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German Pages 384 [392] Year 2011
Alfred Andersch revisited
Alfred Andersch revisited Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte
Herausgegeben von
Jörg Döring und Markus Joch
De Gruyter
Faksimiles auf den Seiten 13-45: Alfred Andersch, Die Kirschen der Freiheit 쑔 1968 Diogenes Verlag AG, Zürich.
ISBN 978-3-11-026809-6 e-ISBN 978-3-11-026826-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Alfred Andersch revisited : werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte / edited by Jörg Döring, Markus Joch. p. cm. Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-026809-6 (alk. paper) 1. Andersch, Alfred, 1914-1980. 2. Authors, German - 20th century Biography. 3. Sebald, Winfried Georg, 1944-2001. I. Döring, Jörg, 1966- II. Joch, Markus. PT2601.N353Z55 2011 8381.91409-dc23 [B] 2011032918
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Einbandabbildung: Alfred Andersch (DLA Marbach) Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt JÖRG DÖRING / MARKUS JOCH
Einleitung.............................................................................................................. 1 JÖRG DÖRING
Zur Textgenese von Alfred Anderschs Kirschen der Freiheit Eine Autopsie ausgewählter Passagen des handschriftlichen Befundes ... 13 ROLF SEUBERT
„Mein lumpiges Vierteljahr Haft ...“ Alfred Anderschs KZ-Haft und die ersten Morde von Dachau Versuch einer historiografischen Rekonstruktion ........................................ 47 JOHANNES TUCHEL
Respondenz zum Beitrag von Rolf Seubert: „Mein lumpiges Vierteljahr Haft ...“............................................................. 147 FELIX RÖMER
Literarische Vergangenheitsbewältigung Alfred Andersch und seine Gesinnungsgenossen im amerikanischen Vernehmungslager Fort Hunt ..................................... 153 ALEXANDER RITTER
Zur Causa Andersch: Symptome einer verschwiegenen Adaption Alfred Anderschs Sansibar oder der letzte Grund und die intertextuellen Bezüge zum NS-Roman Mein Freund Sansibar von Kuni Tremel-Eggert. Mit einem kurzen Hinweis auf Bodo Uhses Roman Leutnant Bertram..... 189
MARKUS JOCH
Erzählen als Kompensieren Andersch revisited und ein Seitenblick auf die Sebald-Effekte................... 253 STEPHAN REINHARDT
Das Erproben von Alternativen, aber nicht „Transsubstantiation von Schuld bzw. Mitschuld in Schuldfreiheit“ Zu einem falschen Satz von W.G. Sebald.................................................... 297 RHYS W. WILLIAMS
Andersch und Sebald: die Dekonstruktion einer Dekonstruktion........... 317 TORSTEN HOFFMANN
In weiter Ferne, so nah. W.G. Sebalds Stilkritik an Alfred Andersch ..... 331 HANS-JOACHIM HAHN
Andersch, Klüger, Sebald: Moral und Literaturgeschichte nach dem Holocaust – Moral im Diskurs ............................................................................................. 357 Autoren ............................................................................................................. 381
JÖRG DÖRING / MARKUS JOCH
Einleitung 1993 veröffentlichte der Germanist und Schriftsteller W.G. Sebald in der Kulturzeitschrift Lettre International unter dem Titel „Between the devil and the deep blue sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden in der Vorsehung“1 eine scharfe Invektive gegen Alfred Andersch. Sie galt dem Autor als biografisch-moralischer Person und zugleich dessen gesamtem schriftstellerischen Werk. Diskursgeschichtlich gehört die Veröffentlichung Sebalds in den Umkreis der Feuilleton-Debatte um Christa Wolf, in der wenige Jahre nach der Vereinigung in der publizistischen Öffentlichkeit vehement über die Rolle und die Verantwortung des Schriftstellers in Diktaturen gestritten wurde. In seiner Polemik stellt Sebald zwei biografische Details aus Anderschs Leben während des ‚Dritten Reiches‘ heraus, die erst durch die große Andersch-Biografie von Stephan Reinhardt von 1990 bekannt geworden waren.2 Beide Details betreffen zunächst Andersch als Privatperson, stehen aber – und deshalb werden sie von Sebald skandalisiert – im Zusammenhang mit dem Beginn seiner Karriere als Autor: 1) Andersch hatte noch im Frühjahr 1943 auf die Scheidung von seiner (in der Terminologie der Nürnberger Rasse-Gesetze) ‚halbjüdischen‘ Ehefrau Angelika gedrängt, obwohl seine Schwiegermutter Ida Hamburger bereits seit über einem Jahr in das Ghetto Theresienstadt deportiert worden war. Die Scheidung wurde am 6. März 1943 vom Landgericht in Frankfurt / M. vollzogen. In seinem Antrag zur Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer (RSK) vom 16. Februar 1943 wenige Wochen vorher hatte Andersch unter „Familienstand“ bereits im Vorgriff eingetragen: „Geschieden“.3 Offenbar war Andersch der Status des „jüdisch versippten“ Ehemanns der Schrifttumsbürokratie des ‚Dritten Reiches‘ gegenüber so unbehaglich, dass er sich schon vorzeitig als geschieden bezeichnete. Ein kleiner Aktenschwindel also.
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Sebald, W.G.: „Between the devil and the deep blue sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden in der Vorsehung“. In: Lettre International 20 (1993), S. 80–84. Reinhardt, Stephan: Alfred Andersch. Eine Biographie. München 1990. Vgl. Abb. 3 im Anhang zum Beitrag von Ritter.
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2) Als Andersch dann 1944 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft die Lagerbehörden davon überzeugen wollte, ihm seine beschlagnahmten Manuskripte und Notate wieder auszuhändigen, stellt er die Geschichte seiner Ehe auffallend anders dar. Sebald zitiert aus einem Brief Anderschs an die Verwaltung des Kriegsgefangenenlagers von Ruston/Louisiana: Prevented from free writing, up to now, my wife being a mongrel of jwish [Fehlschreibung im Original; J.D] descent, and by my own detention in a German concentration-camp for some time, these papers and diaries contain the greatest part of my thought and plans collected in the long years of oppression [sic].4
Sebald spricht hier unmissverständlich von „penetrante(r) Selbstgerechtigkeit“ und von einem „schäbigen Winkelzug“ Anderschs, die in seinem Aufnahmeantrag bei der Reichsschrifttumskammer verleugnete Ehefrau im Kriegsgefangenenlager wieder für sich zu reklamieren als „my wife“. Bei diesem moralischen Vorwurf aber lässt Sebald es nicht bewenden. Er sieht durch diesen Umstand das ganze literarische Werk Anderschs auch ästhetisch beschädigt. Nicht nur, weil beide Verfehlungen mit umgekehrten Vorzeichen auf die gleiche Ambition bezogen werden müssten – Andersch will ein Autor sein, egal mit welchen Mitteln und unter welchen Bedingungen –, auch weil das Werk selbst, das daraus folgte, sich zu diesen autobiografischen Realien selektiv bis beschönigend verhalte. Sebald gestattet sich, bei der Bewertung von Anderschs Kirschen der Freiheit (1952) und Sansibar oder der letzte Grund (1957) Leben und Werk des Autors aufs Engste aufeinander zu beziehen. In Kirschen der Freiheit, dem erklärtermaßen autobiografischen und ostentativ bekennerischen „Bildungsroman“5, der Anderschs Lebensgeschichte bis zum Moment der Desertion 1944 erzählt, fehle seine Ehe- und Scheidungsgeschichte im ‚Dritten Reich‘. Deshalb sei die Selbstbeschreibung der Vorgeschichte, die in den heroischen Akt der Fahnenflucht mündet, mindestens „vorsichtig retuschiert“ bis offen apologetisch. Sansibar wiederum, der erste regelrechte Roman nach dem autobiografischen Bericht, erweise sich bei genauerem Zusehen [...] als ein Stück umgeschriebene Lebensgeschichte, und zwar als jenes, das in Kirschen der Freiheit ausgespart bleibt. Das zentrale Paar (Gregor und Judith) in der Figurenkonstellation des Textes entspricht zweifellos dem realen Paar Alfred Andersch und Angelika Albert. Die Differenz besteht nun darin, daß Andersch aus Gregor den geheimen Helden macht, der er selber nie gewesen ist, und daß Judith nicht verlassen, sondern von Gregor gerettet und ins Exil gebracht wird, auch wenn sie – ‚ein verwöhntes Mädchen aus reichem jüdischem Haus‘ – das so ganz nicht verdient. Kaum etwas läßt sich schwerer leugnen als Ressentiment.6
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Sebald: „Between the devil“, S. 82. Ebd. Ebd.
Einleitung
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Zur Brisanz dieser Vorhaltungen trug unterdessen bei, dass mit Sebald ein anerkannter Schriftsteller sprach. Seine Attacke auf den Erzähler Andersch als Neid eines weniger erfolgreichen Autors abzutun, war schwerlich möglich, seit die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Herbst 1992 Die Ausgewanderten, einen Band mit vier längeren Erzählungen, zum Meisterwerk erklärt hatte.7 Überdies dehnte Sebald seine Vorwürfe auf die gesamte Germanistik aus, die – obwohl die Quellen teils lange bekannt waren – um die Frage der Diskrepanz zwischen der Lebensgeschichte Anderschs im ‚Dritten Reich‘ und ihrer Verwandlung in literarischen Rohstoff „den für ihre Branche charakteristischen Eiertanz aufgeführt“ habe: Ein halbes Dutzend Monographien zumindest liegen zu Andersch inzwischen vor, ohne daß ausgemacht wäre, was für eine Art Schriftstellerei er in Wahrheit betrieben hat. Insbesondere hat niemand (auch nicht die Kritiker, die ihn ins Gericht nahmen) versucht, nachzudenken über die doch recht augenfällige Kompromittiertheit Anderschs und über die Auswirkungen solcher Kompromittiertheit auf die Literatur.8
Wie antwortete die Germanistik auf die Provokation? Betrachtet man die initiale Reaktion, so fällt auf, wie einmütig sie zunächst ausfiel: Es gab nur ganz vereinzelte Zustimmung, gepaart mit Selbstkritik an eigenen disziplinären Versäumnissen9 oder dem Befund, die treuesten Verehrer Anderschs verteidigten stets auch ihre hagiografischen Lektüren der achtziger Jahre, mithin ihr symbolisches Kapital im literaturwissenschaftlichen Feld.10 Die allermeisten germanistischen Respondenten jedoch wiesen Sebalds Kritik entschieden zurück, und das ganz überwiegend aus methodischen Gründen. Man bezichtigte ihn des Biografismus11, eines schwer erklärlichen, nachgerade exekutorischen Affekts12, vor allem aber einer unzulässigen Verquickung von Leben und Werk13, einer Schlüsseltextlektüre unter bloß moralischen Vorzeichen.14
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Detering, Heinrich: „Große Literatur für kleine Zeiten. Ein Meisterwerk: W.G. Sebalds Die Ausgewanderten“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. November 1992, Beilage, S. 2. Sebald: „Between the devil“, S. 83. Weigel, Sigrid: „Das Gedächtnis der deutschen Nachkriegsliteratur. Nationale Symbolik im Roman Die Rote von Alfred Andersch“. In: Neue Zürcher Zeitung vom 16./17. Oktober 1993. Joch, Markus: „Streitkultur Germanistik. Die Andersch-Sebald-Debatte als Beispiel“. In: Germanistik in/und/für Europa. Faszination – Wissen. Hg. v. Konrad Ehlich. Bielefeld 2006, S. 263–275. Baier, Lothar: „Literaturpfaffen. Tote Dichter vor dem moralischen Exekutionskommando“. In: Freibeuter 57 (1993), S. 42–70. Reinhardt, Stephan: „Zu Alfred Andersch. Erwiderung auf W.G. Sebald“. In: Lettre International 20 (1993), S. 90; Schütz, Erhard: „Fluchtbewegung, militant. Zu Alfred Anderschs Krieg“. In: Von Böll bis Buchheim: Deutsche Kriegsprosa nach 1945. Hg. v. Hans Wagener. Amsterdam, Atlanta, GA 1997, S. 183–198. Höller, Hans: „Der ,Widerstand der Ästhetik‘ und Die Fabel von der Rettung der Kunstwerke“. In: Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Hg. v. Irene Heidelberger-Leonard u. Volker Wehdeking. Opladen 1994, S. 142–151.
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Auch wenn man die Triftigkeit des moralischen Vorwurfs an die Person Andersch zunächst nicht in Frage stellte, wollte man daraus für das interpretatorische Kerngeschäft am Andersch-Text keinerlei Konsequenzen ableiten: Nicht die Biografie sei relevant, sondern allein die „ästhetischethischen Schichtungen des Werkes“ zu untersuchen, sei der AnderschPhilologie aufgegeben.15 Doch auch dieser Impuls, der methodisch anfechtbaren Provokation Sebalds mit weiterführenden Werkanalysen zu begegnen, ist lange Zeit auf wenig Resonanz gestoßen. Weder die textanalytische noch die werkbiografische Andersch-Forschung sah sich durch die Sebald-Invektive in besonderem Maße herausgefordert. Auch hatte die Kontroverse keinerlei Delegitimierung des Autors in seiner Bedeutung für den literarischen Kanon zur Folge. Im Gegenteil: Im Kommentar zur großen neuen Werkausgabe16 wurde nun auch die moralische Kritik Sebalds an Andersch strikt zurückgewiesen.17 Damit schien die Debatte an ihr Ende gekommen. Dass sie jüngst wieder aufgenommen wurde, lag im Wesentlichen an zwei Veröffentlichungen aus dem Jahr 2008: Zum einen an Jörg Dörings und Rolf Seuberts Aktenfund in der Deutschen Dienststelle18 zur Militärgeschichte von Andersch, der Sebalds Vorwürfe in gewisser Weise reaktualisierte. Nicht erst in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, sondern schon während seiner Wehrmachtszeit hatte sich Andersch auf den jüdischen Hintergrund seiner ersten Frau berufen – diesmal um 1941 zeitweilig aus der Wehrmacht entlassen zu werden. Das war insofern überraschend, als er in seiner autobiografischen Selbstmitteilung vielmehr seine Vergangenheit als KZ-Häftling für die vorübergehende Entlassung aus der Wehrmacht geltend gemacht hatte. Annähernd zeitgleich erschien dann der opulente Materialienband Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine
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Heidelberger-Leonard, Irene: „Erschriebener Widerstand? Fragen an Alfred Anderschs Werk und Leben“. In: Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Hg. v. ders. u. Volker Wehdeking., Opladen 1994, S. 51–61; Wehdeking, Volker: „Leben und Werk aus Sicht der neunziger Jahre“. In: Heidelberger-Leonard u. ders. (Hg.): Alfred Andersch, S. 13–31; Battafarano, Italo Michele: „Zwischen Kitsch und Selbstsucht – und auch noch Spuren von Antisemitismus? Marginalia zu Alfred Andersch: eine Forschungskontroverse Sebald, Heidelberger-Leonard und Weigel betreffend“. In: Morgen-Glantz 4 (1994), S. 241–257. Heidelberger-Leonard: „Erschriebener Widerstand“, S. 59. Andersch, Alfred: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe. Hg. v. Dieter Lamping. Zürich 2004 (künftig abgekürzt: GW Bandnummer/Seitenzahl). Lamping, Dieter: „Alfred Andersch“. In: GW I/441–461. Döring, Jörg u. Rolf Seubert: „‚Entlassen aus der Wehrmacht: 12.03.1941. Grund: ‚Jüdischer Mischling – laut Verfügung‘. Ein unbekanntes Dokument im Kontext der Andersch-Sebald-Debatte“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 51 (2008), S. 171–184.
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Welt in Texten, Bildern, Dokumenten19, herausgegeben von der AnderschTochter Anette Korolnik-Andersch gemeinsam mit ihrem Mann Marcel Korolnik. Das Kernstück dieses Bandes im Kontext der Sebald-Debatte war eine Expertise des Historikers Johannes Tuchel, der damit beauftragt war, die bislang bekannt gewordenen Fakten zu Anderschs Biografie während der Zeit des Nationalsozialismus neu zu bewerten20 – quasi aus der Außenperspektive des neutralen, objektiven Beobachters, jenseits des germanistischen Schlachtengetümmels. Tuchel behandelt die biografischen Komplexe KZ-Haft, Scheidung und auch das neue Dokument zur Entlassung aus der Wehrmacht. Er kommt im Detail zu anderen Schlüssen als Sebald, vor allem was die moralische Bewertung der Scheidung 1943 angeht. Weil zu dieser Zeit niemand wissen konnte, ob und was den „jüdischen Mischlingen“, wie Menschen wie Angelika Andersch von der antisemitischen Bürokratie des ‚Dritten Reiches‘ genannt wurden, geschehen würde, könne man, so Tuchel, Andersch keinen maßgeblichen Vorwurf machen. Er habe es lediglich versäumt, durch den Fortbestand der Ehe ein Zeichen der Solidarität mit den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus zu setzen. Als Fingerzeig für die Andersch-Forschung ist dieser von der Andersch-Tochter initiierte Text in doppelter Hinsicht zu verstehen: Zum einen natürlich als Misstrauensbekundung gegenüber der Germanistik, der man nicht genug quellenkritische Kompetenz zutraute, die historiografischen Fakten angemessen zu deuten; zum anderen und in erster Linie als aufrichtiges Bemühen der Familie, alle strittigen Fragen wirklich vorurteilsfrei auf den Tisch zu legen und die Sebald-Debatte damit biografisch neu zu fundieren. In jedem Fall setzt dieser Text für die biografische Andersch-Forschung ganz neue Maßstäbe, er stellt jetzt den wesentlichen Forschungsstand dar. Anlässlich der Veröffentlichungen von Döring/Seubert und von Tuchel entwickelte sich abermals eine lebhafte Kontroverse, die ganz überwiegend in der publizistischen Öffentlichkeit ausgetragen wurde.21 Obwohl auch diese neuerliche Debatte die moralischen Implikationen von Anderschs Verhalten in den Vordergrund rückte, entbarg sie doch eine überaus instruktive werkbiografische Fragestellung: Könnte es sein, dass gerade solche Autoren wie Andersch, die sich selber als non-konformis-
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Korolnik, Marcel u. Annette Korolnik-Andersch (Hg.): Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt in Texten, Bildern, Dokumenten. München 2008. Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Sansibar ist überall, S. 30–41. Hanuschek, Sven: „In der Andersch-Falle“. In: Frankfurter Rundschau vom 20. August 2008; ders.: „‚Nicht alles in den Schüttelbecher tun und braune Soße drüber‘. Hier spricht die Tochter: Anette Korolnik-Andersch und ihr Mann Marcel Korolnik forschen über Andersch im Nationalsozialismus – ein Interview“. In: Frankfurter Rundschau vom 27./28. September 2008; Vollmann, Rolf: „Lesen Sie Andersch“. In: Die Zeit vom 19. November 2008; Böttiger, Helmut: „Die blassbeigen Jahre“. In: Süddeutsche Zeitung vom 8. Januar 2009.
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tisch bezeichneten, zu „Konformisten eines biografischen Moralismus“22 geworden sind, der es ihnen erschwerte, ihre oft nur minimalen Zugeständnisse an das NS-Regime nachträglich einzubekennen? Ihre Diskursposition als engagierte Autoren in der Gruppe 47 mochte Autoren wie Andersch – aber auch solche wie Eich oder Grass – dazu verleitet haben, sich im Sinne der political correctness in Grenzen selbst zu stilisieren – literarisch wie auch in der autobiografischen Selbstmitteilung. Diese Frage ist dann von besonderem Interesse, wenn – wie bei Andersch – die eigene Lebensgeschichte während des ‚Dritten Reiches‘ zum ästhetischen Stoff seines literarischen Durchbruchs avancierte (vgl. Kirschen der Freiheit). Und damit kommen wir zum Konzept unseres Bandes: Es ist an der Zeit, die von Sebald ausgelöste Debatte nicht länger nur moralisch zu führen, sondern endlich auch wieder philologisch. Als fruchtbar wird sie sich nur dann erweisen, wenn sie ein klares werkbiografisches Forschungsprogramm zur Folge hat. Es gilt zu überprüfen, inwieweit Anderschs Werk tatsächlich wunschbiografische Züge trägt und insofern in seinen „ästhetisch-ethischen Schichtungen“23 selber Elemente einer teils Selbststilisierung, teils Selbstaufklärung des Autorsubjekts beschlossen liegen könnten. Nur dann ist dem Ausgangsvorwurf Sebalds nach der Kompromittiertheit des Werkes wirklich zu begegnen, wenn die Andersch-Philologie – erstmals wieder nach der großen Reinhardt-Biografie24 – nachzuprüfen sich anschickt, wie im Detail lebensgeschichtlicher Stoff und literarische Konstruktion bei Andersch sich tatsächlich zueinander verhalten. Um diese Beziehung zu erhellen, führt Alfred Andersch revisited die neuesten Erkenntnisse von Literatur- und Geschichtswissenschaftlern zusammen. Den Anfang macht ein textphilologischer Beitrag von Jörg Döring zur Handschrift der Kirschen aus dem Marbacher Nachlass, die privilegierte Einblicke in den Schreibprozess Anderschs gestattet. Dank der Recherche im Archiv (die Sebald scheute) erfahren wir erstmals, an welchen Stellen Andersch seine autobiografische Selbstdarstellung besonders genau kontrollierte, was er überarbeitete, wo die Schreibhand stockte. Zu den größten Überraschungen gehört, dass er ursprünglich erwog, den Berichtszeitraum weit über die Desertion hinaus, bis ins Jahr 1948 reichen zu lassen, vor allem aber, dass die von Sebald so vehement kritisierte Auslassung der Ehe mit Angelika Albert und der Umstand der Scheidung nicht von Anfang an intendiert war. Zunächst dachte Andersch ernsthaft darü-
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Wittstock, Uwe: „Alfred Andersch im Dritten Reich“. In: Die Welt vom 19. September 2008. Heidelberger-Leonard: „Erschriebener Widerstand“, S. 59. Reinhardt: Andersch.
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ber nach, auch diese autobiografischen Realien in den Text einfließen zu lassen. Den einen wie den anderen Komplex zugunsten einer stärkeren Konzentration auf die Deserteursthematik zu tilgen, war ein erst während der Verfertigung gefasster, der narrativen Stringenz geschuldeter Entschluss. Die Passagen der Kirschen zur Haft im KZ Dachau nannte Sebald „eigenartig leer und kursorisch“. Wie Döring nun hervorhebt, strich Andersch aus der Entwurfshandschrift ausgerechnet zwei Sätze, die geeignet gewesen wären, diese Oberflächlichkeit zu entschuldigen, machten sie dafür doch eine ,Überlebensscham‘ geltend („Ich will nicht beschreiben, was dann kam. Andere haben das besser und ausführlicher getan, als ich es je könnte, und sie sind legitimierter dazu...“). Für die substanzarme Darstellung von Dachau, die mit der elaborierten Desertionsschilderung auffällig kontrastiert, gibt es freilich noch eine andere Erklärung. Unter Inanspruchnahme neuer Quellen, die nicht von Andersch selbst oder aus dessen Familiengedächtnis bereitgestellt wurden, äußert der Historiker Rolf Seubert begründete Zweifel, ob Andersch jemals im KZ gewesen ist. Bestätigt wird die Anwesenheit im Lager durch einen einzigen Zeugen, und dies aus dem Abstand von 50 Jahren. Es stimmt nachdenklich, wenn sich zu Andersch bis heute weder ein Schutzhaftbefehl noch ein Eintrag im Landsberger Haftbuch finden lässt, der Internationale Suchdienst in Arolsen 1949 die KZ-Haft nicht zertifizieren kann, Andersch von der Brutalität des (bei anderen Gefangenen besonders gefürchteten) SS-Manns Steinbrenner nichts zu berichten weiß, die Entlassung im April 1933 später als eine Gestapo-Entscheidung hinstellt, obwohl doch eine Anweisung der Politischen Polizei erforderlich war – um nur einige Ungereimtheiten zu nennen. Unabhängig davon, wie man die Wahrscheinlichkeit einer KZ-Haft einschätzt (entscheiden Sie selbst), belegen die von Seubert zu Tage geförderten Dokumente eines zweifelsfrei: Die Selbst- und Fremddarstellung in den Kirschen fiel noch fragwürdiger aus, als Sebald ahnte. Zum Organisationsleiter des Kommunistischen Jugendverbands Südbayern etwa hat es Andersch offenkundig nie gebracht. Schwerer indes wiegt, dass er in einem Häftlingstransport nach Dachau, der realiter fast ausschließlich aus einfachen Arbeitern und Handwerkern bestand, darunter nur wenige Juden, fälschlicherweise „Bourgeoisie“ und „Juden in guten Anzügen“ ausmachte. Da erlag der Berichterstatter, wenn er denn überhaupt mit eigenen Augen sah, einer gelinde gesagt stereotypen Wahrnehmung. Im Übrigen holt Seubert nach, was Andersch versäumte, er gibt den ersten Toten von Dachau die Identität zurück, und das in gebührender Ausführlichkeit: Arthur Kahn, Rudolf Benario, Ernst Goldmann und Erwin Kahn waren die ersten KZOpfer in Nazi-Deutschland überhaupt.
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Besonders freut es die Herausgeber, dass Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin und die Koryphäe für Andersch im NS wie für die frühe KZ-Geschichte, bereit war, eine kurze Respondenz zu Seuberts Beitrag beizusteuern. Tuchel sieht durch Seuberts Detail- und Quellenforschungen seinen eigenen Befund weitestgehend bestätigt: Andersch habe sich nach 1945 gleichsam neu erfunden – wie viele seiner Zeitgenossen unter postdiktatorischen Bedingungen in beiden Nachkriegs-Deutschlands auch. Tuchel betont hier die mentalitätsgeschichtliche Bedeutung des Befundes – weit über den Einzelfall eines Schriftstellers hinaus. Aber auch Tuchel will die Entscheidung über die Bewertung der erzählerischen Inkonsistenzen der KZ-Passage in den Kirschen der Freiheit dem Leser allein überlassen: Hat hier ein Distanzierter, ein Traumatisierter geschrieben oder einer, der die geschilderten Umstände gar nicht miterlebt hat? In einem Punkt widerspricht Tuchel Seubert scharf: Er hält es nach wie vor für gerechtfertigt und geboten, dass Andersch in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand geehrt wird: und zwar als Deserteur, nicht als KZ-Opfer. Ebenfalls eine unbekannte Quelle zu Anderschs Weg durch Diktatur und Weltkrieg hat der Historiker Felix Römer erschlossen, nämlich die kürzlich entdeckte Gefangenenakte aus Fort Hunt, dem US-amerikanischen Verhörlager. Sie liefert eine Vielzahl interessanter Informationen, von denen wir hier nur drei vorwegnehmen wollen: Als unhaltbar erweist sich nunmehr die Position, Andersch sei über den Grund seiner vorübergehenden Entlassung aus der Wehrmacht nicht informiert gewesen, habe sie daher auch nicht selbst betreiben können. Er kannte den Entlassungsgrund sehr genau, diktierte ihn den amerikanischen Verhöroffizieren in die Feder. Ferner geht aus den Abhörprotokollen hervor, dass Andersch spätestens seit Herbst 1944 befürchtete, die ‚Halbjuden‘ könnten dem nationalsozialistischen Genozid zum Opfer fallen. Ein Faktum, das jene germanistischen Lesarten stützt, die im späteren literarischen Werk einen Schuldkomplex ausgeprägt sehen, den Umgang mit der ersten Frau betreffend. Darüber hinaus kann man verblüfft zur Kenntnis nehmen, wie eigenwillig Andersch mit der Vorlage eines seiner berühmtesten Werke umging. In Der Vater eines Mörders (1980; GW V/227–302) figuriert Gebhard Himmler bekanntlich als ein tyrannischer Schulmeister, der dem Schüler Franz Kien, Anderschs erklärtem Alter Ego, den Unterricht zur Hölle macht. Weniger dämonisch erschien er noch dem amerikanischen Kriegsgefangenen von 1944 – der erinnerte sich an einen „ganz netten alten Herrn mit Spitzbart“. Das spätere Wegretuschieren der liebenswürdigen Züge ändert am ästhetischen Rang von Anderschs letzter großer Erzählung wenig, wirft aber ein denkwürdig ironisches Licht auf den
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Selbstkommentar von 1980: „Gerade das Erzählen in der dritten Person erlaubt es dem Schriftsteller, so ehrlich zu sein wie nur möglich.“ (GW V/295). Eine neue Sicht auf ein anderes der kanonisierten Werke, Sansibar oder der letzte Grund (1957), eröffnet der Germanist Alexander Ritter. Er weiß starke Anhaltspunkte für die verschwiegene Adaption eines NS-Bestsellers zu nennen, von Kuni Tremel-Eggerts antisemitischem Roman Freund Sansibar (1938). Es geht hier nicht etwa um ein Plagiat, die Pointe ist eher gegenteilig gelagert: Andersch verstand seinen Text als dialektischen Gegenentwurf zum Blut-und-Boden-Schund, kehrte die Personenkonstellation der Vorlage in antifaschistischer Perspektive um, konnte diese Funktion seines Romans aber „[nicht] im Sinn einer reflektierten Reminiszenz öffentlichkeitswirksam werden“ lassen – eben die verdeckte Aneignung stand dem ideologiekritischen Verlangen im Wege. Mit aller gebotenen Vorsicht geht Ritter noch von einem weiteren kaschierten Einfluss auf Sansibar aus, von der Lektüre eines Werks des Exilanten Bodo Uhse, Leutnant Bertram (1943). In der Tat, die Ähnlichkeiten in der Schauplatzwahl, der Motivik und der Figurennamen können kaum Zufall sein; ebenso einleuchtend Ritters Erklärung für das Verschweigen der intertextuellen Bezüge. Es bestand eine gewisse Befangenheit gegenüber dem SpanienKämpfer Uhse, der im Unterschied zu Andersch eine konsequente Oppositionshaltung zur NS-Diktatur eingenommen hatte. Im zweiten Block diskutieren Literaturwissenschaftler Plausibilität und Motivation von Sebalds Angriff. Folgt man Markus Joch, so steht der Biografismus-Vorwurf, den man gegen den Störenfried aus Norwich rituell erhebt, aus zwei Gründen auf tönernen Füßen: Andersch selbst setzte wie kein anderer Nachkriegsautor seine Biografie zur Durchsetzung im literarischen Feld ein, und er hat eine kritische Relektüre seiner Schriften durch einen forcierten Realismusanspruch provoziert, dadurch erst für eine beträchtliche Fallhöhe gesorgt. Als problematisch stuft dieser Beitrag subtile Selbstheroisierungen in den Kirschen und in Sansibar ein, andererseits habe Andersch mit Efraim (1967) zu einer Ästhetik der Scham gefunden, Sebald eine allmähliche moralische Aufwärtsentwicklung ignoriert. Joch betont eine Zäsur in Anderschs Erzählwerk, unterscheidet zwischen fragwürdigen Kompensationen von Lebensgeschichte in den fünfziger, honorigen in den sechziger Jahren. Zugleich erinnert er an die sozialen Zwänge im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit, die Anderschs Beschönigungen miterklärten, wenn auch einen „Überhang an Selbstgefälligkeit und Wunschdenken“ nicht legitimierten.
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Am entschiedensten verteidigt wird Andersch von seinem Biografen. Stephan Reinhardt lobt ein couragiertes Engagement des Ex-Kommunisten gegen die Berufsverbote der siebziger Jahre, erklärt den berüchtigten KZVergleich, der Andersch (schon) seinerzeit etliche Rügen einbrachte, zu einer gerechtfertigten Übertreibung, denn nur so habe der Protest gegen die Gesinnungsschnüffelei im Öffentlichen Dienst Gehör finden können. Besonders hoch anzurechnen sei Andersch, vorübergehende Ambivalenzen zum ‚Dritten Reich‘ selbst einbekannt zu haben. Irrtümer des Autors – etwa den, die Größen der Gruppe 47 hätten erst nach 1945 publiziert –, räumt Reinhardt ein, macht aber ein Recht auf Irrtum geltend. Völlig abwegig findet Reinhardt Sebalds These einer „Transsubstantation von Schuld bzw. Mitschuld in Schuldfreiheit“, vielmehr sei es Anderschs Erzählungen um eine Korrektur von Geschichte zu tun gewesen. Und der Anwalt dreht den ,biografistischen‘ Spieß um, schreibt die Unnachsichtigkeit Sebalds einer konfliktbehafteten Familiengeschichte zu: „Hat Sebald vielleicht [...] die Kollaboration seines Vaters in der Nazivergangenheit auf Andersch projiziert?“ Eine Frage ganz im Sinn auch von Rhys W. Williams. Dem Doyen der Andersch-Forschung zufolge hat sich Sebald einige Selbstgerechtigkeiten geleistet. Wie passte es zusammen, Andersch der Unbescheidenheit zu zeihen, sich selbst aber als kühner Kritiker einer ganzen Generation deutscher Nachkriegsschriftsteller aufzuspielen, als einen der wenigen, die der brutalen Wirklichkeit des Bombenkriegs furchtlos ins Auge sahen (Luftkrieg und Literatur), und obendrein als eine besondere Autorität in jüdischen Angelegenheiten? Sebald, moniert Williams weiter, hielt Anderschs Darstellung jüdischer Figuren mangelnde Authentizität vor, fand aber nichts dabei, in seinen eigenen Erzählungen das Leben von Emigranten für literarische Zwecke auszubeuten. An Efraim habe der große Unerbittliche vor allem deshalb kein gutes Haar gelassen, weil Andersch mit diesem Roman ein Thema besetzte, das Sebalds Hauptanliegen werden sollte: das jüdische Exil in England. Dem Kritiker sei es nicht zum wenigsten darum gegangen, einen Konkurrenten auszuschalten. Sujetnähen registriert auch Torsten Hoffmann, er aber bewertet sie als höchst produktiv. In Andersch, so die These von In weiter Ferne, so nah, sah Sebald einen negativen Lehrmeister: Am Erzählen des Vorgängers lernt und vergewissert sich der Jüngere, welche Irrwege er unbedingt vermeiden will, Überfrachtungen zum Beispiel. Auf Liebesszenen, die er bei Andersch als unangenehm lasziv empfand, verzichtete Sebald ganz, im Fall des Holocaust wiederum wählte er eine grundverschiedene Darstellungstechnik. Wo Andersch auf Übersicht und umfassende Einsicht einer Nullfokalisierung
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setzte, auf den allwissenden Erzähler, berichtete Sebald stets vermittelt über zwischengeschaltete Erzählerfiguren. Mit dem, was Sebald als ein „periskopisches“ Verfahren „um ein, zwei Ecken herum“ bezeichnete, insistierte er laut Hoffmann „auf der Distanz, die zwischen dem Erzähler (und den Lesern) auf der einen Seite und den Biografien der meist jüdischen Opfer auf der anderen Seite besteht“. Unversöhnlich klangen Sebalds ästhetische Urteile zuvorderst, weil er nicht etwa die stilistischen Intentionen Anderschs verwarf – auf die gültige Gestaltung literarischer Epiphanien waren beide aus! –, sondern weil er die Umsetzung missraten fand. Hans-Joachim Hahn schließlich sieht durch den Fall Andersch bestätigt, dass „das Feld so genannter deutscher Vergangenheitsbewältigung offenkundig in besonderer Weise unterschiedliche moralische Empfindungen und ihre diskursive Äußerung zu mobilisieren vermag“. Beobachten lässt sich zum einen, wie Sebald, der auf moralische Defizite hinauswollte, seinerseits als moralischer Rigorist attackiert wurde. Zum anderen divergieren moralischen Qualifizierungen besonders dann, wenn ein nicht-jüdischer deutscher Autor aus der Sicht eines Juden erzählt. Kein Zufall, dass unter Anderschs Romanen Efraim der mittlerweile meistdiskutierte ist, versierte Interpret(inn)en wie Sebald, Ruth Klüger, Irene Heidelberger-Leonard und Klaus Briegleb zu ganz unterschiedlichen Bewertungen kommen. Hahn belässt es nicht bei einer Meta-Beobachtung; seine eigene, detailgenaue Analyse kommt zu dem differenzierten Schluss, die vergleichsweise gewissenhafte Auseinandersetzung mit dem Holocaust verbinde sich in Efraim mit Überbleibseln einer stereotypen Wahrnehmung von Juden, die wiederum nicht einfach mit Antisemitismus gleichzusetzen sei. Die geneigten Leser haben es schon bemerkt: Alfred Anderschs Selbst- und Fremddarstellungen bleiben ein kompliziertes, ein spannendes, sicher auch ein konflikthaltiges Thema. Auf der Tagung im Literaturhaus Frankfurt / M. am 19. November 2010, aus der das Gros der hier versammelten Aufsätze hervorgegangen ist, herrschte jedoch bei allen Meinungsverschiedenheiten eine angenehm sachliche Atmosphäre. Die Herausgeber hoffen und glauben, dass sie in der Andersch-Philologie wieder zum Normalfall wird. Wir danken der Fritz-Thyssen-Stiftung für die Förderung der Tagung, aus der dieser Band hervorgeht. Unser sehr herzlicher Dank gilt Kerstin Willburth, Sebastian Abresch und Johannes Paßmann für Lektorat, Korrekturen und Satz dieses Buches, das ohne ihre Hilfe längst noch nicht vorliegen würde. Siegen und Frankfurt / M. im Juli 2011
JÖRG DÖRING
Zur Textgenese von Alfred Anderschs Kirschen der Freiheit Eine Autopsie ausgewählter Passagen des handschriftlichen Befundes Andersch hat zeit seines Lebens großen Wert darauf gelegt, dass man die Kirschen der Freiheit – den Text, mit dem er berühmt wurde – als einen autobiografischen Text versteht. Noch in einem seiner letzten Interviews im Januar 1980 bezeichnet er die Kirschen als eine Art Bekenntnis, eine Konfession [...], das typische Erstlingswerk eines Schriftstellers, der etwas ausspucken muß [...]. Da ist ein autobiographischer Punkt, ich ärgere mich immer, wenn selbst gestandene Germanisten das heute noch unter meine Romane zählen, es ist kein Roman, das ist ein Bericht.1
Der Affekt, der sich hier äußert, ist durchaus bemerkenswert. Denn weitaus häufiger ist das Gegenteil zu konstatieren: dass ein Autor sich gegen Germanisten verwahrt, die seine Literatur – vermeintlich reduktiv – auf autobiografische Erfahrungstatsachen zurückführen wollen. Dahinter steckt zumeist die Autorenangst, die eigene Fiktionalisierungsleistung nicht gewürdigt zu wissen. Bei Andersch in Bezug auf die Kirschen der Freiheit verhält es sich offenbar genau umgekehrt: Hier verwahrt sich ein Autor gegen eine Lesart, die ihm solche Fiktionalisierungsleistungen gerade zubilligt. Über die Gründe dieser Insistenz auf dem autobiografischen Gehalt des Textes kann man nur spekulieren: Vermutlich hat es in erster Linie mit der moralischen Dignität der Erfahrungen zu tun, von denen die Kirschen der Freiheit handeln. Es handelt sich dabei bekanntlich zu Teilen um eine Opfergeschichte aus der Zeit des ‚Dritten Reiches‘, und geschildert wird ein existenzphilosophisch begründeter Schritt des radikalen Nonkonformismus, die Entscheidung zur Desertion aus Hitlers Wehrmacht. Und Andersch hat die Kirschen der Freiheit auch bis zuletzt als die gültige und exklusive Form seiner autobiografischen Selbstmitteilung angesehen. Selbst im privaten Kreis wollte er nicht mehr oder anderes über seine Zeit im KZ, die Phase seiner „Introversion“ im ‚Dritten Reich‘,
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„Alfred Andersch im Gespräch mit Jürg Acklin, Berzona, 19./20. Januar 1980“. In: Über Die Kirschen der Freiheit von Alfred Andersch. Hg. v. Winfried Stephan. Frankfurt / M. 1992, S. 198–202.
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über die Desertion an der italienischen Front mitteilen, als was in den Kirschen der Freiheit schon geschrieben war, und diese Verweigerung ist mitunter auf Befremden gestoßen. Überliefert ist die Geschichte von einem Nachbarschaftsbesuch Max Frischs bei den Anderschs in Berzona Anfang der siebziger Jahre: „Der Besucher schildert, wie er den Verfasser von Die Kirschen der Freiheit einmal nach dessen Erlebnissen befragte“, „privat“, wie Frisch hinzufügt, „woraufhin der ‚betreten‘ auf seine Prosa verwiesen habe.“2 Als ob der rückhaltlose Bekenntnischarakter des Buches Schaden gelitten hätte, wäre ihm ein mündlich mitgeteilter, privater Epitext an die Seite gestellt worden. Dem Wunsch des Autors gemäß, ist der Text im Rahmen der großen Werkausgabe Anderschs, herausgegeben von Dieter Lamping 2004, dann auch in die Abteilung „Autobiographische Berichte“ aufgenommen worden.3 Von Lamping stammt zudem eine der maßgeblichen Arbeiten der Andersch-Forschungsliteratur, in der über den Status der Kirschen der Freiheit als autobiografischer Text reflektiert wird.4 Lamping rekapituliert darin noch einmal die spezifischen Gattungsmerkmale des autobiografischen Erzählens. Für den autobiografischen Text konstitutiv sei demnach die „Identität von Autor, Erzähler und Hauptfigur.“5 Sie erzeuge das, was Philippe Lejeune den „autobiograpischen Pakt“6 mit dem Leser genannt hat. Kennzeichnend für autobiografisches Erzählen sei – so Lamping – ein existentieller Ernst, der fiktionale Erzählungen zwar ebenso auszeichnen kann, aber nicht muß. Autobiographisches Erzählen dagegen ist immer zur Wahrheit des Erzählten und zur Wahrhaftigkeit des Erzählers verpflichtet.7
Man kann sich nun fragen, welcher Anteil an der starken Resonanz der Kirschen bis heute diesem autobiografischen Anspruch des Textes geschuldet ist. Lamping jedenfalls ist davon überzeugt, dass es nicht nur das umstrittene Thema der Desertion war, das „dem Buch bei seinem ersten Erscheinen Aufmerksamkeit gesichert hat“, sondern auch und vor allem,
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Zit. n. Berbig, Roland: „Das Onsernone-Tal zu gewissen Zeiten. Alfred Andersch und Max Frisch in Berzona“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt – in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Anette Andersch-Korolnik. München 2008, S. 85– 94, hier: S. 86. Vgl. Andersch, Alfred: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe. Erzählungen 2. Autobiographische Berichte, Bd. 5. Hg. v. Dieter Lamping. Zürich 2004, S. 327– 404 (künftig abgekürzt: Andersch GW5/Seitenzahl). Lamping, Dieter: „Erzählen als Sinn-Suche. Formen und Funktionen autobiographischen Erzählens im Werk Alfred Anderschs“. In: Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Hg. v. Rüdiger Zymner u.a. Köln 2000, S. 217–229. Lamping: „Erzählen als Sinn-Suche“, S. 218. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Aus dem Frz. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt / M. 1994. Lamping: „Erzählen als Sinn-Suche“, S. 227f.
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dass „an seiner Authentizität kein Zweifel bestand.“8 Wenn das zutrifft, dann bezog der Text einen Teil seiner literarischen Autorität aus dem autobiografischen Pakt mit dem Leser, den Andersch – wie gesehen – bis zuletzt vehement bekräftigte. Nun waren allerdings auch schon, als Lamping dies schrieb, erste und ernste Zweifel daran laut geworden, wie es um die autobiografische Wahrhaftigkeit des in den Kirschen der Freiheit Erzählten bestellt ist: zuerst durch die Biografie von Stephan Reinhardt von 19909, dann durch Sebalds – man wird inzwischen sagen können: berüchtigte – Interpretation von Reinhardts biografischer Darstellung,10 zuletzt durch einen (von der Andersch-Tochter Anette Korolnik-Andersch in Auftrag gegebenen) Beitrag des renommierten Historikers Johannes Tuchel, der Anderschs Text einer historiografisch-nüchternen Form der Quellenkritik unterzog.11 Diese Zweifel bezogen sich in der Summe auf folgende Aspekte bzw. Auslassungen in Anderschs autobiografischem „Bericht“: - seine Rolle im Kommunistischen Jugendverband Südbayerns 1932/33; - die Umstände seiner KZ-Haft im Frühjahr 1933; - die Auslassungen im Kontext der Scheidung von seiner ersten Frau Angelika und seines Aufnahmegesuches in die Reichsschrifttumskammer 1942/43; - schließlich die genauen Umstände seiner Desertion im Juni 1944 an der italienischen Front. Bei dieser Zusammenschau verdient Beachtung, dass die ‚Zweifler‘ ihre Argumente ganz unterschiedlich gewichten: Der Biograf Reinhardt hegt z.B. überhaupt keinen grundsätzlichen Zweifel an der autobiografischen Dignität des in den Kirschen der Freiheit Dargestellten. Das kann man daran erkennen, dass er wie selbstverständlich das in den Kirschen Erzählte – den Andersch-Text selber – in sein biografisches Narrativ miteinfließen lässt – vorzugsweise an solchen Stellen, an denen keine oder kaum andere Quellen zur externen Beglaubigung des Erzählten verfügbar waren. Und das sind insbesondere eben jene Passagen, die sich auf die KZ-Haft und die Desertionsumstände beziehen. Sebald hingegen möchte am liebsten alles in Zweifel ziehen, kann das aber nicht, weil er überhaupt kein selbständiges Quellenstudium betrieben hat, sondern die durch Reinhardt bekannt gewordenen Fakten lediglich neu bewertet. Deshalb konzentriert
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Lamping: „Erzählen als Sinn-Suche“, S. 219f. Reinhardt, Stephan: Alfred Andersch. Eine Biographie. Zürich 1990. Sebald, W.G.: „Between the devil and the deep blue sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden in der Vorsehung“. In: Lettre International 20 (1993), S. 80–84. Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Sansibar ist überall, S. 31– 41. Vgl. dazu auch die Einleitung in diesem Band.
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er sich in seiner Invektive vor allem auf die Auslassungen der autobiografischen Erzählung. Tuchel zuletzt war nun als eine Art Schiedsrichter bestellt, der die Substanz der Vorwürfe v.a. Sebalds historiografisch überprüfen sollte. Sein Urteil schließlich fällt gemischt aus. Manchen der Vorwürfe versucht er den Boden zu entziehen – vor allem, was die moralischen Aspekte der Scheidung anbetrifft. Die KZ-Episode hingegen liest Tuchel noch sehr viel kritischer als beide Vorläufer, Reinhardt wie Sebald. Tuchels Fazit in Bezug auf die Wahrhaftigkeitsansprüche der Kirschen als autobiografischer Text im Sinne Lampings gibt jedenfalls zu denken: Alfred Andersch hat sich in seinen Äußerungen und Veröffentlichungen nach 1945 wie viele andere seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen neu erschaffen. In der Analyse der überlieferten Quellen und damit des historischen Geschehens wird deutlich, dass Andersch zumindest manche Fakten verändert hat, um sich selbst positiver darzustellen, anderes hat er weggelassen oder geschönt. Aber [...]
– und nun folgt ein wichtiger Zusatz – auch darin unterscheidet sich Alfred Andersch nicht von vielen anderen Schriftstellern, die in postdiktatorischen Systemen ihr Verhalten unter den Bedingungen der Diktatur dargestellt oder reflektiert haben.12
Dieses Fazit ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert: zum einen wird damit der Personalisierungs- und Skandal-Kommunikation widersprochen, die aus der Sebald-Debatte einen ‚Fall Andersch‘ macht. Andere Autoren wie auch viele Generationsgenossen hätten sich in vergleichbarer Weise nach 1945 neu erfunden. Zum anderen aber kommt auch Tuchel nicht umhin festzustellen, dass in den Kirschen der Freiheit der autobiografische Pakt partiell unterlaufen wurde. Für die Andersch-Forschung folgt aus diesem Befund in allererster Linie, dass gerade vor dem Hintergrund der begründeten Zweifel an der autobiografischen Wahrhaftigkeit der Kirschen der Freiheit im Detail die literarisch-konstruktiven Anteile des Textes wieder genauer in den Blick genommen werden müssen. Die Literaturwissenschaft kann und darf es ja eigentlich auch nicht wirklich erschüttern, zur Kenntnis zu nehmen, dass nicht alles (im historistischen Sinne) ‚stimmt‘, was Andersch in den Kirschen der Freiheit erzählt. Ganz im Gegenteil: Diese Freiheit im Umgang mit autobiografischem Material würde man einem literarischen Autor immer sofort zubilligen, mehr noch: methodisch, produktionsästhetisch unterstellt man sie sogar von Anfang an. Im Falle von Anderschs Kirschen der Freiheit liegt nun aber der intrikate Sonderfall vor, dass der Autor selber auf dem autobiografischen Gehalt seines Textes insistiert. D.h. er will sich bis zuletzt als Person mit der Erzählerfigur in den Kirschen identifiziert wissen; tradiert werden soll ein Bild seiner selbst, für das er mit den Kir-
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Tuchel: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“, S. 40f.
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schen der Freiheit die gültige, autorisierte Version vorgelegt hat. Für die Fortsetzung der von Sebald und Tuchel angestoßenen Diskussion kann das eigentlich nur bedeuten, die literarische Konstruktion des Textes genau auf jene Aspekte hin durchsichtig zu machen, die jene drei Autoren veranlasst haben, an der autobiografischen Wahrhaftigkeit der Kirschen zu zweifeln. Dazu soll hier ein Korpus zu Rate gezogen werden, das in der ganzen Sebald-Diskussion merkwürdigerweise noch keine Rolle gespielt hat: Die Manuskriptfassung der Kirschen der Freiheit, die im öffentlich zugänglichen Teil des Andersch-Nachlasses in Marbach am Neckar verwahrt wird.13 Diese Manuskriptfassung kann eindeutig als die entscheidende Vorstufe des Erstdrucks von 1952 bezeichnet werden. Deshalb gestattet sie privilegierte Einblicke in den Schreibprozess Anderschs und die Textgenese der Kirschen der Freiheit. Was gewinnt man nun, wenn man dieses making-of des Textes inspiziert? Die jüngere Schreibprozessforschung mit ihrem Zentralbegriff der „Schreibszene“ liefert dafür den entscheidenden methodischen Anhalt.14 Sie untersucht, wie sich die Arbeitsprozesse von Autoren anhand zumeist handschriftlicher Spuren in textgenetischen Zeugnissen wie Exzerpten, Notizen, Entwürfen, Arbeitshandschriften oder Korrekturfahnen dokumentiert haben. Dabei können im Wesentlichen vier „rhetorische Änderungskategorien“ unterschieden werden: das Hinzufügen, das Streichen, das Ersetzen und das Umstellen bestimmter Textpassagen.15 Von Interesse sind auch im Falle von Anderschs Entwurfsmanuskript der Kirschen der Freiheit vor allem diese Marginalien der Handschrift, weil sie die Arbeit an der literarischen Konstruktion durchsichtig machen. Wo fließt die Schreibhand, an welchen Stellen stockt sie? Was wird zunächst hingeschrieben, was später wieder verworfen? Welche Gründe sind gegebenenfalls maßgeblich dafür gewesen, dass eine bereits geschriebene Passage später nicht die Selbstzensur, die Endredaktion des Autors übersteht? Die Handschrift gestattet Einblicke in eine frühere Konzeptionsstufe des Textes – eine Produktionsphantasie, die im Prozess seiner allmählichen Verfertigung zunächst noch kopräsent war, dann aber intentional, d.h. durch die Hand des Autors verabschiedet oder modifiziert wurde. Gerade für einen dem Anspruch nach autobiografischen Text scheinen diese früheren Konzeptionsstufen von besonderem Interesse. Vielleicht weil der Zustand der Handschrift Rückschlüsse auf bestimmte
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Nachlass Alfred Andersch im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar, Handschriftenabteilung Bestandssignatur 78.480 (künftig abgekürzt: DLA A:Andersch, 78.4801/Seitenzahl). Vgl. dazu v.a. „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hg. v. Martin Stingelin in Zusammenarbeit mit Davide Giuriato und Sandro Zanetti. München 2004. „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“, S. 16.
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Literarisierungsnotwendigkeiten gestattet. An welchen Stellen eines autobiografischen Textes besonders gefeilt wird, zeigt an, welche Passagen seiner Selbstdarstellung die Autorhand besonders stark zu kontrollieren beabsichtigt, welche dem Autor besonders problematisch erscheinen. In diesem Sinne sind Überarbeitungen im handschriftlichen Text auch immer Indikatoren für in produktionsästhetischer Hinsicht besonders bedeutungsintensive Stellen. Hier soll im Folgenden der handschriftliche Befund insbesondere an den neuralgischen Punkten der Sebald-Diskussion befragt werden – in der Erwartung, dort neues, werkbiografisch eminentes Material ausfindig machen zu können, das für eine künftige Andersch-Philologie im Zeichen der Sebald-Debatte maßgeblich wäre.
Paratexte der Handschrift: Titel und Widmung Instruktiv in dieser Hinsicht ist schon die Überschrift des handschriftlichen Befundes. Der ursprünglich erwogene Titel des Textes lautete: „Darstellung meiner Existenz“ – ohne Untertitel übrigens und in Versalien.16 Dieser Arbeitstitel wird dann gestrichen und abgeändert in die bekannte Obertitel-Untertitel-Konstruktion „Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht“ – ohne Großschreibung (vgl. Abb. 1)17. Zu der Gattungsbezeichnung „Ein Bericht“, die die Rezeption so beschäftigt hat, entschließt sich Andersch demnach erst im zweiten Schritt – offenbar gewählt als Gegenlager zu der poetisierenden Titel-Metapher. Der Titel lebt fortan aus der Spannung zwischen Ober- und Untertitel. Auffällig zudem, dass das Personalpronomen aus dem ursprünglichen Titel vollständig getilgt ist. Es heißt nicht: ‚Die Kirschen meiner Freiheit‘ und auch nicht: ‚Die Kirschen der Freiheit. Mein Bericht‘, sondern unpersönlich: ‚Ein Bericht‘. Hinweise auf einen nicht-fiktionalen Gehalt des daran sich anschließenden Korpustextes kann man nur mehr der Gattungsbezeichnung entnehmen.
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DLA A:Andersch 78.4801/1. Von diesem Detail kann man schon wissen, ohne die Handschrift selbst je inspiziert zu haben. Es ist im Kommentarteil von Band 5 der Gesammelten Werke aufgeführt (Andersch GW5/533). Der Autor dankt den Erben von Alfred Andersch und dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach/Neckar für die freundliche Genehmigung, ausgewählte Seiten aus der Handschrift zu den Kirschen der Freiheit faksimilieren zu dürfen.
