschaffen, auf welcher Zeitebene er sich gerade befindet. Von ihm ist sehr viel Flexibilität gefragt, er muss sich einlassen auf den ständigen Wechsel der Zeit- und Spielebenen. Ähnlich wie im Theatertext wird erst allmählich eine allgemeinere, zeitgeschichtliche Ebene aufgebaut: Je näher man dem »Haus« bzw. Brecht kommt, desto mehr zeitgeschichtliches Material wird eingeflochten. Etwa in der Mitte der Performance wird der Blick verstärkt auf die Zeitgeschichte gerichtet; farblich ist dies in einem wirkungsvollen grün/blau Kontrast übertragen: Den Übergang zwischen »privatem« und »politischem« Bereich bildet eine Szene in der zunächst eine weite bis zum Horizont reichende Grünfläche eingeblendet wird. Zu diesem leuchtenden Grün werden Naturgeräusche und Vogelgezwitscher eingespielt. Der Ansager betritt, nur mit Arbeitskittel, Hemd und Unterhose bekleidet, die Bühne und kommentiert diesen leeren Ort, an dem kein Zeichen, keine Spur der Geschichte sich bemerkbar macht: »Da muss doch noch etwas anderes sein!! An einem Nachmittag im Juli, 28 Grad, kaum vor der Ostsee, da muss doch noch etwas anderes zu hören sein als Rohrdrommelmännchen, Zwergtaucherpärchen.« Er betont die Naivität, das Unwissen dieser Natur, die unfähig ist, ein eigenes Gedächtnis auszubilden oder etwas zu speichern. Er verzweifelt daran, dass an diesem, doch so geschichtsträchtigen Ort, nichts mehr wahrzunehmen ist. Über die projizierte Wiese wird nun das Strandhaus in Fünen in blauer Tönung eingeblendet. Diese nostalgische Tönung gemahnt den Zuschauer an die Vergangenheit, sie unterstreicht die Ferne. Der Spieleiter spricht die Stimme des Besuchers des Gartens und wundert sich laut: »Hier muss es doch noch etwas anderes geben als das Schweigen der Vorortsiedlung.« In dieses Schweigen fragt er das Publikum: »Kennen Sie eigentlich

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Karl Korsch?« Seitlich stellen sich nun die drei Frauen zum Chor auf, wobei sie wie Backgroundsängerinnen einer Musikband wirken, und sprechen chorisch Brentanos sehnsuchtsvolles und mystisches Gedicht Sprich aus der Ferne. Laut und bedrohlich schmettern sie die Verse und machen dazu ausladende Armbewegungen. Auf diese vorgetragene Aufforderung zu »sprechen« treten zwei Mitglieder des Männerchores an den vorderen Bühnenrand und sprechen simultan die verschachtelten Sätze aus der Theorie von Karl Korsch. Diese beiden Korsch-Sprecher sind die ganze Zeit über in Bewegung. Die chorische Körperchoreografie unterliegt dabei einem genauen Bewegungsablauf: Die Chormitglieder beginnen kniend auf dem Boden mit lauter, harscher Stimme den Text zu sprechen, dann erheben sie sich, laufen vor, drehen sich zueinander, fassen sich an den Händen, wenden sich wieder zum Publikum und kratzen sich kurz und zwanghaft am Ellenbogen. Daraufhin laufen sie wieder zur hinteren Bühne und wiederholen diese Sprech- und Bewegungschoreografie. Ihre Choreografie verleiht den vergeistigten Parolen von Korsch, die die marxistischen Thesen zusammenfassen und auf einem hohen Abstraktionsgrad angesiedelt sind, einen ganz eigenen körperlichen Ausdruck. Die theoretischen Sätze und die hoch politisierte Sprache werden in Bewegung im Raum übersetzt und durch die ständige Wiederholung von diesen schwitzenden, sich verausgabenden (Männer-)Körpern nachempfunden. Durch die exakte Wiederholung der immer gleichen Bewegung, selbst des zwanghaften Kratzens, wirkt es wie ein Gedankengebäude, eine zwanghafte Denkweise, aus der die Sprecher keinen Ausweg finden. Nach einigen Wiederholungen setzen die Frauen nochmals ihre Strophe an. Die Lautstärke und Intensivität steigert sich als der Spielleiter die Revolutionsparole zunächst auf Deutsch, dann auf Französisch anstimmt und damit auch auf die Internationalität der Bewegung weist. In dieses Stimmengewirr und endlose Wiederholungsmaschinerie der Sätze und Gesten wird eine sowjetische Hymne über Stalin und Filmaufnahmen über die Anfang der 1930er Jahre stattfindenden Maßnahmen zur Zwangskollektivierung der Landwirtschaft eingespielt. Während dieser Film läuft, löst sich die Chorformation auf, die Darsteller blicken noch einmal zum Publikum und treten dann ab. Der stalinistische Propagandafilm läuft mit lauten Triumph-Fanfaren weiter und der Zuschauer sieht die glorifizierende Darstellung des stolzen Kolchos – Bilder die angesichts der Genozide an den Kulaken heuchlerisch-bedrohlich wirken. Diese Propaganda-Bilder des Stalinismus gehen über in eine nationalsozialistische Filmcollage, auf der ein starres Bild einer militärisch aufgestellten Arbeiterformation mit Spaten in der Hand und nacktem Oberkörper zu sehen ist. Über diesem unbeweglichen Standbild der Arbeiterschaft ist rechts, schreiend und gestikulierend, Hitler zu sehen. Im Gegensatz zu der unbeweglichen, ins Leere starrenden Arbeiterschaft, ist der Diktator ständig in Bewegung und agitiert die Massen, die im Hintergrund mit aufwallenden, frenetischen Jubelschreien zu hören sind. Auf die Bühne

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tritt ein Schauspieler mit grauem Arbeiteranzug (er hat zuvor Andersen Nexö gespielt), stellt sich mit einem Mikrofon seitlich des Films und kommentiert das Hitlerbild: »Wenn ich den sehe, denke ich an Schönbergs Satz: Wunderkinder sind Leute, die mit sechs Jahren schon so unbegabt sind, wie andere mit sechzig.« Mit diesem Kommentar gibt er die Meinung des Komponisten und Brecht-Mitarbeiters Hanns Eisler wieder. Seine verstärkte Stimme muss mit der lautstarken Agitation des Diktators und den Massenrufen im Hintergrund konkurrieren. Er ist schwer zu verstehen, mit freundlich-lächelnder Mimik erzählt er eine Anekdote, die von einem Oberkellner handelt und angesichts der filmischen Präsenz Hitlers unpassend wirkt. Der Darsteller gibt sich sichtlich Mühe die Anekdote ansprechend wiederzugeben, seine galante Art und der Versuch gleichzeitig zu den Hitler-Schreien die Stimmung zu heben, wirken absurd. Nachdem er aufgehört hat, zu reden, ist nur noch Hitler zu hören. In Endlosschleife werden der nationalsozialistische Kampfruf, dass sie wieder siegen werden und der tosende Jubel der fanatischen Menschenmassen eingespielt. Danach Stille, in diese Stille fragt der Darsteller von Hanns Eisler nun mit ernster Miene: »Wieso lacht denn keiner?« Es folgt eine kurze Pause und dann fragt er wieder: »Das gibs doch nicht, dass keiner lacht. Was ist denn los verdammt? Nun lacht doch mal.« Diese Frage ist natürlich grotesk. Sie verweist auf eine Realitätsferne, ein Unverständnis für tatsächliche Probleme der Arbeiter unter den beiden totalitären Systemen. Auch betont sie die gesellschaftliche Kluft – auf der einen Seite der eloquente gutbürgerliche Eisler, auf der anderen Seite die dumpfe, im System eingespannte Arbeiterschaft. In diesen Szenen breitet sich eine beklemmende und gleichzeitig aufreibende Atmosphäre aus. Der Kontrast zwischen den lärmenden Massen, die frenetisch ihrem »Führer« zurufen, die Gleichzeitigkeit dieser Massenbewegungen und totalitären Regime, der Fanatismus, der sich in diesen Bewegungen ausbreitet und auch die Bezüge zur dunklen Romantik bilden zusammen eine widerspruchsvolle Perspektive auf Brechts Exil und dessen politisches Denken.

III Straßenszene: Er weiterung der Perspektive Werden auf der internen Kommunikationsebene Atmosphäre und Widersprüche der faschistischen Zeit dargelegt, suchen die Darsteller diese Ebene immer wieder aufzubrechen und das Publikum auf der externen Kommunikationsebene mit einzubeziehen. Wiederholt wenden sie sich mit offenen Fragen an die Zuschauer und suchen Reaktionen zu erwirken. Gegen Ende der Inszenierung, nachdem zwei Brecht-Darsteller den Zuschauern ihre prekäre Flüchtlingssituation mit den eindringlichen Worten »Vertriebene sind wir« bezeugt haben, folgt eine Sprechpause. Während der Stille wird auf den Leinwänden das gerade gefilmte Publikum eingeblendet. Die gesamten Darsteller positionieren sich, abwechselnd Mann und Frau, in einer Reihe am vorderen Bühnenrand. Sie blicken frontal zum Publikum und sprechen gemeinsam die

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berühmten Worte Brechts: »Glotzt nicht so romantisch. Wir sind hier doch keine Lackfabrik.« Jedes Wort wird stark betont und das Wort romantisch sehr gedehnt. In diesem Wechsel der Zeit- und Kommunikationsebene richtet sich der Blick auf die unmittelbare Gegenwart und der Zuschauer wird mit sich selbst konfrontiert. Dies muss er eine Zeit lang aushalten. Von diesen gespiegelten Gesichtern des Publikums wechselt der Blick durch einen eingespielten Film aus dem Theaterraum hinaus auf den städtischen, öffentlichen Raum. Auf der Leinwand sind nun Bürger der Stadt München zu erleben, die ihre Meinung zu Brecht äußern. Dieses dokumentarische Material aus den späten 1990er Jahren vermittelt dem Zuschauer ein Bild darüber, was im individuellen Gedächtnis der Menschen zu Brecht abruf bar ist bzw. was ihnen spontan zu Brecht einfällt. Die Befragten bilden einen zwar nicht repräsentativen doch durchaus heterogenen Querschnitt der Münchner Bevölkerung, es äußern sich ungefähr dreißig Personen unterschiedlichsten Alters, Geschlechts, nationaler und sozialer Identität zu Brecht. Die Antworten und Kommentare wirken durchaus authentisch, scheinen ein wahrhaftiges Bild vom Wissen bzw. Nichtwissen wiederzugeben. Fast jeder der Befragten gibt an, den Autor zu kennen, die meisten Jüngeren haben sichtlich Schwierigkeiten die Persönlichkeit einzuordnen, zwar kennen sie seinen Namen, wissen, dass es sich um eine Berühmtheit handelt nach der Straßen oder Schulen benannt wurden, sind sich aber unsicher, ob er noch lebt oder welche Art von Kunst er ausübt. Die Älteren wissen meist mehr, nennen Lieblingsstücke oder Gedichte, die ihnen spontan in den Sinn kommen. Auch geben viele an, dass Brecht aus Augsburg, also ganz aus der Nähe stammt. Es ist interessant, dass die ältere Generation sich ganz selbstverständlich von seiner politischen Gesinnung distanziert, dies aber nicht weiter konkretisiert. Ganz zu Beginn des Films äußert sich ein etwa 70jähriger Herr: »Ich meine mit seiner politischen Einstellung bin ich nicht einverstanden. Aber als Künstler war er großartig, ein ganz Großer. Kommt ja auch aus Bayern, ne.« Diese Meinung war in der Befragung Common Sense, nur ein türkisch aussehender Mann hebt Brechts Bedeutung als Kommunist hervor und bewertet dies sichtlich positiv. Insgesamt wird deutlich, dass Brecht als Teil der nationalen kulturellen Identität tradiert wird – besonders in München, so lässt sich schlussfolgern, sollte man den Namen kennen und ihn als Augsburger identifizieren können. Ein gewisser Stolz auf den berühmten Sohn der Stadt ist dabei den Befragten anzumerken. Auch zeigt sich, dass Brecht zwar als Klassiker bzw. als bedeutender Literat anerkannt ist, aber die politische Dimension des Werkes als Makel, als negativer Aspekt empfunden wird, der möglichst getrennt von der künstlerischen Leistung betrachtet werden sollte. In diesem Erinnerungsbild werden die Spuren der Geschichte, Spuren der Tabuisierung Brechts während des Kalten Krieges sichtbar und bezeugen, wie tief sich Bedeutungszuschreibungen der politischen Diskurse der 1950er und 1960er Jahre im kollektiven

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Gedächtnis eingraviert haben. Damit geben die Straßenszenen einen Blick in die gegenwärtige Gedächtniskultur und verdeutlichen dem Zuschauer, welche Distanz zwischen dem Erinnerungsmodell der Inszenierung und dem landläufigen Erinnerungsmuster besteht. Statt die politische Einstellung Brechts aus dem Erinnerungstext auszuschließen, wird in der Performance (im Theatertext schon in dem Titel klassenkampf ) die politische Dimension als immanenter Teil des Werkes und der Lebensgeschichte des Autors benannt und zeitgeschichtliche Bedingungen des Werkes offengelegt.

Brecht-Lektüren in Ost und West: Zwischen Leib und Verstand? Dieser politische Erinnerungsdiskurs zu Brecht, der in der Inszenierung geführt wird, wurde in der Presse nur teilweise aufgegriffen, meist aber überhaupt nicht zur Sprache gebracht. Die Pressestimmen zu dieser Auseinandersetzung mit Brechts Exilzeit fielen recht unterschiedlich aus. In den regionalen Boulevard Zeitungen wie der Abend Zeitung (AZ) und in der Tages Zeitung (tz) waren die Besprechungen der Inszenierung positiv. Ingrid Seidenfaden von der AZ hebt unter dem Titel »Eingesperrt unter dem Schilfdach« die szenische Darstellung der isolierten Situation in der scheinbaren Idylle hervor und skizziert den Schluss, in dem »das Bild eines dünnen Mannes am Ostseestrand« entstehe, der »weit draußen einen Vogel davon fliegen sieht«. Diese Strategie Brecht als Verbannten zu sehen, weiche stark von üblichen Perspektivbildungen ab, passend dazu sei die Außenperspektive auf Brecht, die mehr seine Mitarbeiter und Geliebten zu Wort kommen lasse und im Gegensatz zu vielen Hommagen und Dokumentarstücken stehe, in denen Brecht zur Ikone aufsteigt. In dem chorischen Theater werde »ein skeptisches Anti-Monument« geschaffen.165 Auch Barbara Welter von der tz skizziert sehr plastisch den Rahmen der Inszenierung, geht auf die historische Situation von 1938 und die ungleichen Orte Deutschland und Svendborg ein. Das Körpertheater des FTM nehme am Zuschauer eine »Schock-Therapie« vor, auf sehr eindringliche Weise setze es die Atmosphäre der Zeit, »diesen Gefühlsnotstand«, szenisch um. Diese Wirkung werde durch das »aggressive-expressive«, körperbetonte und gleichzeitig äußerst exakte Spiel der Schauspieler und die gedrillte, stark rhythmisierte Sprach-Choreografie erzielt.166 In der Süddeutschen Zeitung kehrt Bettina Sonnenschein unter dem Titel »Plärrende Frauen« negative Aspekte hervor. Zwar lobt die Rezensentin die Leistung der Schauspieler, kritisiert aber die Inszenierung von Georg Froscher, die ein Übermaß an Distanz schaffe und einen komplizierten Sprachbrei, der von den Zuschauern nicht mehr nachvollzogen werden könnte. Eingeprägt habe sich bei ihr nicht der Diskurs um die Situa165 | Siehe Seidenfaden 1998. 166 | Siehe Welter 1998.

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tion des verbannten Brecht, sondern die ihr absurd erscheinenden Aussagen der Befragten in der Straßenszene.167 Auch Christopher Schmidt vom Münchner Merkur sind vor allem die die Aussagen der Passanten wie »BeBe ist okay!« in Erinnerung geblieben. Er kritisiert die Inszenierung als zu stilistisch und informationsarm, die Textcollage erscheint ihm zusammenhangslos, zudem wirke die Sprach-Choreografie auf ihn wie »Brecht auf der Endlosschleife«. Georg Froscher habe sich zu sehr auf die perfekten formalen Aspekte konzentriert und in stilistischer Strenge mit Duetten, Repetitionen und chorischem Sprechen gearbeitet; Inhalt würde dabei wenig transportiert.168 Aus der kritischen Bemerkung, dass (zu) wenig Inhalt transportiert würde, geht auch eine gängige Vorstellung des postdramatischen Theaters hervor, das dieses generell unverbindlich sowie beliebig sei und vorwiegend die ästhetische Erfahrung während der Aufführung nicht aber eine inhaltliche Botschaft betone. Es wirkt fast so, also würde den Rezensenten ein Vorurteil über die künstlerische Praxis im FMT bestätigt werden, dass sie zuvor schon als Ort subversiver, postdramatischer Kunst eingestuft hatten. Möglicherweise verstellen solche Zuordnungen auch die Freiheit, sich auf die Zeichenpraxis des Performativen tatsächlich einzulassen und die Reflexionsangebote dieser assoziativen Diskurs-Räume anzunehmen und weiterzuführen. Auch ist die Reaktion der Rezensenten ein Zeichen der Überforderung und als Abwehrreaktion auf die Überfülle an Informationen zu werten. Wie in der Textanalyse gezeigt werden konnte, setzt das Stück ein hohes Maß an Hintergrundwissen voraus. Ohne Detailwissen zu der literarischen Produktion in Svendborg, der privaten wie politischen Situation Brechts ist es schwierig, dieses Puzzle zusammenzusetzen. Ein Wissensspiel, das möglicherweise aber auch auf unterschiedliche Bildungshorizonte in Ost- und Westdeutschland deutet bzw. auf die unterschiedliche Rezeption von Brecht verweist. Wurde doch in den »heißen Phasen« des Kalten Krieges in der BRD der kommunistische Brecht gerne ausgeblendet und teilweise mit Aufführungsverboten belegt. Wie in der Straßenszene zum Ausdruck kommt, ist Brecht auch in den 1990er Jahren in der westdeutschen Öffentlichkeit noch mit dem Makel des linken politischen Engagements behaftet. Diese Vorbehalte gegenüber dem kommunistisch gesinnten Brecht kommen beispielhaft in der Einschätzung des westdeutschen Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki zum Ausdruck, dass mit Brechts politischen Arbeiten ein Qualitätsverlust in seinem Werk einsetzt.169 Auch Rühle weist daraufhin, dass Brechts Rolle in der DDR, z.B. seine Reaktion auf den Aufstand am 17. Juni 1953, in Theatern der BRD diskutiert und gerade seine Parteinahme für die Sowjetunion als Schwachpunkt empfunden wur167 | Sonnenschein 1998. 168 | Siehe Sonnenschein 1998. 169 | Siehe Reich-Ranicki 2009, 189f.

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de.170 Dieser zweigeteilte Blick auf Brecht, die Unterscheidung zwischen dem Dichter und dem Kommunisten, äußert sich vielleicht auch darin, dass im Residenztheater mit einer Adaption des Baal bzw. Trommeln in der Nacht dem jugendlichen, »unpolitischen« Brecht gedacht wurde, abseits des Zentrums, in der Spielstätte des Freien Theaters aber dem politischen Brecht. Diese Fokussierung auf den jungen Brecht ist allerdings auch nachvollziehbar, da damit das Münchner Stadttheater seiner eigenen Geschichte nachgeht, wurden Brechts frühen Stücke doch an den Münchner Kammerspielen inszeniert und weisen so auf dessen bayrische Identität hin. Die Überforderung der Rezensenten der Süddeutschen Zeitung und der regionalen Zeitungen Münchner Merkur, AZ und tz am Wochenende kann auch unter Rücksicht auf die unterschiedlichen Zugänge zum Begriff des Klassenkampfes diskutiert werden. Diese Parole ist stark besetzt und hat im Osten sicherlich eine ganz andere Konnotation als im Westen. Wurde in der DDR der Begriff mit Antifaschismus gleichgesetzt, da im sozialistischen Weltbild der Kampf gegen die ausbeutende Klasse mit dem Kampf gegen die Nationalsozialisten gleichgesetzt wurde, ist diese enge Kopplung im Westen nicht gegeben. Dieses Pathos mit dem die Parole im Osten unwillkürlich besetzt ist, da sie in den Augen der politischen Führung auf die Errungenschaft des Sozialismus verweist, ist dem westlichen Diskurs fremd. Während der Klassenkampf-Begriff in der DDR den Mythos eines antifaschistischen Staates speist, wurde er in der BRD innerhalb der studentischen Bewegung der 1968er aufgegriffen, um sich von den bestehenden politischen Verhältnissen abzugrenzen. Der Begriff des Klassenkampfes war also nur für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppierung identitätsbildend, nicht für ein gesamtes Staatsgebilde. In der breiten Bevölkerung wurde die linke Parole nicht in Auseinandersetzung mit der politischen Theorie, sondern als ideologische Formel im Kontext des Kalten Krieges wahrgenommen und als Propagandamittel des Ostens verstanden. Eine wichtige Strategie in Trolles Text ist es, dieses Pathos des KlassenkampfBegriffs zu dekonstruieren. Diese Strategie ist in der Performance durch die Projektionen historischer Filme bzw. Bilder und den Vergleichen zwischen den Arbeitermassen unter Hitler und Stalin aufgriffen und verstärkt worden. Wie in Trolles Theatertext wird auf diese Weise faschistische der antifaschistischen Ästhetik gegenübergestellt und Parallelen aufgezeigt. Vor dem Hintergrund der gegensätzlichen Verständnisse und Erfahrungen, die mit dem Begriff des Klassenkampfes verbunden sind, lassen sich auch die Zuschauerreaktionen bzw. Rezensionen verstehen. Will man diesen Unterschied auf eine Formel bringen, kann man sagen: Für den Osten ist damit ein Weltbild widerlegt, für den Westen eines bestätigt. Insofern braucht es den Zuschauer auch nicht aufzuregen oder zu wundern, wenn ihm in der Inszenierung diese Zusammen170 | Zum Brecht-Boykott siehe Rühle 2014, 857.

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hänge vor Augen geführt bzw. der Begriff des Klassenkampfes als ideologische Formel vorgeführt wird. Betrachtet man die reine Körperinszenierung und die Art und Weise, wie der Klassenkampf auf Körper und Stimme übertragen ist, so wird deutlich, dass sich Trolles Künstlerstück und die Performance auch als Antistück zu Baal lesen lassen. Bekanntlich ist Brechts frühes Stück als Lobeshymne auf die Schwerelosigkeit des Lebens zu verstehen, das sich allein aus den Vorzügen des kleinen Materialismus speist. In diesem Weltbild werden »Baum«, »Wolke« und »Leib« zu Chiffren eines anarchistisch-sorglosen Lebens, das allein der Bedürfnisbefriedigung dient. Keiner Ordnung fügt sich dieser Fruchtbarkeitsgott, er lebt nur für den Augenblick, ohne Gedanken an die Konsequenzen und ohne Ehrfurcht vor den Mitmenschen. Wie Hannah Arendt in ihren Reflexionen zu Brecht ausführt, verlor sich mit der Hinwendung zum Politischen bzw. zum Kommunismus diese Schwerelosigkeit in Brechts Dramatik.171 Noch in der Hauspostille inszeniert er einen gegen kirchliche Tradition und Moral rebellierenden Körper, der auf seine Freiheiten als Mensch und auf ein Leben im Jetzt pocht. Demgegenüber stehen in der späteren Dramatik, wie in dem Lehrstück Die Maßnahme, Körper, die sich politisch organisieren und die chorisch angelegt sind, sodass sich der Einzelne dem Kollektiv unterordnen muss. Diese Änderung der Körperinszenierung lässt sich mit Arendts Hinweis auf Brechts Weltanschauung erklären, die durch eine starke Mitleidsethik geleitet ist. In Anbetracht der weltpolitischen Krise und der sozialen Verhältnisse rücken die Vergessenen, die die keine Stimme haben, in den Vordergrund und werden zu den eigentlichen Adressaten bzw. zum Sujet seiner Stücke.172 Im Jahr 1939 deutet Brecht das frühere, dem kleinen Materialismus huldigende Weltbild sogar als unmoralisch: »Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist?«173 fragt er in dem Gedicht An die Nachgeborenen (1938). In der Körpersprache der Performance wird dieser Widerspruch zwischen dem freien, sich-selbst-vergessenen Leib und dem politisch sich organisierenden Körper vorgeführt. In den ständig sich disziplinierenden Chorformationen, den plötzlich ausbrechenden und dann wieder militärisch werdenden Körpern, ist diese Dialektik zwischen Schwerelosigkeit und Politik übertragen. In der Zweiteilung, dem Wechselspiel zwischen Mann und Frau, ist noch ein Rest von der Unschuld zu spüren, mit der Brecht in der Hauspostille bzw. in dem Gedicht Vom armen B.B. Frauen und Männern ihren Platz in seinem Dichteruniversum zugewiesen hat. Diese Zweiteilung in weiblich und männlich gibt eine sehr binäre Lesart von Trolles Text vor und akzentuiert einen Aspekt, um den Erinnerungsraum an Brecht zu gestalten. Von dieser 171 | Siehe Arendt 1971, 87f. 172 | Siehe Arendt 1971, 96. 173 | Brecht 1990, 323.

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Struktur aus wird diese Dialektik, der spielerische Kampf zwischen Schwerelosigkeit/Lustprinzip und politischer Ratio im Theatertext und nochmals etwas deutlicher in der Performance ausgefochten. Da ist dieser Widerspruch: Wie lässt sich diese Idylle mit dem Zeitgeschehen vereinbaren? Der Kampf ist die Grundlage, die Ausgangsposition der Spielsituation. Immer wieder erfolgt die Disziplinierung der Körper, wobei ein Kampf gegen die eigene (Körper-)Lust ausgefochten wird. Diese Körperdisziplinierung bildet den roten Faden dieser Performance und lässt sich in verschiedenen Variationen beobachten. Etwa in der Szene als der dänische Literat Andersen Nexö von den Brecht-Darstellern als Marionette benutzt wird und dieser zappelnd und fast schon ekstatisch sich von ihnen führen lässt. Noch offensichtlicher kommt diese Disziplinierung in der Körperperformance der Frauen zum Tragen, die zwischen romantischer Sentimentalität/Liebeslust und dem Anspruch eines funktionierenden Arbeitskollektivs schwanken. Der Zuschauer kann nachverfolgen wie Lebenslust in diesem Chortheater umcodiert wird und das Politische in die private Situation eingreift, wobei die Stimmen agitatorischer, die Körper zackiger, die Bewegungen kontrollierter werden. Auch lässt sich an die Konsequenzen dieses politischen Kampfes denken, wenn Parallelen zwischen der Körpersprache der Faschisten und der der Antifaschisten herausgestellt werden. Eine Parallele, die auch Brecht in seinem Gedicht An die Nachgeborenen benennt und entschuldigend auf die »Finsternis« der erlebten Zeit verweist: Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut In der wir untergegangen sind Gedenkt Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht Auch der finsteren Zeit Der ihr entronnen seid. Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung. Dabei wissen wir doch: Auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht Macht die Stimme heiser. Ach, wir Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit Konnten selber nicht freundlich sein.174 174 | Brecht 1990, 325.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

Diese von Brecht beschriebene »Verzerrung der Züge«, die während des politischen Kampfes und den Zeiten der Krise entsteht, wurde in der Performance in Körpersprache übersetzt. Wie aus den Rezensionen hervorgeht, ist der Zuschauer genervt von dem schreienden, agitierenden Körper, der ihm die längste Zeit der Aufführung gegenüber steht. Dieser ist nicht ästhetisch, nicht schön anzuschauen, sondern widerstrebt den Rezensenten der regionalen Presse durch seine schreiende, abgehackte Stimme und den militärischen Bewegungen. Die Rezeption ist anstrengend, die Performance gibt dem Zuschauer wenig Ruhepausen bzw. Zeiten sich zu entspannen. Diese »verzerrte« Körpersprache lässt sich von der Wirkung her mit dem nerv tötenden, metallischen Klang zu Beginn der Aufführung vergleichen. Misst man die Performance an den Maßstäben des epischen Theaters, das unterhaltende und belehrende Funktion zu einem neuen Theater zusammenführen will, so wird deutlich, dass Kurt Bildstein und Georg Froscher sich für die eher politischbelehrende Variante entschlossen haben. Zwar gibt es Passagen, in denen die Strenge aufgehoben und der politische Kampf durch Slapstick und Sketch aufgebrochen wird, doch unterliegt diese Aufführung im Ganzen einer ernsten Tonart, die eine solche Leichtigkeit unterbindet und in dessen Atmosphäre der Körper diszipliniert wird. Von der Leichtigkeit und der hintergründigen Ironie, die in Trolles Theatertext vorherrscht, ist nur noch in wenigen Szenen etwas zu spüren – etwa in der Dialogszene zwischen Zigarrenverkäufer und Brecht oder in dem Dänisch-Schnellkurs. Das Lachen über die historischen Personen verliert sich hier, unfreiwilligen Unterhaltungswert erhält die Straßenbefragung, wenn deutlich wird, wie groß die Spanne zwischen kulturell forcierten Wissen und dem tatsächlichem Wissen über Brecht ist. Insgesamt zeigen die Lektüren von Theatertext und Performance vor allem eines: Die Schwierigkeit Brecht zu denken, ohne die Nachgeschichte mitzudenken. Hierbei ist zu sagen, dass der Text um ein vielfaches differenzierter vorgeht und ganz ausdrücklich die Komplexität der Erinnerung und die Politisierung des Künstlers auch in der Form reflektiert. Ähnlich wie bei Matusche sich die Dramenästhetik aus den Traditionslinien zur Weimarer Republik erklären lässt, ist auch Trolles Text stark von den Denkweisen und Traditionen des DDR-Theaters geprägt. Brecht zu erinnern, scheint für ihn nicht loszulösen zu sein von der Geschichte der totalitären Regime, aber auch nicht von dem Verlauf der deutschen Geschichte seit der Wende 1989/90. Trolle beschreibt den Zustand des Künstlers in den 1990er Jahren als Zustand im luftleeren Raum.175 Eine Umschreibung, der sich viele ehemalige DDR-Schriftsteller anschließen würden, etwa Heiner Müller, wenn er sich über fehlendes Feedback und Widerstände in der BRD beklagt,176 oder Frank Castorf, der sich nach Verboten 175 | Siehe Trolle im Gespräch mit Engelhardt (TdZ) 1999, 76. 176 | Siehe Müller/Kluge 1996, 39-53.

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sehnt.177 Die Berliner Republik der 1990er Jahre wird von den Künstlern als äußerst liberal aber gleichzeitig auch apolitisch empfunden; als eine Republik also, in der das klassenkämpferische Ideal als Relikt einer abgeschlossenen Epoche wirkt. In einem Aufsatz über die schwierige Zeitgenossenschaft der DDR-Literatur betont Bernhard Spies die enge Verzahnung der letzten Generation DDR-Schriftsteller mit dem Staat DDR und der sozialistischen Utopie. Diese zogen ihr Selbstverständnis und ihr Selbstbewusstsein aus der Annahme, wichtige Vertreter des Volkes zu sein; diesem eine Stimme bzw. eine Hoffnung zu geben oder für sie bestimmte Mängel auszudrücken. Mit dem Ende der DDR wurde ihnen auch der Auftrag zum Schreiben entzogen: Es ist die literarische Identität, die nunmehr der Boden entzogen scheint, und der Verlust erscheint vielen DDR-Autoren nicht weniger schmerzlich als ihr Kampf um Existenz und Identität im SED-Staat. Dessen Auflösung befreite die Autoren von der Bevormundung, verwies aber den Allgemeinheitsanspruch ihrer Utopien tatsächlich auf das Volk – und das Volk, das die Utopien der Schriftsteller zunächst zu verwirklichen schien, hat im Verlauf der Revolution, ohne auch nur an die Schriftsteller zu denken, diesem Anspruch abschlägigen Bescheid erteilt.178

In der Metaphorik der Leere und des Vakuums und dem Bild vom Ende der Geschichte kommt der von Spies beschriebene Utopieverlust zum Ausdruck. Die Schriftsteller nahmen die Wiedervereinigung Deutschlands aus einer vollkommenen anderen Warte als die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung wahr: Statt einer Euphorie über die friedliche Revolution zeigt sich oftmals eine Enttäuschung und Resignation. Viele der Künstler empfanden sich als Verlierer der Geschichte, die nun in einem vom Westen okkupierten Raum lebten. Mit der demokratischen Verfassung wechselte auch das Wirtschaftssystem – statt der Planwirtschaft trat nun die kapitalistische Marktwirtschaft auf den Plan. Der Westen als Sinnbild des kapitalistischen Systems wird auch in künstlerischer Hinsicht als seicht und gedankenlos bewertet, da hier das Geld den obersten Wert besitzt und auch die Kulturprodukte an ihrem Geldwert bzw. Tauschwert gemessen werden. Mit diesem Wandel geht ein Bedeutungsverlust der Kunst einher, da sich die politische Relevanz der Kunst verringert.179 In diesem Zusammenhang kann der Zustand des Exils, in dem sich Brecht in Trolles Stück befindet und der körperlich von dem Autor durch seine Reise an diesen Ort nachempfunden wird, auch als der gespiegelte Zustand der ostdeutschen Schriftsteller und deren Welterfahrung verstanden werden. Mit 177 | Siehe Kümmel/Castorf 2015. 178 | Spies 1990, 64f. 179 | Müller 1982, 50.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

diesem Künstlerstück hinterfragt Trolle die Konzepte des politischen Schreibens aus einer Nach-Wende-Perspektive heraus. Sein Text stellt nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem literarischen Vorbild Brecht dar, sondern eröffnet einen Diskursraum, um über die Möglichkeit von engagierter Literatur in einer postsozialistischen Ära nachzudenken. Das Volk für das Brecht sich im Exil einsetzte, welches er von der Unterdrückung befreien wollte, hat sich in diesem Zusammenhang von dem erkämpften Sozialismus losgesagt und die in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny beschriebene Freiheit des Geldes gewählt. Hinsichtlich dieser zeitgeschichtlichen Situation scheint Trolles Text auch zu fragen: Ohne den politischen Auftrag, ohne die Reise zum nächsten Dorf, wie es in Kafkas Fabel auf einer symbolischen Ebene gespiegelt wird, was bleibt von dieser engagierten Literatur? Der Rückzug ins Private? Die Komik nach dem klassenkämpferischen Gestus? Was bedeutet nun Klassenkampf in der Berliner Republik der 1990er Jahre?

F ik tionale G eschichtsr äume : R aum der G leichzeitigkeit Geschichte lesen, verstehen und wiedererzählen ist ein konstitutiver Teil von Trolles Dramatik. Dabei wird in Anlehnung an das Sintflut-Motiv Geschichte als Katastrophe, als Wiederkehr, Schreckmoment und Grauen inszeniert, welche die Gegenwart »aufmischt« und unmittelbar in sie hineinwirkt. Mit diesem Ansatz steht Trolle dem Denken Walter Benjamins sehr nahe, der in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen dafür plädierte, den Motor der Geschichte anzuhalten, um zurück auf die Trümmer der Geschichte zu blicken.180 Dieses »Zurückblicken« und »Anhalten« ist in der spezifischen Raum-Zeit-Struktur von Trolles Modell eingeschrieben, die zwischen Stillstand und Bewegung schwankt. So ist zu beobachten, dass einerseits eine Präzisierung stattfindet, etwa die Figurenhandlung in Zeitlupe nachvollzogen wird, und so eine Art Stillstand der Geschichte evoziert wird. Andererseits entziehen sich die Szenen durch die vielen Ortswechsel und Verschaltungen der Kommunikationsebenen einer konkreten Verortung. In dieser Raum-Zeit-Struktur entsteht ein Raum der Gleichzeitigkeit, in dem die Spuren der Vergangenheit aufgegriffen und in einen Gegenwartsraum transformiert werden. Die Struktur dieser fiktionalen Geschichtsräume lässt sich gut auf die Grafik beziehen, die auf dem Einband der Gesamtausgabe abgebildet ist. Diese zeigt ein vielstimmiges Kommunikationsnetz, das nahe und ferne Punkte miteinander verbindet. Die Art und Weise wie Trolle Geschichtsräume modelliert, scheint vorformuliert in den Aussagen, die Foucault über Phänomene des 20. Jahrhunderts, insbesondere zur Rolle des Raumes, machte. In seinem 1967 veröffentlichten 180 | Benjamin 1974a, 702f.

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Aufsatz Von anderen Räumen unterscheidet er zwischen dem 19. Jahrhundert als Zeitalter der Zeit und dem 20. Jahrhundert, welches mit dem Anbruch der Moderne, das Zeitalter des Raumes erreicht habe: Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten. Die Welt wird heute nicht so sehr als ein großes Lebewesen verstanden, das sich in der Zeit entwickelt, sondern als ein Netz, dessen Stränge sich kreuzen und Punkte verbinden.181

Geschichte wird nicht als kontinuierliche Kette von Ereignissen erfahren, sondern als netzartiges Gebilde, in dem sprunghaft einzelne Momente miteinander verbunden werden. In dieser Raumstruktur entsteht ein Raum der Gleichzeitigkeit, in dem Spuren der Vergangenheit aufgegriffen und in einem Gegenwartsraum transformiert werden, wodurch eine Ästhetik evoziert wird, in der Geschichte stets unabgeschlossen ist und in die Gegenwart hineinwirkt. Diese diskursartige, weit verzweigte Erinnerungsstruktur kann mit dem von Gilles Deleuze und Félix Guattari geprägten Begriff des Rhizoms beschrieben werden – jenem Wurzelgeflecht, welches postmoderne Ästhetik bzw. poststrukturalistische Wissensaneignung und Formen der Enthierarchisierung und Ent-Individualisierung zu verbildlichen sucht: »Ein Rhizom kann an jeder beliebige Stelle gebrochen und zerstört werden: es wuchert entlang seiner eigenen oder anderen Linie weiter.«182 Ähnlich der Struktur des Rhizoms und dem damit verbundenen »Prinzip der Vielheit«183 haben Trolles Texte keinen Mittelpunkt oder eine Hierarchie, da die Ereignisse und Szenen assoziativ und sprunghaft miteinander verwoben sind. Trolle verschiebt mit dieser netzartigen Technik das Augenmerk von der Handlung des Subjekts hin zu kollektiven Prozessen. Anders als Matusche, der seine Zeitstücke und Geschichtsdramen aus der eigenen Erinnerung heraus und von besonderen topografischen Orten her entwickelt, gestaltet Trolle seine Geschichtsräume von literarischen Erinnerungsorten aus. Vor allem randständige Literaturen des 20. und 19. Jahrhunderts dienen ihm als Ausgangsbasis seiner fiktionalen Geschichtsräume, die er im Sinne Pierre Noras als Lieu de mémoire verwendet. Im Unterschied zum Mémoire de lieu, in dem Geschichte innerhalb einer sozialen Gruppe von Generation zu Generation tradiert wird, deutet die Einrichtung eines Lieu de mémoire auf den Abbruch einer Tradierung hin: Der Erinnerungsort als künstlich eingerichteter Ort dient nun als Speichermedium des kulturellen

181 | Foucault 1967, 317. 182 | Deleuze/Guattari 1977, 16. 183 | Deleuze/Guattari 1977, 13.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

Gedächtnisses.184 Mit diesem Wandel verlagert sich die Perspektive von einem persönlichen Gedächtnis auf ein kollektives Gedächtnis. Tilman Raabke nennt Trolle einen erinnernden Leser, der sich besonders in seinen späteren Arbeiten ganz »[…] der Verwendung, Überschreibung, dadurch aber auch Neulektüre von Fremdtexten […]«185 verschreibe. Das Verfahren lässt sich mit Benjamins Methode der literarischen Montage vergleichen, in der ohne Anführungszeichen zitiert wird und aus vielen fremden Anteilen ein neuer Wahrnehmungsraum auf die Geschichte entsteht.186 In dieser Neulektüre wendet der Autor unterschiedliche intertextuelle Verfahren an, durch welche eine Literatur in eine andere transformiert bzw. überschrieben wird. Diese Verfahren können mit Genettes Intertextualitätstheorie aus der Studie Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (1993) weiter ausdifferenziert werden.187 In seiner »einfachen« Variante kann diese Methode des Wiederbeschreibens als Verdopplung eines Werkes verstanden werden (direkte Transformation). In dieser Variante kann der Hypertext eindeutig auf einen zugrundliegenden Hypotext bezogen werden, wie anhand Ulysses von Joyce deutlich wird, in dem die Geschichte der Odyssee in die Gegenwart und in die Topografie Dublins verlegt wird.188 Vielfach komplizierter gestaltet sich der Fall bei der indirekten Transformation, z.B. in Vergils Epos Aeneis, bei dem auf mehrere Hypotexte Bezug genommen und statt der konkreten Handlung der Stil bzw. die Manier aufgegriffen wird (indirekte Transformation).189 In Trolles Texten wird meist die direkte Transformation angewendet. Von den zahlreichen Methoden, die Genette für die Transformation darlegt, sind für Trolle jene wichtig, die in das Raum-Zeit-Gefüge des Textes eingreifen, den Hypotext verdichten, verknappen, ausdehnen oder umstrukturieren. Er verlegt die Handlung oftmals in die Gegenwart (Tempuswechsel), verändert den Stil (Versifikation, Prosifikation) und wendet vor allem das Verfahren der Amplifikation (Ausweitung der literarischen Topografie) an. Seine Texte lassen sich hinsichtlich der intertextuellen Verfahren der Montage, Dehnung und Verdichtung analysieren. Zunächst sind solche Texträume zu nennen, die allein aus dem Verfahren der Montage entstehen. Dieser puristische Umgang mit dem Ausgangsmaterial ähnelt den Grundprinzipien des Dokumentartheaters von Peter Weiss. Ohne Fremdtexte und Kommentare, allein durch die Dramaturgie, wird der 184 | Siehe Nora 1990, 11. 185 | Trolle 2007, 590. 186 | Siehe Kranz 2011, 108. 187 | Mit dem Ausdruck Palimpseste meint Genette den Vorgang des Wiederbeschreibens, welcher geschichtlich auf die Wiederbeschreibung wertvollen Pergamentpapiers zurückgeht, auf dem das vorher Geschriebene noch durchscheint. Siehe Genette 1993, 2. 188 | Siehe Genette 1993, 15. 189 | Siehe Genette 1993, 16.