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Abb. 1: Detail S. 1 der HS Kirschen: „Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht DARSTELLUNG MEINER EXISTENZ 1. Teil: DER DESERTEUR Der unsichtbare Kurs. I. DER PARK ZU SCHLEISSHEIM“
Die Titelgenese im handschriftlichen Befund lässt demnach eine Bearbeitungstendenz erkennen, die den Bedeutungsumfang der Obertitelmetapher erweitert und zugleich die Gattungsbezeichnung im Untertitel verallgemeinert. Diese Kirschen der Freiheit sollen entschieden mehr sein als ein ganz privates Geschmackserlebnis. Zu den Umbauten am Paratext gehört auch die Streichung der ursprünglichen Binnenüberschrift zum Teil 1 des Buches: „Der Deserteur“, die durch „Der unsichtbare Kurs“ ersetzt wird. Die den Text leitende Deserteursthematik soll offenbar (noch) nicht auf seiner Gliederungsebene explizit werden. Das korrespondiert unmittelbar mit der Arbeit des Autors an den Widmungssentenzen, die dem Korpustext vorgeschaltet sind. Die Seite 1 der Handschrift zeigt am oberen linken Rand des Folioheftes, in das Andersch am 28. Dezember 1950 sein Manuskript hineinzuschreiben beginnt, dass zunächst an folgende Widmungsformulierung gedacht war (vgl. Abb. 2): „Ich widme dieses Buch den Soldaten der in zwei Lager aufgeteilten [zunächst: J.D.] deutschen Armee.“ Dann verbessert er: „[...] des in zwei Lager geteilten deutschen Heeres.“ Diese Widmung ist nicht gestrichen, übersteht also den initialen Korrekturgang der Autorhand im Prozess der Niederschrift selbst. Gleichwohl schafft es diese Widmung nicht in den gedruckten Text, sondern wird schließlich ersetzt durch ein Motto – das Tagebuch-Zitat des französischen Autors André Gide: „Ich baue nur noch auf die Deserteure.“18 Damit verschiebt der Autor die Annonce der Deserteurs-Thematik von der Überschriftenebene in das Motto des Buches.
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Andersch GW5/327.
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Abb. 2: Detail S. 1 der HS Kirschen: „Ich widme dieses Buch den Soldaten der des in zwei Lager aufgeteilten deutschen Armee Heeres.“
Das sichert ihm nicht nur einen prominenten Gewährsmann seiner Deserteursehre, André Gide, sondern retardiert spannungsfördernd die Entfaltung seiner ganz persönlichen Deserteursgeschichte. Diese wird erst in Teil II auf der Überschriftenebene thematisch. Interessant ist aber die ursprünglich erwogene Widmung für die Soldaten des Heeres noch jenseits dessen: Sie verrät auch etwas über den impliziten Leser, den Andersch vor Augen hat, als der Die Kirschen konzipiert. Die Widmung kommt daher wie eine nachgeholte Verbeugung vor den Kameraden, die er an der italienischen Front im Stich ließ (seine Kameraden, sein Truppenteil: „Heer“, nicht nur „Armee“) – so als wollte er präventiv den Verratsvorwurf der impliziten Leser abschwächen, mit dem er angesichts der Thematik zwingend rechnen konnte. Es spricht für seinen Mut als Autor und für die zeitgenössische Radikalität seiner Konzeption, dass Andersch diese Demutsgeste gegenüber den Kameraden schließlich tilgte. Sie verdient fortan mitgedacht zu werden, will man all jene Stellen des Textes qualifizieren, in denen sich Andersch über den Kampfesmut, auch die Kampfesunlust der deutschen Wehrmachtssoldaten äußert – Passagen, die ja schon häufiger Gegenstand der Forschungsdiskussion gewesen sind und die nicht zuletzt von Sebald inkriminiert wurden.19
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Vgl. z.B. Andersch GW5/379f.: „Weder Wehr noch Macht also, aber Millionen ziemlich tapferer Männer, die es im Bauch hatten, daß es im Grunde Quatsch war, zu kämpfen. Wenn sie’s es taten – und oft taten sie es gut – , dann unter Zwang oder um gerade noch eben das Gesicht zu wahren, weil man das Gesicht wahren mußte, als die Vollidioten bei den anderen gesiegt hatten und mit der Formel von der ‚bedingungslosen Übergabe‘ (unconditional surrender) anrückten. Die deutschen Soldaten haben das Gesicht gewahrt, aber es hat im letzten Kriege niemals eine ‚Wehrmacht‘ gegeben, sondern einzig und allein Millionen bewaffneter Männer, deren größerer Teil nicht die geringste Lust hatte, zu kämpfen.“ Sebald – mit viel Sinn für maliziöse Stellenhermeneutik – kontrastiert solche und ähnliche Passagen mit den notorischen Stellen aus den Briefen des Wehrmachtssoldaten Andersch an die Mutter, in denen er sich über „Drückeberger-Atmosphäre“ bei der Ersatz-Kompanie beschwert. In: Sebald: „Between the devil“, S. 82. Vgl. dazu auch Schütz, Erhard:
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Erzählerrede: Ich-Elision Eine letzte Passage dieser ersten Seite der Handschrift verdient Beachtung, weil Sie eine Autor-Reflexion über das bedeutendste stilistische Merkmal der Kirschen der Freiheit darstellt: die so genannte „Ich-Elision“20 – d.h. die mutwillige Verknappung der Erzählersyntax, bei der der Ich-Erzähler ausgerechnet das Ich – also den satzgrammatischen Stellvertreter seiner selbst – ausstreicht. Schon der erste Satz auch des edierten Textes gibt dieses stilistische Prinzip zu erkennen: Weiß nicht mehr genau, in welche Jahreszeit die Münchner Räterepublik fiel. Ist ja leicht festzustellen. Frühjahr, glaub’ ich. War – glaub ich – mein Ich, wollen Sie sagen, würde K. sagen, glauben können Sie nur an Gott –, mein ich also, ein dunkler, schmutziger Frühlingstag, an dem sie Menschen in langen Reihen die Leonrodstraße in München entlangführten [...].21
In der Forschungsliteratur ist die Ich-Elision als imitatio der Landsersprache gelesen worden,22 andererseits auch als stilistisches Signal einer Identitätsverunsicherung des Erzählers, von der der sich anschließende Text auch handelt. Der programmatische Charakter dieser Ich-Elision wird zumeist begründet durch einen auktorialen Kommentar des Erzählers wenige Seiten später: Während ich dies niederschreibe, fällt mir auf, dass ich in den letzten Abschnitten den Stil des unmittelbaren Erzählen eines Erlebnisses, mit dem ich begann, verlassen habe und mich der breiter gesponnenen Reflexion, des Periodenbaus und harmonikalen Schönheit älterer Schulen bedienen [...] Setzen wir also neu an...23
Zu den Überraschungen aus der Handschrift zählt nun, dass es einen vergleichbaren Erzählerkommentar zu seinem eigenen Schreibgestus schon auf der ersten Seite des Manuskriptes gibt (vgl. Abb. 3), der zunächst in die Beschreibung der Kindheitserinnerung an die Exekutionsmärsche während der Münchner Räterepublik eingeschaltet war, später aber gestrichen wird (vgl. Abb. 4): Überlege mir, warum ich ‚Weiß nicht mehr genau‘ schreibe, anstatt ‚Ich weiß nicht mehr genau.‘ Klingt (‚es klingt‘) vielleicht manchen zu abgehackt. Sprachverarmung, werden Sie sagen. Glaube (meine), dass wir die Sprache wieder ganz tonlos machen müssen, damit sie eines Tages wieder klingt. Ausserdem kommt, indem ich Worte wie ‚ich‘ wegschneide, etwas Mürrisches und Gereiztes in den Stil, wie ich es brauche, wenn ich von Menschen berichte, die erschossen werden.24
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„Fluchtbewegung, militant. Zu Alfred Anderschs Krieg“. In: Von Böll bis Buchheim: Deutsche Kriegsprosa nach 1945. Hg. v. Hans Wagener. Amsterdam, Atlanta, GA 1997, S. 183–198. Wehdeking, Volker: Alfred Andersch. Stuttgart 1983, S. 55. Andersch GW5/329. Schütz, Erhard: Alfred Andersch. München 1980, S. 41. Andersch GW5/333. DLA A:Andersch 78.4801/1.
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Abb. 3: Gesamtansicht S. 1 der HS Kirschen.
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Abb. 4: Detail S. 1 der HS Kirschen.
Warum diese Stelle der Autorredaktion letztlich zum Opfer fiel, darüber lässt sich nur spekulieren. Vielleicht kam sie ihm – schon auf der ersten Seite – allzu programmatisch vor. Immerhin zeigt sie aber, dass die Selbstverortung Anderschs in der zeitgenössischen Sprach- und ‚Kahlschlag‘Debatte wenigstens konzeptiv eine Rolle gespielt hat, als er an den Kirschen schrieb.25 Wenn hier über den Stellenwert von Passagen nachgedacht wird, die Andersch schließlich gestrichen hat, so muss erwähnt werden, dass sich die Quelle als Entwurfshandschrift in einem bemerkenswert guten Bearbeitungszustand befindet. Im Vergleich zu anderen Entwurfshandschriften ist erstaunlich wenig nachträglich korrigiert, es gibt viele Seiten, die einer Reinschrift sehr nahe kommen. Das erhöht natürlich das relative Gewicht der wenigen überarbeiteten Stellen, die ihm im Prozess der Niederschrift problematisch erscheinen. Hineingeschrieben hat Andersch in ein braunes Folioheft von 120 Seiten, davon sind 92 Seiten beschrieben. Sein Schreibwerkzeug war ein weicher 4b Bleistift, die Handschrift fällt sehr klein aus und ist mitunter schwer zu entziffern. Warum das Manuskript mitunter wie eine Reinschrift erscheint, ist leicht zu erklären: Viele Passagen aus früheren, bereits veröffentlichten Andersch-Texten sind hier wieder verwendet worden.26
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Vgl. dazu u.a. Wehdeking, Volker: „Literarische Programme der frühen Nachkriegszeit“. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 21 (1990) H. 2, S. 2–15. Beispielsweise Passagen aus der Desertions-Erzählung „Flucht in Etrurien“, die zwei Jahre früher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt worden war (vgl. Andersch GW4/193–240); weniger bekannt ist, dass auch der Text „Anfang und Ende. Ein Mann zieht eine Quersumme“, der 1949 in den Frankfurter Heften erschien (in den Gesammelten Werken in einer späteren Bearbeitung unter dem Titel „Drei Phasen“ abgedruckt; vgl. Andersch GW4/403–409), eine textgenetisch bedeutsame Vorstufe der Kirschen der Freiheit darstellt.
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Abb. 5: Gesamtansicht S. 13 der HS Kirschen.
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Abb. 6: Detail S. 13 der HS Kirschen: „stiller – genauer der Wahrheit entsprechend!“
Als „Organisationsleiter“ des KJVD Südbayern Von den Zweiflern an der autobiografischen Wahrhaftigkeit des in den Kirschen der Freiheit Erzählten wird auch jene Episode des Textes ins Auge gefasst, in der Anderschs Ich-Erzähler seine Zeit als „Organisationsleiter des kommunistischen Jugendverbandes“ Südbayern 1932/33 schildert.27 Hier ist es keine Streichung innerhalb der Handschrift, sondern eine Marginalie, also ein Randbemerkung des Autors zu sich selber, die einen instruktiven Hinweis gibt (vgl. Abb. 5 u. Abb. 6). Sie findet sich an jener Stelle des Textes, als der Ich-Erzähler in dem Kapitel „Verschüttetes Bier“ von einer der letzten Stoß-Demonstrationen erzählt, die der Jugendverband der kommunistischen Partei im Jahr 1933 noch auf den Straßen des Münchener Arbeiterviertels Neuhausen durchführen konnte. Andersch beschreibt, wie er gemeinsam mit den jungen Genossen auf ein verabredetes Zeichen hin vom Parteilokal aus auf die Straße getreten sei und „Nieder mit den Hitler-Faschisten“ gerufen habe, solange bis das Heulen der Überfallkommandos von SA und Polizei zu hören gewesen sei.28 Die Entwurfshandschrift zeigt nun, dass an der Passage im Prozess ihrer Verfertigung durchaus gefeilt wird, es wird gestrichen, überschrieben und eingefügt, interessieren soll aber hier in erster Linie die Ermahnung, die Andersch sich als Korrekturhinweis selbst an den linken Rand schreibt (vgl. Abb. 6): Da heißt es: „stiller – genauer der Wahrheit entsprechend“.29 „stiller“ bezieht sich wohl auf den Zusatz „flüsternd“, den Andersch einfügt, um die Verständigung der Demonstrationsteilnehmer untereinander genauer zu beschreiben. Wichtiger aber: der Hinweis an sich selber
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Ein Nachweis für eine solch herausgehobene Position des Jungkommunisten Andersch im KJVD Südbayern konnte bislang nicht erbracht werden. Vgl. auch den Beitrag von Rolf Seubert in diesem Band. Andersch GW5/343. DLA A:Andersch 78.4801/13.
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„genauer der Wahrheit entsprechend!“ demonstriert doch, dass der Autor die Geltungsansprüche des autobiografisch Wahrhaftigen seiner Darstellung im Detail je neu mit sich aushandelt. Es können ästhetische Notwendigkeiten sich ergeben – so wie hier an dieser Stelle –, die es für den Autor angelegen sein lassen, „genauer“ bei der autobiografischen Wahrheit zu bleiben. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass es auch Passagen seines Berichtes gibt, in denen er – ästhetisch begründet – ‚ungenauer‘ zu schreiben sich das Recht herausnimmt – Passagen also, in denen er die autobiografische Wahrheit bewusst überschreitet?
Anderschs KZ-Haft 1933 Die Darstellung der Haftzeit des Erzählers im KZ Dachau 1933 in den Kirschen der Freiheit ist deshalb von so großem Interesse, weil ihr autobiografischer Gehalt so ungewiss ist. Der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, der Historiker Johannes Tuchel, der von der AnderschTochter Anette Korolnik-Andersch mit einer Expertise zu dem biografischen Komplex Andersch und das ‚Dritte Reich‘ beauftragt war, hat zu äußerster quellenkritischer Vorsicht im Umgang mit der in den Kirschen der Freiheit erzählten Version geraten.30 Die Details, die in Anderschs Bericht ausgespart sind und in Stephan Reinhardts Biografie ergänzt werden, stammen zum großen Teil aus mündlich mitgeteilten Quellen aus dem Familiengedächtnis ex post, die einer Überprüfung kaum standhalten, wie Tuchel herausarbeitet. Die Quellenlage ist also äußerst dürftig, andererseits besteht überhaupt kein Zweifel an dem herausragenden Stellenwert dieser Episode für das Selbstbild des Autors, das mit den Kirschen der Freiheit kommuniziert werden soll. Umso wichtiger also, dass man wenigstens das verfügbare Material zu dieser Passage konsultiert, und dazu gehört eben auch der textgenetische Befund aus der Entwurfshandschrift. Zu diesem making-of einer umstrittenen Stelle bei Andersch sollen hier einige Beobachtungen am Manuskript angestellt werden: Sebald merkt in seiner Invektive gegen Andersch die KZ-Passage betreffend Folgendes an: „Eigenartig leer und kursorisch wirken die knapp drei Seiten, in denen Andersch sein Vierteljahr Haft (bis zum Mai 1933) im Dachauer Lager zusammenfasst.“31 Sebald erklärt sich diese Leere durch die Traumatisierung des Autors: „Die Episode, wenn man so sagen kann, von den beiden ‚auf der Flucht erschossenen‘ Juden Goldstein und
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Vgl. auch die Einleitung in diesem Band. Sebald: „Between the devil“, S. 81.
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Abb. 7: Detail S. 20 der HS Kirschen: [gestr.] „Ich will nicht beschreiben, was dann kam. Andere haben das besser und ausführlicher getan, als ich es je könnte, und sie sind legitimierter dazu, denn [...]“
Binswanger (‚Der peitschende Knall überfiel uns, als wir zwischen den Baracken auf den Brettern saßen und unsere Abendsuppe löffelten‘) hat irgendwie“, schreibt Sebald, „den Charakter einer Deckerinnerung, die es erlaubte, die entsetzlichen Einzelheiten des Lagerlebens zu relegieren.“32 Hinter dieser psychoanalytischen Deutungsspekulation steht unausgesprochen auch die Verwunderung des Erzählerkollegen (der Sebald ja auch ist) darüber, dass Andersch aus diesen Erfahrungen – und im Dienste einer autobiografischen Selbstdarstellung – so wenig ästhetisch-moralisches Kapital schlägt. Ein Blick in die Handschrift legt nahe, auch ein anderes Motiv für die von Sebald konstatierte Leere und Detailarmut der KZ-Passage in Anschlag zu bringen (vgl. Abb. 7). Im letzten Absatz der Manuskriptseite 20 beginnt die KZ-Passage, und man erkennt sofort, wo der später für den Druck ausgewählte Teil des Textes beginnt: „Mein lumpiges Vierteljahr Haft zählt nicht gegen die zwölf Jahre, die viele meiner Genossen hinter dem Draht von Lagern verbrachten.“33
_____________ 32 33
Ebd. Vgl. Andersch GW5/351.
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Jörg Döring
Soweit, so bekannt. In der Entwurfshandschrift sind nun noch zwei weitere Sätze vorgeschaltet, die später gestrichen werden: „Ich will nicht beschreiben, was dann kam. Andere haben das besser und ausführlicher getan, als ich es je könnte, und sie sind legitimierter dazu, denn [...]“34 (und dann folgte ursprünglich der später alleingestellte Satz: „mein lumpiges Vierteljahr Haft...“). In beiden Varianten hat die Stelle hohes Gewicht, weil sie formal als Exposition der KZ-Haftbeschreibung fungiert. In beiden Varianten dient sie rhetorisch einer vorbeugenden Selbsterniedrigung des Erzählers, der den Stellenwert der zu berichtenden Erfahrungen zu relativieren sucht – angesichts des größeren Leids anderer Opfer. Was ändert sich nun durch die Streichung? Die hier vertretene These lautet, dass die ursprüngliche Fassung der Exposition stärker noch die Züge eines auktorialen Kommentars des Erzählers trägt, der sein Gefühl einer ‚Überlebensscham‘ zum Ausdruck bringen möchte – ein aus vielen Opferberichten bekanntes Phänomen. Weil andere mehr und länger gelitten haben als der Erzähler, seien Sie „legitimierter“, davon Zeugnis abzulegen – so als ob sich eine Berichtsautorität erst durch das Maß des Leidens herstellt. „Ich will nicht beschreiben, was dann kam.“ – interessanterweise wäre dieser Satz, sofern er die Selbstzensur des Autors passiert hätte, geeignet gewesen, das zu erklären und in gewisser Weise zu entschuldigen, was Sebald gerade moniert: dass die KZ-Passage in den Kirschen der Freiheit so „eigenartig leer und kursorisch“ wirkt. Die gestrichene Stelle hätte motiviert, warum Andersch die exakte Schilderung der grausigen Details der Lagerrealität an andere Opferberichte delegiert – solche, die er für moralisch „legitimierter“ hält. Gestrichen wird damit in rhetorischer Hinsicht eine captatio benevolentiae, eine Referenz an die anderen Dachauopfer, deren Berichte im Übrigen seit 1946 auch auf dem Buchmarkt der Westzonen ausgesprochen präsent waren.35 Was übrig bleibt von dieser Exposition ist im schließlich edierten Text allein die wuchtige Selbsterniedrigungsformel „mein lumpiges Vierteljahr Haft“, die – so lässt sich folgern – textimmanent das Unbehagen des Autors seiner eigenen Opfergeschichte gegenüber zum Ausdruck bringt. Denn die Formel will eine objektive Übertreibung durch eine rhetorische Untertreibung kompensieren. Die Übertreibung ist das „Vierteljahr“, denn ihm war bewusst, dass er nicht ein Vierteljahr lang in Dachau war. Johannes Tuchel wie Stephan Reinhardt und Rolf Seubert sprechen von
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DLA A:Andersch 78.4801/20. Peitsch, Helmut: „Deutschlands Gedächtnis an seine dunkelste Zeit“. Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren von Berlin 1945–1949. Berlin 1990.
Zur Textgenese
Abb. 8: Gesamtansicht S. 21 der HS Kirschen.
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Jörg Döring
Abb. 9: Detail S. 21 der HS Kirschen.
maximal sechs Wochen.36 Das Unbehagen des Autors im Wissen um diese Übertreibung soll nun aufgehoben werden in dem Adjektiv „lumpig“, das die Geringfügigkeit seiner Opfererfahrung überstark pointiert. Keiner der Leser würde ja auf die Idee kommen, eine KZ-Haft als „lumpig“ zu bezeichnen, nur weil sie kürzer gedauert hat als andere. Deshalb kommt man kaum umhin, darin eine Untertreibungsrhetorik zu unterstellen: Nur die ästhetische Selbsterniedrigung des Erzählers macht für den Autor aushaltbar, dass er in Bezug auf seine Haftdauer den autobiografischen Pakt verletzt.37 Interessant ist es nun, die Streichung des Satzes „Ich will nicht beschreiben“ mit den anderen Überarbeitungsspuren zu vergleichen, die die KZ-Passage in der Handschrift aufweist. Denn konsequenterweise bleibt die Streichung des Imperativs nicht folgenlos: die Überarbeitungsschicht der Handschrift (lange Einschübe am Seitenrand) gibt deutlich zu erkennen, dass Andersch in erster Linie weitere Beschreibungen einfügt. So als ob der Autor (in Personalunion mit dem Erzähler) den Vorwurf der Leere und Detailarmut seiner Schilderung schon antizipierte und ihm präventiv zu begegnen versucht durch größeren Erzählaufwand. Ein bemerkenswertes Beispiel in dieser Hinsicht ist der nachträglich am Seitenrand eingefügte Absatz über den Mithäftling Willi Franz (vgl. Abb. 8; Abb. 9): Der lange, knochige, eisenharte Willi Franz, berühmter Bergsteiger, hatte sich damals noch nicht erhängt, aber er spielte bereits so schlecht Schach, daß ich ihn
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Reinhardt: Alfred Andersch; Tuchel: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“; vgl. auch den Beitrag von Rolf Seubert in diesem Band. Die von Andersch selbst reklamierte Haftdauer wurde im Laufe seines Lebens immer länger. Im Lebenslauf vom 15. März 1964, den er im Zuge seiner Umsiedlung nach Berzona bei den Schweizer Behörden einreichte, gab er an: „[...] verbrachte halbes Jahr im KZ Dachau.“ Vgl. Reinhardt: Alfred Andersch, S. 644.
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mit Leichtigkeit schlug. Wir legten das Brett immer auf einen Baumstumpf vor der Baracke.38
Erzähldramaturgisch (wie moralisch) dient die Einfügung in erster Linie dazu, den Mitgefangenen Namen und Gesicht zu verleihen – ein Dienst des Autors an seinen Leidensgenossen und zugleich eine Anreicherung der KZ-Beschreibung mit identifizierbarem Personal. Eingefügt wird sie aber erst nachträglich, weil Andersch die erste Fassung offenbar als korrekturbedürftig empfand, und vielleicht erklärt dieses Ungenügen auch die bemerkenswerte Fehlleistung, die Andersch in der eingefügten WilliFranz-Passage unterläuft: Denn die historische Person Willi Franz hatte sich in Wahrheit gar nicht erhängt, sondern sie wurde erhängt – ein getarnter Selbstmord, verübt von der SS.39 Ungewollt kolportiert also Andersch in dieser Hinzufügung die Propagandalüge der Täter und das, obwohl er schon zum Zeitpunkt der Abfassung über die wirklichen Umstände des Todes seines Mithäftlings informiert war. Denn an einer späteren Stelle der Kirschen der Freiheit – in dem Kapitel „Die Kameraden“ – schreibt er (im Manuskript flüssig und in Reinschrift) ganz im Sinne der historischen Wahrheit: Sie hatten meine revolutionäre Jugend erstickt. Sie hatten mich ins Konzentrationslager gesperrt, aus dem ich selber zwar mit einem blauen Auge entkam, aber nicht die Genossen meiner Jugend und einer Revolution, die in ihrem Wesen und ihren Absichten eine reine Jugend und eine reine Revolution gewesen waren. Sie hatten Gebhard Jiru und Josef Götz und Willi Franz und Josef Huber in Dachau und Hans Beimler in Spanien getötet, und diese Namen mögen für die ganze Elite der deutschen Kommunistischen Partei stehen, die sie getötet haben, während ihre eigne Elite, die Elite der Nationalsozialistischen Partei, noch immer am Leben ist. [Hervorh. J.D.]40
Bemerkenswert auch, dass der Widerspruch zwischen diesen beiden Passagen, die Fehlleistung in der eingefügten Passage über Willi Franz bei der Endkorrektur 1952 weder Andersch selber noch einem seiner Lektoren aufgefallen ist. Es fällt schwer, sie zu erklären. Gerade indem er die kommunistischen Mitgefangenen, seine Genossen aus der Partei, mit Klarnamen bezeichnet (anders als z.B. die jüdischen Häftlinge), will er ihnen doch auch als historische Personen ein literarisches Denkmal setzen. Gerade aufgrund von Anderschs persönlicher Verbundenheit mit diesem Opferkreis dürfte man ein Höchstmaß an Darstellungssorgfalt unterstellen. Aber in Bezug auf Willi Franz ist die Dachau-Passage in den Kirschen der Freiheit eben gar nicht „leer und kursorisch“ – wie Sebald unterstellt – sondern vielmehr objektiv verfälschend.
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Andersch GW5/352f. Vgl. dazu den Beitrag von Rolf Seubert in diesem Band. Andersch GW5/374. Vgl. auch DLA A:Andersch 78.4801/42f.
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Jörg Döring
Abb. 10: Detail S. 21 der HS Kirschen: „Eines Mittags Abends, in den Baracken, kam das Gerücht auf die Meldung durch, Hans Beimler sei in das Lager eingeliefert worden. Wir waren voller Spannung. Zur gleichen Stunde war ein Transport von ungefähr hundert Juden aus Nürnberg ins Lager angekommen; sie richteten sich gerade in ihrer Baracke ein. Die Juden würden nicht lange bleiben, dachten wir. Es waren lauter Kaufleute und Ärzte und Rechtsanwälte, Bourgeoisie [eingefügt].“
Es gibt eine weitere Stelle in der KZ-Passage, an der dem Manuskript anzusehen ist, dass der Autor stilistisch feilt, um seine Beschreibung wirkungsvoller zu machen – und auch hier auf Kosten der historiografischen Wahrhaftigkeit (vgl. Abb. 10). Darin erzählt Andersch von der Ankunft eines Häftlingstransportes, der die ersten Juden ins KZ Dachau verbrachte. Im schließlich edierten Text wird die Stelle folgendermaßen lauten: Eines Abends, in den Baracken, kam die Meldung durch, Hans Beimler sei in das Lager eingeliefert worden. Zur gleichen Stunde war ein Transport von etwa hundert Juden aus Nürnberg angekommen; sie richteten sich gerade in ihrer Baracke ein. Die Juden würden nicht lange bleiben, dachten wir. Es waren lauter Kaufleute und Ärzte und Rechtsanwälte, Bourgeoisie. Sie konnten unmöglich unter uns bleiben. Bis jetzt waren nur wir Kommunisten im Lager gewesen. Die Juden sahen aus den Fenstern ihrer Baracke. Sie waren still und hatten gute Anzüge an. Um sechs Uhr holte man zwei von ihnen zum Wassertragen. Steinbrenner kam ins Lager und schrie: ‚Goldstein! Binswanger!‘ Sie mussten eine Wassertonne ergreifen und gingen mit Steinbrenner vors Tor. An diesem Abend hörten wir zum erstenmal den Laut von Schüssen, die uns galten. Wir standen alle an der Mauer, an der Goldstein und Binswanger erschossen wurden.41
Der Vergleich mit der Handschrift gibt an dieser Stelle eine Überarbeitungsschicht zu erkennen, die aus ein paar Streichungen, Überschreibungen und Einfügungen besteht, welche Andersch offenbar als Initialkorrektur seiner ersten Niederschrift vorgenommen hat. Aus eines „Mittags“ wird eines
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Andersch GW5/353.
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„Abends“, an dem nicht „das Gerücht“ aufkam, der Elitekommunist Hans Beimler sei in das Lager eingeliefert worden, sondern stattdessen „die Meldung“ durchkam. Der Nachsatz dazu in der Handschrift „Wir waren voller Spannung“ wird ersatzlos gestrichen. Die Korrekturen sind dazu angetan, a) die Kommunikationsverhältnisse der kommunistischen Häftlinge untereinander neu zu gewichten (von der Gerüchteverbreitung zur vielleicht cassiberhaften „Meldung“ innerhalb einer intakten Kommunikationshierarchie unter Gefangenschaftsbedingungen) und b) zwei nachgewiesen historische Ereignisse in einer gemeinsamen Erzähl-Sequenz zu verdichten: die Einlieferung Beimlers ins Lager und die Ankunft eines ersten Transportes, in dem sich auch Juden unter den eingelieferten Häftlingen befanden. Erzählmoralisch fragwürdig daran ist ausdrücklich nicht die zeitliche Kontamination der beiden historisch getrennt verlaufenen Vorgänge: Der Nürnberger Häftlingstransport nach Dachau, der die Ermordung von vier Häftlingen nach sich zog – mithin die ersten KZ-Opfer des ‚Dritten Reiches‘, bezeichnenderweise jüdische – erreichte das Lager am 11. April 1933; Beimler hingegen wurde frühestens am 25. April eingeliefert.42 Andersch verdichtet, um zwei Häftlingsgruppen – die Kommunisten als gleichsam arrivierte Opferkohorte und die neu angekommenen, sozial besser gestellten und weltanschaulich ungebundenen Juden – miteinander zu konfrontieren und deutlich voneinander abzugrenzen: „Die Juden würden nicht lange bleiben, dachten wir“, lässt Andersch sein Erzähler-Ich sagen, „[e]s waren lauter Kaufleute und Ärzte und Rechtsanwälte, Bourgeoisie. Sie konnten unmöglich unter uns bleiben.“ Was ändert sich an der Lesart der Stelle, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass der historische Transport der Nürnberger Häftlinge nach Dachau, den Andersch hier in der autobiografischen Rückschau beschreibt, in Wahrheit gar nicht aus „etwa hundert Juden“ bestand, sondern überwiegend aus nicht-jüdischen Häftlingen aus einfachen Verhältnissen? Und auch die vier Juden unter den insgesamt 60 Neuankömmlingen waren keineswegs der „Bourgeoisie“ zuzurechnen, sondern Handelsvertreter und Studenten, denen man – wie Andersch selbst – kommunistische Agitation vorwarf?43 Die Handschrift zeigt, dass Andersch das bilanzierende Wort zur sozialen Kennzeichnung der Neuhäftlinge – „Bourgeoisie“ – erst nachträglich in sein Manuskript einfügt. Im Hinblick auf den autobiografischen Pakt lässt dieser Befund drei Lesarten zu: entweder a) erinnerte sich Andersch bei Abfassung der Kirschen nicht mehr genau an die ersten Juden im Lager und ihre soziale Physiognomie; oder b) er erklärte sie absichtlich gegen seine autobiografische Erinnerung zur Lagerbourgeoisie mit den feinen Anzügen (und hätte damit ungewollt ein geläufiges antijüdisches Stereotyp reproduziert); oder aber c) er
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Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Rolf Seubert in diesem Band. Vgl. ebd.
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Jörg Döring
erklärte sie fälschlicherweise zur Bourgeoisie, um die der kommunistischen Agitation verdächtigten jüdischen Handelsvertreter und Studenten aus Nürnberg von der kommunistischen Parteielite abzusondern, der er sich selber zugehörig fühlt.44 Textimmanent entsteht auf diesem Wege ein größeres soziales Gefälle innerhalb der Dachauer Häftlingspopulation, was zwar die jüdischen Opfer aus Nürnberg reicher und herausgehobener erscheinen lässt als sie historisch waren, aber auch die Terrorherrschaft im KZ gleichsam literarisch totalisiert: betroffen von ihr seien eben nicht nur die kommunistischen Funktionäre gewesen, sondern gleichursprünglich auch schon die ganze jüdische Bourgeoisie (was er als junger Kommunist damals nicht wahrhaben wollte). Wenn Lesart c) zutrifft, dann läge hier ein Beispiel dafür vor, wie Andersch, der historische Augenzeuge, im autobiografischen Text seine Erinnerung literarisch anverwandelt: Wichtiger als eine historisch korrekte Darstellung der jüdischen Mithäftlinge wäre ihm dann gewesen, jenes KZ Dachau, in dem er – nach jetzigem Kenntnisstand – bis zu sechs Wochen verbrachte, schon für den April 1933 mit (Text-)Zeichen aus dem Vorrat der nachmals geläufigen Shoah-Ikonografie (Transporte, jüdische Bourgeosie, feine Anzüge) erzählerisch auszustatten. Als letzte Überarbeitungsspur innerhalb der handschriftlichen KZPassage aus den Kirschen der Freiheit soll hier noch eine Hinzufügung ganz
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Der Literaturkritiker Helmut Böttiger hat diese Interpretation als „groteskes Missverständnis“ zurückgewiesen: „Man spürt in diesen Zeilen [gemeint ist die oben zitierte AnderschPassage; J.D.] die Fassungslosigkeit, mit der ein junger, gläubiger Kommunist wahrnimmt, dass die Juden von den Nazis weitaus grausamer behandelt werden als die Kommunisten. Er kämpft mit dieser Wahrnehmung, sie passt nicht in sein Weltbild.“ (Böttiger, Helmut: „Beschreibungsimpotenz. Die Gruppe 47, Alfred Andersch & Co: Über einige Klischees der jüngeren Literaturgeschichtsschreibung“. In: Süddeutsche Zeitung vom 14. Februar 2011). Als Interpretation der Stelle im edierten Text ist diese Lesart Böttigers ebenso stimmig wie geläufig. Sie beharrt allerdings auf ihrer werkimmanenten Perspektive und will sich ganz offenbar weder durch die historischen Umstände, die Anderschs Erzählanlass darstellen, noch durch den textgenetischen Befund in der Handschrift irritieren lassen. Beides wird hier jedoch ausdrücklich als relevanter Kontext für die Interpretation der Passage in Anspruch genommen. Die von Böttiger konstatierte „Fassungslosigkeit“, mit der der Erzähler auf die Ermordung der Mithäftlinge reagiert, ist dabei gänzlich unstrittig. Er hört „zum erstenmal“ den „Laut von Schüssen“, die auch ihm gelten, deshalb – so heißt es – „standen (wir) alle an der Mauer, an der Goldstein und Binswanger erschossen wurden.“ Was die Erschütterung über die bezeugten Morde angeht, wird hier sogar eine Art Opfergemeinschaft beschworen. Deshalb fragt sich umso mehr, warum Andersch in seiner autobiografischen Erzählung die jüdischen Mithäftlinge aus der kommunistischen Gesinnungsgemeinschaft exkludiert und warum er stilistisch daran arbeitet, sie erzählerisch noch ‚jüdischer‘ aussehen zu lassen als sie historisch waren.
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Abb. 11: Detail S. 22 der HS Kirschen: „(Hoffentlich verlässt es mich nicht in den Lagern, welche die Zukunft für mich, für uns alle bereit hält. Ich klopfe dreimal gegen Holz – ich bin abergläubisch.)“
gegen Ende des Kapitels diskutiert werden – dort, wo er dankbar vermerkt, er selber sei während seiner Zeit im Lager von körperlicher Folter stets verschont geblieben: „Man hat mich nie geschlagen; ich habe in dieser Hinsicht immer ein unverschämtes Glück gehabt“ (KdF 43). Im edierten Text folgt dann der sehr merkwürdige Satz, den Andersch in Klammern stellt: „(Hoffentlich verlässt es mich nicht (das Glück) in den Lagern, welche die Zukunft für mich, für uns alle bereit hält. Ich klopfe dreimal gegen Holz – ich bin abergläubisch.)“45 An der Handschrift ist nun zu sehen, dass auch dieser Satz erst nachträglich in das Manuskript eingefügt wurde (vgl. Abb. 11). Der Befund verdeutlicht, dass Andersch in seinem Überarbeitungsschritt sich dazu entschließt, an einen Diskurs anzuschließen, der auch im Kontext der Gruppe 47 thematisch war: eine auktoriale Warnung an die Leser, gesprochen aus der Gegenwart des Erzählten, auch sie möchten sich schon mal – gemeinsam mit dem Erzähler – auf „die Lager“ der Zukunft einstellen. Bei Günter Eich findet man mehrfach dieselbe Gedankenfigur: z.B. in dem berühmten Hörspiel Träume von 1951: „Wache gut auf, mein Freund! Schon läuft der Strom in den Umzäunungen, und die Posten sind aufgestellt.“46 Oder der Satz aus Eichs Hörspielpreis-„Rede vor den Kriegsblinden“ 1953 von den „Kommissare[n] und Manager[n], die emsig bemüht sind, die Erde endgültig in ein Konzentrationslager zu ordnen.“47 Die Gruppe-47-Forschung hat schon darauf hingewiesen, dass diese diskursive Totalisierung des Lagers, die Rede vom ‚Welt-KZ‘ auch ihren Anteil gehabt hat an der Enthistorisierung von Auschwitz in den westdeutschen 50er Jahren.48
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Andersch GW5/354. Eich, Günter: Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Band II: Hörspiele 1. Hg. v. Karl Karst. Frankfurt / M. 1991, S. 384. Eich, Günter: Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Band IV: Vermischte Schriften. Hg. v. Axel Vieregg. Frankfurt / M. 1991, S. 610. Vgl. u.a. Briegleb, Klaus: Missachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: „Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“. Berlin, Wien 2003; Döring, Jörg: „Mit Günter Eich im ‚Viehwagen‘. Die Träume der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft“. In: Günter Eichs Metamorphosen.
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Jörg Döring
Abb. 12: Gesamtansicht Konzeptionsblatt (unpag.) der HS Kirschen.
_____________ Marbacher Symposium aus Anlass des 100. Geburtstages am 1. Februar 2007. Hg. v. Carsten Dutt u. Dirk von Petersdorff. Heidelberg 2009, S. 141–161.
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Abb. 13: Detail Konzeptionsblatt (unpag.) der HS Kirschen: „Schleissheim (Die Literatur) √ Räterepublik √ Kurzsichtigkeit √ General Ludendorff √ Semmering Neuhausen √ Schule √ [unleserlich] Hitler-Putsch √ Konfirmation √ Pfarrer Kreppel √ Mein Vater √“
Sebald hat diesen Andersch-Satz von den „Lagern“ der Zukunft, die uns allen drohen, gar nicht kommentiert. In einem Resümee der gesamten KZ-Passage in den Kirschen der Freiheit verdiente er aber, beachtet zu werden: Der vermeintlichen „Leere“ und dem Kursorischen von Anderschs KZ-Beschreibung, die Sebald konstatiert, entspricht kehrseitig am Schluss des Kapitels eine rhetorische Überhöhung von Dachau als Menetekel eines gänzlich unspezifizierten Welt-KZ.
Was Sebald nicht wusste – Angelika Albert und die Konzeption der ‚Ur-Kirschen‘ Sebald schreibt in „Between the devil...“: „Die gewichtigste Auslassung in dem von Andersch in Kirschen der Freiheit rekapitulierten Bildungsroman ist die Geschichte seiner Ehe mit Angelika Albert.“49 Auch im Hinblick auf diesen biografischen Komplex, der im Zentrum von Sebalds Invektive gegen Andersch steht, lohnt der Gang ins Marbacher Literaturarchiv und die Konsultation der dort überlieferten handschriftlichen Materialien zu den Kirschen der Freiheit. Blättert man das Folioheft mit der Entwurfshandschrift bis ganz ans Ende, findet sich dort ein ebenfalls mit Bleistift beschriebenes Blatt eingeklebt, das sich als eine Art Konzeption für den inhaltlichen Aufbau der Kirschen der Freiheit entpuppt (vgl. Abb. 12). Das Blatt ist nicht datiert, aber es weist eine Überarbeitungsschicht auf, die nahe legt, dass es wie eine Art Fahrplan für den Prozess der Abfassung gedient hat. Zunächst hat es als Themensammlung fungiert, bei der Andersch, von dem bekannt ist, wie systematisch er als Autor zumeist
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Sebald: „Between the devil“, S. 81.
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Jörg Döring
Abb. 14: Detail Konzeptionsblatt (unpag.) der HS Kirschen: „Die Zeit nachher: Englischer Garten √ Italien √ Sendling √ Betriebe (Leonar, Mouson) √ Fotochemie [...]
Schiefer Turm Hamburg √
Das ebne Land √
Kampf zwischen Ästhetik, + Ethik in meinem Wesen √ – das ‚Vergessen‘ des KZ √ l‘amour? No! – Neurose √ Skifahren – Karneval Todesahnungen √“
gearbeitet hat,50 sich autobiografische Episoden notiert, die als Material für die Kirschen dienen sollen. Das heute nur noch sehr schwer lesbare Blatt hat ihm offenbar während der Verfertigung immer vorgelegen, denn in einem weiteren Überarbeitungsschritt hakt er jeweils mit einem anderen Bleistift ab, was er schon geschrieben hat (vgl. Abb. 13) – hier zum Beispiel seine Stichwortsammlung für das Anfangskapitel „Der Park zu Schleißheim“: Schleissheim (Die Literatur) √ Räterepublik √ Neuhausen √ Konfirmation √ Pfarrer Kreppel √ 51 Mein Vater √
Diese Überarbeitungsschicht der Häkchen zeigt aber auch an, welche thematischen Anteile einer ursprünglichen Konzeption am Ende – aus welchen Gründen der Selbstredaktion auch immer – nicht den Weg ins Buch schafften. Das Blatt dokumentiert damit einen thematischen Gesamtumfang einer – wenn man so will – Ur-Kirschen-Konzeption, der für
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Vgl. dazu zuletzt die visuelle Disposition des Autors zu Efraim, die Nikola Herweg vorgestellt hat. In: Herweg, Nikola: „Efraim: Abwertung oder Aufwertung Sansibars?“. In: Sansibar ist überall, S. 150–159. DLA A:Andersch 78.4801/unpag.
Zur Textgenese
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den Kontext der Sebald-Debatte hoch instruktiv ist. Sebald hatte ja vor allem die autobiografischen Auslassungen aus Anderschs Lebensgeschichte während des ‚Dritten Reiches‘ kritisiert, die seine Ehe mit Angelika Albert und die Umstände seiner Scheidung betreffen. Hier zeigt sich nun, dass Andersch zunächst sehr wohl darüber nachdachte, auch diese autobiografischen Realien in den Text einfließen zu lassen (vgl. Abb. 14): Zu sehen sind hier Anderschs Themenstichworte zu seiner (von ihm selbst so bezeichneten „Introversions“-Periode, nach der zweiten Verhaftung am 9. Oktober 1933 – die Zeit seiner Inneren Emigration während des ‚Dritten Reiches‘, seines Rückzuges ins Private und in die Literatur bis zu seiner ersten Einberufung in Hitlers Wehrmacht 1940, die in dem Kapitel „Das Fährboot zu den Halligen“52 abgehandelt ist und in die auch seine Ehe mit Angelika Albert fällt. Abgehakt sind auf dem Konzeptionsblatt: Die Zeit nachher: Englischer Garten Italien Sendling Betriebe (Leonar, Mouson) Hamburg Fotochemie [...]
Schiefer Turm Das ebne Land
Neben diesen entweder beruflichen oder topografischen Stichworten, die sich alle im späteren Text ausgeführt finden, hat Andersch zu diesem Kapitel noch weitere selbstreflexive Konzeptionselemente rechts oben nachgetragen, – wie zu sehen – teilweise abgehakt, teilweise aber auch wieder durchgestrichen: Kampf zwischen Ästhetik und Ethik in meinem Wesen Das ‚Vergessen‘ des KZ Neurose
Aber durchgestrichen ist: „l’amour No!“ und unten: „Geburt Susannes“, jene sein Liebes- und Familienleben mit Angelika Albert und die 1938 geborene erste Tochter Susanne betreffenden Stichworte. Über die Gründe dieser redaktionellen Entscheidungen können wir nur mutmaßen, das Konzeptionsblatt aber verdeutlicht, dass die Auslassungen, die Sebald anprangert, immerhin Teil einer Aushandlung des Autors mit sich selbst waren, die im Prozess der Verfertigung des Manuskriptes stattgefunden hat. Die ‚Verdrängung‘ von Angelika und der ersten Tochter Susanne aus dem autobiografischen Bericht war also nicht von allem Anfang an intendiert. Im Hinblick auf Sebalds Vorwurf wäre daraus
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Andersch GW5/355–363
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Jörg Döring
Abb. 15: Detail Konzeptionsblatt (unpag.) der HS Kirschen: „[unleserlich] die ‚Heil‘-Rufe √ La grand amour – die Eifel Krieg (Oberrhein √ Elsass √ Nordfrankreich √ Bombenkrieg zuhause Dänemark – Huxley, Brave New World“
Arbeit als Reisender Desertion mit Baedecker
zu folgern: Dass dieser private Komplex in der ‚Ur-Kirschen‘-Konzeption noch auftaucht, ändert nichts an den von Sebald inkriminierten Auslassungen in der Endfassung, im Gegenteil: Es erhöht ihr redaktionelles und textstrukturelles Gewicht. Der Textfund belegt, dass Andersch diesen heiklen Teil seiner Biografie in der Endfassung seines autobiografischen Berichtes Die Kirschen der Freiheit nicht etwa nur verdrängte, sondern offenbar bewusst aussparte. Nur weil Sebald – wie gesehen – den Gang ins Archiv scheute, blieb ihm ein zentraler Beleg seiner Argumentation unbekannt. Erneut ließe sich deshalb sagen: Sebald wußte gar nicht, wie recht er hatte.53 Interessant auch, dass diese Checkliste für den Inhalt der Kirschen auch Posten enthält, die weder abgehakt noch durchgestrichen sind (vgl. Abb. 15) und sie betreffen interessanterweise die Fortsetzung jener Liebesproblematik, die im Kontext der Scheidung von Angelika hätte thematisch werden müssen: „Le grand amour – die Eifel“ – der Beginn jener größeren Liebe zu Gisela Groneuer, seiner späteren zweiten Frau, die bekanntlich in den Kirschen ebenfalls nicht erwähnt wird. Dem Konzeptionsblatt zu entnehmen ist nun, an welcher Stelle des Berichtes die Erzählung dieser Liebesgeschichte ursprünglich vorgesehen gewesen war (im Umkreis des „Kameraden“-Kapitels). Aber auch „Le grand amour“ gehört final zu den Auslassungen des Buches. Zu einem späteren Zeitpunkt seiner Stoffentwicklung muss Andersch – aus welchen Gründen auch immer – die Entscheidung getroffen haben, die verwickelte Dreiecksgeschichte zwischen Angelika Albert, Gisela Groneuer und ihm,54 seine Liebes-, Ehe- und Kleinfamiliengeschichte aus seinem „Bildungsroman“ bis zur Desertion auszublenden.
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Für die Zuspitzung dieses Argumentes danke ich Markus Joch. Andersch lernte Gisela durch Angelika kennen, sie war eine Ferienbekanntschaft Angelikas aus dem Ostseebad Dahme 1940. Vgl. Reinhardt: Alfred Andersch, S. 72ff.
Zur Textgenese
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Abb. 16: Detail Konzeptionsblatt (unpag.) der HS Kirschen: „Italien – Desertion Gefangenschaft – USA – Arbeit auf dem Friedhof Rückkehr Niemals nach Amerika NZ Gründung des Ruf Die Hungerjahre – die Nazis, Glanz + Elend Ende des Ruf Sartre (die deutsche Literatur i.d. Entscheidung) – Anouilh, Antigone – Merleau-Ponty“
Zu den größten Überraschungen dieser Konzeption der Ur-Kirschen aber gehört, dass Andersch ursprünglich offenbar auch über eine Verlängerung des in den Kirschen der Freiheit dargestellten Berichtszeitraums nachdachte: über die Desertion weit hinaus bis in die Gegenwart des Schreibenden reicht seine Themensammlung (vgl. Abb. 16): Unter „Italien, Desertion“ erkennt man einen Kapitelstrich. Aber er erwog offenbar ursprünglich, auch die weiteren Stationen seiner Nachkriegsgeschichte zu verhandeln: die Gefangenschaft in den USA, die Rückkehr nach Deutschland, seine Zeit bei der Neuen Zeitung in München, als Redakteur des Ruf, schließlich seine erste Buchveröffentlichung: die zeitgenössisch höchst bedeutsame literaturkritische Abhandlung über die „Deutsche Literatur in der Entscheidung“ von 1948. Auch dieser überraschende Aspekt der Ur-KirschenKonzeption verdient, im Lichte der Sebald-Vorwürfe gelesen zu werden: Hier zeigt sich, dass Sebalds skandalisierende Erörterung der privaten Auslassungen im autobiografischen Bericht entschieden zu kurz greift. Auch die erzählerische Verhandlung seiner beruflichen Nachkriegsstationen hat Andersch zunächst erwogen, schließlich verworfen. Diese bislang unbekannte Kürzung und die bekannten, von Sebald inkriminierten Auslassungen gleichen sich in dem einen textstrukturellen Beweggrund, seinen Bericht in allererster Linie auf die Deserteursthematik zu
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Jörg Döring
konzentrieren. Die Auslassungen in der Endfassung haben daher gewiss nicht nur selbstlegitimatorische, sondern immer auch kompositorische Gründe.55 Wie immer bei solchen textgenetischen Erörterungen zu Fragen der Stoffplanung, Arbeitsweise, Schreibphantasien und -intuitionen im Vergleich mit der späteren Durchführung schießt mir der Zitatklassiker aus Walter Benjamins Einbahnstraße durch den Kopf (aus: „Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen“): „das Werk“ sei „die Totenmaske der Konzeption“.56 Und ich gestehe, neugierig darauf geworden zu sein, wie es wäre, die Kirschen der Freiheit zu lesen, wenn Andersch an seiner ursprünglichen Konzeption festgehalten hätte.
Schluss Eine Autopsie der Handschrift von den Kirschen der Freiheit im Entwurfsstadium ermöglicht Rückschlüsse auf die Schreibszene des Autors, auf den Prozess der Selbstredaktion eines erinnernden Ichs, das einen ostentativ als autobiografisch reklamierten Text verfertigt. Die Entwurfshandschrift (im Vergleich mit dem kurz danach autorisierten) edierten Text zeigt drei der vier wesentlichen „rhetorischen Änderungskategorien“ im Sinne Stingelins, hier die des Streichens, Ersetzens und Hinzufügens, die indizieren, an welchen Stellen der Autor seine autobiografische Selbstdarstellung besonders zu kontrollieren beabsichtigt, indem er den Fluss der Schreibhand in der Erstniederschrift unterbricht und korrigiert. Gerade die Inspektion solcher Passagen erschien von Interesse, weil sie auf bedeutungsintensive Stellen aufmerksam machen konnte, an denen das erinnernde Ich seinen autobiografischen Text einer gleichsam literarischen Redaktion unterzieht. Ersetzt wird auf der Gestaltungsebene der Paratexte der ursprüngliche Titel „Darstellung meiner Existenz“ durch „Die Kirschen der Freiheit“ und gestrichen wird die ursprüngliche Widmung für die Wehrmachtssoldaten zugunsten eines Mottos, in dem die den Text leitende Deserteursthematik alludiert wird. Gestrichen wird ebenfalls eine als vorzeitig empfundene Erzählerreflexion über das in programmatischer Hinsicht wichtigste stilistische Mittel des gesamten Textes, die satzgrammatische Elision des Erzähler-Ichs. Hinsichtlich der autobiografischen Genauigkeit des Textes interessierte auch eine Marginalie der Entwurfshandschrift, die als
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Dank an Markus Joch. In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1. Hg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt / M. 1991, S. 107.
Zur Textgenese
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Abb. 17: Detail S. 42 der HS Kirschen.
Selbstredaktionshinweis zu verstehen war:„[...] genauer der Wahrheit entsprechend“ zu schreiben, dazu ermuntert sich der Autor im Vollzug der Überarbeitung seiner Erstniederschrift. In der vor dem Hintergrund der Sebald-Debatte um Andersch besonders umstrittenen KZ-Passage der Kirschen zeigt die Handschrift, wie Streichungen und Hinzufügungen miteinander korrespondieren: der Streichung des erzähler-reflexiven Imperativs „Ich will nicht beschreiben, was dann kam“ am Anfang der Passage entspricht folgerichtig die Hinzufügung und – wie zu sehen war: literarisierende – Ausschmückung bestimmter Beschreibungselemente im darauf folgenden Textteil (die Einfügung von Personal mit Gesicht und Klarnamen, die literarische Umgestaltung der Juden als Mithäftlingsgruppe). Dieser Befund ist dazu angetan, das Urteil Sebalds über die KZ-Passage in den Kirschen der Freiheit, sie sei im Wesentlichen „eigenartig leer und kursorisch“, seinerseits als ein kaum mehr als kursorisches zu qualifizieren. Der abschließende Blick auf die erhaltenen Konzeptionsskizzen Anderschs für den Text als ganzen konnten verdeutlichen, dass die von Sebald besonders inkriminierten autobiografischen Auslassungen in Bezug auf die verwickelten Liebes-, Ehe- und Scheidungsgeschichten des Autors im Berichtszeitraum seines „Bildungsromans“ nicht vom Anfang der konzeptionellen Planung des Buches an intendiert waren. Sehr wohl dachte Andersch ursprünglich darüber nach, seine erste Ehefrau Angelika, seine älteste Tochter Susanne und die Geliebte (und spätere zweite Ehefrau) Gisela Groneuer in den Kirschen der Freiheit mitzuerzählen. Im Vollzug der Niederschrift muss er sich entschlossen haben, diesen – ich nenne ihn jetzt: privaten – Erzähl-Komplex vielleicht zugunsten einer stärkeren Konzentration auf die Deserteursthematik außen vor zu lassen.
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Jörg Döring
Ein letzter Blick auf die Handschrift verdeutlicht (vgl. Abb. 17), dass Andersch die im Hinblick auf die autobiografische Kontur seines Textes entscheidenden Bekenntnissätze des Erzählers flüssig in Reinschrift bringt – ohne jedes Zögern der Schreibhand, ohne Streichungen oder Hinzufügungen: Dies Buch will nichts als die Wahrheit sagen, eine ganz private und subjektive Wahrheit. Aber ich bin überzeugt, dass jede private und subjektive Wahrheit, wenn sie nur wirklich wahr ist, zur Erkenntnis der objektiven Wahrheit beiträgt.57
Literatur „Alfred Andersch im Gespräch mit Jürg Acklin, Berzona, 19./20. Januar 1980“. In: Über Die Kirschen der Freiheit von Alfred Andersch. Hg. v. Winfried Stephan. Frankfurt /M. 1992, S. 198–202. Andersch, Alfred: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe. Erzählungen 2. Autobiographische Berichte, Bd. 5. Hg. v. Dieter Lamping. Zürich 2004. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1. Hg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt / M. 1991. Berbig, Roland: „Das Onsernone-Tal zu gewissen Zeiten. Alfred Andersch und Max Frisch in Berzona“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt – in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Anette Andersch-Korolnik. München 2008, S. 85–94. Böttiger, Helmut: „Beschreibungsimpotenz. Die Gruppe 47, Alfred Andersch & Co: Über einige Klischees der jüngeren Literaturgeschichtsschreibung“. In: Süddeutsche Zeitung vom 14. Februar 2011. Briegleb, Klaus: Missachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: „Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“. Berlin, Wien 2003. Döring, Jörg: „Mit Günter Eich im ‚Viehwagen‘. Die Träume der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft“. In: Günter Eichs Metamorphosen. Marbacher Symposium aus Anlass des 100. Geburtstages am 1. Februar 2007. Hg. v. Carsten Dutt u. Dirk von Petersdorff. Heidelberg 2009. Eich, Günter: Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Band II: Hörspiele 1. Hg. v. Karl Karst. Frankfurt / M. 1991. – Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Band IV: Vermischte Schriften. Hg. v. Axel Vieregg. Frankfurt / M. 1991. Lamping, Dieter: „Erzählen als Sinn-Suche. Formen und Funktionen autobiographischen Erzählens im Werk Alfred Anderschs“. In: Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Hg. v. Rüdiger Zymner u.a. Köln 2000, S. 217–229. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Aus dem Frz. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt / M. 1994. „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hg. v. Martin Stingelin in Zusammenarbeit mit Davide Giuriato und Sandro Zanetti. München 2004. Nikola Herweg: „Efraim: Abwertung oder Aufwertung Sansibars?“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt – in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Anette Andersch-Korolnik. München 2008, S. 150–159. Peitsch, Helmut: „Deutschlands Gedächtnis an seine dunkelste Zeit“. Zur Funktion der Autobiographik in den Westzonen Deutschlands und den Westsektoren von Berlin 1945–1949. Berlin 1990. Reinhardt, Stephan: Alfred Andersch. Eine Biographie. Zürich 1990.
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Andersch GW5/373; DLA A:Andersch 78.4801/42.
Zur Textgenese
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Schütz, Erhard: Alfred Andersch. München 1980. Sebald, W.G.: „Between the devil and the deep blue sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden in der Vorsehung“. In: Lettre International 20 (1993), S. 80–84. Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt – in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Anette Andersch-Korolnik. München 2008, S. 31–41. Wehdeking, Volker: Alfred Andersch. Stuttgart 1983. – „Literarische Programme der frühen Nachkriegszeit“. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 21 (1990) H. 2, S. 2–15.
ROLF SEUBERT
„Mein lumpiges Vierteljahr Haft ...“ Alfred Anderschs KZ-Haft und die ersten Morde von Dachau Versuch einer historiografischen Rekonstruktion Dieses Buch will nichts als die Wahrheit sagen, eine ganz private, subjektive Wahrheit. Alfred Andersch1
I Einleitung: Andersch im Bendlerblock2 In der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin hängt ein Bild des Schriftstellers Alfred Andersch. Es zeigt den 30-Jährigen in US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft: Ein Schild um den Hals mit der Aufschrift: „BIG256983, Andersch, Alfred“. Präsentiert wird ein selbstbewusster Kriegsgefangener, einer, der am 6. Juni 1944 „die Fähigkeit zu wählen demonstriert“ hatte, indem er nach eigenem Bekunden in Italien zu den Amerikanern desertierte. Dies sei sein „vorgezogener 20. Juli“ gewesen. Mit dieser Darstellung bezog sich Andersch bewusst auf die Widerstandskämpfer des missglückten Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944. Um den Krieg zu überleben, der nicht seiner war, habe er als ehemaliger KZ-Häftling der „Kanalratte“, wie er Adolf Hitler 1952 in Die Kirschen der Freiheit nennt, den erzwungenen Eid aufgekündigt.3 Und auch die KZ-Gedenkstätte Dachau ehrt den ehemaligen „Schutzhaftgefangenen“ in ihrer Dauerausstellung mit einem Zitat, das auf seine frühe KZ-Haft bezogen ist: „Ich dachte an die Tage, die ich in Dachau verbrachte, entsann mich des Anblicks der hellen, langgestreckten Baracken aus Zement, in die manchmal, nach dem
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Andersch, Alfred: Die Kirschen der Freiheit. Frankfurt / M. 1952 (im Folgenden KdF). Mein Dank gilt der vielfältigen Hilfe der Mitarbeiter in den bayerischen Archiven, insbesondere dem Stadtarchiv Nürnberg, dem Hauptstaatsarchiv und Staatsarchiv in München, dem Universitätsarchiv Würzburg und der Gedenkstätte Konzentrationslager Dachau. Mein besonderer Dank gilt Archivamtmann Robert Bierschneider vom Staatsarchiv München, ohne dessen kompetenten Rat und Hilfe das Auffinden der an verschiedensten Orten gelagerten Archivbestände nicht möglich gewesen wäre. KdF, S. 103.
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Appell, der SS-Mann Waldbauer hereingekommen war [...]“.4 Andersch nennt sein Erstlingswerk Die Kirschen der Freiheit einen autobiografischen „Bericht“. Alfred Andersch 1933: Ein junger arbeitsloser Außenseiter, einer, der aus dem reaktionären Umfeld seines Vaters ausbrach, weil er dessen völkisch-nationalistische Deutschtümelei als Mitglied der reaktionären ThuleGesellschaft und als aktiver Anhänger von Ludendorff und Hitler nicht mehr ertrug. An deren missglücktem Putschversuch vom 9. November 1923 hatte der Vater teilgenommen. In den späten 1920er Jahren versank die Familie im wirtschaftlichen Elend. Das Schicksal des schwer kriegsbeschädigten und zuckerkranken Vaters, dessen qualvolles Sterben Andersch als Junge miterlebte, war, wie er in Die Kirschen der Freiheit eindrucksvoll schildert, eine schwere seelische Belastung. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass er als ein aufmüpfiger Schüler bereits 1928 wegen Schulversagens das Gymnasium verlassen musste, um eine Buchhändlerlehre im Wega-Verlag zu beginnen. Diese familialen Details rekonstruiert sein Biograf Stephan Reinhardt akribisch.5 Nach der Lehre arbeitslos wie Hunderttausende seiner Altersgenossen suchte Andersch alternative Orientierung. Er fand Anschluss an eine Gruppe von Jungkommunisten in seinem Münchner Stadtteil Neuhausen. „Ich betrat den Boden des Kommunismus mit dem gespannten Entzücken dessen, der zum erstenmal seinen Fuß auf einen jungfräulichen Kontinent setzt. [...] Das Wort Revolution faszinierte mich.“6 Im Winter 1932/33 hockten die meist arbeitslosen Jugendlichen diskutierend in ihrem Stammlokal in der Volkartstraße. Sie schrieben und verteilten Flugblätter, organisierten „kurze, illegale StoßDemonstrationen“, riefen dabei die „Arbeiterklasse“ zum revolutionären Kampf auf, bis die Polizei oder die SA sie auseinander trieb. In diesem Kampf schrieb sich Andersch eine immer bedeutendere Führungsfunktion im Kommunistischen Jugendverband (KJV) Bayerns zu: „Ich wurde ein Funktionär. Mit achtzehn Jahren war ich, trotz meiner Herkunft als ‚kleinbürgerlicher Intellektueller‘, bereits Organisationsleiter des Kommunistischen Jugendverbands von Südbayern.“7 Diese Selbstdarstellung übernahmen spätere Autoren, die sich mit der Rolle Anderschs in der Phase der Machtergreifung in München und des jungkommunistischen Widerstands befassten.8 Auch sein Biograf Rein-
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Ebd, S. 43. Reinhardt, Stephan: Alfred Andersch. Eine Biographie. Zürich 1990. KdF, S. 25. Ebd., S. 27. Ohne Nachweis übernahm Hans-Günter Richardi diese Selbstdarstellung Anderschs in Schule der Gewalt. Die Anfänge des Konzentrationslagers Dachau 1933–1934. Ein dokumentarischer Bericht. München 1983, S. 252. Ebenso Reinhardt in Andersch, S. 36.
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hardt folgte – da wo Andersch die Anfangszeit des ‚Dritten Reiches‘ beschrieb – der in den Kirschen der Freiheit als autobiografisch ausgegebenen Version von Anderschs Lebenserzählung. Allerdings gibt es an der Behauptung, in den Kirschen sei – wie der Autor beteuert – „nichts als die Wahrheit“9 erzählt, heute erhebliche Zweifel. Sie wurden jüngst von Johannes Tuchel geäußert, Leiter der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Er rät zu „äußerster quellenkritischer Vorsicht“ bei der Bewertung der Aussagen Anderschs und des Materials aus dem Familienarchiv, in das auch Biograf Reinhardt Einblick hatte. Tuchel hat zwar keine neuen Quellen erschlossen, jedoch resümiert sein Aufsatz „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“ den Forschungsstand und benennt die Stellen, an denen historische Erkenntnis und subjektive literarische Verarbeitung bedeutsamer Ereignisse des Jahres 1933 nicht übereinstimmen.10 Hier soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, den historischen Gehalt der autobiografischen Lebenserzählung von Alfred Anderschs Die Kirschen der Freiheit quellenkritisch zu überprüfen – und das auch unter Inanspruchnahme neuer Quellen, die nicht von Andersch selbst oder aus dessen Familiengedächtnis bereitgestellt wurden. Die Analyse bezieht sich dabei nur auf einen der drei biografischen Komplexe der Lebensgeschichte von Andersch während des ‚Dritten Reiches‘, deren Darstellung in den Kirschen der Freiheit von Johannes Tuchel jüngst in Zweifel gezogen wurde: die Vorgeschichte und die Darstellung von Anderschs Haftzeit im KZ Dachau im März/April 1933. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es handelt sich dabei ausdrücklich nicht um eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Anderschs Text als literarischem Werk, sondern um eine historiografische Analyse. Wie ist der Quellenwert der Kirschen als autobiografischer Text einzustufen, und zwar im Hinblick darauf, was heute noch – unabhängig von Anderschs Selbstaussagen – über seine Lebensgeschichte im Jahr 1933 und die von ihm geschilderten Vorgänge im KZ Dachau im März/April 1933 aussag- und überprüfbar ist? Unter literaturwissenschaftlichen Prämissen setzt sich ein solches Vorgehen sicherlich dem Vorwurf der erkenntnislogischen Naivität aus. Ein literarischer Text braucht bekanntlich nicht die Wahrheit zu sagen. Bei einem autobiografischen Text mag dieses Vorgehen gleichwohl berechtigt erscheinen, zumal der einen Gutteil seiner Wirkung bis heute aus dem Pakt mit dem Leser bezieht, der besagt, das Erzählte sei wahr (ein Pakt, den Andersch
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KdF, S. 73. Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch: Seine Welt – in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Anette Korolnik-Andersch. München 2008, S. 30–41.
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bis zum Ende seines Lebens weiter bekräftigte). Ohne jede literaturkritische Wertung zum Werk Anderschs soll hier lediglich quellenkritisch überprüft werden, wie historisch-plausibel die in den Kirschen der Freiheit gegebene Version einer Lebenserzählung und der Schilderung historischer Vorgänge des Jahres 1933 tatsächlich ist. Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung um die Ergebnisse dessen sollen dann wiederum die Philologen führen. Ein Urteil dazu kann und will sich der Historiker nicht anmaßen. Teil dieser Analyse ist ein langer Exkurs zu den ersten Toten im KZ Dachau: wer sie waren, wie sie hingerichtet wurden, wer dazu ermittelte und später dazu aussagte. Andersch erzählt seine (stark verkürzte) Version ihrer Geschichte in der KZ-Passage in den Kirschen der Freiheit.11 Ich nehme mir hier die Freiheit (und die Herausgeber dieses literaturwissenschaftlichen Sammelbandes räumen sie mir freundlicherweise ein), sie ausführlicher darzustellen, auch weil die Rekonstruktion dieser Geschichte – die Geschichte der ersten Lagertoten des ‚Dritten Reiches‘ – in der hier angestrebten Genauigkeit ein historiografisches Desiderat darstellt.
II Andersch und der Kommunistische Jugendverband (KJV) Südbayerns Erste Zweifel kommen auf, ob Andersch wirklich jener einflussreiche Organisationsleiter des KJV-Südbayern war, der in München, wie er schreibt, über „etwa tausend Mitglieder“ verfügen konnte, die, „straff organisiert, durch die Kader der Partei ergänzt, mit einheitlichen Waffen versehen, [...] München in zwei Stunden in eine tobende Hölle hätte verwandeln können“.12 Und weiter meint er: „Wenn wir uns zur Tat entschlossen hätten“, dann wären ihnen auch die Arbeiter gefolgt.13 Aber niemand habe den Befehl zur Aktion gegeben. Andererseits argumentiert er, die Republik, die „schon lange im Sterben gelegen hatte“, sei endlich tot gewesen, „gestorben“ am Versagen der KPD, der SPD und der „bürgerlichen Mitte“. Warum aber hätte angesichts solcher Diagnose noch jemand kämpfen sollen?
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KdF, S. 44. KdF, S. 38f. Ebd., S. 39.
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Abb. 1: Vertraulicher Bericht der Politischen Polizei Bayerns über ‚Linksbewegung‘ vom Oktober 1932.
Nimmt man Anderschs Erzählung auch als historische Darstellung, als ernst gemeinten „Beitrag zur Erkenntnis der objektiven Wahrheit“,14 wie er schreibt, überschätzte der Autor sich selbst und die Möglichkeiten seiner kleinen Neuhauser KJV-Gruppe, auf die er Einfluss hatte. Denn dass er darüber hinaus südbayerischer Organisationsleiter des KJVD war und als solcher die Möglichkeit hatte, eine große Anzahl Anhänger zu mobilisieren, dafür gibt es keine Belege. Im Gegenteil: aus einem vertraulichen Lagebericht der Bayerischen Politischen Polizei vom 3. Oktober 1932 über die „Linksbewegung“ geht hervor: „Die Bezirksleitung der Kommunistischen Jugend Südbayerns wurde neu gebildet. Politischer Leiter ist nunmehr Jiru Gebhardt, Polierer, [...] Organisationsleiter ist der Malergehilfe Pfaller Alois [vgl. Abb. 1 u. 2, R.S.], [...], und Agitpropleiter ist der Malergehilfe Eckhard Karl, Monteur [...]“.15 Der Name Andersch taucht in diesem Bericht nicht auf. Hartmut Mehringer – einer der besten Kenner der Geschichte der KP Münchens am Vorabend der Machtergreifung – schreibt, für die angeblich hohe Stellung Anderschs als südbayerischer Organisationsleiter gebe es keine Belege. Auch hält er die Angaben Anderschs über die Münchner Mitgliederzahlen des KJVD für „sicherlich zu hoch gegriffen“.16
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Ebd., S. 73. München, den 3. Oktober 1932, Vertraulich! Linksbewegung, Unterkapitel: Kommunistischer Jugendverband Deutschlands, S. 16, BayHStA, MA101235/3. Mehringer, ehemals Leiter der Außenstelle Berlin des Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in einer Mitteilung an den Verf. vom 19. Juli 2007: „Ich halte die Aussage von Andersch, er sei der letzte Orgleiter des KJVD [für Südbayern, R.S.] im Jahr 1933 gewesen, für zumindest frag-
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Abb. 2: Auszug aus dem vertraulichen Bericht der Politischen Polizei Bayerns über ‚Linksbewegung‘ vom Oktober 1932.
Überhaupt sei der Jugendverband von nur „geringer Attraktivität unter der Jugend“ gewesen, zumal seine Hauptaufgaben allenfalls in der „Unterstützung politischer Initiativen der KPD durch Agitprop-Veranstaltungen
_____________ würdig.“ Zur Geschichte der bayerischen KPD, insbesondere des bayerischen KJVD siehe Mehringer, Hartmut: „Die KPD in Bayern 1919–1945. Vorgeschichte, Verfolgung und Widerstand“. In: Bayern in der NS-Zeit. Bd. 5. Die Parteien KPD, SPD, BVP in Verfolgung und Widerstand. Hg. v. Hartmut Mehringer, Anton Großmann u. Klaus Schönhoven, München u. Wien 1983, S. 1–286, hier S. 43.
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und Hilfsdienste“ bestanden hätten.17 Andersch dürfte also kaum mehr als ein aktives Mitglied seiner kleinen Neuhauser Gruppe gewesen sein. Wieso aber geriet er bereits wenig später in die Fänge der Polizei? Otto Kohlhofer, ein Mitglied dieser Gruppe, erinnert sich: Ihr Stammlokal sei am 5. März 1933 von einem SA-Trupp überfallen worden, der sich bereits die Funktion einer Hilfspolizei angemaßt hatte. Kohlhofer: Es war der Abend der letzten ‚freien‘ Reichstagswahlen, bei denen die Nazis trotz aller Propaganda und Terror nur 38,7 Prozent der Stimmen bekamen. In diese Arbeiterwirtschaft, in deren Hinterzimmer sich die KPD-Zentrale befand, stürmte die SA mit vorgehaltener Pistole und stellte die Namen der Anwesenden fest.18
Kohlhofer bestätigt auch, dass Alfred Andersch zur Neuhauser Gruppe gehörte und oft in diesem Lokal verkehrt habe.19 Diesen Überfall durch die SA beschreibt auch Andersch: „In diesem Augenblick hörten wir draußen das Getrappel eiliger Schritte, dann flog die Tür auf [...] Wir fuhren hoch, denn das Gesicht des langen Bertsch war völlig von Blut überströmt, und er schrie: ‚Die SA!‘“20 Man stürzte, mit Stahlruten bewaffnet, auf die Straße und vertrieb die Angreifer. Allerdings verwandelt Andersch, im Gegensatz zu Kohlhofer, die Niederlage im Nachhinein in eine gelungene Abwehrschlacht. So endete die letzte Sitzung der Neuhauser Gruppe vor ihrer Auflösung. Andersch steht nun auf der von der SA erhobenen Liste der Jungkommunisten. Es sind nur noch wenige Tage bis zum 9. März, dem Tag, an dem sich die Nationalsozialisten in München anschickten, endgültig die Macht zu erobern. Tage zuvor hatte die Führung der NSDAP den Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar zur endgültigen Errichtung ihres Terrorregimes genutzt. Bereits wenige Stunden nach dem Brand erging die scheinbar harmlos klingende Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat.21 Allerdings ermöglichte sie die Aushebelung aller verfassungsrechtlich garantierten persönlichen Grund- und Freiheitsrechte. Danach war es möglich, die politische Opposition zur „allgemeinen Gefahrenabwehr“ willkürlich, d.h. ohne Haftbefehl, auf unbestimmte Zeit in sogenannter „Schutzhaft“ festzuhalten. Die Gefangenen erfuhren keinen Haftgrund und hatten kein Recht auf einen Anwalt oder auf richterliche Haftprüfung. Mit dieser Verordnung war es Hitler möglich, den dauerhaften Ausnahmezustand herzustellen. Auf dieser Grundlage sicherte sie
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Ebd., S. 44. Willmitzer, Christa u. Peter: Deckname „Betty Gerber“. Vom Widerstand in Neuhausen zur KZGedenkstätte Dachau. Otto Kohlhofer 1915–1988. München 2006, S. 23f. Ebd., S. 24. KdF, S. 32. Reichsgesetzblatt I, 1933, S. 83.
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auf Dauer ein „Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt“ war, wie der ins Exil geflüchtete Berliner Rechtsanwalt Ernst Fraenkel schrieb.22 Mit diesem Freibrief zur Aushebelung der Verfassung vermochte Hitler den an das Recht gebundenen „Normenstaat“ durch den prinzipiell willkürlichen „Maßnahmenstaat“ zu ersetzen. Diese Verordnung ist für die weitere Rechtsentwicklung des NS-Systems von maßgeblicher Bedeutung; sie bildete die pseudolegale Grundlage für die Suspension des Rechtsstaats aus der Weimarer Republik. Bayern war bis zum 9. März das letzte Reichsland, das noch nicht ‚gleichgeschaltet‘ war. An diesem Tag entschied die Reichsregierung, die legale bayerische Regierung des Ministerpräsidenten Held im Handstreich abzulösen. Für die bayerische NSDAP-Führung war schnelles Handeln wichtig, denn der Fehlschlag des Putschversuchs von 1920 ließ befürchten, dass die Gewerkschaften erneut mit einem Generalstreik reagieren könnten.23 Und auch der missglückte Marsch auf die Feldherrnhalle war noch in unguter Erinnerung. Also ließ die Münchner Parteileitung tagsüber durch starke Einheiten der SA und SS in der Stadt für Unruhe sorgen.24 Ein Zentrum des Aufmarsches war das Münchner Gewerkschaftshaus in der Pestalozzistraße, das im Laufe des Tages besetzt wurde. In seinen Räumen waren auch die Zentrale des ‚Reichsbanners‘ sowie die SPD-Zentrale Münchens und Oberbayerns. Von dieser „Zentrale des marxistischen Terrors“ erwartete die NSDAP den organisierten Widerstand.25 Zahlreiche Zuschauer verfolgten das Geschehen rund um die Pestalozzistraße. Unter ihnen befand sich auch das junge KJVD-Mitglied Alfred Andersch. In Die Kirschen der Freiheit beschreibt er die dramatische Situation aus seiner Sicht: Als an jenem Märztag des Jahres 1933 das Gewerkschaftshaus von der SA besetzt wurde, standen die Arbeiter in den Straßen um das Gebäude. [...] Sie standen vollständig schweigend bis zum Rande des Trottoirs, während auf der Straße, die sie freigelassen hatten, manchmal eine SA-Kolonne vorbeimarschierte. [...] Als die Stunden vergingen, wurden die Bewegungen des Feindes immer geringer, ein grauer Nachmittag zog herauf, in dessen Märzlicht wir auf die leere Fahrbahn blickten. Dann näherte sich vom Gewerkschaftshaus her ein Motorradfahrer der SA. Er trug ein braunes Hemd, schwarze Breeches und einen schwarzen Sturz-
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Vgl. hierzu die immer noch gültige exemplarische Analyse des Spannungsverhältnis von Normenstaat vs. Maßnahmenstaat im ,Dritten Reich‘ von Fraenkel, Ernst: Der Doppelstaat. 2. Aufl., Hamburg 2001, S. 49 (Einleitung zur amerikanischen Ausgabe von 1940). Zur Angst der Nationalsozialisten vor einem möglichen Generalstreik vgl. Mason, Timothy: Sozialpolitik im Dritten Reich. Opladen 1977, insb. S. 81–89. S. hierzu Longerich, Peter: Heinrich Himmler. Biographie. München 2008, S. 158ff. BayHStA, Bestand Reichsstatthalter 37/1.
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helm. Aus irgendeinem Grund verlor er plötzlich die Herrschaft über das Motorrad, er rutschte und schmetterte mit der Maschine zu Boden. Das wäre der Augenblick des Aufstandes gewesen, der Deutschland vielleicht ein anderes Gesicht gegeben hätte. Ich stand, die Arme an den Körper gepresst, und fühlte, wie sich meine Hände zu Fäusten ballten. Jetzt eine kleine Bewegung nur, ein einziger Schrei, und alles käme in Gang: der prasselnde Regen von hundert Fäusten auf den Mann, der Sturmlauf zum besetzten Haus, das Knattern von Gewehrsalven, zusammenbrechende Körper, [...] die Eroberung, der Sieg, die Tat. Sicherlich, es wäre nur ein kleiner Sieg gewesen, eine rasch verwehende Tat, morgen ausgelöscht vom Orkan der Niederlage, – aber er hätte genügt, hätte den Staatsstreich in ein für alle sichtbares Blutbad verwandelt und den Schein der ‚Ordnung‘ zerstört. Aber ich stieß den Schrei nicht aus. Niemand. Der Fahrer stand auf, klopfte sich den Staub ab und richtete die Maschine wieder auf.26
Was Andersch hier im autobiografischen Bericht schildert, hält einer Überprüfung kaum stand. Der nüchtern-detaillierte Bericht des Einsatzleiters der Landespolizei vor dem Gewerkschaftshaus zeigt, dass ein einsamer Schrei wohl kaum die beabsichtigte Wirkung gehabt hätte. Denn angesichts des massiven Aufgebots an bewaffneten Einsatzkräften von annähernd tausend Mann SA, SS und Landespolizei wäre jeglicher Widerstand zwecklos gewesen. Dies wird im Folgenden durch den Bericht des Einsatzleiters der bayerischen Landespolizei verdeutlicht, der nüchtern den Ablauf der dramatischen Stunden wiedergibt: Am Abend des 9. März, 19.28 Uhr, erhielt ich den Auftrag, mit der 8. Pol.[izei-] Hundertschaft zum Gewerkschaftshaus zu fahren, um dort als gemeinsamer Führer der 8. und bereits eingesetzten 4. Pol.Hundertschaft für die Freimachung der Straße und Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung mit allen Mitteln zu sorgen. Es war bekannt, dass von der S.A. ein Ultimatum auf Hissen der Hakenkreuzflagge innerhalb einer Viertelstunde gestellt war, sonst war Schießen angedroht. Beim Eintreffen um 19.40 Uhr war vor dem Gewerkschaftshaus die Lage so, dass von der 4. Pol.Hundertschaft die angrenzenden Straßen abgesperrt waren; hinter der Absperrung befand sich eine zahlreiche Zuschauermenge, innerhalb der Absperrung vor dem Gewerkschaftshaus standen S.A.-Abteilungen mit Fahnen in geordneten Viererreihen in der Stärke von 600–800 Mann. Vom Gewerkschaftshaus wehte bereits die Hakenkreuzfahne; das Gewerkschaftshaus war von S.A. und SS besetzt. Bei Betreten begann soeben ein Redner (Gaubetriebszellenleiter Frey) mit einer Ansprache an die versammelten S.A.-Formationen, die mit einem ‚Heil‘ auf Deutschland und dem Absingen des Deutschlandliedes nach kurzer Zeit endete. Nach Meldung an das Kommando über Eintreffen und die vorgefundene Lage erhielt ich vom Kommando den Auftrag, die S.A. zu veranlassen,
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Ebd., S. 37. Auf S. 40 erwähnt Andersch den 7. März, die „nächtliche Stunde“, in der er, „umbrandet von den Kampfliedern der SA [...] dumpf das Sterben einer Partei (erlebte), der wir uns angeschlossen hatten, weil wir sie für spontan, frei, lebendig und revolutionär hielten“.
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das Gewerkschaftshaus zu verlassen und das Gewerkschaftshaus selbst mit Polizei zu besetzen. Der dort verantwortliche Standartenführer Bunge erklärte mir, dass er dem Befehl seiner vorgesetzten Stelle folgen müsse, dass die S.A. die Verpflichtung übernommen habe, dass keine Zerstörungen im Gewerkschaftshaus erfolgen und der Gewerkschaftsführer Schiefer um 8 Uhr zur Übernahme der Gewerkschaftsräume wiederkomme. Nach telefonischer Rücksprache mit seiner vorgesetzten Stelle, ob er dem Befehl der Polizei folgen solle, teilte er mir den Bescheid mit, dass die S.A. das Haus weiterhin besetzt halte, dass nichts im Wege steht, wenn die Polizei gemeinsam mit der S.A. das Haus besetzt halte und dass inzwischen die Mitteilung von Berlin eingetroffen sei, dass General von Epp zum Reichskommissar von Bayern ernannt und meine Weisung von der Pol.Direktion wohl hinfällig sei. Nach Meldung an das Kommando um 8.25 Uhr an Pol.Hauptmann Erhard über die neue Lage erhielt ich die Ernennung von General Epp bestätigt und die Weisung, dass die S.A. das Gewerkschaftshaus besetzt halte und die Landespolizei weiterhin für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung auf den Straßen zu sorgen habe. Zur Durchführung dieser Aufgabe genügten die Absperrungen der 4. Pol.Hundertschaft, die 8. Pol.Hundertschaft wurde geschlossen in Reserve gehalten; zeitweise mussten größere Ansammlungen hinter der Absperrung zur Aufrechterhaltung des Durchgangsverkehrs zerstreut werden, was ohne Mühe gelang. Um 21.12 Uhr erhielt ich den Befehl des Kommandeurs zum Abrücken der gesamten Polizeikräfte, welches um 21.20 Uhr nach Übergabe des Dienstes an die Einzelpolizei und nach Mitteilung an den S.A.-Führer im Gewerkschaftshaus erfolgte.27
Und auch die „zahlreiche Zuschauermenge“ zerstreute sich angesichts der Machtdemonstration. Andersch selbst kommentiert das Ende dieses Abends: „[...] wir gingen auseinander. Jeder für sich war wieder allein. Es gab keine revolutionären Massen.“28 Der Polizei war es ein Leichtes, ‚Ruhe und Ordnung‘ herzustellen und die Zuschauer schlicht nach Hause zu schicken. Ähnlich war die Situation vor dem Münchner Rathaus und dem Sitz der Regierung. Die befürchtete Generalstreikgefahr erwies sich als unbegründet; weder die Parteien noch die Gewerkschaften waren auf eine Abwehr dieses Putschs vorbereitet. Andersch verlor an diesem Abend seinen Glauben an die revolutionäre Kraft der Massen und seiner Partei: Angesichts der unvermeidbaren Niederlage hatte er dennoch nur noch Verachtung für sie übrig: „[...] mein Geist überfliegt sie, meine Lippen krümmen sich zu einem Lächeln verächtlichen Erkennens“.29 Die jungen KP-Funktionäre hatten einen Umsturz miterlebt, und nun wussten sie nicht, wie es weiter gehen sollte:
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Bericht des Einsatzleiters der Bayerischen Landespolizei, Polizeimajor von Oelhafen, vom 10. März 1933. In: BayHStA/Abt. IV, BayLp 479. KdF, S. 37. Ebd., S. 35.
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Am Abend sagte man den Reichstagsbrand durch und die Rede Görings, in der er die Verfolgungen ankündigte. Ich stand mit Jiru30 und ein paar anderen auf der Straße, und wir besprachen, was zu tun sei. ‚Ich geh’ nicht mehr heim‘, sagte Jiru. ‚Ich lasse es darauf ankommen‘, sagte ich. ‚Morgen kommen sie!‘ Jiru zuckte mit den Schultern. Wir wussten es alle.31
Es fällt auf, dass Andersch hier mit den historischen Fakten ziemlich willkürlich umgeht (die literarischen Motive dafür bleiben unklar). Der Reichstagsbrand fand, wie gesagt, in der Nacht zum 28. Februar 1933 statt. Anderschs Berichts-Ich will diese Information erst am Abend des 9. März erhalten haben, obwohl die Zeitungen bereits am 1. März darüber berichteten. Auf den Reichstagsbrand folgte bereits an diesem Tag und nicht erst am 9. März die erwähnte Brandrede des neuen preußischen Innenministers Hermann Göring, in der er den Kommunisten den Umsturz unterstellte, den er selbst en detail mitgeplant hatte. Und er sagte ihnen den unerbittlichen Kampf an: „Wir wollen nicht nur die kommunistische Gefahr abwehren, sondern es wird meine vornehmste Aufgabe sein, den Kommunismus auszurotten aus unserem Volk.“32 Wenige Tage später, in der Nacht zum 10. März, organisierte der von Hitler tags zuvor zum Reichskommissar ernannte Ritter von Epp den Regierungssturz in München. Er stützte sich dabei vor allem auf Heinrich Himmler, den Reichsführer-SS, der als kommissarischer Polizeipräsident und zugleich faktischer Leiter der bayerischen Landespolizei den Umsturz leitete. Ihm zur Seite stand Reinhard Heydrich, sein bisheriger Leiter des Sicherheitsdienstes der SS. Beide zögerten nicht, ihre neu gewonnene Machtbefugnis zur Ausschaltung jeglicher Opposition zu gebrauchen.
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Gemeint ist Gebhard Jiru (20. Dezember 1908–26. April 1945 im KZ-Dachau), Agitpropleiter des KJVD-Südbayern. Ebd., S. 38. „Der Brand als Fanal kommunistischer Bürgerkriegsvorbereitungen“. Rede Hermann Görings, Berlin, am 1. März 1933. In: Deutsches Rundfunkarchiv im Hessischen Rundfunk.
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Abb. 3: Seite des Einlieferungsbuchs der Polizeidirektion München 10. März 1933; Eintrag 3189 ‚Schutzhäftling‘ Alfred Andersch.
Folglich holte die Polizei in den frühen Morgenstunden zum großen Schlag gegen die selbstinszenierte „kommunistische Bedrohung“ aus. Ganz Bayern und insbesondere München wurde mit den vorbereiteten Listen der Politischen Polizei einer Verhaftungswelle unterworfen, der bald Tausende zum Opfer fielen. Unter ihnen war auch Alfred Andersch. Über seine Verhaftung und die näheren Umstände schreibt er, er habe sich am Abend des 7. März33 zu nächtlicher Stunde von Jiru verabschiedet: „Gab Jiru die Hand und ging nach Hause. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Schlief ein paar Stunden und war sofort hellwach, als die Beamten gegen sechs Uhr morgens klingelten und an die Tür schlugen. Während ich öffnen ging, schob meine Mutter die Mitgliederlisten des Jugendverbandes in den Ofen.“34 Ob sich seine Verhaftung im Detail so abgespielt hat, ist heute nicht mehr überprüfbar. Tatsächlich wurde Andersch am Morgen des 10. März verhaftet, wie ein Blick in das einschlägige Haftbuch der Polizeidirektion München bestätigt (Abb. 3). Der Eintrag lautet: Lfd.Nr. 3189; Zeit der Einlieferung: 8 ½; Name: Andersch, Alfred; Alter: 4. II. 14; von wo eingeliefert: verh[aftet]; Grund: Schutzhaft; Entlassung oder Ablieferung: Stadelheim, den 10. März 19 Uhr; Nr. der Gefängniszelle: 26; Bemerkung: Frühkost35
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Wenn Andersch historisch hätte präzise sein wollen, müsste es hier heißen: 9. März. KdF, S. 40f. Eintrag 3189 des Einlieferungsbuchs 1933 der Polizeidirektion München; StAM, Pol.Dir. 8563.
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Abb. 4: Registerband der Haftanstalt Stadelheim mit dem Eintrag 2891, Alfred Andersch.
In der Zelle 26 war Andersch mit 33 weiteren Häftlingen zusammengepfercht, u.a. mit seinem Freund und KJVD-Genossen Wilhelm Franz und dem Münchner Gerichtsreferendar Claus Bastian, einem aktiven Mitglied der ‚Eisernen Front‘; sie waren am selben Morgen verhaftet worden. Insgesamt wurden an diesem Tag laut Haftbuch der Münchener Polizeidirektion 155 „Schutzhäftlinge“ in U-Haft genommen. Die Gefangenen wurden nach erstem Verhör abends zur Haftanstalt Stadelheim weitergeleitet, um Platz für die Verhafteten des nächsten Tages zu schaffen. Andersch ist auch im systematischen Alphabetischen Namensregister zum Haftbuch von Stadelheim als Gefangener mit der Häftlingsnummer 2891 verzeichnet (Abb. 4).36 Dass sowohl die Seite wie auch der Name Andersch durchgestrichen sind, kann auf Entlassung oder Überstellung in eine andere Haftanstalt verweisen.
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StAM, Bestand Justizvollzugsanstalten 904. Im Registerband wurde, ergänzend zum Haftbuch, eine zweite, alphabetische Registrierung vorgenommen. Die Häftlinge erhielten eine neue Haftnummer.
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Abb. 5: Das neu angelegte Grundbuch (Haftbuch) der Schutzhaftanstalt Landsberg ab 10. März 1933.
Allerdings spricht viel dafür, dass er über den 10. März hinaus in Haft gehalten wurde. Dennoch sind diese beiden Dokumente die einzigen Belege für Anderschs Schutzhaft. Wie es nach seiner Überstellung nach Stadelheim weiterging, darüber ist in den lückenhaften amtlichen Dokumenten kein Hinweis zu finden. Ein solcher Nachweis wäre unter der Rubrik „Ausgang“ dem Haftbuch der Haftanstalt Stadelheim zu entnehmen gewesen. Dieses ist offensichtlich in der Haftanstalt vernichtet worden,37 so dass offen bleiben muss, was weiter mit Andersch geschah. Er selbst schreibt erstaunlicherweise nichts über die Zeit zwischen seiner Verhaftung und der Einlieferung nach Dachau.
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Im geschlossenen Inneren der Haftanstalt Stadelheim gibt es inzwischen ein kleines Museum, in das man nach mehrmaligem Umschließen auch als Besucher gelangen kann. Eine Überprüfung der Bestände ergab, dass die relevanten Haftunterlagen zwischen 1933 und 1945, so der Betreuer der Einrichtung, wahrscheinlich nach der 50-jährigen Sperrfrist vernichtet worden sind.
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Abb. 6: Seite des Grundbuchs Landsberg mit dem Häftling Nr. 93, Wilhelm Franz.
Im (allerdings unvollständigen und) nach 1945 angefertigten „Namensverzeichnis der Schutzhaftgefangenen Jahrg. 1933“, das im Staatsarchiv München aufbewahrt wird, gibt es keinen Eintrag Andersch.38 Biograf Reinhardt ist dagegen sicher, dass Andersch von Stadelheim nach Landsberg und von da am 22. März per Lastwagen in das neuerrichtete Lager Dachau eingeliefert worden ist: Da das Polizeigefängnis in der Ettstraße in kürzester Zeit überfüllt war, wurde Andersch zunächst in die Strafanstalt Stadelheim und, als es dort zu eng wurde, nach Landsberg am Lech gebracht, [...] Als das KZ Dachau [...] am 22. März ‚eröffnet‘ wurde, befand sich unter den als erste dorthin aus der Strafanstalt Landsberg am Lech verbrachten ‚etwa 60 linksgerichteten Personen‘ auch Alfred Andersch, allerdings nicht im ersten der aus Landsberg abgehenden Lastwagen.39
Einen Nachweis dieses Ablaufes muss Reinhardt allerdings schuldig bleiben. Er berief sich auf mündliche Quellen aus dem Familiengedächtnis der Anderschs. Verifizieren lässt sich diese Version anhand unabhängiger Quellen bis heute nicht, im Gegenteil.
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StAM, Justizvollzugsanstalten 13760, ohne Orts- und Jahresangabe der Erstellung, vermutlich 1950er Jahre. Die Akte enthält den handschriftlichen Zusatz „Landsberg/Lech“. Reinhardt: Andersch, S. 44f. Eine Quelle für diese Beschreibung gibt es nicht. Reinhardt folgt hier, wie häufig in den Kapiteln zu Anderschs Biografie vor 1945, der innerfamilialen Erzählung. Pauschal verweist er auf eine undatierte Ausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten.
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Abb. 7: Detaileintrag aus dem Grundbuch Landsberg: Hafteinweisung in das Konzentrationslager Dachau.
Wie Stadelheim war auch die Haftanstalt Landsberg am 10. März im Rahmen der Massenverhaftungen formal zum Schutzhaftlager ernannt worden. An diesem Tag wurden aus der Region Landsberg die ersten Schutzhäftlinge eingeliefert. Zu diesem Zweck wurde ein eigenes Haftbuch angelegt, dort „Grundbuch“ genannt, das in chronologischer Zählung die eintreffenden Häftlinge vermerkte. Das lückenlos und akribisch geführte Landsberger Haftbuch konnte hier erstmals ausgewertet werden. Es enthält die wichtigsten Grunddaten der Häftlinge, unter anderem das Datum und die Ausstellungsbehörde des „Schutzhaftbefehls“ sowie das Datum der Einlieferung nach Landsberg (Abb. 5 u. 6). Die letzte Spalte „Entlassung“ ist missverständlich. Es wurde nur selten in die Freiheit entlassen, und wenn überhaupt, dann nur auf Anweisung der Politischen Polizei München, wie aus dem Haftbucheintrag hervorgeht. In den meisten Fällen ist vermerkt: „in das Konz.[entrations]-Lager überstellt“ (Abb. 7). Die Tabelle im Anhang stellt einen Auszug aus dem Landsberger Haftbuch dar. Sie enthält jene Schutzhäftlinge, die am 22. März 1933 von Landsberg in das neueröffnete Konzentrationslager Dachau überstellt wurden. Sie waren ein Teil jener ersten Häftlingswelle, die man am 10. März zum Verhör in die Polizeidirektion in der Ettstraße eingeliefert hatte. Gegen die als besonders schwere Fälle angesehenen politischen Gefangenen wurden am 13. März förmliche Einzel-Schutzhaftbefehle (Abb. 8) ausgestellt.40
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Aus: Haftakte Franz, StAM, Bestand Justizvollzugsanstalten 12.553.
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Abb. 8: Anweisung zur Überstellung des Häftlings Wilhelm Franz von München nach Landsberg.
Mit diesen „Laufzetteln“ wurden sie nach Landsberg überstellt. Auf ihnen wurde der Anstaltsleitung auch mitgeteilt, dass Haftentlassungen nur durch die Polizeidirektion München, also durch Himmlers Politische Polizei, verfügt werden durften. Zu Alfred Andersch konnte bis heute weder ein solcher Schutzhaftbefehl noch ein Eintrag in das Landsberger Haftbuch gefunden werden. Die ersten Einträge betreffen Schutzhäftlinge aus dem Bezirksamt Landsberg (Nr. 1–8), ihnen folgten 22 weitere (Nr. 9–30) aus dem Bezirksamt Weilheim. Insgesamt 78 Münchner Häftlinge trafen am 13. März in Landsberg ein (Nr. 31–108). Aus dieser Gruppe wurde für 40 Häftlinge am 20. März der sofortige „Vollzug der Schutzhaft“ in Dachau angeordnet, wie auf dem Auszug der Anweisung der Politischen Polizei München an die Haftanstalt Landsberg vom 20. März hervorgeht (Abb. 9). Und wie am Beispiel der Haftakte Arthur Müller deutlich wird – die jenes KP-Genossen, der später mündlich die Anwesenheit Anderschs im KZ Dachau verbürgte – wurden die Häftlinge in Landsberg noch korrekt behandelt. Der damals schon literaturinteressierte Müller verkürzte sich die Haft mit einer kleinen Bibliothek, die er auch nach Dachau mitnehmen durfte.41
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Müller machte bereits Ende der 1930er Jahre, mehr noch nach 1945 als Dramatiker und Hörfunkautor auf sich aufmerksam. Er beendete seine Karriere als Chefdramaturg und Leiter der Hauptabteilung Fernsehen beim Hessischen Rundfunk im Sommer 1958. Danach war er als freier Schriftsteller tätig. Er starb im Juli 1987.
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Abb. 9: Überstellung des Häftlings Wilhelm Franz von Landsberg nach Dachau.
Am Tag der Überstellung nach Dachau durfte ihn sogar seine Mutter noch besuchen.42 Diese 40 „kommunistischen Funktionäre“ aus München stellten das erste Kontingent aus Landsberg dar, das am 22. März 1933 um 17.45 Uhr im Lager Dachau eintraf (vgl. Tabelle im Anhang43: Liste der am 22. März von Landsberg nach Dachau überstellten Münchner Schutzhäftlinge). Weitere 14 Münchner Häftlinge wurden am 25. März eingewiesen; am 12. April folgten noch einmal 22 Häftlinge.44 In ganz seltenen Fällen kam es auf Anweisung aus München zu Entlassungen, meist aus Alters- oder Krankheitsgründen. Das Haftbuch Landsberg weist bis Juli 1933 insgesamt 241 Schutzhäftlinge auf. Bald jedoch machten die fortschreitenden Arbeiten am Ausbau des Lagers Dachau die Zwischenstation Landsberg überflüssig, so dass es bereits im Frühsommer 1934 als Schutzhaftlager geschlossen wurde.
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„Rapportmeldungen: 16.3.: Brief an Mutter; 22.3.: Besuch der Mutter; Bleistift behändigen“. Unter den fünf Büchern war Rilkes Buch der Bilder, 1902; Werner Hegemann, Fridericus, 1925; Wilhelm Schäfer, Dreizehn Bücher der deutschen Seele, 1922; Schäfer war einer der populärsten völkisch-nationalen Autoren der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus; ferner eine Märchensammlung. Aus: Haftakte Müller, StAM, Bestand Justizvollzugsanstalten 12.532. Auszug aus dem Haftbuch von 1933, Verwaltung der Schutzhaftanstalt Landsberg – Grundbuch – Nr. 1, ab 10. März 33, Archiv der Haftanstalt Landsberg. Mein Dank für die Einsichtnahme und Kopiererlaubnis gilt der Anstaltsleitung, insb. Herrn Lattermann-Mailänder, der mich im Archiv betreute. Ebd.
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Abb. 10: Lageplan des Konzentrationslagers Dachau vom Mai 1933.
Die meisten Verhafteten waren unbedeutende Parteimitglieder und kleine Funktionäre, auch wenn die Propaganda sie zu gefährlichen Staatsfeinden aufwertete. Lokale Bekanntheit hatten allenfalls Münchner Jungkommunisten wie Willy Franz, Martin Grünwiedl, Hugo Jakusch oder Arthur Müller. Von fast jedem Dachauer Häftling der ersten Stunde war noch eine umfangreichere Haftbegleitakte vorhanden, deren Durchschlag in Landsberg verblieb.45 Zur Lagereröffnung am 22. März traf neben dem Landsberger Transport außerdem eine bisher unbekannte Anzahl von Schutzhäftlingen direkt aus Stadelheim ein. Unter ihnen befand sich auch das spätere Opfer der ersten Dachauer Lagermorde Erwin Kahn, wie dies ein Brief beweist, den er wenige Tage vor seiner Ermordung an seine Frau schrieb und in dem er ihr mitteilte, dass er nun in Dachau, und zwar in
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68 Einzelhaftakten wurden nach 1945 von der Haftanstalt Landsberg an das Staatsarchiv München abgegeben. Sie blieben erhalten, da sie in den Entschädigungsverfahren oft den einzigen Nachweis für die Einlieferung in das KZ Dachau darstellten. Sie tragen die Signatur StAM, Bestand Justizvollzugsanstalten 12.498 bis 12.566.
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einem Gebäude der ehemaligen Pulverfabrik untergebracht sei.46 Unter diesen bisher unbekannten „Stadelheimern“ könnte sich auch Andersch befunden haben. Aber nachweisen lässt sich dies wegen der fehlenden Unterlagen – z. B. anhand von Briefen an die Familie – nicht. Die Idee, die abseits gelegene marode Fabrikanlage in Dachau als Massenunterkunft für ‚Schutzhäftlinge‘ auszubauen, war aus der Not geboren und entsprang tagespolitischer Notwendigkeit: Die Massenverhaftungen innerhalb weniger Tage hatten die bayerischen Untersuchungsgefängnisse überfüllt und damit die Justizverwaltung vor schier unlösbare organisatorische und räumliche Probleme gestellt.47 Wegen der unhaltbaren Zustände hagelte es sofort Proteste bei Reichskommissar von Epp und dem neu ernannten Innenminister Wagner.48 So lag es nahe, die Gefangenen in einem Sammellager nach Art des Arbeitsdienstes unterzubringen. Die Wahl fiel auf das völlig verwahrloste Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik in der Nähe von Dachau. Diese „Deutsche Werke A.G.“ gehörte seit Dezember 1931 dem bayrischen Staat.49 Bereits am 13. März 1933 inspizierte eine Kommission von Himmlers Politischer Polizei die Industriebrache außerhalb Dachaus. Sie sollte herausfinden, „ob die Werksanlage nicht zur Unterbringung von Schutzhaftgefangenen geeignet sei.“50 Die Zeit drängte. Schnell wurde entschieden. Bereits am nächsten Tag wurden etwa 50 Arbeitsdienstler und ein Trupp Pioniere aus nahegelegenen Standorten herbeigeschafft. Sie sollten auf dem fast 200.000 ha großen Gelände mit Hunderten verfallener Baracken und Fabrikgebäuden einen kleinen Teil für die Unterbringung von zunächst 120 Gefangenen und die dazu benötigten Wachmannschaften herrichten (vgl. Abb. 10).51 Die Bewachung der Schutzhäftlinge sollte durch reguläre Beamte der Landespolizei erfolgen. Folglich ersuchte der Regierungspräsident von Oberbayern am 20. März das Kommando der Schutzpolizei München, „eine Hundertschaft zur Bewachung des Sammellagers für politische Ge-
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Dazu s. Anm. 107 und 110. Himmlers Stellvertreter Heydrich bilanzierte am 1. Juni 1934 in einem Schreiben an den bayrischen Ministerpräsidenten Ludwig Siebert: „Bis 1. Juni 1934 wurden in Bayern in Schutzhaft genommen: 19.030; aus Schutzhaft entlassen: 16.686.“ In: BayHStA Reichsstatthalter Epp 276/1+. S. hierzu die Berichte der Regierungspräsidenten an Reichsstatthalter Ritter von Epp: BayHStA Reichsstatthalter Epp 37/1-. „SS-Kaserne und Konzentrationslager“, Maschinenmanuskript und Photodokumentation der Gesamtanlage von Dachau, BA R2/28350, S. 2 R, S. 2. Dieses bedeutsame Dokument zeigt in einer Fülle von Fotos den Zustand des Lagers im März 1933 und dokumentiert den Ausbau und Entwicklungsstand bis zum Sommer 1938. Ebd., S. 3. S. hierzu Abb. 10, Lagerzeichnung vom Mai 1933, BayHStA/ Abt. IV BayLp 48.
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fangene“ abzustellen. „Die Hundertschaft tritt ab 21.3., 18 Uhr den Wachdienst im Lager an. Mit der Gefangenenbelegung ist ab Mittwoch früh zu rechnen.“52 Die ganze Aktion lief mit großer Präzision ab, denn bereits am 20. März hatte Polizeipräsident Himmler in München auf einer Pressekonferenz vorab mitgeteilt, dass in Kürze das erste bayerische Konzentrationslager für bis zu 5.000 Schutzhäftlinge eröffnet werde: Hier werden die gesamten Kommunisten und – soweit notwendig – Reichsbanner- und sonstigen marxistischen Funktionäre, die die Sicherheit des Staates gefährden, zusammengezogen, da es auf die Dauer nicht möglich ist, wenn der Staatsapparat nicht zu sehr belastet werden soll, die einzelnen kommunistischen Funktionäre in den Gerichtsgefängnissen zu lassen, während es andererseits auch nicht angängig ist, diese Funktionäre in Freiheit zu lassen. [...] Wir haben diese Maßnahme ohne Rücksicht auf kleinliche Bedenken getroffen in der Überzeugung, damit zur Beruhigung der nationalen Bevölkerung und in ihrem Sinne zu handeln.53
Die „kleinlichen Bedenken“ betrafen immerhin bisher gültige zentrale Grundrechtsgarantien. Aber in der aufgewühlten antikommunistischen Stimmung dieser Tage war sich Himmler sicher, auf wenig Widerstand zu stoßen. Und so wies er auch eventuelle Anfragen aus der Bevölkerung auf Freilassung von Häftlingen zurück. Allerdings: Die Schutzhaft werde von der Polizei „nicht länger aufrechterhalten als notwendig“, eine weit dehnbare Bestimmung, wie sich bald zeigen sollte. Denn freigelassen werden durften einzelne Häftlinge, wie aus den Einweisungsscheinen in die Haftanstalt Landsberg ersichtlich, nur auf Himmlers Geheiß hin. Und daran dachte er nicht, denn die Häftlinge wurden vor allem als Arbeitskräfte gebraucht zum Umbau der verwahrlosten Munitionsfabrik zu einem Gefangenenlager, um die für später geplante Massenaufnahme zu ermöglichen. Oberwachtmeister Kugler von der 2. Hundertschaft der Landespolizei war bereits am 15. März 1933 zur Bewachung des vermeintlichen Arbeitsdienstlagers abkommandiert worden. Er beschrieb in seiner späteren Vernehmung, welche Situation man zunächst beim Antritt des Wachdienstes in Dachau vorfand. Er bestätigte auch, dass ein kleiner Voraustrupp der Münchner SS ohne klare Aufgabe wenige Tage nach den ersten Häftlingen im Lager eintraf. Kugler war im Lager bis zum 11. April für die Häftlingsregistratur zuständig, die leider nicht überliefert ist:
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Schr. des Präsidenten der Regierung von Oberbayern vom 20. März 1933, BayHStA/Abt. IV BayLp 331. „Dachau, 22. März. Die ehemalige Pulverfabrik ein Konzentrationslager für politische Gefangene“. In: Dachauer Zeitung vom 23. März 1933, Archiv Gedenkstätte Dachau, Pressesammlung; s. auch Richardi: Schule der Gewalt, S. 37.