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literarische Text für das Theater auf bereitet. Der Autor arbeitet hier vor allem mit der Methode der Verknappung und der Aussparung, zudem ändert er die Anordnung und den zeitlichen Verlauf. Hierdurch verändert sich die Dramaturgie des Textes insofern, dass statt einer sinnvollen Chronologie, eine assoziative, lose, erst zu entziffernde Handlung bzw. Szenenfolge entsteht. Gut ist diese Vorgehensweise in dem Hörspieltext Dshan nachzuvollziehen, in welchem Trolle den Roman von Platonow so montierte, dass nicht mehr der sowjetische Ingenieur die zentrale Figur spielt, sondern das Wüstenvolk, welches im Zustand des Wartens verharrt und so statt einer Handlung, die Beschreibung einer Situation ins Zentrum des Textes gerückt wird.190 In dieser Imagination von Vergangenheit wird die Amplifikation zu einem zentralen Stilmittel von Trolle, wobei der vorgegebene fiktionale Ort eines Hypotextes ausgedehnt, neue Szenen hinzugefügt und so der fiktionale Raum erweitert wird. In diesen Texten kombiniert Trolle das Verfahren der Montage mit dem der Dehnung und Adjektion. Ein sich durch das gesamte Werk ziehendes Verfahren ist die Ausweitung der literarischen Topografie. Trolle dehnt hierbei den imaginierten Raum aus, findet neue Zusammenhänge und Orte. Nicht selten erzeugt dies eine komische Wirkung. Hinsichtlich dieser Form der Amplifikation bzw. dieser Ausweitung des Textraums lassen sich zwei Typen unterscheiden. Der erste Typ verbleibt im fiktionalen Raum des Hypotextes und weitet nur diesen intradiegetischen Bereich aus, sodass sich die Ausdehnung auf das vom Fiktionsrahmen vorgegebene Zeit-Raum-Kontinuum beschränkt. Eingängige Beispieltexte für diesen Typ sind Texte, die Trolle anlässlich des 60. Geburtstages von Heiner Müller geschrieben hat. Bereits in den Titeln wird die topografische Ausdehnung deutlich: Die angrenzenden Räume von Heiner Müllers Stück ›Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande‹191 und Zu Heiner Müllers ›Der Lohndrücker‹ 192 sind als Tribut an Müllers Theatertexte zu verstehen. Im zweiten Typ weitet Trolle die Methode der Amplifikation auf den extradiegetischen Raum aus. Dies konnte anhand des Textes klassenkampf gezeigt werden, in dem die verschiedenen Erzählebenen miteinander verschachtelt und der extradiegetische Raum in den Theatertext eingebunden wurde. In diesem Verfahren erhöht sich die Zahl der Zeitsprünge und Verschiebungen der Raum-/ Zeitachsen. So dehnt Trolle nicht nur den, im Hypotext vorgegebenen, Imaginationsraum aus, sondern verändert die Umgebung so, dass die Geschichte aus ihrem historischen Kontext herausgerissen und in moderne Zeitlandschaften versetzt wird. Neben dem Unterscheidungskriterium direkt/indirekt hebt Genette die Haltung des Autors gegenüber dem bearbeiteten Hypotext hervor: Ist die Hal190 | Siehe Trolle 2009, 51-62. 191 | Storch 1988, 220-221. 192 | Storch 1988, 206.

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tung distanziert-ironisch, so lässt sich von einer Parodie sprechen, liegt dagegen eine ernsthafte Haltung vor, von einem Pastiche.193 Die Haltung, die Trolle gegenüber dem bearbeiteten Hypotext einnimmt, ist durchgehend ironisch und tendiert zur Parodie. Hinsichtlich der Haltung gegenüber dem bearbeiteten Material ist der Einfluss des frühen Brechts nicht zu übersehen, was z.B. an der 1997 inszenierten Schuloper Die Reise deutlich wird. Das Stück basiert auf der biblischen Geschichte der Arche Noah. Die Figuren Noah und seine Söhne Sem und Ham sind in das zeitliche Panorama des 20. Jahrhunderts versetzt, in dem Noah noch einen Schifffahrtsschein absolvieren muss und das alltägliche Leben auf der Arche mit den »Hunderten von Blumenwespen«194 und anderem Getier akribisch beschrieben ist. In dem Stück zitiert Trolle aus der frühen Prosa Brechts, den Kurzgeschichten Von der Sintflut: Betrachtungen bei Regen und Der dicke Ham.195 Die so verfremdeten Texträume spielen mit dem Effekt des Unerwarteten und lösen beim Leser Verwunderung aus. Es geht darum, einen anderen Blick auf die Geschichte zu entwickeln und Wahrnehmungsweisen zu schärfen. Wie anhand Trolles Künstlerstück gezeigt werden konnte, wird versucht, über Verfremdungsverfahren Aussagen über die Wirklichkeit zu machen und in diesem Sinne postdramatische Zeitstücke zu schaffen. In Trolles Theatertexten und Hörspielen wird demnach keine neue fiktionale Welt geschaffen, sondern das »Widerlesen«, d.h. die kritische Lektüre, zur kulturellen Technik verfeinert. In Einklang mit Autoren wie Heiner Müller, Peter Handke oder Elfriede Jelinek hat sich der Ostberliner Autor von der Idee einer Autonomie von Autor/Werk vollkommen verabschiedet. Trolle entwickelte seine Art zu schreiben in einem Ostberliner Künstler-Milieu, welches sich vom »öffentlichen Raum« der DDR zusehends abwandte und eine eigene Realität innerhalb eines subversiven Raumes auf baute. In diesem herrschte das Gespräch über Literatur – vor allem über jene, die auf dem Buchmarkt schwierig zu erhalten und zensiert war und innerhalb des regulierten Systems der SED-Diktatur andere Denk- und Sichtweisen sowie Phantasieräume eröffnete. Es herrschte die Tendenz entgegen dem Diktat des Rationalen, Vernunftbestimmten hin zu literarischen Traditionslinien, die sich bereits im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Idealisierung der Vernunft entwickelt hatten und Phantastisches, Widersprüchliches und Unerklärliches hervorbrachten. Zu dieser in der DDR bis in die 1970er Jahre verfemten Literatur gehörten Vertreter der Romantik wie Kleist oder E.T.A. Hoffmann, aber auch der Moderne

193 | Zur Parodie siehe Genette 1993, 24-28. Zum Pastiche siehe Genette 1993, 130f. 194 | Trolle 2007, 448. 195 | Siehe Brecht 1973, 99-100.

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wie Kafka oder Beckett.196 Zusammenfassend lockten also jene literarischen Traditionen, die nichts mit der zweckgerichteten Literatur des sozialistischen Realismus gemein haben, die sich von der Linearität in Raum und Zeit verabschieden und diese auf brechen, um Platz für Unbewusstes, Verborgenes, Spielerisches und auch Sinnloses zu schaffen. In Lothar Trolles Texten zeigt sich vor allem der Einfluss von Autoren, die die Marionette als Strukturmittel einsetzen und mit der Wachheit für Absurdität das Leben behandelten – angefangen im 19. Jahrhundert bei Franz von Poccis Marionettentheater über Alfred Jarrys absurde Theaterformen bis hin zu dem russischen Theaterautor Daniil Charms. Das Unvermittelte, Dadaistische und Sinnlose tritt hier auf den Plan. Die Marionette zeigt eine von einer »unsichtbaren Hand« geführte Welt, die sich gegen jegliche Einfühlung bzw. Innerlichkeit sperrt und eine mechanistische Sicht auf die Lebenswelt vorführt. Deswegen wird sie als Sinnbild des gelenkten Menschen innerhalb eines Systems und als Beweismittel gegen die Rede von Souveränität und freien Willen genutzt. In diesem Kontext lassen sich die in der DDR entstandenen Arbeiten als kritisches Gegengedächtnis zur offiziellen Kultur lesen – spiegeln sie doch einen absurden Blick auf die Gesellschaft wider. Stücke wie Papa Mama (1965) oder K.s Kasperspiele (1984) veranschaulichen, wie Figuren in einem System von Zwängen gefangen sind und sich in ihrem Alltag unterschwellig Bedrohliches in Form von Ängsten und Neurosen einschleicht. Die in diesen Texten zum Ausdruck kommende Mischung aus Alltagsgeschichte und boshaftem Lächeln brachte Heiner Müller dazu, Trolle mit Kaspar Hauser zu vergleichen: Lothar Trolle ist eine Figur aus einem Text von Lothar Trolle. Sein bürgerlicher Name lautet Kaspar Hauser. Von seinem Namensvetter hat er den fremden Blick auf die Wiederkehr des Gleichen in der Tretmühle des Alltags und die Ahnung von einem endgültigen Schrecken, der seine Clownerien schwarz grundiert.197

Mit der Wende 1989/90 hat Trolle seine Technik des Widerlesens und des intertextuellen Komponierens kontinuierlich weiterentwickelt. Ab den 1990er Jahre türmen und schichten sich seine Theatertexte zu Textmassen auf, die so komplex und diskursiv sind, dass sie den Leser/Zuschauer zunächst überfordern. Sie sind postdramatisch in dem Sinne, dass sie Mitarbeit und Partizipation des Lesers herausfordern und mit gewohnten Formen und Wahrnehmungsstrukturen brechen – angefangen bei der Textgrafik bis hin zur intertextuellen 196 | Zur Ausgrenzung und Verfemung der Moderne im Literatursystem der DDR siehe Erbe 1993, 55f. und zu der Rezeption der Moderne unterhalb der Schriftsteller, etwa im Künstlermilieu des Prenzlauer Berges siehe Erbe 1993, 154f. 197 | Müller zitiert auf dem Umschlag der Werkausgabe Nach der Sintflut, siehe Trolle 2007.

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Ausrichtung des Textes. Ähnlich wie Matusche weist auch Trolles Dramatik ein hohes Geschichtsbewusstsein auf; in seinen Texten wird die gegenwärtige Situation immer in Relation zur Vergangenheit dargestellt und so Fluchtlinien zur (deutschen) Geschichte eröffnet. Doch während bei Matusche die Geschichte in ein sinnstiftendes System eingebunden ist und so als identitätsstiftender Ort der Selbstbeschreibung fungiert, wird bei Trolle Geschichte in Bruchstücken und Momentaufnahmen erzählt. Zwar behandelt Trolle auch sozialistische Themen, wie die Revolutionsgeschichte, doch »kehrt« er diese Geschichte um und liest sie gegen den Strich. Damit arbeitet er den Mythos auf, der die Revolutionsfiguren und die marxistische Geschichtschreibung umkreist. Mit dieser Ausrichtung lässt sich Trolle in Tradition zu Heiner Müller stellen – nicht zu dessen frühen Dramen der 1950er Jahre sondern zu den postdramatischen Texten, wie Hamletmaschine (1976), mit denen Müller mit der Tradition des (sozialistischen) Geschichtsdramas endgültig brach.198 Zeitlebens arbeitete sich Müller an der deutschen Geschichte ab, wobei ein wichtiger Fixpunkt das Drama des Zweiten Weltkriegs blieb. Zwar wählt Trolle andere thematische Schwerpunkte und »erzählt« auf viel leichtere Weise als Müller, doch zielt auch seine Dramatik darauf ab, sich das »Objekt der Geschichte« bewusst zu machen, sich im Raum der Gegenwart zu verorten und Fluchtlinien aufzuzeigen. Müller stellt heraus: »Um den Alptraum der Geschichte loszuwerden, muß man zunächst die Existenz der Geschichte anerkennen. Man muß die Geschichte kennen.«199 Im Folgenden werden Texte in den Blick genommen, die zur Wende-Zeit und in den 1990er Jahren entstanden sind. Diese skizzieren gesellschaftliche Zustände der Berliner Republik, thematisieren Spuren ostdeutscher Vergangenheit und erinnern an die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, vor allem an den Holocaust. In den Strukturanalysen werden Trolles fiktionalen Geschichtsräume näher dargestellt, die komplexe, vielschichtige Vernetzung von Zeit- und Raumebenen aufgezeigt und systematisiert.

Reaktionen auf Geschichte: Erinnerung an die Shoah in Das Dreivierteljahr des David Rubinowicz (1991) In der Studie Geschichte aufführen zeigt der israelische Theaterwissenschaftler Freddie Rokem, welche Bedeutung das Theater als Zeuge der Geschichte einnimmt und geht ausgehend von dem aristotelischen Grundsatz, dass Dichtung von Geschichte genau zu unterscheiden sei, auf die Verquickung von Geschichte und Theater ein. Für Aristoteles nahm die Dichtung einen höheren Rang als die Geschichtsschreibung ein, bewege sie sich doch im 198 | Siehe Stillmarck 2015, 27. 199 | Müller 1982, 58.

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Bereich des Möglichen und des Universellen, während sich die Geschichtsschreibung allein an Fakten orientiere. Rokem resümiert, dass diese Unterscheidung zwar für das griechische Theater, welches sich auf mythische Narrative gründete, noch äußerst nachvollziehbar sei, bezogen auf das Theater der Moderne aber einer Revision bedürfe.200 Wie bereits im Kapitel zu Matusches Geschichtsdramen dargelegt, verweist auch Rokem auf die lange Tradition des Geschichtsdramas und verdeutlicht, dass Geschichte und Theater in einem sehr spannungsreichen, dialektischen Verhältnis zueinander stehen: Auf der einen Seite bedient sich die Geschichtsschreibung ästhetischer Mittel, um die historischen Fakten in eine narrative Form zu bringen. Diese Narrationen und Formen der Geschichtsschreibung wiederum fließen in die künstlerische Bearbeitung historischer Ereignisse auf der Bühne ein und können auch als Reaktion auf Geschichte betrachtet werden. Aus dieser Ausdifferenzierung zwischen Theater und Geschichte ergeben sich mehrere Konsequenzen, die für die Analyse aufgeführter Geschichte bedeutsam sind. Zunächst wird dadurch die gesellschaftliche Dimension betont, die das Theater bei der Darstellung von Geschichte einnimmt. Die Theateraufführungen werden als aktiver Teil innerhalb eines gesellschaftlichen Diskurses untersucht und die Rolle bei der Hervorbringung von kollektiven Identitäten herausgestellt. Bezogen auf nationale Identitäten sei laut Rokem, zu zeigen, wie Theater auf das geschichtliche Erbe eines Staates reagiert, entweder, indem es bereits bestehende Narrative bestärkt, zunehmend jedoch, indem es diese befragt.201 Unabhängig davon, auf welche Weise das Theater innerhalb dieser Diskurse agiert – ob unterstützend oder angreifend, komme dieser künstlerischen Form eine spezifische Aufgabe zu, die Rokem folgendermaßen beschreibt: Was im direkten Verhandeln der historischen Vergangenheit als dem Theater eigentümlich angesehen werden kann, ist sein Vermögen, ein Bewusstsein zu schaffen für die komplexe Wechselwirkung zwischen einerseits der Zerstörungskraft und dem Scheitern der Geschichte und andererseits den Anstrengungen, eine brauchbare und aussagekräftige künstlerische Arbeit hervorzubringen, die diese schmerzlichen Momente des Scheiterns zu konfrontieren versucht. 202

Diese schmerzlichen Momente der Geschichte werden zu Rokems vorrangigem Untersuchungsgegenstand. Anhand von Theateraufführungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind und überaus prägende geschichtliche Ereignisse der Neuzeit behandeln, stellt Rokem das ambivalente Verhältnis von Geschichte und Theater in seiner Komplexität heraus und zeigt auf, über 200 | Siehe Rokem 2012, 34. 201 | Siehe Rokem 2012, 25. 202 | Rokem 2012, 25f.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

welche schöpferischen Energien das Theater verfügt, um auf tiefgreifende, traumatische und identitätsbestimmende Erfahrungen zu reagieren. Rokems Thesen zur Dialektik von Geschichte und Theater bzw. seine Erkenntnisse über Darstellungsformen der Shoah lassen sich in Beziehung zu Trolles zur Wendezeit 1989/90 entstandenen Text Das Dreivierteljahr des David Rubinowicz oder Requiem auf einen Jungen, der nicht Rad fahren lernte setzen. Das Theaterstück wurde am 13. November 1991 im jüdischen Gemeindezentrum der Stadt Frankfurt a.M. in der Regie von Peter Eschberg (damaliger Intendant des Frankfurter Schauspiels) uraufgeführt. Ursprünglich ist es als Kinderhörspiel konzipiert und wurde ebenfalls 1991 in der Regie von Karlheinz Liefers im Deutschlandradio Kultur gesendet. Wie der Titel schon andeutet, basiert es auf dem in Deutschland weitgehend unbekannten Tagebuch des jüdisch-polnischen Jungen David Rubinowicz. Neben zahlreichen Auszügen aus diesem Zeugenbericht, verwendet Trolle eine Reihe von Intertexten, die dem jüdisch-polnischen Kulturerbe entstammen und auf die weit zurückreichende Geschichte des Judentums in Polen verweisen. Diese Referenzen auf die kulturellen und religiösen Eigenheiten sind assoziativ in das dokumentarische Material eingebunden und verbinden die individuelle Geschichte des Zeugen mit dem ihm zugehörigen, kollektiven religiösen und kulturellen Gedächtnis. Durch dieses Vorgehen stellt der Autor die Identität von David Rubinowicz in einen größeren historischen Kontext, charakterisiert die Orte seiner Heimat und betont, dass mit dem Völkermord auch die Geschichte der weit zurückreichenden jüdischen Kultur im polnischen Galizien endete. Bevor ich auf diesen vielschichtigen Erinnerungsraum weiter eingehe und zeige, welche Strategien Trolle anwendet, um diesen Zeugenbericht zu fiktionalisieren, soll das Tagebuch kurz vorgestellt werden. Das Heft wurde 1957 in der polnischen Kleinstadt Bodzentyn gefunden und 1960 in Polen publiziert.203 Im gleichen Jahr erschien in der BRD (Fischer-Verlag) und 1961 in der DDR (Volk und Welt) eine deutsche Übersetzung. Diesen Publikationen folgten keine neuen Auflagen, die Rezeption des Tagebuchs war zunächst verhalten. Dies änderte sich ab den 1980er Jahren: 1980 produzierte die DEFA den Dokumentarfilm Dawids Tagebuch (Regie Walther Petri und Konrad Weiß), Mitte der 1980er Jahre erschien es erneut in beiden deutschen Staaten in Kinderbuch-Verlagen und wird seitdem auch für den Schulunterricht genutzt.204 Das Zeugnis führt sehr nah an die Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten in Polen heran und macht sehr deutlich, welche Auswirkungen die Besatzung für den Lebensalltag der jüdischen Bevölkerung hatte. Der zwölfjährige Zeuge, David Rubinowicz, beginnt seine Schilderungen im Winter 1940, nur wenige Monate nach dem Überfall auf Polen. Zu diesem 203 | Siehe Weiß 1980, 1521-1524. 204 | Siehe Katalog der Deutschen Nationalbibliothek 2016.

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Zeitpunkt griffen bereits die Gesetze, die von der deutschen Zivilverwaltung im Generalgouvernement erlassen worden waren, um die als Juden charakterisierten Personen systematisch aus dem (verbleibenden) wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben auszuschließen. Jüdischen Kindern war fortan der Schulbesuch verboten. Der Zeuge nutzt sein Schulheft nun als Tagebuch und dokumentiert über zwei Jahre in immer kürzer werdenden Abständen, wie er und seine Familie zu Arbeitseinsätzen gezwungen, aus ihrem Haus in dem Dorf Krajno vertrieben und im Getto Bodzentyn angesiedelt wurden. Im Sommer 1942 brechen die Aufzeichnungen unvermittelt ab. Der Todestag des Zeugen kann durch die überlieferten Dokumente über die Auflösung des Gettos und die Abfahrtzeiten zum Vernichtungslager Treblinka bestimmt werden. Wahrscheinlich wurden David und seine Familie am 21. September 1942 nach Treblinka transportiert und dort noch am selben Tag ermordet.205 Wie reagiert Trolle in seiner künstlerischen Arbeit auf diese Verstrickung deutscher, jüdischer und polnischer Vergangenheit? Welche Strategien findet der Autor, um vor dem Hintergrund der problematischen deutschen Täter-Geschichte an diesen Zeugen zu erinnern? Der Autor muss sich zunächst mit der Frage konfrontieren, auf welche Weise er diese Zeugenschaft inszeniert, bzw. welche Wirkung dieser Zeugenbericht hervorruft. Er muss sich damit auseinandersetzen, dass das Identifikationspotential mit dem Opfer sehr hoch ist. Bei der Lektüre wird der Leser ganz und gar für diesen Jungen und dessen Schicksal eingenommen. Die Position des heutigen Lesers gibt ihm einen großen Wissensvorsprung, im Gegensatz zu dem Zeugen, weiß er bereits, dass dieser in Treblinka ermordet werden wird und seine Eintragungen, die unterschwellig von einer Hoffnung auf Besserung diktiert sind, unwiderruflich auf seinen Tod in der nationalsozialistischen Mordmaschine hinsteuern. Hinsichtlich der Lesewirkung ist dieser Vorschuss an Wissen als moralisch bedenklich zu beurteilen. Wie es Theodor Adorno in seinem berühmten Diktum feststellte, läuft auch diese Lektüre Gefahr, voyeuristische, spannungsvolle Züge anzunehmen und die Geschichte des Opfers zu einer UnterhaltungsGeschichte werden zu lassen.206 Eine Geschichte, die im Nachhinein in eine narrative Logik gesetzt, auf einen End-Punkt hinläuft und in der der Zeuge zur Romanfigur degradiert wird. Einer solchen narrativen Struktur, die eine voyeuristische Wirkung erzeugt, sucht Trolle in seiner Bearbeitung des Zeugnisses zu vermeiden. Die Bearbeitung dieses Tagebuchs berührt demnach die grundsätzliche Problematik bzw. die Fragestellung, auf welche Weise mit Zeugnissen der Shoah umgegangen und welche Darstellungsformen geeignet sind, um die Geschichte zu beglaubigen und deren Bedeutung zu vermitteln. Mit diesen Fragen hat sich der Theaterwissenschaftler Michael Bachmann in 205 | Siehe Rubinowicz 1961, 119. 206 | Siehe Adorno 1977a, 30.

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der Studie Der abwesende Zeuge. Autorisierungsstrategien der Shoah beschäftigt und anhand von literarischen Texten, Filmen, Theaterinszenierungen und Comics die Fiktionalisierung von Zeugnissen der Shoah diskutiert.207 Dabei stellt er unter Rekurs auf den Holocaust-Überlebenden Primo Levi und den Literaturwissenschaftler Lawrence Langer die These auf, dass eine besondere Herausforderung der Darstellung darin liege, gerade die Abwesenheit der wahren Zeugen der Shoah bzw. die dadurch sich ergebende Leerstelle zu vermitteln. Diese Leerstelle der Darstellung führe sich auch in den Zeugenberichten der Holocaust-Überlebenden in der Oral History fort. Deren Erinnerungen sind durch die traumatische Erfahrung der Todeslager nachhaltig geprägt, was sich in körperlichen und psychosomatischen Reaktionen niederschlägt. Wichtige Ausgangsbasis für Bachmanns Überlegungen bilden Langers Studien, die sich mit Fragen der Autorisierung des Holocaust beschäftigen und die Grenzen des Faktischen bzw. der konventionellen Geschichtsschreibung aufzeigen. In seiner ersten Studie The Holocaust and the Literary Imagination (1975) argumentiert Langer für die Ausdrucksform der Literatur, da die im Akt des Lesens hervorgebrachte ästhetische Erfahrung, einen Schwebezustand zwischen Realität und Fiktion produziere, der vergleichbar sei mit Wahrnehmungsmustern der traumatisierten Zeugen.208 Diese These entkräftet er allerdings in seiner zweiten Pionierstudie Holocaust Testimonies: The Ruins of Memory (1991), in der er die gesellschaftliche Bedeutung und Aussagekraft der aufgezeichneten Zeugenaussagen hervorhebt und diese Art der medialen Tradierung als authentischer und unmittelbarer als die literarische Darstellung einstuft. Während Literatur oftmals eine Gefühlsnähe zu den Opfern auf baue, ihnen heroische bzw. märtyrerhafte Züge zuschreibe, vermittle die medial aufgezeichnete Zeugenaussage wirkungsvoll die Ohnmacht bzw. »Nacktheit« der Opfer.209 Die Zeugenaussagen geben somit das paradoxe Gefühl einer »falschen Vertrautheit«210 wieder, das der Erfahrung entspricht, fremd mit sich selbst zu sein. In den Erzählungen der Überlebenden drückt sich das Trauma des Lagers dadurch aus, dass sie diesen Teil ihrer Biografie als etwas Fremdes betrachten. Deswegen führen gerade jene Berichte besonders unmittelbar und wahrhaftig an die Erfahrung der Shoah heran, in denen es die »[…] Überlebenden nicht schaffen, das Trauma in eine gewöhnliche narrative Erzählung zu verwandeln. Das heißt, dass die ›oral testimonies‹ der Shoah das Geschehene vor allem in der Unmöglichkeit bezeugen, es zu erzählen: in den Brüchen und Entstellungen der Sprache.«211 Diese Thesen Langers zur Undarstellbarkeit der Shoah 207 | Siehe Bachmann 2010, 29f. 208 | Siehe Bachmann 2010, 34. 209 | Siehe Bachmann 2010, 35f. 210 | Bachmann 2010, 34. 211 | Bachmann 2010, 34f.

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greift Bachmann in seiner Studie auf und zeigt, mit welchen literarischen bzw. künstlerischen Strategien die »Fiktionen der Zeugenschaft« es doch vermögen, die spezische Fremdheits-Erfahrung herauszustellen. Auch verdeutlicht seine Studie, dass es neben den ethisch-moralischen Vorbehalten, die Adorno gegen konventionelle Repräsentationstechniken ins Feld führt, auch kognitivpsychologische Gründe gibt, die gegen eine kohärente, realistisch-abbildende Darstellung der Shoah sprechen.212 Die Erkenntnisse zum abwesenden Zeugen gelten auch für Trolles Erinnerungstext, in dem verschiedene narrative Verfahren angewendet werden, um die Geschichte von David in Erinnerung zu rufen und die damit einhergehende traumatische Erfahrung zu bezeugen. Mit David Rubinowicz tritt eine relativ unbekannte Erinnerungsfigur auf die Zeugenbühne, die im Gegensatz zu der weltbekannten Anne Frank die Perspektive auf die osteuropäischen bzw. polnischen Juden lenkt. Der Erinnerungstext richtet den Blick auf den Austragungsort der Shoah, den der französische Philosoph Lyotard in Heidegger und »die Juden« (1988) als einen Ort im Dunklen einstufte, der durch seine Abwesenheit in der Öffentlichkeit charakterisiert sei. Ein Ort, der bereits geografisch weit von der deutschen Bevölkerung entfernt lag und von der Weltöffentlichkeit möglichst nicht entdeckt werden sollte.213 Dadurch, dass das Tagebuch gerade an diesem versteckten Ort geschrieben wurde und Auskunft über das besetzte Polen sowie die Situation der polnischen Juden in Ostgalizien gibt, ist es auch ein Zeugnis über die individuelle Geschichte Davids hinaus. Trolle erweitert den Horizont des Tagebuchs, indem er die Erzählstimmen pluralisiert und Erinnerungslinien an die jüdische Kulturtradition, wie Chassidismus, jüdische Musik und Humor hinzufügt. Durch diese Einbindung verweist der Autor auf die kulturelle Gemeinschaft, die der Zeuge angehörte und die mit der Shoah verschwunden ist. Um die Abwesenheit des Zeugen zu simulieren, versetzt Trolle das Tagebuch in eine erneute Zeugensituation und nutzt somit eine »Doppelstruktur der Zeugenschaft«214 (Bachmann). Zwischen dem Rezipienten und dem Zeugen schaltet der Autor eine weitere Fiktionsebene und stellt dem Zeugenbericht eine Szene voran, in der ein Junge in seinem Kinderzimmer sitzt und im Radio die Geschichte von David hört. Diese Methode des Spiel im Spiels bestärkt die Illusionsbrechung und betont den zeitlichen Abstand zwischen dem historischen Ereignis und der Gegenwart. Auf diese Weise ist David nicht figuriert, sondern allein als Stimme präsent und tritt wie ein »Gespenst« im Kinderzimmer auf. Zudem ist der Zeugenbericht in eine Rahmenerzählung eingebunden, die von einem Chor gesprochen wird. Wie in dem Künstlerstück klassenkampf setzt Trolle einen Chor als Erzähler 212 | Siehe Bachmann 2010, 85. 213 | Lyotard 2005, 36. 214 | Bachmann 2010, 54.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

ein; sprunghaft wechselt dieser Chor zwischen den Kommunikationsebenen, wendet sich mal dem fingierten Jungen im Kinderzimmer, dann wieder dem Zeugen David zu. Auf diese Weise agiert er als Moderator der Geschichte, der dem Zeugen souffliert, seine Handlungen ankündigt oder ihn auffordert, bestimmte Passagen aus seinem Tagebuch zu berichten. In der Tradition des Chors der griechischen Antike ist er über den Verlauf der Geschichte und das Schicksal des Zeugen bereits informiert. Aufgrund seines hohen Geschichtsbewusstseins hat sich der Chor eine zynische Haltung angewöhnt. Immer wieder unterbricht er David, wendet sich an die impliziten Hörer und mahnt, in einem anmaßend höhnischen Tonfall, den tatsächlichen Verlauf der Geschichte an. Auch beschreibt er die ambivalente Verbundenheit des Zeugen zur polnischen Heimat und liefert Beispiele von Diskriminierung und Antisemitismus. Durch diese Rückblicke, Einschübe und Kommentare des Chores wird das historische Zeugnis kontinuierlich fragmentarisiert. Die Distanzierung von dem Zeugen setzt sich in der Bearbeitung des vorgegebenen Sprachmaterials fort. Trolle ästhetisiert das historische Dokument, indem er es frei nach den Maßgaben eines Requiems formt. Durch den erläuternden Untertitel Requiem für einen Jungen, der nicht Rad fahren lernte wird diese Bedeutung des Stücks schon im Vorfeld der Lektüre festgelegt. Der Bezug zur katholischen Liturgie äußert sich weniger in einer strukturellen Analogie als in einer funktionalen Referenz. Den Leitgedanken des Requiems, der in der Bitte um ewige Ruhe und Erlösung der toten Seelen besteht (Requiem aeternam dona eis Domine), wird in dem Text aufgegriffen und die Unmöglichkeit einer Erlösung künstlerisch diskutiert. Mit dieser Absicht bewegt sich das Stück in der Tradition künstlerischer Arbeiten, die angesichts des Schreckens der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert entstanden sind und für die nicht beerdigten Toten Mahn- und Gedenkräume herstellen wollten. Das Theater bzw. Hörspiel wird in diesem Kontext zum Austragungsort eines Trauerprozesses. Trolles Text intendiert demnach, einen imaginären, transitiven Ort des Gedenkens an diesen Zeugen der Shoah zu schaffen. Im Gegensatz zum traditionellen Requiem, das Erlösung nach dem Tod verspricht, wird in dem Stück keine Erlösungsformel konstruiert. Der thematische Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der Allgegenwart des Todes, oder besser, der Einkehr der Todesangst in den Alltag. In einer Schlüsselszene des Textes beobachtet David von einem Feld aus, wie deutsche Soldaten einen bereits verwesten Leichnam eines Kameraden ausgraben und abtransportieren. Trolles Chor steigert Davids Entsetzen, indem er ihm zuflüstert: »Nun guck hin, David, wie die mit ihren Toten umgehen! Graben einen aus der Erde aus, doch das scheint ihnen nicht viel auszumachen, warum stecken sie sich jetzt eine Zigarette an und brechen in schallendes Gelächter aus.«215 Der Tod, so wird in dieser Szene 215 | Trolle 2007a, 307.

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deutlich, ist im Zuge des Krieges entmythologisiert; seine Bedeutung ist nicht mehr an einem heiligen Ort aufgehoben. Dem Raum, in dem die Leiche bestattet ist, wird die Bedeutung des Sakralen entzogen. Diese Einsicht spiegelt sich in dem Entsetzen Davids wider und kommt auch in der Warnung des Chores zum Ausdruck. Die Mahnung des Chores hat Appellfunktion; sie ist weniger an den fiktionalisierten Zeugen, sondern viel mehr an den impliziten Leser/Hörer gerichtet und kann als allgemeingültige Mahnung vor der Logik des Krieges interpretiert werden. Zu diesen beiden Strategien der Verfremdung, dem Spiel im Spiel sowie dem Bezugsraum Requiem, treten Mittel, die den Zeugenbericht weiter fiktionalisieren und theatralisieren. Diese Strategien bewirken einerseits eine Annährung und Einfühlung in die erzählte Welt des Zeugen, andererseits weiten sie diese Welt aus, sodass der dargestellte geschichtliche Raum Formen eines Traumes annimmt. Mit diesen Strategien kann die Grenzerfahrung, die mit der ständigen Todesbedrohung und Erfahrung des Sterbens einherging, in eine ästhetische Form übersetzt werden. Bereits die Einbindung eines überzeitlichen Chores verweist auf eine metaphysische Ebene. Diese Ebene wird durch die Einführung fantastischer Figuren weiter verstärkt. Es treten Figuren auf, die einer explizit non-realen Welt entstammen und die Grenze des Realen weit übersteigen. Besonders die Kräfte der Natur sind durch märchenhafte Wesen, wie Väterchen Frost und Frau Holle, unterstrichen. Diese Allegorien wenden sich zusätzlich gegen die jüdische Bevölkerung; indem sie es unablässig schneien, wehen und wieder schneien lassen, verstärkt sich die Grausamkeit der äußeren Welt und die Gewaltakte, die die Polizei gegen Davids Familie ausübt, werden auf unheimliche Weise durch die Märchenwesen autorisiert. Durch diese unheimliche Allianz zwischen der weltlichen Gewalt und den fantastischen Figuren wird das Böse in seiner Allmacht überhöht und die Ohnmacht des Zeugen überdeutlich herausgestellt. Mit dem Eintritt der fantastischen Figuren in die geschichtlichen Ereignisse werden fundamentale Gefühle des Ausgeliefertseins und der Verlassenheit transportiert. Diese irrationalen Figurationen, so suggeriert es der berichtende Chor, entstehen allein in der Wahrnehmung des Zeugen: Sie sind Produkte seiner Vorstellungskraft und somit Teil der von ihm bezeugten Geschichte. Das plötzliche Erscheinen dieser fantastischen Elemente kann mit Tzvetan Todorov als Anzeichen der Überforderung des Einzelnen angesichts der Unfassbarkeit der Ereignisse interpretiert werden. Nach Todorov verweise solche Wahrnehmung von Fantastischem darauf, dass die Regeln der vertrauten Welt gebrochen und das Individuum mit etwas konfrontiert wird, das in seiner Welt gemeinhin als unvorstellbar gilt.216 Rokem macht in seiner Studie auf die paradoxe Nähe zwischen der Fantastik im Sinne Todorovs und der Erfahrung der Shoah aufmerksam. 216 | Siehe Rokem 2012, 68.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

In allen von ihm analysierten israelischen Theateraufführungen beobachtet er, dass Regisseure Elemente des Fantastischen einsetzen, um die Erfahrung der Entgrenzung der eigenen Welt darzustellen: Die fantastischen Elemente werden als Mittel erprobt, um das Problem der Unbegreiflichkeit und der Unmitteilbarkeit der Shoah anzusprechen und zu konfrontieren. Ohne Zweifel ist es auch eines der Ziele dieser Aufführungen, zu zeigen, dass, was als zu fantastisch, um wahr zu sein, sich in der Tat ereignet hat. 217

Das Fantastische zeugt von einer Umkehrung der vertrauten Welt: Plötzlich sollen Regeln befolgt werden, die der bis bisherigen Ordnung widersprechen, mehr noch – sich jedem Sinn entziehen. Sie folgen einer fremden Macht, einem fremden Ordnungssystem, das sich für den Betroffenen nicht erschließen lässt. Diese Umkehrung des Gewohnten ist auch als Leitmotiv in die Dramaturgie eingeflossen. Bei der Transformation vom Tagebuch zum Aufführungstext nutzt Trolle das Mittel der Verdichtung. Aus den knapp hundertdreißig Seiten des Tagebuchs filtert er wichtige Momente, Wendepunkte und Grenzerfahrungen heraus und verdichtet diese zu einem kurzen Stück mit einer Spielzeit von etwa fünfzig Minuten. Davids Tagebuch, das einen Zeitraum von etwa zweieinhalb Jahren umfasst, wurde von Trolle auf ein Dreivierteljahr verkürzt. Das Stück beginnt im tiefsten Winter und endet im schönsten Sommer. In dieser Dramaturgie tritt Davids Erfahrungswelt als unheilvolle Paradoxie hervor. Die natürliche Ordnung der Jahreszeiten, die Gesetze der Natur, nehmen angesichts des grauenhaften Geschichtsverlaufs zynischen Charakter an: Mit steigenden Temperaturen, die in der normalen Welt Freude und Glücksmomente versprechen, verschlimmert sich seine und die Situation der jüdischen Bevölkerung zusehends. Jeder Monat bedeutet neue Schreckensnachrichten und eine Verschlechterung seiner Lebenssituation. Bei der Bearbeitung des Dokuments kommt es dem Autor nicht auf historische Genauigkeit an, sondern darauf, die strukturelle Verunsicherung, die ständig wachsende Angst, also eine Grundstimmung und Atmosphäre, zu transportieren. Die Wahrhaftigkeit ist wesentlicher als die faktische Genauigkeit. Ein wichtiger Bezugspunkt zwischen den verschiedenen geschichtlichen Epochen bildet die universelle Erfahrung der Jahreszeiten: Die allgemein-menschliche Empfindung von Kälte und Wärme, welche mit den natürlichen Erfahrungen von Winter, Frühling und Sommer einhergehen, werden genutzt, um den Rezipienten auf einer phänomenalen Ebene anzusprechen. Durch diese antithetische Struktur wird der Erfahrungsraum weiter entgrenzt und gezeigt, wie die Grundbedingungen des Menschseins aus den Fugen gehoben werden.