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Bei unserer Ankunft in Dachau war von einem Lager noch nicht das Geringste vorhanden, außer einigen verwahrlosten leerstehenden Häusern. [...] Einige Tage später nach unserer Ankunft kamen eine geringe Anzahl von Zivilhäftlingen an, von denen es hieß, dass sie in Schutzhaft wären. Diese wurden in Gebäude III der Skizze untergebracht, während in Gebäude II ich meine Geschäftsstelle der Hundertschaft hatte und auch dort wohnte. Meine Tätigkeit [...] bestand darin, dass ich die eintreffenden Häftlinge [...] ordnungsgemäß erfasste. [...] Bei Entlassung habe ich ebenfalls die aktenmäßige Arbeit erledigt. [...] Während meiner Tätigkeit in Dachau ist nichts Außergewöhnliches passiert, vor allem kamen keine Todesfälle oder Misshandlungen vor. [...] In dieser Zeit kamen auch zahlreiche Entlassungen vor. Die Häftlinge konnten auch Päckchen von ihren Angehörigen empfangen. [...] Wenige Tage nach unserer Ankunft kam ein Kommando von ungefähr 8 SS-Männern, die in Gebäude I untergebracht waren. Was diese Leute machten, weiß ich nicht. Ich hatte mit ihnen nichts zu tun. [...] Bevor wir wegkamen hieß es, dass das Lager von SS übernommen wird und kamen auch tatsächlich ein größerer Trupp SS-Leute vor unserem Abgang ins Lager.54
Auch ein SS-Mann der ersten Stunde, der Scharführer Anton Hofmann berichtete über die äußerst schwierige Anfangssituation, in der es ihnen kaum besser gegangen sei als den Häftlingen: Zuerst schlief ich im Lager, [...] wo wir in der Nähe des Lagereingangs eine Baracke bewohnten, [...] in der unsere Wachstube war. [...] Diese Baracke enthielt auch die [Gefangenen-]Zellen. [...] Wir waren damals sieben Leute, die im Wachzimmer schliefen, und zwar: Steinbrenner, Kantschuster, Unterhuber, ich, Waldleitner, Wickelmeier und Vogel. [...] In der damaligen Zeit sind (in den Zellen) folgende Ermordungen vorgekommen: Götz, Dressel, Schloss, Nefzger, Strauss und Lehrburger. Alle diese wurden ermordet.55
Der Zeuge benennt hier die Mitglieder der SS-Wachtruppe am Eingang des Lagers, die ab dem 11. April auch das so genannte „Empfangskomitee“ bildeten. Es ‚begrüßte‘ als Prügelkommando von da an Neuankömmlinge mit ungehemmter Brutalität, wie viele Zeugenaussagen bestätigen. Nicht nur sollten sie damit eingeschüchtert werden. Vor allem galt es ih-
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Aussage Johann Kugler vom 26. April 1951 vor dem LG II München mit grober Skizze der Anfangssituation des Lagers, StAM, Stanw, 34.462/9 Bl. 146 und 146 R. Vergleiche hierzu die Lagerzeichnung Abb. 10: Wichtiger Orientierungspunkt aus heutiger Sicht ist der Amperkanal und das noch existierende Gebäude Nr. 26, die ehemalige Lagerkommandantur. Hier war zunächst die Landespolizei untergebracht, später der SS-Lagerkommandant. Das Vorauskommando der SS war gegenüber der Hauptwache (Gebäude 24), wahrscheinlich in Gebäude 27 oder 28 (1937 abgebrochen) untergebracht, die Häftlinge zunächst in einem auf dem Plan nicht verzeichneten Haus hinter der Kommandantur. Die häufig erwähnte Lagerwache (Gebäude 8) wurde Anfang April bezogen, nachdem die Baracken (Nr. 1) einigermaßen hergerichtet, das Areal mit Stacheldraht umgeben und die Häftlinge dort untergebracht waren. Beschuldigtenvernehmungsprotokoll des Anton Hofmann wegen Mordes; Eichstätt, am 6. September 1949, StAM, Stanw, 34.462/3, Bl. 170f. Der Angeklagte Hofmann belastete den SS-Mann und späteren SS-Hauptsturmführer Karl Wickelmayr wegen fünf begangener Morde.
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nen klarzumachen, dass sie von nun an ihren Feinden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein würden. In Anderschs Bericht findet sich dazu nichts. Stattdessen schreibt er, er selbst sei nie geschlagen worden.56 Auch die schweren Misshandlungen von Mithäftlingen, die er gesehen haben muss, sind ihm in den Kirschen der Freiheit keiner Erwähnung wert.
III Anderschs KZ-Schilderung in den Kirschen der Freiheit vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse: Das KZ Dachau und die ersten Lagermorde des ‚Dritten Reiches‘ Dachau, das „Mörderlager“, so hatte es der KPD-Funktionär und Reichstagsabgeordnete Hans Beimler nach seiner spektakulären Flucht in der Nacht zum 9. Mai 1933 beschrieben.57 Diesen Mann „mit seinem harten Schlossergesicht“ (Abb. 11) verehrte der Jungkommunist Andersch. Er repräsentierte für ihn, wie er schreibt, die „Geistesmacht“ der Arbeiter, auch wenn er im Folgenden nur Äußerlichkeiten beschreibt: „An die abgewetzte Lederjoppe Hans Beimlers [denke ich, R.S.], wenn ich heutzutage einen Kaufmann in zweireihigem Anzug und mit einem Teiggesicht das, was er Gedanken nennt, träge zwischen seinen Zähnen zerkauen sehe.“58 Im nachfolgenden Zitat wird diese Abneigung gegen das Kaufmännische auch mit dem Stereotyp vom jüdischen Kaufmann, von der jüdischen Bourgeoisie verknüpft. Es stellt eine zentrale Sequenz der Dachau-Schilderung in Anderschs Kirschen der Freiheit dar: Eines Abends, in den Baracken, kam die Meldung durch, Hans Beimler sei in das Lager eingeliefert worden. Zur gleichen Stunde war ein Transport von etwa hundert Juden aus Nürnberg angekommen; sie richteten sich gerade in ihrer Baracke ein. Die Juden würden nicht lange bleiben, dachten wir. Es waren lauter Kaufleute und Ärzte und Rechtsanwälte, Bourgeoisie. Sie konnten unmöglich unter uns bleiben. Bis jetzt waren nur wir Kommunisten im Lager gewesen. Die Juden sahen aus dem Fenster ihrer Baracke. Sie waren still und hatten gute Anzüge an. Um sechs Uhr holte man zwei von ihnen zum Wassertragen. Steinbrenner kam ins Lager und schrie: ‚Goldstein! Binswanger!‘ Sie mussten eine Wassertonne ergreifen und gingen mit Steinbrenner vors Tor.
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KdF, S. 45. Beimler, Hans: Im Mörderlager Dachau. Vier Wochen in den Händen der braunen Banditen. Moskau 1933. Das Buch wurde gleichzeitig in Moskau und New York veröffentlicht. KdF, S. 29.
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Abb. 11: Hans Beimler (1895–1936).
An diesem Abend hörten wir zum erstenmal den Laut von Schüssen, die uns galten. Wir alle standen an der Mauer, an der Goldstein und Binswanger erschossen wurden. Der peitschende Knall überfiel uns, als wir zwischen den Baracken auf Brettern saßen und unsere Abendsuppe löffelten. Er ließ unsere Gespräche verstummen, aber die Suppe aßen wir zu Ende. Nur die Juden aßen nicht weiter; sie waren noch nicht so ausgehungert wie wir. Goldstein und Binswanger kamen nicht zurück, obgleich wir warteten und manchmal flüsternd nach ihnen fragten. Am nächsten Morgen standen wir im Karree. Die SS-Männer trugen lange graue Statuen-Mäntel im dunklen April-Nebel, und eine Stimme sagte über uns hinweg: ‚Auf der Flucht erschossen.‘ Die Leichen haben wir nicht gesehen.59
Mit diesen angeblich hundert jüdischen Häftlingen aus Nürnberg verband Andersch offensichtlich kein Gefühl schicksalhafter Solidarität als Gegner des Nationalsozialismus.60 Mit dem Satz: „Sie konnten unmöglich unter
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Ebd., S. 43–45. Vgl. dazu auch den Beitrag von Döring. Auch sein Biograf Reinhardt machte sich nicht die Mühe, Anderschs Erzählung des Mordgeschehens zu überprüfen. Er schreibt einfach ab, was Andersch erlebt haben will: „Als am 11. April etwa 100 Nürnberger Juden nach Dachau gebracht wurden, holte sich
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uns bleiben“, zog er einen Trennungsstrich zwischen jüdischen und kommunistischen Häftlingen, der nicht allein durch deren angebliche Zugehörigkeit zur „Bourgeoisie“ zu begründen ist. Aber wozu machte er diese Unterscheidung zwischen den jüdischen Häftlingen und der angeblichen Lager-„Elite“ der kommunistischen Häftlinge, zu denen Andersch selbst sich zählte?61 Und außerdem: Da die Juden nicht zu ihnen gehörten, wie konnten sie dann für sie an der Mauer stehen, an der zwei von ihnen angeblich für sie alle erschossen wurden? Wie beruhigend mag es da gewirkt haben, dass SS-Unterscharführer Steinbrenner am Morgen nach dem Mord zu den Häftlingen sagte: „Euch tun wir nichts, aber die Juden legen wir alle um“; eine Bemerkung, die von Häftlingsaussagen, aber auch von Steinbrenner selbst, bestätigt wird.62 An Anderschs Schilderung des ersten Massakers von Dachau erstaunt vor allem die kenntnisarme, ungenaue Beschreibung des Handlungsablaufs durch den Autor, der ja auch der Zeitzeuge Andersch ist. Vielmehr mutet das Wenige, das diese Darstellung enthält, wie eine Wiedergabe dessen an, was man zu der Zeit, als Andersch seinen „Bericht“ verfasste, aus dem Steinbrenner-Prozess in Münchens Zeitungen lesen konnte.63 Um die Faktenarmut der Darstellung zu überdecken, greift Andersch zu einem literarischen Kunstgriff. Er konstruiert eine fiktive Realität und dramatisiert sie, indem er zeitlich auseinander liegende Ereignisse auf einen einzigen Tag verdichtet: Die Ankunft Hans Beimlers im Lager, die frühestens am 25. April stattfand,64 verknüpft er mit dem am 11. April eingetroffenen Nürnberger Transport und dem ersten Massaker an jüdischen Häftlingen durch die SS, das sich am frühen Abend des 12. April ereignete. Ob ein solcher Erzählmodus in einem als autobiografischer Bericht bezeichneten Werk erlaubt ist, sei der literaturwissenschaftlichen Betrachtung anheim gestellt. Allerdings entgeht durch dieses
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Hans Steinbrenner am Abend des folgenden Tages drei von ihnen, die Jungkommunisten Ernst Goldmann, Dr. Rudolf Benario und Erwin Kahn, nach dem Postverteilen ab.“ Reinhardt: Andersch, S. 47. Das Schicksal des ermordeten Studenten Arthur Kahn bleibt wie bei Andersch unberücksichtigt; der Münchner Erwin Kahn wird zum Mitglied des Nürnberger KJV. Ebd., S. 754. KdF, S. 45. Beschuldigtenvernehmungsprotokoll Steinbrenner vom 13. Juni 1951, StAM, Stanw, 34.462/9, Bl. 219f. Vgl. z.B. (o.V.): „Warum können NS-Täter in München frei herumlaufen“. In: Süddeutsche Zeitung vom 2. März 1948; „Schatten der Geschlagenen und Toten. Zwei ehemalige SSMänner vor dem Schwurgericht/Der Lagerschreck von Dachau“. In: Süddeutsche Zeitung vom 7. März 1952; „KZ-Verbrecher will seine Taten sühnen“. In: Süddeutsche Zeitung vom 10. März 1952. Nach einer Mitteilung von Barbara Distel, der ehemaligen Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, wurde Beimler erst am 3. Mai „aus dem Gefängnis Stadelheim nach Dachau gebracht“. Schr. vom 18. Juni 2007 an den Verf.
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additive, bezugslose Nebeneinanderstellen nicht zeitgleicher Ereignisse dem „Zeitzeugen“ Andersch deren innere Dramatik und Wechselwirkung. Denn in diesen Tagen entwickelte sich die provisorische Haftanstalt Dachau zum Prototyp des nationalsozialistischen Konzentrationslagers, eine dramatische Veränderung. Denn alles begann mit dem Eintreffen des Nürnberg/Fürther Häftlingstransports am 11. April. Es war der Tag, an dem Polizeichef Himmler die aus seiner Sicht politisch unzuverlässige Landespolizeieinheit vom KZ-Wachdienst abzog. Stattdessen übernahm seine SS das Kommando, wie er es über den Leiter der Schutzpolizei München am 7. April 1933 hatte anordnen lassen: „Die Bewachung des Sammellagers Dachau wird ab Dienstag 11.4.33 von politischer Hilfspolizei (SS) übernommen.“65 Dass Himmler für seine Truppe polizeiliche Hoheitsfunktion anstrebte, erwuchs aus seinem Bemühen, dem politischen Umsturz vom 9./10. März, bei dem SA- und SS-Einheiten eine entscheidende Rolle gespielt hatten, im Nachhinein einen legalen Anstrich zu geben. Diese Entwicklung hatte er von langer Hand vorbereitet. Bereits am 13. März hatte Reichskommissar von Epp in einer Anordnung die rückwirkende Anerkennung der SA und SS als Hilfspolizei verfügt: Die vorhandenen Polizeikräfte, deren ausreichende Vermehrung zurzeit nicht möglich ist, werden seit langem über ihr Leistungsvermögen beansprucht [...] Auf die freiwillige Unterstützung geeigneter, als Hilfspolizeibeamte zu verwendender Männer kann daher nicht mehr verzichtet werden. Die von mir bestimmten Polizeibehörden haben [...] die Einweisung geeigneter Personen in die ihnen gegebenenfalls zu übertragenden hilfspolizeilichen Aufgaben alsbald zu bewirken. Hierzu sind nur SA- und SS-Männer sowie Angehörige des Stahlhelms entsprechend dem Stärkeverhältnis dieser Verbände heranzuziehen. Soweit möglich sind geschlossene Verbände einzuberufen. Ich erwarte bestes kameradschaftliches und reibungsloses Zusammenarbeiten der uniformierten Staatspolizei und Gemeindepolizei mit diesen Hilfspolizeibeamten.66
Zwar sollten diese Hilfspolizisten zunächst unter Führung der Landespolizei für deren Aufgaben eingesetzt werden. Aber die Ziele des Einsatzes waren bereits weiter gesteckt, wie es in einer dehnbaren Funktionsbeschreibung abschließend heißt: „Darüber hinaus ist die Hilfspolizei auch in anderen Fällen zum Schutze der durch staatsfeindliche Umtriebe gefährdeten öffentlichen Sicherheit einzusetzen.“ Damit konnte die Übernahme der KZ-Wachfunktion legitimiert werden.
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BayHStA/Abt. IV Bay Lp 331. Ebd., Bay Lp 1769.
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Abb. 12: Zusammenstellung des Nürnberger Häftlingstransports vom 11. April 1933.
Für ihre Einsätze erhielten die neuen Hilfspolizisten die spärliche Entlohnung von zunächst 1 RM pro Tag. Am 24. April verfügte Innenminister Wagner, dass der Dienst rückwirkend mit 2 RM pro Tag zu vergüten sei; wahrhaft keine berauschende Entlohnung für die Prätorianer der „nationalen Revolution“. Sie sahen sich zu frustrierendem Wachdienst aufs Land abgeschoben zu einer Entlohnung, die nicht einmal zum eigenen Unterhalt reichte und außerdem zu einer Tätigkeit abkommandiert, für die die Landespolizisten voll entlohnt wurden. Die Leidtragenden waren die Häftlinge, an denen sich die SS als neue Wachtruppe abreagieren konnte. Lediglich eine 17 Mann starke Ausbildertruppe der Landespolizei blieb zurück, um die im Wachdienst unerfahrenen SS-Männer auszubilden. Ihr Leiter, Polizeileutnant Schuler, beschreibt seine Erfahrung mit der neuen Wachtruppe: „Soviel ich mich erinnere, waren damals 3 SS-Stürme im Lager, von denen der eine Wachdienst machte, der andere durch meine Leute ausgebildet wurde, während der dritte dienstfrei hatte. Die Stärke der einzelnen Wachstürme waren ungefähr 30 Mann, jedoch muss ich an dieser Stelle bemerken, dass in der ersten Zeit, als vor allem Münchner SSLeute in Dachau waren, eine ziemliche Disziplinlosigkeit herrschte [...]“67 Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung des Konzentrationslagers in den Tagen der Übernahme durch die SS zu sehen.
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Zeugenvernehmungsprotokoll Emil Schuler, vom 29. März 1951, StAM Stanw 34.462/9, s. auch Anm. 117.
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Abb. 13: Namensliste der Fürther ‚Schutzhäftlinge‘ mit Benario (Nr. 1) und Goldmann (Nr. 4).
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Abb. 14: Namensliste der Nürnberger ‚Schutzhäftlinge‘ mit Arthur Kahn (Nr. 12).
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Die Führungsverhältnisse hatten sich umgekehrt: Die SS hatte von nun an die Befehlsgewalt, die Polizei war nur noch nachgeordnet. Damit markiert der 11. April, es ist der Dienstag der Osterwoche 1933, einen Wendepunkt. Die zunächst noch unklar anmutenden Maßnahmen der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 wurden von diesem Tag an sehr konkret. Die Häftlinge waren von nun an völlig rechtlos der Willkür der SS preisgegeben. Das bisherige „Sammellager“ Dachau, wie es die Landespolizei noch bezeichnete hatte, wurde zum Konzentrationslager im späteren Sinn. Das heißt, dass sich das Verhältnis zwischen neuer Lagerleitung und SS-Wachmannschaft einerseits und den Gefangenen andererseits radikal veränderte, denn die Einstellung der Polizei war eine völlig andere als die der im Straßenkampf mit ihrem Gegner zu wüsten Gewalttaten neigenden SS-Männer. Allerdings herrschte an diesem Tag zunächst ein ziemliches Durcheinander: Während die Landespolizei abrückte, übernahm ein für den Wachdienst völlig unvorbereiteter und für die Aufgabe wenig motivierter Münchner SS-Zug deren Funktion. Unglücklicherweise trafen am selben Tag neben den Transporten aus Nürnberg und Fürth noch weitere „kommunistische Schutzhäftlinge“ ein, und zwar aus dem Bezirksamt Deggendorf 26, aus dem Bezirksamt Miesbach weitere 28 Häftlinge; weitere 56 kamen tags drauf aus Kempten, München und Sonthofen.68 Es dürfte auch in den nächsten Tagen ziemlich chaotisch zugegangen sein. Organisatorische Unfähigkeit der Lagerleitung und der Zustrom von Häftlingen führten offenbar zu Erregungszuständen, die tagelang anhielten.69 Vor allem der neue Lagerkommandant sei, so beschreibt ein Zeuge die Situation, sehr erregt gewesen, jener SS-Hauptsturmführer Hilmar Wäckerle,70 der im Lager nur mit Schäferhund und Ochsenziemer herumgelaufen sei. Er habe sogar kommunistische Überfälle und Gefangenenbefreiungsversuche befürchtet. Und weitere Häftlingstransporte waren angekündigt.71
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S. dazu die Transportlisten vom 11. April 1933 ITS Digitales Archiv, 1.1.6.1/0001-0189/ 0093/0042 und 46 ITS Bad Arolsen, sowie das Grundbuch Landsberg. Schuler, ebd., beschreibt einen Fall, der sich beim Eintreffen von Häftlingen im Lager abspielte. Ein SS-Mann habe einen aus dem Omnibus aussteigenden Häftling sofort niedergeschlagen und habe auf seinem Körper herumgetrampelt. Als Schuler einschritt, erklärte der SS-Mann, das gehe ihn nichts an, er sei bloß Polizei-Offizier. Hilmar Wäckerle, geb. am 24. November 1899 im fränkischen Forchheim, war ein ebenso strammer wie brutaler Nationalsozialist. Er war ein Vertrauensmann Himmlers aus frühen Freikorpstagen des Freikorps Oberland, das für Erschießungen von Kämpfern der Münchner Räterepublik verantwortlich war. Als „Oberländer“ nahm er 1923 am Hitlerputsch teil; im Januar 1929 Eintritt in die SS. Sein Vorgesetzter in der 29. SS-Staffel im Frühjahr 1933 war SS-Brigadeführer Freiherr von Malsen-Ponickau (s. Anm. 74). Vom 29. März bis 15. Juli 1933 war Wäckerle Kommandant in Dachau. Vgl. hierzu die SS-Stammrolle, BA-Berlin, ehem. BDC-Bestand, SSO Wäckerle, Hilmar und die Personalakte Wäckerle, in: BA-Berlin, RS Sig. 60507, insb. seinen handschriftlichen Lebenslauf vom 6. Juni 1934. Wäckerle ist am 2. Juli 1942 im Osten gefallen. Dazu: ITS Bad Arolsen, Digitales Archiv, Doc. No. 9908431/1...33,1/...37/1/...41/1.
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In dieser Situation muss Wäckerle oder sein Wachtruppführer, der SSSturmführer Robert Erspenmüller,72 den Befehl gegeben haben, zur Einschüchterung der Häftlinge das erste Massaker zu verüben. Wie die dramatischen Ereignisse abliefen, ist mit einer Fülle von späteren Zeugenaussagen und Quellen gut belegt. Denn an diesem 12. April geschahen die ersten Morde von Dachau, auf die Andersch offensichtlich Bezug nimmt. Aber im Gegensatz zu seiner faktenarmer Darstellung lassen sich die näheren Umstände der Tat ziemlich genau rekonstruieren: Da sind zum einen die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft München von 1933 und nach 1945 zu den Morden an „Goldstein und Binswanger“, wie Andersch sie nennt. Zum andern gibt es Obduktionsberichte der Gerichtsmedizin und die Aussage der Ehefrau des zunächst überlebenden Häftlings Erwin Kahn; ferner Dutzende Zeugen, die im späteren Prozess gegen Steinbrenner und seine Mitangeklagten vor dem Münchner Landgericht aussagten. Und dann sind da die erhalten gebliebenen Transportlisten der nach Dachau verbrachten Nürnberger Häftlinge, auf denen sowohl die Ermordeten wie auch die späteren Tatzeugen verzeichnet sind. Diese Listen belegen, dass die von Andersch genannten „Goldstein“ und „Binswanger“ fiktive Namen sind (im Gegensatz zu den mit Klarnamen benannten KPGenossen Anderschs); sie widerlegen vor allem seine Darstellung von den angeblich hundert Nürnberger Juden. Mit dem Nürnberg/Fürther Transport, aufgezeichnet auf drei Listen mit insgesamt 60 Schutzhäftlingen, beginnt die exakte dokumentarische Überlieferung der Häftlingstransporte nach Dachau (Abb. 12, 13, 14).73 Sie enthalten u.a. auch die Berufsbezeichnungen der Häftlinge. Entgegen der Wahrnehmung Anderschs waren die Verhafteten fast ausschließlich einfache Arbeiter und Handwerker, darunter viele Genossen des Nürnberger KJV; also keine „Bourgeoisie“, schon gar keine „Juden in guten Anzügen“, wie Andersch hart an der Grenze zum antisemitischen Stereotyp schreibt. Denn sie waren in ihrer überwältigenden Mehrzahl – wie die Transportlisten beweisen – weder Juden noch „Bourgeoisie“, sondern einfache KPD-Parteimitglieder, Sozialdemokraten und Gewerkschafter, die wegen angeblicher „kommunistischer Umtriebe“ verhaftet worden waren. Und dass sie nach vier Wochen Haft noch „gute Anzüge“ trugen, ist wohl eher Teil dieses Stereotyps. Insgesamt ist Anderschs Beschrei-
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Robert Erspenmüller, SS-Sturmbannführer, geb. am 04. März 1903 in Nürnberg, wurde wegen Unterschlagung von Parteieinnahmen im November 1931 von Himmler persönlich aus der SS entlassen und wieder rehabilitiert. Er stand jedoch wegen dieses Verfahrens unter erheblichen Bewährungsdruck. Erspenmüller ist am 23. Mai 1940 gefallen, s. hierzu BA-Berlin, RS Sig. BO 238. Transportlisten Nürnberg/Fürth, vom 11. April 1933, ITS Bad Arolsen, Digitales Archiv, Doc. No. 9908424/1,...26/1,...27/1,...28/1 (s. auch Abb. 13 u. 14).
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bung der Ankunftsszene der „Nürnberger“ nicht mit den späteren Zeugenaussagen, die gerade von dieser Gefangenengruppe in großer Zahl vorhanden sind, in Übereineinstimmung zu bringen. Immerhin waren vier der „Nürnberger“ tatsächlich jüdischen Glaubens, und zwar der Volkswirt Dr. Rudolf Benario und sein Freund, der Handelsvertreter Ernst Goldmann, beide aus Fürth, der Würzburger Medizinstudent Arthur Kahn und der Nürnberger Handelsvertreter Karl Lehrburger. Drei von ihnen sollten den nächsten Tag nicht überleben. Auf den Nürnberger Listen befinden sich ferner die Hauptbelastungszeugen der späteren Anklage im Prozess gegen Steinbrenner. Ihr präzises Erinnerungsvermögen sollte nach 1945 zur Aburteilung Steinbrenners und weiterer SS-Täter beitragen. Der 11./12. April markiert eine totale Abkehr von dem bisher noch einigermaßen aufrecht erhaltenen Konzept von rechtsförmiger „Schutzhaft“ unter staatlicher Obhut. Zwar sah § 5 der erwähnten „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ bereits die Todesstrafe für „schweren Aufruhr“ vor, aber den konnten „Schutzhäftlinge“ im strengen Gewahrsam von Dachau kaum noch begehen. Dennoch ist vor diesem Hintergrund der schnelle Umschwung im Lager hin zu völliger Rechtlosigkeit zu sehen. Und sicher bezog Himmler aus diesem Artikel die Legitimation für das, was unter seiner Obhut in Dachau mit den verhassten Kommunisten geschah. Das mörderische Klima war längst geschaffen. Ein Signal hierfür hatte es bereits wenige Tage nach Eröffnung des Lagers gegeben, als ein Vorkommando der Münchner SS in das Lager eingedrungen war. Ihr Anführer, der Münchner SS-Abschnittsführer Erasmus Freiherr von Malsen-Ponickau, Steinbrenners Vorgesetzter, hatte zu nächtlicher Stunde in der Nähe der Unterkünfte eine „blutrünstige Rede“ vor den künftigen SS-Wachmännern gehalten: Kameraden von der SS! Ihr alle wisst, wozu uns der Führer berufen hat. Wir sind nicht hierher gekommen, um diesen Schweinekerlen da drinnen menschlich zu begegnen. Wir betrachten sie nicht als Menschen, wie wir sind, sondern als Menschen zweiter Klasse. Jahrelang haben sie ihr verbrecherisches Wesen betreiben können. Aber jetzt sind wir an der Macht. Wenn diese Schweine zur Macht gekommen wären, hätten sie uns alle die Köpfe abgeschnitten. Daher kennen wir auch keine Gefühlsduselei. Wer hier von den Kameraden kein Blut sehen kann, passt nicht zu uns und soll austreten. Je mehr wir von diesen Schweinehunden niederknallen, desto weniger brauchen wir zu füttern.74
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Grünwiedl, Martin: Dachauer Gefangene erzählen ... (anonyme Flugschrift), KZ Gedenkstätte Dachau Archiv-Nr. 550, S. 3. Grünwiedl schrieb seine Hafterfahrung kurz nach seiner Entlassung im Sommer 1934 auf. Gemeinsam mit einer Gruppe junger Kommunisten wurde sie unter dramatischen Umständen hergestellt und im Raum München verteilt. Diese Rede wird mal auf den 23., mal auf den 25. März datiert.
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Dieses Zitat dürfte beispielhaft die Einstellung der SS zu ihren politischen Gegnern belegen, auch wenn der Jungkommunist Grünwiedl75 in der Diktion seiner anonymen Flugschrift von 1934 übertrieben haben mag. Zwar zog sich die SS zunächst wieder aus dem inneren Lager zurück. Aber die Gefangenen ahnten, was sie zu erwarten hatten, wenn der bisherige Wachdienst, die korrekten Beamten der Landespolizei, durch diese Truppe ersetzt würde. Am 12. April, am Tag zwei der Lagerübernahme durch die SS, war die Zeit der „Gefühlsduselei“ vorüber. In aller Härte verkündete Polizeipräsident Himmler tags drauf der Öffentlichkeit in einer Pressekonferenz, was sich ereignet hatte: „Am Mittwoch Nachmittag unternahmen vier von den im Konzentrationslager Dachau untergebrachten Kommunisten einen Fluchtversuch. Da sie auf die Halterufe der Posten nicht hörten, gaben die Posten Schüsse ab, wobei drei Kommunisten getötet und einer schwer verletzt wurden.“76 Mit dieser dreisten Lüge, sie wurde in vielen Blättern reichsweit verbreitet, startete Himmler den Auftakt zu einer bisher unbekannten Eskalation staatlicher Gewalt gegen die Schutzhaftgefangenen. Diesem Kapitalverbrechen sollten in dem von der Öffentlichkeit völlig abgeriegelten Hochsicherheitsgefängnis in den nächsten Wochen weitere zum Opfer fallen.77 Aber was war das Motiv für diese ersten Morde? Sicher nicht die Angst der SS vor einem kommunistischen Überfall auf das Lager.78 Ausschlaggebend dürfte gewesen sein, dass die SS-Führung den lang aufgestauten Hass gegen die Feindbilder „Jude“ und „Kommunist“, der sich auch außerhalb des Lagers in „wilden Aktionen“, wie sie sich in den Ausschreitungen zum so genannten „Antiboykottag jüdischer Geschäfte“ am 1. April gezeigt hatten, nicht zu bändigen gewillt war.79 Statt in München oder sonst wo an der „nationalen Revolution“ teilzuhaben, sah sich die SS zum frustrierenden Wachdienst abgeschoben. Da bedurfte es nur einer „Aufmunterung“ durch Vorgesetzte wie den SS-Führer von MalsenPonickau, um letzte Hemmungen zur Gewalttätigkeit zu beseitigen.
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Grünwiedl hat die Nummer 102 in der Landsberger Haftliste und wurde ebenfalls am 22. März nach Dachau eingeliefert. „Missglückter Fluchtversuch im Konzentrationslager Dachau“. In: Münchner Neueste Nachrichten, vom 14./15. April 1933, Pressesammlung der KZ-Gedenkstätte Dachau. Vgl. hierzu die privaten Aufzeichnungen des ermittelnden Staatsanwalts Josef Hartinger vom Münchner LG II aus dem Jahr 1933 über die Mordfälle dieses Jahres in Dachau. Danach wurde er wegen 15 Mordfällen nach Dachau gerufen. Weitere Fälle bearbeitete sein Vorgesetzter Oberstaatsanwalt Karl Wintersberger. StAM Stanw 34.825/1. Dies vermutet Polizeileutnant Schuler in seiner Aussage zum Tathergang vom 12. April, s. u. Anm. 108. Dazu Adam, Uwe Dietrich: Judenpolitik im Dritten Reich. Düsseldorf 1979, S. 85f.
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Dabei entsprachen die Gefangenen eigentlich kaum dem von der NSPropaganda verbreiteten Bild gefährlicher, von Moskau gesteuerter Umstürzler. Himmler selbst war nach der ersten Verhaftungswelle mit dem Ergebnis unzufrieden gewesen. Man hatte, von Beimler und einigen Landtagsabgeordneten abgesehen, letztlich nur harmlose „kleine Fische“ gefangen, die man schwerlich zu einer Bedrohung des Staats aufbauschen konnte. Der vertrauliche Report der Politischen Polizei vom 25. Mai 1933 spiegelt dies wider: „Bei der am 10.III.1933 durchgeführten Razzia konnten in der Hauptsache nur mittlere und untere Funktionäre in München festgenommen werden. Seither wurde zwar eine große Anzahl von Hauptfunktionären ausgemittelt und in Schutzhaft genommen [...], die größere Zahl hingegen konnte bis heute noch nicht erfasst werden.“80 Es folgt eine Aufzählung der in der „Razzia“ bereits verhafteten lokalen Funktionäre. Das sind u.a. neben (dem bereits geflüchteten) Hans Beimler der am 9. Mai 1933 in Dachau ermordete Josef Götz und Arthur Müller; ferner der am 7. Mai 1933 ermordete kommunistische Landtagsabgeordnete Friedrich Dressel und der am 17. Oktober ermordete Wilhelm Franz. Der vorgebliche KJV-Organisationsleiter Andersch wird im Polizeireport nicht erwähnt. Himmler sah den Kern des Widerstands noch nicht erfasst. Daher heizte er die aggressive Stimmung in der Politischen Polizei und seiner SSHilfspolizei weiter an. Offen empfahl er zur „Ausrottung des Kommunismus“ künftig „rücksichtsloses Vorgehen gegen die Agitatoren“ sowie „schärfste Maßnahmen gegen die Funktionäre und Parteiarbeiter jeder Art“. Von nun an hatte jeder, der in der Vergangenheit auf die Listen der Politischen Polizei geraten war, mit gnadenloser Verfolgung zu rechnen. Der exekutiven Gewalt waren von nun an kaum noch Grenzen gesetzt. Auf der Jagd nach Kommunisten wurden in den Städten Bayerns ganze Stadtviertel abgeriegelt und systematisch durchkämmt.81 Dem Terror im Lager entsprach die Einschüchterung der Bevölkerung.
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Bayerische Politische Polizei, Die kommunistische Bewegung in Bayern seit dem 9. März 1933, München, den 25. Mai 1933, BayHStA StK 6312, Bl. 53f. Solche Aktionen sind dokumentiert im Archiv der bayrischen Landespolizei, BayHStA/Abt. IV Bay Lp.
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IV „Goldstein und ‚Binswanger‘“: Exkurs über die ersten Toten von Dachau Dem ersten Dachauer Mord fielen vier junge Männer zu Opfer, von denen drei am 11. April mit den Nürnberg/Fürther Transporten angekommen waren. Johannes Tuchel bemerkt, Andersch korrigierend: „Tatsächlich wurden am Abend des 12. April 1933 die Gefangenen Arthur Kahn, Dr. Rudolf Benario, Ernst Goldmann und Erwin Kahn von der SS abgesondert und erschossen, angeblich bei einem ‚missglückten Fluchtversuch‘. Nur Erwin Kahn überlebte den Mordanschlag, bevor auch er am 16. April 1933 seinen Verletzungen erlag. Bei Andersch finden wir nur den Verweis auf ‚Goldstein‘ (richtig: Goldmann) und ‚Binswanger‘ (richtig: Benario), die beiden anderen Häftlinge nennt er nicht. Seine Schilderung deckt sich auch nicht mit den bekannten Details.“82 Das ist, grob gesehen, richtig und verweist auf das mangelnde Erinnerungsvermögen (oder die anders gelagerte Darstellungsabsicht) des Zeitzeugen Andersch. Von den vier Ermordeten war Benario der politisch aktivste gewesen. Er war ein enger Freund von Ernst Goldmann; beide wohnten in Fürth. Der dritte Tote war der Würzburger Medizinstudent Arthur Kahn aus dem unterfränkischen Gemünden am Main. Der Münchner Erwin Kahn hatte das Massaker zunächst schwerverletzt überlebt. Er starb jedoch vier Tage später unter mysteriösen Umständen in einem Münchner Krankenhaus. Ihnen soll hier ihre Identität zurückgegeben werden, die ihnen Andersch in Die Kirschen der Freiheit verweigerte, aus welchen Gründen auch immer. Rudolf Benario Rudolf Benario (Abb. 15) wurde am 20. August 1908 in Frankfurt am Main geboren. Er entstammte einer bürgerlich-liberalen jüdischen Familie. Sein Vater Leo Benario, Wirtschaftsredakteur bei der berühmten Frankfurter Zeitung, war verheiratet mit Marie Bing, der jüngsten Tochter des Großindustriellen Ignatz Bing (1840–1918). Der Geheime Kommerzienrat Bing, Mitbegründer der Nürnberger Spielwarenindustrie, beschäftigte 1912 in seinen Fabriken etwa 15.000 Mitarbeiter.
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Tuchel: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Korolnik u. Andersch-Korolnik: Sansibar, S. 32.
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Abb. 15: Rudolf Benario (1908–1933).
Er gehört bis heute zu den großen philanthropischen Gestalten Nürnbergs. Seine private Leidenschaft galt der Höhlenforschung in der Fränkischen Schweiz.83 Sein Schwiegersohn Leo Benario erhielt 1920 den Ruf zur Gründung eines Instituts für Zeitungskunde an der dortigen Universität. Er war bis zu seiner Zwangsentlassung dessen Leiter.84 Zugleich lehrte er an der Handelshochschule Nürnberg im Fach Zeitungswissenschaft. Sein Sohn Rudolf studierte nach dem Abitur 1927 zunächst in Erlangen Recht und Sozialökonomik, wechselte dann nach Würzburg und Berlin, um in Erlangen als Diplom-Volkswirt abzuschließen. Hier wurde er im November 1932 promoviert.85
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Über seine Rolle im kulturellen Leben Nürnbergs siehe seine Autobiografie: Bing, Ignaz: Aus meinem Leben. Erinnerungen eines Nürnberger Unternehmers und Höhlenforschers 1840–1918. Hg. u. eingel. v. Jürgen Zieslik. Jülich 2004. Ignatz Bing ist der Entdecker der nach ihm benannten Bing-Höhle im fränkischen Streitberg. Zu Leo Benarios Wirken in Nürnberg vgl. die Studie von Peter Szyska: Zeitungswissenschaft in Nürnberg (1919–1945). Ein Hochschulinstitut zwischen Praxis und Wissenschaft. Kommunikationswissenschaftliche Studien Bd. 8. Nürnberg 1990. In der gründlichen Studie bleiben die tragischen Ereignisse um Sohn Rudolf allerdings unberücksichtigt. Benario, Rudolf: Wirtschaftsräte in der deutschen Literatur und Gesetzgebung der Jahre 1840 bis 1849. Inaugural-Dissertation. Erlangen 1933.
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Benario hatte sich bereits als Student politisch hervorgetan. Im Allgemeinen Studentenausschuss vertrat er die Fraktion „Freiheitlicher Studenten“, eine Gruppierung im politisch linken Spektrum. Schon früh geriet er ins Visier der rührigen Erlanger NS-Studentenschaft. Denen passte Benario als Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft republikanischer Studenten ins stramm „völkische“ Feindbild: Er war der Spross einer ebenso prominenten wie wohlhabenden jüdischen Familie und zugleich ein politisch engagierter Verteidiger der Republik. Seine Teilnahme an Demonstrationen außerhalb der Universität gegen soziale Deklassierung in Fürth galt nicht nur den Nazi-Kommilitonen als „kommunistische Agitation“. Benario kam als angeblicher Aufwiegler einer Arbeitslosendemonstration im Sommer 1931 in Fürth vor Gericht. „Der Student (Benario) bekannte sich vor Gericht zur kommunistischen Partei, doch bestritt er jegliche Führerschaft innerhalb der Partei. [...] Aufgeputscht habe er niemand.“86 Er wurde zu 80 RM, ersatzweise 8 Tage Haft verurteilt wegen „Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei“. Von da an wurde er von der Politischen Polizei beobachtet. Auch sein Rektor beteiligte sich an seiner Denunziation. Am 12. Dezember 1932 schrieb er an das Staatsministerium für Unterricht und Kultus auf dessen Anfrage zur „Kommunistischen Bewegung“ an seiner Universität. Es gäbe bisher keinen Anlass, hierzu Stellung zunehmen. Einzelne Studierende, vor allem der stud. rer. pol. Benario hätten sich wohl „zeitweilig mit kommunistischer Agitation befasst“; der gehöre aber jetzt der sozialdemokratischen Partei an. Weder Benario noch der Republikanische Studentenbund seien zurzeit nachweislich einer „kommunistischen Tendenz“ verdächtig.87 Aber solche feinen Unterschiede wurden mit der Machtergreifung Hitlers hinfällig, zumal Rudolf Benario über seinen Freund Ernst Goldmann gute Verbindungen auch mit dem KJV pflegte. In der Nacht zum 10. März 1933 konnten die Nationalsozialisten vor Ort mit ihren Gegnern abrechnen. Das taten sie schnell und gründlich. Bereits am nächsten Morgen erschien im Fürther Anzeiger zu Benario ein hämischer Artikel: „[...] der sattsam bekannte kommunistische Winsler und Jude Benario [wurde, R.S.] in Schutzhaft genommen. Er hat erklärt, dass er mit hohem Fieber, 39°, ‚Reisefieber‘ offenbar, bettlägerig sei. Es nutzte aber nichts, er musste ins Kittchen [...]“88 Vier Wochen später, am 11. April, wurden die
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„Politische Ausschreitungen in der Schwabacher Straße“. In: Nordbayerische Zeitung vom 13. Oktober 1931, faksimiliert abgedruckt in: Birken am Rednitzufer. Eine Dokumentation über Dr. Rudolf Benario, am 12. April 1933 im KZ Dachau ermordet, S. 9. Diese bewundernswerte 15-seitige Schrift wurde 2003 von der Klasse 9b der Hauptschule Soldnerstraße in Fürth erstellt, o.J. und dem Verf. überlassen vom Stadtarchiv Fürth. Das Schreiben ist faksimiliert wiedergegeben in: Ebd., S. 7. Zeitungsfaksimile, Ebd., S. 10.
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Fürther Häftlinge, zusammen mit den ‚Nürnbergern‘, per Bus nach Dachau überführt. Benario war Nr. 1 auf der Liste der Schutzhäftlinge (Abb. 13). Auf dieser Fahrt in den Tod sei es lustig zugegangen; auch die Internationale hätten die Ahnungslosen gesungen, so ein Überlebender. Mit der Verhaftung seines Sohnes geriet Vater Leo Benario ebenfalls in Schwierigkeiten: Noch bevor das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 in Abs. 3 verfügte, dass „Beamte, die nicht arischer Abstammung sind“, in den Ruhestand zu versetzten seien, gab Rektor Helander eine Pressemitteilung heraus, in der er mitteilte, Benario sei als Leiter des Zeitungswissenschaftlichen Instituts und als Dozent an der Handelshochschule mit sofortiger Wirkung beurlaubt.89 Offensichtlich wurde Leo Benario der Tod seines Sohnes umgehend schriftlich mitgeteilt, auch dass dessen Leiche bereits am 15. April in München eingeäschert worden war. Und so gab er am 18. April 1933 im Fürther Tagblatt folgende Todesanzeige auf: Jäh erlosch das von wissenschaftlichem Erkenntnisdrang erfüllte hoffnungsreiche Leben unseres geliebten Sohnes, Bruders und Bräutigams, des Herrn Dr. rer. pol. Rudolf Benario im Alter von 24 Jahren. Im Namen der von schwerem Leid Betroffenen: Leo Benario.90
Nach der Beisetzung der Urne seines einzigen Sohnes am 24. April 193391 brach Leo Benario zusammen. Die Familie verließ Fürth, nachdem auch die Tochter Irene in der Universität Erlangen von der NS-Studentenschaft bedroht wurde. Die Braut Rudolf Benarios nahm sich am 1. Jahrestag seiner Ermordung, am 12. April 1934, das Leben. Wenig später floh die Familie über Italien in das südfranzösische Nizza. Dort erfuhren sie im August 1938 von ihrer Zwangsausbürgerung. Fortan lebte das Ehepaar Benario von der Unterstützung durch die örtliche jüdische Gemeinde. Leo Benario starb im August 1947 in Nizza völlig verarmt. Danach versuchte die Witwe ihre materielle Lage durch Entschädigung aufzubessern, denn sie lebte, wie ihr Anwalt aus Nizza 1951 an den Oberbürgermeister der
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„Folgende Notiz wolle der hiesigen Tagespresse zugestellt werden: ‚Redakteur a. D. ist als nebenamtlicher Dozent Benario an der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Handelshochschule) Nürnberg für das S.S. 1933 beurlaubt und wird seine Tätigkeit nicht mehr aufnehmen.‘ Nürnberg, 23. März 1933. Der Rektor: Helander [Unterschrift].“ Aus: Personalakte Leo Benario, Archiv der WISO-Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg. Fürther Tagblatt vom 18. April 1933. Die Todesanzeige ist faksimiliert wiedergegeben in: Birken am Rednitzufer (s. Anm. 86), S. 2. Grabbuch der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, Eintrag Benario. Nach Mitteilung der KZ-Gedenkstätte Dachau wurden „Einäscherungen von gestorbenen Dachau-Häftlingen in den Jahren vor 1940 (wohl auf Befehl der Lagerleitung) im Münchner Krematorium (im Ostfriedhof) durchgeführt“.
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Stadt Nürnberg schrieb, als „eine 65jährige, kranke, vom Schicksal gebrochene Frau in den allerdürftigsten Verhältnissen“.92 Den Antrag auf Entschädigung für entgangene Dienstbezüge und Wiedergutmachung für das enteignete Vermögen oder den ermordeten Sohn lehnte das bayerische Landesentschädigungsamt endgültig ab. Auch die Stadt Nürnberg verweigerte eine Entschädigung mit Hinweis auf die „außerordentliche finanzielle Belastung durch die Kriegsfolgen“.93 Ernst Goldmann Der Handelsvertreter Ernst Goldmann, geboren am 20. Dezember 1908 in Fürth/Bayern, war ein enger Freund Benarios. Seine Eltern waren im Gegensatz zu den Benarios kleine Leute. Sie betrieben in ihrer Heimatstadt ein Schuhgeschäft. Ernst war das älteste von drei Kindern. Er absolvierte die Israelitische Realschule in Fürth. Nach einer kaufmännischen Lehre arbeitete er als Vertreter. Um 1930 trat er der KPD bei und geriet wegen Teilnahme an einer verbotenen Demonstration gegen § 218 im Oktober 1931 ins Visier der Politischen Polizei. Zwar wurde er im Mai 1932 freigesprochen, aber er galt fortan als „politischer Unruhestifter und kommunistischer Aufwiegler“.94 Zusammen mit seinem Freund Benario in den frühen Morgenstunden des 10. März verhaftet, wurde er mit ihm einen Monat später nach Dachau verbracht (Nr. 4 auf der Fürther Liste, Abb. 13), wo beide gemeinsam am 12. April ermordet wurden. Die Urne mit der Asche Ernst Goldmanns wurde im Neuen Friedhof Fürth beigesetzt, wo genau, ist nicht mehr erkennbar. Die Eltern Ernst Goldmanns blieben zunächst in Deutschland. Nach der so genannten „Reichskristallnacht“ wurde ihr Schuhgeschäft „arisiert“. Mit dem verbliebenen geringen Restvermögen versuchten sie auswandern. Dies wurde ihnen verweigert. Nach Mitteilung des Stadtarchivs Nürnberg
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Schr. L. Stern an den Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg vom 29. Juli 1951: „Ich glaube mich der Hoffnung hingeben zu dürfen, dass die Stadt Nürnberg es als eine Ehrenpflicht betrachten wird, die einzige, noch überlebende Tochter eines ihrer größten Männer nicht im Elend verkommen zu lassen.“ Man verweigerte Marie Benario sowohl eine Entschädigung für die Hochschullehrertätigkeit ihres Mannes wie auch für den ermordeten Sohn, vgl. Personalakte Benario. Schr. der Stadtverwaltung an Rechtsanwalt Stern, Nizza, vom 24. September 1951, ebd. S. dazu: Strafverfahren Amtsgericht Fürth vom 28. Mai 1932, StAM Nürnberg 935/1/V Nr. 20. Nähere Hinweise auf die Umstände, wie der Jungkommunist Ernst Goldmann auf die Liste der Politischen Polizei geriet und den ausweglosen Versuch der Familie Goldmann, Deutschland zu verlassen, beschreibt in einem instruktiven Internet-Aufsatz Imholz, Siegfried: „Die Auswanderung des Siegfried ‚Israel‘ Goldmann ist daher nicht mehr möglich ...“. http://www.der-landbote.de/Downloads/Familie%20Goldmann %20gesamt.pdf (Stand: 24.06.2011).
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deportierte man das Ehepaar Siegfried und Meta Goldmann am 22. März 1942 mit einem Sammeltransport in das Durchgangslager Izbica bei Lotsch.95 Als nicht mehr arbeitsfähig wurden beide wenig später nach Auschwitz verbracht und dort ermordet. Den beiden jüngeren Geschwistern Ida und Carl Goldmann gelang die Flucht aus Deutschland. Arthur Kahn96 Kahn (Abb. 16) wurde am 15. Dezember 1911 im dörflichen Mittelsinn, Unterfranken, als ältester Sohn von Levi und Marta Kahn geboren. Seine Eltern waren kleine Kaufleute, die 1933 in der Hauptstraße von Gemünden am Main ein Einzelhandelsgeschäft betrieben. Kahn besuchte die Oberrealschule im 40 Kilometer entfernten Würzburg. Nach dem Abitur schrieb er sich im Sommersemester 1932 an der Universität Würzburg für das Studium der Medizin ein. Allerdings scheint sich der junge Mann aus der Provinz auch für das politische Geschehen in diesen unruhigen Tagen interessiert zu haben, denn er wurde bereits am 27. Mai 1932 offensichtlich von der Landespolizei als Teilnehmer an einer Versammlung der „Gemeinschaft zur Wahrung wirtschaftlicher Belange“97 in einer Würzburger Gaststätte registriert, wie es in seiner Gestapo-Akte heißt: „Festgestellt auf Grund erfolgter Aushebung.“ Und: „Über K. wurde an die BBP. berichtet.“98 Dieser Bericht an die Bayrische Politische Polizei dürfte ihm zum Verhängnis geworden sein, denn aufgrund dieser Meldung erfolgte der Eintrag in die Liste kommunistischer Studenten. Allerdings sieht es so aus, als sei Kahns Gestapo-Akte aus dem Jahr 1936 zur nachträglichen Legitimation des Mords an dem gerade 21jährigen angelegt worden.
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Ebd., S. 17. Im aktuellen Katalog Konzentrationslager Dachau 1933 bis 1945, Text- und Bilddokumente zur Ausstellung. Dachau 2005, S. 63, heißt es: „Exemplarische Erschießung von vier Häftlingen. Schon am zweiten Tag, den 12. April 1933 führten die (?) SS-Männer vier jüdische Häftlinge, Dr. Rudolf Benario, Ernst Goldmann, Erwin Kahn und Arthur Kahn, aus dem Lager und erschossen sie ‚auf der Flucht‘. Arthur Kahn wurde schwer verwundet und starb im Krankenhaus.“ Die Bezeichnung „exemplarisch“ ist unklar; der eindeutige Begriff „Mord“ für den Tathergang wird ersetzt durch die offizielle Sprachregelung von 1933. Die Opfer werden verwechselt: Erwin Kahn war der zunächst Überlebende und nicht sein Namensvetter Arthur Kahn, der sofort tot war. Nach Auskunft des Stadtarchivs Würzburg gibt es über diese „Gemeinschaft“ keine Unterlagen. Sie sei als nicht relevant einzustufen. Dies erstaunt, denn die Gestapo-Akte Kahn verweist ausdrücklich auf eine nicht mehr vorhandene Gestapo-Akte über diesen Verein. Staatsarchiv Würzburg, Gestapostelle Wü, Sig. 2919: „Siehe Akt Komm.[unistische] Studenten bei 9.“
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Abb. 16: Arthur Kahn (1911–1933).
Arthur Kahn war ein politisch eher harmloser Student, der dem Verfolgungseifer der Würzburger Polizei wohl zufällig zum Opfer fiel. Selbst die Gestapo konnte auf dem „Auszug aus dem Karteiblatt“ nichts eintragen.99 Möglicherweise wurde er auch das Opfer der Hetzjagd gegen jüdische Studenten, die die Würzburger NS-Studentenschaft schon vor der Machtergreifung betrieb.100 Und gewiss war Kahn auch kein „kommunistischer Funktionär“, wie es auf der Transportliste der Nürnberger Politischen Polizei heißt,101 denn weder im Universitätsarchiv noch im Stadtarchiv Würzburg finden sich Hinweise auf eine politische Betätigung. Fest steht, dass Kahn am 10. März in Nürnberg in den Sog der Verhaftungswelle geriet und auf Grund dieser Tatsache bereits am 16. März in Würzburg exmatrikuliert wurde, wie auf seiner Studentenkarteikarte ordnungsgemäß festgehalten ist. Dort findet sich auch der handschriftliche Nachtrag mit Todeszeichen: „Wurde nach Zeitungsmeldungen bei der Flucht aus dem Konzentrationslager Dachau am 12.4.33 erschossen“102 (vgl. Abb. 17). Am 14. April stellte der Münchner Gerichtsarzt Dr. Flamm den „Leichenschauschein“ aus. Flamm war Mitglied der Gerichtskommission von
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Der gesamte Eintrag unter „Bemerkungen“ lautet: „Kahn war in der Versl. der ‚Gemeinschaft zur Wahrung wirtschaftlicher Belange‘ am 27.5.32 im Münchner-Hof anwesend. Festgestellt auf Grund erfolgter Aushebung. Über Kahn wurde am 6.5.36 an die B.P.P. berichtet. Siehe Akt: Komm. Studenten bei 9.“ 100 S. hierzu Baumgart, Peter (Hg.): Die Universität Würzburg in den Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Biographisch-systematische Studien zu ihrer Geschichte zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Neubeginn 1945. Würzburg 2002. 101 „Verzeichnis der kommunistischen Funktionäre, die am 11.03.33 aus dem Untersuchungsgefängnis Nürnberg, Bärenschanzstraße, in das Konzentrationslager Dachau überstellt wurden.“ ITS, 1.1.6.1/0001-0189/0093/0031. Arthur Kahn ist Nr. 12 auf dieser Liste. 102 Universitätsarchiv Würzburg, Studentenkartei, Jg. 1933, Arthur Kahn.
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Staatsanwalt Hartinger, die am 13. April vormittags um 10 Uhr die Morde im Lager untersuchte. Als Todesursache trug er „Kopfdurchschuss, Gehirnlähmung“ ein. Der Todeszeitpunkt sei „nachmittags 17 Uhr“ gewesen. Dies ist der einzige Hinweis auf die ansonsten nirgendwo genannte Tatzeit. Bereits am 15. März veranlasste die Stadtverwaltung Dachau die Überführung der Leiche Kahns auf Kosten der Familie nach Nürnberg: „Die nach Vorschrift eingesargte Leiche (soll) mittels Leichenauto nach Nürnberg, neuer israelitischer Friedhof, zur Bestattung verbracht werden.“103 Den Eltern sowie den jüngeren Brüdern Herbert und Lothar Kahn gelang die Flucht aus Deutschland; ihre Schwester Fanny Weinberg, geb. Kahn, blieb in Deutschland und wurde mit ihrem sechsjährigen Sohn am 11./12. November 1941 von Frankfurt am Main aus in das Ghetto von Minsk deportiert. Beide wurden in einem Konzentrationslager ermordet.104 Am 15. Dezember 1993, dem 82. Geburtstag Arthur Kahns, meldete sich sein jüngerer Bruder Herbert N. Kahn aus Riverdale im US-Staat New York mit einem Brief beim Stadtmuseum Erlangen: „Mein Bruder war Student der Medizin in Würzburg am Main und war zur Zeit seiner Verhaftung auf Osterferien in Nürnberg. Er war auch sehr tätig in der Antinazi-Studentenbewegung in Würzburg. Er war sehr intelligent und in Debatten war er gewöhnlich der Gewinner. Es wurde meiner Mutter mitgeteilt, dass Arthur auf der Flucht erschossen wurde. Das ist eine Lüge, zumal alle vier Personen Schüsse in der Stirn hatten. Mein Bruder ist begraben im jüdischen Friedhof in Nürnberg.“105
_____________ 103 Aus: Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, Friedhofsverwaltung. 104 Nach Mitteilung von Aron Kahn, dem Sohn Herbert Kahns, aus Riverdale, N.Y., an den Verf. vom 18. April 2011. Siehe auch den Eintrag Fanny Weinberg in: Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945. Hg. v. Bundesarchiv Berlin (online). 105 Schr. von 15. Dezember 1993 von Herbert N. Kahn an Gertraud Lehmann, wiss. Mitarbeiterin des Stadtmuseums Erlangen. Kahn wollte auf diesem Weg die Universität Würzburg zu einem Gedenken an seinen Bruder anregen. Am 10. Januar 1996 meldete er sich erneut mit der Bitte, die Universität möge ihm Auskunft über ihren ehemaligen Studenten erteilen. Ich danke Frau Lehmann für die Überlassung der beiden Briefe.
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Abb. 17: Studentenkartei des Würzburger Medizin-Stundenten Arthur Kahn.
Erwin Kahn Erwin Kahn, geboren am 12. September 1900 in München, wurde am 11. März 1933 in München verhaftet. Offenbar war er bei einer Flaggenhissung durch die SA in eine Schlägerei verwickelt worden. Er wurde um 14 Uhr mit weiteren 45 Männern in „Schutzhaft“ genommen, wie das Haftbuch des Polizeigefängnisses in der Ettstraße ausweist.106 Von dort kam er drei Tage später zunächst in die Haftanstalt Stadelheim und dann am 22. März in das neu eröffnete Konzentrationslager Dachau. Von dort schrieb er seiner Frau am 23. März einen langen Brief mit dem Absender „Erwin Kahn, Konzentrationslager Dachau, Zimmer 21“: Liebe Evi, Du wirst heute sicher wieder nach Stadelheim gekommen sein und diesmal gehört haben, dass ich mein augenblicklich ungewolltes Domizil wechseln musste. Ich bin also jetzt in Dachau und zwar in einem Gebäude der ehemaligen Pulverfabrik. Bis heute hatte ich noch keine Gelegenheit vernommen zu werden und muss ich halt warten. Angst braucht ihr ja keine zu haben, denn ich bin ja kein Parteiangehöriger und habe auch nie eine Funktion gehabt, wie du ja weißt [...] [Es folgen
_____________ 106 StaM, Einlieferungsbuch 1933, Pol.Dir. 8563, Eintrag Nr. 3423.
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private Mitteilungen, wie die Bitte um warme Bekleidung, „dicke Socken, da der Boden kalt ist“, Rasierzeug und Zigaretten, R.S.]. Ich bin nur neugierig, wie lange die Sache noch dauert, bis wir, bzw. ich verhört werden. Ich möchte nicht nur essen und schlafen und warten, sondern wieder an meine Arbeit. Auf alle Fälle bitte keine Sorgen!107
Es folgt noch ein interessantes Postskriptum: „Da ich Dir nichts geben kann, wirst du jetzt vom Staat bzw. Stadt etwas erhalten. Dies wurde uns heute allen erklärt!“ Offensichtlich war das naive Vertrauen Kahns in den gerechten, fürsorgenden Staat auch durch die unbefristete „Schutzhaft“ noch nicht zerstört. Eine Gefährdung seiner Lage war ihm nicht bewusst. Am 30. März bedankte er sich für die Lebensmittel, die seine Frau ihm geschickt hatte. Verzweifelt schrieb er: „Ich habe nur einen Wunsch, dass ich endlich verhört werde, um alles klarzustellen. Ich war in keiner Partei und bin kein Kapitalist. Was kann man denn von mir schon wollen. Ich versuche, den Kopf oben zu halten [...]. p. s.: So oft ich schreiben kann, schreibe ich.“ 108 Am 5. April meldet er sich letztmals bei seinen Eltern, um sich für ein Päckchen zu bedanken: Ich habe wiederholt mich zum Rapport gemeldet und am 1. IV. ein Gesuch geschrieben. Ich versichere Euch nochmals, dass ich nicht weiß, warum ich verhaftet bin. Ich war im Leben in keiner Partei und wurde auf der Straße von einem S.A. Mann verhaftet. Die Hauptsache ist doch, dass ich vorläufig gesund bin, dann kann man den Kopf noch oben behalten. Im Allgemeinen kann ich bestimmt nicht klagen [...] Ich bitte Euch, macht Euch nicht allzu große Sorgen um mich. Ich hoffe!! bald wieder frei zu sein. In Liebe Euer treuer Erwin.109
Eva Kahn hörte erst wieder von ihrem Mann am Ostersamstag, den 15. April 1933. Sie war von der Klinik benachrichtigt worden, dass ihr Mann sie sprechen wolle. Bei ihrer Vernehmung nach 1945 durch den Untersuchungsrichter gab sie zu Protokoll: Ich begab mich sogleich dorthin und fand meinen Mann in einem Zimmer allein liegend im Bett. Das Zimmer war vergittert [...]. Vor dem Zimmer waren zwei uniformierte SA-Männer Wache gestanden. Die Beiden verwehrten mir den Eintritt, erst als Dr. Hecker die Leute wegschaffte, konnte ich mit ihm das Zimmer betreten. Ich hatte dadurch Gelegenheit, mit meinem Mann mehrere Stunden allein zu sein und zu sprechen. Mein Mann erklärte mir dabei folgendes: Er sei vorausgegangenen Mittwoch [...] in den Abendstunden mit Benario, Goldmann und Kahn beschäftigt gewesen, und zwar musste mein Mann Dachpappe schleppen. Dabei sei ihm der Schutzmann [muss heißen: SS-Mann, R.S.] Linsmeyer begegnet und habe ihn gefragt: ‚Ist es schwer?‘ Mein Mann erwiderte:
_____________ 107 Brief Erwin Kahn an Evi Kahn vom 23. März 1933 (beglaubigte Abschrift) StAM, Stanw, 34.465, Bl. 115+R. 108 Brief Erwin Kahn an Evi Kahn vom 30. März 1933 (beglaubigte Abschrift), ebd., Bl. 116. 109 Brief Erwin Kahn an die Eltern vom 5. April 1933, ebd., Bl. 117.
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‚Na, es geht schon.‘ Darauf sagte [...] Linsmeyer: ‚Dir wird dein dreckiges Lachen schon vergehen.‘ Mein Mann habe nämlich nach seiner Erzählung beim Antworten geschmunzelt. Gleich darauf habe mein Mann gesehen, wie Linsmeyer auf eine Entfernung von 7 Schritten [...] das Gewehr hob und auf Benario zielte, der mit meinem Mann die Dachpappenrolle trug. Mein Mann erzählte weiter, dass er daraufhin beide Hände vors Gesicht gab und sich selbst fallen ließ zur Erde. Von weiteren Vorgängen wisse er nichts mehr, da er das Bewusstsein verloren hat.110
Ihr Mann habe ihr das alles bei vollem Bewusstsein erzählt. Sie habe dann auch mit dem behandelnden Arzt gesprochen, der ihr erklärt habe, dass ihr Mann die schwere Operation seiner Kopfverletzungen gut überstanden habe,111 dass er möglicherweise mit dem Leben davonkomme, aber auch noch Lähmungserscheinungen auftreten könnten. Nach dieser relativ optimistischen Diagnose kam tags drauf, am Ostersonntag, die überraschende Meldung aus der Klinik, ihr Mann sei morgens um 4.30 Uhr gestorben: Nach der Beerdigung ging ich zur Staatsanwaltschaft München, da ich die Sache nicht auf sich beruhen lassen wollte. Es ist auch möglich, dass ich dorthin bestellt wurde. Ich habe damals mit einem Herrn Hartinger gesprochen. Dieser war sehr nett zu mir und hatte ich den bestimmten Eindruck gewonnen, dass er kein Nazi ist und den Tätern absolut nicht die Stange hielt. Gleichwohl riet er mir bei der gegebenen Sachlage, nichts weiter zu unternehmen, da die Gefahr bestünde, dass ich, wenn ich die Angelegenheit weiter verfolge, ebenfalls verhaftet würde, wobei er den Ausdruck gebrauchte, dass ich dann evtl. den selben Weg wie mein Mann gehen würde.
Zwar enthält die Aussage einige Ungereimtheiten zum Tathergang, aber in den Grundzügen stimmt sie mit weiteren Zeugenaussagen überein. Wieso Kahn, scheinbar auf dem Weg der Besserung, plötzlich starb, ist der Krankenakte Kahns nicht zu entnehmen. Allerdings gibt der Obduktionsbericht einen Hinweis. Zwar waren die beiden Kopfschüsse schwere Verletzungen, aber nicht die Todesursache. Stattdessen: „Blutsenkung in der Kehlkopfschleimhaut, hämorrhagisches Oedem mit erheblicher Verengung der Luftwege und die Verengung der Luftröhre“, die mit den Kopf-
_____________ 110 Aussage Euphrosina Ehlers (ehem. Kahn), vom 04. Februar 1953, StAM, Stanw, 34.465, Bl. 69+R, 70. 111 Kahn war von zwei gleichzeitig abgefeuerten Schüssen in den Kopf getroffen worden. Beide waren in die rechte Wange eingedrungen; einer trat hinter dem linken Ohr, der andere beim linken Auge aus. Beide Verletzungen seien nicht tödlich. Die Krankenakte hält für den 12. April fest: „Der Verletzte ist vollkommen geistig klar“ und: Mit dem rechten Auge „kann der Kranke die Umstehenden deutlich erkennen.“. Dann aber: „16.4.: (Um) 4.30 tritt plötzlich der Tod ein.“ Dazu: „Krankheitsgeschichte Kahn, Erwin, Krankenhaus München l. d. Isar“, StAM, Stanw, 34.465, Bl. 81 ff.
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verletzungen nicht in Zusammenhang stände.112 Offensichtlich hatten die beiden SA-Männer die nächtliche Stunde genutzt, um den unliebsamen Zeugen zu beseitigen, der Himmlers Pressemeldung von der Fluchtversion hätte widerlegen können. Mit dem Obduktionsbericht wollte der Arzt dem Staatsanwalt offensichtlich einen diskreten Hinweis geben, dem jedoch nicht nachgegangen wurde. Er hielt sogar die näheren Umstände der Tötungshandlung fest: „Erhebungen: Im Konzentrationslager Dachau von Posten mit einer Walterpistole angeschossen, weil er einen Fluchtversuch machte, war aber nicht bewusstlos, wurde vom Arzt verbunden, kam in die chirurgische Klinik und starb dort nach drei Tagen angeblich an einer Meningitis.“ Nach der Obduktion wurde die Leiche seiner Familie übergeben. Erwin Kahn wurde auf dem Alten Israelitischen Friedhof in München in einem noch heute vorhandenen Einzelgrab beerdigt.
V Die Täter: Zu den staatsanwaltlichen Ermittlungen zum Mordfall Benario und Genossen Auf solch brutalen Mord an Häftlingen, die sich in staatlicher Obhut befanden, waren die Strafverfolgungsbehörden nicht vorbereitet. Es folgten die üblichen Routinen bei unnatürlichen Todesfällen: Das Amtsgericht Dachau informierte die zuständige Münchener Staatsanwaltschaft II. Dort warf der Tod durch Erschießen in einer Untersuchungshaftanstalt eine Menge Fragen auf und zog Ermittlungen vor Ort nach sich. Folglich erschien im Lager am Morgen des 13. April eine kleine Gerichtskommission unter Leitung des Ersten Staatsanwalts Josef Hartinger. Hartinger, geb. 1893, bekleidete dieses Amt vom 1. Januar 1931 bis 15. März 1934. In seine Zuständigkeit fielen auch das Amtsgericht Dachau und die politischen Strafsachen. Da er offenbar schnell den Machenschaften der neuen Machthaber misstraute, legte er nach den ersten Morden in Dachau für seine Untersuchungen neben den offiziellen Akten zeitgleich private Protokolle an, die er 1951 als Zeuge dem Ermittlungsrichter vorlegen konnte: Die erste knappe Notiz lautet: Am 12. April 1933 wurden der Student Arthur Kahn aus Nürnberg, der Dipl. Landwirt Dr. Rudolf Benario [muss heißen: Dipl. Volkswirt, R.S.] aus Fürth und
_____________ 112 München 20. April 1933, Gerichtsmedizinisches Institut der Universität, „Leichendiagnose des Erwin Kahn“, StAM, Stanw, 34.465, Bl. 14 R. Handschriftlich ist hinzugefügt: im Gehirn „nirgends Blutungen“ (!). Für die Beschaffung und Interpretation des Obduktionsberichts Kahn und weiterer Berichte der frühen Morde von Dachau des Jahres 1933 danke ich Prof. Dr. Eisenmenger vom Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-MaximiliansUniversität München.
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der Reisende Ernst Goldmann aus Fürth von den Wachposten SS-Mann Hans Burner, SS-Mann Max Schmidt und SS-Sturmführer Robert Erpsenmüller [muss heißen: Erspenmüller113, R.S.] durch Pistolenschüsse getötet, außerdem wurde der Kaufmann Erwin Kahn aus München durch Pistolenschüsse so schwer verletzt, dass er am 16. April 1933 verstarb. Benario, Goldmann und Erwin Kahn lagen tot bzw. schwer verletzt in unmittelbarer Nähe ihres Arbeitsplatzes, Arthur Kahn lag etwa 80 m von der Arbeitsstelle entfernt im Gehölz. Die 3 SS-Leute gaben an, deshalb gefeuert zu haben, weil Arthur Kahn, Benario und Goldmann geflüchtet seien. Erwin Kahn sei ihnen in das Feuer gelaufen.114
Zu diesen Notizen gab er am 27. März 1951 bei seiner Vernehmung erläuternd zu Protokoll: „[Sie] stammen aus der Zeit meiner Tätigkeit bei der Staatsanwaltschaft München II. Ich habe sie aufbewahrt, um dazu beitragen zu können, die Täter, die seinerzeit nicht gefasst werden konnten, später zu überführen.“115 Mit ihrer Hilfe vermochte er sich im Steinbrenner-Prozess 18 Jahre später an die näheren Umstände seiner ersten Untersuchung im KZ Dachau zu erinnern. Seine Schilderung deckt sich weitgehend mit der Darstellung des Zeugen Schuler (vgl. Abb. 18): Wahrscheinlich erhielt die Staatsanwaltschaft von den Todesfällen Kenntnis durch die Polizeidirektion München. Ich selbst fuhr mit dem Landgerichtsarzt Dr. Flamm ins Lager Dachau. [...] Ich erinnere mich daran, dass die Getöteten nach der Behauptung der maßgebenden Personen des Lagers an oder in der Nähe der Arbeitsstätte erschossen worden sein sollen. Der Kommandant des Lagers war damals Wäckerle. Ich erinnere mich recht gut, dass er persönlich anwesend war und dass er einen großen Hund als ständigen Begleiter hatte. Nicht mehr bestimmt weiß ich, ob die Leichen noch an der Stelle waren, an der die Erschießung erfolgt sein soll. Wenn ich mich nicht sehr täusche, befanden sich die Leichen bereits in einer Blechhütte oder so etwas ähnlichem. Es wurden uns jedoch auf jeden Fall die Stellen gezeigt, an denen die betr. Lagerhäftlinge erschossen worden sein sollten. Es wurde behauptet, der eine Häftling sei in das Feuer hineingelaufen. Geschossen haben nach der Darstellung der Lagerleitung die Wachposten, und zwar [...] mit Pistolen. An die Namen dieser Wachposten erinnere ich mich nicht, sie sind aber in den von mir übergebenen Notizen angeführt. Wenn der Name Steinbrenner in diesem Zusammenhang in den Notizen nicht vorkommt, dann wurde er mir auch nicht genannt. [...]
_____________ 113 Durchgängig ist in allen Vernehmungsprotokollen vom SS-Sturmführer Robert Erpsenmüller die Rede. Die SS-Führerpersonalakte kennt nur einen Robert Erspenmüller, geb. am 4. März 1903 in Nürnberg (Bundesarchiv Berlin, RS Sig: BO 238). Danach ist Erpsenmüller identisch mit dem Führer des Wachkommandos Robert Erspenmüller. Auch Richardi: Schule der Gewalt, hat diesen irreführenden Konsonantendreher nicht korrigiert. 114 „Betreff: Todesfälle im Konzentrationslager Dachau“. Vertrauliche Notizen Staatsanwalt Hartingers aus dem Jahr 1933 (undatierte, beglaubigte Abschrift), StAM, Stanw, 34.462/9, Bl. 64. 115 Zeugenvernehmungsprotokoll von Landgerichtspräsident Hartinger am 27. März 1951, StAM, Stanw, 34.825/1.
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Abb. 18: Skizze des Zeugen Emil Schuler zu seiner Aussage über die Morde vom 12. April 1933.
Ich erinnere mich nicht, den Mann gesehen zu haben. Die Lage des Tatortes ist mir selbstverständlich heute nicht mehr mit absoluter Sicherheit in Erinnerung, aber ich glaube mich bestimmt entsinnen zu können, dass ich innerhalb des Lagers zum Tatort geführt wurde. Ob wir am Tatort Blutspuren festgestellt haben, weiß ich nicht mehr. Wir haben die Leichen entkleiden lassen [...] und haben sie dann genau untersucht. Da die Ein- und Ausschüsse an den Leichen einwandfrei festgestellt werden konnten und die Todesursache klar war, hat meines Wissens eine Leichenöffnung nicht stattgefunden. Der Landgerichtsarzt [Dr. Flamm, R.S.], der die Sache äußerst genau genommen hat, hat sie nicht für notwendig gehalten und ich habe mir davon auch nichts versprochen. Einen tödlichen Schuss hatte jeder der Getöteten. Ich glaube mich entsinnen zu können, dass mindestens einer von ihnen mehrere Schüsse hatte [...] An weitere Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern. Es wurde ja ein Protokoll aufgenommen. Damals konnte ich noch nicht damit rechnen, dass die Akten verschwinden würden. [...] Ich habe in [...] Erinnerung, dass ich über meine Beobachtungen im Lager Dachau [...] dem Oberstaatsanwalt Wintersberger genau Bericht erstattet habe. Ich weiß, dass ich ihm einmal meine Auffassung über das Lager Dachau zur Kenntnis gebracht habe, die dahin ging, dass der Kommandant des Lagers bestimme, wer erledigt werden solle und dass er entsprechende Befehle erteile. Ich meine, dass ich ihm dies schon bei dieser Gelegenheit gesagt habe. Er war
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damals noch nicht meiner Auffassung. [...] Herr Senatspräsident Wintersberger irrt sich offenbar, wenn er sagt, der erste Fall, von dem er Kenntnis erhalten habe, sei der Fall gewesen, in dem er in das Lager Dachau gekommen sei. Er meint wahrscheinlich damit den Fall Götz [ermordet am 9. Mai 1933, R.S.]. Dass dies nicht richtig ist, geht aus meinen obigen Ausführungen hervor (siehe Fall Kahn-Benario).116
Richtig ist, dass die Leichen bereits vom Tatort weggebracht waren und im so genannten „Munitionshäuschen“ in der Nähe des alten Eingangstors lagen. Aber sicher stimmt nicht, dass Hartinger innerhalb des Lagers zum Tatort geführt wurde. Dafür gibt es als einzigen Tatzeugen den als Ausbilder der SS-Wachmannschaften im Lager verbliebenen Polizeileutnant Emil Schuler. Er schilderte dem Untersuchungsrichter in seiner Vernehmung 1951 die dramatischen Umstände des Tatablaufs. Er hörte zunächst Schüsse im separat gelegenen Kommandanturgebäude, als er gerade Dienstschluss machen wollte. Er griff seinen Revolver und eilte in die Richtung der Schüsse, die aus einem Wäldchen kamen, in dem ein Schießplatz eingerichtet werden sollte: Ich eilte sofort in Richtung des Lagers und kam bis zur Brücke. Dort stand ein mir unbekannter SS-Posten und wies mich zurück. [...] Ich schob ihn beiseite und eilte, nachdem er mir die Richtung angegeben hatte, woher die Schüsse gefallen waren, in diese Richtung außerhalb des mit einem Stacheldraht umgebenen eigentlichen Gefangenenlagers zum Tatort. Dort traf ich den Erpsenmüller [Erspenmüller, R.S.], der mir in streng militärischer Haltung, was er (sonst) nicht zu tun pflegte, Meldung erstattete, dass vier Gefangene auf der Flucht erschossen worden seien. Ich bemerkte vor mir am Boden liegend drei Männer auf dem Gesicht liegend, von denen einer fürchterlich brüllte und bat, ihm einen Gnadenschuss (!) zu geben. Erpsenmüller wollte dies auch tun. Ich hielt ihn jedoch ab mit der Erklärung, dass diese Tat in der jetzigen Situation reiner Mord sei. Ich drehte sofort um und wollte den zufällig im Lager anwesenden Polizeistabsarzt Dr. Meier holen. Als ich mich ein Stück entfernt hatte, hörte ich einen weiteren Schuss, weshalb ich sofort wieder umkehrte, nachdem ich dem Posten an der Brücke den Auftrag gegeben hatte, den Arzt sofort zu holen. Als ich zum Tatort zurückkam sah ich, dass der Schwerverletzte tot war und daher in meiner Abwesenheit trotz meines Verbotes einen Gnadenschuss erhalten haben musste. Nach dieser Feststellung frug ich nach dem vierten Toten, da mir Erpsenmüller vier Tote gemeldet hatte. Ich wurde daraufhin von dem Tatort weg in das Gehölz geführt und fand dort auf dem Gesichte liegend den vierten Häftling tot, der offenbar nach der ganzen Situation von rückwärts niedergeschossen worden war. Als ich zu den drei ersten Gefangenen zurückkehrte, bemerkte ich plötzlich, dass der eine noch lebte. Auch diesem wollte Erpsenmüller einen Gnadenschuss geben, jedoch habe ich dies verhindert. Inzwischen war der Arzt gekommen und ich habe die Einschaffung des Verletzten in das Revier und der Toten in ein ehemaliges Munitionshäuschen veranlasst. Den Vorgang der Tat habe ich selbst nicht gesehen. Ich hatte aber damals sogleich die Überzeugung gewonnen, dass es sich
_____________ 116 Ebd.
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nicht um eine Erschießung auf der Flucht, sondern um einen von Wäckerle kommandierten Mord handelte. [...] Ich nehme an, dass Wäckerle in seiner Wut und auch aus Angst vor kommunistischen Revolten dem Erpsenmüller den Befehl gab, an diesem Abend einige Häftlinge umzulegen.117
Übereinstimmend bestätigen Hartinger und Schuler, dass Erspenmüller geschossen hatte, nicht aber, wer die Mittäter waren; ferner, dass es als wichtigen Tatzeugen den Überlebenden Erwin Kahn gab, der unter Bewachung durch SA-Männer in einem Münchner Krankenhaus lag; auch dass Kahn die Tat seiner Frau und dem behandelnden Arzt bei klarem Verstand geschildert hatte. Denn Eva Kahn erstattete unmittelbar nach Ostern Anzeige. Aber nichts geschah. Offensichtlich wagte Hartinger nicht weiter zu ermitteln, da er einer geschlossenen Front aufeinander abgestimmter Aussagen der SS zur Fluchtversion gegenüberstand. Auch fehlte dem Ersten Staatsanwalt zu diesem Zeitpunkt die Unterstützung seiner Vorgesetzten. Und so sah er sich gezwungen, das Verfahren Ende Mai 1933 einzustellen. Es darf aber bezweifelt werden, ob energisches Einschreiten der Staatsanwaltschaft ohne polizeiliche Hilfe viel hätte bewirken können, zumal Polizeipräsident Himmler seinen KZ-Kommandanten Wäckerle und der wiederum seine SS-Männer deckte. Und so begann nach kurzer Unterbrechung Anfang Mai eine ganze Serie weiterer Morde. Hartinger und sein Vorgesetzter Oberstaatsanwalt Wintersberger wurden in Dachau bald zu Dauergästen. Die Ermittlungssituation war für sie, wie sie später zu Protokoll gaben, „mit großen Schwierigkeiten“ verbunden: „Die Dachauer SS war sich selbstverständlich bewusst, dass sich die Erhebungen gegen sie richteten, und benahm sich daher schroff abweisend und unverschämt. Ich musste mich bei Vernehmungen beschimpfen lassen, dass ich im Interesse der ‚Kommune‘ handele.“118 Dennoch reichte die Staatsanwaltschaft nach zwei besonders schlecht getarnten Morden, und zwar an dem Münchner Kaufmann Sebastian Nefzger und dem Münchner Rechtsanwalt Dr. Alfred Strauß,119 am 1. Juni 1933 Klage beim Landgericht München ein, und zwar gegen die tatbeteiligten SS-Wachmänner, gegen den SS-Lagerarzt wegen der
_____________ 117 Zeugenvernehmungsprotokoll Emil Schuler, vom 29. März 1951, StAM Stanw, 34.462/9. 118 Vernehmung Staatsanwalt Josef Hartinger am 13. Juli 1949, StAM, Stanw, 34.462/9, Bl. 70. 119 Nefzger wurde in der Nacht vom 25. auf den 26. Mai 1933 von SS-Männern in seiner Zelle erwürgt. Das nachträgliche Öffnen der Pulsader, vom Gerichtsarzt festgestellt, sollte einen Selbstmord vortäuschen. Siehe den Haftbefehl vom 1. Juni 1933, ausgestellt vom I. Staatsanwalt Hartinger gegen Wäckerle, Erspenmüller und SS-Lagerarzt Nürnbergk wegen Mordes und Falschbeurkundung, in: StAM, Stanw, 7014. Strauss wurde von SS-Mann Kantschuster nach schweren Misshandlungen auf Anweisung Nürnbergks aus dem Lager gebracht und erschossen. Oberstaatsanwalt Wintersberger: „Ich habe heute gegen Kantschuster die öffentliche Anklage wegen Mordes erhoben [...] und Antrag auf Erlassung eines Haftbefehls erstellt.“ StAM, Stanw, 34.461/1, Bl. 59.
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Beurkundung falscher Todesursachen, gegen den Kanzleisekretär und schließlich sogar gegen Lagerkommandant Wäckerle. Hartinger beantragte die gerichtliche Voruntersuchung und den unmittelbaren Erlass von Haftbefehlen „wegen dringender Verdunkelungsgefahr“. Diese Aktion schlug wie eine Bombe ein. Die Anklage gelangte über den Generalstaatsanwalt zu Justizminister Hans Frank, der sie an Innenminister Wagner als dem formalen Vorgesetzten Himmlers weiterreichte. Wagner ließ die Akte kurzerhand in seinem Schreibtisch verschwinden, wo sie erst nach Kriegsende gefunden wurde.120 Die beiden unbequemen Staatsanwälte wurden im März 1934 in andere Ämter fernab von München versetzt; ihre Nachfolger mussten alle Ermittlungen zu Dachauer Mordfällen einstellen; das Betreten des Lagers war ihnen künftig untersagt.121 Damit war jeglicher Anschein von Rechtsstaatlichkeit endgültig beseitigt.
VI Die ehemaligen Häftlinge als Zeugen des ersten Dachauer Massakers Um Anderschs Beschreibung der ersten Dachauer Morde beurteilen zu können, muss man sie mit den Aussagen derjenigen Zeitzeugen vergleichen, die mit ihm im März/April 1933 im Lager waren und die im Gegensatz zu Andersch nach 1945 als Zeugen in den Dachauer Prozessen, vor allem im Prozess gegen SS-Mann Steinbrenner, auftraten. Es waren überwiegend einfache, aber vor 1933 politisch aktive Arbeiter mit gutem Gedächtnis und dem Willen, sich des erlittenen Unrechts zu erinnern und nachträglich Gerechtigkeit zu erlangen. Sie hatten mit dem Ende 1946 gegründeten Landesausschuss der politisch Verfolgten in Bayern Kontakt aufgenommen, um „Angaben über begangene Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu machen“ und die Staatsanwaltschaft auf begangene Straftaten hinzuweisen.122 Mit Hilfe dieser Zeugen konnte der Landesausschuss eine Liste von 21 ehemaligen SS-Wachmännern zusammenstellen, die dem Justizministerium übergeben wurde. Darunter waren
_____________ 120 Die für die bayrische NS-Staatsführung brisante Akte hat die Signatur StAM, Stanw, 7014. 121 Karl Wintersberger, geb. 1880, war vor 1933 DNVP-Mitglied; er trat 1937 in die NSDAP ein und machte Karriere. 1940 war er bereits Senatspräsident beim OLG-Bamberg; nach 1945 war er im Ruhestand. BayHStA, Personalakte Wintersberger. Josef Hartinger, geb. 1893, verweigerte sich der NSDAP. 1936 wurde er dennoch Landgerichtsdirektor beim Landgericht Amberg. Hier wurde er 1948 wieder in sein Amt eingesetzt. BayHStA, Personalakte Hartinger. 122 Schr. des Landesausschusses der politisch Verfolgten an das Bayerische Staatsministerium der Justiz vom 18. März 1948, StAM, Stanw, 34.422, Bl. 2. Zur Gründung des Landesausschusses s. Mitteilungsblatt des Landesausschusses der politisch Verfolgten, Nr. 1/1. Dezember 1946.
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vor allem diejenigen, die zur so genannten „Schlageter-Truppe“ im KZ Dachau gehört hatten.123 Die Täterliste führte der ehemalige SS-Scharführer Steinbrenner an; sein Bild war auf der Titelseite (Abb. 19). An ihn erinnerten sich die ehemaligen Schutzhäftlinge ganz besonders. Er wurde beschuldigt, „KZ-Häftlinge im KZ-Lager Dachau misshandelt und ermordet zu haben. Gegen Obengenannten liegen 28 eidesstattliche Erklärungen vor, aus denen zu ersehen ist, dass er selbst mordete oder an Ermordungen führend beteiligt war“.124 Auf diesen Aufruf hin meldeten sich weitere ehemalige Häftlinge, die über ihre Erfahrungen mit der Dachauer SS aussagen wollten. Die Aufgabe der Prozessvorbereitung durch die Zeugenvernehmung übertrug der Generalstaatsanwalt am Landgericht München II dem aus Karlsbad stammenden Dr. Nikolaus Naaff (1894–1957), der dort seit 1939 bereits als Richter tätig gewesen war.125 Als Unbelasteter war er seit Anfang 1947 zunächst zum Vorsitzenden der Lagerspruchkammer Dachau ernannt worden. Naaff konnte sich in diesem Amt bereits auf erste Zeugenaussagen aus dem Spruchkammerprozess gegen Steinbrenner stützen. Am 3. Juli 1947 wurde er zum Untersuchungsrichter am Landgericht München II ernannt und mit der Ermittlung gegen Steinbrenner und Genossen beauftragt. Aufgrund dieser Ermittlungen konnte am 24. September 1948 erstmals Anklage erhoben werden.126 Das Verfahren wurde allerdings vorübergehend eingestellt, da immer neue Tatvorwürfe gegen Steinbrenner erhoben wurden. Danach hatte Naaff über einen Zeitraum von vier Jahren eine Lawine von etwa 700 Zeugenbefragungen zu bewältigen. Berücksichtigt man die Erschwerungen durch die Zeitumstände, so ist festzustellen, dass Naaff ausgesprochen gründlich gearbeitet hat.
_____________ 123 Leo Schlageter (1894–1923) hatte als Freikorpskämpfer im Ruhrgebiet zahlreiche Sabotageakte begangen und war dafür von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt worden. In Dachau wurde ihm schon im Mai 1933 ein Denkmal errichtet, vor dem sich die Häftlinge versammeln mussten (siehe dazu die Abb. in: Dachauer Zeitung, vom 15./16. Juni 1933). Außerdem wurde eine Gruppe SS-Männer nach ihm benannt. Ihre Aufgabe bestand darin, auf den Transportlisten besonders gekennzeichnete Häftlinge bei der Ankunft im Lager herauszurufen und sie zu verprügeln. Der Zeuge Robert Bitzer beschreibt eine weitere Aufgabe: „Steinbrenner war auch jener, der bei den Schlageterfeiern immer dabei war. Die Neuankömmlinge wurden nämlich wenige Tage nach ihrer Ankunft, und zwar jeweils am Sonntagvormittag im so genannten Schlageterhäuschen von der SS schwer misshandelt. Die Schläger waren Steinbrenner, Lutz, Sporer, Dall-Armi und Wienhardt.“ StAM, Stanw, 34.462/8, Bl. 149. 124 Mitteilungsblatt, S. 2. 125 Personalakte Dr. Nikolaus Naaff, Hauptstaatsarchiv München. 126 Anklageschrift zur 1. Strafkammer beim Landgericht München II, StAM, Stanw, 34.462/3, Bl. 1ff.
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Abb. 19: Zeugenaufruf des Landesausschusses der politisch Verfolgten in Bayern.
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Durch seine präzise Kenntnis des KZ-Systems brachte er die Zeugen wie auch die Angeklagten dazu, sich an die Frühphase von Dachau zu erinnern. Die Protokolle zeigen auf, wie tief die Erschütterung bei den ehemaligen Schutzhäftlingen durch die Erfahrung der KZ-Haft war. Sie erinnerten sich auch deshalb so genau, weil sie in der Anfangsphase des ‚Dritten Reiches‘ erlebt hatten, mit welcher Geschwindigkeit das bisherige rechtsstaatliche Ordnungsgefüge und sicher geglaubte menschliche Konventionen und Wertvorstellungen in Dachau zusammengebrochen waren. Im Rahmen der Prozessvorbereitung wurden die Zeugen zum Steinbrenner-Prozess zwischen 1948 bis 1951 vernommen. Es ist erstaunlich, an welche Einzelheiten zum Tathergang am 12. April 1933 sich die ehemaligen Schutzhäftlinge zu erinnern vermochten. Aber auch sie konnten nicht mit letzter Sicherheit sagen, wer Benario und Genossen getötet hatte. Denn die Mörder waren darauf bedacht gewesen, dass sie bei ihren Taten nicht beobachtet werden konnten. Nur Polizeileutnant Schuler, der als Erster zum Tatort geeilt war, kam, wie gezeigt, einer unmittelbaren Tatbeobachtung sehr nahe. Immerhin belastete er den im Mai 1940 gefallenen SS-Wachtruppführer Robert Erspenmüller als denjenigen, der einem am Boden Liegenden einen „Gnadenschuss“ gegeben habe.127 Wer Benario und Genossen wirklich erschossen hatte, vermochten auch die umfangreichen Ermittlungen von Untersuchungsrichter Naaff nicht zweifelsfrei zu klären, zumal sich die Zeugen in einem wichtigen Punkt widersprachen: Die einen behaupteten, Steinbrenner habe die Häftlinge am Lagertor an Erspenmüller übergeben, die anderen sahen ihn und weitere SS-Männer mit den Häftlingen durch das Tor gehen und hätten gehört, wie die Täter danach mit der Tat geprahlt hätten.128 Neben den Aufzeichnungen Staatsanwalt Hartingers von 1933 waren es vor allem die Mithäftlinge aus Nürnberg und Fürth, die sich am umfangreichsten erinnerten. Sie waren bereits mit den Ermordeten zunächst im Gefängnis gewesen, waren dann gemeinsam nach Dachau transportiert worden und hatten mit ihnen eine Baracke bezogen. Vor allem kannten sie Benario und Goldmann schon von politischen Aktionen aus der Zeit vor 1933. Für sie war die Ermordung ihrer Kameraden kurz nach der gemeinsamen Ankunft im Lager ein Schockerlebnis, das ihnen im Gedächtnis haften blieb, auch wenn ihre Aussagen zum Tathergang voneinander abwichen. Andererseits ergänzten sie sich, indem sich durchaus unterschiedliche Aspekte zu einem Gesamtbild zusammenfügten, das die Tatumstände der Morde an Benario und Genossen erhellte. Bei der Be-
_____________ 127 Siehe hierzu die bereits zit. Aussagen von Polizeileutnant Schuler (Anm. 117) und Oberstaatsanwalt Hartinger (Anm. 115). 128 Dazu die Zeugen Ultsch, Wünsch und Scharnagel (Anm. 135, 143, 144).
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wertung der individuellen Zeugenaussagen war die lange Zeitspanne von über 15 Jahren zu berücksichtigen. Außerdem hatten alle Häftlinge im Laufe ihrer weiteren KZ-Haft grausame Behandlung entweder an sich selbst erfahren oder diese beobachtet, so dass sich die verschiedenen Erinnerungen überlagerten oder durch Amnesie beeinträchtigt wurden, ein Problem, mit dem alle Prozesse gegen NS-Täter zu kämpfen hatten. Nicht auszuschließen ist auch, dass das Bedürfnis nach Rache in die Aussagen einfloss. Und gewiss haben sich die Zeugen, die als Leidensgenossen in ihrem regionalen Umfeld Kontakt hielten, angesichts der bevorstehenden Vernehmungen über das Erlebte ausgetauscht. Daher wurden die im Folgenden zitierten Aussagen der „Nürnberger“ durch solche ergänzt, wo die Zeugen räumlich weit voneinander wohnten. Als letzte soll auch die Aussage des Erlanger SPD-Landtagsabgeordeten und späteren Oberbürgermeisters von Erlangen Michael Poeschke zitiert werden, die Steinbrenners Rolle als gefürchteter Schläger des „Empfangskommitees“ am Lagertor nachhaltig dokumentiert. Die zitierten Aussagen stellen nur eine kleine Auswahl dar und sind unter dem exemplarischen Gesichtspunkt der Genauigkeit des Beobachteten ausgewählt. Sie beziehen sich bis auf eine nur auf den Mord an Benario und Genossen. Die Zitate stellen wiederum nur kurze Ausschnitte aus den meist umfangreichen Protokollen dar. Dabei ist das Verfahren der Zeugenbefragung zu berücksichtigen, das Untersuchungsrichter Naaff anwendete: Jeder ehemalige Häftling bekam einen standardisierten Fragenkatalog mit einer Namensliste der ehemaligen SS-Wachmannschaft vorgelegt. Mit dessen Hilfe wurde vor allem nach Delikten gefragt, die sie mit Steinbrenner und den Mitgliedern seiner Schlägertruppe verbanden.129 Auf Grund der zusätzlichen Konfrontation mit Bildern der Täter kam es bei den Zeugen häufig zu emotionalen Ausbrüchen, wie „wüster Schläger“, „Sauhund“, „brutaler Sadist“, „Iwan der Schreckliche“, „menschliche Bestie“ und ähnlichem. Bedeutsamer sind vor allem jene Zeugen, die sich sachlich und kühl an bestimmte Taten und deren nähere Umstände erinnerten. Naaff führte auch ausgiebige Vernehmungen mit den Beschuldigten durch. Die allerdings leugneten meist jede Schuld und fühlten sich selbst als Opfer. Die Taten lasteten sie ihren gefallenen oder vermissten ehemaligen Vorgesetzten an. Sie wollten nur auf deren Befehl und unter Zwang gehandelt haben. Sie waren zudem gegenüber dem Untersuchungsrichter im Vorteil, denn sie wussten, dass die meisten Unterlagen bei Kriegsende durch die KZ-Verwaltung vernichtet worden waren, so dass es in den anschließenden Prozessen nicht selten zu Verfahrenseinstellungen und
_____________ 129 Der doppelseitige Fragenkatalog ist abgedruckt in: StAM, Stanw, 34.462/9, Bl 203+R.
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Fehlurteilen kam.130 Vor allem wussten die Täter, dass in breiten Kreisen der Nachkriegsdeutschen nur mäßiges Interesse an der Bestrafung der Täter vorhanden war und die Prozesse zunehmend als „Siegerjustiz“ abgelehnt wurden. Umso wichtiger wurde die aufwändige Suche und Einvernahme ehemaliger Häftlinge, denn Täter wie Steinbrenner gestanden nichts, was ihnen nicht nachgewiesen werden konnte. Steinbrenner gab sogar zu, dass er es als seine Pflicht „als guter Deutscher“ verstanden habe, die US-Ermittlungsbehörden durch Falschaussagen hinters Licht zu führen. Mehr noch, er beschuldigte sogar die damalige Münchner Staatsanwaltschaft, durch ihre laxe Ermittlungsarbeit im Lager die SS ermutigt zu haben, weitere Morde zu begehen.131 Gerade weil sich die Aussagen von Opfern und Tätern meist fundamental widersprechen, sind all die Protokolle der Zeitzeugen von unschätzbarem zeitgeschichtlichem Wert. Sie zeigen, wie schwer es für die Staatsanwaltschaft und die Gerichte war, Tatgeschehen wahrheitsgemäß zu rekonstruieren, andererseits, wie geschickt das System Dachau aufgezogen worden war, damit so wenig wie möglich nach außen dringen oder von Häftlingen selbst genau beobachtet werden konnte, was vielleicht später vor Gericht gegen sie verwendet werden konnte. Dieses Dilemma der Zeugen zwischen Bewertungen, scheinbar sicherem Wissen über die Täter und der genauen Beobachtung der Tat beschrieb Xaver Kolbeck, Holzhändler aus Cham, bei seiner Zeugenvernehmung. Er begründet, warum keine genaue Beschreibung von Tatverläufen möglich war: Er [Steinbrenner] war der gefürchtetste Mann im Lager. [...] Die Misshandlungen und Ermordungen von Häftlingen erfolgten im Allgemeinen im Keller oder beim Außenkommando an der Arbeitsstelle oder im Bunker, so dass man keine Gelegenheit hatte, selbst Tatzeuge zu werden [...]. Ich bin der Überzeugung, dass Steinbrenner nicht nur bei allen diesen Schandtaten dabei war, sondern dass er der eigentliche Urheber und Befehlsgeber war.132
Ähnlich berichtet der Zeuge Kasimir Dittenheber, Gastwirt aus München, geb. 1900, Schutzhäftling vom 22. März 1933 bis 19. März 1934, in seiner Vernehmung durch Untersuchungsrichter Dr. Naaff:
_____________ 130 Hierzu: Eiber, Ludwig u. Robert Sigel (Hg.): Dachauer Prozesse. NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945–1948. Göttingen 2007. 131 Steinbrenner in seiner Vernehmung am 19. August 1948 im Internierungskrankenhaus Garmisch, StAM, Stanw, 34.462/1, S. 5: „Ich muss bemerken, dass, wenn damals die Mordkommission aus München, die ja zu solchen Anlässen im Lager die Tatortbesichtigung und weitere Erhebungen durchführte, gleich von Anfang an entschieden und bestimmt aufgetreten wäre, müsste doch durch diese Kommission festgestellt worden sein, dass diese Juden ermordet und nicht auf der Flucht erschossen worden seien. Dies hätte mindestens den Zweck gehabt, dass für die Folge solche und ähnliche Delikte unterblieben wären.“ 132 StAM, Stanw, 34.462/8, Bl. 104.
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Ich kann als Zeuge bestätigen, dass bei allen Transporten, die in der Zeit von Mitte April bis Anfang Mai in Dachau eintrafen, Steinbrenner jeweils alle Juden herausgesucht hat. Diese führte er erst in den Bunker, wo die Juden [...] aufs Schwerste misshandelt wurden. Dass Steinbrenner selbst geschlagen hat, habe ich selbst nicht gesehen, jedoch ist dies anzunehmen, [...] da er während der Misshandlungen allein mit ihnen darin war.133
Bereits im Verfahren vor der Landesspruchkammer Regensburg von 1947 – hier war Steinbrenner zu dieser Zeit interniert – belastete Dittenheber ihn schwer: „Es steht für mich außer Zweifel, dass Steinbrenner die vier Juden auf Befehl des Kommandanten Wäckerle erschossen hat, um das [...] Standrecht zu demonstrieren und, wie von SS-Leuten geäußert wurde, den Gefangenen zu zeigen, wo sie sind.“134 Der Gewerkschaftssekretär Fritz Hertrich aus Erlangen – er ist Nr. 10 auf der Nürnberger ITS-Liste – kam zusammen mit Benario, Goldmann und Arthur Kahn in Dachau an. Er bezichtigte Steinbrenner der Mittäterschaft des Mordes an den vier Kameraden, begangen mit anderen, ihm nicht bekannten SS-Männern. Seine Zeugenaussage würdigte die Anklage als besonders glaubwürdig, auch wenn sie erheblich von anderen abweicht: Es war am 13. April [muss heißen: 12. April, R.S.] 1933 nachmittags gegen 16 Uhr. Da erschien plötzlich SS-Scharführer Steinbrenner im Lager, begleitet von einem SS-Mann und rief folgende Namen auf: Goldmann, Kahn I, Kahn II, Benario. Als diese vor ihm standen, schrie er sie an: ‚Raus ihr Schweine zum Kartoffelschälen.‘ In der Zwischenzeit hatte die SS Maschinengewehre außerhalb des Stacheldrahts aufgebaut mit den Mündungen zu den Lagerstraßen. Steinbrenner führte die vier Juden aus dem Lager. Am Lagereingang standen noch zwei SSMänner. Diese vier SS-Posten trieben die vier Juden an der rechten Seite des am Lager vorbeifließenden Kanal vorbei, hinter das damalige Kommandanturgebäude in den Wald. Das alles habe ich noch beobachtet. Plötzlich ertönte der Ruf: ‚Alles in die Baracken!‘. Plötzlich hörten wir ungefähr 20 Pistolenschüsse vermischt mit Schreien der Exekutierten. Dieser Vorgang spielte sich innerhalb 15 Minuten ab. Große Aufregung herrschte unter den Gefangenen. Nach ungefähr zwei Stunden erschien Steinbrenner wieder im Lager, trat zu unserer Baracke und sagte zu einem Kreis von Häftlingen, unter denen auch ich mich befand, folgendes: ‚Euch tun wir nichts, aber diese Juden bringen wir alle um‘. Steinbrenner ist einer jener Mörder [...]. Am andern Tag beim Frühappell wurde uns mitgeteilt, dass gestern Goldmann, Kahn I, Kahn II und Benario auf der Flucht erschossen wurden.135
Der Zeuge Heinrich Ultsch, Schlosser aus Nürnberg, Jahrgang 1898 – er ist Nr. 24 auf der Nürnberger Liste – belastete Steinbrenner in seiner Ver-
_____________ 133 Ebd., Bl. 152. 134 Erklärung Zeuge Dittenheber, München, am 01. November 1947. In: StAM, Spk-Akten 1765, Steinbrenner, Hans. 135 Aussage Fritz Hertrich vom 05. September 1947, StAM, Stanw, 34.462/9, Bl. 13.
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nehmung im März 1949 ebenfalls als Mittäter. Es sei am späten Nachmittag des 12. April gewesen, als Steinbrenner sich einer Gruppe von Häftlingen näherte, die zwischen den Baracken der 2. und 3. Kompanie lagerten. Er kam im Unterschied zu sonst ruhig und freundlich auf uns zu und sagte, er brauche den Kahn, den Goldmann und Benario. Die beiden letzten, die am Platz waren, meldeten sich sofort, während wir um den Kahn riefen, der [...] in die Baracke gegangen war. Auf unsern Ruf kam er heraus, gleichzeitig meldete sich aber noch ein anderer, und sagte, dass er ebenfalls Kahn heiße und aus München sei. Als Steinbrenner dies hörte, sagte er, du kommst auch gleich mit. Ich sah nun, wie Steinbrenner die vier Juden zum Lagertor führte, mit ihnen durchging und in Richtung längs der Amper gegen den Wald zuging. Kurz darauf hörte ich vier oder fünf Schüsse, wie sie aus einer Pistole abgegeben werden. Außer diesen Schüssen hörte ich einen Schrei. Ich habe bestimmt gesehen, dass Steinbrenner mit den vier Juden nicht nur durch das Lagertor und zum Wald gegangen ist, sondern dass er auch allein war. Wenn an der Ermordung der Juden noch andere beteiligt waren, so müssen sie bereits am Tatort gewesen sein.136
Der Telegrafenarbeiter Anton Schöberl aus Röthenbach bei Nürnberg – Nr. 21 auf der Nürnberger Transportliste –, geb. 1890, wurde am 10. März 1933 wegen KPD-Mitgliedschaft verhaftet und am 11. April in das KZ Dachau eingeliefert. Schöberl war bis November 1938 in Dachau und 1942/43 in Flossenbürg inhaftiert. Er war als Weltkriegsteilnehmer zum so genannten „Lagerfeldwebel“ ernannt worden, einer Art Verbindungsmann zwischen den Häftlingen und der SS. Letzteren gegenüber genoss er, wie er selbst ausführte, zunächst „eine gewisse Respektstellung“, die er aber bald verlor. Zu den Morden vom 12. April machte er folgende Zeugenaussage: Goldmann, Benario und Kahn II waren in meiner Baracke und meiner Kompanie. Ich war erst drei Tage [muss heißen: zwei Tage, R.S.] vorher im Lager angekommen. Am kritischen Tage wurden nach der Postverlesung die vier Juden aufgerufen und weggeführt. Wer sie aufgerufen hat und von wem sie weggeführt wurden, weiß ich heute nicht mehr. Es ist möglich, dass es Steinbrenner war. Ich sah dann noch, wie die Juden zu einem Werkzeugschuppen und dann zum Kanal geführt wurden, an dem sie weitergingen, wobei ich infolge des dort wachsenden Gebüsches die Sache nicht weiter beobachten konnte. Kurz darauf hörte ich Schüsse und Schreie. Wir wussten sofort, dass die Juden erschossen worden waren [...]. Am nächsten Tag hat der Lagerverwalter Vogel bei einem Appell erklärt, dass die Juden auf der Flucht erschossen worden sind und er uns warnt, einen Fluchtversuch zu machen.137
_____________ 136 Vernehmung Heinrich Ultsch, Schlosser aus Nürnberg, geb. am 12. Dezember 1898, am 10. März 1950, StAM, Stanw, 34.462/4, Bl. 137 trägt die Nr. 24 auf der Nürnberger Haftliste. 137 StAM, Stanw, 34.462/10, Bl. 17 R, 18.
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Der Zeuge Alois Rimbeck, Zimmermann aus dem oberbayerischen Deggendorf, geb. 1898, wurde als gefährlicher „Rotfrontführer“, so die Bezeichnung auf der ITS-Transportliste aus Deggendorf vom 11. April 1933, in Dachau eingeliefert.138 Er beschreibt seine Version des Mordes: Bezüglich der Erschießung der vier Juden Kahn I, Kahn II; Benario und Goldmann habe ich heute noch folgendes Bild bestimmt vor Augen: An diesem Tag wurden nach der durch [SS-Mann, R.S.] Vogel erfolgten Postverteilung die vier Juden aufgerufen. Ob Vogel oder Steinbrenner es war, weiß ich nicht. Ich habe dann gesehen, wie diese Häftlinge von Steinbrenner weggeführt wurden, nachdem sie mit Arbeitsgerät ausgerüstet worden waren. Sie wurden zu einer kleinen Brücke gebracht, die über den Bach ging und wo ein kleines Türchen war [s. Lagerskizze Abb. 18, R.S.]. Dort warteten bereits mehrere SS-Leute, unter ihnen bestimmt der Angeschuldigte [SS-Mann, R.S.] Strauss. Er war mit einem Gewehr wie die anderen bewaffnet. Ich habe ihn bestimmt erkannt. Die vier Häftlinge wurden von den wartenden SS-Leuten übernommen und weitergeführt. Plötzlich hörte ich den Ruf: ‚Laufen‘. Im selben Moment, wo die Häftlinge zu laufen begannen, sah ich noch, wie Strauss139 und die SS-Leute zu laufen begannen. Unter ihnen habe ich bestimmt den Strauss erkannt und gesehen, wie er zu laufen begann und das Gewehr heruntergerissen hat. Kurz darauf ertönten Schüsse. Im selben Moment hat Steinbrenner, der das Lager nicht verlassen hat, mit der Pistole in die Luft geschossen und die Häftlinge in die Baracken getrieben.140
Noch einmal der Zeuge Kasimir Dittenheber aus München, der Steinbrenner in seiner Vernehmung am 29. Februar 1951 beschuldigte, die vier jüdischen Gefangenen abgeholt und zum Lagertor geführt zu haben: Zu dem Vorfall mit den vier erschossenen Juden kann ich folgendes angeben: An dem kritischen Nachmittag war gerade die Postverteilung [...] vorbei, als Steinbrenner eiligen Schrittes zu uns kam. Die Verteilung fand im Freien statt im Beisein von [SS-Mann] Vogel. Steinbrenner hatte einen Zettel in der Hand und sprach kurz mit Vogel. Was gesprochen wurde, habe ich nicht gehört. Dann rief er die Namen der vier Juden auf. Dabei hatte sich auf den Namen Goldmann ein falscher Häftling gemeldet, worauf Steinbrenner sagte: ‚Nein, nicht Sie, der Jude da.‘ [...] Steinbrenner ging dann mit den vier Juden weg. Und ich sah ihn, wie er
_____________ 138 „Verzeichnis der komm. Schutzhäftlinge, welche das Bezirksamt Deggendorf am 11. April 1933 abgegeben hat.“ ITS, Doc. No. 9908433/1. Rimbeck wird bei der Zeugeneinvernahme am 20. September 1951 fälschlich als Alois Ringbeck bezeichnet. 139 Heinrich Strauss, geb. 1901 in München, war ein Anhänger Hitlers der ersten Stunde. Er geriet allerdings schon früh mit dem Gesetz in Konflikt. In einem Parteiordnungsverfahren bestätigte ihm sein Oberführer Berthold, Strauss sei schon zu Beginn der „Bewegung“ „einer der zuverlässigsten Leute vom Stoßtrupp Hitler“ gewesen; ein „schneidiger Draufgänger“ und „alter ausgezeichneter Vorkämpfer des Nationalsozialismus“. Strauss wird von allen ehemaligen Schutzhäftlingen während seiner Dachauer Zeit als brutaler, gewalttätiger Schläger geschildert. Er beging auch im zivilen Leben Gewaltdelikte, wurde aber immer wieder von seinen Vorgesetzten gedeckt. S. hierzu die SS-Personalakte Heinrich Strauss, BA, PK MOO58. 140 StAM, Stanw, 34.462/10, Bl. 59 R/60.