217 | Rokem 2012, 66.

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Mit diesen dramaturgischen Strategien verändert Trolle den Zeugenbericht zu einer Mischung aus Dokumentation, Zeugenschaft und Fiktion. Es entsteht ein hybrider Geschichtsraum, in dem die Handlung durch Momente des Fantastischen und des Unbegreiflichen gesteuert wird. In dieser Form wird Geschichte nicht als kontinuierliche Kette von Ereignissen erfahren, sondern als netzartiges Gebilde, in dem sprunghaft einzelne Momente miteinander verbunden werden. Dieser rhizomartige Geschichtsraum kann besonders hinsichtlich der Zeitstruktur als »Ge-schichte« (Kreuder) beschrieben werden. Der Begriff der Ge-schichte stellt nach Kreuder ein Gegenmodell zu der positivistischen Geschichtsdarstellung bzw. den großen Erzählungen dar. Wie der Theaterwissenschaftler anhand Grübers Gedächtnistheater erläutert, evozieren dessen Installationen und Performances eine gänzlich andere Art der Geschichtsvermittlung, »[…] [welche] die geschmeidigen Gedächtnispotentiale der Besucher nicht im Sinn einer gleichförmigen, im Bachtin’schen Sinne monologischen Begriffs von Geschichte, sondern der Einsicht in deren Viel-Schichtigkeit formte.«218 Statt einer auf Kontinuität, Stabilität und Dauer angelegten Geschichtsschreibung, die erklärend die historischen Ereignisse verortete, berücksichtigt eine solche Ge-schichte die vielfältigen, diversen Gedächtnispotentiale und generiert eine vom Rezipienten mitgeschriebene Form der Geschichte.219 Auch während der Lektüre von Trolles Erinnerungstext entsteht ein Raum der Gleichzeitigkeit, in dem sich Bruchstücke der Vergangenheit mit der Gegenwart vermischen und feste Abgrenzungen auf brechen, sodass Geschichte als stetiger und widersprüchlicher Prozess wahrgenommen wird, der unabgeschlossen in die Gegenwart hineinwirkt. Diese Art der Geschichtsdarstellung, die dem Rezipienten einen geordneten Überblick geradezu verweigert, fordert im Umkehrschluss zur aktiven Teilhabe auf. Nach Kreuder kann der Wahrnehmungsmodus des Besuchers einer Grüber Inszenierung mit dem eines Flaneurs (Michel de Certeau) verglichen werden. Statt eines Überblicks bzw. einer »panoptischen Sichtweise« werde durch diese Ästhetik ein »Blickin-die-Passage« begünstigt, der dem umherschweifenden, sich an der Oberfläche haltenden Blick eines Spaziergängers gleicht.220 Die Einstellungen und Wirkungsweisen von Grübers Gedächtnistheater lassen sich sehr gut auf Trolles Modell des Gehens beziehen. Auch bei der Lektüre von Trolles Texten wird der Leser aufgrund des fragmentarisch-partiellen Charakters des Textes zum »Gehen« bzw. zum Reflektieren und Imaginieren aufgefordert. Die Vernetzung des geschichtlichen Raumes wird schon zu Beginn des Stücks deutlich. Aus einem Aufnahmestudio wendet sich der Chor an den Hörer und fordert ihn dazu auf, sich eine bestimmte Situation konkret vor218 | Kreuder 2002, 107. 219 | Siehe Kreuder 2002, 107. 220 | Kreuder 2002, 108.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

zustellen: Er oder Sie solle sich jetzt in die Kindheit zurückversetzt fühlen, in eine Alltagssituation, in der man sich langweilt und mit den Spielsachen um sich herum nichts mehr anzufangen weiß. In dieser Situation ertönt aus dem Radio im Zimmer das Hörspiel über David Rubinowicz, das sofort die ganze Aufmerksamkeit des gelangweilten Kindes einnimmt. So wird Davids Zeugenschaft als mediales Ereignis präsentiert und dringt in die gut behütete Welt des Kinderzimmers ein. In der Folge beginnt das eigentliche Requiem auf David und der historische Raum wird eröffnet. Aus externer Lokalisierung nähert sich der Chor seinem Wohnort, blickt wie ein Voyeur in die Kammer des Tagebuchschreibers und berichtet, wie sich der Junge die ersten geschriebenen Zeilen selbst vorliest. Nach diesem ersten Eindruck wendet sich der Chor um und richtet den Blick auf die andere Straßenseite, wo man zwischen den Häusern frei liegende Felder sehen kann. Er lässt seinen Blick über die Landschaft schweifen, kartiert Orte wie Bodzentyn oder Kielce und weist Galizien als jüdischen Identitätsraum aus. Der Chor erklärt dem impliziten Leser/Hörer: »[…] falls Sie noch immer nichts ahnen, unsere Geschichte spielt dort, wo, wie der Dichter Scholem Rabinowicz, der sich später Alejchim nannte, schrieb […]«.221 Mit den daraufhin zitierten Texten von Scholem Alejchem erinnert der Chor an einen Klassiker der jüdischen Literatur. Der Schriftsteller stammte aus der Ukraine und wanderte 1905 aufgrund schwerer Pogrome in die USA aus. Er schrieb auf Jiddisch und machte es sich im Exil zur Aufgabe, in seinen Geschichten Mentalität und Lebensart seiner Heimat aufzubewahren. Besonders die Erzählungen vom gewitzten Hausierer Tewje, der Milchmann, die als Vorlage für die Broadway-Produktion Fiddler on the roof dienten, erlangten große Berühmtheit. Der wortgewandte, schelmische Milchmann spottet mit viel Wortwitz und Verschlagenheit seiner anhaltenden Armut und preist seinen Gott Jawhe dafür, ihn so gnädig hungern zu lassen: »Wie heißt es noch in unseren heiligen Büchern? ›Der Mensch kommt vom Staub und endet im Staub‹. Wo es nur irgendeine Plage oder ein Unglück gibt, muß ich unbedingt dabei sein.«222 Mit diesem Galgenhumor rettet sich Tewje aus den unmöglichsten Situationen. In der Literaturgeschichte gilt Scholem Alejchem als volksnaher Autor, der es vermochte Armut mit Witz zu schildern und dabei ein Lachen zu erzeugen, das aus einem Weinen hervorgeht.223 Trolle greift in seinem Erinnerungstext den jüdischen Witz aber auch die Lebensumstände und den Antisemitismus in Galizien auf und flechtet ein schauriges Kinderlied ein, das vom Mord an einem jüdischen Hausierer handelt: »Auf dem Weg hat man ihn erschlagen/ als er ist ins Dorf gefahren/kaufen ein Kälbchen und Waren/brachte man blu-

221 | Trolle 2007a, 294. 222 | Alejchem 1963, 106. 223 | Siehe Dinse 1978, 93.

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tig ihn getragen/eililulilu.«224 Diese Versatzstücke jüdischer Kultur vermitteln ein Gefühl für die ambivalente Heimat Davids und geben dem Leser/Hörer den Eindruck einer sehr ländlichen Region, in der Judenfeindlichkeit alltäglich und das Leben durch religiöse Rituale und Gemeinschaft bestimmt ist. Neben melancholisch-traurigen Tönen sind die zitierten Passagen von einer starken Gottes-Gläubigkeit durchzogen. Im Anschluss an die Beschreibung der kulturellen Landschaft fasst der Chor zusammen: »[…] dort wohnt unser Held, wo die Mütter ihre Kinder in den Schlaf lullen mit solchen Kinderliedern.«225 Dann wendet sich der Chor wieder dem Zeugen David zu und fordert ihn auf, nun selbst zu erzählen, was ihm während der Besatzungszeit widerfahren ist. David beginnt von dem strengen Winter 1940 zu erzählen, dem Frost und dem Schneetreiben. Er berichtet von dem Moment, als in diesem Winter die Polizei ins Haus stürmte und seiner Familie befahl, sofort hinaus zu gehen und auf der Chaussee Schnee zu schippen. An diesem Tag begann der Terror. Ab da mussten sie jeden Tag in die Kälte hinaus, gegen den Schnee ankämpfen und die Straße für das deutsche Militär freischaufeln. Sein Bericht erzeugt Bilder der anhaltenden Kälte des Winters, der Härte der Arbeit und vor allem, der steten Verunsicherung der Menschen. Am ganzen Körper spürt er die Entrechtung. David wird mit seiner Familie in ständiger Unwissenheit gelassen, die Befehle kommen plötzlich; die Regeln der normalen Welt gelten nicht mehr. Dieser Terror-Erfahrung stellt der Chor die Erfahrung von Rodel- und Winterspaß gegenüber und fingiert Kinder, die sich über den Schnee freuen, Ski und Schlitten fahren. Gehässig wendet sich der Chor an David und fragt: Und du, David, hast du zum Skilaufen auch die richtigen Langlaufstiefel, die dir wie angegossen passen, oder fährst du noch mit den alten Bindungen, die ständig von den Schuhen rutschen, daß man schon Wutanfälle kriegt, wenn man sie nur sieht. (Reden mit Davids Stimme weiter) Ich kriege bereits Wutanfälle, wenn ich nur sehe, was weiß ist und ich dabei zufällig an Schnee denken muß, aber ist es ein Wunder, nach all dem, was ich in diesem Winter durchmachen mußte. 226

224 | Trolle 2007a, 295. 225 | Trolle 2007a, 295. 226 | Trolle 2007a, 299.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

Deutlich nimmt der Chor eine distanzierend-spöttische Haltung gegenüber der Figur David ein und konterkariert dessen Sehnsucht nach Normalität und Sicherheit mit der Profanität von Alltagsproblemen. Höhnisch greift der Chor seinen Wunschtraum auf und lässt ihn weiter berichten, was er nach diesem Winter im Frühjahr erlebte. Der folgende Bericht wird zu einer blutigen Aufzählung, zu jedem Monat bringt David neue Beispiele von Gewalt, Schrecken und Terror. Ist der Frühling gemeinhin mit dem Gefühl des Auf bruchs und der Hoffnung verbunden, verschlimmert sich seine Lage bei Sonnenschein und unbeschwertem Wetter zusehends. Die Leiderfahrung kulminiert an dem Tag, als David mit seiner Familie das Heimatdorf verlassen muss und im Getto der nächsten Stadt angesiedelt wird. Der Abschied von dem Zuhause ist eine absolute Steigerung der Entwürdigung der Familie, gegen die sich David mit aller Kraft zu wehren versucht. Trolle lässt seinen Helden verschiedene Strategien gegen die Angst erproben: Er lässt ihn Widerstandslieder singen und sich selbst Witze über die bekannten Figuren Itzig und Schlomo erzählen. Auf die Mahnung des Chores, dass ihn kein Witz schützen werde, hält er unermüdlich seine Chuzpe, d.h. seine Gewitztheit und Verschlagenheit, entgegen. Zum Ende des Textes zeigt Trolle einen Jungen, der stolz auf seine jüdische Identität ist, demonstriert dessen jugendlichen Freiheitswillen und lässt ihn mit dem Rad über die Felder sausen. Diese Fiktion entsteht in der träumerischen Hitze der Sommermonate und bildet das Äquivalent zu der im Requiem üblich Erlösungsformel. Die Körperlichkeit des Zeugen ist betont, nicht seine Sprachfähigkeit. Trolle versetzt David in ein Galizien, das vom Krieg und dem nationalsozialistischen Fanatismus unbehelligt blieb. Er fingiert ein Land, in dem in dem Jahr 1941 keine Panzer fuhren, keine Flugzeuge dröhnten und keine deutschen Meldungen aus dem Radio zu hören waren. Der Chor ist ihm bei diesem Traum behilflich, übt mit dem Jungen das Radfahren und lässt ihn über die Straßen bis zu dem Wohnort von Baal Schem Tov, dem Begründer des Chassidismus, fahren. Dieser schöne Traum im herrlichsten Sommer ist in sich zerrissen, da er ex negativo formuliert ist. In ihm ist unterschwellig schon der Alp des tatsächlichen Geschichtsverlaufs enthalten. Plötzlich fällt diese Illusion in sich zusammen und der Chor gibt den letzten Eintrag wieder, der von David überliefert ist. In diesem berichtet er von einer Exekution einer Frau und ihrer Tochter am Waldrand. Zurück bleibt das Bild des Fuhrwerks, das die Leichen transportierte. Der Eintrag endet mit der Frage »Wer?«. Diese abgebrochene Frage greift der Chor auf und wendet sich direkt an den Leser. Mit offenen Fragen wie »Wer weiß, was noch passierte am Waldesrand von Bodzentyn?« oder »Wer weiß, was aus David Rubinowicz wurde?« fordert er zum Nachdenken auf, regt das Vorstellungsvermögen an und bittet den Leser, sich jetzt zu konzentrieren. Mit dieser Aufforderung endet der Text. Es gibt keine abschließende Lehre, keine Deutung oder Erklärungsversuch. Diese Leerstelle ist nur konsequent,

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da Trolle mit dem Text an einen Zeugen gedenkt, der – wie Primo Levi es ausdrückte – als Untergegangener (org. sommersi) zu den wahren Zeugen der Shoah gehört.227 Der Zeuge Levi unterscheidet in seinen Erinnerungen an das Arbeitslager Buna (Nähe Auschwitz) zwischen denjenigen, die innerhalb kürzester Zeit »untergehen« und bereits nach drei Monaten so entkräftet sind, das sie nicht mehr fähig sind, zu arbeiten und ins Gas geschickt werden. Wie Levi in Die Untergegangenen und die Geretteten schreibt, waren diese Häftlinge – die in Lagersprache Muselmänner hießen – bereits bevor sie starben, so entmenschlicht, dass sie sich ohne Bewusstsein im Graubereich zwischen Tod und Leben befanden: »Man zögert sie als Lebende zu bezeichnen; man zögert ihren Tod, vor dem sie keine Angst haben, weil sie zu müde sind, ihn zu begreifen, als Tod zu bezeichnen.«228 Die wenigen Geretteten, die das Lager überlebt haben, gehören einer Minderheit an, die zwar von den wahren Zeugen der Shoah berichten, deren Erfahrung aber nicht bezeugen können. Bachmann greift Levis Unterscheidung zwischen den Untergegangen und Geretteten auf und führt den Aspekt der Abwesenheit noch weiter: »Die Grenze zwischen den Untergegangenen und den Geretteten bleibt nicht so klar gezogen, wie es ihre Gegenüberstellung bei Levi bisweilen suggeriert: Auch die Überlebenden waren dem Trauma der Entmenschlichung ausgesetzt, auch sie erlebten Dinge, die, während sie stattfanden, nicht an ihr Bewusstsein dringen konnten.«229 Diese von Levi angeführte Abwesenheit der wahren Zeugen wird in Trolles Text aufgegriffen. Zum einen wird nach dem Abbruch der Tagebucheintragungen die anschließende Deportation nach Treblinka durch keine weitere Erzählung oder kein weiteres Dokument bezeugt bzw. bebildert. Mit dem offenen Ende weigert sich der Text die Geschichte auf irgendeine Form abzuschließen bzw. an einem Ort der Vergangenheit anzusiedeln. Stattdessen wird das Zeugnis durch die Fragestellung dem Leser/Hörer überantwortet. Zum anderen wird im Sinne von Bachmanns weiter gefassten Konzeption des abwesenden Zeugen eine Ästhetik der Fremdheit simuliert und der geschichtliche Gegenstand immer wieder der Darstellung entzogen. Die Fremdheit mit der der Zeuge die geschichtliche Situation wahrnimmt, schlägt sich in der hybriden Erinnerungsform nieder: Die losen Fäden der Geschichte hält der Chor zusammen, der sprunghaft durch die Geschichte geistert, einerseits den Bericht des Tagebuchschreibers David bezeugt, gleichzeitig aber stetig die aufgebaute Fiktion durch Kommentare und Wechsel der Kommunikationsebenen auf bricht und durcheinander bringt. Dieser Umgang mit dem Dokument ist sehr vorsichtig, er pocht nicht auf die Autorität des Zeitzeugen und traut nicht den mimetischen Darstellungsstrategien. Es ist der Versuch, die bei der Erinnerung an die 227 | Siehe Levi 1997, 112. 228 | Levi 1997, 112. 229 | Bachmann 2010, 59.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

Opfer schnell evozierte Mitleidsethik zu vermeiden. Thematisch stehen weniger die Erfahrung direkter Gewalt und Brutalität des nationalsozialistischen Regimes, sondern die Reaktion auf diese Brutalität und die Gefühle des Opfers im Zentrum. Trolle sucht die Situation des Zeugen nachzuvollziehen und fragt nach dessen Alltagserfahrungen während der Besatzungszeit. Er zeigt, wie der Protagonist versucht sich von dem Terror innerlich abzugrenzen, Resilienz und Widerstandskraft dagegen aufzubauen, um mit Gefühlen wie Empörung und Sehnsucht nach Normalität umzugehen. Im Zentrum des Textes steht das Gefühl der ständigen Bedrohung, der existentiellen Verunsicherung und der Vermittlung dessen, was es heißt, sich tagtäglich zu disziplinieren, bzw. gegen den Freiheitswillen und in Angst leben zu müssen. Dadurch, dass Davids Situation stets mit der eines heutigen Kindes verglichen wird, stellt Trolle eine zwar gebrochene, doch wirksame Beziehung zwischen Leser und Zeugen her. In dieser Konzeption ist der Moment der Heimsuchung im alltäglichen Rahmen integriert; bedrohlich drängt sich die unfassbare Vergangenheit in die behütete Gegenwart. Diese Strategie, das Fantastische und die Alltäglichkeit der Verbrechen hervorzuheben, verweist auch auf den von Hannah Arendt geprägten Begriff der »Banalität des Bösen«, den sie zur Beschreibung der Person Eichmann gebrauchte und der den Holocaust-Diskurs nachhaltig geprägt hat. Mit diesem Begriff versuchte Arendt das Täterprofil von Eichmann zu fassen, den sie während des Prozesses in Jerusalem beobachtete und dessen Person sich gegen jede geläufige Vorstellung des Bösen sperrte bzw. dem entgegenlief. Im Handeln des Täters ließ sich keine tiefer liegende Motivation wie Hass, Rache oder Antisemitismus erkennen. Sie stufte sein Handeln als karrieristisch ein und diagnostizierte, dass sein Denken und Fühlen von einer erschreckenden Oberflächlichkeit geprägt sei. Sie erkannte ein Defizit an Empathie und Denkfähigkeit, das sich in einer formelhaften Sprache äußerte.230 Arendt verweist in ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes (1979) eindrücklich darauf, warum dieses Thema des Bösen bzw. diese Art der alltäglichen Bosheit sie seit dem Eichmann Prozess nicht mehr los ließ, sodass sie versuchte diesen Begriff über eine Theorie des Denkens näher zu fassen: Die Taten waren ungeheuerlich, doch der Täter […] war ganz gewöhnlich und durchschnittlich, weder dämonisch noch ungeheuerlich. Nichts an ihm deutete auf feste ideologische Überzeugungen oder besonders böse Beweggründe hin; das einzig Bemerkenswerte an seinem früheren Verhalten wie auch an seinem jetzigen vor Gericht und in den vorangegangen Polizeiverhören war etwas rein Negatives; nicht Dummheit, sondern Gedankenlosigkeit. 231 230 | Siehe Arendt 1978, 83f. 231 | Arendt 1979, 14.

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Diese Feststellung, dass sich im Verhalten und Äußerungen des Täters ein eklatantes Defizit an Denk- bzw. Reflexionsvermögen offenbarte, ist nach Arendt ein Hinweis darauf, dass dem Täter ein kritischer Abstand zu sich selbst fehlte. Da die Tätigkeit des Geistes bzw. der Akt des Denkens weniger in der Welt der Erscheinung bzw. der tätigen Welt, sondern im Zwiegespräch, d.h. im Gespräch mit sich selbst, stattfindet, bildet Distanz eine wesentliche Voraussetzung für Ethik bzw. moralisches Handeln.232 Es wird deutlich, dass Arendts Sichtweise auf den Eichmannprozess durchweg vom Verstehen-Wollen geprägt ist und sie von einem sehr humanistischen Ideal eines vernunftbegabten und handlungsfähigen Menschen ausgeht. Dieser Ansatz erklärt auch, warum Arendt sich während des Eichmannprozesses stärker auf den Täter und dessen Denkweise als auf die Zeugenschaft der anwesenden Überlebenden konzentrierte. Aus Arendts Sicht dienten diese Zeugenaussagen wenig dazu, die Vorgänge im Lager sachlich aufzuhellen, deshalb interessierte sie sich nur für solche Aussagen, die der Anklage gegen Eichmann dienlich waren und halfen dessen Täterprofil zu verstehen. Bachmann kritisiert Arendts enggefassten Zeugenbegriff und verweist auf den Symbolcharakter des Prozesses, der eine enorme Außenwirkung hatte und weltweit – unter anderem von Arendt für die New York Times – von den Medien verfolgt wurde. Die Chance dieser medialen Aufmerksamkeit lag darin, auf die Auswirkungen von Auschwitz aufmerksam zu machen und der Weltöffentlichkeit das ganze Ausmaß des Genozids ins Bewusstsein zu rufen. Diese von Ben Gurion verfolgte Strategie, den Schwerpunkt vom Täter auf die Opfer zu verlagern, spart Arendt aus ihrem Bericht weitgehend aus und stuft die Ausweitung der Zeugenschaft als unsachlich für das Gerichtsverfahren ein. Im Gegensatz dazu betont Bachmann die Wichtigkeit der Zeugenschaft und die Strategie, über die vielen Einzelberichte, die menschliche Tragweite und Erfahrung der Shoah realer und fassbarer zu machen.233 Den Schwächeanfall des Zeugen Dinur, der während seiner Aussage zusammenklappte, kritisiert Arendt als »Show« und theatralische Handlung, die vom eigentlichen Anliegen des Prozesses ablenke. Dagegen argumentiert Bachmann, dass mit dieser körperlichen Reaktion des Zeugen der Weltöffentlichkeit das erlebte Trauma des Lagers jenseits sprachlicher Mittel bezeugt wurde: »In dieser Darstellung unterbricht und autorisiert das stumme – rein körperliche – Zeugnis der Toten, wie es in der Ohnmacht Dinurs zum Vorschein kommt, die Sprache des Schriftstellers/Zeugen.«234 Bachmann stellt heraus, dass mit dem Eichmann-Prozess die Bedeutung der Zeugenschaft erstmals anerkannt wurde, wodurch sich eine Wende in der Erinnerung und

232 | Siehe Arendt 1979, 15. 233 | Siehe Bachmann 2010, 106f. 234 | Bachmann 2010, 116.

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Darstellung der Shoah abzeichnete.235 Der Fokus auf den körperlich anwesenden Zeugen zeigte: Nicht der Sinngehalt der Worte, sondern die vom Bewusstsein schwer kontrollierbaren körperlichen Reaktionen beglaubigen die Shoah und damit die Taten Eichmanns. Auch in Trolles Text steht mehr der Vorgang des Reagierens denn des Verstehens im Vordergrund. Die Reaktion auf Geschichte und die Sicht des Zeugens wird nachempfunden und verdeutlicht, wie sich das Fantastische bzw. ein Grauen in seinem Alltag ausbreitet, das so diffus und unvermittelt auftritt, dass es unmöglich in eine sinnhafte Struktur eingeordnet werden kann. Die Distanz, die während des Schreibens bzw. des Erzählens entsteht, wird als Mittel vorgeführt, der Situation zu entkommen bzw. der Situation »Herr« zu werden und sich dieser wieder zu bemächtigen. Diese Zusammenhänge hat Bachmann unter verschiedenen Blickwinkeln behandelt. Am Beispiel des Auschwitz-Überlebenden und Nobelpreisträgers Imre Kertész zeigt er, wie der Zeuge das Schreiben als Strategie des Überlebens und der Selbstbemächtigung für sich selbst nutzt.236 Diese Strategie der Selbstbemächtigung weitet er am Beispiel des Tagebuchs der Anne Frank aus und verdeutlicht anhand der Rezeptionsgeschichte, wie die Zeugin Anne Frank selbst zur literarischen Figur wurde und ihrem Tagebuch im Laufe des 20. Jahrhunderts sehr unterschiedliche Deutungen und Lesarten eingeschrieben wurden. Die Bearbeitungen des Tagebuchs geben Auskunft über das geschichtliche Selbstverständnis und die Wahrnehmung auf die Zeugin. So zeigt Bachmann, dass 1956 in einer Broadway-Inszenierung von Garson Kanin eine »universalisierte Anne«237 inszeniert wurde, die weniger der Zeugenschaft denn der Marginalisierung des Holocaust diente, während 1996 in der Broadway-Inszenierung von James Lapine das Bestreben groß war, die jüdische Identität von Anne hervorzuheben. Außerdem wurde darauf geachtet, die Rolle mit einer israelischen Schauspielerin (Natalie Portman) zu besetzen, um der Figur möglichst viel Autorität zu verleihen.238 In Bezug auf das Tagebuch von David Rubinowicz kann von einer Tradierungs-Geschichte bzw. einer Geschichte der Fortführung und Neueinschreibung keine Rede sein. Allerdings lässt sich Trolles Bearbeitung zeitgeschichtlich einordnen und zu anderen Erinnerungsmodellen in Beziehung setzen. Die hier eingesetzte Form der Erinnerung fungiert ähnlich wie die bereits besprochenen Gegen-Monumente, in denen sich der Gegenstand der Erinnerung dem Rezipienten immer wieder entzieht, wodurch ein Bewusstsein für die Dialektik von Erinnern und Vergessen geschaffen wird. Die in-sich-gebrochene, zerklüftete Erinnerungsstruktur ist auch vergleichbar mit Gedächt235 | Siehe Bachmann 2010, 101. 236 | Siehe Bachmann 2010, 253f. 237 | Bachmann 2010, 163. 238 | Siehe Bachmann 2010, 165f.

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nisarbeiten von Künstlern, die James Young in seiner Studie Nach-Bilder des Holocaust beschrieben hat, die den Holocaust nicht direkt, sondern vermittelt erlebt haben. Diese Künstler stellten sich nicht nur dem eigentlichen historischen Ereignis, sondern setzen sich vor allem mit dessen Tradierung und Erinnerungsgeschichte auseinander. Ihre künstlerischen Arbeiten bezeugen weniger das historische Ereignis an sich, sondern die Art und Weise wie sie selbst dieses Ereignis durch die verschiedenen Medien erfahren haben.239 Der hohe Reflexionsgrad von Trolles Text spiegelt seine distanzierte Position gegenüber dem Zeugnis wieder. Bezogen auf den Erfahrungshorizont des ostdeutschen Autors Lothar Trolle lässt sich summieren, dass dieser ein Verfahren anwendet, das vollkommen konträr zu den Erinnerungsdispositiven der DDR steht. Bekanntlich baute die DDR ihr Geschichtsverständnis auf dem Gründungsmythos auf, zu den antifaschistischen Siegern der Geschichte zu gehören. Die Opfer des Faschismus galten dem System als Helden, wobei sich ihr Heldentum in der richtigen politischen Überzeugung spiegelte. Wie Young am Beispiel des Gedenkortes Buchenwald erläutert hat, fallen durch die Fokussierung auf die Geschichte des Kommunismus die Glaubenszugehörigkeit oder Ethnie der Opfer aus dem nationalen Erinnerungsdispositiv der DDR heraus.240 Diesem Narrativ widerspricht Trolles Stück vehement, indem es vor allem an die Kulturgeschichte der Opfer erinnert. Zwar gibt es auch Anspielungen an den jüdisch-polnischen Partisanenkampf, doch wird insgesamt der Möglichkeit einer Hoffnungsfigur bzw. jeder Utopie eines Sieges rigoros widersprochen und jegliche Art von Pathos in Zusammenhang mit der Shoah vermieden. Hinsichtlich dieses Widerspruchs gegen die DDR-Ideologie wirkt dieser kurze Theatertext wie der erste Beitrag des ostdeutschen Autors zur deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Da es sich auf ein gesamtdeutsches Trauma bezieht, das für die nationale Identität bestimmend ist, trägt es zum Prozess der Vereinigung bei. Es ist einerseits ein Beitrag, der dazu dient, das ehemalige Geschichtsbild zu revidieren. Zugleich ist es eine Einladung an den Westen nach Osten zu blicken und sich den Austragungsorten der Shoah nach dem Umbruch der politischen Systeme neu zu nähern.

Grenzerfahrungen in Hörspiel und Theater Unheimlichkeit und Unsichtbarkeit bilden spezifische ästhetische Erfahrungen, die mit der Rezeption von Trolles Erinnerungstext einhergehen. In dem Stück wird von einem vergangenen Grauen erzählt, das der Junge in seinem Zimmer hörend wahrnimmt, sich in seiner Phantasie vorstellt, aber nicht sehen kann. Anhand der beiden Realisierungen des Textes wird zu zeigen sein, 239 | Siehe Young 2002, 10. 240 | Siehe Young 1997, 115.

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wie dieses Unheimliche umgesetzt und sinnlich vermittelt wird. Anhand der Theaterinszenierung des Schauspiels Frankfurt und des Kinderhörspiels des Rundfunks der DDR kann verdeutlicht werden, wie sehr die Wahrnehmungsform des Hörens in Einklang mit Trolles Textästhetik steht und sein Modell maßgeblich mit dieser Sinneswahrnehmung verknüpft ist. Die ständigen Zeitund Ortssprünge und die filmische Wahrnehmung der Umgebung fordern eine flexible, bewegliche Wahrnehmung ein. In der dynamischen Bewegungschoreografie seiner Texte wird die Welt gehend als etwas Unfertiges, Werdendes wahrgenommen. Das Medium Radio, welches allein durch Stimme, Klang und Musik organisiert ist, entspricht der Struktur von Trolles Modell. Im HörRaum kommen diese Eigenheiten voll zur Wirkung und der schnelle Rollenwechsel und die Darstellung des Helden Rubinowicz kann gut nachempfunden werden, da dieser nicht verkörpert, sondern verlautbart wird. Hinsichtlich dieses qualitativen Unterschiedes der beiden Kunstformen – Radio und Theater – sollen die Erinnerungsräume und Zeugendarstellungen der Inszenierungen einander gegenüber gestellt werden. Dabei kann gezeigt werden, wie der Chor, als fest umrissene Figurengruppe241, sowohl im Kinderhörspiel als auch in der Theateraufführung eine zentrale Rolle einnimmt und zum Träger der Geschichte wird.

Hörspiel: Kinderchor im Wechselgesang mit dem Zeugen Das Kinderhörspiel entstand unter der Regie von Karlheinz Liefers noch als Produktion des Rundfunks der DDR und wurde am 8. Januar 1991 im Deutschlandsender Kultur ausgestrahlt.242 Der Chor (gesprochen vom Rundfunkkinderchor Berlin) setzt sich aus fünf Jugendlichen (Jungen und Mädchen) zusammen. In der Tradition des griechischen Dramas tritt der Kinderchor als Hauptakteur auf, deckt dem Hörer in seinem Bericht die Schrecken der Geschichte auf und lässt diese durch die Solopartien von David bezeugen. In dieser Konfiguration bildet sich ein Wechselgesang zwischen Chor- und Solostimme heraus, wobei sich Davids Stimme in eine männliche und eine weibliche aufteilt und abwechselnd von Kerstin Faude und Mirko Elbracht gesprochen wird. Das Hörspiel verbreitet insgesamt eine bedrohliche, unheimliche und traurige Atmosphäre. Eingeleitet wird das Spiel von melancholischen Klängen des Klezmer, wobei besonders Klarinette und Violine das Leitmotiv vorgeben,

241 | Detlev Bauer unterscheidet in seiner Studie Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts drei unterschiedliche Typen des Chores, zum einen den Chor als festumrissene Gruppe, dann der Chor als inszenatorisches Gestaltungsprinzip und drittens vereinzelte, chorische Elemente. Siehe Bauer 1999, 199. 242 | Siehe Trolle 2007, 599.

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sozusagen im Ohr bleiben und einen akustischen Raum bilden.243 Der Komponist Peter Zwetkoff setzt Klangsprache und Musik als Teil der Erzählung und damit als dramaturgisches Mittel ein. Die Musik drückt eine gewisse Ferne aus. Aus dieser simulierten Ferne spricht der Kinderchor wispernd und geheimnisvoll, sodass eine beklemmende Stimmung entsteht. Der Kinderchor wendet sich direkt an den Hörer, baut keine Illusion auf, sondern gibt das Aufnahmestudio als Ort bekannt, von dem er zum Hörer spricht. Trotz dieser Dekonstruktion funktioniert der Moment der Heimsuchung; gespannt wartet der Hörer auf das angekündigte Wunder aus dem Radio. Das folgende Requiem ist durch einen Wechselgesang zwischen Kinderchor und Solopartien Davids strukturiert. David wird mit einer traurigen, etwas leisen und unaufgeregten Stimme gesprochen. Als der Chor dazu übergeht, dem Hörer einen Eindruck von Davids Heimat zu vermitteln, werden Originalstimmen eingespielt und so die kulturelle Identität des Zeugen hervorgehoben. Besonders dadurch, dass die Namen der Orte und des Dichters Scholem Rabinowicz polnisch ausgesprochen werden, gewinnt das Hörspiel an Aussagekraft. Es bringt Fremdheit hinein und stärkt beim Hörer das Bewusstsein, dass es sich um eine polnisch-jüdische Landschaft handelt. Die melancholisch-lakonischen Landschaftsbeschreibung von Scholem Alejchem wird vom Klarinetten-Spiel untermalt. Das Wiegenlied vom ermordeten Hausierer ertönt im jiddischen Wortklang: Durch die musikalische Begleitung wirkt es einerseits fröhlich und lädt zum Schunkeln ein, gleichzeitig ist es so grausam, da es vom Tod eines Vaters erzählt. Der Kinderchor wird jetzt lauter, nicht mehr wispernd, sondern lautstark, klar und deutlich berichtet er, wie David sich im Jahr 1940 in seine vier Wände »verkriecht«, um aufzuschreiben, was ihm und seiner Familie passiert. Mit einem kräftigen Seitenanschlag ertönt der sonore Seitenton eines Basses, der Ton kündigt Unheil an. Die Kinder sprechen die Stimme des Winters, die Stimmen verhallen im Raum. Deutlich tritt der Kontrast zwischen den jodelnden und kreischenden Kindern beim Rodeln, und der darauf folgenden Stille in Davids Umgebung hervor. In seinem Bericht über die Zwangsarbeit werden die schreienden Stimmen der Polizei eingespielt. Zunächst berichtet David als Solostimme, später wird seine Stimme durch den Kinderchor unterstützt. Leise und bedrohlich erzählen die Stimmen seine Geschichte. Unheimlich leise sprechen sie vom Winter, der eisig ist und niemals aufhört. Auch die Stimme von Frau Holle wird in diesem Tenor und Sprachduktus vom Kinderchor gesprochen. Zu den Originalzitaten aus dem Tagebuch fügen sich die von Trolle fingierten Dialoge auf selbstverständliche Weise ein. In diesen Partien wacht David aus der Traurigkeit und Lethargie auf und zeigt Gefühle wie Wut und Freude. Immer wieder drängt ihn der 243 | Insgesamt spielt ein Ensemble von vier Solisten, Klarinette (Egon Ockert), Violine (Gerhard Sommer), Schlagzeug (Eckhard Ewert) und Bass (Manfred Rehorek).

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Kinderchor mit der Frage, wie es denn weiter ging. Diese konkrete Aufforderung zum Zeugenbericht wirkt, als ob die Kinder in diesem Moment tatsächlich mit David kommunizieren und als ob es sich, um ein wirkliches Gespräch zwischen den Kindern handelte: Der Zeuge David wird vertraulich mit »Du« angesprochen; er und die Kinder befinden sich auf Augenhöhe und solidarisieren sich miteinander. »Gestatte, dass wir für dich das Wort ergreifen«, bitten die Kinder und schildern nun selbst, was nach dem Winter passierte. Schnell folgen die Tage aufeinander und die Ereignisse, die mit der Besatzung einhergehen, wie die Vertreibung aus dem Haus und die Ansiedlung im Getto, werden geschildert. In schneller Abfolge und hohem Erzähltempo spulen sie Beispiele aus dem Leben im Getto herunter, berichten von der Panik, den Razzien und Morden bis zur Verhaftung des Vaters. Danach folgt ein Tempowechsel, es gibt eine Pause, in der erneut die Klezmer-Musik ertönt. Diese musikalisch unterlegte Erzählpause gibt Raum, über die geschichtliche Situation nachzudenken und den spezifischen Erfahrungen nachzusinnen. Nach dieser kurzen Gedankenpause darf David wieder selbst von seinen ersten Versuchen erzählen, mit dem Rad zu fahren. In seiner Stimme liegt das ganze Bedauern, nicht mehr genug Zeit gehabt zu haben, um das Absteigen zu lernen. Frühlingsgeräusche ertönen und auf ermunternde, enthusiastische Weise versucht der Kinderchor David beim Radfahren zu helfen: »Los David, noch einmal!« Eine Kinderstimme wendet sich an den Hörer und fordert ihn dazu auf, sich David vorzustellen, wie er über die Feldwege saust. Anschließend imaginiert der Chor ein Galizien, in dem es nie einen Krieg gab. Die sanftmütige Melodie des Wiegenliedes wird nochmals eingespielt. Zusammen mit den anderen Kindern ruft David: »Weg da!« Dann fragen ihn die Kinder nach dem letzten Eintrag, den David schließlich als Solostimme wiedergibt. Nach dem letzten Satz wendet sich der Kinderchor an die Hörer. Zu den schaurig-lustigen Klängen des Wiegenliedes verklingen die drängenden Fragen am Ende. Vergleicht man die ästhetische Erfahrung der Lektüre mit dem Hören des Textes, so sind besonders die körperlichen Reaktionen in ihrer Qualität zu unterscheiden. Während des Hörspiels, das sich allein über Stimmen im Raum konstituiert, entsteht eine Medialität der Flüchtigkeit. Das Hörspiel passt zu Trolles Modell des Gehens, da es die vielen Orts- und Zeit-Wechsel ungehindert zulässt, keine Grenzen kennt und nichts Fixiertes, Bildhaftes den Strom der Erzählung stoppt. Der Schwerpunkt der Wahrnehmung liegt auf den Stimmungen, die durch veränderte Intonation, Laustärke und Geschwindigkeit des Sprechens beeinflusst werden. Lässt sich beim Lesen noch einmal Nachblättern, Wiederlesen und über die vollzogenen Zeitsprünge nachdenken, wirkt hier die Präsenz der Stimmen sehr unmittelbar. Die Berichte lösen leichte Schauer aus, erzeugen körperliche Spannung bzw. Anspannung aber auch ein Mitfühlen. Die Tatsache, dass Davids Zeugenbericht abwechselnd von männlichen und weiblichen Stimmen gesprochen wird, verstärkt den

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Eindruck des Kollektiven und das Gedächtnis an einen Chor von ermordeten Kindern. Durch diese Strategien des Cross-Castings bzw. Cross-Gender-Castings wird die Zeugenschaft pluralisiert und die Differenzen zwischen den einzelnen Kindern aufgehoben.244 Das Hörspiel schafft durch die Loslösung von Stimme und Körper eine ganz eigene Räumlichkeit. In diesem ästhetischen Raum verringert sich der Abstand zur Erzählung und die eingangs beschriebene Struktur der Gleichzeitigkeit erfährt ihre volle Wirkung, sodass der Austragungsort der Shoah näher rückt und die fingierten Kinder vor diesem Zeugnis erschrecken.245 In diesem Vorgang zeigt sich, was Sigmund Freud zur psychologischen Bedeutung des Unheimlichen geschrieben hat. Das Gefühl des Unheimlichen entstehe in Situationen, wenn man mit etwas Unvertrauten konfrontiert werde, das sich nicht einordnen lasse.246 Freud vergleicht diesen Zustand mit dem Verlust des Augenlichts und erläutert am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann, »daß das Gefühl des Unheimlichen direkt an der Gestalt des Sandmannes, also an der Vorstellung, der Augen beraubt zu werden, haftet […].«247 Man spürt eine Gefahr, sie ist aber nicht sichtbar. Es entsteht eine Situation der Unsicherheit, in der nicht klar ist, ob es sich lediglich um einen Trugschluss oder um eine tatsächliche, jeden Moment ausbrechende Gefahr handelt. Der Mensch reagiert auf solche Situationen mit erhöhter Aufmerksamkeit und Wachsamkeit. Während Freud diese Angst vor dem Verlust des Augensinns mit einer Kastrationsangst verbindet 248, ist in Trolles Hörspiel mit dem Gefühl der Unheimlichkeit vor allem die Angst vor dem Dunklen und dem Bösem der Shoah verknüpft. Ähnlich wie der Romantiker Hoffmann versetzt Trolle den Rezipienten in einen Zustand der Unsicherheit und sucht so die Erfahrung der Zeugen nachzuempfinden. Der spezifische Moment der Grenzerfahrung wird in diesem Raum des Unheimlichen zu einem grundständigen Moment, der in die Wirklichkeitserfahrung verwoben ist und sich durch das gesamte Hörspiel zieht.