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mit ihnen zum Tor ging. Nach einiger Zeit wurde Alarm gegeben und mussten wir alle in die Baracken. In den Abendstunden ging Vogel durch diese und fragte nach einem der fehlenden Häftlinge. Es war dieser einer der Abgeführten. Als wir ihm dies sagten, erklärte er, dass die vier Juden versucht hätten zu fliehen, aber ihnen dies schlecht bekommen sei. Am anderen Tag gab Vogel beim Appell offiziell bekannt, dass die vier Juden auf der Flucht erschossen worden sind, wobei er uns noch warnte etwas Ähnliches zu tun.141
Der Münchner Gastwirt Theodor Sellmayr, Jahrgang 1897, war wegen seiner Mitgliedschaft in der KPD verhaftet und am 4. April nach Dachau gebracht worden. Er kannte Steinbrenner gut, denn er gehörte zu dessen 2. Häftlingskompanie. Er charakterisiert Steinbrenner als „wüsten Schläger“, der dem so genannten „Schlägerkommando“ an der Haupttorwache angehörte. Dort hatte er aus den Neuankömmlingen bestimmte Häftlinge herauszuholen, die von der einliefernden Dienststelle für eine „Spezialbehandlung“, d.h. 25 Schläge mit dem Ochsenziemer, vorgesehen waren. Steinbrenner sei meist mit diesem fürchterlichen Totschläger (Abb. 20) im Lager herumgegangen: Weiter erinnere ich mich an den Vorfall mit den Juden Goldmann, Benario, Kahn I und II. Wir standen damals auf dem Lagerplatz vor der 2. Kompanie, vor der Baracke und [es] wurde nach Arbeitsschluss vom [SS-Mann] Vogel Post ausgeteilt. In diesem Zeitpunkt kam Steinbrenner und rief die vier Juden auf, die er dann wegführte. Kurze Zeit danach hörten wir Schüsse.142
Ferdinand Wünsch, Jahrgang 1893, gelernter Gärtner, war wegen seiner gewerkschaftlichen Tätigkeit verhaftet und am 12. April 1933 nach Dachau eingeliefert worden. Dort war er bis zum 02. Juli 1934 inhaftiert. Von Januar 1936 bis zum 11. September 1937 war er erneut in Dachau. Über seine Haftzeit sagte er: „Außer der üblichen Lagerbehandlung, wie Ohrfeigen, Dunkelarrest usw. habe ich keine besondere Misshandlung erfahren.“ Wünsch arbeitete im Gärtnerkommando der Häftlingsgärtnerei. Die zweite Haft verbrachte er in der Strafkompanie. Zu Steinbrenner machte er folgende Aussage: Steinbrenner war der gefürchtetste Mann des Lagers und hieß der Lagerschreck. Er war ein unberechenbarer Mensch. [...] Ich erinnere mich noch genau, dass eines Tages der Verwalter [SS-Mann] Vogel vier Juden, die beiden Kahn, den Goldmann und den Benario aufrief, nachdem wir vorher antreten mussten. Ich sah dann, dass Steinbrenner und noch ein zweiter SS-Mann, dessen Namen ich nicht mehr weiß, diese vier Juden in Richtung Schießplatz aus dem Lager wegführten. Die Juden hatten ein Werkzeug in der Hand. Ich erinnere mich nur, dass der eine eine Schaufel trug. Wenige Minuten nachher hörten wir Schreie und Schüsse. Während dieser Zeit waren wir angetreten am Platz gestanden und dann sagte Vogel:
_____________ 141 StAM, Stanw, 34.462/8, Bl. 151 R. 142 Ebd., 34.462/9, Bl. 34 R.
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Abb. 20: Der berüchtigte Ochsenziemer, hergestellt aus Streifen von getrocknetem und geflochtenem Bullenpenis; Länge 80–90 cm.
‚Schaut sie euch an, eure Führer, einmal, wenn sie ein bissel eingesperrt sind, wollen sie euch verlassen und flüchtig gehen, aber wir haben ihnen geholfen‘ [...] Ich bin überzeugt, dass Steinbrenner bei der Erschießung der vier Juden dabei war. Meiner Überzeugung nach hat der Beschuldigte Vogel von der Exekution genau gewusst, sonst hätte er ja nicht so kurze Zeit nachher die obige Äußerung machen können. Ich bemerke, dass wir ca. 10 Tage später die blutigen Kleider der erschossenen Juden in der Gärtnerei eingraben mussten.143
Der Zeuge Ludwig Scharnagel, Betriebsmeister aus Nürnberg, in Dachau inhaftiert vom 11. April 1933 bis zum 27. September 1939 bezichtigte Steinbrenner des Mordes an den vier jüdischen Häftlingen. Er schilderte deren Tagesverlauf, der bereits morgens mit Quälerei begonnen habe: Am Tag meiner Einweisung wurden aus Block II/1, dem ich zugeteilt war, die Juden Benario, Kahn I, Kahn II und Goldmann durch den SS-Mann Steinbrenner, der gleichzeitig unser Blockführer war, herausgeholt. Die vier genannten Personen mussten die vor dem Block befindlichen Müllkästen leeren. Dabei wurden sie durch Steinbrenner, der die Aufsicht über die Arbeit führte, fürchterlich mit dem Ochsenziemer [misshandelt]. [...] Ich sah den Vorfall durch das Fenster der Baracke, vor der die Müllkästen sich befanden. Ich wurde dann von einem SSMann beobachtet und ebenfalls zu dieser Arbeit eingeteilt. Ich arbeitete mit den vorgenannten vier Personen zusammen und erhielt auch mit ihnen die Schläge durch den Steinbrenner und andere SS-Leute. Während dieser Zeit habe ich dann beobachtet, wie Steinbrenner die Juden solange mit dem Ochsenziemer schlug, bis sie zusammenbrachen. Die Juden bluteten aus Nase, Mund und anderen Körperteilen. Als Steinbrenner erneut auf mich einschlug, sagte ich ihm, dass ich doch kein Jude sei. Hierauf jagte er mich in den Block zurück. Was dann mit den Juden weiterhin geschah, kann ich nicht angeben. Jedenfalls kehrten sie abends völlig erschöpft zurück. [...] Kurz darauf kamen einige SS-Männer und holten die Juden Benario, Kahn I, Kahn II und Goldmann aus dem Block. Ob Steinbrenner unter den SS-Leuten war, kann ich nicht angeben. Ich sah dann durch das Fenster, wie die Juden unter Begleitung der SS dem Lagerausgang zugeführt wurden. Wenige Minuten [später] hörten wir aus Richtung Schießplatz [...] Schreie und kurz darauf einige Schüsse. Wir Häftlinge waren uns klar darüber, dass bei diesem Vorfall die Juden durch die SS erschossen wurden. Ich bin der Meinung, dass es kaum einen Häftling geben wird, der gesehen hat, durch wen die 4 Juden er-
_____________ 143 Aussage Ferdinand Wünsch vom 17. Januar 1950. In: StAM, Stanw, 17.445/1, Bl. 73–74 R.
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schossen wurden und wie der eigentliche Vorfall stattfand. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass Steinbrenner einen oder mehrere der 4 Juden erschossen hat, denn ich hörte am nächsten Tag vor der Kammer, wie der SS-Mann Strauss zu Steinbrenner wörtlich sagte: ‚Hansi, ich habe den meinen besser getroffen als du, ich hab den meinen angeschaut, der Schuss ging hinten am Kopf hinein und vorne am Aug hinaus‘.144
Michael Poeschke (1901–1959), Mitglied des bayrischen Landtags für die SPD und später Oberbürgermeister von Erlangen von 1946 bis 1959, wurde am 9. März 1933 verhaftet und derart misshandelt, dass er zunächst ins Universitätsklinikum Erlangen eingeliefert werden musste. Von dort aus wurde er am 26. April erneut verhaftet und nach Dachau eingeliefert. Von dort wurde er kurzzeitig entlassen, da seine Abgeordnetenimmunität nicht aufgehoben worden war. Offensichtlich sollte er an der Abstimmung über das bayrische Ermächtigungsgesetz am 29. April 1933 teilnehmen, das 16 SPD-Abgeordnete allerdings ablehnten. Aber Poeschke war nach der Ankunft in Dachau erneut derart misshandelt worden, dass er noch am selben Tag in das Krankenhaus München-Schwabing eingeliefert werden musste. Dort wurde er am 18. Mai vorübergehend entlassen. Die Krankenakte Poeschkes stellt eines der wenigen Dokumente dar, in denen die übliche schwere Misshandlung in Dachau durch einen neutralen Arzt begutachtet wurde: „Aufgenommen wegen seelischer Depression; Krankheitsdiagnose: Subcutane Hämatome-Ischias.“ Der Patient leide an Appetit- und Schlaflosigkeit; er mache „einen ziemlich mitgenommenen Eindruck“ aufgrund der Misshandlungen: „Der ganze Rücken, seitlich nach vorne die Nierengegend und das Gesäß hinab bis Mitte Oberschenkel sind ein zusammenhängendes subkutanes Hämatom. Weitere große Hämatome an beiden Armen über der Ellenbeuge, die ungefähr den halben Oberarm emporragen. An der rechten Brustseite von Mitte Clariculi bis Lungen-Lebergrenze Spuren von Stockschlägen anscheinend. Auch die Kopfhaut vorn links zeigt noch deutlich die Spuren von Hieben.“145 Poeschke konnte zunächst nach Hause zurückkehren, wurde jedoch am 30. Juni erneut verhaftet und in das KZ Dachau gebracht, wo er bis zum 20. Juni 1934 inhaftiert war.146 Zu seiner Erfahrung mit Steinbrenner machte er am 23. Juli 1948 folgende Aussage:
_____________ 144 Vernehmung Ludwig Scharnagel am 6. August 1948, StAM, Stanw, 34.462/2, Bl. 101. 145 „Auszug aus der Krankengeschichte, gez. v. Blomberg“, StAM, Stanw, 34.462/8, Bl. 18. 146 Mit dem Namen Poeschke verbindet sich nach 1945 ein Justizskandal. Poeschke war ab 1946 Oberbürgermeister von Erlangen. Er starb 1959 im Amt. Nach seinem Tod lebte seine Frau Frida mit dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Erlangen, dem Verleger Shlomo Lewin, zusammen. Beide wurden am 19. Dezember 1980 durch Angehörige der Wehrsportgruppe Hofmann ermordet. Dieser Doppelmord ist bis heute ungesühnt. Die näheren Umstände der Einstellung des Verfahrens 1985 und die Verweigerung der Wiederaufnahme stellen kein Ruhmesblatt für die bayrische Justiz dar. Vgl. hierzu den
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Bei meiner Einlieferung wurde ich aus einem größeren Transport von Häftlingen mit 4 oder 5 anderen Schutzhaftgefangenen auf besondere Empfehlung der Erlanger NSDAP herausgeholt. Unsere kleine Gruppe wurde unter Teilnahme von Steinbrenner in eine abseits gelegene Baracke geführt. Aus einem kleinen Raum [...] wurde dann einzeln jeder Schutzhaftgefangene in einen größeren Barackensaal geführt. Dort waren etwa 30 SS-Leute, darunter auch Landespolizisten, versammelt. Steinbrenner und ein anderer SS-Mann [...] haben dann jeden einzelnen Häftling mit Stöcken unter wilden Beschimpfungen so lange geschlagen, bis er liegen blieb. In dem Raum lagen zum Teil nackt ausgezogene Häftlinge auf Stroh am Fußboden, nachdem man sie vorher ebenfalls auf fürchterlichste Weise verprügelt hatte. [...] [Ich wurde] in das sogenannte Krankenrevier eingeliefert und traf dort Häftlinge, die in einer grauenhaften, barbarischen Weise misshandelt worden waren und wegen der dabei erlittenen, zum Teil lebensgefährlichen Verletzungen ins Revier gebracht werden mussten. Dass Steinbrenner Häftlinge erschossen hat, habe ich nicht mit eigenen Augen gesehen. Aber nach der Art, wie er sich bei allen Gelegenheiten hervortat und gebärdete, traue ich ihm jede Schandtat zu. Von anderen Häftlingen habe ich erfahren, dass Steinbrenner an der Erschießung von [...] vier Juden maßgeblich beteiligt war, die vor meiner Einlieferung erschossen wurden. Steinbrenner wurde von uns nicht nur als ‚Iwan der Schreckliche‘ bezeichnet, sondern sein Name in ‚Mordbrenner‘ umgetauft.147
Abschließend sei zur Art und Weise, wie die SS-Männer sich gegenseitig entlasteten, der SS-Wachmann Heinrich Strauss zitiert. Er war wie Steinbrenner in Dachau von Anfang an dabei und wurde später selbst zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Er versuchte in seiner Vernehmung Steinbrenner ein Alibi zu geben für die Morde an Benario und Genossen. Dabei schob er die Schuld auf gefallene SS-Männer: Abends um 5 Uhr habe ich die Juden dem [Wach-]Kommando abgegeben und für mich war Feierabend. Ich bin täglich fortgefahren. Als ich vom Tor weggehe, sehe ich Erspenmüller und noch einige andere und höre wie sie rufen: ‚Na, Juden-Steinbrenner!‘. Ich habe gesehen, [...] wie Steinbrenner auf die Kommandantur zuging. Ich sah, wie Erspenmüller, Hahn und Birner mit den 4 Juden dem Wald zugingen. Steinbrenner habe ich dabei nicht gesehen.148
In seiner späteren Vernehmung vor der Hauptkammer gab er eine weitere Version des Tatgeschehen vom 12. April zu Protokoll, die zeigt, vor welchen Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung die Richter im SteinbrennerProzess standen. Strauss beschuldigte einen weiteren, ebenfalls nicht mehr zu ermittelnden Tatverdächtigen, den SS-Wachmann und Arrestverwalter im KZ-Haftbunker Anton Vogel, geb. 1893 in München. Er sollte nun Benario und Genossen allein ermordet haben:
_____________ Internetartikel „Vereinigung der Einzeltäter: Wehrsportgruppe Hoffmann“. In: hagalil.com vom 03. Januar 2006. 147 StAM, Stanw, 34.462/8, Bl. 17 und 17R. 148 StAM, Spk-Akten K 1765, Steinbrenner, Hans.
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Ich kann mich noch daran erinnern, dass einmal im KZ 3 oder 4 Juden erschossen wurden, und zwar durch den Arrestverwalter Vogel. Vogel erzählte mir dies am nächsten Tag und sagte mir, dass er die Juden von rückwärts erschossen hätte, damit es den Anschein erwecken solle, sie wären auf der Flucht erschossen worden. Ich persönlich sollte an der Erschießung teilnehmen. Ich wurde hierzu von dem Arrestverwalter Vogel aufgefordert. Das Ansinnen des V. habe ich abgelehnt. Wenn die KZ-Häftlinge Schmidt und Jakusch behaupten, ich wäre beim Abführen der Juden dabei gewesen, so kann ich mich dahingehend nicht mehr erinnern. Jedenfalls war ich bei der Erschießung der Juden nicht zugegen.149
VII Der SS-Mann Hans Steinbrenner als Prototyp des Dachauer Gewalttäters Am 10. März 1952 verurteilte das Schwurgericht beim Landgericht München II Hans Steinbrenner wegen zweifachen Mordes an den Schutzhaftgefangenen Karl Lehrburger und Wilhelm Aron sowie schwerer Körperverletzung zu lebenslänglichem Zuchthaus; sein Untergebener Johann Unterhuber erhielt sechs Jahre Zuchthaus. Weitere Anklagepunkte der Staatsanwaltschaft, wie die Morde an Benario und Genossen, wurden „wegen Schwierigkeit der Beweisführung“ ausgeklammert. Das Gericht konzentrierte sich auf die eindeutigen Fälle, „in denen [...] eine Überführung der Angeklagten möglich war.“150 Es sah als erwiesen an, dass Steinbrenner den Nürnberger Kaufmann Karl Lehrburger151 aus kürzester
_____________
149 Auszug aus der Vernehmungsniederschrift von Heinrich Strauß am 09. Juni 1949 vor der Hauptkammer München. StAM, Stanw, 34.465, Bl. 28. 150 Landgericht München II, Urteil gegen a) Steinbrenner Hans b) Unterhuber Johann wegen Verbrechens des Mordes u.a., vom 10. März 1952, StAM, Stanw, 34.462/11, Bl. 61ff. (34 Seiten), hier Bl. 63 R. 151 Karl Lehrburger, geb. am 01. Dezember 1904, und Nr. 13 auf der Nürnberger Transportliste, wurde am 25. Mai 1933 von Steinbrenner erschossen. KPD-Mitglied Lehrburger wird als einziger auf der Liste (Nr. 13) als Jude vermerkt. Staatsanwalt Hartinger hielt dazu in seiner Handakte 1933 fest: „Am 25. Mai 1933 wurde der Kaufmann Karl Lehrburger aus Nürnberg in seiner Einzelhaftzelle von dem SS-Mann Steinbrenner durch einen Schuss in die Stirne getötet. Lehrburger soll eine Bewegung gemacht haben, die Steinbrenner als Angriff aufgefasst haben will. Nach dem ärztlichen Gutachten auf Grund der Leichenöffnung wurde der Schuss aus 10–20 cm abgegeben.“ Gegenüber Hartinger bezeugten seine Vorgesetzten die angebliche Notwehrsituation. StAM, Stanw, 34.462/9, Bl. 8. Lehrburger wurde auf Kosten der Familie nach Nürnberg überführt und auf dem Israelitischen Friedhof begraben. Der Überführung war durch amtlichen Leichenpass des Bezirksamt Dachau genehmigt: „Die nach Vorschrift eingesargte Leiche des am 25. Mai 1933 im Konzentrationslager Dachau an Erschießen [!] verstorbenen Reisenden Karl Lehrburger soll mittels Leichenauto von Prittelbach über Dachau nach Nürnberg befördert werden. ... Dachau, den 27. Mai 1933.“ Leichenpass Lehrburger, aus: Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg.
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Distanz kaltblütig erschossen und den Bamberger Gerichtsreferendar Wilhelm Aron152 mit dem Ochsenziemer auf brutalste Weise erschlagen hatte. Ausgiebig befasste sich das Gericht mit den brutalen Körperverletzungen durch Auspeitschen. Es stellte fest, bei den Angeklagten handele es sich um „abartige Persönlichkeiten im Sinne gefühlarmer Psychopathen“.153 Es konnte sich dabei auch auf das Ergebnis psychiatrischer Gutachten stützen. Insbesondere Steinbrenner sei der „böse Geist des ganzen Lagers“ gewesen. Sein Verhalten habe andere SS-Angehörige zu „ungezählten Missetaten“ ermuntert, „weil sie hinter dem forschen und geachteten Steinbrenner nicht zurückstehen wollten“. Klargestellt wurde aber auch, dass Steinbrenner zu seinen Verbrechen durch seine Vorgesetzten bewusst und systematisch ermuntert wurde, mehr noch, dass Wäckerle diese Misshandlungen und Morde befohlen habe. Dennoch sah das Gericht den von der Verteidigung vorgebrachten Befehlsnotstand des Angeklagten im Fall Lehrburger als nicht gegeben an; vielmehr hätte der Angeklagte erhebliche Handlungsspielräume gehabt, die er exzessiv genutzt habe. Steinbrenner wird als jener Typus des SS-Mannes charakterisiert, der aus eigenem Antrieb gehandelt habe. Mit seiner Grausamkeit habe er, so die Richter, „den Ruf des deutschen Volkes auf Jahre hinaus in der ganzen Welt mit dem Makel der Unmenschlichkeit befleckt“.154 Zurück zur Darstellung Steinbrenners durch Andersch in den Kirschen der Freiheit: Sie wird nicht annähernd seiner Rolle im Lageralltag als „böser Geist von Dachau“ gerecht, die das Landgericht München in ihm erkannte. Allerdings war er für Andersch offensichtlich eine bemerkenswerte Figur, denn er ist der einzige SS-Angehörige aus der Wachmannschaft, der in Anderschs autobiografischem Text eine mit Klarnamen identifizierte Person darstellt (sieht man von dem ebenfalls genannten späteren KZ-Kommandanten Theodor Eicke ab).155 SS-Lagerkomman-
_____________ 152 Wilhelm Aron wurde am 3. Juni 1907 als Sohn des jüdischen Justizrates Albert Aron und dessen Frau Bertha geboren. Der junge Gerichtsreferendar aus Bamberg war aktives Mitglied der ‚Eisernen Front‘. Am 10. März in ‚Schutzhaft‘ genommen, wurde er am 15. Mai in einem Häftlingstransport aus Franken nach Dachau überführt. In der Urteilsschrift heißt es, Aron sei sofort nach Ankunft im Lager vom ‚Empfangskommittee‘ so misshandelt worden, „dass ihm gleich bei dieser ersten Gelegenheit das Gesäßfleisch bis auf die Knochen durchgeschlagen wurde und er bewusstlos in das Revier eingeliefert werden musste“. Dort sei er, so die Beweisaufnahme, erneut von Steinbrenner und Unterhuber so misshandelt worden, dass er in der Nacht zum 19. Mai starb. Steinbrenner habe Aron aus „blindem Rassenhass“ grausam misshandelt und aus niederen Motiven und mit Absicht qualvoll zu Tode gebracht. Aus: „Urteil gegen Steinbrenner, Hans und Unterhuber, Johann, vom 10. März 1952“, Unterkapitel „Fall Aron“, S. 11–16, hier: S. 11. StAM, Stanw, 34.462/11. 153 Ebd., 34.462/11, Bl. 74 R. 154 Bl. 76. 155 KdF, S. 48.
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dant Wäckerle und Steinbrenners unmittelbarer Vorgesetzter, der Führer der SS-Wachtruppe Erspenmüller, aber auch die anderen Mitglieder der „Schlagetergruppe“ waren im Lager nicht minder gefürchtete Figuren. Sie finden jedoch bei Andersch keine Erwähnung. Auch könnte der Kontrast in der Darstellung Steinbrenners kaum größer sein als zwischen den Kirschen der Freiheit einerseits und Beimlers Anklageschrift „Im Mörderlager Dachau“ von 1933, wie auch aller anderen Zeugen, die ihn in Dachau kennenlernten: Hier die eher neutrale, beinahe verharmlosende Charakterisierung, dort der bösartige Sadist und skrupellose Mörder. Und in der Tat erkannte das Gericht in Steinbrenner den Mann der Lagerleitung fürs Grobe. Andersch will nicht bemerkt haben, dass Steinbrenner selbst unter den gewalttätigen SS-Männern eine herausragende Stellung einnahm, auch nicht, dass er nach Abzug der Landespolizei den durch die SS-Lagerleitung geschaffenen Freiraum für entgrenzte Gewalt auf exzessive Weise nutzte. Und wie seine Vorgesetzten hasste „Juden-Steinbrenner“ Kommunisten, vor allem aber wenn sie Juden waren. Und so begann mit einem diskret ausgeführten Mord an jüdischen „Schutzhäftlingen“ – für die Weltöffentlichkeit zunächst unbemerkt – das große Sterben, das mit der Shoa an den europäischen Juden endete.156 Es war der Hass der „kleinen Mitläufer und Mittäter“ vom Schlage Steinbrenners, der dies möglich machte. Dachau stellte, wie Richardi richtig bemerkt, eine grausame „Schule der Gewalt“ dar, die sich im Lageralltag des April 1933 zu entwickeln begann. Dies nicht erkannt zu haben, stellt einen schweren Mangel in Anderschs dem Anspruch nach autobiografischem Text dar. Vielleicht war das erste Dachauer Massaker vom 12. April noch eine Spontantat, motiviert von der aufgeheizten Stimmung der „Kampfzeit“ vor der Machtergreifung. Aber daraus entstand im Nachhinein, vielleicht aus dem Bedürfnis ihrer nachträglichen Legitimierung, vielleicht auch unter dem Druck der ermittelnden Münchner Staatsanwaltschaft, sehr rasch ein Prinzip des Umgangs mit den Häftlingen, das sich zusehends beschleunigte: Wäckerle entwickelte, wahrscheinlich bereits Anfang April 1933, „auf Befehl seiner vorgesetzten Stelle“, also Polizeichef Himmlers, für Dachau exzessive „Sonderbestimmungen für Schutzhaftgefangene“. Sie sahen intern bereits das Standrecht und die Todesstrafe vor bei geringsten Vergehen gegen die Angehörigen der Lagerkommandantur, die SSWachtruppe oder die Lagerordnung. Gegen diese Entwicklung des KZ Dachau zu einem rechtsfreien Raum, in dem seit dem 12. April völlig willkürliche Exzesstaten möglich waren, protestierte der Münchner Ober-
_____________ 156 Hierzu: Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust. Frankfurt / M. 1982.
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staatsanwalt Wintersberger am 29. Mai beim bayrischen Justizminister Hans Frank: „Meines Erachtens bedarf die Zulässigkeit der Anordnung des Standrechts und der Todesstrafe der Nachprüfung, da wohl derart weitreichende Anordnungen nur von der Regierung selbst getroffen werden können.“157 Diese „Sonderbestimmungen“ waren von der gültigen, von Landespolizeihauptmann Winkler ausgearbeiteten und der Lagerleitung am 30. Mai übergebenen Lagerordnung nicht gedeckt.158 Allerdings bestand auch hier bereits die Möglichkeit, Häftlinge straffrei zu töten: „Sind die Voraussetzungen gegeben, so ist von der Waffe Gebrauch zu machen. Der Waffengebrauch muss zum Erfolg führen.“159 Davon hatte die SS im April/Mai bereits exzessiv Gebrauch gemacht, ohne dass die Landespolizei oder die Justiz wirksam dagegen einschreiten konnten. Die von Wintersberger eingeklagte Nachprüfbarkeit der Vollstreckung von Standrecht und Todesstrafe durch die Regierung lief der von Himmler forcierten Entwicklung entgegen. Zwar löste er am 26. Juni 1933 auf Drängen von Justizminister Hans Frank wegen der ungeklärten Mordfälle im Lager seinen Kommandanten Wäckerle ab, ersetzte ihn allerdings durch den fanatischen Theodor Eicke.160 Damit kamen die parteiinternen Diskussionen zwar kurzfristig zur Ruhe. Aber der Himmler stark ergebene spätere Inspekteur aller Konzentrationslager und der SS-Wachverbände (Totenkopf-Verbände) Eicke trat seinen Dienst an mit dem Auftrag und dem Willen, Dachau endgültig zu jenem Prototyp eines Konzentrationslagers auszuformen, das Grundlage für alle späteren Lager in Deutschland und in den besetzten Gebieten werden sollte. Und mit einer noch schärferen Lagerordnung wurde bald ein formaler Rahmen gegeben, der mit der
_____________ 157 Schreiben Wintersberger an Justizminister vom 29. Mai 1933 (Abschrift). Die im Anhang wiedergegebenen „Sonderbestimmungen“ für das Lager Dachau sind nicht datiert, müssen aber längere Zeit vor dem Schreiben Gültigkeit erlangt haben. Vgl. hierzu Gruchmann, Lothar: „Die bayerische Justiz im politischen Machtkampf 1933/34. Ihr Scheitern bei der Strafverfolgung von Mordfällen in Dachau“. In: Bayern in der NS-Zeit. Bd. II: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Teil A. Hg. v. Martin Broszat u. Elke Fröhlich. München/Wien 1979, S. 413–428, hier S. 419. Das Dokument trägt den Stempel R 22 Gr.5/A123 Heft 1, ist aber im Bundesarchiv Berlin nicht mehr auffindbar. Ich danke Herrn Dr. Lothar Gruchmann vom Institut für Zeitgeschichte für die Überlassung der von ihm zitierten Dokumente. 158 Siehe dazu die von Winkler ausgearbeitete vielseitige „Übersicht der Sicherungsmaßnahmen“ über die Wachtruppe des Konzentrationslagers Dachau: „Übergabe-Protokoll“. Darin heißt es: „Die Führung der SS-Wachtruppe, sowie der Wach- und Sicherheitsdienst im Konzentrationslager Dachau wurde heute an die SS-Führer übergeben. Verzeichnis der übergebenen Anweisungen und Vorschriften für den Wach- und Sicherheitsdienst, sowie den Innendienst der Wachtruppe und der Übergabeprotokolle ist beigeheftet. Richtig übergeben: gezeichnet Winkler, Polizei-Hauptmann; Richtig übernommen: Wäckerle, Lagerkommandant, Dachau, den 30. Mai 1933“. BayHStA/Abt. IV, Bay Lp 48. 159 Ebd., „Allgemeine Wachvorschrift, Punkt 6, Postendienst“. 160 Orth, Karin: Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien. München 2004, S. 100.
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bereits herrschenden mörderischen Praxis übereinstimmen sollte. Offen wurde nun ausgedrückt, worin die „Postenpflicht“ bestand, nämlich Häftlinge auf Befehl zu erschießen bei zugesicherter Straffreiheit.161 Darüber kam es zwar zu längeren Querelen zwischen Himmler und den verschiedenen bayrischen Ministerien. Aber Himmler setzte sich mit seiner Zielsetzung durch, die lästige Staatsanwaltschaft aus dem Lager fernzuhalten. Dabei erhielt er Rückendeckung durch den fanatischen Innenminister Wagner. Der wollte nicht hinnehmen, „dass durch die Durchführung der Ermittlungsverfahren dem Ansehen des nationalsozialistischen Staates großer Abbruch deswegen getan würde, weil diese Verfahren sich gegen Angehörige der SA. und SS. richten und somit die SA. und SS., also Hauptträger des nationalsozialistischen Staates, unmittelbar betroffen würden“.162 Justizminister Frank dagegen zeigte sich über die Vorgänge in Dachau eher besorgt. Als Dienstherr der Staatsanwaltschaft fürchtete er um den Schein rechtsstaatlicher Ordnung, mit dem er die nationalsozialistische Machtergreifung umgeben wollte. Zur endgültigen Klärung dieses strategischen Konflikts – mehr Repression und damit Unruhe in der Bevölkerung oder ruhiger Aufbau der neuen Ordnung – wurde SA-Stabschef und Reichsminister ohne Geschäftsbereich Ernst Röhm eingeschaltet. Der teilte Anfang Dezember Himmler mit, dass „irgendwelche Untersuchungsbehörden das Lager nicht betreten dürfen und auch Angehörige des Lagers nicht einvernommen werden dürfen.“163 Die für Dachau zuständige Staatsanwaltschaft war nun endgültig ausgeschaltet. Damit war es auch „amtlich“, dass die Schutzhäftlinge im Lager unkontrolliert der totalen Willkür der SS ausgeliefert waren. Diese Willkür mit Gewalt durchzusetzen und die SS-Männer zu unerbittlicher Härte zu erziehen, war ab Ende Juni 1933 Eickes Aufgabe und Sendung.164 Es hätte also für Andersch gute Gründe gegeben, den neuen Kommandanten Eicke zu fürchten. Der hatte ihm angeblich den Revolver angedroht „für den Fall, dass man noch einmal nach Da-
_____________ 161 Eicke verfügte in den „Dienstvorschriften vom 1.10.1933“ unter „Punkt 6. Postenpflicht: Versucht ein Gefangener zu entfliehen, dann ist ohne Anruf auf ihn zu schießen. Der Posten, der in Ausübung seiner Pflicht einen fliehenden Gefangenen erschossen hat, geht straffrei aus.“ [...] „Wird ein Posten tätlich angegriffen, dann ist der Angriff nicht mit körperlicher Gewalt, sondern unter Anwendung der Schusswaffe zu brechen.“ BAR 22 Gr.5/A123 Heft 1, S. 3. Siehe auch Gruchmann: „Die bayerische Justiz“, S. 419. 162 Schr. Bay. Innenminister Wagner an Bay. Justizminister Frank, vom 29. November 1933. Zit. nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Bd. 36. Urkunden und anderes Beweismaterial. Nürnberg 1949, S. 47f. 163 Ebd., Bd. 20, S. 499. 164 Orth, Karin: Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien. Göttingen 2000, S. 28ff.
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chau käme“165 Aber Andersch kann, da ist sich auch Tuchel sicher, Eicke nie begegnet sein.166 Denn selbst nach seinen eigenen autobiografischen Angaben war er bei dessen Dienstantritt längst entlassen. Mit SS-Männern wie Steinbrenner stand ein Typus des KZ-Wachmannes bereit, der als „williger Vollstrecker“ überzeugt davon war, dass die Misshandlung und Ermordung der in Dachau einsitzenden „Verbrechernaturen“ – so Innenminister Wagner – legitim sei. In dieser Hinsicht ist Steinbrenners Biografie fast idealtypisch verlaufen. Eigenartigerweise zeigt seine soziale Herkunft und Entwicklung deutliche Parallelen zu der von Alfred Andersch auf, wenngleich er neun Jahre älter war. Auch Steinbrenners Familie gehörte der in den 20iger Jahren von Verelendung bedrohten Mittelschicht an. Wie Anderschs Vater starb auch sein Vater Erich Steinbrenner 1929. Sein Tod stürzte die Familie in finanzielle Not und in den sozialen Abstieg. Und ebenso wie Andersch war Steinbrenner ein intelligenter Schulabbrecher ohne berufliche Perspektive. Der Altersunterschied dürfte allerdings erklären, dass die Suche nach Orientierung und Zugehörigkeit bei beiden diametral gegensätzlich verlaufen ist, obwohl sie sehr ähnlichem familialen Milieu entstammten. Denn auch Steinbrenners Vater, als Waffenfabrikant wenig erfolgreich, gehörte wie der von Andersch zum radikal-konservativen, völkischen Münchner Spektrum. Von den drei Geschwistern Steinbrenners ist allerdings nicht bekannt, ob sie einen ähnlich radikalen Weg einschlugen, während Anderschs älterer Bruder immerhin Anfang 1933 bereits SA-Mitglied war.167 Steinbrenner und Andersch, zwei beispielhafte Exponenten des von Abstiegsängsten geplagten Mittelstandes, die aus dem dramatischen Verelendungsprozess ihrer Familien heraus strebten und in „revolutionären“ Gruppierungen nach Anschluss und Halt suchen: Während Andersch im Münchner KJV emotionale und intellektuelle Unterstützung fand, aber auch zum Straßenkämpfer wurde, war Steinbrenner offensichtlich fasziniert von den „braunen Kolonnen“, die ebenfalls auf der Straße ihre Stärke demonstrierten. Damit enden allerdings die Gemeinsamkeiten. Hans Steinbrenner wurde am 16. Oktober 1905 in Frankfurt am Main geboren. Bereits vor dem I. Weltkrieg zog die Familie nach München, wo Erich Steinbrenner eine kleine Gewehrfabrikation und einen Waffengeschäft betrieb. Nach der Grundschule besuchte er bis Kriegsende zwei Privatschulen, für kurze Zeit eine Handelsschule. Ohne Schulabschluss war er dann für kurze Zeit Lehrling im väterlichen Waffengeschäft, danach für zwei Jahre Volontär in der Thüringer Gewehrfabrik Suhl. Zurück
_____________ 165 KdF, S. 48. 166 Tuchel: „Andersch im Nationalsozialismus“, S. 33f. 167 Reinhardt: Andersch, S. 45.
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in München wollte er die Mittlere Reife nachmachen, was ihm nicht gelang. Nach dem Tod des Vaters versuchte er das Waffengeschäft zu halten, ging jedoch 1932 in Konkurs.168 Im Februar 1933 trat er in die NSDAP und die SS ein. Zunächst war er als SS-Hilfspolizist im Einsatz; um den 25. März wurde, wie bereits dargestellt, eine kleine SS-Einheit unter der Führung von SS-Sturmführer Robert Erspenmüller neu zusammengestellt und vom Münchner SS-Standartenführer Erasmus Freiherr v. Malsen-Ponickau persönlich nach Dachau geleitet. Dort angekommen, habe der Standartenführer zu nächtlicher Stunde vor der Häftlingsunterkunft eine Rede gehalten, deren Wortlaut Steinbrenner so wiedergibt: „Im Auftrag des Führers oder des Reichsführers der SS Himmler wurden wir hierher befohlen, um die größten Staatsfeinde und Verbrecher zu bewachen. Fluchtversuche mit der Waffe müssen verhindert werden. Ich hoffe, dass keine entfliehen, selbst wenn sie erschossen werden müssen, denn je mehr von diesen Schweinen sterben, je besser [ist] es für Deutschland.“169 So von seinen Vorgesetzten ermutigt, scheint sich Steinbrenners Wandel zu einem exzessiven, willigen Gewalttäter blitzschnell vollzogen zu haben. Dass Andersch von dieser neuen Qualität aggressiver Gewalt nach Ankunft der SS im Lager nichts bemerkt haben will, scheint wenig glaubwürdig. Auch Steinbrenners spontane, unberechenbare Gewalttätigkeit ist ihm entgangen, obwohl sie von allen bezeugt wird, die ihn auch nur aus der Distanz erlebten.170
_____________ 168 All diese biografischen Angaben stammen aus dem Beschuldigtenvernehmungsprotokoll vom 13. Juni 1951 vor dem Landgericht München II, StAM, Stanw, 34.462/9, Bl. 216f. Im Juli 1934 heiratete Steinbrenner die Engländerin Else Bretschneider, mit der er vier Kinder hatte: Akte Steinbrenner, SS-Führer- und Personalunterlagen. BA Berlin, D=1/24545. Nach dem Krieg wurde die Ehe geschieden; die Ehefrau ging mit den Kindern zurück nach London. 169 Vernehmungsniederschrift Steinbrenners vom 19. August 1948 vor der Landespolizei Oberbayern in Garmisch, StAM, Stanw, 34.462/1, S. 2. Vgl. diesen Text mit Grünwiedl, Anm. 74. 170 Nur ein Beispiel: Verschiedene Häftlinge bezeugen, dass Steinbrenner den jungen jüdischen Gerichtsreferendar Wilhelm Aron aus Bamberg, geb. 1907, der schon bei seiner Einlieferung am 24. April 1933 schwer misshandelte, mit dem Ochsenziemer mehrfach so schwer geschlagen habe, dass er tiefe Wunden an Rücken und im Beckenbereich aufwies. Dennoch wurde er von Steinbrenner immer wieder aus dem Revier geholt und auf die offenen Wunden geschlagen, bis er qualvoll in der Nacht zum 19. Mai an einer Fettembolie starb. Dazu Richardi: Schule der Gewalt, S. 100ff. Steinbrenner selbst leugnete eine Tatbeteiligung: „Ich selbst habe mich an Aron in keiner Weise vergriffen. Ich glaube auch nicht, dass ich ihn einen stinkenden Juden und Markierbruder genannt habe. Richtig ist, dass Aron im Lager gestorben ist, ich glaube, an einer Embolie durch Misshandlung. Wer den Aron misshandelt hat, und wo und wie dies geschah, weiß ich nicht.“ Vernehmung Steinbrenner am 19. Juni 1951, StAM, Stanw, 34.462/9 Bl. 220.
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Fest steht, dass Steinbrenner dem etwa zehnköpfigen Vorauskommando der SS angehörte, das in den letzten Märztagen 1933 zur Unterstützung und Kontrolle der Landespolizei nach Dachau kam. Nahe dem ehemaligen Haupttor ließ man sich durch Häftlinge eine eigene Unterkunft herrichten, während das Gros der Häftlinge unter der Leitung eines Arbeitskommandos damit beschäftigt war, die maroden Baracken des künftigen Lagers zu renovieren und mit Stacheldraht einzuhegen. Die bereits anwesende 2. Hundertschaft der Landespolizei residierte im späteren SS-Kommandanturgebäude, die Gefangenen zunächst in einem mit Stacheldraht umgebenen Bau in deren Nähe.171 Anfang April zogen die Häftlinge in die notdürftig hergerichteten Baracken des Lagers um (s. Abb. 10). Als dann die SS am 11. April mit 60 Mann das Lager übernahm, war das Vorauskommando um Steinbrenner für Kommandant Wäckerle aufgrund ihrer bisherigen Erfahrung und Ortskenntnis eine wichtige Stütze. Wäckerle machte Steinbrenner zum Anführer der 2. Häftlingskompanie. Er nahm damit unter den Mannschaften eine herausragende Stellung ein. Die behielt er auch unter Wäckerles Nachfolger Eicke, der ihm den Vollzug von Prügelstrafen übertrug.172 Als 1934 eine SS-Kaserne auf dem freien Teil des Werksgeländes eröffnet wurde, wird SS-Unterscharführer Steinbrenner zunächst zum Ausbilder befördert, dann lässt er sich dort für den Sanitätsdienst ausbilden. Er lebt in der SS-Siedlungsgemeinschaft in Dachau mit seiner Frau und den vier Kindern. Mit Kriegsbeginn diente Steinbrenner in verschiedenen SS-Divisionen und erlebte das Kriegsende, inzwischen zum SS-Untersturmführer befördert, als Chef der Verwaltung eines SS-Lazaretts in Böhmen. Dort geriet er in US-amerikanische Gefangenschaft und wurde als Angehöriger der SS in das Lager Moosburg interniert. Am 8. November 1945 vernahmen ihn erstmals Angehörige der US-Special Branch zu seiner Dachauer Zeit. Steinbrenner gab sich völlig ahnungslos: Wenn ich gefragt werde, ob ich von Greueltaten oder ähnlichem [in Dachau, R.S.] etwas gehört oder gesehen hätte, so muss ich dies verneinen. Ich weiß wohl, dass einige Häftlinge auf der Flucht erschossen worden sind, ich weiß aber nicht, durch wen und um welche Häftlinge es sich handelt.173
_____________ 171 Zur Anfangsphase des Lagers Dachau vgl. die ausführliche Schilderung des ehem. Mitglieds der 2. Hundertschaft Johann Kugler vom 10. Februar 1953 im Verfahren gegen SSMann Szustak und Genossen vor dem LG München II, in StAM, Stanw, 34.465. 172 Vernehmungsniederschrift Steinbrenner vom 19. August 1948, StAM, Stanw, 7014, Bl. 7. 173 StAM, Spk-Akten K 1765, Steinbrenner, Hans, hier: Special Branch-Vernehmung am 8. November 1945.
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Abb. 21: Hans Steinbrenner als Angeklagter 1949.
Diese Position vermochte er nicht lange zu halten. Steinbrenner war durch den 1946 gegründeten Landesausschuss der politisch Verfolgten in Bayern als ehemaliges Mitglied der SS-Wachmannschaften enttarnt worden (Abb. 21). Er war inzwischen in das als Internierungslager genutzte ehemalige KZ-Dachau überstellt worden. Dort wurde er am 8. September 1946 erneut von Beamten des Special Branch vernommen. Denen gestand er nun immerhin die Misshandlung von Häftlingen: „Ich habe Häftlinge mit dem Ochsenfiesel geschlagen. Ich habe ziemlich oft geschlagen. Es waren nur deutsche Häftlinge da.“174 Indem der zugab, nur deutsche Häftlinge geschlagen zu haben, nutzte er geschickt eine unklare Gesetzeslage. Denn die Alliierten suchten vor allem nach Kriegsverbrechern, die in den von der Wehrmacht besetzten Ländern, an ausländischen Häftlingen oder an gefangenen US-Soldaten Verbrechen begangen hatten. Allerdings scheinen die Vernehmungsmethoden gegen ehemalige Mitglieder der SS ziemlich rau gewesen zu sein, denn Steinbrenner wurde mit Kopfverletzungen in ein Lazarettkrankenhaus nach Berchtesgaden verlegt, wo er allerdings gut versorgt wurde. Danach durchlief er verschiedene Spruchkammern, ohne dass es zu einem Urteil kam. Am 2. März 1948 schrieb die Süddeutsche Zeitung auf Proteste ehemaliger Häftlinge hin, der des mehrfachen Mordes bezichtigte Steinbrenner säße immer noch wohlversorgt im Internierungslager und warte auf sein Verfahren. Als er kurz danach erstmals von Nürnberger Entnazifizierungsrichtern verhört wurde, warf er den Vertretern der Besatzungsmacht vor, dass sie sich gegenüber Gefangenen schlimmer verhielten als die SS. Ein psychiatrisches Gutachten stellte
_____________ 174 Sworn Statement Hans Wilhelm Clemens Steinbrenner, Ebd., Spk-Akte.
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allerdings fest, dass Steinbrenner lediglich geschickt simulierte, um seine Verhandlungs- und Haftfähigkeit „auf unabsehbare Zeit hinauszuschieben, bzw. zu verhindern“.175 Den Richtern legte Steinbrenner 14 Entlastungszeugnisse vor, die belegen sollten, wie haltlos alle Vorwürfe gegen ihn seien.176 Diese so genannten „Persilscheine“ beschrieben einen freundlichen, stets hilfsbereiten Menschen, der allseitig beliebt gewesen sei. Auch seine Mutter bezeugte, ihr Sohn sei ein ganz normales Kind gewesen, sehr intelligent, ein guter Schüler; er sei „gutmütig veranlagt“ und habe „keine grausamen Eigenschaften gegen Mensch und Tier“ gezeigt.177 Auch eine ehemalige Lehrerin bestätigte ihm „Gutmütigkeit, Anhänglichkeit und Treue“. Dem standen erste Aussagen von Nürnberger Häftlingen entgegen, die das entgegengesetzte Bild eines brutalen SS-Mannes zeichneten. Das Ergebnis der Entnazifizierungsbehörde nach den ersten Zeugenvernehmungen zu seiner Zeit in Dachau war eindeutig. Eine erste Anklageschrift hob vor allem auf den Mord an Benario und Genossen ab: „Der Angeschuldigte Steinbrenner [rief] die vier Häftlinge Goldmann, Kahn I, Kahn II und Benario auf und führte sie gemeinsam mit einem unbekannten SS-Mann zum Lagertor. Dort warteten zwei weitere unbekannte SSLeute [...] Die Häftlinge wurden nunmehr hinter das Kommandanturgebäude geführt und von den SS-Leuten in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit der Pistole erschossen.“178 Die Nürnberger Spruchkammer stufte Steinbrenner als Hauptbelasteten ein und gab wegen der besonderen Schwere der Schuldvorwürfe das Verfahren an das Landgericht München ab. Am 24. September 1948 wurde Anklage erhoben wegen Mordes an Benario und Genossen. Das Gericht sah als erwiesen an, „dass der Angeschuldigte die vier Häftlinge nicht wahllos herausbefohlen hat, sondern dass er sie namentlich aufgerufen hat. Bei Gegenüberstellung mit dem Zeugen [Hertrich, R.S.] musste der Angeschuldigte seine ursprüngliche Einlassung, er sei nur bis zum Lagertor mitgegangen und habe dann diese dem Erspenmüller und Schmidt Max übergeben, fallen lassen und einräumen, dass er mit hinter das Kommandanturgebäude gegangen ist. Bis dorthin hat Hertrich den Vorgang beobachtet. Da [...] unmittelbar, nachdem die Gruppe einschließlich Steinbrenner hinter dem Kommandanturgebäude verschwunden war, Alarm ertönte, der den Gefangenen gebot, sich in die Baracken zu bege-
_____________ 175 Nervenklinik der Universität München: Fachärztliches Gutachten über Herrn Hans Steinbrenner, vom 29. September 1949. StAM, Stanw, 34.462/3. 176 All diese „Persilscheine“ sind als Entlastungsmaterial in der Spruchkammerakte Steinbrenner erhalten; StAM Spk-Akte Steinbrenner. 177 Aussage Henriette Steinbrenner, vom 27. Mai 1950, StAM, Stanw, 34.462/6, Bl. 134, 134 R. 178 StAM, Stanw, 34.462/1.
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ben und während dieses Alarms die Pistolenschüsse krachten, kann kein Zweifel sein, dass der Angeschuldigte als Mittäter beteiligt war.“179 Weitere Zeugenaussagen ließen jedoch Zweifel am Tathergang aufkommen, so dass weitere Ermittlungen angeordnet wurden. Die Anklage in München war dadurch möglich, dass die Strafverfolgung von NS-Tätern inzwischen an deutsche Gerichte übergegangen war. Damit konnte die Staatsanwaltschaft München, nicht zuletzt auf öffentlichen Druck des Landesausschusses, mit der erneuten Prozessvorbereitung beginnen. Diese zog sich allerdings über Jahre hin, denn in den Nachkriegswirren war das Auffinden weiterer Tatzeugen ein schwieriges Unterfangen. In seiner Vernehmung durch Untersuchungsrichter Naaff leugnete Steinbrenner weiterhin jede Tatbeteiligung am Mord an Benario und Genossen. Die alleinige Verantwortung schob er auf den Kommandanten Wäckerle und den Führer des Wachkommandos Erspenmüller. Das war leicht möglich, denn beide waren gefallen. Seine Sicht des Tathergangs beschrieb Steinbrenner folgendermaßen: Richtig ist, dass ich am 12.4.1933 die 4 Häftlinge Goldmann, Kahn I, Kahn II und Benario namentlich aufgerufen und vorgeführt habe. Es war in den späten Nachmittagsstunden, [...] als ich mich in dem Aufenthaltsraum befand. Zu diesem Zeitpunkt kam Erpsenmüller, der damals Kommandant-Stellvertreter des Lagers war, zu mir, und gab mir den Befehl, die 4 Häftlinge, deren Namen er mir nannte, zu ihm vorzuführen. [...] Auf Grund des Befehls des Erpsenmüller bin ich durch das Lagertor zu den Baracken und habe durch Ausruf die 4 Häftlinge herausgeholt und beim Lagertor dem Erpsenmüller übergeben. Dort verlangte Erpsenmüller, dass die Leute Arbeitsgeräte bekämen. Dort habe ich den Häftlingen Schaufeln und [...] Körbe ausgefolgt [...] und bin ins Lager zurückgekehrt. [...] Ich hatte auch keine Ahnung, was Erpsenmüller mit den Leuten vorhatte. [...] Richtig ist, dass ich nach dem Vorfall einem Häftling gegenüber eine Äußerung des Inhalts getan habe, ‚Euch tun wir nichts, aber die Juden legen wir alle um‘.180
Auf der Suche nach weiteren Zeugen wurden etwa 700 Zeugen gefunden, die Steinbrenner vor dem Untersuchungsrichter mehr oder weniger schwer belasteten. Der allerdings bestritt hartnäckig, gemordet zu haben. Er gestand zwar die Tötung Lehrburgers, wollte aber auf ausdrücklichen Befehl des Kommandanten Wäckerle und unter Zwang gehandelt haben. Er habe sich zunächst gewehrt, dann aber dessen Befehl nicht mehr ausweichen können, „ohne für mich und meine Person wegen Befehlsverweigerung schwere Folgen befürchten zu müssen“.181 Das Gericht bewer-
_____________ 179 Anklageschrift der 1. Strafkammer beim Landgericht München II gegen Hans Steinbrenner vom 24. September 1948, StAM, Stanw, 34.462/3, Bl. 3/3 R. 180 Beschuldigtenvernehmungsprotokoll Steinbrenner vom 13. Juni 1951, StAM, Stanw, 34.462/9, Bl. 219f. 181 Steinbrenner musste zu all diesen Zeugenaussagen zwischen dem 13. Juni und 3. Juli 1951 Stellung nehmen. Dazu: Beschuldigtenvernehmungsprotokoll, StAM Stanw 34.462/9, Bl. 216ff.
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tete dies als Schutzbehauptung und beschloss am 5. September 1951, Steinbrenner des Mordes anzuklagen.182 Zwar gestand er, Häftlinge, insbesondere jüdische, beschimpft und geschlagen zu haben. In allen anderen Anklagepunkten fühle er sich jedoch „völlig unschuldig“.183 Am 6. März 1952 wurde endlich die Hauptverhandlung gegen Steinbrenner und seinen Untergebenen Johann Unterhuber eröffnet. Aber anders als im ersten Nürnberger Verfahren wurden nun die Morde an Benario und Genossen ausgeklammert: Während ihrer Tätigkeit im Konzentrationslager in Dachau haben sich die Angeklagten teils allein, teils gemeinsam bzw. zusammen mit anderen SS-Angehörigen in zahlreichen Fällen schwer gegen Leben und Gesundheit der dort untergebrachten Häftlinge vergangen. Eine Verfolgung dieser Straftaten war aus verfahrensrechtlichen Gründen oder wegen Schwierigkeit der Beweisführung nurmehr zu einem geringen Teil möglich. Die Anklagebehörde hat daher [...] aus dem umfangreichen [...] Tatsachenmaterial nur einige wenige Fälle herausgegriffen, in denen ihrer Ansicht nach eine Überführung der Angeklagten möglich war.184
Das Gericht konnte Steinbrenner die Mittäterschaft am Mord an Benario und Genossen nicht einwandfrei nachweisen. Es klagte ihn auch nicht der Beihilfe an, die ja gegeben war. Es begnügte sich damit, den zweifachen Mord an dem Nürnberger Kaufmann Karl Lehrburger und dem Bamberger Gerichtsrefendar Wilhelm Aron in das Verhandlungszentrum zu rücken sowie die schweren Körperverletzungen, die durch klare Zeugenaussagen und gutachterliche Atteste nachgewiesen waren. Hier war die Beweislast erdrückend, denn der Mord an Lehrburger war bereits durch die wieder aufgefundenen Akten der Anklage gesichert, die Oberstaatsanwalt Wintersberger am 1. Juni 1933 bei der Generalstaatsanwaltschaft München erhoben hatte. Steinbrenner habe damals zugegeben, Lehrburger am 25. Mai 1933 durch einen Schuss in die Stirn aus einer Entfernung von 10–20 Zentimeter getötet zu haben. Allerdings wollte er aus Notwehr gehandelt haben, da Lehrburger angeblich ein Brotmesser in der Hand gehabt habe. Diese nun als durchsichtig erkannte Schutzbehauptung, abgesprochen mit Kommandant Wäckerle, hatte allerdings 1933 dem Oberstaatsanwalt Wintersberger genügt, das Verfahren einzustellen, „da das Vorbringen des Steinbrenner nicht widerlegt werden“ konnte.185 Daran konnte sich der spätere Generalstaatsanwalt Wintersberger als Prozesszeuge allerdings nicht mehr erinnern.
_____________ 182 Ebd., Bl. 280/280 R, 281. 183 Ebd., Bl. 258 R. 184 Urteil gegen Steinbrenner und Unterhuber vom 10. März 1952, StAM, Stanw, 34.462/11, Bl. 63 R. 185 Wintersberger an Generalstaatsanwalt am OLG München, vom 1. Juni 1933. Betreff: Ableben des Schutzhaftgefangenen Karl Lehrburger im Konzentrationslager Dachau. Gruchmann, BA R 22 Gr.5/A123 Heft 5. Dass OStA Wintersberger im Katalog der Gedenkstätte Dachau, S. 64, als „gewissenhafter tapferer Beamter“ dargestellt wird, ist
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Zur brutalen Ermordung Arons durch Steinbrenner fanden sich genügend Zeugen, die unmittelbar beobachtet hatten, dass er den jungen Juristen, ein exponiertes und aktives Mitglied des ‚Reichsbanners‘ Schwarz-RotGold aus Bamberg, bis zur eigenen Erschöpfung mit dem Ochsenziemer so lange geschlagen hatte, dass er auf dem Rücken und im Beckenbereich bis auf die Knochen zerfleischt war. Aron starb unter unsäglichen Bedingungen. Für diese beiden Morde und für lebensgefährliche Körperverletzung etlicher Häftlinge wurde er zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Die Morde an Benario und Genossen blieben ungesühnt. Nach der Haftentlassung beging Steinbrenner am 12. Juni 1964 Selbstmord.
VIII „Mein lumpiges Vierteljahr Haft [...]“: Andersch, Steinbrenner und die Dachau-Darstellung in den Kirschen der Freiheit „Mein lumpiges Vierteljahr Haft zählt nicht gegen die zwölf Jahre, die viele meiner Genossen hinter dem Draht von Lagern verbrachten.“ Er sei im „Mai 1933 schon wieder aus dem Konzentrationslager Dachau entlassen worden“.186 Andersch hat allerdings großzügig gerechnet. Wenn man vom 22. März, der Eröffnung des KZ Dachau, ausgeht, waren es maximal sechs Wochen. Er habe auch „niemals Angst gehabt, obwohl ich in der Strafkompanie eingereiht war“.187 Und das, obwohl er miterlebt hatte, dass die Haftzeit von „Goldstein“ und „Binswanger“ bis zu ihrer Ermordung nur ‚lumpige‘ zwei Tage betrug. Andersch ist von den verschiedenen Tätern nur SS-Mann Steinbrenner in Erinnerung geblieben. Seine Begegnung mit ihm ist, im Gegensatz zu den meisten Häftlingen, eher harmloser Natur: „Nachdem man uns die Haare abgeschnitten hatte, [...] ließ uns der SS-Mann Steinbrenner im Stechschritt an einer Gruppe seiner Vorgesetzten vorbeimarschieren.“188
_____________ angesichts seiner Rolle bei den Verfahrenseinstellungen nicht recht nachvollziehbar. Dieses Etikett passt vielmehr zu seinem Untergebenen, StA Hartinger, der am gleichen Tag zweimal Anklage erhob, und zwar einmal sogar gegen Lagerkommandant Wäckerle. Dazu: StAM, Stanw, 7014, Bl. 9, 42/42 R. 186 KdF, S. 41f. 187 Ebd., S. 45. Auch Tuchel zweifelt an der Mitgliedschaft Anderschs zur Strafkompanie. Vgl. Tuchel: „Andersch im Nationalsozialismus“, S. 34. Diese Zweifel sind berechtigt, denn formal wurde die Strafkompanie in Dachau erst sehr viel später eingerichtet. Häftlinge haben gelegentlich in ihren Aussagen die verschiedenen schweren Arbeiten an der Straßenwalze oder in der Kiesgrube als Bestrafung empfunden und mit „Strafkompanie“ bezeichnet. 188 Ebd., S. 44.
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Da ist anderen Häftlingen erheblich Schlimmeres in Erinnerung geblieben. Die zweite Beobachtung im Konzentrationslager bezieht sich auf die Mitgefangenen „Goldstein und Binswanger“, die von Steinbrenner angeblich um sechs Uhr „zum Wassertragen“ aus ihrer Unterkunft geholt und vor das Lagertor geführt worden seien, wo sie dann an einer Mauer „auf der Flucht“ erschossen worden seien. Was da genauer vorgefallen ist, will oder kann er nicht mitteilen, wie er auch im Unklaren lässt, ob die Schutzhäftlinge nicht doch einen Fluchtversuch unternommen hätten. Statt von einem brutalen Mord zu schreiben, benutzt er den falschen Terminus der SS, auch wenn er ihn in die wörtliche Rede setzt. Aber: „Auf der Flucht erschossen“ war allerdings 1933 noch kein geflügeltes Wort; dazu wurde es erst durch die NS-Propagandamaschinerie. Außerdem benennt er noch einen zweiten SS-Mann namens Waldbauer.189 Der kam angeblich nach dem abendlichen Appell noch einmal in Anderschs Häftlingsbaracke, um heimlich Briefe anzunehmen und aus dem Lager zu schmuggeln. Bei Waldbauer handelt es sich jedoch um einen fiktiven Namen, denn in der SS-Personalkartei gibt es keinen SS-Angehörigen der Dachauer Wachmannschaft dieses Namens. Und dass ein SS-Wachmann gewissermaßen fraternisierend – es fragt sich, mit was die Häftlinge ihn hätten entlohnen können – Häftlingsbriefe aus dem Lager schmuggelte, ist der Sache nach gänzlich unglaubwürdig.190 Zum einen war den Häftlingen anfänglich ein überwachter Postverkehr gestattet, zum andern verbot die Lagerordnung bei schwerer Strafandrohung jeden heimlichen Kontakt zwischen den Häftlingen und dem Wachpersonal. Ob Andersch überhaupt und wenn ja, wie lange in Dachau war, lässt sich angesichts der eigenen Widersprüche wie auch der wenig aussagekräftigen Darstellung seines „lumpigen Vierteljahrs“ nicht mit Gewissheit sagen. Es gibt neben den oben zitierten Einträgen in die Haftbücher keine weiteren verlässlichen Quellen. Auch sind Briefe aus der Haft an seine Familie, insbesondere an die geliebte Mutter, bisher nicht bekannt geworden, ob-
_____________ 189 Ebd., S. 43. 190 Nach Überprüfung des Bestands SS-Führer Personalakte und des Bestands Rasse- und Siedlungshauptamt-SS (ehem. BDC) im Bundesarchiv Berlin taucht der Name Waldbauer in keiner SS-Personaldatei auf. Allerdings könnte es sich um den SS-Sturmführer Anton Waldmann handeln. Der war allerdings einer von Steinbrenners Vorgesetzten und kein Wachmann. Zu dem angeblich heimlichen Schmuggeln von Briefen durch SS-Wachmänner: Nach den „Vorschriften für den Wach- und Sicherheitsdienst“, die Polizeihauptmann Winkler am 30. Mai 1933 an SS-Kommandant Wäckerle übergab, war es streng verboten, Briefe von Häftlingen anzunehmen und zu befördern. Die Wachmänner hatten auch kaum Gelegenheit hierzu, zumal sie bereits im April 1933 außen am elektrisch geladenen Zaun Doppelstreife gingen. S. hierzu die umfangreiche „Übersicht der Sicherungsmaßnahmen vom 30. Mai 1933“ unter BayHStA/Abt. IV Bay Lp 48.
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wohl das Lager anfänglich keiner postalischen Beschränkung unterlag. Das so wichtige Stadelheimer Haftbuch, das seinen weiteren Verbleib in der Haft nach dem 10. März dokumentiert hätte, existiert nicht mehr. Und die Überprüfung des Archivs der Landespolizei ergab, dass die anfänglich von ihr geführte Registratur der Eingänge und Entlassungen ebenfalls nicht erhalten geblieben ist.191 So verbleiben lediglich die Selbstzeugnisse, die an mehreren Stellen in Anderschs Werk zu finden sind. Noch einmal ausführlich die Beschreibung seiner Haftentlassung: Mein lumpiges Vierteljahr Haft zählt nicht gegen die zwölf Jahre, die viele meiner Genossen hinter dem Draht von Lagern verbrachten. Ich bin im Mai 1933 schon wieder aus dem Konzentrationslager Dachau entlassen worden, weil meine Mutter mit den Papieren meines Vaters die Gestapo belagerte und einen Gnadenerweis erwirkte, dem Andenken des um die nationalsozialistische Sache so verdienten Mannes zu Ehren.192
Wann genau das war, sagt er nicht. Es ist ein Verdienst seines Biografen Reinhardt, das „lumpige Vierteljahr Haft“, das Andersch später sogar bis zu einem halben Jahr erweiterte,193 auf maximal sieben Wochen begrenzt zu haben. Er schreibt in den Anmerkungen: „Die Tatsachen: KZ-Aufenthalt etwa 7 Wochen; Polizeiaufsicht nur wenige Wochen; Angestellter in Lehmanns Verlag.“194 Danach wäre Andersch also um den 10. Mai 1933 aus der KZ-Haft entlassen worden. Das jedoch ist mehr als unwahrscheinlich, denn nach der spektakulären Flucht Hans Beimlers in der Nacht zum 9. Mai herrschte im Lager wie auch im Raum München aufgrund der hektischen Suchaktion der Polizei tagelang der faktische Aus-
_____________ 191 Im Hauptstaatsarchiv – Kriegsarchiv – München finden sich zwar umfangreiche Hinterlassenschaften der Landespolizei über die Verwaltung des Lagers, aber keine Häftlingsverzeichnisse. 192 KdF, S. 42f. Tuchel: „Andersch im Nationalsozialismus“, S. 33, bemerkt zu den Umständen der Haftentlassung Anderschs, „nichts davon erscheint im Kontext der belegten Ereignisse des Frühjahrs 1933 plausibel“. 193 In der englischen Version der Wikipedia heißt es: „Andersch became a youth leader in the Communist Party. As a consequence, he was held for 6 months in the Dachau concentration camp in 1933.“ In der deutschen Ausgabe sind es allerdings nur drei Monate. 194 Reinhardt: Andersch, S. 644. Reinhardt konnte für seine Berechnung offensichtlich im Familienarchiv den Lebenslauf einsehen, den Andersch für seine Schweizer Einbürgerung verfasste. Danach schwindelte Andersch, er habe gar „ein halbes Jahr im KZ Dachau“ verbracht. Weiter: „Während der Dauer des Nazi-Regimes stand ich unter Polizei-Aufsicht. Die Ausübung meines Berufs als Buchhändler wurde mir verboten, so dass ich IndustrieAngestellter wurde [...]“. Ein anderer Lebenslauf dürfte der Wahrheit näher kommen. So schrieb Andersch im Antrag seiner Bewerbung um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer vom 22. Februar 1943: „Nach meinem Austritt aus der Schule erlernte ich den Beruf des Verlagsbuchhändlers. In der Zeit der großen Krise arbeitslos, fand ich 1933 wieder Beschäftigung J.F. Lehmanns Verlag in München, wo ich bis 1937 tätig war.“ Dazu: Antrag Anderschs an die Reichsschrifttumskammer, Gruppe Schriftsteller, dort eingg. am 22. Februar 1943, aus: BArch, RKK, Andersch, Alfred.
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nahmezustand. Geht man andererseits vom „lumpigen Vierteljahr“ aus, wäre Andersch sogar erst im Juni entlassen worden. Zu dieser Zeit arbeitete der Jungkommunist nach kurzem Intermezzo im Freiwilligen Reichsarbeitsdienst bereits im J.F.Lehmanns Verlag, dem führenden rechtsradikalen und antisemitischen Münchner Verlagshaus des Hitler-Förderers Julius Friedrich Lehmann (1864–1935), in dessen Dunstkreis sich auch Anderschs Vater bewegt hatte. Bei der Bewerbung dürfte dies recht hilfreich gewesen sein. Andererseits kann die Arbeit ausgerechnet in diesem Verlag bis 1937 als Resozialisierungsprogramm sui generis gelten. Auch tat er nach diesem Eintritt in die völkische Verlagsarbeit einen weiteren Schritt der beruflichen Rückversicherung mit den neuen Machthabern, wie er 1943 in seinem Antrag an die Reichsschrifttumskammer vermerkte. Auf die Frage: „Waren Sie Mitglied der Reichskulturkammer?“, bestätigte er dies wahrheitsgemäß: „R.S.K. Gruppe Buchhandel, ausgeschieden, da ich seit 1937 nicht mehr als Buchhändler tätig bin.“ Er sei stattdessen aufgrund seiner neuen Tätigkeit als Mitglied der Werbeleitung der Hamburger Leonar-Werke in die „N.S. Reichsfachschaft Deutscher Werbefachleute“ gewechselt.195 Auch dazu musste man nicht gezwungen werden. Und woher Reinhardt seine, wie oben zitiert, „Tatsachen“ zur Dauer der siebenwöchigen KZ-Haft bezieht, darüber schweigt er sich aus. Auch sei dahingestellt, ob sich die Entlassung aus Dachau durch mütterliche Intervention so abgespielt hat, wie Andersch sie beschreibt und wie sie in der innerfamilialen Erzählung recht unterschiedlich dargestellt wird. Tuchel bemerkt hierzu, ihm scheine nichts von diesen Erzählungen plausibel. Und er rät generell zu „äußerster quellenkritischer Vorsicht“ bei der Benutzung der innerfamiliären Quellen.196 Auch er stellt fest, insgesamt seien die Schilderungen der Hafterlebnisse unpräzise, unbestimmt und „offenbar um der literarischen Wirkung wegen oftmals miteinander verwoben“.197 Verwirrend ist die Darstellung der zweiten Verhaftung beim Biografen Reinhardt. Ihm fallen die offensichtlichen Darstellungsfehler auf, und so korrigiert er sie flugs. Nun ist es Wäckerle, nicht Eicke, der Andersch die Kugel androht, sollte er wieder nach Dachau eingeliefert werden, wie er das Ganze noch ausschmückend beschreibt: „Andersch fielen die Prügel und die Kugel ein, die ihm Lagerkommandant Wäckerle angedroht hatte, falls er zurückkehren würde. Andersch hörte und sah die Schläge, die Josef Götz und Hans Beimler in der Arrestzelle von Steinbrenner und den
_____________ 195 Ebd. 196 Tuchel: „Andersch im Nationalsozialismus“, S. 33. 197 Ebd., S. 3.
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anderen SS-Schergen erhalten hatten.“198 Diese Darstellung suggeriert ohne Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten, dass Andersch in der Lage gewesen wäre, die Untaten der SS zu beobachten. Auch das dürfte frei erfunden sein, denn die Prügelorgien und Morde der SS an den zu Einzelhaft verurteilten Gefangenen fanden meist im Keller des abseits gelegenen Bunkers statt, in dem sogar die Fenster mit Brettern vernagelt waren, oder, wie bei Benario und Genossen, im nahegelegenen Wäldchen.199 Das hatte seinen guten Grund: Die Häftlinge waren nämlich anfänglich in enger Nachbarschaft zu ihren SS-Bewacher untergebracht, wie Steinbrenner in seiner Vernehmung beschreibt. Und es lag in der Logik der Anfangsphase von Dachau, dass die Häftlinge die Greueltaten der SS möglichst nicht direkt bezeugen können sollten. Schließlich hatte man vor Ort immer noch das Kommando der Landespolizei und die Gerichtskommission zu befürchten. Was spricht angesichts der Faktenarmut der Dachau-Episode in Kirschen der Freiheit überhaupt dafür, dass Andersch im KZ Dachau war? Eigentlich nur seine Selbstbezeugung und einige Hinweise von Seiten ehemaliger Freunde. Und bei der Frage, wie viel nachkontrollierbare Substanz Kirschen der Freiheit enthält, stößt man auf eine gewisse Disparität der Erinnerung: Die näheren Umstände der Verhaftung am 10. März werden sehr genau beschrieben: Die Mutter, die morgens um 6 Uhr schnell noch die Namenslisten des KJV-Südbayern in den Ofen schiebt – allein in München seien das, wie er schreibt, etwa tausend Mitglieder gewesen sein, ein dicker Stapel also, der nicht so schnell verbrannt sein dürfte; der tumbe Polizist, der sich beim Anblick seiner Bücher wundert, wie ein so „gebildeter Mensch Kommunist“ sein könne; der Gang durch den dunklen Morgen zur Polizeiwache. Danach fällt die Erinnerung bis zur angeblichen Einlieferung nach Dachau am 22. März, also über die Zeit in der Haftanstalt Stadelheim, komplett aus. Ist es nicht sehr viel wahrscheinlicher, dass die Mutter den Sohn bereits in Stadelheim freibekommen hat unter Verweis auf das nationalsozialistische Engagement von Vater Andersch? So unklar wie die näheren Umstände seiner „Schutzhaft“ nach dem 10. März bleiben auch die seiner angeblichen Entlassung im Mai 1933. Er selbst schreibt 1943 in einem tabellarischen „Lebensabriss“: „1933 Meine Verhaftung und Internierung im Konzentrationslager Dachau. April Entlassung.“200 Und dass die Mutter die Gestapo mit dem Hinweis auf das nationalso-
_____________ 198 Reinhardt: Andersch, S. 50. Ein Häftling beschreibt den „Revierbunker“ des Lagers als „gemauerten Sarg ohne Fenster“. Vgl. Richardi: Schule der Gewalt, S. 91. 199 Vgl. hierzu Riedel, Dirk A.: Kerker im KZ Dachau. Die Geschichte der Bunkerbauten. München 2002, S. 14. 200 Faksimile des „Lebensabrisses“. In: Korolnik u. Korolnik-Andersch: Sansibar, S. 30.
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zialistische Engagement des Vaters zu beeindrucken vermochte, um für den Sohn einen Gnadenerweis zu erwirken, ist gewiss eine anrührende, aber wenig glaubhafte Erzählung. Denn wie aus den hier wiedergegebenen Dokumenten bereits sichtbar wurde, war für die Entlassung aus Dachau eine persönliche Anweisung von Polizeipräsident Himmler und der Politischen Polizei erforderlich und nicht eine von der Gestapo, die es in Bayern zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gab.201 Noch ausführlicher werden die vermeintlichen Entlassungsumstände in der Biografie von Stephan Reinhardt ausgeschmückt: Hedwig Andersch lief von Pontius zu Pilatus [sic!], um ihren Sohn Alfred so schnell wie möglich wieder aus dem Mörderlager freizubekommen, mit den Papieren ihres Mannes in der Hand, zu Beginn der ‚Bewegung‘ Gründungsmitglied der ‚Thule-Gesellschaft‘, aktiv im Wehrbund ‚Reichskriegsflagge‘. Dr. med. Adam, der sich der Familie Andersch seit dem Tod des Vaters verpflichtet fühlte, erwirkte als frühes Mitglied der NSDAP in der Parteizentrale einen ‚Gnadenerweis‘. Begleitet von einem Kriminalbeamten aus der Ettstraße holte Hedwig ihren mittleren Sohn Ende April 1933 aus Dachau ab.202
Und Reinhardt schreibt, Andersch selbst habe 1947 für diese Hilfeleistung im Spruchkammerverfahren gegen Adams belastete Tochter Gertraud Adam revanchiert: „Den Bemühungen dieses Herrn [Dr. Adam, R.S.], der ein altes Parteimitglied war, ist es auch gelungen, meine Haftentlassung herbeizuführen.“203 Leider enthält auch diese Aussage keinen Hinweis auf Ort und Zeit der Haftentlassung Anderschs. Dennoch ist sein „Persilschein“ für eine überzeugte Nationalsozialistin mehr als nur kurios, bezeugt sie doch die enge Anbindung der Familie Andersch an das braune Milieu. Denn über Gertraud Adam und ihre Familie stellte das „Gaupersonalamt für Politische Beurteilung vom 6.2.39“ fest: „Adam ist Schwester beim Roten Kreuz. Dieselbe ist Parteimitglied. Die Einstellung vor der Machtübernahme war gut. Sie bezog insgeheim den V.B. [Völkischer Beobachter, R.S.] und machte unter den Schwestern reichlich Propaganda, sodass sie als Nazischwester bezeichnet wurde. Der Vater ist Inhaber des Goldenen Ehrenzeichens, der Bruder Altparteigenosse, die Mutter ebenfalls Pg. Die Beflaggung ist einwandfrei. Adam nahm dreimal an den Reichsparteitagen teil. Adam setzt sich voll und ganz für die Bewegung ein.“ 204 Ganz sicher dürfte diese in öffentlicher Verhandlung vorgetragene
_____________ 201 Die Ende April 1933 in Preußen entstandene Gestapo hatte noch keine Befugnisse im Machtbereich Heinrich Himmlers; dazu: Longerich: Himmler, S. 171ff. 202 Reinhardt: Andersch, S. 48. 203 Ebd., S. 643. Reinhardt zitiert hier ohne Quellennachweis. In der Spruchkammerakte Gertraud Adam ist diese Erklärung nicht vorhanden. Möglicherweise stammt sie aus dem Familienarchiv. 204 Zit. nach: Spruchkammerverfahren gegen die Familie Adam am 14. Oktober 1947. Alle Familienmitglieder wurden als „Belastet“ eingestuft und wurden zu erheblichen Geld-
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Erklärung Anderschs zugunsten von Gertraud Adam für erhebliche Verunsicherung bei seinen ehemaligen KJVD-Genossen gesorgt haben. Dies ist nur eine von vielen Ungereimtheiten, die sich um Anderschs Einstellung zum Nationalsozialismus ranken und die Tuchel zu dem abschließenden Urteil veranlassen: „Alfred Andersch hat sich in seinen Äußerungen und Veröffentlichungen nach 1945 wie viele andere Zeitgenossinnen und Zeitgenossen neu erschaffen.“205 Dazu habe er manche Fakten verändert, andere weggelassen oder geschönt. Fragen zu Details seiner Biografie während der NS-Zeit waren Andersch offensichtlich unangenehm. Dies bekam auch sein Tessiner Nachbar und Schriftstellerkollege Max Frisch zu spüren, als er bei einem Besuch Näheres hierzu wissen wollte. Frisch notierte in einem Text über Andersch: „Der Besucher schildert, wie er den Verfasser von Die Kirschen der Freiheit einmal nach dessen Erlebnissen befragte, ‚privat‘, worauf der, ‚betreten‘, auf seine Prosa verwies.“206 Das sollte wohl heißen, dass dem dort Beschriebenen nichts hinzuzufügen sei. Offensichtlich hatte Frisch ein Tabu berührt, das Andersch peinlich war. Warum Andersch seine Erfahrung mit dem ‚Dritten Reich‘ mit solcher Geheimniskrämerei umgab, ist schwer verständlich. Immerhin war er noch einmal verhaftet worden, wie im erhalten gebliebenen Haftbuch vom Oktober 1933 gut dokumentiert ist (vgl. Abb. 26).207 Danach wurde er am 9. Oktober 1933 um 8.00 Uhr in die Polizeidirektion eingeliefert und nach kurzem Verhör am selben Tag als einziger von etwa 40 Verhafteten um 15.00 Uhr wieder entlassen, angeblich durch erneute Intervention der Mutter: Ein halbes Jahr später, als ich wiederum verhaftet wurde, hat mir die liebenswürdige Entschlossenheit meiner Mutter – sie ist mit der Unwiderstehlichkeit einer Österreicherin aus der alten Monarchie begabt – das Leben gerettet. Man hatte, im September 1933, eine geheime Druckerei ausgehoben, an deren Arbeit ich gar nicht beteiligt war; aber ich war auf die Liste der Razzia geraten.208
Himmlers Politische Polizei erneut besiegt durch österreichischen Charme? Und Andersch habe neben seiner Arbeit im völkischen Lehmanns-Verlag noch die Zeit für „illegale Arbeit“ gefunden, die darin be-
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strafen verurteilt. Gertraud Adam fiel unter die Weihnachtsamnestie 1948. In: StAM, SpkAkte Adam. Tuchel: „Andersch im Nationalsozialismus“, S. 40. Berbig, Roland: „Das Onsernone-Tal zu gewissen Zeiten“. In: Korolnik u. Korolnik-Andersch: Sansibar, S. 85–94, hier: S . 86. StAM, Pol.Dir. 8566, Eintrag 16.676 vom 09. Oktober 1933, siehe auch Abb. 26. Auch dieses Ereignis datiert Andersch falsch: „Als ich das Gebäude der Polizeidirektion verließ und unter die späte Sonne eines Münchner Septembertags trat [...]“, KdF, S. 45f. Ebd., S. 42.
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standen habe, Kuriere des Zentralkomitees der KPD durch München zu schleusen? Eine eher triviale Erklärung ist naheliegender: Ganz offensichtlich hatte die Polizei bei ihrer Razzia nach einer illegalen Druckwerkstatt für das südbayrische KPD-Organ „Neue Zeitung“209 erneut die bereits im März benutzte Verdächtigenliste abgearbeitet. Diese Polizeiaktion fand allerdings bereits am 18. August statt. Wäre Andersch wirklich der ehemalige südbayrische Jugendfunktionär des KJVD gewesen, der erneut unter Verdacht der Mithilfe bei kommunistischer Presseagitation geraten war, er wäre so leicht nicht davongekommen. Andersch selbst liefert die Erklärung, dass alles viel undramatischer verlaufen war: „Der Beamte, der mich vernahm, begnügte sich damit, mein Alibi festzustellen, was die Druckerei betraf. Dann entließ er mich wieder.“210 Vergleicht man die differenzierten Aussagen der ehemaligen Schutzhäftlinge, ja selbst die der angeklagten SS-Männer, mit dem, was Andersch berichtet, ist es mehr als erstaunlich, wie wenig Konkretes er aus der KZHaft zu berichten wusste, die für seine Selbstdarstellung, sein schriftstellerisches Werk und die öffentliche Wahrnehmung seiner Person als Autor nach 1945 eine so bedeutsame Funktion einnahm. Dies scheint allerdings die Literaturwissenschaftler bis heute kaum zu stören, auch nicht den Andersch-Biografen Reinhardt. Aber selbst der ansonsten gründliche Historiker Hans-Günter Richardi gibt in seiner Studie zu Dachau in den Jahren 1933 und 1934 die Selbstdarstellung Anderschs wieder: „Dem Autor, der Organisationsleiter des Kommunistischen Jugendverbandes von Südbayern war, blieb selbst der Gang ins Konzentrationslager Dachau nicht erspart“211 – eine nachträgliche Verbeugung vor dem berühmten Nachkriegsschriftsteller. Erstaunlich ist auch, dass Andersch als Leidensgenosse im engmaschig organisierten Netz der vielen ehemaligen Schutzhaftgefangenen, die nach 1945 im Steinbrenner-Prozess aussagten und sich gegenseitig in den Zeu-
_____________ 209 Denunziert von einer Nachbarin, wurde die mit dem Untergrund-Druck der Neuen Zeitung, dem südbayrischen KP-Organ, beauftragte ehemalige „Rotsportgruppe“ am 18. August 1933 während der Arbeit von der Polizei überrascht. Der Kopf dieser Gruppe war Franz Xaver Schwarzmüller, ein untergetauchter ehemaliger Funktionär des KJVD. Vgl. hierzu den vom Kulturreferat der Stadt München in das Internet gestellten instruktiven Artikel „Kommunistischer Widerstand“, München 1998. Reinhardt: Andersch, S. 51, folgt Andersch in der Darstellung, seine zweite Verhaftung stünde mit dieser illegalen Druckaktion in Zusammenhang. Anderschs Name habe sich im Notizbuch eines Verhafteten gefunden. Darüber gibt es keinen Nachweis; auch wird nicht gefragt, warum sich die Politische Polizei, die ansonsten rasch zuschlug, für die Verhaftung fast zwei Monate Zeit ließ. 210 KdF, S. 45. 211 Auch Richardi: Schule der Gewalt, Kap. 1, Anm. 16, S. 252f., übernimmt fraglos Anderschs Darstellung.
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genstand riefen, nirgendwo erwähnt wird. Und selbst das Namensverzeichnis der Schutzhaftgefangenen des Archivs der Gedenkstätte Dachau vermittelt keine Klarheit. Zwar ist Andersch dort verzeichnet. Allerdings tauche sein Name, so die Auskunft, „in keiner Häftlingsliste auf, der Eintrag in der Häftlingsdatenbank erfolgte aufgrund der eigenen Angaben Anderschs. Ein solch unsicherer Eintrag wird von uns nur dann vorgenommen, wenn die Haftzeit in einem absolut schlecht dokumentierten Zeitraum, wie dem des Jahres 1933, liegt und die Inhaftierung nicht ohne großen Rechercheaufwand zu verifizieren ist“.212 Ergänzend schreibt die langjährige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Barbara Distel: „Ich habe keinen Zweifel, dass Alfred Andersch [...] im Konzentrationslager Dachau gewesen ist. Allerdings können wir Ihnen keine dokumentarische Quelle vorlegen, die seine genaue Haftzeit belegt. Aber nachdem wir überhaupt nur von ganz Wenigen wissen, die mit dem ersten Transport ins KZ Dachau eingeliefert worden waren, dürfte dies kaum ein Beleg dafür sein, dass Andersch nicht im KZ war und seine Erinnerungen frei erfunden hat.“213 Frei erfunden hat er sie gewiss nicht, aber dass angeblich nur wenig über die Identität der Schutzhäftlinge des ersten Dachauer Periode bekannt sei, ist eine Aussage, die angesichts des aufgefundenen Haftbuchs von Landsberg wie auch der frühen Transportlisten des ITS-Arolsen nicht mehr haltbar ist. Für Distel steht Anderschs KZ-Haft dennoch außer Frage. Immerhin gibt es aus seinem früheren sozialen Umfeld einige, wenn auch vage Bezeugungen. Seine Jugendfreundin Adelheid Ließmann erzählt in einem (auch filmisch dokumentierten) Gespräch mit Reinhardt214, sie habe Andersch bei der Polizei getroffen, wo sich beide dreimal wöchentlich melden mussten, denn sie sei wie er ebenfalls aus der ‚Schutzhaft‘ entlassen worden.215 „Schutzhaft“ als Haftgrund war die übliche Formel, mit der die politische Polizei jede politisch motivierte Verhaftung, auch die kurzzeitigste, begründete; vor allem sagt sie nichts über den Ort aus, an dem sie vollzogen wurde. Aus „Schutzhaft“ hätte man nicht nur in Dachau, sondern aus allen bayerischen Haftanstalten entlassen werden können. Die meisten Häftlinge wurden bereits nach wenigen Tagen wieder entlassen, meistens aus den Untersuchungshaftanstalten, so auch aus der Polizeidirektion in der Ettstraße. Hierhin wurden zunächst alle
_____________ 212 Schreiben von Archivleiter Knoll, KZ-Gedenkstätte Dachau, vom 16. Mai 2007. 213 Schreiben Barbara Distel an den Autor vom 18. Juni 2007. 214 Vgl. den Fernsehfilm „Die Kirschen der Freiheit. Personenbeschreibung Alfred Andersch“. Autor: Stephan Reinhardt, 76 Min., SWR 1989. 215 In dem von Stephan Reinhardt gedrehten Dokumentarfilm spricht Adelheid Ließmann über die KZ-Haft Anderschs; s. auch Reinhardt: Andersch, S. 48. Leider sagt sie nicht, wann und auf welchem Polizeirevier sie Andersch getroffen hat.
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Münchner Schutzhäftlinge zur ersten Vernehmung gebracht. Erstaunlicherweise konnte die Inhaftierung von Adelheid Ließmann in den gründlichen Haftbüchern der Polizeidirektion München für den Jahrgang 1933 nicht nachgewiesen werden. Jedoch wurde ihr Vater Gustav Ließmann am 10. April 1933 wegen des Besitzes kommunistischer Schriften verhaftet.216 Diese Aussage der ehemaligen Freundin ist daher mit einem gewissen Zweifel behaftet. Es ist allem Anschein nach KJVD-Genosse Arthur Müller (1909– 1987), der als Einziger Andersch in einem späten Rundfunk-Interview den KZ-Aufenthalt bezeugte.217 Müller, wie Andersch gelernter Buchhändler und 1932 arbeitslos, war als politischer Aktivist der Politischen Polizei wohlbekannt. Über ihn heißt es im vertraulichen Polizeibericht vom 3. Oktober 1932, er agitiere für den „Reichsausschusses der Erwerbslosen“: „Der Vorsitzende des südbayerischen Erwerbslosenausschusses Müller Arthur hielt ein Referat über die Aufgaben der Erwerbslosenbewegung im Sinne der zentralen Anweisungen.“218 Gemeint ist die Reichsvereinigung der Erwerbslosen. Die Versammlungen dieser gewerkschaftsnahen Organisation wurden bereits überwacht. Müller wurde am 1. März 1933 verhaftet und wartete in einer Einzelzelle in der Polizeidirektion auf einen Prozess wegen angeblichen Hochverrats, so der Haftbucheintrag. Am 10. März nach Stadelheim und drei Tage später nach Landsberg überstellt, traf er am 22. März in Dachau ein. Er ist der einzige Zeuge, der über 50 Jahre später Anderschs Anwesenheit im Lager beschreibt: „In Dachau selbst war meine erste unmittelbare persönliche Begegnung mit Andersch wieder gegeben. [...] Und er lag im Bett über mir, ich lag also im Parterre und er im ersten Stock.“219 Eine mündliche Mitteilung nach so langer Zeit lässt Raum für Zweifel, zumal sich sonst nirgendwo auch nur der kleinste Nachweis für Anderschs KZ-Aufenthalt finden lässt.
_____________ 216 StAM, Polizeidirektion München 8564, Eintrag 5605. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt. 217 Vgl. das Rundfunkfeature „empört euch der himmel ist blau. Aussagen und Selbstaussagen zur Biographie des Schriftstellers Alfred Andersch. Zusammengetragen und montiert von Manfred Franke“. Gesendet vom Deutschlandfunk am 24. Januar 1984. Darin der OriginalTon von Arthur Müller von 1977. 218 München, den 3. Oktober 1932, „Vertraulich! Linksbewegung“, S. 15. BayHStA, MA101235/3. 219 Manuskript des Rundfunk-Features „empört euch der himmel ist blau“, Deutschlandfunk, Redaktion Manfred Franke, ausgestrahlt am 8. Februar 1984, S. 17 und 19. Ich danke Herrn Franke für die Überlassung des Tondokuments und des Manuskripts.
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Die Zweifel an Anderschs KZ-Haft rühren auch von unglaubwürdigen Darstellungen über den KZ-Alltag her. So z.B. behauptet er, er habe in der Strafkompanie die Straßenwalze gezogen;220 auch dass diese Truppe einen besonderen Nimbus gehabt hätte. Das klingt fast zynisch angesichts der Torturen, die die Häftlinge, wie Zugtiere vor die Walze gespannt, zu ertragen hatten. Dabei wurden sie mit dem Ochsenziemer angetrieben. Etliche Aussagen belegen, dass sie im Lagerjargon „Judenwalze“ genannt wurde, da sie fast ausschließlich von jüdischen Häftlingen gezogen wurde. Dass Andersch dort keine Torturen ertragen musste, scheint auch Tuchel unwahrscheinlich: „Die Häftlingen dieser Kompanie waren schlimmsten Demütigungen und Qualen ausgesetzt“ gewesen.221 Wie es ihm an der Walze erging, bezeugt Alois Hundhammer, nach 1945 bayerischer Kultusminister. Er wurde 1933 als Landtagsabgeordneter der verhassten Bayerischen Volkspartei verhaftet und im Lager von der SS auf bayrisch empfangen: „Den Hund hammer!“ Nach eigenem Bekunden wurde er als einziger Nichtjude im Juni/Juli 1933 vor die Walze gespannt. Bei seiner Vernehmung im Januar 1951 schilderte der damalige bayrische Landtagspräsident die Torturen durch seine Peiniger. Schläge mit dem Gewehrkolben und Fußtritte hätten zum Häftlingsalltag gehört (Abb. 22): Eine weitere Misshandlung erlitt ich dadurch, dass ich eines Tages plötzlich als einziger Arier der Judenabteilung zugeführt wurde und damit zum Ziehen der Straßenwalze kam. Diese Walze musste mit langen Ketten, durch die Hölzer gezogen waren, befördert werden. Dabei hat man das Holz, an dem jeweils rechts und links ein Mann zog, so eingestellt, dass ich bei einem Drittel des Holzes ziehen musste, während die anderen zwei Drittel des Holzes von kräftigen Häftlingen gezogen wurden, sodass ich als der Schwächere ins Hintertreffen kam und deshalb von den wachhabenden SS-Leuten mit Kolbenschlägen und Fußtritten traktiert wurde.222
Die Torturen bestätigt auch der Nürnberger Zeuge Wilhelm Gesell: Der SS-Mann Strauss „war Kommandant der Straßenwalze, und ich war selbst einige Tage dort [ab]kommandiert. Der Beschuldigte hat die Häftlinge beim Ziehen der Walze ständig mit Ochsenziemer geschlagen.“223 Wenn Andersch dagegen schreibt, er sei in Dachau nie geschlagen worden,224 hätte er unglaubliches Glück gehabt.
_____________ 220 Dazu schreibt Andersch: „Damit ich mein Metier ausüben kann, schreibe ich Texte, von denen ich mir einbilde, sie verhinderten, daß ich eines Tages wieder eine Straßenwalze in einem KZ ziehen muss“. In: Öffentlicher Brief an einen sowjetischen Schriftsteller, das Überholte betreffend. Reportagen und Aufsätze. Zürich 1977, S. 118. 221 Tuchel: „Andersch im Nationalsozialismus“, S. 43. 222 Aussage Hertrich, StAM, Stanw, 34.461/3. 223 StAM, Stanw, 34.462/3, Bl. 135. 224 KdF, S. 45. Tuchel schreibt in: „Andersch im Nationalsozialismus“, S. 34: „Zweifel bleiben an seiner Zugehörigkeit zur Strafkompanie“.
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Abb. 22: Häftlinge an der Straßenwalze im Mai 1933.225
Er hat offensichtlich auch nicht bemerkt, auf welch erniedrigende Weise im Lageralltag seine Kameraden misshandelt wurden. Denn schon bei der Einlieferung wurden bekannte, offensichtlich bereits im Heimatort vorgemerkte politische Häftlinge, vor allem jüdische, ausgepeitscht. Als Strafe getarnt, wurden die Häftlinge auf perverse Weise gedemütigt: Man zog ihnen vor aller Augen die Hose herunter und legte sie über Holzböcke oder Fässer, um ihnen auf den nackten Hintern zu schlagen. Die verharmlosende Beschreibung der Lagerwirklichkeit überschreitet die Grenze der Zulässigkeit, wenn Andersch das Schicksal eines ihm angeblich nahestehenden Kameraden bis zur Entlastung seiner SS-Mörder verdreht: „Der lange, knochige, eisenharte Willi Franz, ein berühmter Bergsteiger, hatte sich damals noch nicht erhängt, aber er spielte bereits so schlecht Schach, dass ich ihn mit Leichtigkeit schlug.“226 Ob schlechtes Schachspiel bereits auf Vorahnungen des Todes verweist, sei dahingestellt. Aber hier übernimmt Andersch schlicht die Darstellung der SS, denn jene, die mit ihm im Lager waren, schildern die Ermordung dieses Jungkommunisten völlig anders.
_____________ 225 Bundesarchiv-Bildarchiv Bild 152-01-26 Foto: Bauer, Friedrich Franz, 24. Mai 1933. 226 Ebd., S. 43.
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Abb. 23: Wilhelm Franz (1909–1933).
Anderschs KP-Gefährte Wilhelm Franz (Abb. 23), 1909 in Leipzig geboren, lebte seit langem in München. Als Funktionär war er Vertriebsobmann der KPD für Druckschriften, wie es im Polizeibericht vom Mai 1933 heißt.227 Wie Andersch am 10. März 1933 in „Schutzhaft“ genommen228, wurde er ebenfalls am selben Tag nach Stadelheim überstellt, von wo er drei Tage später in die Haftanstalt Landsberg verlegt wurde.229 Am 22. März wurde er laut einer Verfügung der Polizeidirektion München mit weiteren „amtsbekannten kommunistischen Funktionären“ in das Konzentrationslager Dachau eingewiesen (Abb. 24). Hier begann für Franz ein langer Leidensweg, der schließlich mit seiner Ermordung am 17. Oktober endete. Auslöser war der Verdacht, Franz habe zusammen mit dem jüdischen Revierarzt Dr. Delwin Katz aus Nürnberg und anderen Häftlingen
_____________
227 Bayerische Politische Polizei, Die kommunistische Bewegung in Bayern seit dem 9. März 1933, München, den 25. Mai 1933, BayHStA StK 6312, Bl. 54. 228 Pol. Dir. 8563, Eintrag 3248. 229 Franz ist im Haftbuch Landsberg unter der Nummer 93 mit Schutzhaftbefehl vom 13. März 1933 eingetragen. Der Austrag vermerkt seine Überstellung nach Dachau am 22. März.
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Nachrichten über die Dachauer Zustände nach draußen geschmuggelt. Beide wurden in Bunkerhaft genommen worden und am selben Abend von SS-Wachmännern erdrosselt.230 Der Mithäftling Georg Frühschütz verfolgte die Ermordung seines Kameraden im Arrest von der Nachbarzelle aus. Franz sei in der Wachstube unter der Anwendung „grausamster Methoden“ einem „strengen Verhör“ unterzogen worden. Am späten Abend habe man ihn erneut dorthin gebracht: Was nun folgte, werde ich nie in meinem Leben vergessen. Die drei Aufseher warfen sich über den eintretenden Franz, um ihn zu erdrosseln. Dieser, ein junger, großer, kräftig gebauter Mensch, war sich in diesem Moment sicherlich darüber klar, dass es um sein Leben ging, und er wehrte sich mit dem Mut der Verzweiflung. [...] Anscheinend war es Franz noch gelungen, einige saftige Hiebe auszuteilen, aber mit vereinten Kräften konnten die Mörder seinen Kopf doch bald in die Schlinge bekommen, die [...] sich an einem über die beiden oberen Betten gelegten Querbalken befand. Auf einmal hörte ich einen kurzen Schrei, der dann unmittelbar abbrach.231
In seiner nüchternen Sprache bestätigt Staatsanwalt Hartinger anhand seiner vertraulichen Aufzeichnungen von 1933 das grausame Ende von Franz: Am 17. Oktober 1933 soll sich der kaufmännische Angestellte Wilhelm Franz aus München und in der darauffolgenden Nacht der prakt. Arzt Dr. Delwin Katz aus Nürnberg in ihren Haftzellen erhängt haben. Bei der am 20.10.1933 vorgenommenen Leichenöffnung wurde bei beiden Leichen Erstickungstod festgestellt, der durch Erwürgen und Erdrosseln von fremder Hand herbeigeführt worden war. Die Leiche des Franz wies außerdem am Kopf sowie besonders zahlreich am Rumpf und an den Armen frische Striemen mit ausgedehnten Blutungen und Zertrümmerungen des Fettgewebes auf, so dass auch Fettembolie den Tod herbeigeführt haben kann.232
_____________ 230 Vgl. hierzu auch die Darstellung bei Richardi: Schule der Gewalt, S. 208–210. Unverständlich ist, dass Richardi die Behauptung von Oberstaatsanwalt Wintersberger unwidersprochen stehen lässt, die Staatsanwaltschaft München II habe „von einer Anzahl Todesfälle, die gleich in den allerersten Monaten [...] nach der Eröffnung des KZ-Dachau anfielen [sic!] ... überhaupt keine Kenntnis bekommen“ (vgl. hierzu die Vernehmung Wintersberger vom 7. März 1951, Archiv KZ-Gedenkstätte Dachau, Nr. 8768). Sein ehemaliger Erster Staatsanwalt Hartinger dagegen behauptet in seiner Vernehmung (s.o.), er habe Wintersberger unmittelbar unterrichtet, nachdem die Gerichtskommission den Tatort der Morde an den Häftlingen Benario und Genossen besichtigt hatte. 231 StAM, Stanw, 34.462/3, Bl. 138. 232 Die von Staatsanwalt Hartinger erstellte Aufzeichnung ist überschrieben mit „Betreff: Ableben von Schutzhaftgefangenen im Konzentrationslager Dachau“. Dort beschreibt er die Morde an 17 Häftlingen zwischen April 1933 und Februar 1934. Hartinger fasst hier das Ergebnis der Leichenschauen durch den ihn meistens begleitenden Gerichtsmediziner Dr. Flamm zusammen. Die beglaubigte Abschrift aus dem Jahr 1933 wurde als Beweismittel im Prozess gegen Steinbrenner zugelassen. StAM, Stanw, 34.825/1, Bl. 7–9.
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Abb. 24: Anfrage der Regierung Oberbayerns um Nachweis der KZ-Haft Anderschs.
Aus welchen Motiven Andersch die Propagandalüge der SS-Lagerleitung übernahm, Willi Franz habe in Lager Selbstmord begangen, ob aus Mangel an Information oder aus Desinteresse, darüber lässt sich allenfalls spekulieren. Auf jeden Fall lässt die literarische Darstellung auf wenig Anteilnahme am wirklichen Schicksal des ehemaligen Freundes schließen. Andersch hätte es besser wissen müssen, denn der Mord an Franz war bereits im Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess ausführlich dargestellt worden, als die frühen Verbrechen der SS verhandelt wurden.233 Auch das Beispiel eines anderen, in den Kirschen der Freiheit mit Klarnamen benannten KJVD-Genossen wirft Fragen auf: Wie stand Andersch als vorgeblicher Organisationsleiter zu dem Genossen Gebhard Jiru? In den Kirschen der Freiheit heißt es dazu: „Ich stand mit Jiru und ein paar anderen auf der Straße, und wir besprachen, was zu tun sei.“234 Es herrschte Ratlosigkeit nach dem Reichstagsbrand. „Gab dann Jiru die Hand und ging nach Hause. Ich habe ihn nie wieder gesehen.“235 Wie kann das sein? Jiru tauchte zwar am 10. März kurzzeitig ab und versuchte, die illegale Jugendarbeit des KJVD in München aufzubauen. Aber bereits am 6. April
_____________ 233 Verhandlung am 7. August 1946, IMG, Bd. 20, Nürnberg 1948, S. 493–498. 234 KdF, S. 38. 235 Ebd., S. 40.
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1933 wurde er verhaftet und in das Polizeigefängnis Ettstraße, genannt die „Löwengrube“, eingeliefert. Dort wurde er sicher „nach Art des Hauses“ längere Zeit verhört und am 18. April 1933 (18.15 Uhr) in die Haftanstalt München-Stadelheim verbracht.236 Am 25. April kam er nach Dachau. Dort müsste Andersch seinen Freund, sofern er selbst noch im Lager war, getroffen haben, zumal Andersch sich selbst zur gut informierten „Lagerelite“ rechnete.237 Andersch will ihn auch nie mehr wieder gesehen haben, als Jiru ein Jahr später aus Dachau entlassen wurde und nach München zurückkehrte. Aber da hatte Andersch ja bereits nach seiner zweiten Verhaftung endgültig mit seinen Genossen gebrochen.238 Spätestens als er zeitgleich mit dem im März 1952 eröffneten Steinbrenner-Prozess an der Reinschrift von Die Kirschen der Freiheit arbeitete,239 hätte er seine spärlichen Erinnerungen und Informationen zu Dachau als Prozessbeobachter überprüfen können. Denn über den Fortgang dieses Prozesses wurde nicht nur in der Münchner Presse berichtet. Er hätte auch bei seinem ehemaligen Neuhauser Freundeskreis des KJV um Otto Kohlhofer weitere Nachforschungen über die Lagerrealität anstellen können. Stattdessen schrieb er in kurzer Zeit seine, die realen Vorgänge verharmlosende Version einer Dachau-Erfahrung nieder. Hatte Andersch nach seiner Rückkehr aus der US-Kriegsgefangenschaft am 10. November 1945 über Darmstadt nach München vielleicht doch nicht so intensiven Kontakt zu den überlebenden Kameraden wieder hergestellt, wie Reinhardt behauptet? Hätte er das getan, hätten sie ihm vom Schicksal seiner ehemaligen Freunde Genaueres berichten können, zumal sie die Ankläger im Prozess gegen Steinbrenner und Genossen durch das Netzwerk der im Landesausschuss der politisch Verfolgten engagierten ehemaligen Schutzhäftlinge aktiv unterstützten. Dessen öffentlichen Aufruf nach Zeugen von 1946 müsste auch Andersch wahrgenommen haben.240 Oder ist es vorstellbar, dass sein 1933 beschlossener Rückzug aus der Sphäre des Politischen so endgültig war, dass ihn die Bestrafung der SS-Täter nicht interessierte? Waren ihm die überlebenden Jugendfreunde gleichgültig geworden, weil sie sich von ihm, dem Renegaten, abgewendet hatten? Vor
_____________ 236 StAM, Pol.Dir. 8564. Jiru erhielt die Häftlingsnummer 5405. 237 Zu Gebhard Jiru vgl. die biografische Skizze von Renate Hennecke, Stolpersteine für Gebhard Jiru und Karel Svatopluk Merwart, in: Deutsch-Tschechische Nachrichten, DTNDossier Nr. 10, München 2008, S. 31–37. Danach wurde Jiru immer wieder mal nach kurzzeitig in Dachau inhaftiert; letztmalig am 23. August 1944. Er starb drei Tage vor der Befreiung des Lagers am 26. April 1945 an Typhus. 238 KdF, S. 42. 239 Die Arbeit am Manuskript wurde im Juni 1952 abgeschlossen. Vgl. Andersch, GW V, S. 533. 240 Zum ‚Aufruf‘ s. Abb. 19. Dass er als Ruf-Herausgeber in München 1946 über solche politischen Strömungen nicht informiert gewesen sein soll, ist sehr unwahrscheinlich.
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allem seine früheren Münchner KJV-Kameraden Otto Kohlhofer und Hugo Jakusch setzten sich seit den frühen 50er Jahren gegen öffentlichen Widerstand dafür ein, das Konzentrationslager Dachau in eine Gedenkstätte zu verwandeln.241 Hätte hier der bald schon prominente Schriftsteller und Radioredakteur nicht hilfreich sein können? Es sieht so aus, als habe die Erzählung seiner KZ-Haft und der angeblichen Verfolgung während der gesamten NS-Zeit vor allem dazu gedient, die spätere Desertion aus der Wehrmacht mitsamt der Begründung als Konsequenz echter „antifaschistischer“ Haltung erscheinen zu lassen. Denn nicht von ungefähr stellt Andersch den Kirschen als Motto ein Zitat von André Gide voran: „Ich baue nur noch auf die Deserteure.“ Die Deserteure und damit sich selbst als Antihelden zu stilisieren, ist das Ziel dieses Romans. Wie wäre es sonst möglich gewesen, seine erste Einberufung während des FrankreichFeldzugs 1940 zu beenden, wenn er seinem Kompaniechef nicht unter Verweis auf seine KZ-Haft hätte sagen können: „Entlassen Sie mich bitte sofort!“ Eine Erfindung, wie wir heute wissen.242 Denkbar ist aber auch, dass Andersch in der Hochzeit des Kalten Krieges, als er Die Kirschen der Freiheit schrieb, an seine kommunistische Jugend nicht mehr erinnert werden wollte. Denn er selbst hatte die Machtergreifung der Nationalsozialisten vor allem aus dem Versagen der KP-Führung erklärt. Dies passte 1952 zwar gut in die Zeit des virulenten Antikommunismus, kam jedoch einem Verrat an den Idealen seiner Jugend und seiner damaligen Genossen gleich. In diesem Sinn schrieb der Publizist und Feuilleton-Redakteur Wolfram Schütte in der Frankfurter Rundschau zwei Tage nach Anderschs Tod am 23. Februar 1980, „Kirschen der Freiheit [sei] sein erster, am entschiedensten autobiographischer Roman“ gewesen, in dem ihn schon damals „die geistige Verkümmerung des Marxismus zur lähmenden Fatalität des ‚Diamat‘ bestürzt“ habe. Ihre Unfähigkeit, „den Bürgerkrieg zu entfesseln“, habe zur Machtübernahme der Nazis geführt. Andersch sei verhaftet worden und für „mehrere Monate ins KZ Dachau“ gekommen.243 Es scheint so, dass solche „Wahrheiten“, wenn sie nur oft genug wiederholt
_____________ 241 Vgl. hierzu: Konzentrationslager Dachau 1933–1945. Dachau 2005, insb. Kap. „Der Weg zur Gedenkstätte“, S. 211–221. 242 Der O-Ton im Interview „empört euch der himmel ist blau“, S. 21: „Und dann [...] war ich eine zeitlang in Nordfrankreich [...] bei einer Baukompanie zum Rechnungsführer avanciert. Und da las ich immer die Mitteilungsblätter der Wehrmachtsführung. Und da las ich eine Verfügung des Führers, in der zu lesen war, dass Leute, die im KZ gewesen waren, mit sofortiger Wirkung aus der Truppe zu entlassen seien. Mit dieser Verfügung ging ich zu meinem Kompaniechef und sagte: Entlassen sie mich bitte sofort. Und das wurde ich dann auch, [...]“. Vgl. dazu auch: Reinhardt: Andersch, S. 73. 243 Wolfram Schütte: „Stolz und einsam. Zum Tode Alfred Anderschs“. In: Frankfurter Rundschau vom 23. Februar 1980.