Inszenierte Abwesenheit im Theater: Der Chor und der stumme Zeuge Kurz nach dem Jahrestag der Reichspogromnacht, am 13. November 1991, fand im Jüdischen Gemeindezentrum der Stadt Frankfurt a.M. die Uraufführung unter der Regie von Peter Eschberg statt. In der Spielzeit 1991/92 hatte Eschberg die Intendanz des Frankfurter Schauspielhauses übernommen und Lo244 | Siehe Fischer-Lichte 2004, 148. 245 | Siehe Fischer-Lichte 2004, 223. 246 | Siehe Freud 2000, 189. 247 | Freud 2010, 2000, 200. 248 | Siehe Freud 2000, 201

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

thar Trolle als Hausautor angestellt. Bereits als Intendant an den Städtischen Bühnen Bonn hatte sich der österreichische Regisseur explizit israelischen Dramatikern sowie dem Verhältnis zwischen Deutschen und Juden zugewendet. Die Sensibilität für dieses Thema ist nicht zuletzt durch Eschbergs eigene Biografie bedingt: Der 1936 geborene Wiener stammt aus einer jüdischösterreichischen Familie und erlebte den kulturellen Zwiespalt am eigenen Leib.249 Auch die sich in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren offenbarende Geschichtsvergessenheit, wie sie etwa in der Bitburg-Kontroverse 1985 zum Ausdruck kam, könnte Motivation gewesen sein, sich verstärkt mit der deutschen Erinnerungskultur an die Shoah auseinanderzusetzen. Mit Inszenierungen wie Falsch (1986) von René Kalisky250 oder Die Palästinenserin (1987) von Joshua Sobol251 eröffnete Eschberg in Bonn einen Diskussionsraum über das deutsch-jüdische Verhältnis und suchte Wege der kulturellen Annäherung und des Verstehens aufzubauen.252 In diesem Sinne lässt sich die Produktion des Erinnerungstextes zu David Rubinowicz auch als Fortsetzung einer längeren Theaterarbeit verstehen.253 Im Folgenden wird auf Basis einer Videoaufzeichnung und unter Einbezug der Theaterkritik von Eckard Franke (Theater heute) Eschbergs Inszenierung diskutiert. Die Aufführung findet in einem eher intimen, abgedunkelten Raum statt. Den Kontakt zum Publikum stellt Eschberg über eine Bühne her, die in den Publikumsraum integriert ist. Die von Peter Pabst gestaltete Bühne ist Mitten im Raum angeordnet: Ein etwa ein Meter hohes längliches Viereck, auf dem eine Blütenwiese aus weißen Nelken installiert ist, die in den abgedunkelten Raum leuchtet. Mit dieser Anordnung weicht der Bühnenraum vom Prinzip des Guckkastens ab: Statt den Zuschauern eine Blickrichtung vorzugeben, ist das Blickfeld geöffnet und die Zuschauer können von beiden Seiten Einblick auf die Bühne nehmen. Auf dem Podest sitzt fast die ganze Spielzeit über ein Junge, etwas versunken in den Blumen, in lesender gebeugter Haltung. Nur der Oberkörper ragt heraus, kein einziges Mal hebt sich der Kopf oder ver249 | Siehe Klunker 1991, 16. 250 | Siehe Klünder 1991, 24. 251 | Siehe Klünder 1991, 72. 252 | Siehe Klunker 1991, 135. 253 | In diesem Kontext steht auch Trolles zweite Auftragsarbeit Wstawate, Lizzy, Wstawate, in der er die Erinnerung an die Shoah weiterführt und eine alternde Schauspielerin und Auschwitz-Überlebende auftreten lässt, die in einem langen Monolog über ihr Leben als Schauspielerin sinniert. Unvermittelt treten in dieser Erinnerung Bilder der Lagererfahrung hervor, sodass Vergangenheit wachgerufen und in die Gegenwart hereingeholt wird. Wie Trolle in einem Gespräch mit Jörg Rheinländer erzählt, sind in dem Text auch persönliche Erfahrungen des Autors eingeflossen, da ihm die eigene Tante Vorbild für diese Theaterfigur war. Siehe Rheinländer 1993.

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sucht der Junge Blickkontakt zum Publikum aufzubauen. Während der gesamten Aufführung verharrt er in dieser Sitzposition, auch wird er kein Wort sprechen. Erst in der Abschlussszene greift er zu einem, in der Blumenwiese verstecktem Fahrrad, und fährt über die Wiese. Durch diese zentrale Position ist der Zeuge den Blicken des Publikums und des Chors die ganze Spieldauer über ausgesetzt. Dieses Gefühl, beobachtet zu werden, kann das Publikum direkt nachempfinden, da es sich gegenüber sitzt und sich gegenseitig permanent anschaut. Ohne es sprachlich thematisieren zu müssen, wird durch diese Anordnung die Methode der Überwachung, wie sie im totalitären Raum vorherrschte, thematisiert und es lässt sich nachfühlen, wie der Körper auf das Blickregime der Macht reagierte. Diese Bühnenanordnung und Blickachsen entsprechen dem Modell der doppelten Zeugenschaft, welches Bachmann am Beispiel von Polanskis Film Der Pianist beschrieben hat. Im Zentrum des in Warschau 1942-1944 spielenden Films steht der Pianist Władysław Szpilman, der als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt und sich kurz vor dem Abtransport in ein Lager in einer Wohnung verstecken kann. Diese Wohnung und der Blick des versteckten Zeugen prägt die Fokalisierung des Filmes. Dieser ist durchgehend durch den Standort des Zeugen Szpilman bestimmt, der von einem oberen Stockwerk der Wohnung, also von einem erhöhten Standort, die Vorgänge im Warschauer Getto beobachtet. Nur durch seine Zeugenschaft konnte die Geschichte erzählt werden, deswegen ist die Kameraeinstellung durch sein Blickfeld begrenzt. In dieser Anordnung verdoppelt sich die Zeugenschaft: Da die wahren Zeugen der Shoah – in diesem Fall Szpilmans Familie – selbst nicht mehr sprechen können, wird der Gerettete als Stellvertreter herangezogen. Die Begrenzung seines Blickfeldes erinnert gleichzeitig an die Leerstelle bzw. die Abwesenheit der eigentlichen Zeugen. Die hier zum Ausdruck kommende Doppelung der Zeugenschaft kann nach Bachmann als »Dramaturgie der Zeugenschaft«254 bezeichnet werden. Kennzeichnend für diese Dramaturgie sind deren Partikularität und die Redundanz, da im Handlungsverlauf der Zeuge Szpilman immer wieder auf die eigene Beobachtersituation zurück geworfen wird und er nur einen fragmentarischen Einblick in die Geschichte erhält. Bachmann betont: »Dieses Zeugnis ist notwendigerweise unvollständig: Zwischen dem Pianisten und der Erfahrung des Untergangs stehen die Fenster und Verstecke, die versiegelten Türen des Güterzugs und die fest geschlossenen Reihen des jüdischen Ordnungsdienstes, der ihn von seiner Familie trennt.«255 Ähnlich wie in Polanskis Film wird auch in Eschbergs Theaterinszenierung der Zuschauer in die Position des Beobachters bzw. des Zeugen versetzt, der stellvertretend für den abwesenden Zeugen (David) die Geschich254 | Bachmann 2010, 54. 255 | Bachmann 2010, 55.

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te erinnert. Der Zeuge selbst ist stumm und reglos, sodass er dem Zuschauer von seiner Geschichte keine Auskunft geben kann. Durch diese Stummheit des Zeugen – in körperlicher wie sprachlicher Hinsicht – wird die Bedeutung des Chores als Vermittler und Erzähler der Geschichte erhöht. Die Aufmerksamkeit richtet sich nun auf die Art und Weise, wie die Geschichte Davids vom Chor performativ umgesetzt wird. Auch betont diese Blickanordnung die bereits in der Textanalyse hervorgehobene Doppelstruktur der Zeugenschaft: Die Zuschauer beglaubigen die Leerstelle bzw. die Grenze des Sagbaren und werden mit dieser Undarstellbarkeit konfrontiert. Abb. 8: Das Dreivierteljahr des David Rubinowicz, auf dem Podest sitzend Luca Schifigano als David Rubinowicz. ©Schauspiel Frankfurt.

Das hell leuchtende Feld mit dem allein sitzenden Jungen eröffnet einen Imaginationsraum an die geschichtliche Situation – das poetische Bild lädt den Zuschauer dazu ein, sich die Umgebung des Zeugen David Rubinowicz vorzustellen. Bei dem Theaterkritiker Franke stellt sich angesichts dieser Kombination von Nelken und Rechteck-Form die Assoziation eines Grabes ein, allein durch die als Friedhofsblume codierte Nelke.256 Auch die Stummheit des Zeugen unterstützt diesen Eindruck des leblos-toten – wie eingefroren sitzt er die Spielzeit über in derselben Position am gleichen Ort. Der Schauspieler nimmt dabei das Wesen einer Puppe an, die nicht von selbst sprechen bzw. sich bewegen kann. Diese Ästhetik ist vergleichbar mit der des polnischen Theaterkünstlers Tadeusz Kantor, der für sein Theater »Schauspieler-Puppen« einsetzte, was bedeutet, dass die Schauspieler auf der Bühne wie Marionetten agieren. Kantors 256 | Siehe Franke 1992.

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Schauspieler bewegen sich in einem Graubereich zwischen Leben und Tod, da sie Personen aus seiner eigenen Vergangenheit verkörpern. In seinem Theater bildet der Bühnenraum somit den biografischen Erinnerungsraum des Regisseurs ab. Oftmals sind mit den Erinnerungen auch traumatische Erfahrungen verbunden, die die Zeit des besetzten Polens während des Zweiten Weltkriegs und die Shoah verhandeln. Kantors Vater wurde in Auschwitz ermordet, er selbst lebte während der deutschen Besatzung in Krakau. Die Verknüpfungen zwischen Biografie und Bildern auf der Bühne sind dabei alles andere als eindeutig: In Umarla Klasa (1975) beispielsweise lässt Kantor die Schauspieler als Greise auftreten, die in ihr altes Klassenzimmer zurückkehren und auf ihren Rücken Puppen tragen, die als ihr früheres Ich bzw. als tote Zeugen verstanden werden können.257 Der Theaterwissenschaftler Peter W. Marx weist in seiner Studie Theater und kulturelle Erinnerung darauf hin, dass in Kantors Theater eine stark religiöse Komponente verankert ist. In seinem von absurden Formen durchdrungenen Theater werde die Grenze zwischen Leben zu Tod erfahrbar und der Grenzerfahrung nachgespürt.258 Wie in Kantors Theater erscheint der sitzende Junge als real anwesende und zugleich fantastische Figur auf der Bühne. In dem semantischen Bezugsraum des Requiems bzw. des Todes können die Nelken auch als Symbol für die »abwesenden Zeugen« der Shoah gedeutet werden. Das Bühnenbild lässt sich als Sinnbild einer in die Gegenwart ragenden bzw. leuchtenden Vergangenheit verstehen. Bei mir erzeugt dieses Szenenbild unwillkürlich die Erinnerung an den Film Alles ist erleuchtet nach dem Roman von Jonathan Safran Foer. Der Film handelt von einem Amerikaner, der in die Ukraine reist, um mehr über die Vergangenheit seines verstorbenen Großvaters zu erfahren. Die Suche nach dessen Geburtsort Tachimbrod gestaltet sich als skurrile, märchenhafte Sinnsuche mit vielen folklostischen Elementen. Der Heimatort, so stellt sich am Ende heraus, ist gänzlich von der Bildfläche verschwunden und existiert allein in der Imagination des suchenden Protagonisten, nicht aber in der heutigen Ukraine. Da dieser Ort so etwas wie einen schwebenden Identitätsort darstellt, hält der suchende Enkel beharrlich an der Illusion fest. Die letzte Szene des Filmes zeigt ihn als »Träumenden« – inmitten eines Feldes leuchtender Sonnenblumen. Die Symbolkraft dieser Szene ist überzeugend und eindeutig; auch Bachmann greift im Fazit seiner Studie dieses Bild als Beispiel auf, das veranschaulicht, wie sich die jüngste Generation der Überlebenden mit der Abwesenheit der Zeugen auseinandersetzt bzw. mit dem sprichwörtlichen Nichts nach dem Holocaust umgeht. Wie Bachmann betont, wird in dem Roman mit dem Bild der Abwesenheit gespielt: Auf der Binnenebene baut sich der Protagonist eine imaginierte Wirklichkeit auf und findet das Dorf Tachimbrod, in dem sein 257 | Siehe Klossowicz 1995, 132. 258 | Siehe Marx 2003, 324

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Großvater lebte. In der Rahmenerzählung findet sich allerdings noch nicht einmal eine Spur einer Existenz – »noch nicht einmal die bewegende Abwesenheit (›evocative absence‹)«, die der Autor Foer dort erwartet hatte.259 In der Inszenierung von Eschberg wird die Offenheit des Imaginationsraums auch dadurch gefördert, dass das Publikum zu Beginn der Aufführung lange das Bühnenbild als stilles Bild betrachten kann. Während die Zuschauer dieses betrachten, beginnt der Chor, dessen Mitglieder verteilt im Zuschauerraum sitzen, aus dem Off zu sprechen. Anders als im Kinderhörspiel wird keine Rahmengeschichte aufgebaut, der Zeugenbericht beginnt im historischen Raum 1940 in Polen. Anders als der Kinderchor im Hörspiel spricht der Erwachsenenchor dieser Aufführung – bestehend aus vier Männern (Wolf Aniol, Klaus Bauer, Günter Lampe, Alfons Lipp) und zwei Frauen (Iris Erdmann, Carmen Renate Köper) laut und exaltiert. Kraftvoll, fast schon enthusiastisch, berichten sie, wie David in der Dachstube sitzt und sein Tagebuch schreibt. Dadurch, dass der chorische Bericht im Off stattfindet und so Sprache und Körper voneinander getrennt sind, entsteht ein Gefühl der Ferne – obgleich der Zuschauer so nah an dem Jungen sitzt. Dieses unbewegte Standbild des sitzenden Jungen kontrastiert den Erlebnisbericht des Chores; die Rücknahme der Darstellung stellt es dem Zuschauer frei, selbst Bilder zu der Erzählung zu imaginieren. Als Assoziationsstütze dient die Historisierung von Davids Kostüm. Er trägt ein weißes Hemd, darüber eine braune Weste, die altmodisch wirkt. Das Publikum betrachtet also den sitzenden Jungen, während der Chor erzählt, wie er sich in der Dachstube bewegt, aus dem Fenster schaut und auf Galizien blickt. Hiernach erheben sich nach und nach die Mitglieder des Chores und treten zu dem Podest vor. Das Chorensemble trägt dunkle Kleidung, die einerseits wie elegante Abendkleidung aussieht, im Kontext des Stücks aber auch als Trauerkleidung gedeutet werden kann. Die Männer tragen unterschiedliche Anzüge – modern mit Schlips oder elegant mit Fliege. Sie stehen im Raum verteilt und ordnen sich in Gesprächsgruppen um das Podest. In dieser Raumordnung wirken die Unterhaltungen wie der Smalltalk vor der Theateraufführung in einer Ecke des Foyers. Der Gestus des Chores ist dabei bürgerlich-distinguiert, die Chormitglieder wirken wie Akademiker, die ihr Wissen über das osteuropäische Judentum austauschen mit dem Nebeneffekt, das Publikum zu belehren. Einer von ihnen zitiert in lehrhafter Pose den osteuropäischen Dichter Scholem Rabinowicz und untermalt mit großen Gesten dessen Verse. Eine Frau aus dem Publikum greift diesen Vers auf, kurz darauf stimmt eine weitere Frau aus dem Zuschauerraum ein. Beide Frauen stehen von ihren Plätzen auf und gesellen sich zu den Männern um das Podest. Die Frauen tragen weite Kleider in gedeckten Farben, die eine sieht mit den streng zurückgekämmten Haaren und dem knöchellangen Kleid recht altmodisch aus, die andere wirkt 259 | Bachmann 2010, 271.

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mit dem offenen Haar moderner und modisch zeitgemäßer. Da der Chor nicht auf eine Rolle festgelegt ist, sondern während der Aufführung in verschiedene Rollen schlüpft – vom Märchenwesen Frau Holle bis zu den voyeuristischen Zuschauern – ist auch das Kostüm des Chores insgesamt ambivalent angelegt und lässt sich historisch nicht genau zuordnen. Als die Chormitglieder aufstehen, heben sie sich äußerlich kaum von den Zuschauern ab. Doch als sie sich um David gruppieren, wirkt ihre Kleidung in den dunklen gedeckten Farben zusammen mit dem Kostüm von David wie aus einem verblichenen Foto. Sie wirken wie Angehörige der Familie, Dorf bewohner und Bildungsbürger aus Galizien. Zusammen stehen sie nun um David und beginnen das jüdische Wiegenlied zu singen. Abb. 9: Das Dreivierteljahr des David Rubinowicz, Chorszene: Vorne von links stehen Günter Lampe, Wolf Aniol, Iris Erdmann, hinten von links stehen Klaus Bauer, Carmen Renate Köper, Alfons Lipp, in der Mitte: Luca Schifigano als David. ©Schauspiel Frankfurt.

Wie im Kinderhörspiel wirken die musikalischen Einlagen und die jiddisch gesprochenen Szenen sehr stark. Das gesungene Wiegenlied schafft einen melancholischen Raum um den Zeugen; diese erzeugte Stimmung lässt sich auf den stummen Jungen projizieren, auch er wirkt nachdenklich, traurig oder nachsinnend. Mit schwingenden Körpern verstärkt der Chor den Effekt der Musik und bewegt sich rhythmisch im Takt. Der Chor fungiert dabei als poetisches Medium, das mit seinem Gesang im Sinne Nietzsches eine schützende Mauer um den bewegungslos sitzenden und stummen Zeugen bildet. Nietzsche beschreibt die Funktion des Chores in Die Geburt der Tragödie als

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»lebendige Mauer gegen die anstürmende Wirklichkeit«260. Der griechische Chor habe die Aufgabe, die »Sphäre der Poesie«261 in das Kunstwerk hineinzubringen und ihm so eine metaphysische Dimension zu verleihen, welche der Gesamterfahrung des Lebens entspräche. Als Diener des Theatergottes Dionysos verfüge der Chor über jede darstellerische Kunstfertigkeit, kann tanzen, singen, rezitieren, spielen und verkünden. Für Nietzsche ist der dionysische Chor gleichzeitig Sinnbild der Natur und der höchsten Kunstfertigkeit.262 In Eschbergs Inszenierung ist der Chor nicht nur auf symbolischer Ebene eine lebendige Mauer: Rein körperlich bildet er eine Mauer, umringt den Zeugen mit Gebet und Gesang. Das Spiel erhält eine spirituelle Dimension, in der den Toten gedacht wird, wobei die Chormitglieder den Kopf geneigt halten, sich von dem Publikum abwenden, sanft und einfühlsam den Refrain »Ha-li-lu« singen, wodurch sich eine melancholisch-bittere Stimmung im Raum ausbreitet. Mit der schwingenden Bewegung der Körper und dem Gesang stellen sich Bezüge zu jüdischen Gebetsritualen her und codieren den Theaterraum als religiösen Andachtsraum der Synagoge. Zeitlich wird so eine Pause bzw. ein Moment der Kontemplation geschaffen: Die religiöse Vertiefung erscheint hier als schmerzlinderndes Mittel, da im Gesang und in der schwingenden Körperbewegung der Geist zur Ruhe kommt. Als dieser Gesang verstummt, gibt es eine kurze Pause, in der die Stimmung noch einen Moment nachhallt. Im Anschluss nähert sich ein Chormitglied dem Jungen, bückt sich zu ihm herunter und spricht ihn im freundlichen Tonfall an. Dabei richtet er seine Aufmerksamkeit auf das Tagebuch, nennt es »seinen Freund«, durch den David sich vor der Welt verstecken kann. Wenn er zu David sagt: »Verkriechst dich in deine vier Wände«, erhält das Bühnenbild eine neue Konnotation. In diesem Moment wirkt der Raum um David wie ein mentales Gebäude bzw. sein imaginiertes Seelenhaus, das ihm einen Schutz- und Rückzugsraum bietet. Ähnlich der chorischen Mauer bildet es einen Abstand zu der Welt; durch den Akt des Schreibens und Bezeugens bewahrt sich der Junge sein Selbst. Während der Mann noch mit David spricht, wenden sich die anderen Chormitglieder an die Zuschauer und kündigen mit energischer Stimme an, dass nun vom Jahr 1940 erzählt werden soll, in dem David begann Tagebuch zu schreiben. Mit dem Hinweis auf die Zeitgeschichte verliert der Chor den schützenden Gestus und nimmt eine voyeuristisch-aggressive Haltung an. Er spielt nun die Naturgewalten, die sich gegen David verbündet haben und spricht die Stimme von Frau Holle: Der Raum um den Zeugen wird nun bedrohlicher, wie Zaungäste schildern die Chormitglieder wie die Juden auf der Anhöhe den Schnee an schaufeln. Dabei wirkt der Chor wie das wohlhabende Bürgertum, welches 260 | Nietzsche 1959, 53. 261 | Ebd. 262 | Siehe Nietzsche 1959, 62.

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aus sicherer Position heraus, das Leid anderer beobachtet. Die Frau mit dem offenen Haar fungiert als Davids Sprachrohr und gibt seine Eintragungen wieder. Dadurch, dass die männlichen Chormitglieder abwechselnd verschiedene Männerrollen sprechen, etwa die Rolle des Vaters oder des Aufsehers, gewinnt das Spiel an Lebendigkeit. Immer wieder wechselt die Tonlage, mal spricht der Chor energisch voller Nachdruck Befehle aus, mal leise, fast verwundert, etwa bei der Beschreibung des Hauses, welches mit Schnee gefüllt wurde. Wichtige Sätze, z.B. dass sich alles nach dem Winter verschlimmerte, werden wiederholt gesprochen. Wie auch im Hörspiel variiert der Chor sein Tempo, macht Pausen und erzeugt Dramatik durch schnelle Sprecherwechsel. Auch wird mit der Grenze zwischen privat und öffentlich gespielt, mal vertraulich zu David gesprochen, um sich dann wieder dem Publikum, d.h. der Öffentlichkeit, zuzuwenden. Erschreckende Szenen werden mit größerem Körpereinsatz gespielt, z.B. als ein Chormitglied auf den Stuhl steigt und einen Bauern mit den Worten »Juda verrecke« spielt. In dem lauter werdenden und stark betonten Sprachduktus ist die ganze Empörung nachzuspüren. Nach den einzelnen Berichten gibt es immer wieder Pausen, um das Erzählte wirken lassen. Die Performance des Chores wird zum Ende der Aufführung körperbetonter, wobei die Darstellung vorwiegend durch nonverbale bzw. mimische und gestische Zeichen bestimmt ist. Während der stumme, puppenhafte David in gleicher Pose sitzen bleib, beginnt der Chor ihn nachzuahmen und darzustellen. Sie stellen die Szene nach, in der David das Radfahren erlernt, die Frau mit den offenen Haaren spielt dabei David, während das restliche Chorensemble das Fahrrad nachstellt. Die Mitglieder knien sich hin, die Frau setzt sich auf dieses Menschenrad und fällt herunter. Danach wendet sich der Chor zum Publikum, mahnt jetzt nicht allzu hämisch zu sein, er werde es noch lernen. Dann sprechen die Chormitglieder einzeln und etwas bedächtiger über die Vorstellung eines kriegsfreien Galiziens. Ein Chormitglied ruft plötzlich: »Weg da!« Daraufhin drehen sich alle Chormitglieder wieder um und rufen für David: »Ich will noch weit, bis nach Lemberg, nach Brody!« Die letzten Rufe werden solo von einer der Frauen gesprochen, die Davids Sehnsucht nach Israel Baal Schem beschwört. Bei der Wiedergabe des letzten überlieferten Eintrags von David steht diese Frau neben dem sitzenden Jungen, schaut ihm über die Schulter und liest vor, während er schreibt. Dadurch spricht sie mit Pausen und zögernd. Nachdem sie das letzte Wort »Wer?« ausgesprochen hat, steht der Junge auf und fährt mit dem Fahrrad über die installierte Blumenwiese. Dann fährt er zurück und lässt das Fahrrad auf der Wiese liegen. Mit diesem Bild des zurückgelassenen Fahrrads endet die Aufführung. Der Chor blickt ins Publikum und spricht langsam, mit langen Pausen die letzten Fragen. Er fordert auf: »Es muss doch eine Antwort geben, behalten sie die Augen zu und suchen sie die Antwort!«

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Der Kritiker Franke hat in seiner Besprechung weniger die Inszenierung selbst, sondern Eschbergs Auftakt als Intendant im Sinne. Die Aufführung bezeichnet er abwertend als »steifes Bildbeschwörungstheater«263, welches keine theatrale Wirkung erzeuge und durch die Wechselreden des Chores in der Ästhetik des Hörspiels verharre. Auch sei zu dem bespielten Raum, dem jüdischen Gemeindezentrum, kein wirklicher Bezug hergestellt worden. Durch seine Stummheit bleibe der Zeuge seltsam anonym, auch der Chor ist ihm zu unverbindlich gestaltet. Als Eröffnungsstück des neuen Intendanten hätte er sich mehr erwartet, doch so resümiert er hinsichtlich der Symbolik, die von dem gewählten Aufführungsort ausgeht, sei es als Anfang gut gewählt. Stelle es doch eine starke »Wiedergutmachungsgeste« gegenüber der jüdischen Gemeinde dar, die sich seit dem Skandal um die Inszenierung von Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod von 1985 vom Schauspiel Frankfurt distanziert hatte. Aufgrund stereotyper Juden-Darstellungen – etwa die Darstellung eines jüdischen Kaufmannes – war das Stück als antisemitisch kritisiert und von einer Initiative der jüdischen Gemeinde verhindert worden. Schon im Vorfeld von Rühles Inszenierung hatte Fassbinders Zeitstück für Aufregung und Empörung gesorgt, woraufhin der Autor einen offenen Brief verfasste und argumentierte, dass er keinerlei antisemitische Absichten verfolgt, sondern lediglich ein Zeitstück geschrieben habe, das auf den geistig-moralischen Zustand der Stadt Frankfurt zugeschnitten sei.264 Es ist fraglich, ob sich Frankes These, es handle sich bei der Inszenierung um eine Wiedergutmachungsgeste bzw. Aussöhnung mit der verärgerten jüdischen Gemeinde halten lässt. Die weißen Nelken allein als Zeichen der Versöhnung/Unschuld im Gegensatz zum »Müll« in Fassbinders Zeitstück zu sehen, ist wohl ein sehr verengter und auf die Geschichte des Stadttheaters Frankfurt verkleinerter Blick. Vielmehr sollte Eschbergs Inszenierung und Bühnenbild in einem größeren gesellschaftlichen Kontext gelesen und nicht auf den Streit um eine Inszenierung Fassbinders reduziert werden. Auch gehen die aufgezeigte Mehrdeutigkeit des Bühnenbildes und die inszenierte Doppelstruktur der Zeugenschaft weit über diesen Interpretationsansatz hinaus. Wie Rokem an israelischen Aufführungen verdeutlicht hat, nimmt das Theater bei der Erinnerung an die Shoah oft die Form einer Totenbeschwörung an, in welcher die Opfer beklagt und betrauert werden und ihr Geist herauf beschworen wird. Auch Eschbergs Inszenierung kann als Totenbeschwörung verstanden werden, in der an den Namen David Rubinowicz das Bild des leuchtenden Grabes geheftet wird. Mit dem Auf bau eines Erinnerungsortes wird der Ermordung Davids kein nachträglicher Sinn verliehen, sondern ein (imaginärer) Ort des Gedenkens gegeben. Dieses Gedenken an den wahren Zeugen der Shoah steht 263 | Franke 1992, 26. 264 | Siehe Rühle 1992, 224.

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im zeitgeschichtlichen Kontext der Wiedervereinigung Deutschlands. In dieser Zeit wurde die Bundesrepublik aufgrund der wiedergewonnenen Größe im Ausland skeptisch beäugt, auch setzte die neue Größe unter den Überlebenden der Shoah Gefühle der Angst frei. Mit dieser neuen Machtposition Deutschlands waren auch die Verpflichtung des Gedenkens und die Erinnerung an die Geschichte des Holocaust erneuert. Aus diesem Verständnis sollte Eschbergs Inszenierung gelesen werden. Im theatergeschichtlichen Kontext steht dieser Ansatz in Einklang mit deutschem Gedächtnistheater der 1990er Jahre wie dem von Klaus Michael Grüber, Christoph Marthaler oder Heiner Müller, die angesichts der politischen Neuordnung eine wichtige Aufgabe des Theaters darin sahen, zu erinnern und die verschiedenen kulturellen Gedächtnisse einander gegenüberzustellen. Hans-Thies Lehmann hebt in diesem Zusammenhang hervor: Heiner Müller wurde nicht müde zu wiederholen, Theater sei im Kern Totenbeschwörung. Mehrfach waren Anfang der 1990er Jahre im Theater Versuche zu konstatieren, sich mit neuer Intensität dem Thema Gedächtnis und historischer Identität zuzuwenden. Die politische Umwälzung hatte das Thema wieder auf die Tagesordnung gesetzt. 265

Sowohl in der Hörspielfassung als auch in der Theaterinszenierung bildet sich ein Gedächtnisraum heraus, der es vermag, gefühlte Geschichte zu transportieren. Die Abwesenheit des Zeugen wird über die Doppelstruktur des Zeugen, d.h. durch die Blickregie und den Einsatz des Chores vermittelt. Die faktische Realität bzw. das Dokument des Holocaust wird dabei durch eine märchenhafte infantile Weltsicht erweitert und der Erinnerungsraum mit Erfahrungen des Unheimlichen und des Phantastischen aufgeladen. Theater wie Hörspiel nutzen Strategien der Beunruhigung und inszenieren Situationen, die nach Freud auf Grundängste des Menschen verweisen: »Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern, zusammenhängt.«266 Vor allem im fluiden Medium des Hörspiels wird das Gefühl des Unheimlichen erzeugt, da der Hörer sich über die Identität und Lokalisation des Zeugens unklar ist; auch bleibt er im Unsicheren über die Zahl der Zeugen, da der einzelne Sprecher durch einen ganzen Chor von Zeugen abgelöst wird. In der Theaterinszenierung entsteht die Unheimlichkeit durch den Gegensatz zwischen bewegungslos sitzenden, stummen Zeugen und bewegtem vielstimmigen Chor. Dabei wird das Medium Schrift betont; vertieft in seine Lektüre sitzt der Zeuge im Zentrum, während der Chor aus seinem Selbstzeugnis souffliert, dieses kommentiert und als Vermittler der Geschichte auftritt. Als 265 | Lehmann 2005, 350. 266 | Freud 2000, 213.

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Erzähler bezeugt und beschützt der Chor diesen abwesenden Zeugen. Beide Inszenierungen umkreisen das Thema Tod und den Zustand des Traumas, in dem sich der Zeuge befand. Das Unheimliche entsteht im Hörspiel durch die Pluralisierung der Stimmen, welche aus dem individuellen Zeugnis ein kollektives macht und die eine lokalisierbare Stimme im Chor untergehen lässt. Im Theater erfährt der Zuschauer die Undarstellbarkeit des Holocaust über die Stummheit des Zeugen David, der als bewegungslose Puppe inszeniert wird und in dieser Position vom Chor und vom Zuschauer beobachtet werden kann.

Entgrenzter Geschichtsraum in novemberszenen (nach döblin) (1999) Auch in Trolles Auseinandersetzung mit der der Geschichte des Sozialismus geben gespenstische Elemente den Ton an, um an die Schreckensmomente der politischen Geschichte und an die Diktaturerfahrung zu erinnern. In den Texten kommt die Erfahrung des Sozialismus als »deformierte Realität«267 (Heiner Müller) zum Ausdruck, wobei die Revolutionsfiguren wie mythische Figuren in dem Geschichtsraum auftauchen und als geisterhafte Erinnerungsfiguren des Kommunismus inszeniert werden. Die Thematik ist dabei nicht auf die Erfahrung der SED-Diktatur und den Horizont deutscher Geschichte begrenzt, sondern schließt Erzählungen von der Sowjetunion mit ein. Dies zeigt sich in dem Theatertext die baugrube, der auf dem gleichnamigen Roman von Andrej Platonow basiert. In dem Roman werden auf satirische Weise die unter Stalin durchgeführte Zwangskollektivierung Ende der 1920er Jahre und damit die Einrichtung von Kolchosen bei gleichzeitigem Massenmord der Einzelbauern (Kulaken) behandelt. Der Bau des propagierten sozialistischen Utopia verbleibt in Platonows Geschichte im Vorstadium der Baugrube. Statt des versprochenen Fortschritts herrscht Hunger, Lethargie und Tod, sodass die sozialistischen Ziele in eine Groteske verzerrt sind. Mit dieser Farce erinnert Platonow auch an die durch die Zwangskollektivierung ausgelösten Hungerjahre, die unter dem Begriff »Homodor« in das kollektive Gedächtnis der heutigen Ukraine eingingen.268 Dadurch, dass Trolle Platonows wenig rezipierten Roman in seinem Theatertext aufgreift, gedenkt er in zweifacher Hinsicht: Zum einen an dieses Völker-Trauma, zum anderen an den russischen Autor und dessen Weltsicht, die im Kultursystem der DDR lange Zeit ausgegrenzt und auch nach der Wende wenig bekannt war. Platonows grimmiger, satirischer Blick auf die Sowjetunion gibt eine Sprache vor, mit dieser Vergangenheit umzugehen. Unter der Regie von Armin Petras wurde die baugrube 1996 am Berliner Ensemble uraufgeführt und theatrale Denkbilder geschaffen, um 267 | Müller 1982, 155. 268 | Siehe Wehner 1998, 59.

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an den stalinistischen Terror aus einer postsozialistischen Perspektive zu erinnern. Petras Inszenierung bezeugt einen gesellschaftlichen Zustand nach der großen Illusion und nimmt märchenhafte Züge an, wenn die ermordeten Bauern als Zwerge auf der Bühne erscheinen. Klaus Dermutz fasst in einer Rezension für die Frankfurter Rundschau zusammen: Der Zusammenbruch des Sozialismus wird als eine Geisterfahrt der Possenreißer arrangiert. Da der Kommunismus als ein 70er-Jahre-Scherz präsentiert wird, ist viel heiteres und hedonistisches Liedgut zu hören […] Armin Petras nimmt Trolles baugrube und verschenkt durch Oberflächenreize und allzu einprägsame Metaphern eine Auseinandersetzung mit den rivalisierenden Systemen des Kommunismus und des Kapitalismus und auch eine Klärung der Frage des Wechselspiels zwischen Fortschritt und Humanität. 269

An dem Motiv der gescheiterten Revolution bzw. der kommunistischen Utopie arbeiteten sich im wiedervereinigten Deutschland viele ostdeutsche Autoren ab – nicht zuletzt um ihre eigene Vergangenheit zu reflektieren und den eigenen Standpunkt zu überdenken. Mit dem Ende der sozialistischen Ära brach auch das sinnstiftende System der Utopie weg und damit das Motiv vieler Schriftsteller überhaupt zu schreiben. Die Fragen für wen und wozu, musste nun jeder für sich neu aushandeln. Während bei manchen das Schreiben nun dazu diente, sich zu erklären und die spezifische Rolle im SED-Regime zu analysieren – etwa bei Christa Wolf, die nach der Wende ihre Stasi-Vergangenheit aufarbeitete, führte es bei anderen dazu, dass sie schwiegen bzw. keinen literarischen Stoff mehr fanden.270 Für Trolle, der nicht zum offiziellen System der DDR gehörte, kann die Wende – auch hinsichtlich der danach veröffentlichten Texte – als Befreiung gesehen werden. Seit den 1990er Jahren erhöht sich seine Textproduktion; Texte werden publiziert und auf staatlichen Bühnen aufgeführt, wodurch sich Trolle als Theater- und Hörspielautor etabliert. In der Themenauswahl bleibt seine ostdeutsche Identität erkennbar: Stetig setzt sich Trolle mit Motiven der sozialistischen Utopie und der neuen geschichtlichen Epoche auseinander. Zehn Jahre nach der Wende nimmt er in novemberszenen (nach Döblin) die Seltsamkeiten der deutschen Revolutionsgeschichte in den Blick und entwirft einen fiktionalen Geschichtsraum, der von Absurditäten und fehlgelaufenen Hoffnungen durchzogen ist. Auf Basis von Alfred Döblins Geschichts-Epos November 1918 entwirft Trolle einen Theatertext, der die friedliche Revolution von 1989 in ein Verhältnis zur vorangegangen Novemberrevolution von 1918 setzt und Anfangs- und Endpunkt der sozialistischen Ge269 | Dermutz 1996. 270 | Kerstin Reimann geht in ihrer Studie über ostdeutsche Literatur nach der Wende auf die verschiedenen Schriftsteller-Positionen ein, wobei sie den Fall Christa Wolf und ihre Erzählung Was bleibt hervorhebt. Siehe Reimann 2008, 165-170.

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schichte in Deutschland miteinander verbindet. Im Vorfeld der Uraufführung wurde der Text in der Novemberausgabe der TdZ veröffentlicht und auf dem Titelblatt mit einer Grafik von Einar Schleef unter der Schlagzeile Verratenes Volk prominent beworben. Die angestrebte Kooperation mit Schleef kam aufgrund künstlerischer Differenzen nicht zustande. Während Trolles novemberszenen am Theater Bielefeld uraufgeführt wurde, erarbeitete Schleef zu dem Thema der deutschen Revolution eine eigene Textversion, die am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt wurde. Im Anschluss an die Textanalyse werde ich Schleefs Produktion Verratenes Volk zu Trolles novemberszenen in ein Verhältnis setzen, um Trolles künstlerischen Standpunkt zu verdeutlichen. Trolles Text konzentriert sich ganz auf die Sprache und Dramaturgie des Hypotextes November 1918 von Alfred Döblin. Im Gegensatz zum Erinnerungstext an David Rubinowicz tritt in diesem Text kein vermittelnder Chor auf. Die Kommunikation mit dem Leser funktioniert allein über den von Döblin eingesetzten auktorialen Erzähler bzw. die figurengebundenen Perspektiven. Aus dem dreibändigen Werk sind verschiedenen Erzählstränge aufgegriffen und neu zusammengesetzt. Zudem wurden durch die Strategie der Amplifikation Szenen aktualisiert und besonders die Topografie von Berlin genutzt, um Verbindungen zwischen dem November 1918 und dem November 1989 herzustellen. Er habe, so äußert sich Trolle im Gespräch mit der TdZ-Redakteurin Barbara Engelhardt, keine eigene Sprache gefunden, um die Atmosphäre der Wendezeit wiederzugeben. In Döblins Sprache und Beschreibung der Gesellschaft der Revolutionszeit sehe er große Übereinstimmungen zu der Umbruchszeit um 1989: »Mein Trick war also, mit einer geliehenen Sprache Gegenwart zu beschreiben, die sich, weil so diffus, unseren Beschreibungsmöglichkeiten entzieht.«271 Diese geliehene Sprache von Döblin ist filmisch präzise, oft sind die Episoden in slow-motion gehalten, sodass die Geschichte scheinbar eingefroren wird. In einer Vielzahl von Erzählsträngen und Episoden ist auf 2400 Seiten der Zeitraum vom Beginn der Revolutionsunruhen bis zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 nacherzählt. Der Ton ist mal sachlich berichtend, mal satirisch-spöttisch bis absurd-grotesk. Besonders in den Episoden, die führende Politiker der Weimarer Republik wie Friedrich Ebert in den Blick nehmen, wechselt der auktoriale Erzähler in einen ironischen Tonfall. Auch hat Döblin, der sich im Alter dem Katholizismus zuwandte, dem Erzählwerk einen biblischen Hintergrund verliehen. Die Revolutionäre und Kriegsheimkehrer werden in einem metaphysisch-religiösen Kontext eingebettet; sie sind von apokalyptischen Visionen begleitet, die den Schrecken des noch kommenden Terrors schon ankünden. Aufgrund der Komplexität, mit der Geschichte hier dargestellt wird, wollte Döblin das Werk ausdrücklich nicht als Roman sondern als Erzählwerk 271 | Trolle im Interview mit Barbara Engelhardt. Siehe Engelhardt 1999, 76.

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verstanden wissen.272 Es stellt eine Art Gesamtkunstwerk dar, welches dramatische, lyrische und prosaische Verfahren miteinander vermischt und die für die deutsche Geschichte so folgenschwere Umbruchzeit aus möglichst vielen Perspektiven beleuchtet. Auch kreuzen sich in diesem Werk fiktive und dokumentarische Passagen; um diesen Geschichtsraum zu gestalten, griff Döblin auf seine Tagebuchnotizen aus seiner Zeit als Arzt im Elsass zurück, nutzte Geschichtsbücher wie Eduard Bernsteins Die deutsche Revolution, zitierte aus Zeitungsberichten und Briefen historischer Persönlichkeiten, etwa von Rosa Luxemburg.273 Der Autor kürzt Döblins Geschichtswerk auf 54 Seiten, spart die Angabe von Daten aus, wechselt vom Präteritum ins Präsens und verschachtelt die einzelnen Erzählstränge miteinander. Dabei bleibt er sehr nah an der Stilistik Döblins und entwirft eine Collage, die in ihrer Ästhetik ein Tribut an Döblins Avantgardeästhetik setzt. Mit den Strategien der Assoziation aber auch der Dissoziation, d.h. mit plötzlichen, nicht nachvollziehbaren Perspektiv- und Szenenwechseln, konzipiert er einen Geschichtsraum, der sich nicht mehr über Linearität, sondern über das Prinzip der Gleichzeitigkeit organisiert. In den zum großen Teil fugenlos zusammengesetzten Szenen experimentiert Trolle mit Zeit- und Raumstrukturen und entwirft eine Szenerie die die Geschichtlichkeit der Orte zu erkennen gibt. Der Leser erhält den Eindruck, dass die Berliner Revolutionszeiten 1918 und 1989 nahtlos ineinander übergehen. Gerade der Hauptteil des Stücks, welcher in Berlin spielt, versetzt die historischen Figuren in eine Großstadtkulisse, die dem Berlin der Wende ähnelt und so aus heutiger Sicht selbst wieder historische Gestalt annimmt. In dieser Struktur scheint sich der geschichtliche Prozess zu wiederholen bzw. als gespenstische Wiederkehr in die Geschichte einzuschreiben. Mit dieser Montage bezieht Trolle im Sinne Benjamins die angesammelten Trümmer der Vergangenheit in die Gegenwartsbeschreibung mit ein und verbindet die in der DDR so verklärten Revolutionsführer Liebknecht und Luxemburg mit dem Ende der DDR und dem Sieg des kapitalistischen Systems. Der Text suggeriert, dass ohne sich mit dieser Revolutionsgeschichte auseinander zu setzen, ein Verstehen der Gegenwart nicht möglich sei. Gerade mit dem Wegbrechen dieser identitätsstiftenden Revolutionsfiguren werde mit der Wende ein Vakuum freigesetzt. Die Vernetzung der beiden geschichtlichen Epochen kann im Sinne Benjamins als Methode angesehen werden, die Geschichte zum »Stillstand« zu bringen, wie er in den Geschichtsphilosophischen Thesen erläutert: Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich 272 | Siehe Mayer 1978, 124. 273 | Siehe Busch 1984, 40f.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert. Der historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein da heran, wo er ihm als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit. 274

Trolle wendet die Technik des historischen Materialismus auf Döblins Epos an und inszeniert die Revolutionäre Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht als »doppelte Verlierer« der Geschichte, welche zunächst 1918 mit ihrem Anliegen, die russische Revolution nach Deutschland zu verlagern, scheiterten und schließen mit der Wende 1989 als politische Leitfiguren an Bedeutung verloren und zunehmend in Vergessenheit gerieten. Durch die Technik der Verdopplung und Aktualisierung zeigt Trolle geschichtliche Fluchtlinien bzw. sich wiederholende Konstellationen auf, betont Neurosen, zwanghaftes Verhalten im Verlauf der Geschichte. Durch den Titel wird auch auf die Unheilsgeschichte der deutschen November, wie der Reichskristallnacht am 9. November, verwiesen und mit kommentierenden Texten die Ermordung von Liebknecht und Luxemburg in Zusammenhang zum deutschen Antisemitismus gesetzt. Mit dieser Geschichtsdarstellung und Perspektivwahl rücken die Verlierer der Geschichte als Erinnerungsfiguren in den Vordergrund und werden den Siegern der Geschichte (Wendegewinnlern, Kapitalisten) kontrastierend gegenübergestellt. Um diesen vielschichtigen Erinnerungsraum zu analysieren, ist die Strukturanalyse von den Fragen geleitet: Welche Ästhetik nimmt dieser Text im Wechsel von Roman zu Theatertext an? Und wie verhält sich dieser durch die Versetzung in die Gegenwart geschaffene Textraum zum Leser?

Textbild und Struktur Der Theatertext erscheint in Form eines einzigen Textblockes ohne Absätze und Zwischenkapitel. Alleiniger Paratext ist der Titel novemberszenen. Für den Leser ist dieser Textblock zunächst eine Zumutung bzw. eine Herausforderung, da ihm die Aufgabe zu Teil wird, Struktureinheiten, Zusammenhänge und Figurenkonstellationen herauszufiltern. Es gibt kein Figurenverzeichnis, welches im Vorfeld der Lektüre einen Hinweis auf den kommenden Inhalt vermittelt. Diese Form des Fließtextes hat, zumindest in den prosaischen Textteilen, keine durch Kommata und Punkte gestützten Pausen. Es gibt weder eine Betonung des Satzauftaktes, noch eine absenkende oder fragende Stimme am Satzende. Der Leser sieht sich einer Gleichstellung der Wörter gegenüber. Trolle stellt sich in diesem Zusammenhang in die Tradition von Avantgardekünstlern wie z.B. der Wiener Gruppe, die die Großschreibung bewusst ablehnen und mit der durchgehenden Kleinschrift nicht die Substantive in 274 | Benjamin 1974a, 702f. (Hervorhebung des Autors).

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den Mittelpunkt der Satzsemantik stellen wollen.275 Diese Gleichsetzung der Signifikanten ist ein markantes Merkmal des postdramatischen Theaters, in welchem, so Lehmann, eine Non-Hierarchie bzw. Enthierarchisierung der Zeichen angestrebt werde: »So bleibt die Bedeutung prinzipiell aufgeschoben. Gerade das Nebensächliche und Insignifikante wird genau registriert, weil es sich in seinem unmittelbaren Nicht-Bedeuten als signifikant für den Diskurs des Analysanden erweisen kann.«276 Man denke in diesem Zusammenhang an die Verwirrung, die ein Text wie Heiner Müllers Hamletmaschine im Leser auslöst, da Shakespeares Text so »zertrümmert« wurde, dass nur noch eine Spur bzw. ein Fragment von Hamlet übrig bleibt.277 Diese postdramatische Ästhetik gibt den Lesern große Freiheit bzgl. der Auslegung, da erst im Akt des Lesens die eigentliche Form und der Rhythmus entdeckt werden. Lese- und Sprechrhythmus und damit die Semantik des Textes müssen so selbst gefunden werden. Etwas erleichtert wird die Lektüre in Trolles Text durch die grafische Gestaltung. Es liegen drei unterschiedliche Grafiken/Textteile vor: Erstens Textpartien mit durchgehender Kleinschrift in gerader Typografie, zweitens Textpartien in Standardorthografie in kursiver Typografie und drittens Textpartien in Standardorthografie in gerader Typografie. Die Teile in Kleinschrift sind die vom Autor am deutlichsten bearbeiteten. Hier ist der Romantext durch Inversion der Satzteile, Hinzufügung von adverbialen Bestimmungen der Zeit und des Ortes, Austausch von Verben, Zeitwechsel und fehlende Interpunktion verändert. Diese Partien umfassen die Erzählerstimme und innere Rede der verschiedenen Figuren. Der erzählerische Ton von Döblin wird durch die Bearbeitung herabgesenkt und wirkt dadurch nüchterner und sachlicher: »als er am ende der straße quer über der straße ein tor aus maschendrahtzaun sieht läßt er den wagen im leerlauf ausrollen wie er erwartet hatte läßt man ihn aussteigen er muß sich sogar umdrehen und die hände auf den kühler legen«278 Die Teile im kursiven Druck sind etwas schwieriger einzuordnen, da diese einerseits als Kommentar des impliziten Autors fungieren, andererseits ein Selbstgespräch einer Figur bezeichnen. Diese Textpassagen dienen dazu, wichtige Aussagen, Bewegungen oder auch nur Wörter zu betonen. Hierbei kann es sich um eine innere Rede, einen Ausruf oder eine prosaische Beschreibung handeln. Durch die fehlende Interpunktion irritieren sie beim Lesen: »Bullig wie sie sind tun sie was sie für richtig halten warum bin ich nicht auf Weltreise und schlage mich durch mit meiner Visitenkarte«279 275 | Siehe Backes 2001, 25f. 276 | Lehmann 2005, 149. 277 | Siehe Müller 1982, 81. 278 | Trolle 2007c, 513. 279 | Ebd.

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Die Teile in Standardorthografie und gerader Typografie kennzeichnen die gesprochene Rede. Diese ist in Anführungszeichen gesetzt. Die Dialoge und Monologe entsprechen dem Original, wurden also nicht zusätzlich vom Autor bearbeitet. Besonders die grafische Unterscheidung von gesprochenem und prosaischem Wort ist für die Lektüre eine wichtige Stütze und erinnert an die konventionelle Einteilung in Regie- und Spieltext: »hände tasten ihn von hinten ab grapschen ihn unter die achselhöhlen (die interessiert auch nicht daß er sie darauf aufmerksam macht ›Sie sehen doch, ich trage eine Uniform.‹ und ›Falls Sie es interessiert, hier sind meine Papiere.‹«280 Im Prozess des Close-Readings lässt sich eine sich wiederholende Strukturierung des Textes erkennen. In der Regel fangen neue szenische Einheiten in der dritten Person Singular an und sind kursiv gedruckt. Durch diese Markierung können Szenen voneinander unterschieden und in ein Verhältnis gesetzt werden. Die so markierten szenischen Einheiten sind zwar nicht in sich geschlossen, doch werden durch Textfugen wie Fenster, Blickrichtungen oder innere Gedankengänge, Übergänge und Bewegungsrichtungen vorgegeben. Während Döblin die Episodenstränge über einzelne Kapitelüberschriften geordnet hat, strukturiert Trolle seinen Text über topografische Muster. Sowohl für die kleinen Szenen, aber auch für den gesamten Text ergeben sich ein sinnfälliger Rhythmus und eine dramaturgische Struktur, welche über die Raumsemantik und über intertextuelle Verfahren wie Straffung, Dehnung und Montage beschrieben werden kann. Wie Döblins November 1918 lässt sich auch novemberszenen in drei Sinnabschnitte aufteilen, die sich auch topografisch voneinander unterscheiden. Der erste Teil spielt im kriegsnahen Grenzraum Elsass und zeigt in kleinen Szenen, wie die dortige Bevölkerung auf die Revolution, die Matrosenaufstände und das Ende des Krieges reagiert. Der zweite Abschnitt ist in der Metropole und dem Revolutionsbrennpunkt Berlin verortet. In diesem Teil nimmt die Stadt als Geschichtsraum eine wichtige Rolle ein: Straßenzüge, Gebäude und Plätze scheinen mit den darin agierenden Figuren verbunden. Im letzten Abschnitt betritt der Leser die Gefängnis- und Wahnwelt von Rosa Luxemburg. Stufenweise verfolgt er ihren Abschied vom Realen hin zu einer ins Jenseitige abgleitenden Welt. Das Stück endet schließlich mit der Ermordung Rosa Luxemburgs. Während bei Döblin diese drei Teile durch die Episodenfiguren lose miteinander verknüpft sind, gibt es bei Trolle keine über Figuren hergestellte Verbindung. Die einzelnen Struktureinheiten werden über die äußere Form, den historischen Rahmen und das übergeordnete Thema des politischen Umbruchs zusammengehalten. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Trolle aus dem Stoff von Döblin eine eigene Theaterästhetik entwickelt und wie jeder Abschnitt für sich eine eigene Raumästhetik und Wirkung erzielt. 280 | Ebd.

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Durch Raum und Zeit: Vom historischen Elsass nach Berlin 1989, zurück zu Rosa I Zu Beginn beobachtet der Leser einen kriegsversehrten Mann, wie er in der Stube sitzt und sich mit Tabakblättern eine Pfeife stopft. Schon bei Döblin ist diese Anfangssequenz bemerkenswert, da sie diesen großen historischen Umbruch von 1918 von einem so harmlosen, unscheinbaren Ort aus eröffnet und minutiös schildert, wie dieser Mann sich bewegt, aus dem Fenster blickt, die Brille putzt und die Zeitung liest. Bemerkenswerterweise sind es nicht die Nachrichten zur aktuellen Weltlage, die ihn bei der Lektüre interessieren, sondern die aktuellen Sparangebote. Die akribische Genauigkeit und Sorgfalt, mit der er auf teure Waren reagiert, lässt die Szene komisch wirken. Solche Eigenheiten greift Trolle in seiner Bearbeitung der Szene auf. Er steigert den berichtenden Ton, indem er die Sprache versachlicht. Dies gelingt einerseits durch die Versetzung der Erzählung in die Gegenwart, zum anderen durch die Senkung des episch-hohen Stils Döblins hin zu einem mittleren. Epische Verben wie »blickte« werden dabei durch »kuckt [sic!]« ersetzt. Zudem fügt Trolle kleine Informationen hinzu, die die an sich schon kleinteilige Szene noch weiter ausdehnt und verlangsamt. Der Mann kratzt seine kurze Holzpfeife aus, zieht eine blecherne teebüchse zu sich heran schnüffelt hinein entnimmt der büchse ein paar handgriffe tabak und breitet sie auf der zeitung aus die groben stengel zerknickt er von den großen blättern einige blatt für blatt und stopft danach alles fest in den pfeifenkopf auf dem papier den rest schüttet er oben auf und fängt an zu rauchen nimmt nachdem er einige züge geraucht hat mit der linken hand die pfeife aus dem mund und sagt laut: ›So.‹ und raucht weiter legt die arme breit auf den tisch und fängt an in der zeitung zu lesen […] 281

Dramengeschichtlich lässt diese Anfangsszene und die ungewollte Komik des kriegsversehrten Mannes, der abgeschnitten von der Welt (nur der Blick aus dem Hoffenster schafft ihm ein Bild von der Außenwelt) an die absurde Dramatik von Beckett denken. Etwa an Fin de Partie, das ebenfalls einen Innenraum zeigt, der hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt ist und in dem die clownesken Figuren Hamm und Clov in einer Welt nach der Katastrophe leben. Die Ereignislosigkeit der Szene entspricht dem »Theater der Situation« (Martin Esslin), in welchem die Zeitlichkeit enorm ausgedehnt ist und die Handlung sich im Kreis dreht.282 Ganz offensichtlich haben sich die Erfahrungen des Frontkrieges in Charakter und Gestus der Figur eingeschrieben. Vor281 | Trolle 2007c, 489. Dieser Textausschnitt entspricht Döblin 2008, Teil1/Band1, 9. 282 | Siehe Esslin 1964, 431.

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gestellt wird hier ein in seinen Idiosynkrasien gefangener Mann. Trolle dehnt diese Anfangssequenz nochmals, indem er die Bewegung noch detaillierter als Döblin beschreibt. Diese literarische Strategie der Dehnung bewirkt eine Verlangsamung der Zeit. Diese Stube als Ort eines immer wieder gleichen, routinierten Lebens ist also Ausgangspunkt der Geschichte. Von diesem Ort des scheinbar immer Gleichen verfolgt der Leser den Weg der Frau über den Hof zum Lazarett. Dort will sie Pferdemist für ihr Gemüsebeet schippen. Gerade als sie sich bückt, um einen Ast aufzuheben, läuft ein Kaninchen an ihr vorbei, welches ebengerade aus einem Loch im Lazarettzaun geschlüpft ist: »das kaninchen heidi hinaus durch das loch und von oben lacht man aus einem fenster.«283 Die Bewegungsrichtung ändert sich, der Leser blickt nun, zusammen mit dem, auf der anderen Seite des Zaunes stehenden Mannes, zu den jodelnden Soldaten hoch. Es vollzieht sich ein Topikwechsel von der kleinbürgerlichen Welt hin zum Lazarett und den dort einquartierten Verletzten und Kranken. Mit diesem Wechsel ändert sich auch die Dynamik des Theatertextes, die Szenen wechseln schneller und die Topik des Todes, der Kriegsversehrtheit und der Revolutionsunruhe ergreift mehr Raum und verdrängt das zu Beginn vorgestellte routinierte Leben. Die revolutionären Matrosen aus Kiel haben das Elsass erreicht. Diese Nachricht wird von den Soldaten rufend verbreitet: »Die Matrosen sind da! Alles was Beine hat läuft davon!«284 Mit der Ankündigung des Laufens werden verschiedene Bewegungsrichtungen sichtbar. Zum einen die Bewegung raus aus dem Lazarett auf die Straße und damit in die Öffentlichkeit, zum anderen passives Stillhalten und Bleiben. Es kristallisieren sich damit zwei semantische Felder heraus. Auf der einen Seite die »Unbewegten«, zu denen die Halbtoten, Kranken und Vaterlandstreuen gehören. Sie befinden sich in Innenräumen: In den Zimmern des Lazaretts, in einer gutbürgerlichen Villa, in der Kathedrale. Auf der anderen Seite die »Bewegten«. Zu ihnen gehören sämtliche Soldaten, die sich den Matrosen und damit dem Soldatenrat anschließen. Der Leser beobachtet zunächst die Gruppe der »Unbewegten«: Er sieht einen Soldaten im Fieberwahn sterben, wechselt den Ort über das Feld hin zu einer Villa, in der eine Frau ihrem Geliebten, der als Offizier von der Armee desertiert ist, Unterschlupf gewährt; sieht, wie sie sich umarmen und blickt dann wieder zum Lazarett, in dem der als »Irre« eingestufte Soldat Ziweck vom Sanitäter gepflegt wird. Nach dieser Rundschau zu den kriegsverletzten und auch Kriegsverbrechern, die fest an ihrem Platz verharren, kehrt der Leser zurück an den Anfangsort, zu dem Mann in der Stube. Im wiederkehrenden Modus stopft dieser seine Pfeife, doch statt Zeitung zu lesen, öffnet er diesmal ein Kuvert und fängt an, sich eine Verordnung vom 10. November 1915 vorzulesen. Die Aufzählung der be283 | Trolle 2007c, 491. 284 | Trolle 2007c, 492.

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schlagnahmten Kupferküchengeräte, wie Einlege- und Marmeladekessel, wecken Erinnerungen in ihm an sinnliche Geschmackserlebnisse: »dann seufzt er und schnalzt mit der zunge Ja der weiße süße Kuchenteig er lief vom Löffel und die Kinder durften ihn abschlecken«285 Allerdings wird der Mann abrupt aus seinen Erinnerungen gerufen, als die Frau überraschend das Zimmer betritt. Die Frau ist dabei, geklaute Ware aus dem Lazarett in der Stube zu verstauen. Entsetzt beobachtet der Mann sie dabei. Von der Bewegung der Frau geht eine Bedrohung aus, die seine gut eingerichtete Routine zerstört. »Frau, die erschießen dich!«286, ruft er verzweifelt aus. Bewegte und unbewegte Figuren stoßen in den folgenden Szenen aufeinander: Der desertierte Offizier (Heiberg) trifft auf offener Straße auf einen ehemaligen Rekruten; der als irre eingestufte Soldat Ziweck bricht aus dem Lazarett aus und erobert das Haus des Eisenwarenhändlers. Er verlässt so sein semantisches Feld und begibt sich sinnbildlich in die oberen Stockwerke der besseren Gesellschaft, um sich diesen Raum zu seinem Eigenen zu machen. Mit dieser Überschreitung bringt Ziweck höchste Spannung hinein. Er gleicht einer Baal-Figur, die sich fress- und liebesgierig mit seiner ganzen Körperlichkeit an dieser »Revolution« leibt: »[…] er umarmt sie wild und stöhnt: ›Die werden schon merken, es ist Revolution‹«.287 Doch wird dieser anarchische Akt, seine individuelle Revolution, von den eigenen Leuten verraten. Polizei und Soldatenräte fordern ihn auf, das von ihm besetzte Haus zu verlassen.288 Mutig steht das Dienstmädchen für Ziweck ein, sucht ihn zu verteidigen: Die Dramatik spitzt sich zu, als die Polizei das Haus beschießt und schließlich stürmt. Das Mädchen ruft aus: »Ziweck, sie kommen!«289 Gerade zu diesem Höhepunkt bricht die Szene ab, und der Blick richtet sich in ein Badezimmer. Ruhe kehrt ein, es wird beschrieben, wie sich die zurückgelassene Hannah ihren Körper einseift. Ihr Blick richtet sich zum Fenster, ihre Gedanken scheinen mit dieser Blickführung hinaus aufs offene Feld zu gleiten. In dem nun eingefügten Brief richtet sie ihre Rede an den abwesenden Geliebten Heiberg. Dieser wird in der anschließenden Szene kurz gezeigt. Ihm wird seine Fahrkarte nach Berlin überreicht, und er verabschiedet sich. Der erste Teil endet mit der Blickrichtung nach oben: Ein Pfarrer richtet seine Worte an die göttliche Instanz: »Herr, so wahr du im Fleisch wandelst, vernichte uns nicht, vernichte uns nicht.«290 Die so kurz zuvor noch geordnete Welt hat sich in eine ungeordnete, fliehende gewandelt. Die einzelnen Szenen schließen mit der Ankündigung einer Bedrohung und bleiben so in der Be285 | Trolle 2007c, 495. 286 | Ebd. 287 | Trolle 2007c, 498. 288 | Trolle 2007c, 499. 289 | Trolle 2007c, 499. 290 | Trolle 2007c, 501.

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wegungsrichtung nach außen stehen. Diese Bewegungsrichtung wird während der Zugfahrt aufgegriffen und verstärkt. Diese Zugfahrt kann nach Bachtin als Chronotopos des Weges definiert werden. Allgemein dient der Begriff des Chronotopos dazu, die Raum-Zeit-Beziehung, auf die Literatur aufgebaut ist, nachzuvollziehen. Laut Bachtin ist der Chronotopos des Weges in der Geschichte des Romans seit der Antike der Beständigste, es gebe »[…] kaum ein Werk, in dem das Motiv des Weges nicht in irgendeiner Variante auftaucht.«291 Mit dem Weg öffnet sich das Zeit-Raum-Kontinuum, durch die schnellen Ortswechsel ändert sich auch das Zeitempfinden. Die Zugfahrt wirkt wie eine Zeitmaschine, in der das historische Kolorit abgeworfen und die Figuren als lebende Tote die Stadt besuchen. Der Eindruck des Fliehenden wird evoziert durch die Art, wie die Repliken zusammengefügt sind. Fragen und Reden, die an den Oberleutnant Becker gerichtet sind, werden zu einem einzigen AnsprachMonolog ausgestaltet. Die Figur Becker wird bedrängt und konfrontiert mit den Eindrücken, Ängsten und Wahnvorstellungen des Leutnants Maus. In dessen Phantasie wandeln sich die Frontsoldaten in mythische Mischwesen, »Wesen, halb Pferd, halb Mensch.«292 Als Kentaure erreichen sie Berlin und Leutnant Maus fragt: »Was meinst du, Becker, empfängt uns am Bahnhof Zoo eine Nausikaa. Eine Nausikaa, die, gestärkt von Pallas, uns stark macht für weitere Reisen?«293 Wenn sie die Stadt erreichen, so schlägt Maus vor, sollten sie fiebernd loslaufen und in der Gestalt des Pferdes als Boten aus dem »Reich der Toten« hinüber zu den Lebenden wechseln. Dieses Pferd trägt eine bedrohliche Botschaft, in der literarischen Tradition gilt es als »Seelenträger«, als Grenzgänger zwischen den Welten.294 Bei Döblin ist dieses Pferd der Vorbote der kommenden Kriege, des apokalyptischen Schreckens. Die Figur des Lehrers Becker sowie die Figur Rosa sind auf tragische Weise mit dem Reich der Toten verbunden, können nicht von ihm lassen. Nachts und in Tagträumen erscheint Rosa die Gestalt ihres Gatten Hannes, der auf dem Feld gefallen ist. Becker verfolgen die Kriegstoten aus dem Frontkrieg, er selbst hat eine bleibende Verletzung davongetragen. Alle Versuche sich nach dem Krieg in die Gesellschaft neu einzugliedern scheitern, da diese Toten ihm keine Ruhe lassen.295 Es sind die nicht bestatteten Soldaten, die vor seinem geistigen Auge noch in den Kriegsfeldern irgendwo zwischen Belgien und Frankreich liegen, die ihm keine Ruhe lassen. Während Döblin das Antigone-Motiv nutzt, um historische Ereignisse zu erklären und diese in einen metaphysischen Bezug zu setzen, gebraucht Trolle das Motiv, um den kommenden Berlin-Teil vorzubereiten. Als 291 | Bachtin 2008, 22. 292 | Trolle 2007c, 502. 293 | Trolle 2007c, 502. 294 | Siehe Butzer 2008, 274. 295 | Siehe Döblin. 2008, 217.

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die Untoten bzw. Seelenträger den Bahnhof erreichen, sehen sie einen Trupp schwarz gekleideter Menschen um die Ecke marschieren. Leutnant Maus fragt: »Becker, ist das die Revolution? Sieht so aus, auf das wir uns so gefreut haben?«296

II Angekommen in Berlin wird das Phantasma der Revolution zum Fix- und Fluchtpunkt der Ereignisse. Aus Sicht der fünf Figurengruppen Schieber, Arbeiter, Militär, Regierung und Revolutionäre wird dieser utopische Ort der Revolution gespiegelt. Insgesamt lässt sich dieser Teil in fünf szenische Einheiten gliedern, wobei Anfangs- und Endpunkt dieser szenischen Collage im gleichen semantischen Feld spielen und so eine Verklammerung geschaffen wird. Die Szenen sind untereinander assoziativ bzw. motivisch verknüpft. Anders als der Auftakt des Stücks eröffnet dieser Teil aus der Vogelperspektive: Der Leser schwebt zunächst über den Straßenzügen Berlins, wie an dem berühmten Flaneur ziehen die Namen der Straßen und Plätze vorbei, die selbst schwebende Bedeutungsträger und Erinnerungsspeicher von Geschichte sind.297 Der Modus des Gehens, der für Trolles ästhetisches Modell als konstitutiv eingestuft wurde, wirkt in dieser imaginierten Begehung der Stadt unmittelbar. Die Straßennamen prägen das nationale kulturelle Gedächtnis und dienen als Orte der Erinnerung. Besonders in der politisch so wechselhaften Geschichte Berlins geht von den Straßennamen eine eigene Aura aus, ein Erinnerungspotential, das Döblin und Trolle für ihre Erinnerungstopografie nutzen. Der Leser wird von dem Prunkboulevard Unter den Linden über die Regierungsstraße Wilhelmstraße hinweg in eine Kammer eines Wirtshauses geleitet. In diesem Innenraum angekommen wechselt die Perspektive. Statt von der bisherigen auktorialen Erzählerstimme, die durch den Gegenwartsbezug wie ein Reporter wirkt, wird nun aus der jeweiligen Figurenperspektive mit abwechselnden Passagen innerer und direkter Rede berichtet. Mit dem Eintritt in die Kammer und dem Perspektivwechsel beginnt das semantische Feld um die Schieberfiguren Brose-Zenk und Motz. Die Szenen zeigen den wirtschaftlich-gewieften und amoralisch denkenden Schieber Brose-Zenk und seinen gefräßigen, unersättlichen Freund Motz. Aus deren Sicht erscheinen die revolutionären Ereignisse als geschäftsschädigendes Ärgernis. Beide begeben sich zur Beisetzung der gefallenen Matrosen vom 9. November, um sich von dieser Revolution ein Bild zu machen. […] noch immer kommen leute aus der u-bahnstation und von der dudenstraße und drängeln sich durch Motz schreckt zusammen ›Was machen eigentlich die vielen Leute 296 | Siehe Trolle 2007c, 502. 297 | De Certeau 1988, 197.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens hier? Und Brose-Zenk staunt »Mensch, die sehen ja aus wie du und ich!‹ vorn an das Rednerpult tritt nun ein Neuer und in der menge flüstert man sich zu: ›Haase, der Unabhängige!‹ und der redet laut genug daß zu verstehen ist was er sagt: ›Noch nie ist eine politische Umwälzung mit sowenig Todesopfern vollzogen worden. Doch die Revolution ist noch nicht beendet. Sie steht erst am Anfang und muß gesichert werden.‹ Und Brosezenk stößt Motz an ›Paß auf, das ist so einer, der meint Sozialismus‹. 298

Die Schieber erweisen sich als schnell und beweglich in der Stadt. Sie fahren mit dem Taxi von einem Stadtteil zum anderen. Die Bewegung der Menschenmassen auf der Straße erstaunt sie: »schwarz vor menschen ist die kolonnenstraße aus vielen fenstern hängen rote fahnen und in der dudenstraße kommt das taxi nur noch schrittweise voran.«299 Wie Fremde bzw. Touristen in der eigenen Stadt beobachten sie Menschen, die sich in dieser Menge bewegen. Ganz Berlin scheint aufmarschiert zu sein, sie wundern sich: »Mensch, die sehen ja aus wie du und ich!«300 Ihre Bewegung passt sich dieser Menschenmenge an, das Taxi fährt langsamer, schließlich steigen sie am Tempelhofer Flugplatz aus. Es lärmt von allen Seiten, oben dröhnen die Flugzeuge, vom Rednerpult schallen die Aufrufe, um sie herum reden die Leute. Als die Särge Richtung Friedhof transportiert werden, strömt die Menschenmasse weiter, verschwindet teilweise im U-Bahnschacht Platz der Luftbrücke. Brose-Zenk und Motz nehmen sich wieder ein Taxi. Vom Tempelhofer Flugplatz fahren sie Richtung Friedhof Friedrichshain. Das Stadtpanorama, welches sich bei dieser Fahrt entfaltet, gibt deutliche Hinweise auf den historischen November 1989. Es werden Relikte der ehemaligen DDR, Gebäude und ehemalige Straßennamen genannt, die heute nicht mehr existieren. Insofern verweist das Stück hier auf die Transformierung des kulturellen Gedächtnisses, in der Städte, Plätze und Straßen umbenannt wurden und so die einstigen Identitätsfiguren des sozialistischen Staates aus dem nationalen Gedächtnis verschwanden. Aleida Assmann arbeitet in ihrer Studie zu Erinnerungsräumen heraus, dass für die Gedächtniskultur Umbrüche von politischen Systemen sehr bedeutsam sind, und zum Löschen bestimmter Erinnerungen führen kann, da sie nun keine Funktion mehr übernehmen.301 Mit der im Stück vollzogenen Fahrt durch die Stadt durchstreift der Leser die ehemalige Hauptstadt der DDR, diese Spazierfahrt wirkt wie eine Geisterfahrt durch einen nicht mehr existierenden Ort. Da die »ganze Gegend um den Alex«302 gesperrt ist, fahren sie einen Umweg, vorbei am S-Bahnhof Warschauer Straße, vorbei am Kino-Kosmos in der Karl298 | Trolle 2007c, 505. 299 | Trolle 2007c, 505. 300 | Ebd. 301 | Siehe Assmann 2010, 75f. 302 | Trolle 2007c, 506.

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Marx-Straße, bis Menschen ihnen den Weg versperren, sie als Ausbeuter beschimpfen und sie verärgert die restliche Strecke zu Fuß zurücklegen. Hier tritt plötzlich Ruhe ein, »schwermütig blasen Hörner«, und hoffnungsvoll blicken die Menschen hinauf zum »neuen volkstribun«303, dessen Stimme in der gestisch unterlegten Rede »über halb berlin gellt.«304 Die Schieber hören sich die pathetisch-revolutionäre Rede an, begutachten Liebknecht und fühlen die Gefahr, die von dem um Liebknecht versammelten Matrosenregiment ausgeht. Ihre anschließende Diskussion gibt Trolle nicht wieder, sondern lässt die beiden ganz lapidar Essen gehen – zum Italiener. Trolle arbeitet den Kontrast zwischen dem Pathos der revolutionären Bewegung und die moderne, unparteiliche Geschmeidigkeit der Schieber-Figuren heraus. Diese nehmen überzeitlichen Charakter an. Ohne eine historische Dialektik scheinen sie sich in Raum und Zeit zu bewegen. Ihr Bewegungsmotor ist das Geld, welches sie impulsiv handeln und beweglich durch die Stadtlandschaft treiben lässt. Von dem überfüllten Platz, wo die Internationale im Hintergrund dröhnt, steigt der Blick hinauf in eine neue Wohnung »im achten Stock eines Elfgeschossers«.305 In diesem Raum ist eine Arbeiterfamilie rund um den wiedergekehrten Soldaten Ede versammelt. Vom Fenster aus ist die silberne Kuppel des Fernsehturms zu sehen. In diesem abgeschirmten Innenraum folgen zwei Familienszenen aufeinander. In der ersten Szene wird durch einen Strauß Blumen die feierliche Stimmung angekündigt. Trotz der neugierigen Aufforderung seiner Eltern will Ede nicht vom Krieg erzählen: »Krieg, das ist Dreck, Ratten und knapp zu essen.«306 Von dieser Figur des Heimkehrers gehen Müdigkeit und Resignation aus. In seiner Körperhaltung ist dieses Bedürfnis nach Ruhe eingeschrieben: Die Figur liegt mit ausgestreckten Beinen auf dem Sofa und resümiert: »Was wir brauchen ist Frieden und Fressen.«307 Mit dieser Haltung ähnelt Ede den Bürger- und Soldatenfiguren im ersten Teil des Stücks. So wünschten sich der Kleinbürger und seine Frau geregelte Ordnung. Vor allem der kriegsversehrte Mann fühlt sich in seinem routinierten Müßiggang wohl. Gegen den Lärm der brüllenden Soldaten verlangt die Frau: »Ruhe«. Selbst der vom anarchisch ausbrechenden Soldaten Ziweck stetig wiederholte Ausruf nach »Fressen!« ist, wie der Leser erfährt, der Wunsch sämtliche Sinnesfreuden zu befriedigen und ruhig einschlafen zu können.308 In der Gewissheit sich nach dem Krieg ausruhen zu dürfen, verbleibt Ede auch in der nächsten Szene in legerer Körperhaltung. Seine Eltern sind nicht anwesend, er sitzt allein mit 303 | Trolle 2007c, 507. 304 | Ebd. 305 | Trolle 2007c, 501. 306 | Ebd. 307 | Trolle 2007c, 509. 308 | Siehe Trolle 2007c, 491f.

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seiner an der Nähmaschine arbeitenden Schwester im Raum. Ausführlich erklärt er ihr, warum er an »nichts mehr glaubt«309. Am Ende seiner Rede tritt die Schwester an ihn heran, nimmt das Kopftuch ab und zeigt ihm den von Fabriksäure entstellen Schädel. Ruckartig bewegt sich Ede daraufhin und verlässt das Zimmer mit der Ankündigung, sich nun seinen Entlassungsschein und die 50 M. holen zu wollen. Draußen auf der Straße bläst ihm der Wind heftig ins Gesicht. Diesem stürmischen Wetter ausgeliefert, vor einer Fußgängerampel stehend, äußert sich Edes Verwirrung, indem er auf der Stelle verharrt. In Gedanken an seine Schwester, merkt er nicht, wie die Ampel umschaltet. Edes Erinnerungen an die Geschehnisse an der Front bilden dann auch die assoziative Kette zur nächsten szenischen Einheit, in welcher ein Major aus einem Alptraum aufschreckt und, nachdem ein Hauptmann ihn über die tagespolitischen Ereignisse informiert hat, in das außerhalb der Stadt gelegene Militärlager Döberitz auf bricht. Hat er doch die erschreckende Information erhalten, das Militär verweigere sich, in die Revolutionsunruhen einzuschreiten, wolle gar mit den »Roten« gemeinsame Sache machen. Die Autofahrt zum Lager und die Kontrolle des Wagens und der Papiere erzeugen eine Reihe von Assoziationsspielräumen zu Grenzpraktiken der ehemaligen DDR. Obgleich die Szenen wenig von Döblin abweichen, sind diese Bilder vom Maschendrahtzaun, der Schranke, der Grenzkontrolle und den Militärbaracken mit einer Fülle von Narrativen des kulturellen Gedächtnisses verbunden. Die an sich schon bedrohlich wirkende militärische Umgebung wird vom Autor nochmals gesteigert. Als der Major durch einen Kiefernwald fährt, fügt er den Text Der Wald von Johannes R. Becher über den alles verschlingenden Wald hinzu: […] biegt jetzt nach rechts auf eine kopfsteinpflasterstraße ein jetzt sein blick nach rechts reicht obwohl er dort nur einzeln stehende und in ihrem unterm astwerk weit ausladende buchen und kaum unterholz sieht trotzdem nicht weit Ich bin der Wald voll Dunkelheit und Nässe./Ich bin der Wald den sollst du nicht besuchen./Der Kerker, daraus braust die wilde Messe,/mit der ich Gott, das Scheusal alt, verfluche […] als er am ende der straße quer über der straße ein tor aus maschendrahtzaun sieht läßt er den wagen im leerlauf ausrollen […] 310

In diesem frühen Gedicht, welches in der DDR in dem Gedichtband Vom Verfall zum Triumph veröffentlicht wurde, setzt Becher den Wald als lüsternes, den braven Bürger aufschreckendes Monster in plastischen Bildern in Szene.311 Die Hymne entstand in Bechers expressionistischer Phase in den Jahren 191314. Dieser allegorische Wald, der Verderben und Tod in sich birgt, hütet hier 309 | Trolle 2007c, 510. 310 | Trolle 2007c, 512. 311 | Siehe Becher 1965, 37.

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das Militärlager und steht für den Wahn, der von diesem deutschen Militär ausgeht. Ist das Lager bei Döblin der Ort, an dem sich die wiedergekehrten Soldaten sammeln, um in den Balkan zu ziehen und Racheakte zu verüben, so verweist dieser Ort bei Trolle auch auf ostdeutsche Geschichte, Belagerung und die Rote Armee. Von diesem Lager, welches während der deutschen Geschichte unter den verschiedenen Systemen als Militärlager diente, scheinen ein Sog und gleichzeitig ein fortlaufender Schrecken auszugehen. Sich selbst sehen die Militärs als Ordnung schaffende Kraft. Die Stadt Berlin gerinnt ihnen zum Schreckensbild der Unordnung und des Verfalls. Sie gleicht in den Augen des Militärs einem Sündenpfuhl der Moderne und des Aufruhrs. Diese Montage bildet den Prozess des Erinnerns ab und lässt sich über die psychologische Erinnerungs- und Vergessensmechanismen beschreiben, die der amerikanische Psychologe Daniel Schacter in Hinblick auf traumatic war memories herausgearbeitet hat. Die Traumaforschung stimmt darin überein, dass traumatische Erlebnisse wie Flucht, Vertreibung, exzessive Gewalterfahrung über Generationen hinweg weitergegeben werden können. In der Therapie wird versucht die Erinnerungen an die Erlebnisse innerhalb eines geschützten Rahmens wieder aufleben zu lassen, um sie so letztendlich verarbeiten zu können. Diese Erinnerungen sind so tief im Unbewussten verankert, dass die Patienten meist erst nach therapeutischer Behandlung vereinzelte Erinnerungsbilder oder Filmsequenzen ins Gedächtnis rufen können. Schacter hebt hervor, dass diese traumatischen Erinnerungen im Gegensatz zu Alltagserinnerungen über eine langen Zeitraum relativ stabil bleiben. Im Erinnerungsprozess sind Sinnbilder, Symbole, Orte von enormer Bedeutung, da sie es vermögen, diese aufgestauten, durch starke Emotionen besetzten Erinnerungen einen Raum zu geben bzw. eine Form zu verleihen.312 In diesem Sinne werden die literarischen Bilder des Waldes, die Ausschnitte des umzäunten Lagers zu Medien traumatischer Erinnerung. Trolle weitet hier den Erinnerungshorizont aus. Zunächst zeigt er die Erfahrungen des Frontsoldaten Ede und schildert dessen persönliche Erlebnisse im Ersten Weltkrieg. Diese enge Zeit- und Ortbestimmung wird durch die Montage aufgelöst und eine allgemeine Symbolik, die mit dem Wald verbunden ist, herausgestellt. Gerade das Wald- und Jagdgebiet Schorfheide, welches in der Nähe von Berlin liegt und wo traditionell Militär stationiert ist, ist in Verbindung mit dem Titel novemberszenen hochbesetzt. Mit diesem Wald ist deutsche Militär- und Herrschergeschichte assoziiert: Erst war es Jagdgebiet des deutschen Kaisers Wilhelm, dann wurde es in der Weimarer Republik von Friedrich Ebert übernommen. Während der NS-Diktatur richtet sich in diesem Wald Hermann Göring seine Residenz Carinhall ein und verband die Waldmystik mit der nationalsozialistischen Ideologie.313 In der DDR wurde das 312 | Siehe Schacter 2003, 176f. 313 | Siehe Gröschner 2005, 92.

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Jagdgebiet insbesondere von Erich Honecker genutzt, der sich in diesem Refugium von der Realpolitik zurückzog. Trolles Form der Geschichtsdarstellung, die durch ein Ineinander der verschiedenen Zeitschichten bestimmt ist, stellt eine Lesart der traumatic war memories auf gesellschaftlicher Ebene dar. Durch die genannten Perspektivöffnungen wechselt er vom individuellen Gedächtnis einer historischen Figur hin zum kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft mit Kriegs- und Diktaturerfahrung. Von diesem bedrohlich gezeichneten Raum des Militärlagers wechselt die Szene in die harmlos anmutende Umgebung von Friedrich Ebert. Die Figur wird erst im Verlauf der Szene als der amtierende Reichkanzler Ebert identifiziert. Zunächst wird die Figur anonym als »Er« bezeichnet. Ein Mann, der »(am Rand der Köpenicker Straße unter Platanen) tritt um sein studium und was steht dort oben unter dem Foto fortzusetzen einen schritt zurück steht nun mit dem einen bein auf der fahrbahn das andere steht noch auf der bordsteinkante und legt nun den kopf in den nacken daß er (im oberen teil der litfaßsäule) entziffern kann ()«314 Die Bewegungen des Mannes werden detailliert, kleinteilig, von Gedankenfetzen unterbrochen, beschrieben. Dies entspricht wohl auch der Wahrnehmungsweise dieses Mannes, der Kleinigkeiten genau in den Blick nimmt. Erst als »[…] zwei zivilisten seine getreuen detektive […]«315 ihn mit Herr Reichskanzler ansprechen, wird deutlich, dass es sich bei diesem vorsichtig gehenden, »beleibte[n] ältere[n] herr[n]«316 um Ebert handeln muss. Dieses karikierende Porträt von Ebert ist getragen von Döblins spottendem Ton.317 Strukturell und inhaltlich erlangt diese Figurendarstellung einen Bezug zum Kleinbürger der Eingangsszene. Beide werden mit Hilfe des Verfahrens der Dehnung sekundengenau beschrieben. Sie ähneln sich in ihrer überaus großen Aufmerksamkeit für Kleinigkeiten des Alltags und ihrem Interesse für Lebensmittel wie etwa der Apfelsorte Gravensteiner. So wie der Mann zu Beginn auf seinem Sofa sitzt und mit Interesse die angebotenen Apfelsorten studiert, denkt sich Ebert im Gemüseladen: »Seit Jahren warte ich daß man mir endlich einmal einen Gravensteiner anbietet.« 318 Diese Einfügungen konterkarieren den Eindruck, den Ebert als Staatsmann erwecken will. Mit der parodistischen Darstellung des Kanzlers schloss sich Döblin zahlreichen Karikaturen aus den 1920er Jahren an. Diese Karikaturen zeigen ihn als gemütlichen Kleinbürger, der von der Rolle des Staatsmanns überfordert scheint. Tatsächlich stammt Friedrich Ebert aus sehr einfachen Verhältnissen. Nach einer Ausbildung als Sattler fing er während seiner Wanderjahre an, sich gewerkschaftlich zu 314 | Trolle 2007c, 515. 315 | Trolle 2007c, 515. 316 | Ebd. 317 | Siehe Döblin 2008, 2. Teil/2. Band, 118. 318 | Trolle 2007c, 516.

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engagieren. Nach und nach übernahm der in Bremen als guter Agitator bekannte Ebert in der SPD höhere Posten bis er schließlich 1913, nach dem Tod von August Bebel, neben Hugo Haase zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. Politisch stand der Pragmatiker den konservativen Kräften in der Partei nahe. Während des Ersten Weltkriegs sprach er sich für Vaterlandstreue und Burgfrieden aus und solidarisierte sich mit den monarchistischen Kräften. Mit dieser Haltung stieß er innerhalb der SPD auf wachsenden Widerstand, der Parteivorsitzende Haase distanzierte sich zunehmend von Eberts politischem Kurs und plädierte, angesichts der verfahrenen Kriegsentwicklung, für einen Friedenskurs und Solidarisierung mit den europäischen Völkern. Anfang des Jahres 1917 wurde die von Haase angeführte pazifistische Fraktion, darunter auch Karl Liebknecht, aus der SPD ausgeschlossen, die Mitglieder gründeten daraufhin die USPD. Entschieden ging Ebert gegen linke Abweichler und Massendemonstrationen der Arbeiter vor. Berüchtigt wurde in diesem Zusammenhang sein enger Mitarbeiter Gustav Noske, der Ebert half den Kieler Matrosenaufstand und die Arbeiterdemonstrationen und Unruhen in Berlin mit Hilfe der Freikorpsarmee niederzuschlagen.319 Entsprechend dieser Hintergründe war Ebert im linken Lager nicht sonderlich beliebt. Nach seinem Amtsantritt nutzen Karikaturisten und Satiriker seine Erscheinung als Angriffsfläche für Spott und Hohn und in den Zeitungen der Weimarer Republik ist Ebert als dickbäuchige und starrköpfige Figur erinnert.320 Diese Karikaturen griff Döblin auf, in seinem Geschichtswerk ist er als Kleinbürger entlarvt, der eitel und ehrgeizig versucht, das öffentlich wirksame Auftreten eines Regierungschefs einzuüben. In seinem Regierungszimmer probt er Schritte und Haltung ein, wobei er sich ärgert, keinen Spiegel im Zimmer hängen zu haben. Als volksnahen Pragmatiker ermüden ihn die Theorien zum Sozialismus. So kommentiert er innerlich Politfloskeln wie »Sozialismus ist Ordnung auf höchster Basis« mit: »Mein Gott ist das langweilig. Vor einem Monat hätte ich so was nicht in den Mund genommen.«321 Die Sphäre der Politik, die geschichtsträchtige Wilhelmstraße wird als hohl, verlogen und fassadenhaft entlarvt. Die Szenen zu Ebert und dem Regierungssitz finden bei Döblin in verschiedenen Episoden zeitlich auseinander liegend statt.322 In Trolles Version verschmelzen diese Szenen zu einem Gesamtporträt. Die Montage verstärkt den Kontrast zwischen dem Bild Eberts als führender SPD-Genosse und Reichskanzler und seiner menschlichen Unzulänglichkeit. Durch die Analogie zu dem Kleinbürger ist 319 | Siehe Mühlhausen 2012, 33f. 320 | Siehe Mühlhausen 2012 ,35. 321 | Trolle 2007c, 518. 322 | Bei Döblin ist die Episode vom Spaziergang Eberts in Treptow erst im 2. Teil des 2. Bandes, Eberts Fahrt in das Regierungsgebäude und seine staatsmännischen Übungen befinden sich schon im 1. Teil.

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dieser Bruch sinnfällig herausgearbeitet. Eberts Bedürfnis nach Ordnung einhergehend mit einer eigentümlichen Fixierung auf Genussmittel wird so nicht als individuelle Charakteristik, sondern als eine allgemeine, dem Zeitgeist folgende Eigenschaft dargestellt. Genüsslich verschlingt Ebert im letzten Bild der Szene ein Stück Apfelsine und verkündet seinem Sekretär Schmidt: »Ja, ja, Schmidt. Das Volk steht hinter uns. Aber leider haben wir nur sehr wenig Leute.«323 Daraufhin wechselt die Szene zu Eberts Angstgegner Liebknecht. Im Gegensatz zu der bedachtsamen Gemütlichkeit Eberts steht hier die Personifikation eines unruhigen Geistes im Mittelpunkt. Er wirkt wie ein idealistischer, leicht entflammbarer Mensch, der sich in Rage redet und durchgeschwitzt »mit nasser Stirn« vom Rednerpult steigt.324 Nach dieser hitzigen Rede steht Liebknecht am Fenster. Sein Blick gleitet hinaus auf die Stadt. Die Betrachtung bringt ihn in nachdenkliche Stimmung. Nur sein sowjetischer Kampfgenosse, Karl Radek, leistet ihm Gesellschaft und hört sich seine Gedanken über die ihm so unheimlichen Veränderungen, die sich in letzter Zeit in Berlin vollzogen haben, an: »Radek, in der Stadt sieht man nicht mehr dieselben Leute wie früher. In den letzten Wochen hat sich alles merkwürdig verändert. Wo ich hingehe, sehe ich sonderbare Typen.«325 Bei Döblin meint Liebknecht noch die Gefahren, die von den Freikorps und der Konterrevolution ausgehen, in Trolles Bearbeitung wirken diese Aussagen doppeldeutig und lassen sich sowohl auf das historische Berlin von 1918 als auch auf das Berlin des Wendejahres 1989/90 beziehen. In der darauf folgenden Szene verändert sich die Szenerie, und Liebknecht wird selbst Teil der Gesellschaft, die er zuvor als sonderbar definiert hat. Die historische Figur ist in ein Restaurant kurz nach der Wende 1989 versetzt. Genervt von dem Gespräch und dem Lachen genau hinter ihm, sitzt Liebknecht in einem überfüllten Raum. Er hat sich für 7,50 DM einen Prosecco und für 31 DM Lammhüfte mit Sellerie-Oliven-Püree bestellt.326 Das Gespräch in seinem Rücken wird lauter und nimmt chorischen Charakter an. Der Chor brüllt einen Monolog über die Juden, anschließend ist vom Nachbartisch ein Privatgespräch über die Situation der Bevölkerung zu hören, bis sich ein Mann zu Liebknecht setzt und auf ihn einredet. Es ist der unersättliche, bauernschlaue Motz, welcher im Abschluss der ersten szenischen Einheit ankündigte, Essen gehen zu wollen. Durch dieses Treffen schließt sich der dramaturgische Kreis. Trolle fingiert ein Zusammentreffen zwischen diesen antagonistischen Figuren: Der amoralische, apolitische Motz auf der einen und 323 | Trolle 2007c, 521. 324 | Ebd. 325 | Trolle 2007c, 522. 326 | Bei Döblin ist es Radek, der im Restaurant sitzt. Siehe Döblin 2008, 2. Teil/2. Band, 114.

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der politisch aktive, idealistische Liebknecht auf der anderen Seite. Dennoch kommt es zu keinem Streitgespräch. Monologisch redet Motz auf Liebknecht ein und begründet, warum die Deutschen zu einer Revolution wie in Russland nicht fähig seien: »Wir Deutsche sind sachlich und sehr ernst. Aktionen, zu denen wir uns hinreißen lassen, haben einen philosophischen, genauer gesagt theologischen Kern.«327 In der ganzen Szene spricht Liebknecht kein einziges Wort. Dass es sich um Liebknecht handelt, erfährt der Leser durch die Ansprache von Motz: »Nicht wahr, Sie sind Liebknecht. Ich habe Sie bei der Beerdigung der acht Revolutionsopfer gesehen in Friedrichshain.«328 Der Revolutionär, der zuvor noch lautstark zur Berliner Bevölkerung gesprochen hat, ist verstummt. In diesem dekadent wirkenden, von fremden Stimmen vollgesogenen Raum scheint der Figur die Sprache zu fehlen. Aus seiner Umgebung herausgenommen ist die Figur Liebknecht in die Situation der Sprachlosigkeit versetzt. Die Utopie der Räterepublik, die er verfolgt hat, scheint schon nicht mehr zu existieren. Motz liefert ihm dafür die Begründung. Nachdem Motz seinen Wortschwall beendet hat, »muß er nun doch etwas antworten.«329 Doch bevor er dazu kommt, wird Liebknecht speiübel, er verlässt das Lokal, ohne gegessen zu haben, und zieht spuckend eine Spur durch die Stadt.330 So entfernt sich Liebknecht vom Leser und verschwindet in der nächtlichen Metropole. Nachdem erst Liebknechts Stimme und dann sein Körper verschwunden sind, bricht die Szene ab und Rosa Luxemburg wird eingeblendet.

III Rosa Luxemburg wird nicht in ihrer Funktion als Parteiführerin, sondern in der Auseinandersetzung mit Einsamkeit, Tod und Sprachlosigkeit gezeigt. Die kurzen Szenen spielen in den abgeschlossenen Räumen eines Gefängnisses, eines Hotels und der Fluchtwohnung. In diesen Räumen ist die Figur der Welt entrückt und exkommuniziert. Die Szenen spielen vor einer tristen Novemberlandschaft. Von der Außenwelt nimmt die Figur nur wenig wahr: Sie sieht einige Vögel, die Weite eines Feldes und die darauf wachsenden Silberpappeln. Der Ort, an dem sie sich aufhält, die Kälte ihrer Zelle, der eisige Gang durch den Gefängnisflur bilden den Hintergrund dieser individuellen novemberszenen, welche als Vorboten ihres nahen Todes interpretiert werden können.331 Im Auftakt und zum Schluss wird die Aufmerksamkeit auf den Körper der Luxemburg gezogen. Zu Beginn wird berichtet, wie sie in den Gefängnisraum durch eine Schleuse eintritt. Der Körper der Frau wird abgetastet, 327 | Trolle 2007c, 525f. 328 | Trolle 2007c, 526. 329 | Ebd. 330 | Ebd. 331 | Siehe Trolle 2007c, 526-543.

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»Sie muß sich entkleiden bücken sich gefallen lassen daß man sie (zweimal) von hinten abtastet«332 Diese demütigende Körperhaltung kontrastiert Trolle mit einem Briefauszug. Hierin resümiert Rosa zwar nicht mehr ganz jung zu sein, doch hoffnungsvoll fügt sie ein, sie wolle »noch einmal leben schwärmen glücklich sein.«333 Diese Zuversicht und innere Würde geraten innerhalb der Gefängnismauern in Bedrängnis. Als sie im Wirtschaftshof des Frauengefängnisses umhergeht, ertönt die lachende Stimme eines Soldaten: »Ho, Ho wie die watschelt. Die watschelt ja wie eine Ente«.334 Ihrer gesellschaftlichen Stellung und Identität als politische Theoretikerin entzogen, wird Rosa von den Insassen als »kleine weißhaarige Frau«335 wahrgenommen. In diesem Umfeld wird die Person Rosa Luxemburg weitestgehend anonymisiert und entwickelt sich zur lachhaften Figur. Von ihrer Umgebung nimmt sie vor allem die Kaugeräusche der Kohlmeisen wahr. Diese machen sie nervös. Ihre Körpersprache ist verkrampft, sie »beißt sich auf die lippen […] krallt die finger in die schläfe«.336 Ihre Nächte sind schlaflos. Auf einer harten Matte liegend, ganz auf sich selbst zurückgeworfen, kämpft sie mit Schuldgefühlen gegenüber ihrem verstorbenen Mann Hannes. In ihrem Kummer gleicht sie der Figur Hanna aus dem ersten Teil des Stücks. Auch diese Frauenfigur scheint von der Außenwelt entrückt. Wie in Rosas Zelle öffnet das Fenster ihr den Blick auf ein nebelverhangenes, von Krähen besiedeltes Feld. Obgleich Hannas Mann noch lebt, drückt ihre Haltung, Kleidung und das Mobiliar in der Wohnung durch dunkle schwarze Farben Trauer und Schmerz einer Witwe aus.337 In dem Brief, den Hanna an ihren nach Berlin geflüchteten Geliebten schreibt, bemerkt sie über die langsam verrinnende Zeit: »[…] eine Sträflingsarbeit und ich kann sie nicht leisten […].«338 Das Gefühl der Verlassenheit und Einsamkeit wird in der Darstellung der Figur Rosa nochmals gesteigert. Durch die Abgeschlossenheit dieses Raumes entfällt der Eindruck einer zeitlichen Sukzession. Die Zeit wirkt in diesen engen Räumen wie stehengeblieben. Es gibt keine Fortführung der Geschichte. Der Blick wendet sich zurück in vergangene Zeiträume. Zunächst sind es verheißungsvolle, der Kälte ihrer tatsächlichen Umgebung widerstrebende Erinnerungsräume. So erinnert Rosa sich daran, wie sie ihren Mann das erste Mal traf oder an Kindheitstage in Warschau, wo ihr der Blick aus dem Fenster die Welt versprach. Immer weiter entfernt sich Rosa vom diesseitigen Raum. Ein Foto des verstorbenen Mannes fungiert zum Eingang ins 332 | Trolle 2007c, 526. 333 | Ebd. 334 | Trolle 2007c, 527. 335 | Ebd. 336 | Trolle 2007c, 527. 337 | Trolle 2007c, 494. 338 | Trolle 2007c, 500.

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Jenseitige. Das Bildnis wird in ihrer Imagination lebendig, sie beschwört ihn, mit ihr auf eine Reise zu gehen. Auf dieser Reise will sie die Politik abwerfen, nur Rosa sein und das Leben nachholen, nach dem sie sich so sehnt. »Dann bin ich eben Rosa ohne Revolution und ohne Partei!«339 Zunächst bilden die Selbstgespräche und Träume noch eine Abwehr gegen die kalte unwirtliche Umgebung. Diese identitätsstiftenden Träume kippen allmählich in ein Panorama der Angst. Rosa atmet die Seele von Hannes ein, sodass ihr Körper innerlich erkaltet: »Mein Hänschen, ist das der Tod. Ist der Tod so eisig.« – »Das ist die Steppe, Rosa, das sind die russischen Schneefelder, auf denen es mich erwischt hat, auf denen ich stundenlang gelegen bin, bis ich steif wurde.«340 Der phantasierte Hannes stachelt sie dazu an, aus dem Gefängnis auszubrechen. In offensichtlich geistig verwirrtem Zustand bewegt sich die Luxemburg über den Innenhof Richtung Tor. Hierbei erweckt sie einen äußerst lachhaften Eindruck. Wie eine Narrenfigur trägt sie eine viel zu weite Hose, die sie mit beiden Händen festhalten muss. Auf ihrem Weg zum Tor ruft sie harmlos: »›Gute Leute, laßt mich durch! Gute Leute, laßt mich durch!‹ will weitergehen doch die heruntergerutschte hose sie stürzt versucht sich von der hose zu befreien fällt nun endgültig kommt nicht mehr hoch.«341 Von diesem Ereignis an nimmt ihre Traumwelt immer bedrohlicheren und absoluteren Charakter an. Nachdem Rosa aus dem Gefängnis entlassen wurde und sich in einem Berliner Hotel einquartiert hat, empfindet sie den Raum noch leerer und trostloser. Verbittert denkt sie: »[…] das ist nun die berühmte Freiheit nach der ich mich in der Zelle gesehnt habe.«342 Ohne ein Fenster nach Draußen, wo wenigstens noch Krähen, Kohlmeisen und Bäume zu sehen und eine Weite zu spüren war, sitzt sie an dem kalten, einsamen Ort fest. Von diesem Ort aus geht die Bewegung nach unten: Von den Höhen der erhofften Revolution hin zu den Tiefen einer gefallenen Figur. Die kommenden Szenen nehmen biblischen Charakter an. Rosa, die in ihrer Hoffnungslosigkeit wünscht »diesen Lenker unserer Geschicke«343 zu treffen, begegnet im Schwellenzustand zwischen Schlafen und Wachen einem Hirten, der sich, während sie mit ihm spricht, in den Teufel verwandelt. Mitten im Gespräch bricht die Szene ab, Rosa geht über den zugefrorenen Landwehrkanal und hat sich in eine Siebzehnjährige verwandelt. Sie trifft auf Menschen ihrer Schulzeit. Ein Mädchen im Pelzmantel spricht sie auf ihren Gefängnisaufenthalt an. Ängstlich denkt Rosa: »o gleich öffnet sich der Wintermantel und man sieht das nackte

339 | Trolle 2007c, 528. 340 | Trolle 2007c, 531. 341 | Trolle 2007c, 534. 342 | Trolle 2007c, 536. 343 | Ebd.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

Knochengerippe«.344 Das Mädchen wirft ihren Mantel ab, darunter erscheint ein junger Mädchenleib. Kraftstrotzend beschimpft das Mädchen Rosa: »Ah, ihr Wohltäter der Menschheit seid die Schlimmsten! An keinem Weg blüht so viel Tod wie an eurem.«345 Die Szene bricht ab, Rosa betritt wieder ihr Hotelzimmer und verriegelt es diesmal. Ihre Bewegungen sind gehetzt, schnell nimmt sie ein blaues Tuch aus der Kommode, es soll als Medium dienen, um mit Hannes in Verbindung zu treten. Dieser erscheint ihr, aber in fremder Aufmachung: Er trägt einen Anzug, hat einen Oberlippenbart und ein goldenes Zigarettenetui. Er wirkt wie ein Dandy des 19. Jahrhunderts. Auch Rosa verändert ihr Aussehen, trägt plötzlich weiße Strumpfhosen und Brokatschuhe mit hohen Absätzen. Natürlich handelt es sich bei diesem abenteuerlichen Mann, der mit Rosa auf Reisen geht, über ferne Länder zieht und schließlich an einem Waldrand mit ihr rastet, nicht um Hannes. Er verändert wieder die Gestalt, tritt als riesiger Räuber auf, stellt sich als Satan vor und fordert Rosa auf, den letzten Vorhang aufzureißen.346 An dieser Stelle bricht die Szene ab, Rosa wendet sich um und sitzt mit Liebknecht am Tisch. Auch in dieser letzten Szene ist die Figur Satan präsent. Liebknecht sitzt am Klavier und erzählt von seinem Lieblingsbuch, Miltons Paradise Lost und dem Erzengel Luzifer. Unverkennbar hegt Liebknecht Sympathie für diesen gefallenen Engel, der für seinen Hochmut bestraft und aus dem Himmel verdammt wurde: »Der Schöpfer selber ist irgendwo in diesen Querkopf verliebt.«347 Rosa liest ihm aus dem Buch vor und beschwört damit Geister herauf. Während Liebknecht Klavier spielt, erscheint ihr erneut Hannes. Er packt sie und verkündet, dass sie nicht verloren ist. Sie fleht ihn an, sie nicht mehr loszulassen.348 In diesem Moment klingelt es und die Stimmen von Liebknecht und Luxemburg verstummen. Es wird berichtet, wie die Bürgerwehr in die Wohnung eindringt und die beiden festnimmt. Die anschließende Ermordung der Revolutionäre wird in Form eines eingefügten Polizeiprotokolls wiedergegeben. In diesem dokumentarischen Material berichtet ein Zeuge, wie er beobachtete, dass Liebknecht und Luxemburg nacheinander aus der Wilmersdorfer Wohnung geholt, in ein Auto gebracht, drangsaliert und geschlagen wurden. Zwei Stimmen sind hier nebeneinander geschaltet: Eine, die Rosa unmittelbar und persönlich anspricht, und eine, die im sachlichen Wortlaut eines Polizeiprotokolls die Vorgänge bezeugt. Da wären wir nun zurück, Rosa, aus der Lyrik in die Prosa. Nun siehst Du den Schwindel dieser Welt. Wie beschreibt man das (›Da fiel sie vor mir auf die Knie. Da gab ihr der 344 | Trolle 2007c, 537. 345 | Trolle, 2007c, 538. 346 | Trolle, 2007c, 539. 347 | Trolle 2007c, 541. 348 | Siehe Ebd.

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Grenzgänger des DDR-Theaters Junge noch einen Schlag vor die Stirn.‹) Rosa, mach es kurz, laß dich schon vor das Auto heben das da auf der Straße steht, damit wir dir, wenn du ankommst, ein Fest geben können (›Blut rann ihr durch Nase und Mund. So zerrte man sie zum Auto und setzte sie auf den Rücksitz.‹). 349

Welche Stimme in den kursiv gedruckten Textstellen zu Rosa spricht, ist ungewiss. Sie gehört einer Gruppe an, die schon auf Rosa wartet. Höhnisch legt sie Rosa nahe, sich ihrem Schicksal zu fügen und es kurz zu machen, »damit wir dich endlich gebührend empfangen wie es sich gehört als eine der Unsern«.350 Es scheint, als ob sich Rosas Wahnvorstellungen verselbstständigt hätten. Als der Körper von Rosa Luxemburg erstarrt, wird sie von der fremden Stimme aufgefordert: »Rosa, komm, streng dich an. Sei jetzt du. Nur du.« 351 Diese Aufforderung verleiht dem Schluss, angesichts des Todes der Figur, eine makabre Note.

Gleichzeitige Geschichtsräume – Wiederkehrender Stillstand? Die Strukturanalyse konnte zeigen, wie in der Medientransformation vom Roman zum Theatertext ein metonymisch-postdramatischer Raum geschaffen wurde.352 Der in Episoden aufgeteilte und in der Vergangenheitsform verfasste Roman wird in Trolles Theatertext zu einem fließenden, sich in der Gegenwart befindenden Bilderstrom transformiert. Das Erscheinungsbild und die Form des Sprachblocks verweigern sich zunächst einer Spannungskurve oder einer Unterscheidung von szenischen Einheiten. Strukturiert man das Stück über die Topografie, lassen sich drei semantische Einheiten sondieren. Der erste Teil findet noch im historischen Raum des Elsass statt und ist somit eng am Roman angelehnt, der zweite Teil findet in Berlin statt und verschachtelt die Zeitebenen miteinander. Der dritte Teil spielt in abgeschlossenen, heterotopen Räumen und nimmt überzeitlichen Charakter an. Diese Bilder, Szenen und Sequenzen entwickeln während des Lesens eine Wirkung, die zwischen extremer Verlangsamung und Sprunghaftigkeit schwankt. Hierbei greift Trolle den Stil von Döblin auf und verstärkt in abwechselnden Verfahren der Dehnung und Straffung dessen Textmodell. Im topografischen Raum Elsass ist die Bilderabfolge noch eng an den historischen Raum von Döblins Roman orientiert. Das Stück eröffnet mit einem von Trolle nochmals ausgeweiteten Stillleben: die kleinbürgerliche Stube. Von dieser aus dynamisiert sich die Szenen- und Bilderfolge, bricht aus, taucht ein in die Untiefen der kriegsgeschädigten Gesellschaft. In diesem Teil geht 349 | Trolle 2007c, 543. 350 | Ebd. 351 | Ebd. 352 | Siehe Lehmann 2005, 287.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

die Bewegung von innen nach außen, d.h. private, geschützte Räume werden aufgebrochen und mit einer Öffentlichkeit konfrontiert. In dieser Bewegungsrichtung ist also die Relation zwischen privat und öffentlich thematisiert und gezeigt, wie durch die Grenzsituation der Revolution sich die bisher gekannten Grenzen auflösen und destabilisieren. Die vormals privaten Orte verändern sich, geraten in Krisen; Strukturen brechen auf, und die Figuren verlassen angestammte Orte. Das zu Beginn dargestellte Stillleben gerät durch die allgemeine Auf bruch-Bewegung in Unordnung. Der Hauptkonflikt besteht zwischen den beweglichen und unbeweglichen Figuren. Die, die zurückbleiben, wenden sich an eine nicht sichtbare Instanz; die, die den historischen Raum verlassen, verändern sich während der Zugfahrt. In dem Chronotopos des Weges findet eine Temposteigerung statt. Die Figuren entfernen sich vom Geschichtsraum Elsass und nähern sich dem historisch nahen Raum der Wendejahre. Mit der Topografie Berlins lockert sich der Bezug zum Roman auf. Trolle aktualisiert das Stadtbild von 1918, indem er neue Straßenzüge, Plätze, Ampeln und U-Bahnstationen hinzufügt. Dieses erneuerte Stadtbild – die Orte, Straßen und Passagen – werden zum Medium der Erinnerung und verflechten die Zeitebenen miteinander. Orte wie das Lager Döberitz, das Tempelhofer Flugfeld, der Marstall oder der Alexanderplatz verweisen auf die spannungsreiche Geschichte Berlins, die Ereignisse der Revolution und die dort stattgefundenen Versammlungen. Eine Wiederholungsgeschichte an diesen Orten wird nur allzu deutlich spürbar, so weckt die Massenkundgebung auf dem Tempelhofer Feld Assoziationen an die Großdemonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989, kurz vor der Maueröffnung.353 Dokumentierte Döblin in November 1918 das Berlin der 1920er Jahre, in dem sich durch die neuen Technologien Straßenbahn, Metro und Elektronik das Stadtbild vollkommen wandelte und die Raum- und Zeitwahrnehmung sich beschleunigte, nutzt Trolle die Romanvorlage als Folie, um postmoderne Erfahrungs- bzw. Wahrnehmungsräume greif bar zu machen. Während die von Döblin genutzte Episodenstruktur ein Fortschreiten der Geschichte suggeriert, bleibt Trolle in einer Episode bzw. in einem Raum stehen, betrachtet diesen, gibt Stimmungen und Atmosphären wieder. Zwei sich entgegengesetzte Verfahren wendet er an: Zum einen die Verlangsamung und die Miniaturansicht des Einzelnen, zum anderen die Zersplitterung und Verweigerung von Zusammenhängen und Kausalitäten, bedingt durch Ortwechsel und Gedankensprünge. Trolle inszeniert die Stadttopografie als vielstimmigen Erinnerungsraum, wobei er Döblins Stadtbeschreibung der 1920er Jahre als Sprach-Material nutzt, um den Zeitgeist der Metropole Berlin auszudrücken. Nur durch kleine Hinzufügungen verdoppelt sich die Geschichte. Der uns weit entfernte Erinnerungsraum der Novemberrevolution 1918 rückt näher und 353 | Siehe Grünbaum 1999, 108f.

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geht über den Chronotopos Berlin in die friedliche Revolution von 1989 über. Für den Leser ist es faszinierend nachzuvollziehen, wie wenig dazu nötig ist und wie sehr die Strukturen sich ähneln. Der Schieber Motz wird zum Wendegewinnler, die führenden Redner der Novemberrevolution zu den engagierten Oppositionellen der DDR, der traumatisierte Soldat aus dem Ersten Weltkrieg erscheint als NVU-Soldat, das Volk bzw. die Massen der Menschen, die Demonstrationszüge verweisen auf die geschichtliche Bewegung. Die BerlinTopografie wird genutzt, um sich der Vergangenheit zu vergegenwärtigen und die Umbruchzeit zu spiegeln. In dieser Zeit- und Raumverschiebung kommen latente, unterschwellige Geschichten zum Vorschein. Es tauchen Assoziationsbilder zum Militär und Kasernenleben auf, die einerseits als Schrecken der Fronterfahrungen des Ersten Weltkrieges, aber auch als Erfahrungen mit der Roten Armee und der Diktatur gedeutet werden können. Das Trauma der verlorenen Utopie steht mit den Revolutionsfiguren Rosa und Karl am Schluss des Textes. Ihre Geistererscheinungen deuten auf die Wunden der Geschichte und machen die von Walter Benjamin beschriebene Kläglichkeit der Geschichte offenbar.354 Der Mythos, der sich um die Revolutionäre rankt, der Traum der Revolution, ist das verbindende Moment zwischen den historischen Epochen. Diese Mythen haften der Topografie Berlins, den Kanälen, Straßenzügen und Gebäuden an. Liebknecht geistert als gefallener Engel durch die Stadt, auch Rosa Luxemburg erscheint wie eine Untote, die im Stadtbild herumgeistert. Texttheatralität im Sinne von Poschmann, d.h. eine Dialogizität unabhängig konventioneller Bühnenrede, erlangt diese Form des Theatertextes über das Spannungsverhältnis der semantischen Räume.355 Der flexible Raum der Schieber, die sich in dem Stadtraum Berlin beliebig bewegen, steht dem unbeweglichen, ungeschützten Raum der Arbeiter gegenüber. Der bedrohliche Raum des vor der Stadt stationierten Militärs kontrastiert den harmlos-betulichen Raum der Figur Ebert und dessen Ordnungspolitik. Unverbunden stehen diese semantischen Räume einander gegenüber, eine Grenzüberschreitung gibt es nicht. Alleiniger Fixpunkt ist der Hintergrund der Revolutionsunruhen. In jedem dieser Räume ist Liebknecht als Inkarnation dieser Unruhe direkt oder indirekt, sozusagen als Phantombild, anwesend. Entweder in der gesprochenen Rede der Figuren, in der Gestalt am Rednerpult oder in der Stimme, die über Berlin schallt, manifestiert sich seine Gegenwart. Diese un354 | Siehe Benjamin 1974a, 697. 355 | Gerda Poschmann hat in ihrem Standardwerk zum nicht mehr dramatischen Theatertext anhand von postmodernen Theatertexten, etwa von Elfriede Jelinek, die Merkmale dieser Postdramatik aufgezeigt und Analysemethoden erarbeitet. Da diese Texte meist keine klassische Figuren, Dramenhandlung oder Spannungsverlauf aufweisen, steht die Analyse der Texttheatralität, d.h. der intertextuellen Bezüge, der Struktur des Textes im Vordergrund. Siehe Poschmann 1997, 321f.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

sichtbare Präsenz bringt Unruhe in das Stück und motiviert die Figuren zur Handlung. Erst in den letzten Szenen der Berlin-Topik tritt Liebknecht auf. Der semantische Raum der versuchten Utopie verwandelt sich zunehmend in einen von hitzigen Reden evozierten Ideenraum. In der abschließenden Szene treffen alle möglichen Stimmen aufeinander, und der Revolutionär Liebknecht verstummt gänzlich. In der Szenerie des Charlottenburger Restaurants überschreitet Liebknecht zwar seinen angestammten semantischen Raum und trifft in der Umgebung der Schieber auf Motz, doch lässt ihn dies nicht, wie Lotman es am Beispiel des sujethaften Textraums aufzeigt 356, zum Helden aufsteigen, sondern im Gegenteil, Liebknecht verliert seine Identität und der Raum nimmt eine zeitlose, chorische Dimension an. Im letzten Teil wird der Leser zum Voyeur der privaten Rosa Luxemburg. Die Figur bewegt sich in einem von der Welt abgeschnittenen Raum. Sie ist ausgeschlossen, findet keinen Ausgang bzw. wird daran gehindert auszubrechen. In dieser erzwungenen Bewegungslosigkeit und Exkommunikation ist eine Bewegungsrichtung von außen nach innen ersichtlich. Rosa bewegt sich in Sphären des Phantastischen, die zunächst hoffnungsvoll sind, später sukzessiv ins dämonisch-bedrohliche abgleiten. Zunächst ist dieser Raum sinnlich greif bar durch die Gefängnismauern um sie herum, doch erweist sich dieser als komplexer, erscheint als geistiges Gefängnis. In diesem trifft die Figur auf geisterhafte Reisende. Diese Totengerippe oder Dämonen entspringen ihren Erinnerungen und Ängsten. Sie umgarnen die Figur, ziehen sie an sich, halten sie fest, bis die Figur Rosa verstummt, das Bild des gefallenen Engels wird nun sichtbar. Am Schluss fällt die Perspektive auseinander: Der Leser entfernt sich vom Schicksal der Figur und die Ereignisse werden durch den nüchternen Ton des Polizeiprotokolls gefiltert. Diesem dokumentarischen Ton steht eine höhnische Stimme gegenüber, die vermutlich aus der Schizophrenie der Figur entsteht. Auch nachdem der Körper der Figur erstarrt, ist diese Stimme noch zu hören und der Sprecher kann kaum erwarten, dass die Seele von Rosa sich der Gruppe dieser Untoten anschließt. Insofern endet das Stück an einem schwer identifizierbaren, unsichtbaren, geradezu mythischen Ort, der aufgrund seines schwebenden, transitorischen Zustandes auch als Unort bezeichnet werden kann. Der Geschichtsraum ist weniger von Logik denn von Zufällen und Seltsamkeiten geprägt. Die geschichtliche Situation von 1989 scheint eine Wiederholung ähnlicher Konstellationen, aber kein Fortschritt zu sein: Figurenkonstellationen und Bewegungsstrukturen wiederholen sich. Trolle modelliert einen Raum der Gleichzeitigkeit, eine Welt also, die weniger über den Zeitfluss und die Chronologie der Ereignisse, als durch die Anordnung der Punkte im Raum zu charakterisieren ist. In dieser Struktur sind die Geschichtsthesen von Wal356 | Siehe Lotman 2006, 530-35.

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ter Benjamin reformuliert. In seinen Geschichtsthesen verbindet Benjamin den jüdischen Glauben an den Messias mit der marxistischer Weltsicht, dies wird in dem Sinnbild des Engels der Geschichte deutlich, welcher sich der Vergangenheit und damit den Schrecken der Geschichte mit aufgerissenen Augen zuwendet, gleichzeitig aber vom Wind der Geschichte, der aus dem Paradies kommt, fortgeweht wird.357 Trolle wendet in dem Text die Methode des historischen Materialismus an, vergleicht die Strukturen der verschiedenen Epochen und reflektiert die revolutionäre Situation nicht aus der Perspektive der Sieger, sondern aus der der Verlierer heraus. Diese Geschichtsdarstellung stellt keine einfache Aktualisierung dar, sondern ein assoziatives Ineinander von Zeitebenen, die einen sukzessiven Verstehensprozess bewirken. Nicht Fakten und Daten, sondern Gefühle, Erinnerungsstrukturen und Traumata sind hervorgeholt. Nebelhaft, wie der November selbst, gestaltet sich die geschichtliche Erfahrung. Dabei wirken die revolutionären Figuren Rosa und Karl als Störfaktoren der Geschichte, die den Ablauf und die Routine stören und am Ende wie die abseitigen Figuren der von Liebknecht zitierten schwarzen Romantik verschwinden. Diese Konzeption entspricht Benjamins Vorgabe, die Geschichte müsse zum Stillstand gebracht und eine Gegenwart konstruiert werden, »die nicht Übergang ist sondern in der die Zeit aufsteht und zum Stillstand gekommen ist.«358 Diesen Moment des Stillstandes verwirklicht Trolle in seiner Montage: In der szenischen Anordnung werden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu Erinnerungsfiguren der möglichen Revolution und im Sinne Benjamins zu Engeln der Geschichte, die auf die unterdrückte Geschichte der Verlierer bzw. auf die Trümmer der Geschichte blicken. Zeitgeschichtlich gaben diese Gespenster der Geschichte der Oppositionsbewegung der sich auflösenden DDR Antrieb. Eine Reihe von Schriftstellern und Künstlern, darunter Christa Wolf, Stefan Heym und Volker Braun, sahen in dieser Umbruchzeit die Chance das Projekt des demokratischen Sozialismus zu verwirklichen.359 Nach dem Rücktritt Honeckers und mit der Organisation der ersten freien Wahlen in der DDR, hofften sie die Idee politisch durchzusetzen und über eine Volkswahl zu legitimieren. Mit dieser Hoffnung auf eine Art reformierte DDR stand diese Bewegung auf verlorenem Posten. Die Mehrheit der Bürger der DDR stimmte dagegen und damit für die deutsche Einheit. Dieses Ende der Utopie ist für die Linke auch ein Trauma. Dieses benennt Trolle, urteilt aber nicht. Am Ende des Stücks verstummen die Revolutionsfiguren und werden als Objekte der 357 | Benjamin 1974, 697f. 358 | Benjamin 1974, 702. 359 | Grünbaum beschreibt hier die Aufrufaktion Für unser Land. Siehe Grünbaum 1999, 115. Über den Utopieverlust bzw. die Diskrepanz zwischen der Vorstellungen der DDR-Schriftsteller und der Masse der Bevölkerung hinsichtlich der politischen Erwartung der Wende siehe Welzel (1998): Utopie-Verlust.

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Dokumentation bzw. als stille Beobachter dargestellt. Mit dieser Darstellung steht der Autor der Interpretation des Philosophen Jürgen Habermas nahe, der den konservativen bzw. nachholenden Charakter der friedliche Revolution von 1989 herausstellte und urteilte, dass mit der Wende eine historische Klammer geschlossen, das Kapitel zwischen der russischen Oktoberrevolution 1917 und dem November 1989 beendet und damit die utopische Gesellschaftkonzeption ad acta gelegt sei.360

Postsozialistischer Geschichtsraum im Theater und Hörspiel Der Theatertext ist schon in der Grafik darauf angelegt unterschiedlich interpretiert und gelesen zu werden. Eigennamen und Daten sind durch eine Leerstelle () im Text gekennzeichnet. Im Folgenden werden eine Hörspiel- und eine Theaterversion des Textes vorgestellt und gezeigt, wie der Geschichtsraum in diesen Medien inszeniert wurde. Während im Hörspiel der Akzent auf den Zeitbezug der Wendezeit 1989 gelegt wird, stellt die Theaterinszenierung, sofern sich dies aus Theaterkritiken und Programmheft schließen lässt, eine generelle Auseinandersetzung mit dem Thema der deutschen Revolution dar. Dies kann u.a. an der Besetzung verdeutlicht werden: Während im Hörspiel die Protagonisten von Solostimmen gesprochen werden, setzt die Theaterinszenierung auf chorische Formen und gestaltet so ein kollektives Gedächtnis.

Hörspiel: novemberszenen als Zeitstück Der Hörspielregisseur Ulrich Gerhardt, der in den 1990er Jahren bereits andere Texte von Trolle für das Deutschlandradio inszeniert hatte, erarbeitete eine Version, in der novemberszenen eindeutig als Zeitporträt bzw. Wendestück erscheint.361 1999, zeitnah zur Veröffentlichung des Theatertextes in der TdZ, sendet der SWR/DFL Köln die Hörspielfassung unter dem Titel Der Herbst der R.L.362 Die Radiofassung ist auf vier szenische Einheiten zusammengestrichen und fokussiert sich ganz auf den Spielort Berlin. Die Repliken werden abwechselnd von einer Männerstimme (Matthias Fuchs) und einer Frauenstimme (Hildegart Schmahl) gesprochen. Aus den Perspektiven der Schieberfiguren Brose-Zenk und Motz, aus der Sicht der Arbeiterfigur Ede und der der Revolutionäre Liebknecht und Luxemburg werden die Revolutionsereignisse geschildert. Immer wieder verschwimmen die Zeitgrenzen zwischen 1918 und 1989. Diese Grenzüberschreitungen kündigen sich schon zu Beginn des Hörspiels 360 | Siehe Habermas 1990, 180f. 361 | 1993 führte Gerhardt bei Sie zu dritt unter einem Apfelbaum und 1995 bei (Belo-) Russische Anthologie Regie. Siehe Trolle 2007c, 599. 362 | Siehe Trolle 2007c, 599.

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an, in dem historische Aufnahmen aus den Jahren 1989 und 1918 einander gegenübergestellt werden. Eröffnet wird das Hörspiel von O-Tönen eines Korrespondenten, der über die Nacht des Mauerfalls berichtet und über die Veränderungen spekuliert, die dieser historische Umbruch mit sich bringt. Im Hintergrund hört man vereinzelte Rufe der Berliner Bevölkerung. Danach wird eine Aufnahme eines Soldatenaufmarsches eingespielt, der von einem Militärorchester begleitet wird. Strukturiert wird das Hörspiel über eingesprochene Titel. Die Topografie der Stadt Berlin bildet den Rahmen der einzelnen Szenen und stellt so das dramaturgische Grundgerüst dar. O-Töne mit Geräuschen, Straßenlärm, Rufen und kurzen Wortwechseln der Bevölkerung, verleihen dem Stadtbild Lebendigkeit. Durch den Wechsel von Dokumentation und Fiktion bzw. von O-Ton und Hörspiel entsteht der Eindruck eines Radiofeatures mit dokumentarischem Anspruch. Die Fiktion ist zurückgebunden an die zeitgeschichtlichen Vorgänge im November 1989 in Berlin und den Grenzregionen der Bundesrepublik. Insofern steigert das Hörspiel die im Text angelegte Analogie zu 1989 und lässt den Originalinhalt im Hintergrund verschwinden. Historische Figuren, wie Friedrich Ebert oder Gustav Scheidemann werden gänzlich ausgespart und so der Originaltext von Döblin so weit wie möglich verallgemeinert und von seinem historischen Fixpunkt gelöst. Nachdem der Hörer über O-Töne von Nachrichtensprechern in die Zeit der Wende eingeführt wurde und über die Hintergrundgeräusche auch etwas von der Stimmung unter der Berliner Bevölkerung erfahren hat, springt das Hörspiel zurück in die Zeit des Kaiserreiches, wobei Blasmusik einer militärische Einheit zu hören ist und Befehle eines Generals, der die Einheit anleitet. Dieser Höreindruck führt in die Wilhelminische Zeit bzw. in die Zeit des Umbruchs von 1918. Unter dem Titel Brose-Zenk beginnt die erste szenische Einheit. Die Stimme von Hildegart Schmahl ist unprätentiös, langsam mit einem fragenden Unterton. Matthias Fuchs’ Stimme wirkt dagegen rauer, flüsternder, aber auch einfühlsamer und eindringlicher. In dieser Szene werden die unterschiedlichen Charaktere bzw. die sozialen Schichten eindrücklich inszeniert: auf der einen Seite die überängstliche, kleinbürgerliche Wirtin, die sich darüber aufregt, dass ihr Gast beim Schlafen das Licht angelassen hat und verärgert die Polizei ruft. Auf der anderen Seite der so unerschrockene Brose-Zenk, dem das abrupte Wecken durch die Polizei nicht aufregt, da er so die Beisetzung der Opfer der Revolution vom 9. November nicht verpasst – will er sich doch ein Bild machen. Mit dieser Bemerkung von Brose-Zenk ist der Hörer informiert und kann die bislang offen gelassene Information, um welche geschichtliche Situation es sich handelt, beantworten. Auch, dass nun von Brotmarken und von der Beisetzung der Matrosen die Rede ist, gibt einen sicheren Hinweis auf die Nachkriegszeit und die Novemberrevolution von 1918. Der Hörer wird aus der Perspektive des Schelms Brose-Zenk in die Geschichte eingeführt, dessen Meinung deutlich quer zu den politischen Vertretern der Novemberrevolu-

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tion aber auch des einfachen Volkes wie der Wirtin steht. Dieser Geschäftsmann betrachtet die Situation und fragt sich, welchen Gewinn er aus dieser Unordnung schlagen könne. Der Hörer wird auf seine Taxifahrt durch Berlin bis zum Tempelhof mitgenommen; zwischendurch holt er seinen Geschäftsfreund Motz aus seiner Wohnung ab, wobei der erste Widerspruch bzw. Irritation in der Raum-Zeit-Erfahrung entsteht; schaltet Motz doch seinen Fernseher aus, bevor sie weiterfahren. So wird diese Fahrt als Zeitreise gestaltet. Die Beschreibung der Straßenverläufe, der Menschenversammlung auf dem Tempelhofer Flugfeld lassen sich auf beide geschichtliche Epochen beziehen, der Hörer wechselt in einen geschichtlich nicht klar situierten Raum. Um die Atmosphäre in der Öffentlichkeit erfahrbar zu machen, werden Außengeräusche eingespielt: Menschen, die im Berliner Dialekt sprechen, sind zu hören. Unaufgeregt, auf lakonische Art und Weise kommentieren die Berliner die sogenannten Mauerspechte und beobachten, wie die Menschen auf die Berliner Mauer klettern. Die Stimmen hören sich wenig spektakulär sondern mehr staunend an und gehen in ein Hintergrundgemurmel unter. Der daran anschließende Erzählteil, in dem mit Schmahls sanfter Stimme weiter berichtet wird, wie sich das Taxi mit Brose-Zenk und Motz durch Berlin bewegt und sich Massen von Menschen auf den Straßen bewegen, ist da eindringlicher. Plastisch wird erzählt, wie die Särge der ermordeten Matrosen zu Grabe getragen werden. Die öffentlichen Redner sind nicht zu hören, nur die Kommentare der beiden Geschäftsmänner, die sich über den Zustrom an Menschenmassen wundern. Passend zur Situation werden Außenaufnahmen eingespielt, in denen jemand durch ein Megaphon anordnet, Ruhe zu bewahren. Dann verlassen die Schieber mit dem Taxi den Ort und fahren weiter in den Ostteil der Stadt bis zur Warschauer Straße. Nach der Karl-Marx-Allee müssen sie aussteigen und prallen auf eine Gruppe von Proleten. Nach der Auseinandersetzung wird eine Radiosendung zum Thema Abrüstung eingespielt, welche aber zugleich wieder im Hintergrund verklingt und die Szene wechselt. Unter dem Titel Heimkehrer wird nun die Arbeiterfamilie von Ede hörbar gemacht. Der Soldat Ede ist gerade aus dem Krieg zurückgekommen, aufgrund seines Einsatzes bei der Artillerie hat sein Hörvermögen nachgelassen. Seine drastische Ausdruckweise befremdet seine Familie, die bestürzt seine Abgeklärtheit wahrnimmt. In diesem Zusammenhang assoziiert der Hörer den heimgekehrten Soldaten Ede mit der NVA, der Nationalen Volksarmee der DDR. Die Arbeiterszene, in der Ede in Lethargie und desillusionierter Haltung auftritt und wiederholt den Wunsch nach »Frieden und Essen«363 äußert, wirkt im Hörspiel wie eine Momentaufnahme des allgemeinen Zeitgefühls. Edes Ankündigung jetzt seine 50 Mark holen zu wollen, bildet die assoziative 363 | Dieses sowie die folgenden Zitate sind der Aufnahme des 1999 im SWR/DLF Köln gesendeten Hörspiels Der Herbst der R.L. in der Regie von Ulrich Gerhardt entnommen.

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Brücke zur nächsten Radiosequenz. In dieser wird ein Außenkorrespondent eingespielt, der über die aktuelle Lage der Grenzstädte in der BRD kurz nach der Maueröffnung berichtet. Er schildert die langen Autoschlangen auf den Straßen und wie sich die Menschen vor der Stadtverwaltung sammeln, um sich ihr Begrüßungsgeld von 100 DM abzuholen. Zum Schluss der Szene zu Ede steht dieser an einer Ampelkreuzung und blickt auf ein Plakat, auf dem die Arbeiter zum gemeinsamen Kampf aufgerufen werden. Schmahl gibt Edes Gedanken zu diesem Plakat wieder, der sich fragt, wann sich mal wirklich jemand um ihn kümmert. Diese Gedanken des jungen Arbeiters und Soldaten gehen unvermittelt über in eine Debatte, in der Jugendliche über eine mögliche Abrüstung der sowjetischen Brigaden diskutieren und sich fragen, wie es nach dem Fall der Mauer weitergeht: »Irgendwer muß ja die Führung übernehmen. Weißt du, wieviel das kostet.« Nach diesen Redebeiträgen folgt ein britischer Pressebericht zur Entwicklung der politischen Ereignisse in der DDR. Die abschließende Szene des Wendepanoramas wird eingeleitet von der eingangs schon gehörten Militärmusik, die wieder in die Zeit des Kaiserreiches zurückführt. Unter dem Titel Karl Liebknecht wird dieser revolutionäre Parteiführer bei einem Gespräch mit Radek im Marstall und später im Restaurant Eule in der Schönhäuser Allee beschrieben. Die Aussage von Liebknecht, er habe das Gefühl, dass sich die Stadt in letzter Zeit verändert habe, lässt sich im Hörspiel eindeutig als Kommentar zu den Ereignissen 1989 lesen. Er sagt zu Radek, dass er mit diesen komischen Typen, die auf ihrer mittelalterliche Metaphysik und Gedankenfreiheit beharren, als Gegner nicht klarkommt. Als Liebknecht anschließend im Restaurant in der alten Schönhäuser Allee sitzt, bestätigen sich seine Bedenken über die komischen Typen, die er in der Stadt sieht. Ohne Hintergrundgeräusche ist diese Restaurantszene im Hörspiel inszeniert. Ungefragt setzt sich der Schieber Motz zu ihm und unterbreitet dem verstummten Liebknecht seine Weltsicht. Er muss sich anhören, warum die Deutschen – von ihrem Wesen her – zu keiner Revolution fähig sind: »uns bewegen nur Gott oder Satan.« Motz drückt sein Beileid darüber aus, dass Liebknecht gerade in Deutschland Anführer einer revolutionären Bewegung ist. Nachdem Liebknecht spuckend in der Stadt verschwunden ist, werden wieder Mauerklopfen und Berliner Stimmen eingespielt. Eine Außenaufnahme ist zu hören, in der Menschen Steine von der Berliner Mauer abklopfen: Monotones Klopfen von Metall auf Stein sowie Gemurmel wie »Alle Berliner sollen kommen mit nem Hammer« sind leise im Hintergrund wahrnehmbar. Unter dem Titel R.L. beginnt der letzte Abschnitt, in welchem Rosa Luxemburg in ihrer quälenden Einsamkeit im Gefängnis in Breslau und schließlich in ihrem Wahn gezeigt wird. Durch die Geisterhaftigkeit der Luxemburg haben diese historischen Szenen auch einen irrealen Charakter. Nicht nur an das Schicksal einer politischen Gefangenen und Kriegswitwe wird erinnert,

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sondern auch die weibliche Perspektive herausgestellt. Im sachlichen Tonfall wird sie als eine verängstigte Frau beschrieben, die sich in einer bedrohlichen, unwirtlichen Umgebung aufhält. Während die Stimme des Erzählers dabei klar und deutlich ist, ist die Stimme von Rosa Luxemburg flüsternd und leise. Durch das Wechselspiel von lauter und leiser, wispernder und anklagender Stimme wird das Porträt von Luxemburg gestaltet. Es wird berichtet, wie sie auf einem steinharten Bett liegt, ihren Körper betastet, am ganzen Leib zittert und sich zur Disziplinierung auf die Lippen beißt. In der Badewanne liegend, sinnt sie über ihr Leben nach und resümiert: »Man hat mir mein Leben gestohlen – darüber bin ich schlohweiß geworden.« Nach einer kurzen Gedankenpause führt sie den Gedanken weiter und tröstet sich selbst: »Aber wenigsten sitzt du in einer warmen Badewanne.« In diesem Zustand der seelischen und körperlichen Versehrtheit flüchtet sie sich immer weiter in Visionen und Wahnvorstellungen. Sie führt ständig Selbstgespräche und der Hörer ist im Unklaren darüber, ob sie gerade zu sich selbst, einer Wahnvorstellung oder einer realen Person spricht. Die Atmosphäre entspricht der melancholischgeisterhaften Stimmung des Novembers. Geisterhafte Erscheinungen bestimmen den Raum und die Sprecherin Rosa ist in den letzten Sequenzen des Hörspiels den Toten näher als den Lebenden. Ihre Stimme zittert und sie erzählt von der Kälte, die sie spürt. Dabei erinnert sie sich an die sibirische Steppe und an ihren dort verstorbenen Freund Hannes. Im Traum erscheint dieser ihr nachts, doch bringt seine Erscheinung ihr keine Erleichterung oder Tröstung. Er mahnt sie: Wie weit bis du eigentlich gekommen mit deiner Weisheit? Um ihn bei sich zu wissen, bietet sie ihm ihren Körper an; Der Geliebte kann sich als Geist in ihrem Haar verstecken oder ihren ganzen Körper als Gefäß nutzen, um seine Seele dort zu lassen. Erschrocken davon, wie kalt seine Seele ist, weicht Rosa allerdings zurück und versucht, sich von dieser Totenerscheinung zu lösen. Doch findet sie keinen Ausgang aus ihren Wahnvorstellungen und bemitleidet sich in ihrem Gedanken-Gefängnis. In einem abrupten Szenenwechsel, sitzt sie plötzlich in einem Hotelzimmer in Berlin. Die Freiheit ist ihr zu viel, sie sehnt sich in das Gefängnis zurück, wo sie ungestört die Vögel beobachten konnte. Auch hier überkommen sie wieder Visionen des Todes, zitternd vor Kälte flüstert sie zu sich selbst. Erinnerungen an die Kindheit werden geweckt, sie sieht sich auf dem zugefrorenen Landwehrkanal eine Schulfreundin treffen. Erst als diese ihren Mantel öffnet, entdeckt sie, dass es sich um eine Verstorbene handelt. Dieses Motiv der Unheimlichkeit führt sich fort und verstärkt sich weiter, als sich Rosa mit Liebknecht verstecken muss. Sie nimmt ihren politischen Mitstreiter nur noch als Traumfigur wahr, der sich als gefallener Engel, als satanische Figur entpuppt. Bis zu ihrer Ermordung führt die Erzählerin den Dialog mit der Revolutionärin fort und endet mit dem Satz: »Rosa, komm, streng dich an. Sei jetzt du. Nur du.«

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Dadurch, dass die geisterhafte Szene mit der Kommunistin Rosa Luxemburg auf die Mauerszene folgt, werden diese beiden Ereignisse, die Ermordung der Revolutionärin und der Fall der Berliner Mauer assoziativ miteinander verbunden. Das Schicksal, die Leiderfahrung, das Gedankengefängnis dieser Frau gehört in dieser Dramaturgie mit dem ideologischen Überbau der DDR zusammen. Das Aufklopfen der Mauer könnte, so eine Lesart des Hörspiels, Energien freisetzen, die diese Geistererscheinung reaktivieren, den Motor der Geschichte weiter antreiben. Beide Ereignisse, der Fall der Mauer sowie die Darstellung der Luxemburg haben ambivalente Bedeutungen und sind auch mit Tod verbunden. Beide beschreiben ein Ende: Der Zerfall des Ostblocks beschreibt das Ende einer geschichtlichen Epoche, die Ermordung der Luxemburg das Ende der kommunistischen Revolutionsbewegung in der Weimarer Republik. Die Morde und Tode wiederholen sich in diesem Geschichtsraum, nach dem Tod zeigen sich meist die Schattenseiten; der Terror des sozialistischen Staates tritt ans Tageslicht, wie das Leiden der politischen Ikone. Während die reale Grenze der Mauer in Berlin sukzessiv verschwindet, bleibt der Mythos der Luxemburg als schwebende Erinnerung zurück.

Theaterinszenierung und Chor im zeitgeschichtlichen Diskurs Die Uraufführung fand am 18. Mai 2002 am Theater am Alten Markt in Bielefeld unter der Regie von Hartmut Wickert statt. Im Programmheft wird wenig auf das Stück selbst, denn auf den Autor Trolle eingegangen. Er wird als (Ost-) Berliner Autor vorgestellt. Es sind kürzere Prosa- und Spieltexte abgedruckt, die ausdrücklich an Orten in Berlin spielen und so mit der Geschichte der Stadt verknüpft sind. Entsprechend dazu sind Fotos aus dem Revolutionsjahr 1918 mit Menschenmassen auf der Straße, Fotos vom Prenzlauer Berg zu Ostzeiten und aus den Wendejahren abgebildet.364 Während sich das Hörspiel ganz darauf konzentrierte, die Analogie zwischen den Jahren 1918 und 1989 herauszuarbeiten und andere historische Facetten zu vermeiden, spannt Hartmut Wickert einen breiten historischen Bogen. Der Themenkomplex der deutschen Revolution wird mit Hilfe des Fremdtextes Tristess Royal (1999) des Popliteraten-Quintetts um Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre noch weiter aktualisiert. Das Bühnenbild von Marina Hellmann reicht über einen Laufsteg weit in den Zuschauerraum hinein. Zudem ist für das elfköpfige Ensemble und den 18 Personen starken Extrachor der Bühnenraum mit Leitern und Galerien ausgestattet.365 Die Inszenierung lehnt sich eng an der Struktur von Trolles Text an, und ist somit in drei Teile geteilt. Den ersten Teil betitelt Ronald Meyer-Arlt von 364 | Siehe Gerber 2002. 365 | Siehe Buddenberg 2002, 54.

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der Theater heute als Revolutionsoperette, in welcher das Volk zu Wort komme. In dieser Szene treten die Sänger des Chores in dicken, grauen Mänteln auf und poltern in Holzschuhen und Stiefeln über die Bühne.366 Aus einem Eisentor treten hier die Massen, deren Kleidung die Zeichen der Verelendung tragen.367 Das historische Flair des ersten Teils, welches eine andere Rezensentin an das naturalistische Spiel Hauptmanns erinnert,368 wechselt schlagartig im zweiten Teil, in welchem »die Sänger mit Parkas und engen Pullovern«369 kostümiert sind. In diesem Teil wird politisiert, die Antagonisten Friedrich Ebert und Karl Liebknecht treten auf. Beide sind prototypisch und gemäß den historischen Figuren angelegt. Ebert wird von Hanspeter Bader als dickleibiger Machtmensch und Liebknecht von Matthias Reiter als asketischer Intellektueller dargestellt.370 Allein Rosa Luxemburg, gespielt von Sophia Harrison, weicht von dieser historisch-nahen Zeichnung ab. Diese hat wenig Ähnlichkeit mit der historischen Rosa. Sie trägt legere Freizeitkleidung. Auf Wilink wirkt die Rosa wie ein »rotzig störrisches Rosa-Kid«371. Meyer-Alt bekräftigt: »Mit ihrem Schlabberhemd und den Hosenträgern sieht sie aus wie frisch von der Clownschule.«372 Insgesamt wurden die Szenen mit Rosa Luxemburg von der Theaterkritik als der schwächste Teil der Inszenierung beurteilt. In der TdZ beurteilt Jörg Buddenberg den ersten, am Historischen anknüpfenden Teil der Inszenierung als gelungen. Der Chor sei strukturiert und formgebend eingesetzt und die Szenen pointiert herausgearbeitet. Doch würde sich ab dem zweiten Teil, in welchem »[…] die Historie als Referenzpunkt wackelt«, der Verfremdungseffekt verflüchtigen und die Figuren wirken banal bis belanglos. Die Belanglosigkeit steigere sich nochmals im letzten Teil, in Sophia Harrisons »große[r] Rosa-Szene«. Hier verliere die Inszenierung ihren gesellschaftlichen Anspruch und gleite ganz ins Private ab.373 Gegenüber der gutwilligen Kritik der TdZ, welche betont, dass allein die Inszenierung nicht aber der Theatertext Schwachstellen aufweise, bewerten die Rezensenten von Theater heute und der Regionalzeitung den Autor weitaus kritischer. So beurteilt Heidi Wiese vom Westfälischen Anzeiger Trolles Stück als »wirre Textcollage«374. Ronald Meyer-Arlt bezeichnet Trolles Text als »bieder und traumverloren«375 und 366 | Siehe Meyer-Arlt 2002, 48. 367 | Wiese 2002. 368 | Siehe Wasa 2002. 369 | Meyer-Arlt 2002, 48. 370 | Ebd. 371 | Wilink 2002. 372 | Meyer-Arlt 2002, 49. 373 | Buddenberg 2002, 54. 374 | Wiese 2002. 375 | Meyer-Arlt 2002, 49.

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spielt auf die Vorgeschichte des Textes an, wenn er resümiert, dass »Schleefs Entscheidung, auf Trolles Text zu verzichten […] gar nicht schlecht war.«376 Nur Ariana Mirza, die auch im Vorfeld das Interview mit Trolle führte und der Rezensent der Süddeutschen Zeitung, Andreas Wilink, heben die künstlerische Qualität des Textes hervor. Wobei besonders Wilink auf die Sprachästhetik eingeht und resümiert, dass Trolle »den Fluss des Geschehens strömen [lässt], statt ihn zu kanalisieren.«377 Anschaulich beschreibt Wilink, wie er den von Trolle entworfenen Geschichtsraum empfindet: »Die Straße, das Kabinett, die Zelle – alles tote Winkel der Revolution. Die Zeit-Verdrängung gerinnt zum Bild. Momente schieben sich ineinander wie Waggons eines entgleisten Zuges.«378 Für dieses Textmassiv habe der Regisseur nur bedingt die geeigneten theatralen Mittel gefunden. Zudem setze die Inszenierung ein hohes Vorwissen über den Roman von Döblin und geschichtliche Zusammenhänge voraus, die es dem Zuschauer erschweren, der Aufführung zu folgen. Vielleicht, so könnte man aus diesen Rezensionen lesen, hätte ein Berlin-Publikum, das mit dieser Stadt-Topografie vertraut ist, ein besseres Verständnis für die Inszenierung aufgebracht. Hätte verstanden, welche Geschichten da eingeschrieben sind oder sich noch an das Gefühl der Demonstrationszüge in dem besagten November erinnert und den schwebenden Zustand zwischen alter DDR und neuer Bundesrepublik nachempfunden? Der Text nutzt die Stadt-Topografie zur Aktivierung der Geschichte und holt mit Hilfe dieser Straßenzüge die Welt Döblins hervor bzw. macht sie vertrauter, indem er sie in das heutige Stadtbild versetzt. Es ist nicht nur das Revolutionsgeschehen, das ihn dabei interessiert, sondern auch die sich wiederholenden Widersprüche: Auf der einen Seite eine sich selbst bestätigende Genügsamkeit, auf der anderen Seite die unruhige, labile Energie der Rebellion. Sie lassen sich nicht vereinbaren und es gewinne immer, so ein Schlüsselzitat in Trolles Text, der vergeistigte Typus des Deutschen. Vergleicht man diese Textvorlage mit der Inszenierung von Einar Schleef so werden – trotz mancher Gemeinsamkeiten – die unterschiedlichen Interpretationen des Themas der deutschen Revolution deutlich. Schleef hatte sich während der Probenarbeit dafür entschieden, eine eigene Textversion zu erarbeiten, ähnlich wie schon 1993 in der Zusammenarbeit mit Rolf Hochhuth zur Produktion Wessis in Weimar. Dabei geht Schleefs Version sehr viel weniger auf den November 1918, erst recht nicht auf den November 1989 ein, sondern auf die gesamte Vorgeschichte der Revolutionen und damit auf die Geschichte der sozialen Utopie. Aus Döblins Roman sind insbesondere die Erzähltexte zu Rosa Luxemburg im Gefängnis und den letzten Revolutions376 | Ebd. 377 | Wilink 2002. 378 | Wilink 2002.

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tagen in Berlin aufgegriffen. Hinzu kommen eine aussagekräftige Auswahl an Volksliedern (etwa ein Chanty aus der Zeit Miltons), Märschen, Chorliedern und Texten aus Miltons Lost Paradise, Nietzsches Ecce homo sowie einem eher unbekannteren Dokument, dem Tagebuch des gefangenen Fähnrich Edwin Erich Dwinger, das Szenen aus dem Ersten Weltkrieg und seiner Kriegs-Gefangenschaft in Russland zeigt. Die Produktion lief unter dem Titel Verratenes Volk, der Theaterabend dauert über fünf Stunden und zeigte Chortheater auf einem sehr hohen ästhetischen Niveau. Der Bühnenraum ist abwechselnd grell ausgeleuchtet oder abgedunkelt, nur in Einzelszenen ist das Kostüm historisiert, meist tritt der Chor in uniformierter schwarzer Kleidung auf. Die Bewegungschoreografie ist rhythmisch genau, die chorische Sprache exakt und pointiert. Thematisch ist die Produktion ganz auf den Verrat der Utopie einschließlich des Verrates am biblischen Paradies fokussiert. Sie erzählt von den Erwartungshaltungen, Enttäuschungen und exzessiver Gewalttätigkeit, die mit der Geschichte der sozialen Utopien verbunden sind. Schleef geht dabei in die Tiefe, verankert die einzelnen Schicksale in der Zeitgeschichte, wobei er das Schicksal der Revolutionärin Rosa Luxemburg in den Vordergrund rückt. Um die Gefängnis-Monologe der Luxemburg vorzubereiten, blendet er Zeittafeln ein, die ihren Werdegang in Beziehung zu wichtigen Drehpunkten der Geschichte (etwa der Russischen Revolution) setzen. Untermalt werden diese Projektionen vom kraftvollen Gesang eines Revolutionschors (Die Internationale); sie demonstrieren das Lebensgefühl und die kämpferischen Haltung dieser Frau, die einen Großteil ihrer politischen Karriere im Gefängnis einsitzen musste. Im Interview erläutert Schleef, dass er die Tragik dieser Revolutionsfigur auch in ihrem Verrat an ihren eigenen Bedürfnissen sieht. Weder durfte sie ein Leben als Frau führen, noch konnte sie ganz in der Rolle als politische Funktionärin aufgehen. Ihre Abseitigkeit ist demnach bedingt durch den Machtapparat, in dem sie sich bewegt und ihr Scheitern ist bereits in der Grundstruktur der gesellschaftlichen Verhältnisse angelegt.379 Dieser Abgrund und die Tragik, die in Schleefs Theaterarbeit mitschwingen, sind wenig vereinbarbar mit Trolles kleinteiligem Theatertext, der unter Zeitlupe und in Nahaufnahme die Figuren betrachtet und in Zusammenhang mit Alltagsmomenten erzählt. Schleef spannt die großen zeitlichen Bögen, auch geht er vielmehr auf das Unheil und die Tragödie dieser November ein. Trolles Text ist viel ironischer angelegt und die Parallelziehung zu modernen Verhältnissen viel deutlicher. Nicht die brutale Seite der Geschichte, sondern die alltäglichprofane – das Gefühl der Reglosigkeit, der Belanglosigkeit und die seltsame Irrationalität der Revolution – ist in seinem Text vermittelt. Trolles Theatertext ist ganz auf Döblins Sprache fokussiert und so weniger auf die Tragödie, sondern auf die Sinnlosigkeit dahinter, d.h. auf das Absurde ausgelegt. 379 | Siehe Verratenes Volk. 2000.

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In diesem Vergleich lohnt es sich Aspekte der Biografie hervorzuheben, da Schleef und Trolle die gemeinsame Herkunft und Generation verbindet, stammen doch beide Künstler aus der Kleinstadt Sangerhausen (Süd-Harz) und gehören beide dem Jahrgang 1944 an. Soweit liegt also ihre geschichtliche Grunderfahrung nicht auseinander. Dem Verrat am Volk konnten sie schon nachspüren als 1953 in der Bergbaustadt der Aufstand der Arbeiter niedergeschlagen wurde. Diese Erfahrung des zunehmenden Widerspruchs zwischen der Utopie einer gleichen, gerechten Gesellschaft und den provinziellen Verhältnissen in der SED-Diktatur gehören zur Grunderfahrung dieser Generation. In ihren künstlerischen Arbeiten ist diese Erfahrung in Formen des Chortheaters als Sinnbild des Kollektiven übersetzt, in welchem der Zwiespalt zwischen Individuum und Chor artikuliert wird. Allerdings divergieren die beiden Künstler in der Gestaltung des Chores und in der Art und Weise, wie sie Geschichte erzählen. Schleef stellt in seinem Chortheater Körper aus, denen Gewalt- und Diktaturerfahrung eingeschrieben ist. Oftmals stellen sich in seinen Inszenierungen, beispielsweise in Mütter 1986 in Frankfurt, unmittelbare Bezüge zur faschistischen Ästhetik des Nationalsozialismus ein – zitiert er doch militärische Bewegungen, soldatische Sprechweise und erinnert mit gewaltigen Chorformationen an diese Epoche. Nicht zuletzt aufgrund der Bezüge zur faschistoiden Ästhetik ist Schleefs Chortheater auch umstritten und wurde von Theaterkritikern sogar verdächtigt, selbst rechtes Gedankengut verbreiten zu wollen.380 Wie Lehmann hervorhebt, sind diese Vorwürfe recht oberflächlich und gedankenlos, zielt Schleefs Theater doch auf eine viel tiefer liegende Ebene; nicht die Sprache bzw. das Wort ist hier der Träger von Bedeutung, sondern der Chor-Körper. Dieser spricht durch die Art der Bewegung, den Geruch, die Lautlichkeit unterbewusste Ebenen des Zuschauers an, welche mit kollektiver Erfahrung, wie die des Zweiten Weltkrieges, zusammenhängen: Gerade weil Schleef weiß, dass historische Erinnerung nicht einfach über das Bewusstsein, sondern durch körperliche Innervation geschieht, verweigern sich seine Bilder der simplen moralischen oder politischen Ausdeutung. Sie verstören umso tiefer und erzwingen Reflexion: Körpergedächtnis, das sich mit einem Überfall auf das Sensorium des Zuschauers vereint. 381

Die Gewaltsamkeit des Körpergedächtnisses hat der Künstler am eigenen Leib erfahren – in Interviews lässt sich beobachten, wie er mit einer Sprachhemmung kämpft, um Worte ringt und sie gewaltsam herausbringt. Es wirkt dabei, als ob er diese Traumata körperlich nachleidet. Solch eine starke Be380 | Siehe Lehmann 2005, 166. 381 | Lehmann 2005, 166.

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ziehung zwischen Körper, Sprache und künstlerischem Ausdruck gibt es bei Trolle nicht. Seine Sprechart ist geschmeidiger, flüssiger, gehender. Er hat eine Leichtigkeit und ruhige Beobachtungsgabe an sich, die Heiner Müller als Ignoranz gegenüber den Systemen einstufte: »Im Übrigen gleicht er nur sich selber, kratzen Staats- und Sonnenuntergänge nicht an seiner Identität.«382 In dieser Bemerkung Müllers, dass die Ideologien ihm nichts anhaben könnten, zeigt sich auch die Interessenlosigkeit der Avantgarde und der Wunsch in der Kunst unabhängigkeit von den Weltanschauungssystemen zu bleiben, bzw. diese nicht so intensiv in die Arbeit einschreiben zu lassen. In Trolles Perspektive verwandelt sich tragische Revolutionsgeschichte zur tiefschwarzen Komödie. Nach Hayden Whites Einteilung der narrativen Modellierung erhält Geschichte bei ihm – im Gegensatz zur tragischen oder dramatischen Erzählweise – die Form der Satire bzw. des Absurden. Als Trope wählt er dabei die Metonymie, d.h. die gewählte Textform bildet immer nur einen Ausschnitt, keinen ganzen Sinnzusammenhang heraus und ist nicht dazu geeignet ein Kulturmodell darzustellen.383 Wie Lehmann aufzeigt, ist der metonymisch fungierende Raum geradezu paradigmatisch für die Raumästhetik des postdramatischen Theaters, in dem Strategien angewendet werden, um Theater als Teil des Realen zu inszenieren und so über die Geschlossenheit des dramatischen Theaters hinauszugehen. Nach Lehmann kann der Weltbezug des dramatischen Theaters mit der Funktion des Fensters verglichen werden, das den Blick auf die Welt freigibt, wobei die dargestellte Fiktion immer im Bezugsrahmen des Fensters verbleibt.384 Im postdramatischen Theater dagegen, vervielfältigen sich die Fenster zum Realen. Liegt im dramatischen Theater der Fokus auf einer Rahmung und damit einer Lesart des Realen, ist ein eindeutiger Bedeutungszuspruch im Postdramatischen aufgehoben, mit der Konsequenz, »daß das Einzelne auf sich zurückgeführt wird als gesteigertes Hier- und Sosein seiner sinnlichen Beschaffenheit.«385 Durch diesen fragmentarischen Charakter wird der Zuschauer stärker in den bedeutungserzeugenden Prozess eingebunden und seine Wahrnehmung auf die Materialität der theatralen Zeichen, wie Lautlichkeit, Körperlichkeit, Räumlichkeit, gelenkt. Trolles Textästhetik, die den Leser so stark in den Rezeptionsprozess einbindet, lässt sich gut mit der postdramatischen Ästhetik, insbesondere mit den szenischen Montagen von Jan Lauwers vergleichen. Lauwers inszeniert szenische Anordnungen, »[in denen] die Akteure auf der Bühne sich immer wieder wie Zuschauer zu dem verhalten, was die anderen Spieler tun.«386 Durch diese szenische Anordnung 382 | Müller zitiert auf Einband von Trolle 2007. 383 | Siehe White 1986, 21. 384 | Siehe Lehmann 2005, 288f. 385 | Lehmann 2005, 290. 386 | Lehmann 2005, 297.

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erhalte der Zuschauer einen Abstand zur vorgeführten Aktion, auch könne er entscheiden, ob er zusammen mit den Darstellern auf der Bühne der Aktion oder wiederum den Beobachtern zuschauen möchte. Dem Zuschauer ist damit die Freiheit gegeben, die Szenen für sich zu montieren und zu entscheiden, wie er diese Szene sehen möchte. Durch das Prinzip der offenen Montage ändere sich, so Lehmann, die Bedeutung des Sehens im Theater: War der Blick im dramatischen Theater stark gelenkt, vergrößere sich hier die Freiheit des Zuschauers und eine Wahrnehmungsweise entsteht, die mit der Lektüre eines Buches verglichen werden kann.387 Die Geschichtsräume von Trolle betonen das Prozessuale, die Beweglichkeit und wenden das Prinzip der offenen Montage auf die Geschichte an, sodass diese im Modus des Gehens, des Denkens und Flanierens hervorgebracht wird. Nach de Certeau ist es der aktive Modus, die Raumpraktik des Tuns, die Trolle anwendet, um seinen Geschichtsraum sozusagen im Hier und Jetzt zu modellieren. Das Modell des Gehens lässt an Benjamins Konzeption des Flaneurs und an dessen Passagenwerk denken, in dem der Wahrnehmungsmodus des Flaneurs als literarisches Mittel eingesetzt wurde, um eine Signatur des 19. Jahrhunderts zu schreiben.388 Mit der Konzeption des Flaneurs ist eine Egalisierung der Perspektive verbunden. Statt eines panoptischen Blicks von oben, die der auktoriale Erzähler inne hat, befindet sich der Flaneur im Geschehen bzw. in der Menge und nimmt lediglich Ausschnitte und Bruchteile des Gesamtgeschehens wahr. Wie Harald Neumeyer in Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne (1999) ausführt, kann der Wanderer als ein Vorgänger des Flaneurs interpretiert und ihm gegenübergestellt werden. Der Flaneur ist ein Meister der Oberfläche, der in der Anonymität der Großstadt aufgeht; seine Schnelligkeit, Flexibilität und Spontanität hebt ihn von der Figur des Wanderers ab, der inne hält, sich in der Naturanschauung vertieft und Orte mit Gefühlslagen verknüpft.389 Demgegenüber zeigt sich der Flaneur unpathetisch, wenig mitfühlend, schaulustig – eine Haltung, die den Flaneur auch in Bezug zu Georgs Simmels Konzept des Großstädters setzt. Es ist also eine Abkehr vom Metaphern-Modell und des Geschichtsbildes, wie es bei Matusche vorliegt. Statt einer sinnhaften Geschichtskonzeption, die Erinnerung nutzt, um Identität zu stiften, fungiert hier das Hervorholen der Vergangenheit als eine Destabilisierung von Gewissheiten. Statt zu versuchen, eine Stabilität bzw. Hoffnung zu erzeugen und sich über tradierte Erinnerungsrhetorik und Gedächtnisbilder, seiner selbst zu vergewissern, zeigt er widersprüchliche Geschichtsbewegungen auf. Normalität und Sicherheit wird in dieser Weltsicht durch Verlusterfahrung destabilisiert und an das Abseitige, Gespenstische und Unheimliche 387 | Siehe Lehmann 2005, 298. 388 | Siehe Neumeyer 1999, 14. 389 | Siehe Neumeyer 1999, 11.

3. Grenzgänger Trolle: Das Modell des Gehens

erinnert. Die Situationskomik ist dabei ein sich wiederholender Moment, das eine starke Verbindungslinie zwischen den Epochen darstellt. Trolles Erinnerungstexte und Geschichtsräume lassen sich auf seine Biografie und Identität zurückführen: in die Art und Weise wie er die Literatur auswählt, montiert und den Leser durch die Geschichte führt, ist die eigene Geschichtserfahrung eingeschrieben. Auch die Offenheit, das sich Sperren gegen Bedeutungszuschreibungen kann als ideologiekritischer Standpunkt gewertete werden, der die Freiheit des Lesers betont und ihm die Fähigkeit zuspricht, eigenständig Zusammenhänge zu verstehen und Denkräumen nachzugehen. Aus diesem Exkurs wird die Relativität von Geschichtsdarstellung in Abhängigkeit zur jeweiligen künstlerischen Einstellung und zum Wahrnehmungsmodus deutlich. Trolle selbst sieht in seinem komödiantischen Ton auch eine Weiterführung der jüdischen Tradition.390 In der jüdischen Erzähltradition, wie sie etwa von Scholem Alejchem gepflegt wurde, ist die Klage auf das eigene Leid voller Selbstironie, da sie wie ein nicht enden wollendes Selbstgespräch wirkt und von dem eigentlichen Adressaten (Gott) im Grunde keine Antwort erwartet. Diese um sich selbst kreisende, dabei die Absurdität dieser Situation in den Blick nehmende Weltsicht, manifestiert sich auch in der Komik eines Woody Allen, der zwar nicht über das Leid im Schtetl, aber über das in der modernen Großstadt philosophiert. In Matusches Geschichtsdramen hingegen bleiben die inszenierten Paria-Figuren (Der Regenwettermann) nicht hoffnungslos. Vielmehr sind sie vom Pathos der Veränderung durchdrungen und werden als Vorbilder für die neue Gesellschaftsform inszeniert. Die von ihnen gemachte Erfahrung der Ausgrenzung wird als Motivation bzw. Hoffnung für die klassenlose Gesellschaft eingesetzt und aus der Grenzsituation wird eine Energie gezogen. Matusche verweist mit seinem jüdischen Helden auf diese Verbindung zwischen der Utopie des Sozialismus und der Aufhebung der strukturellen Ausgrenzung. Obgleich sich Trolle sehr für die Mechanismen der Ausgrenzung interessiert, verweigert er sich solchen Kausalitäten und Auswegen. Allerdings liegt in der Parteilichkeit für die Grenzgänger bzw. für die politisch Sprachlosen eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen den Autoren. Die beiden Erinnerungsfiguren David Rubinowicz und Daniel sind durchaus miteinander zu vergleichen: Beide Jungen verweisen auf die Kultur des osteuropäischen Judentums, beide bezeugen die Shoah und geben Haltungen vor, mit der Vergangenheit umzugehen. Trolles Erinnerungsfigur David Rubinowicz beruhigt sich im Singen und Schreiben, mit dem Wiedererzählen der jüdischen Geschichte, durch deren Humor und Wortwitz. Auch kennt er den großen Baal Schem Tov, der das Judentum erneuerte und die Gemeinschaft stärkte. Doch ganz ausdrücklich sind diese Figuren und Erzählungen nur eine Schimäre, eine Erinnerung an etwas Verschwundenes und Zeichen einer Leerstelle, die 390 | Trolle zitiert in Suschke 2009, 51.

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bleibt und die auf ein Abbrechen der kulturellen Tradition verweist. Trolles grübelnde Außenseiter sind keine Helden – ohne Pathos werden sie inszeniert und lassen sich vielmehr mit den »Widerstandsfiguren« Becketts vergleichen. Wie Estragon und Wladimir in Becketts Warten auf Godot verharren sie an der gleichen Stelle, wobei sie im Denken und Erinnern zu Hause sind bzw. sich im Denken ihre Identität bestätigt. Die beiden Clowns sind das Gegenmodell zu dem rastlosen Herrn Pozzo und seinem Diener Lucky: Während diese orientierungs- und gedächtnislos von Ort zu Ort streifen, verharren diese beiden Denker an ihrer Stelle neben dem verkrüppelten Baum; im Warten und der Sinnlosigkeit ihrer Existenz stellt sich der Bezug zur Welt her.391

391 | Siehe Beckett 1966.

4. Schlusswort: Grenzgänge und Weltanschauung

Beide ästhetischen Modelle kreisen um den Fixpunkt der Revolution sowie die sozialistische Utopie – von diesem Fixpunkt lassen sich die Modelle auf Traditionslinien zurückführen, die auf die Weimarer Republik sowie avantgardistische Strömungen der Moderne zurückgehen. Matusche konnte als Grenzgänger zwischen Weimarer Republik und DDR bestimmt werden, dessen Dramatik durch Denk- und Stilfiguren des Expressionismus nachhaltig geprägt wurde. Religiosität, Naturempfindsamkeit und Hoffnungsfiguren leiten seine Ästhetik, in der das Unsichtbare und die gefühlte Geschichte in Bilder eingeschlossen und transportiert werden. Abseits dieser Empathie steht Trolles diskursives Konzept, das ebenfalls an eine Traditionslinie der Weimarer Republik, näher an die Literatur- und Geschichtstheorie von Walter Benjamin, anschließt und literarische Montagen erstellt, die einen verfremdeten Blick auf die Gegenwart der Berliner Republik herstellen und in der Tradition des frühen Brecht aber auch des Theaters der Absurden eine »schwarzgrundierte« Komik erzeugen. Nicht nur zwei ästhetische Modelle, sondern auch zwei unterschiedliche Zugänge zur Welt wurden einander gegenübergestellt. Diese sind eng mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts verknüpft, welches Eric Hobsbawm als das Zeitalter der Extreme bezeichnet.1 Dieses »kurze Jahrhundert«, das 1917 mit dem Zerfall der Imperien und der Oktoberrevolution begann und 1991 mit dem Zerfall der Sowjetunion endete, war in humaner und politischer Hinsicht durch Extreme geprägt. In dieser Zeitspanne sind die Katastrophen eng verzahnt mit neuen radikalen Gesellschaftsentwürfen, mit den totalitären Regimen, den politischen Visionen einer neuen Gesellschaftsform. In diesem Jahrhundert äußerte sich im Holocaust, im fabrikmäßigen Töten von Menschen, eine neue, radikale, unvorstellbare Dimension des Bösen. Es zeigte sich, wozu der Mensch innerhalb eines Weltanschauungssystems fähig ist. Sämt1 | Siehe Hobsbawm 1999, 20-26.

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liche Bezugssysteme der christlichen Moralvorstellung und des auf den Menschenrechten sich gründenden Rechtssystems wurden dabei ignoriert bzw. so ausgelegt, dass sie auf perfide Weise zur Legitimation des Bösen genutzt werden konnten. Auf diese vollkommene Desillusionierung der humanistischen Ideale gab es verschiedene Reaktionen: Zum einen die Behauptung mit einem anderen Weltanschauungssystem das humanistische Ideal verwirklichen zu können. Zum anderen die Ablehnung sämtlicher Weltanschauungssysteme und die Bestärkung des individuellen Prinzips. Beide Autoren sind von diesen Extremen des 20. Jahrhunderts geprägt und geben künstlerische Wege vor, mit der Geschichte umzugehen. Dabei entwickeln beide eine sehr eindeutige Haltung zur politischen Utopie, zur Möglichkeit des Guten und dem Geschichtsverlauf. Hierbei wendet sich Matusche tendenziell dem zu, was der Mensch hoffen kann; Trolle hingegen dem, wozu der Mensch fähig ist. Matusches Modell untersteht dabei dem marxistischen Weltbild. Er hält am idealistischen Menschenbild fest, in der Hoffnung, dass der Mensch sich unter veränderten Bedingungen zum Guten entwickelt. Die Traumata der Vergangenheit werden dabei nicht ignoriert, sondern als tragischer Ausgangspunkt mitgedacht. In seinen Dramen zeigt er auf, wie gesellschaftliche Bedingungen sich auf das Verhalten der Menschen auswirken und inwieweit dieser sich selbst aus der vorgefundenen Situation befreien bzw. in dieser behaupten kann. Momente der Bewusstwerdung der eigenen Möglichkeiten und der Einsicht in politische Prozesse sind dabei in Grenzsituationen hervorgehoben. Matusche stellt die mobilisierenden Kräfte heraus, die durch Grenzsituationen ausgelöst werden können. Als Antwort bzw. Reaktion auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts entwickelt er das Konzept des ganzheitlichen Menschen in der Dialektik zwischen sinnlichem Spiel und Verstand. Aufgrund dieses spielerisch-naiven Zugangs zur Welt gehen seine Stücke über den engen kulturellen Kontext der DDR hinaus. Sie setzen weniger auf die inhaltliche Vermittlung einer Botschaft, sondern transportieren das Weltbild über den gesamten ästhetischen Erfahrungsraum des Dramas. Einerseits zeigt Matusche den Menschen in seiner Bedingtheit, andererseits bezeugt er dessen visionäre Kraft sowie die Fähigkeit zu Imaginationen. Seine Grenzgänge verweisen auf die Bedingtheit der menschlichen Existenz, aber auch auf Hoffnungsmomente, welche durch christlich-plebejische Symbolik verstärkt sind. Trolles Texte sind durch eine absurde Weltsicht geleitet, in der existentielle Grunderfahrungen im Vordergrund stehen. Ziel der Darstellung ist nicht mehr einen Hoffnungsdiskurs zu verstärken oder der Welt »Sinn« zu stiften, sondern der eigenen, subjektiven Erfahrungswelt Ausdruck zu verleihen. Die Grenzen einer linearen Zeitstruktur oder eines geordneten Raumgefüges werden dabei kontinuierlich dekonstruiert und destabilisiert: Die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart bzw. zwischen Fiktion und Realität. Dabei sind diese Grenzgänge auch als Möglichkeiten gedacht, sich den Zwängen

4. Schlusswor t: Grenzgänge und Weltanschauung

der Welt zu entziehen. Im Tagtraum und in der Phantasie zeigt sich die Souveränität des Einzelnen. Die geplante Welt der sozialistischen Ideologie wird als Farce erlebt, gleichzeitig werden Mittel gefunden, mit dieser Welt umzugehen. Das wichtigste Mittel scheint die Distanzierung von der äußeren Welt über Verfahren der Parodie und der Groteske. Mit Strategien des Komischen und des Unheimlichen werden Energien freigesetzt und krisenhafte Situationen überwunden. Über das Lachen verschafft sich das Subjekt Souveränität. Ferner bilden diese phantastischen und unheimlichen Räume die psychische Verfassung des Wahrnehmenden ab und zeigen eine Welt, die als irreal und grotesk empfunden wird. Auch der Chor dient dazu, Distanz zur Welt aufzubauen. Wie am Beispiel von David Rubinowicz gezeigt, fungiert der Chor im Sinne Nietzsches als schützende Mauer, um sich eine andere Realität aufzubauen und fiktionale Räume zu erweitern.2 Von den Rändern der sozialistischen Utopie geben beide Dramatiker einen Blick auf das 20. Jahrhundert, der, im Sinne Benjamins, die Trümmer der Geschichte und damit ein Gedächtnis der Verlierer freilegt. Ihre Strategien mit der historischen Situation umzugehen, münden in dem gemeinsamen Vorschlag, den Erfahrungshorizont einer objektiv wahrnehmbaren Welt zu erweitern und subjektive Räume zu gestalten, um die Komplexität der Wirklichkeitserfahrung zu zeigen: Das Unsichtbare (die Welt der Imagination und der Ideen) wird in beiden Modellen in die sichtbare Welt integriert und in den Erfahrungshorizont einbezogen. Beide Dramatiker stärken das Subjekt durch diese ästhetischen Grenzgänge und erweitern dessen Welterfahrung.

Ä sthe tischer R aum und H andlungen des »S ehens « und »G ehens « Über die kulturgeschichtliche Bedeutung dieser Grenzgänge hinaus, konnten die Textmodelle in Zusammenhang mit unterschiedlichen Wahrnehmungsformen vorgestellt werden. Jedes der Modelle bringt eine eigene Raum- und Zeitstruktur hervor. Für Matusches Modell spielt dabei die Wahrnehmung des Sehens eine wesentliche Rolle. Die Welt wird als Karte, als Schau-Raum wahrgenommen, die sich über eine symbolische Sprache darstellen lässt. Eindeutig steht Matusches Modell des Sehens in der Tradition des dramatischen Theaters, das auf dem Prinzip der Erkennbarkeit der Welt basiert. Auch vertraut Matusche darauf, diese in gedrängter und abstrahierter Form dem Zuschauer vorführen zu können. Trolles Modell dekonstruiert diese Vorstellung der Erkennbarkeit. In seinem Modell des Gehens entsteht ein Bewegungsraum, der der Ästhetik der Postdramatik entspricht. Dieses Modell ist durch den bestän2 | Siehe Nietzsche 1959, 53.

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digen Wechsel von Zeit- und Raumebenen bestimmt, wobei das Hören zur leitenden Wahrnehmung wird. Das Sehen ist für diesen ästhetischen Raum viel zu statisch und distanziert. Es wird keine Ordnung, keine Karte mehr abgebildet, sondern im Gehen die Welt erkundet. Beide ästhetischen Modelle sind also auf bestimmte Wahrnehmungen der Welt spezialisiert, die sich als Ausdrucksmittel einer gefühlten, nicht sichtbaren Welt eignen und nur im ästhetischen Raum des Theaters bzw. im Rezeptionsvorgang hervorgebracht werden. Es bleibt zu fragen, worin die grundsätzliche Diskrepanz dieser Wahrnehmungsformen besteht. Was unterscheidet einen ästhetischen Raum, der sehend wahrgenommen wird von dem, der gehend erfahren bzw. hörend wahrgenommen wird? Arendt zeigt in Vom Leben des Geistes, wie sehr das Denken mit der Wahrnehmungsform des Sehens verbunden ist. Abstrakte Ideen werden seit der Antike in Form von bildlicher Sprache wie Metaphern zur Anschauung gebracht. Arendt bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt: »Indem sich die Sprache metaphorisch gebrauchen läßt, ermöglicht sie uns das Denken, d.h. den Umgang mit nichtsinnlichen Dingen, weil sie eine Übertragung (metapherein) unserer Sinneserfahrung ermöglicht.«3 Mit diesem Argument ist Arendt ganz bei Bachelard, der die Metapher als Verbindung zwischen drinnen und draußen – bzw. in Arendts Sprache – zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem definiert. Diese Verbindung suggeriert, dass die »Wahrheit« geschaut werden kann. Diese Wahrnehmungsform des Sehens ist für Matusches Modell evident, da über die bildliche Sprache, die Grenze aufgehoben und die unsichtbare Welt in die Dramatik gebracht wird. Die abgerufenen Bilder sind als Denk- und Reflexionsbilder konzipiert, die die Figuren innehalten, nachdenken und nachfühlen lassen. Ein Ereignis, das sich auch auf der Ebene der Rezeption nachvollziehen lässt, wenn die Bilder schon während der Lektüre stocken lassen bzw. sich nach der Lektüre weiter einprägen. Die Bilder stiften Verwirrung und rufen dazu auf, einen bestimmten Sinn-Gehalt, eine Idee zu finden, die diesem entspricht. Auch wenn das Bild erklärt ist, verliert es nicht an Nachhall, es bleibt im Gedächtnis haften. Das Sehen, so hebt Arendt hervor, ist die einzige Wahrnehmung, die Abstand vom Gegenstand lässt, ihn erkennbar macht und erst in der Ruhe der Anschauung seine volle Wirkung entfaltet. Diese Wirkung konnte für Matusches ästhetisches Modell hinsichtlich der Tendenz zur Statik und Langsamkeit aufgezeigt werden. Auch suggeriert die Metapher immer einen bestimmten Zusatz, eine Tiefe unter der Oberfläche, die man über gedankliche Anstrengung erkennen kann, bzw. die sich entschlüsseln lässt. Die Welt wird also nicht als vollständig erklärt vorausgesetzt und auf eine Bedeutungsebene hinter der sichtbaren Welt verwiesen. Insofern kann die Verbindung von Denken und Sehen auch verblendend und irreführend sein. 3 | Arendt 2008a, 114.

4. Schlusswor t: Grenzgänge und Weltanschauung

Durch bestehende Symbolik und Metaphern werden Denkmodelle verfestigt; z.B. wenn Geschichtsdarstellungen an eine bestimmte Rhetorik zurückgebunden werden.4 Die Gefahr liegt demnach in der ungeheuren Suggestivkraft, die diese bildliche Denk-Sprache entwickeln kann: Immer können Metaphern auch ein Eigenleben entwickeln und so Denkweisen unbewusst vorstrukturieren und verfestigen. In Matusches Dramatik kommt diese Zweischneidigkeit der Metapher auch zum Ausdruck. Einerseits gebraucht er biblische sowie plebejische Symbolik, deren Bedeutung stark vorgeprägt ist, andererseits sucht er nach »neuen«, ungewohnten Metaphern, die möglicherweise dazu geeignet sind, gewohnte Wahrnehmungsstrukturen zu hinterfragen. Dabei konzipiert Matusche Bilder, die über das Denken hinausgehen, wodurch ihnen, nach Bachelard, eine tiefenpsychologische Bedeutung zukommt. Wie Bachelard es am Bild des Runden als ein Sinnbild für das glückliche Leben gezeigt hat, können diese Bilder weniger erklärt, sondern mehr gefühlt und so intuitiv verstanden werden. Insofern weist Matusches Modell des Sehens auch über diese enge Verbindung von Sehen und Denken hinaus, auf etwas Vages, Uneindeutiges, das über die Grenzen des Verstandes hinausgeht. Arendt überlegt weiter, warum eigentlich das Sehen die engste Verbindung zum Denken darstellt. Gerade aufgrund der verschleiernden und auch nebelhaften Funktion, die Metaphern, neben ihrer erkenntnisbringenden Funktion haben können, scheint es nicht immer die günstigste Verbindung zu sein. Um Verblendungen und Irreführungen zu vermeiden, wäre es nicht besser gewesen, wenn der Sinn des Hörens zur leitenden Wahrnehmung der Kultur geworden wäre? Würde diese Wahrnehmungsweise dem Erkennen der Wahrheit nicht viel näher stehen? In diesem Zusammenhang verweist Arendt auf die Tradition der jüdischen Kultur, in der das Prinzip der Abbildung nicht gilt: Von Gott darf sich kein Bild gemacht werden, so kann die Wahrheit »gehört« aber nicht »gesehen« werden.5 Diese Wahrnehmungsform des Hörens zeichnet sich dadurch aus, dass sie sehr nah am Körper und direkt in der »Welt der Erscheinung« verhaftet ist. Darin sei das Hören dem Geschmackssinn ähnlich, dem Kant in der Kritik der Urteilkraft (1790) so viel Bedeutung bei der Bewertung von ästhetischen Gegenständen zugemessen hat.6 Geschmackssinn und Hörsinn scheinen im Gegensatz zu der sich distanzierenden und zur Kontemplation neigenden Wahrnehmungsform des Sehens weitaus persönlicher zu sein. Während das Sehen, den Vorteil bietet, Distanz zum Gegenstand 4 | Dies zeigt Arendt in Rückgriff auf Blums Metapherntheorie: Metaphern wie Sturm, Licht, Dunkel leiten die Struktur von geschichtlichen Darstellungen. Etwa wenn die Aufklärung das Licht bringt, während das Mittelalter im Dunkeln blieb. Siehe Arendt 2008a, 115. 5 | Arendt 2008a, 116. 6 | Siehe ebd.

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zu schaffen, ist das Hören viel näher am Gegenstand und bildet eine Nähe zwischen den Sinnen des Körpers und dem Gegenstand heraus; ein solcher Erfahrungsraum scheint spontaner, beweglicher, weniger festgefahren zu sein und entspricht, wie Arendt es ausdrückt, »der Hurtigkeit der Gedanken« 7. Diese Wahrnehmungsform des Hörens lässt sich auf Trolles Modell des Gehens beziehen: Der dynamische Text-Raum, der sich zwischen Zeiten, Orten und Kommunikationsachsen bewegt, ist vergleichbar mit dem fluiden Medium des Hörspiels. Der Rezipient nimmt nicht sehend, sondern hörend Trolles Texte auf – die erzählenden Passagen sind weitaus dominanter als die zeigenden. Während im Sehen ein Ganzes erfasst werden kann, nimmt der Hörer die Welt als ein beständiges Ereignis in Bruchteilen auf. Er kann sich kein »Bild« mehr machen, nicht die Welt als Totalität erfassen, sondern nimmt diese in Ausschnitten, Details und Kleinigkeiten wahr. Aufgrund dieser Abstandslosigkeit gibt es keinen eindeutigen Standpunkt mehr gegenüber dem Selbst sowie gegenüber der Geschichte und feste Begrifflichkeiten lösen sich auf. Diese Ästhetik zielt nicht darauf, große Ideen zu vermitteln oder Bilder der Geschichte zu geben, sondern stellt das Unmittelbare in den Vordergrund. Der Hörsinn ist dabei dem Körper viel näher als der Sehsinn: Nicht nur über das Ohr, sondern über das gesamte Sensorium der Haut wird das Gehörte, insbesondere die im gesprochenen Wort transportierte Stimmung, aufgenommen. Damit ist aber auch ein Verlust an Überblick gegeben, den Arendt als kritischen Aspekt hervorhebt. Gegen die Verbindungen von Denken und Hören spricht die »Hörigkeit«, die dieser Wahrnehmungsform innewohnt und den Rezipienten zu einer passiven Haltung bzw. einem Gehorsam veranlassen.8 Von einer solchen Passivität kann aber bei der Rezeption von Trolles Texten, die stets eine Mitarbeit des Rezipienten einfordern, nicht die Rede sein. Deswegen scheint mir die Bewegungsform des Gehens eine genauere Begrifflichkeit, um dieses Modell zu fassen. Auch verweist das Gehen auf die von de Certeau definierte Alltagssprache des Tuns, die die körperliche Aktivität im öffentlichen Raum betont. In Trolles Modell ist der Rezipient zum Denken angehalten, um Sinn herzustellen, muss er die Gedankensprünge mitgehen und die Leerstellen und Brüche im Text kognitiv meistern. Dabei wird im Gegensatz zum Nachsinnen der Metapher und des Sinnbildlichen, die Interaktion zwischen Text und Leser betont: Der Leser wird zum Bestandteil eines Denkvorgangs und damit zum Teil des Produktionszusammenhanges. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die vorgestellten Theatermodelle – das dramatische von Matusche und das postdramatische von Trolle – mit zwei unterschiedlichen Wahrnehmungsformen verknüpft sind, die wiederum unterschiedliche Denkweisen hervorbringen. Bei Matusche ist das Nach-den7 | Arendt 1979, 54. 8 | Siehe Arendt 2008a, 116.

4. Schlusswor t: Grenzgänge und Weltanschauung

ken über die Welt eng mit Metaphern, Symbolen und Analogien verknüpft. Anhand seiner Geschichtsdramen konnte verdeutlicht werden, dass in seinem »Modell des Sehens« – im Sinne von Hayden Whites Tropologie – ein metaphorisch strukturierter Geschichtsraum entworfen wird, der »Bilder der Geschichte« konstruiert und aus einem teleologischen Geschichtsverständnis heraus gestaltet ist. Seine Bilder sind auch in dem Sinne »zukunftsschwanger«, da sie durch ihre Mehrdeutigkeit über den engen Horizont der DDR hinausgehen. Dieses Vorwärtsstreben von Matusches Dramatik wird in Trolles Modell geradezu konterkariert. Sein Modell ist eng mit dem Vorgang des Denkens und dem aktiven Modus des Gehens verknüpft. Wobei mit der Praktik des Gehens keine Vorwärtsbewegung gemeint ist, sondern eher eine zirkelhafte, kreisförmige Bewegung, die immer wieder auf den Denkenden zurückführt. Statt eines Überblicks wird eine partikulare Sicht auf den geschichtlichen Raum gegeben, in der der Leser wie ein Flaneur durch den geschichtlichen Raum geführt wird. Dabei bildet sich eine fragmentarische Form der Geschichte heraus, die nach White mit der Trope der Metonymie beschrieben werden kann. Durch das Verfahren der Montage wird die Kontinuität der Geschichte gesprengt und ein Geschichtsraum der Gleichzeitigkeit gestaltet. Nun lässt sich, angesichts der erarbeiteten ästhetischen Modelle von Matusche und Trolle, über die Gewichtung der Wahrnehmungen nachdenken und fragen, was lösen sie im Betrachter aus, welche Erfahrungen werden in der Lektüre gemacht, was rufen die Grenzgänge hervor? Es sind Fragen, die auf politische Implikationen dieser Wahrnehmungsmodelle zielen und die Grenzgänge einer Bewertung unterziehen. Wie unter Rekurs auf Lotmans Theorie der Semiosphären herausgearbeitet wurde, kann die Grenze als Motor der Kultur und Übersetzungsmechanismus verstanden werden. Auch verweist Turner in seiner Ritualtheorie darauf, dass Grenzüberschreitungen Wahrnehmungswechsel evozieren, Energien freisetzen und produktiv in die Gesellschaft hinein wirken. Jörg Volbers stellt im Hinblick auf Turners Konzept heraus: »Mit der Liminalität glaubt Turner, ein Modell dafür gefunden zu haben, wie die kulturelle Ordnung sich von ihren Rändern her, von Seiten der verfemten und zugleich faszinierenden Außenseiter, immer wieder erneuert.«9 Auch Matusche und Trolle erarbeiten ihre Modelle von den Rändern der Gesellschaft aus und werfen fremde Blicke auf das kulturelle System, dem sie angehören. Als Grenzgänger zwischen Weimarer Republik und DDR bringt Matusche die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, aber auch die jugendliche Emphase für die sozialistische Utopie mit. In seinem Modell des Sehens ist der Grenzgang durchweg ambivalent gedacht – in seiner Unlösbarkeit. Hinsichtlich der Subjektwerdung, wie sie Jaspers beschrieben hat, sind Grenzsituationen wichtige Stationen der Selbstwerdung. Diese Sichtweise wendet Matusche nicht 9 | Volbers 2014, 73.

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nur auf das Individuum oder die Künstlerexistenz an, sondern auch auf die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft. Sein Theater strebt durch den Grenzgang einen Prozess der Entwicklung und der Heilung der Gesellschaft an. Besonders in seinen Geschichtsdramen kann Matusches ambivalente Konzeption der Liminalität erfasst werden. Unter Rekurs auf Arendts politische Theorie konnte in Der Regenwettermann die wichtige Funktion der Grenze zwischen privat und öffentlich veranschaulicht und gezeigt werden, wie durch die Destabilisierung der Grenze ein totalitärer Raum installiert wird. Auch in Die Dorfstraße greift Matusche die identitätsbildende Funktion der Grenze auf und zeigt, wie durch das Wegbrechen nationaler Verbindlichkeiten und sozialer Zuschreibungen am Ort des Flüchtlingslagers Krisensituationen entstehen. Gleichzeitig verweist der Dramatiker, wie am Beispiel des Topos Regenwettermann gezeigt, auf das Potential der Grenzsituation, auf die Möglichkeit der Erkenntnis und der Entscheidung, die mit diesen Grenzsituationen einhergeht. Die Reaktionen auf die Grenzsituation sind meist nicht rational, sondern werden aus einer Empfindung, einer Stimmung heraus getroffen. Insofern ist an die Grenzsituation auch das Unsagbare geknüpft. Hier bringt Matusche das mimetische Theatermodell an eine Grenze des Verstehens und untergräbt damit das Gebot der Verständlichkeit. Es meint ein bildhaftes, nachdenkliches Theater, das zwar in der Theaterkonvention des Seh-Raumes verbleibt, dieses mimetische Theater aber als Ausgangspunkt eines Wahrnehmungswechsels begreift. Dabei konzipiert Matusche Szenen, in denen die Figuren in einen Zustand der Krise versetzt werden, wodurch sie sich in einem transdifferenten Raum bewegen. In diesem Raum sind Bedeutungszuschreibungen unscharf und lediglich angedeutet. Dieser Andeutungsstil, der mit einer kindlichen Naivität zusammentrifft, versucht über den Grenzgang, die Welt neu zu sehen und zu verstehen. Mit der Rückführung auf ein Geheimnis und etwas Magischem in der Realität, zielt Matusches Theater auf unbewusste Gefühlsebenen, die menschliche Erfahrungen erschließen. Es ist ein von Lakonie durchzogenes Theater, das zwar vor einem Glaubenshorizont entwickelt wurde, aber die gesellschaftlichen Widersprüche in der Darstellung bestehen lässt. In diesem ästhetischen Raum kommt eine verhaltene Hoffnungssymbolik zum Ausdruck, deren Grundgefühl die Schwere ist und zum Nachdenken auffordert. In diesem Sinne entwickelt Matusche ein Theater der Kontemplation, das über die erfühlte Welt nachdenken und die Grenzen von Existenz erfahren lässt. Die von Arendt veranschaulichte Nähe von Dichtung und Philosophie drückt sich in Matusches Modell aus; hier zeigt sich das Unsagbare in einer lyrischen Sprache. Oder, um mit Bachelard zu sprechen, werden in dieser bildlichen Dramatik »Räume des Unermesslichen« aufgebaut, die den Rezipienten zum vertiefenden Sehen bzw. zum Meditieren anregen.10 Im Kontext des 10 | Siehe Bachelard 1960, 223.

4. Schlusswor t: Grenzgänge und Weltanschauung

DDR-Theaters bedeutet dieses Theater der Kontemplation eine Provokation, da es über das mimetische Prinzip der Anschaulichkeit hinausgeht. Gerade das Theater der DDR beanspruchte die politische Dimension des mimetischen Theaters für sich und wollte eine soziale Botschaft vermitteln. Diesen Anspruch bedient Matusche nur bedingt; einerseits spiegelt er in seinen Dramen zwischenmenschliche Konflikte aus einer sozialistischen Perspektive heraus, andererseits tendiert sein Drama dazu, sich aus dieser öffentlichen Sphäre zurückzuziehen und auf transzendente Erfahrungen und gefühlte Zustände zu verweisen. Im Hinblick auf die Rezeption sind mit dieser ästhetischen Erfahrung die apolitischen Aspekte seiner Dramatik gemeint, die Rolf Winkelgrund als »Balsam für die Seele«11 bezeichnet. Bei Trolle ist der Grenzgang positiv konnotiert, als Moment der Befreiung, Produktivität und lebendigen Denkens. Das Gehen in seinen Texten ist nicht zielgerichtet, sondern durch die Lust am Denken selbst bestimmt und nicht auf eine Erkenntnis hin auslegbar. Auch in Trolles postdramatischen Texten wird die Idee der Sphäre des Öffentlichen weitergeführt und gelangt über das Neu- und Widerlesen von Literatur zur Bedeutung. In seinen Texten entwirft er ein Theater, das Räume des Handelns und Denkens im Gehen schafft. Wie am Beispiel von klassenkampf gezeigt, entwickelte Trolle unter den Produktionsbedingungen in der DDR sein Konzept von Lesedramen und erzählten Aufführungen. Die ersten Aufführungen von Trolles Stücken fanden im privaten Rahmen, auf Lesungen und außerhalb des öffentlichen Systems statt. Entsprechend dieser Aufführungsbedingungen sind Trolles Texte auch als Lesedramen oder Hörspiele konzipiert. Auch in der Wahrnehmungsform des Hörens spiegelt sich das Private: Da man nicht nur über das Ohr das gesprochene Wort aufnimmt, sondern über den ganzen Körper, ist es ein sehr sinnliches Ereignis, in dem Stimmungen, Schwingungen, und Klänge auch über die Haut erspürt werden. Das Hören ist nach Bourdieu eng an die Kunst der Musik als höchste Stufe der Vergeistigung gekoppelt: »Die Musik ist die ›reine‹ Kunst schlechthin – sie sagt nichts aus und sie hat nichts zu sagen.« 12 Diese Interessenlosigkeit der Musik bzw. des Hörens wird auch von Arendts Überlegungen zum Vorgang des Denkens bestätigt, da das Denken selbst an keinen Zweck gebunden ist und somit nicht an eine Botschaft gekoppelt werden kann. Auch geht das Denken mit einer ständigen Verunsicherung einher, da die Dinge ja während des Denkprozesses hinterfragt werden: »[…] und Denken kann auch lähmende Wirkung haben; ist man durch es hindurchgegangen, so fühlt man sich unsicher in Dingen, die über jeden Zweifel erhaben schienen, als man noch gedanken-los tätig war.«13 Trolles Konzeption des Grenzgangs geht 11 | Winkelgrund 2009, 245. 12 | Bourdieu 2014, 42. 13 | Arendt 1979, 175.

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von einem regulierten System aus, das als sinnlos angenommen wird und in dem die Strategie des Ausbrechens ausschlaggebend ist. In seinem Modell ist ein sich-aus-der-Welt-entfernen eingeflochten: Wie anhand Das Dreivierteljahr des David Rubinowicz gezeigt, werden durch die Auflösung der Grenzen zwischen realer und imaginierter Welt, Gefühle des Unheimlichen und des Phantastischen transportiert. Mit Strategien der Verfremdung und des Komischen schlägt Trolle immer wieder eine Brücke zwischen vergeistigter und materieller Welt. Im Erzählen und im gehenden Denken verändert sich die Zeit-RaumWahrnehmung: Aus der Perspektive des Flaneurs wird der Mensch in detaillierten Bewegungsstudien im sozialen Raum beobachtet. Mit der Betonung des Gehens stimmt Trolle mit de Certeau überein, der in der Studie Kunst des Handelns die Bedeutung der Alltagspraktiken für die Konstituierung des sozialen Raumes herausgestellt hat. Mit seiner Raumtheorie entwickelt de Certeau einen Gegendiskurs zu Foucaults Überwachen und Strafen und dessen Theorie des disziplinierten Raumes. Jörg Dünne führt aus: »Der strategischen Raumkontrolle ›von oben‹, die Certeau in der Eingangspassage seiner Ausführungen zu den Raumpraktiken mit dem Blick vom Dach des World Trade Centers gleichsetzt, stellt er die Raumpraxis ›von unten‹ entgegen, die er mit der Tätigkeit des Laufens durch die Stadt identifiziert.«14 In seinem Konzept werden Handlungsmöglichkeiten des Subjekts in einem disziplinierten Raum aufgezeigt: Wie bei Trolle ist auch bei de Certeau die Grenzüberschreitung positiv konnotiert, da sie den Moment beschreibt, wo der Mensch aus »Machtund Wissensordnungen«15 ausbricht und sich so aus dem disziplinierten Raum befreit. Insofern erlangt Trolles Modell dadurch politische Bedeutung, dass es Strategien an die Hand gibt, aus regulierten Systemen auszubrechen bzw. sich in der raumbildenden Handlung des Gehens zu üben.16 In seinem Theater greift er auf die »anthropologische Sprache des Raumes«17 zurück, um auf Erfahrungen der Entfremdung zu reagieren und sich im sozialen Raum zu behaupten. Mit Strategien der Enthierarchisierung konzipiert er Texte, die den Leser zum Mitdenken auffordern und ihm am bedeutungsstiftenden Prozess teilhaben lassen. Diese Art der Partizipation am Text ist wesentlicher Bestandteil seines ergebnisoffenen postdramatischen Theatermodells. Wie unter Rekurs auf Lehmann gezeigt, hat sich die Bedeutung des Sehens im Postdramatischen Theater durch die Vervielfältigung der Rahmungen verändert. Es ist von einem passiven zu einem aktiven Sehen geworden, dass die Denkfähigkeit des

14 | Dünne 2012, 299. 15 | Dünne 2012, 300. 16 | Siehe de Certeau 2012, 348. 17 | De Certeau 2012, 348.

4. Schlusswor t: Grenzgänge und Weltanschauung

Rezipienten beansprucht und auch als zentrale Strategie in zeitgenössischer Performance-Kunst eingesetzt wird.18 Die Arbeit schließt mit der Feststellung, dass mit beiden Grenzgängern des DDR-Theaters nicht nur ästhetische Modelle der Entgrenzung sondern auch Formen eines Außenseiter- Theaters aufgezeigt wurden. Beide werfen von der Peripherie aus – von den Rändern der sozialistischen Utopie – einen fremden Blick auf die kulturellen Systeme der DDR wie der BRD. Sie behandeln geschichtliche Ereignisse und Fluchtlinien, die dem nationalen Siegergedächtnis entgegenlaufen und Gegen-Gedächtnisse herausbilden. Beide verhandeln in ihren Stücken Momente der Krise und geben Strategien vor, mit diesen Situationen umzugehen. Die von de Certeau bestimmten raumbildenden Sprachen des Sehens und des Gehens verfeinern beide Autoren zu einer kulturellen Technik und entwickeln damit Strategien im Umgang mit Grenzsituationen. In dieser Strategie-Findung liegt das nach Turner kreative Potential dieser ästhetischen Modelle. Bezogen auf die Rezeptionsvorgänge kann Matusches Modell des Sehens als ein Theater der Kontemplation, Trolles Modell des Gehens als ein Theater des Denkens bestimmt werden.

18 | Die Theaterwissenschaftlerin Annika Wehrle zeigt in der Studie Passagen-Räume. Grenzverläufe alltäglicher und performativer Praxis im Theater der Gegenwart (2015) wie de Certeaus Alltagspraktik des Gehens in zeitgenössischer Performancekunst auch im Sinne eines politischen Theaters eingesetzt wird, um Lebensrealität zu spiegeln und bewusst zu machen. Siehe Wehrle 2015, 18.

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S iglen Theater der Zeit = TdZ Theater heute = Th

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Theater- und Tanzwissenschaft Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)

Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche 2017, 270 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1

Andreas Englhart

Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute 2017, 502 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2400-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2400-1

Sabine Karoß, Stephanie Schroedter (Hg.)

Klänge in Bewegung Spurensuchen in Choreografie und Performance. Jahrbuch TanzForschung 2017 2017, 234 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3991-9 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3991-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater- und Tanzwissenschaft Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.)

Re/produktionsmaschine Kunst Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten 2017, 408 S., kart., Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3684-0 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3684-4

Katharina Rost

Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance 2017, 412 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3250-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3250-1

Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)

Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de