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werden, schließlich zum festen Bestandteil einer Biografie gerinnen, auch wenn die Belege dafür mehr als spärlich sind. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Anderschs substanzarme Schilderung des Dachauer Häftlingsalltags so gut wie nicht mit den zahlreichen Zeugenaussagen übereinstimmt. Und auch seine zeitliche Überdehnung der Haft auf drei bis sechs Monate legt nahe, dass es ihm auch um die Schaffung und Pflege einer Opferbiografie zu tun gewesen sein muss. Und sie wird bis heute gefestigt durch die Verehrung, die ihm in den eingangs zitierten wichtigen Gedenkstätten dauerhaft entgegen gebracht wird. Nachzutragen ist, dass Andersch möglicherweise einen Antrag auf Haftentschädigung beim Bayerischen Landesamt für Wiedergutmachung gestellt hat.244 Das Amt schrieb am 27. September 1949 an den Internationalen Suchdienst in Arolsen als der zuständigen Stelle (Abb. 24): „Wir bitten um Mitteilung, ob Obengenannter (Alfred Andersch) in der Zeit vom 20.3.33 bis 28.4.33 aus politischen Gründen im KZ. Dachau inhaftiert war.“245
_____________ 244 Beim Landgericht München I sind die Akten des Bayrischen Landesentschädigungsamts archiviert. Eine Überprüfung der Bestände ergab, dass es in Sachen Andersch zu keinem Entschädigungsverfahren kam, da er für seine angebliche KZ-Haft offensichtlich keinen Nachweis – Voraussetzung für die Eröffnung eines Verfahrens – vorlegen konnte. Allerdings hat seine erste Ehefrau Angelika Andersch bereits am 2. Mai 1950 einen Antrag gestellt mit der Begründung, sie „habe die Jahre des 3. Reiches in der ständigen Angst vor eigener Verfolgung durchlebt und sei im Juli 1942 aus Bayern ausgewiesen worden“. Tatsächlich war ihre Mutter Ida Hamburger, geb. am 31. Januar 1874 im fränkischen Marktbreit, am 11. März lt. Haftbuch der Münchner Polizeidirektion „aus rassischen Gründen“ in Schutzhaft genommen und drei Tage später nach Stadelheim überstellt worden. Dort sei sie drei Wochen inhaftiert gewesen. Danach sei sie als Angestellte des Münchner Arbeitsamts – Leiterin der Abteilung für freie und geistige Berufe – aufgrund des Berufsbeamtentumsgesetzes fristlos entlassen worden. Am 15. Juli 1942 wurde die Schwiegermutter Alfred Anderschs in das Ghetto Theresienstadt deportiert; sie ist dort am 31. August 1944 gestorben. Die Tochter Angelika begründete ihren Entschädigungs- und Rentenanspruch mit schweren psychischen und körperlichen Belastungen und Erschöpfungszuständen, die sie durch die Verfolgung und die Umstände des Todes der Mutter erlitten habe. Ihre Arbeitsfähigkeit in der Firma ihres Vaters, der Starnberger Albert-Companie, sei zwischen 1933 und 1937, dem Jahr der Geburt der Andersch-Tochter Susanne, erheblich gemindert worden. In dieser Zeit, aber auch danach habe sie krankheitsbedingt keinen eigenen Rentenanspruch aufbauen können. Der Entschädigungsprozess zog sich über mehrere Instanzen hin. 1967 erhielt die Klägerin lediglich eine einmalige Abfindung von 820,– DM zuerkannt, obwohl das Gericht feststellte, „dass bei der Klägerin kein Verfolgungsleiden feststellbar ist (und sie) niemals in Haft gewesen“ sei. 1970 wurde in letzter Instanz ein Vergleich geschlossen, in dem der Klägerin erneut 450,– DM zugesprochen wurden. In der Entscheidungsbegründung der 29. Zivilkammer beim LG München I wird Alfred Andersch im Verfolgungsdrama von Mutter und Tochter nur kurz erwähnt: „Die Klägerin kehrte (nach der Deportation der Mutter im Juli 1942) nach Hamburg zurück. Ihre Ehe wurde 1943 wegen fortgesetzten Ehebruchs des Ehemanns mit einer Freundin der Klägerin geschieden.“ Vgl. hierzu: Akte Angelika Andersch, LG-München I, Hauptregistratur, Az.: 29 EK 44.868. 245 ITS/ARCH/Korrespondenzakte T/D 118.213.
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Abb. 25: Negativer Bescheid zur KZ-Haft Anderschs durch den Internationalen Suchdienst in Arolsen.
Am 11. November antwortete die Behörde, sie könne Andersch eine KZHaft nicht zertifizieren (Abb. 25).246 Das besagt zunächst nur, dass über Andersch keine Unterlagen vorhanden waren und er offenbar auch keine nachweisen konnte. Andersch ist der unbekannte KZ-Häftling, der sich seinen KZ-Aufenthalt im Wesentlichen selbst bezeugt. Aber ist das ausreichend, um ihn in Berlin und in Dachau zu ehren? Andererseits ist belegt, dass er am 10. März verhaftet wurde und für kurze Zeit im Gefängnis Stadelheim war. Und belegt ist immerhin auch laut Haftbuch der Münchner Polizeidirektion, dass er am 9. Oktober 1933 ein zweites Mal verhaftet wurde (Abb. 26).247 Der Vernehmungsbeamte habe ihm geglaubt, dass er gar nicht beteiligt gewesen sei.
_____________ 246 Ebd. 247 Dies sei aber, so schreibt er fälschlicherweise, bereits im September gewesen, KdF, S. 45; siehe auch Abb. 26.
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Abb. 26: Seite des Einlieferungsbuchs vom 9. Oktober 1933 mit Alfred Andersch, Häftling Nr. 11676.
Dennoch habe ihn bei dieser zweiten Verhaftung – glaubt man dem IchErzähler des autobiografischen Textes – „kopflose Furcht“ gepackt, angeblich, weil ihm Kommandant Eicke „den Revolver angedroht hat für den Fall, dass man noch einmal nach Dachau käme“248: „Als ich in den Stunden, die meiner zweiten Verhaftung folgten, auf der Holzpritsche in einer großen, überfüllten und stinkenden Zelle der Münchner Polizeidirektion lag, packte mich die Angst, die mich in der Haftzeit vorher, im Lager, niemals hatte antasten können.“249 Trotz der Morde, die er während seiner KZ-Haftzeit miterlebte, der schwersten Misshandlungen im Bunker, der Torturen an der Straßenwalze oder bei der samstäglichen Prügelorgie des „Schlageterfests“ soll er niemals Angst empfunden haben, dass es auch ihn hätte treffen können? Und selbst wenn dem so wäre, hätte er sich nachträglich nicht mit jenen identifizieren müssen, die aus gutem Grund mehr Angst und weniger Glück hatten als er?
_____________ 248 Ebd., S. 48. 249 KdF, S. 42, 85.
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Rolf Seubert
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„Mein lumpiges Vierteljahr Haft ...“
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Osterland, Martin: „Die Mythologisierung des Lebenslaufs. Zur Problematik des Erkennens“. In: Soziologie: Entdeckungen im Alltäglichen. Hans Paul Bahrdt, Festschrift zu seinem 65. Geburtstag. Hg. v. Martin Baethge u. Wolfgang Essbach. Frankfurt / M., New York 1983, S. 279–290. Reinhardt, Stephan: Alfred Andersch. Eine Biographie. Zürich 1990. Riedel, Dirk A.: Kerker im KZ Dachau. Die Geschichte der Bunkerbauten. München 2002. Richardi, Hans-Günter: Schule der Gewalt. Die Anfänge des Konzentrationslagers Dachau 1933–1934. München 1983. Schuler, Emil: Die Bayerische Landespolizei 1919–1945. Kurze geschichtliche Übersicht. Selbstverlag, Aschau 1964. Sigel, Robert: „Das KZ Dachau als Instrument der nationalsozialistischen Machteroberung“. In: Das Jahr 1933. Die nationalsozialistische Machteroberung und die deutsche Gesellschaft. Bd. 9 der Dachauer Symposien. Hg. v. Andreas Wirsching. Dachau 2009. Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch: Seine Welt – in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Anette Korolnik-Andersch. München 2008, S. 30–41. Welzer, Harald: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt / M. 2005. Willmitzer, Christa u. Peter Willmitzer: Deckname „Betty Gerber“. Vom Widerstand in Neuhausen zur KZ-Gedenkstätte Dachau. Otto Kohlhofer 1915–1988. München 2006. Zámecnik, Stanislav: Das war Dachau. Frankfurt / M. 2007.
Siglen BA = Bundesarchiv Berlin BayHStA = Bayerisches Hauptstaatsarchiv München ITS = International Tracing Service Bad Arolsen StAM = Staatsarchiv München Spk = Spruchkammer Stanw = Bestand Staatsanwaltschaften
Benutzte Archive Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau Archiv der Haftanstalt Landsberg Archiv der Haftanstalt Stadelheim Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg Archiv der WISO-Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg Archiv des Landgerichts München I, Akten Landesentschädigungsamt Bayerisches Hauptstaatsarchiv München Bayerisches Hauptstaatsarchiv – Kriegsarchiv, Abt. Bayerische Landespolizei Bundesarchiv Berlin Deutsches Rundfunkarchiv im Hessischen Rundfunk Staatsarchiv München Staatsarchiv Würzburg Stadtarchiv Erlangen Stadtarchiv Frankfurt am Main Stadtarchiv Fürth Stadtarchiv Nürnberg Universitätsarchiv Würzburg
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Rolf Seubert
Bildnachweise Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau: Abb. 11, Abb. 23 Archiv der Haftanstalt Landsberg: Abb. 5, Abb. 6, Abb. 7 Archiv des ITS Arolsen: Abb. 12, Abb. 13, Abb. 14, Abb. 24, Abb. 25 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München: Abb. 1 u. Abb. 2 Bayerisches Hauptstaatsarchiv – Kriegsarchiv, Abt. Bayerische Landespolizei: Abb. 10 Bundesarchiv-Bildarchiv: Abb. 22 Stadtarchiv Erlangen: Abb. 15 Staatsarchiv München: Abb. 3, Abb. 4, Abb. 8, Abb. 9, Abb. 18, Abb. 19, Abb. 21, Abb. 26 Universitätsarchiv Würzburg: Abb. 16 u. Abb. 17 Internetquellen: Abb. 20 http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Ochsenziemer.jpg&filetimestamp=20100 210224659 (Stand: 29.06.2011)
„Mein lumpiges Vierteljahr Haft ...“
Anhang
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Rolf Seubert
Tab. 1: Liste der am 22. März von Landsberg nach Dachau überstellten Münchner Schutzhäftlinge (vgl. Anm. 43).
JOHANNES TUCHEL
Respondenz zum Beitrag von Rolf Seubert: „Mein lumpiges Vierteljahr Haft ...“ Ich bin wegen meines Aufsatzes über Alfred Andersch im Nationalsozialismus1 und meiner eigenen Arbeiten zur Frühgeschichte der Konzentrationslager2 gebeten worden, den Beitrag von Rolf Seubert kurz zu kommentieren. Ich komme dieser Bitte sehr gerne nach, da Seubert in seinem präzisen und quellengesättigten Aufsatz Zweifeln nachgeht, die ihm bei der Lektüre von Kirschen der Freiheit ebenso gekommen waren wie mir, als ich mich mit dem Leben und Handeln von Alfred Andersch im nationalsozialistischen Deutschland befasste. Ich habe seinerzeit darauf hingewiesen, wie viele fehlerhafte, unvollständige und merkwürdig verdeckende Informationen dieser Text enthält, der wirklich nicht mehr als autobiografisch im Sinne einer möglichst fehlerfreien Darstellung des eigenen Lebens gesehen werden kann. Insofern bestätigt Seuberts Studie auch den Befund, dass sich Alfred Andersch in seinen Äußerungen und Veröffentlichungen nach 1945 wie viele andere seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen neu erschaffen hat. Bedauerlich – aber im Kontext der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Zeit für mich nicht verwunderlich – ist, dass seine Konstruktionen so lange Bestand gehabt haben und die Literaturwissenschaft sich nicht früher jenes quellenkritischen historischen Ansatzes bedient hat, der in der Studie von Seubert so eindrucksvoll exemplifiziert wird. Insofern möchte ich im Folgenden nur einige ergänzende und kommentierende Bemerkungen machen. Es geht mir dabei vor allem um Deutungen. Seubert schreibt: Und so begann mit einem diskret ausgeführten Mord an jüdischen ‚Schutzhäftlingen‘ – für die Weltöffentlichkeit zunächst unbemerkt – das große Sterben, das mit der Shoa an den europäischen Juden endete. Es war der Hass der ‚kleinen Mitläufer und Mittäter‘ vom Schlage Steinbrenners, der dies möglich machte.
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Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Annette Korolnik-Andersch. München 2008, S. 30–41. Tuchel, Johannes: Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ 1934–1938. Boppard / R. 1991.
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Johannes Tuchel
Dachau stellte, wie Richardi richtig bemerkt, eine grausame ‚Schule der Gewalt‘ dar, die sich im Lageralltag des April 1933 zu entwickeln begann. Dies nicht erkannt zu haben, stellt einen schweren Mangel in Anderschs dem Anspruch nach autobiografischem Text dar.3
Diese Interpretation ist mir zu retrospektiv. Der Massenmord an den europäischen Juden, wie er zielgerichtet ab 1941 von den Nationalsozialisten durch die Einsatzgruppen des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhard“ oder im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau exekutiert wurde, ist die Folge vieler politischer Entscheidungen und Abläufe späterer Jahre. Der rassistisch motivierte politische Mord an jüdischen KZ-Gefangenen des Jahres 1933 ist in einem anderen historischen Kontext, nämlich dem der brutalen Gewalt gegen den politischen und „rassischen“ Gegner des Jahres 1933 zu sehen. Den Vorwurf an Andersch, 1933 nicht erkannt zu haben – oder selbst in der Nachkriegszeit beim Verfassen des Textes – übersehen zu haben, welche Bedeutung die „Schule der Gewalt“ 1933 in Dachau hatte, und dies als „schweren Mangel“ des Textes zu charakterisieren, würde ich daher abschwächen wollen. Aus der Retrospektive ist die Entwicklung historischer Vorgänge immer erheblich einfacher zu analysieren als aus der Sicht der Zeitgenossen. Ich halte die anderen Fehldarstellungen von Andersch, die Seubert in der Beschreibung der Kirschen der Freiheit aufzeichnet, für viel gravierender. Ich bin mir nicht sicher, ob sie auf Erinnerungsfehlern, Verschleierungsversuchen, dem Wunsch nach einer Überhöhung der eigenen politischen Bedeutung unter gleichzeitiger Koketterie damit – „mein lumpiges Vierteljahr Haft“ – oder auf einer Mischung aus allem beruhen. Der Schriftsteller Andersch ist in den Kirschen der Freiheit offenbar vielfach von sich selbst mitgerissen worden. Vielleicht ist die eingangs von Seubert zitierte Passage „Dieses Buch will nichts als die Wahrheit sagen, eine ganz private, subjektive Wahrheit“ immer falsch gelesen und interpretiert worden, nicht als die von Andersch uns angebotene „private, subjektive Wahrheit“, sondern eben als Dokumentation und als Abbild realer historischer Ereignisse aus der Sicht des Schriftstellers. Und dies sind – darüber sollte inzwischen Konsens bestehen – die Kirschen der Freiheit auch nach den hier vorgelegten neuen Forschungsergebnissen von Seubert nun wirklich nicht. Doch kommen wir zum Kern der Sache: Rolf Seubert hat auf viele neue Unstimmigkeiten und Lücken in den Schilderungen von Andersch hingewiesen und kommt zu dem Schluss: „Ob Andersch überhaupt und wenn ja, wie lange in Dachau war, lässt sich angesichts der eigenen Widersprüche wie auch der wenig aussagekräftigen Darstellung seines ‚lumpigen Vierteljahrs‘ nicht
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Vgl. den Beitrag von Seubert in diesem Band, S. 112.
Respondenz zum Beitrag von Rolf Seubert
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mit Gewissheit sagen.“4 Wir haben letztlich nur einen Zeitzeugenbericht, der ihn in Dachau platziert, kein einziges zeitgenössisches Dokument. Schreiben bedeutet verarbeiten, bedeutete es gerade auch für Andersch. Auf der anderen Seite wissen wir aus dem jahrzehntelangen Umgang mit Zeitzeugenberichten und Zeugenaussagen von Häftlingen ehemaliger nationalsozialistischer Konzentrationslager, wie sehr auch im befreienden Akt des Schreibens noch die Schutz- und Verdrängungsmechanismen der eigenen Erinnerung an die Schrecknisse des Lagers wirksam gewesen sind. So kann die merkwürdige Art, in der Andersch den Tod der jüdischen Gefangenen beschreibt, der von Seubert so präzise rekonstruiert worden ist, in mehrfacher Hinsicht gedeutet werden: Als distanzierte Beschreibung einer nationalsozialistischen Mordaktion an Menschen, die nicht jener Gruppe angehörten, der sich Andersch 1933 zugehörig fühlte, als Schilderung von Ereignissen, die so schrecklich waren, dass sie die eigene Erinnerung nicht mehr in dieser Brutalität beschreiben konnte oder – wenn Andersch gar nicht in Dachau war – als eine Darstellung von Ereignissen, an denen er selbst gar nicht teilgenommen hat, und die daher so distanziert wirkt. Ich wage zu diesem Zeitpunkt nicht, mich für eine dieser drei Interpretationen zu entscheiden. Bei der Analyse der Todesumstände von Wilhelm Franz schreibt Seubert: Die verharmlosende Beschreibung der Lagerwirklichkeit überschreitet die Grenze der Zulässigkeit, wenn Andersch das Schicksal eines ihm angeblich nahestehenden Kameraden bis zur Entlastung seiner SS-Mörder verdreht: ‚Der lange, knochige, eisenharte Willi Franz, ein berühmter Bergsteiger, hatte sich damals noch nicht erhängt, aber er spielte bereits so schlecht Schach, dass ich ihn mit Leichtigkeit schlug.‘ Ob schlechtes Schachspiel bereits auf Vorahnungen des Todes verweist, sei dahingestellt. Aber hier übernimmt Andersch schlicht die Darstellung der SS, denn jene, die mit ihm im Lager waren, schildern die Ermordung dieses Jungkommunisten völlig anders.5
Ich bin bei der Lektüre dieser Passage aus Kirschen der Freiheit bei meiner eigenen Arbeit immer wieder hängen geblieben, weil nicht nur die von Seubert angesprochene Verknüpfung von Schachspiel und gewaltsamen Tod befremdet, sondern vor allem die Darstellung des Triumphs von Andersch: er schlug Wilhelm Franz „mit Leichtigkeit“ im Schachspiel und erinnert sich auch lange Jahre später noch daran. Seubert kritisiert, dass Andersch den Tod von Franz nicht als Mord darstellt, sondern die zeitgenössische offizielle Deutung übernimmt. Andersch war zum Todeszeitpunkt von Wilhelm Franz, am 17. Oktober 1933, längst nicht mehr in Dachau – insofern konnte er nur jene Darstellung des „Selbstmordes“ kennen, als den die SS den Mord an Wilhelm Franz im Herbst 1933 nach außen hin darstellte. Doch auch in diesem Fall gilt, was Seubert für den
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Ebd., S. 124. Ebd., S. 133.
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Johannes Tuchel
Mord an den jüdischen Gefangenen konstatiert: Bei der Abfassung von Die Kirschen der Freiheit wäre es Alfred Andersch durchaus möglich gewesen, sich genauere Informationen über die Toten zu beschaffen – zumindest ihre richtigen Namen zu nennen und sie damit aus der Anonymität des Todes ein wenig zurückzuholen. Die Studie von Seubert zeigt auf beeindruckende Art und Weise, dass fast alle Zweifel, die bisher an der Darstellung der KZ-Haft von Alfred Andersch geäußert worden sind, berechtigt sind. Die scheinbaren Präzisierungen, die Reinhardt in seiner Andersch-Biografie vorgenommen hat, lassen sich im Licht der Vielzahl der von Seubert vorgelegten neuen Quellen und seiner Interpretation nicht mehr aufrechterhalten. Doch noch einmal: Alfred Andersch ist in seiner Neuerfindung, in seiner vielfachen Selbstrekonstruktion nach dem Ende der diktatorischen Herrschaft, kein Einzelfall, weder als Schriftsteller, noch als Deutscher, noch unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten. Und so möchte ich diesen kurzen Kommentar nicht als Kritik an den Arbeitsergebnissen von Rolf Seubert verstehen, sondern lediglich als Plädoyer, auch Alfred Andersch immer in den Kontext seiner Zeit zu stellen und dies sowohl in der NS-Zeit, als auch in jener so antikommunistisch und nachnationalsozialistisch geprägten Zeit, als er die Kirschen der Freiheit schrieb. Seuberts Aufsatz weist weit über Alfred Andersch hinaus, er macht deutlich, welche Möglichkeiten ein interdisziplinärer Ansatz – und eine sorgsame Interpretation historischer Quellen – der Literaturwissenschaft gibt. Eine letzte Anmerkung – durchaus pro domo: Rolf Seubert leitet seinen Aufsatz mit einer Beschreibung des Fotos ein, das in der – von Peter Steinbach und mir geleiteten – Gedenkstätte Deutscher Widerstand hängt und zitiert einen Teil des beschreibenden Textes dazu. Seubert berichtet auch über die Darstellung von Andersch in der neuen Ausstellung der Gedenkstätte Dachau. Weiter unten in seinem Text kommt er zu dem Schluss: Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Anderschs substanzarme Schilderung des Dachauer Häftlingsalltags so gut wie nicht mit den zahlreichen Zeugenaussagen übereinstimmt. Und auch seine zeitliche Überdehnung der Haft auf drei bis sechs Monate legt nahe, dass es ihm auch um die Schaffung und Pflege einer Opferbiografie zu tun gewesen sein muss. Und sie wird bis heute gefestigt durch die Verehrung, die ihm in den eingangs zitierten wichtigen Gedenkstätten dauerhaft entgegen gebracht wird.6
Und an anderer Stelle: „Andersch ist der unbekannte KZ-Häftling, der sich seinen KZ-Aufenthalt im Wesentlichen selbst bezeugt. Aber ist das ausreichend, ihn in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zu ehren?“7 An dieser Stelle hätte ich mir von Rolf Seubert ebenfalls jene Präzision
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Ebd., S. 139. Ebd., S. 141.
Respondenz zum Beitrag von Rolf Seubert
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gewünscht, die seinen Text sonst auszeichnet. Denn zumindest in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand wird nicht der KZ-Häftling Andersch gewürdigt, sondern ausdrücklich der Deserteur, nicht als Opfer, sondern als politisch gegen den Nationalsozialismus Agierender. Im Bereich „Widerstand im Kriegsalltag“ wird in der Ausstellungseinheit „Deserteure aus politischer Gegnerschaft“ das Foto von Andersch gezeigt, das unmittelbar nach seiner Desertion in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager in Italien entstand. Der gesamte Text zu diesem Bild lautet: Im Sommer 1944 desertiert Alfred Andersch in Italien aus der Wehrmacht. Durch seine Fahnenflucht will er die ‚Fähigkeit des Menschen zu wählen‘ demonstrieren. Er will sich selbst seine Willensfreiheit beweisen und zeigen, dass er zu einer ‚von niemandem gelenkten und stillschweigenden Sabotage‘ fähig ist. Deshalb kann er in seinem später veröffentlichen Lebensbericht erklären: ‚Mein ganz kleiner privater 20. Juli fand bereits am 6. Juni statt.‘
Dies ist nicht Teil einer Opferkonstruktion, sondern stellt die Desertion von Andersch als einen politisch bewussten, gegen den Nationalsozialismus gerichteten Akt dar. In dieser Dokumentation – nicht „Verehrung“ – ist das Handeln von Andersch aus meiner Sicht genau richtig platziert, denn bei aller Kritik an den Nachkriegskonstruktionen und Neuerfindungsversuchen von Andersch darf nicht vergessen werden, welches tödliche Risiko eine Desertion aus der deutschen Wehrmacht im Sommer 1944 in sich barg. Wäre Andersch gefasst worden, wäre ein kriegsgerichtliches Todesurteil die sichere Folge gewesen. Die Dokumentation des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus erfordert immer wieder die Darstellung von Handlungsspielräumen und -möglichkeiten und wie diese von den Deutschen damals genutzt – oder eben nicht genutzt – wurden. Andersch zeigt, vor welchen Entscheidungen er stand und wie er sich für die Desertion entschied – die meisten deutschen wehrfähigen Männer entschieden sich damals anders und kämpften weiter in Hitlers Wehrmacht. Unter diesem Blickwinkel halte ich – ich wiederhole: bei aller gerechtfertigten Kritik von Seubert und mir an der Darstellung historischer Sachverhalte in Kirschen der Freiheit – die Einbeziehung der politisch motivierten Desertion von Alfred Andersch in die Dauerausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand weiterhin für sinnvoll und notwendig.
Literatur Tuchel, Johannes: Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ 1934–1938. Boppard / R. 1991. Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Annette Korolnik-Andersch. München 2008, S. 30–41.
FELIX RÖMER
Literarische Vergangenheitsbewältigung Alfred Andersch und seine Gesinnungsgenossen im amerikanischen Vernehmungslager Fort Hunt Mit seinem fiktionalisierten Selbstportrait in den Kirschen der Freiheit erreichte Alfred Andersch im Jahre 1952 seinen literarischen Durchbruch, zugleich ordnete er sich im kollektiven Gedächtnis der Nachkriegsgesellschaft als ehemaliger kommunistischer Aktivist, politischer KZ-Häftling und Wehrmachtsdeserteur in eine widerständige Minderheit ein.1 „Die nonkonformistische Linie des Buches“2 gehörte zu jenen bewussten Stilisierungen in diesem angeblich authentischen „autobiographischen Bericht“, die dem Autor posthum massive Kritik eintrugen, nachdem sein Biograf offen gelegt hatte, dass Andersch im ‚Dritten Reich‘ keineswegs immer so nonkonformistisch agiert hatte, wie er später suggerierte.3 Der
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Vgl. Andersch, Alfred: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe. Bd. V: Erzählungen. 2. Autobiographische Berichte. Hg. v. Dieter Lamping. Zürich 2004 (im Folgenden GW V). So Andersch in einem Konzept für eines seiner Kapitel, im Faksimile abgedruckt in: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt – in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Anette Korolnik-Andersch. München 2008, S. 44. Zu den Debatten um Anderschs Biografie vgl. Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Korolnik u. Korolnik-Andersch: Sansibar, S. 30–41; Döring, Jörg u. Rolf Seubert: „‚Entlassen aus der Wehrmacht: 12.03.1941. Grund: ‚Jüdischer Mischling‘ laut Verfügung‘. Ein unbekanntes Dokument im Kontext der Andersch-Sebald-Debatte“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 151 (2008), S. 171–184; Joch, Markus: „Streitkultur Germanistik. Die Andersch-Sebald-Debatte als Beispiel“. In: Germanistik in und für Europa. Faszination – Wissen. Hg. v. Konrad Ehlich. Bielefeld 2006, S. 263–275; Williams, Rhys W.: „Survival without Compromise? Reconfiguring the Past in the Works of Hans Werner Richter and Alfred Andersch“. In: Flight of Fantasy. New Perspectives on Inner Emigration in German Literature 1933–1945. Hg. v. Neil H. Donahue u. Doris Kirchner. New York 2003, S. 211–222; Lamping, Dieter: „Erzählen als Sinn-Suche. Formen und Funktionen autobiographischen Erzählens im Werk Alfred Anderschs“. In: Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Hg. v. Rüdiger Zymner. Köln 2000, S. 217–229; vgl. die Beiträge in dem Sammelband Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Hg. v. Volker Wehdeking u. Irene Heidelberger-Leonard. Opladen 1994; Stephan, Winfried: Über Die Kirschen der Freiheit von Alfred Andersch. Frankfurt / M. 1992; Sebald, W.G.: „Between the devil and the deep blue sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden in der Vorsehung“. In: Lettre International 20
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Felix Römer
schwerste Vorwurf bestand darin, dass Andersch im Frühjahr 1943 die Scheidung von seiner als ‚Halbjüdin‘ stigmatisierten Ehefrau Angelika erwirkt hatte, zur Entlassung aus der Wehrmacht 1941 und zur Erheischung von Vorteilen in der US-Gefangenschaft 1944 von dieser Ehe aber gleichwohl taktischen Gebrauch machte. Daneben wurde auch die Historizität von Anderschs Desertion aus der Wehrmacht in Zweifel gezogen,4 und selbst Anderschs KZ-Haft in Dachau wurde kritisch hinterfragt.5 Die Diskrepanzen zwischen Lebensgeschichte und autobiografischem Narrativ des Autors bei der Interpretation der Werkbiografie zu berücksichtigen, lehnten die Kritiker der Kritiker wiederum als unzulässigen Biografismus ab, ohne freilich darauf zu verzichten, sich an den zunehmend normativen Debatten um Anderschs Verhalten im ‚Dritten Reich‘ zu beteiligen. Gewiss: Es widerspricht literaturtheoretischen Prämissen, literarisches Werk und Lebensgeschichte des Autors zu eng aufeinander zu beziehen, und die Fiktionalisierung der eigenen Biografie bleibt das unbestreitbare Recht des Schriftstellers. Allerdings war Andersch durch die expliziten Authentizitätsversprechen in seinem „Bericht“ jenen verpflichtenden „autobiographischen Pakt“ eingegangen, der das Einvernehmen mit seinen Lesern darüber herstellte, dass der Text nicht als Roman, sondern als möglichst wahrhaftige Darstellung seiner Lebensgeschichte aufzufassen sei.6 Die Verständigung auf diese Lesart bildete zugleich die Voraussetzung dafür, dass Andersch aus seinem Text hohes symbolisches Kapital beziehen konnte, denn schließlich ging aus der Rezeption des „Berichts“ nicht etwa eine fiktionale Figur als moralische Autorität der frühen Bundesrepublik hervor, sondern der Autor selbst. Der Blick auf die Biografie des Autors entspricht jedoch nicht nur seinen selbst formulierten Maßstäben, sondern verspricht auch deshalb Gewinn, weil sich Anderschs Erfahrungen im ‚Dritten Reich‘ offenbar auf seine spätere Literaturproduktion auswirkten. Für das Verständnis seines Werks erscheint es daher unabdingbar, jene lebensgeschichtlichen Prägungen zu berücksichtigen, die sich möglicherweise in der Themenwahl und Leitmotivik seines literarischen Schaffens niederschlugen. Aus diesen Gründen lohnt die Beschäftigung mit einer bislang unbekannten Quelle, die neue Erkenntnisse über Anderschs Weg
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4 5 6
(1993), S. 80–84; Reinhardt, Stephan: Alfred Andersch. Eine Biographie. Zürich 1990; Wehdeking, Volker: Alfred Andersch. Stuttgart 1983. Vgl. Mather, Ed: „‚Vielleicht ist unter allen Masken, aus denen man wählen kann, das Ich die beste‘. Über die Entstehung einer Legende auf der Grundlage einer Autobiografie: Alfred Anderschs Kirschen der Freiheit“. In: Neophilologus 84 (2000), S. 443–455. Vgl. den Beitrag von Rolf Seubert in diesem Band. Vgl. Lejeune, Philippe: „Der autobiographische Pakt“. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hg. v. Günter Niggl. Darmstadt 1989, S. 214–257; Mather: „Masken“, S. 449ff.
Literarische Vergangenheitsbewältigung
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durch Diktatur und Weltkrieg ermöglicht: seine kürzlich entdeckte Gefangenenakte aus dem US-amerikanischen Verhörlager Fort Hunt in Virginia. Daneben fanden sich in den Unterlagen dieser geheimen Einrichtung auch Gefangenendossiers über eine Reihe von Anderschs Gesinnungsgenossen, die sich mit ihm in der Kriegsgefangenschaft und darüber hinaus in der Redaktion der Zeitschrift Der Ruf engagiert hatten. Die Akten aus Fort Hunt offenbaren somit nicht nur neue Details über Anderschs Biografie, sondern gewähren zugleich Einblick in das zeitgenössische Denken, das ihn und sein soziales Umfeld kennzeichnete.
Die Gefangenenakten aus Fort Hunt: eine neue Quelle zur Andersch-Sebald-Debatte In Fort Hunt, einem streng abgeschirmten „Interrogation Centre“ vor den Toren Washingtons, das den Decknamen „Post Office Box 1142“ trug, wurde der spätere Romancier im Herbst 1944 zwischenzeitlich interniert, vernommen und abgehört – eine bislang unbekannte Station auf Anderschs Lebensweg.7 Nach seiner Gefangennahme bei Rom am 7. Juni 1944 war Andersch Ende August 1944 in den Vereinigten Staaten angelangt. Bevor sein Weitertransport in ein reguläres Gefangenenlager fortgesetzt wurde, veranlasste der federführende US-Militärnachrichtendienst, der Military Intelligence Service (MIS) der US-Army, seine Verbringung nach „P.O. Box 1142“.8 Anderschs Weg führte zunächst über das Zwischenlager Pine Grove Furnace in Pennsylvania, das als „Holding Camp“ und zum „Screening“ von Kandida-
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Zu den alliierten Vernehmungslagern und Abhöraktionen vgl. Neitzel, Sönke: Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942–1945. Berlin 2005. Der Großteil der Dokumente aus Anderschs Gefangenenakte sind im Wortlaut abgedruckt bei: Römer, Felix: „Alfred Andersch abgehört. Kriegsgefangene „Anti-Nazis“ im amerikanischen Vernehmungslager Fort Hunt“. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58 (2010), S. 563–598. Anderschs Weg führte nicht von einem „Vernehmungslager Carlisle“ über Fort Meade nach Ruston, wie sein Biograf auf Grund der bislang verfügbaren Unterlagen fälschlich annehmen musste, vgl. Reinhardt: „Andersch“, S. 109. Anderschs am 13. Juni 1944 angelegte Akte aus der US-Kriegsgefangenenverwaltung (Office of the Provost Marshal General) zeigt, dass Andersch am 29. August 1944 bei der 3300th Service Unit in Carlisle, Pennsylvania, eintraf; US National Archives and Records Administration, College Park/Md. (im Folgenden: NARA), Record Group (RG) 389, Entry 466, Box 7. Bei der 3300th Service Unit handelte es sich um das bei der Ortschaft Carlisle gelegene Lager Pine Grove Furnace, dessen „purpose was the holding of prisoners of war pending their detailed interrogation at Fort Hunt“, Abschlussbericht des MIS, „Report of the Activities of two Agencies of the CPM Branch, MIS, G-2, WDGS“, o.D. (1945); NARA, RG 165, Entry 179, Box 575, hier S. 29.
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Felix Römer
ten für „P.O. Box 1142“ diente.9 Von dort aus transportierte der US-Geheimdienst Andersch am 11. September 1944 zusammen mit vierzehn anderen Kriegsgefangenen in einem fensterlosen Bus nach Fort Hunt.10 Nach einer Woche endete das Zwischenspiel, als Andersch am 19. September 1944 in das Transitlager Fort Meade in Maryland abgeschoben wurde. Drei Tage später, am 22. September 1944, begann seine Verlegung in das für „Anti-Nazis“ vorgesehene Camp Ruston in Louisiana, wo sich die Lücke in der bisher bekannten Andersch-Biografie wieder schließt.11 Fort Hunt war eines von zwei „Joint Interrogation Centres“, welche die US-Militärnachrichtendienste im Jahr 1942 nach britischem Vorbild eingerichtet hatten. In Kooperation zwischen dem MIS und dem Office of Naval Intelligence (ONI) der US Navy verfolgten sie das Ziel, „Strategic Intelligence“ zu gewinnen, was auch die Erkundung der gegnerischen Moral einschloss. Zwischen 1942 und 1945 schleusten MIS und ONI insgesamt mehr als dreitausend deutsche Kriegsgefangene durch Fort Hunt, bei denen es sich überwiegend um gewöhnliche Mannschaftssoldaten, Unteroffiziere und Subalternoffiziere handelte. Zu jedem der Gefangenen fertigte die Bürokratie des Lagers eine Akte an, in der sämtliche Unterlagen gesammelt wurden, die im Laufe ihrer Internierung anfielen. Diese alphabetisch geordnete Aktenserie wuchs schließlich auf einen Gesamtumfang von über 100.000 Seiten an.12 Die einzelnen Gefangenendossiers enthielten Abhörprotokolle, Vernehmungsberichte zu diversen Themen, Formulare über biografische Daten und lebensgeschichtliche Interviews. Mit etwa 800 Gefangenen führten MIS und ONI auf der Basis des standardisierten „Morale Questionnaire“ zudem politische Befragungen nach dem Vorbild der noch jungen Meinungsforschung durch.
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Abschlussbericht des MIS, „Report of the Activities of two Agencies of the CPM Branch, MIS, G-2, WDGS“, o.D. (1945); NARA, RG 165, Entry 179, Box 575, hier S. 29. Anderschs Verbringung nach Fort Hunt wurde angeordnet mit dem Memorandum from Chief of Captured Personnel and Material Branch/MIS, to Brigadier General B. M. Bryan, v. 09. September 1944; NARA, RG 389, Entry 452a, Box 1377. Sein Transfer von Fort Hunt nach Fort Meade am 19. September 1944 wurde bestätigt mit einem Memorandum v. 19. September 1944; ebd. Für den Hinweis auf diese Dokumente danke ich Daniel Gross, Kensington/Maryland. Der exakte Zeitpunkt des Transfers nach Fort Hunt geht hieraus nicht hervor. Anderschs Kriegsgefangenenakte verzeichnete jedoch unter dem 11. September 1944 den Transfer von Carlisle/Pine Grove Furnace nach Ft. Meade, das hier als Tarnbezeichnung für Ft. Hunt fungierte. Seine Kriegsgefangenschaft in den USA 1944/45 beschrieb Andersch in mehreren autobiografischen Erzählungen, am ausführlichsten in „Amerikaner – erster Eindruck“ und „Festschrift für Captain Fleischer“, beiläufiger in „Der Seesack“ und „Mein Verschwinden in Providence“, vgl. GW V. Im Rahmen des Fritz Thyssen Projekts „Referenzrahmen des Krieges“, das unter der Gesamtleitung von Sönke Neitzel und Harald Welzer steht, wurden diese „201-files“ vollständig digitalisiert, durch Datenbanken erschlossen und teilweise transkribiert. Für Hinweise und Unterstützung bei der Erschließung dieses Bestands gebührt Timothy Mulligan, Lanham/Maryland, großer Dank.
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Das Interesse von MIS und ONI an den Befindlichkeiten in der Wehrmacht traf sich mit der weit reichenden Kooperationsbereitschaft der meisten Insassen, die sich sowohl in den Vernehmungen als auch in den Zellengesprächen nur wenig Gesprächstabus auferlegten. Zwar war angesichts der regelmäßigen Verhöre im Alltag von Fort Hunt unübersehbar, dass man sich in einer „Quetschmühle“ befand.13 Doch obwohl der Verdacht nahe lag, dass „Mikrophone hier eingebaut“ sein könnten,14 wirkte sich dies bei den meisten Insassen nicht auf ihr Verhalten in den Gesprächen aus; zu stark waren das Bedürfnis zum „exchange of experiences“ und die „natural tendency to talk with strangers“, wie die amerikanischen Nachrichtendienstoffiziere beobachteten.15 Sogar in den direkten Vernehmungen beschränkte sich die Selbstzensur der meisten Gefangenen lediglich auf einen eng umgrenzten Themenkreis von harten militärischen Fakten. Quer durch die politischen Lager bestand Konsens, dass man zumindest über Fragen zu Ethos, Kampfmoral und weltanschaulicher Orientierung offen Auskunft geben könne, weil diese Bereiche gemeinhin nicht als „kriegswichtig“ galten.16 In der überwiegenden Zahl der nachprüfbaren Fälle erweist der Abgleich von „Room Conversations“ und „Morale Interrogations“ daher, dass sich die Wehrmachtsangehörigen in den Verhören zu ihrem Weltbild in der Regel kaum anders äußerten als gegenüber ihren Zellengenossen. Weder in der Wehrmacht noch in der Nachkriegsgesellschaft konnten die Soldaten so unverstellt über ihre Erfahrungen in Krieg und Diktatur sprechen wie in Fort Hunt. In Anderschs Gefangenendossier sammelten sich insgesamt 27 Seiten an. Neben einem lebensgeschichtlichen Vernehmungsbericht enthält die Akte zwei unterschiedliche Registrierungsformulare über persönliche Daten, eine von Andersch verfasste Denkschrift zum Thema „Deutscher Unterground“ sowie vierzehn handschriftliche Transkripte über abgehörte „Room Conversations“. Diese Abhörprotokolle entstanden zwischen dem
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Vgl. z.B. die Room Conversation, Dreher – Wilimzig, 30. Juli 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563. Auf die Äußerung eines Mannschaftssoldaten z.B., er habe „schon geglaubt die haben solche Mikrophone hier eingebaut“, erwiderte sein Zellengenosse: „Nee, die giebt’s [sic] hier nicht.“ Room Conversation, Knoll – Künzelmann, 19. März 1945; NARA, RG 165, Entry 179, Box 499. Memorandum des Head of OP-16-Z an den Chief of Interrogation Branch, WDGS, G-2, v. 03. September 1942; NARA, RG 38, OP-16-Z, Day Files, Box 2. Room Conversation, Schmitz – Thiemann, 24. Juni 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 541. Zur Kooperation im Verhör war die folgende Auffassung typisch: „Z. thinks it is OK to give political opinion but not military information“. Room Conversation, Zerrweck – Schumacher, 26. Juni 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 567. Zu den „Morale Interrogations“ vgl. Gurfein, Murray I. u. Morris Janowitz: „Trends in Wehrmacht Morale“. In: Public Opinion Quarterly 10 (1946), S. 78–84, hier S. 80.
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11. und 16. September 1944 und gaben insgesamt neun Gespräche mit drei verschiedenen Zellengenossen wieder.17 Den einzigen Hinweis, warum der amerikanische Nachrichtendienst den Durchschnittssoldaten Andersch überhaupt für die Verbringung nach Fort Hunt auswählte, enthält eines der beiden Registrierungsformulare, das offenbar Anfang September 1944 beim „Screening“ in Pine Grove Furnace aufgenommen wurde: Hier präsentierte sich Andersch als dezidierter, kooperativer Regimegegner.18 Da Andersch etwas dramatisiert zu Protokoll gab, im Jahre 1933 für „6 months“19 „in Concentration [Camp] Dachau“ inhaftiert gewesen zu sein, und er dem Vernehmungsoffizier „talkative, sincere, intelligent“ erschien, stufte man ihn sofort als „A[nti].N[azi].“ ein und versprach sich von ihm zuverlässige Aussagen über das Innenleben der deutschen Kriegsgesellschaft: „Should be able to give us information conc[erning]. psychological + political conditions in Germany.“ Die wohlwollende Einstufung als glaubwürdiger „Anti-Nazi“ stützte sich auch auf die Angaben eines Mitgefangenen, der sich offenbar für Andersch verbürgt hatte, wie das Protokoll festhielt: „another PW says he is an AN.“ Daneben nahm Andersch den Verhöroffizier auch mit jener Taktik für sich ein, die ihm später in der Andersch-Sebald-Debatte so heftige Vorwürfe eintrug: Er berief sich auf seine Ehe mit einer ‚Halbjüdin‘, was seinen Gegensatz zum NS-Regime unüberwindbar erscheinen ließ. Zu Anderschs vorübergehender Entlassung aus der Wehrmacht im Frühjahr 1941 notierte der Vernehmungsoffizier die Erklärung: „Had to leave because wife was half-jewish.“ Mit der gleichen Begründung konnte Andersch außerdem die Frage nach einer Mitgliedschaft in der NSDAP überzeugend von sich weisen: „Could not be party member because of his wife.“ Das Protokoll von seiner Vernehmung in Fort Hunt am 16. September 1944 verzeichnete erneut die Auskunft: „Dismissed from the army
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Vgl. Anderschs Gefangenenakte im Bestand: US War Department, General Staff, Assistant Chief of Staff, G-2, Military Intelligence Service, 201-files, folder Andersch, Alfred; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442. Das Formular ist undatiert, entstand jedoch vermutlich während Anderschs Aufenthalt in Pine Grove Furnace. Auf diese Herkunft deutet der verwendete Vordruck hin, auch wenn die Angaben z.T. bis ins Detail Anderschs Schilderungen von seinen ersten Verhören nach der Gefangennahme in Italien entsprechen, die er später literarisch verarbeitete, vgl. GW V, S. 316ff. Nach seiner Verhaftung am 10. März 1933 war Anderschs Einlieferung nach Dachau gegen Ende des gleichen Monats erfolgt, bevor er gegen Ende April 1933 wieder entlassen wurde, vgl. Reinhardt: Andersch, S. 43–48. Tuchel: Andersch, S. 33, geht von einer Gesamtdauer der KZ-Haft von „maximal rund 6 Wochen“ aus.
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because he’s married to a half-jewess.“20 Dass die Präsens-Form dieser Aussage kein sprachliches Missverständnis darstellte, bewies eine knappe Angabe zu Anderschs Familienstand im gleichen Vernehmungsbericht: „P/W is married.“ Damit bestätigen sowohl die „Screening Form“ als auch der „Interrogation Report“ aus Fort Hunt, dass Andersch bereits zu einem frühen Zeitpunkt in der Kriegsgefangenschaft auf die Strategie verfiel, seine einstige Ehe in Anspruch zu nehmen, um sich Vorteile zu verschaffen.21 Dass Andersch in der Kriegsgefangenschaft wahrheitswidrig behauptete, weiterhin mit seiner geschiedenen Ehefrau Angelika verheiratet zu sein, war bereits bekannt.22 In Hinblick auf Anderschs umstrittene Entlassung aus der Wehrmacht im Frühjahr 1941 enthalten die Vernehmungsberichte aus Fort Hunt jedoch eine wichtige neue Erkenntnis, über die in der bisherigen Debatte nur spekuliert werden konnte. Den Ausgangspunkt der Kontroverse bildete die Entdeckung von Jörg Döring und Rolf Seubert, dass Andersch 1941 nicht, wie behauptet, wegen seiner Vergangenheit als kommunistischer KZ-Häftling vorübergehend aus dem nationalsozialistischen Militär entlassen worden war, sondern wegen seiner Ehe mit einem „jüdischen Mischling“.23 Wie Döring und Seubert vermuteten, hatte Andersch seinen Ausschluss vom Kriegsdienst sogar selbst initiiert, denn
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Interrogation Report, Alfred Andersch, 16. September 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442. Inwiefern die eindeutige Präsens-Form dieser Formulierung möglicherweise auch eine Vergangenheitsform darstellen könnte, wie ein Germanist kürzlich meinte, bleibt dessen Geheimnis, vgl. Hanuschek, Sven: „Wie ist es, überleben zu wollen?“. In: Frankfurter Rundschau vom 18. November 2010: „es findet sich die Formulierung ‚he’s married to a half-jewess‘ (is oder was?)“. Die zweite, im Folgenden zitierte Textstelle, die ebenfalls im Präsens formuliert ist und die Hanuscheks Vermutung genauso hinfällig macht, hat er ignoriert. Außerdem war eine ähnliche Formulierung bereits dem in Camp Ruston ausgefüllten Registrierungsformular aus der bereits bekannten US-Kriegsgefangenenakte (OPMG) zu entnehmen gewesen, die in der Deutschen Dienststelle in Berlin lagert, siehe Anm. 8: „Wife is part Jewish“. Ebenso wenig nachvollziehbar erscheint freilich die Einschätzung von Hans-Joachim Hahn, der in diesem Zusammenhang von „eine[r] uneindeutige[n] Aussage über Anderschs geschiedene Ehe (‚he’s married to a half-jewess‘)“ sprach, vgl. ders.: „Anderschs Leben und Werk als Gegenstand der Philologie. Ein Bericht über die Frankfurter Tagung „Alfred Andersch ‚revisited‘. Die Sebald-Debatte und ihre Folgen““. In: Literaturkritik.de. Nr. 12 (Dezember 2010), http://www.literaturkritik.de/public/ rezension.php?rez_id=15056&ausgabe=201012 (Stand: 18. Juni 2011). Das zweite undatierte Registrierungsformular in Anderschs Gefangenendossier verzeichnet hierzu widersprüchliche Angaben: Feld 17 hält zur Frage „married or single“ wahrheitsgemäß „single“ fest, doch enthält das Feld 8 zur „No. of dependents and relationship“ die Auskunft: „Angelica Andersch (wife)“. Zur Frage nach „Name, relationship of nearest relative“ gab Andersch wiederum seine Mutter an. Bereits Sebald: „Between the Devil“, S. 82, hatte empört darauf aufmerksam gemacht, dass Andersch in Camp Ruston der Lagerleitung gegenüber angab, mit einem „mongrel of juish [sic] descent“ verheiratet zu sein, um seine konfiszierten Papiere zurückzuerhalten. Vgl. Döring u. Seubert: „Entlassen aus der Wehrmacht“.
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auch das im Familiengedächtnis überlieferte Narrativ ging in diesem Zusammenhang von einer Selbstanzeige des späteren Schriftstellers aus. Schon bei dieser Gelegenheit, so der nahe liegende Schluss, habe Andersch zielgerichtet seine zerbrechende Ehe eingesetzt, um persönliche Vorteile zu erheischen. Gegen diese Deutung der amtlichen Unterlagen aus der Personalverwaltung der Wehrmacht wurde eingewendet, dass Andersch über den Grund seiner Entlassung aus der Wehrmacht wahrscheinlich gar nicht informiert gewesen sei und diese somit auch nicht selbst betrieben haben könne.24 Diese Möglichkeit ist auf Grund der Unterlagen aus Fort Hunt nun jedoch eindeutig auszuschließen: Wie die zitierten Vernehmungsberichte zeigen, kannte Andersch den Grund seiner Entlassung aus der Wehrmacht sehr genau, denn schließlich diktierte er den amerikanischen Verhöroffizieren persönlich in die Feder, warum er 1941 vom Militärdienst vorübergehend ausgeschlossen worden war. Das Gefangenendossier aus Fort Hunt erhärtet damit die Interpretation, die Döring und Seubert zu Anderschs Wehrmachtsentlassung vom Frühjahr 1941 vorgebracht haben. Den Falschaussagen, die Andersch in Fort Hunt machte, lagen vermutlich die gleichen Motive zu Grunde, die ihn nur wenig später im Oktober und Dezember 1944 zu seinen bereits bekannten Eingaben an die US-Kriegsgefangenenverwaltung bewogen. Wie anhand der darin enthaltenen Zeitangaben zu erkennen ist, bezog sich Andersch in diesen Schreiben auch auf seinen Aufenthalt in Fort Hunt, ohne das Lager freilich namentlich benennen zu können. Aus seinem Schreiben von Anfang Oktober 1944 geht hervor, dass er bereits zwei Wochen zuvor, also noch in Fort Hunt, um die Rückgabe seiner konfiszierten Papiere gebeten hatte: „Even a major who spoke to me in an examination point near Washington two weeks ago promised to see that my diaries etc. would be returned to me as soon as possible.“25 Seine Unterlagen, so Andersch, benötige er dringend, weil er Autor sei. Die in der Andersch-Biografik belegte Sehnsucht nach schriftstellerischem Fortkommen war vermutlich also auch für Anderschs taktierendes Verhalten in den Verhören von Fort Hunt ausschlaggebend. Mit Anderschs Wunsch, publizistische Wirkung zu entfalten, verband sich das Bestreben nach politischem Engagement, wie er
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So Annette Andersch-Korolnik und Marcel Korolnik in dem von Sven Hanuschek recht suggestiv geführten Interview in der Frankfurter Rundschau v. 27. September 2008, sowie Sven Hanuscheks Artikel in der Frankfurter Rundschau v. 18. November 2010, siehe Anm. 20. Dagegen meinte Tuchel: „Andersch“, S. 35: „Ein Hinweis darauf, dass er den wahren Grund seiner Entlassung im Frühjahr 1941 kannte und wusste, dass er nach der Scheidung wieder einberufen werden würde, ist auch in seinem Lebenslauf vom Februar 1943 enthalten, wenn er von seiner ‚wahrscheinlich bevorstehende[n] Wieder-Einberufung‘ schreibt.“ Anderschs Eingabe an die Lagerleitung von Camp Ruston v. 08. Oktober 1944 in der OPMG-Kriegsgefangenenakte, siehe Anm. 8.
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seinem Mitgefangenen in einer der abgehörten Unterhaltungen mitteilte: „Ich könnte soviel Gutes in einem politischen Gebiete machen, bin doch geschult und dann braucht man nicht hinter Stacheldraht zu sitzen.“26 Vermutlich verfolgte Andersch die Strategie, gegenüber der Gewahrsamsmacht eine möglichst positive Selbstdarstellung zu betreiben, um sich für die politische Aufbauarbeit in amerikanischen Diensten zu empfehlen. Eine solche Absicht könnte auch die übrigen wahrheitswidrigen Angaben erklären, die Andersch in Fort Hunt zu Protokoll gab. Neben der Inanspruchnahme seiner geschiedenen Ehe übertrieb Andersch auch die Dauer seiner KZ-Haft in Dachau und verleugnete sein früheres Engagement in der Kommunistischen Partei,27 das nach zeitgenössischer Auffassung kaum als Referenz dienen konnte, um das Vertrauen der amerikanischen Gewahrsamsmacht zu gewinnen, denn unter den deutschen Kriegsgefangenen galten die USA gemeinhin als dezidiert anti-kommunistisch.28 Schon in Fort Hunt verschwieg Andersch also seine längst erfolgte Scheidung. Dass ihn das Schicksal seiner früheren Ehefrau gleichwohl weiterhin beschäftigte, deutet sich in einer der abgehörten Unterhaltungen an, als das Gespräch in Anderschs Zelle die NS-Rassenpolitik berührte. Die Mitschrift des MIS setzte ein, als die Diskussion offensichtlich bereits fortgeschritten war. Der Gesprächsausschnitt begann mit einer Stellungnahme von Anderschs Zellengenossen Gerhard Schild29: „Die Halbjuden
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Room Conversation, Andersch − Balcerkiewicz, 13. September 1944, 17.00–21.00 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442. Interrogation Report, Alfred Andersch, 16. September 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442: „In Dachau from March to September 1933 because he was a leader of the Youth-Group of the Soz-Demokrat. Gewerbeschaften [sic] in Muenchen“. Anderschs eigenen Angaben in den Kirschen der Freiheit zufolge, hatten seine politischen Aktivitäten vielmehr in der Funktion als Organisationsleiter des Kommunistischen Jugendverbands in Südbayern bestanden, vgl. Reinhardt: Andersch, S. 36. Zur tatsächlichen Dauer der KZ-Haft vgl. Anm. 19. Vgl. z.B. die Room Conversation, Capell – Seeger, 07. Oktober 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 457: „Ich glaube, die suchen hier schon nach Kommunisten unter den Gefangenen. Die wollen sie nicht drüben haben. Sie werden ein stark antikommunistisches Regime errichten.“ Room Conversation, Kaufmann – Ulrich, 09. April 1945; NARA, RG 165, Entry 179, Box 556: „Ich glaube sie haben Kommunisten hier nicht gern.“ Room Conversation, Liepold – von der Pfordten, 25. Januar 1945; NARA, RG 165, Entry 179, Box 508: „Nach dem was wir in den letzten Tagen von den Vernehmungsoffizieren gehört haben, sind das doch hier keine Kommunistenfreunde.“ Geb. 15. Juni 1913 in Berlin, evangelisch, Hochschulbildung, im Zivilberuf Kaufmann und Dolmetscher, zuletzt eingesetzt im SS-Pz.Gren.Rgt. 38, gefangen genommen am 29. Juli 1944 in Frankreich; in Fort Hunt v. 12. September – 16. September 1944. Vgl. Schilds Gefangenenakte; NARA, RG 165, Entry 179, Box 538; Reinhardt: Andersch, S. 109, 113f., 118. Zu Schilds Transfers vgl. die Akten des OPMG; NARA, RG 389, Entry 452a, Box 1377.
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durften sich ja freiwillig melden und dann wurde ihnen versprochen dass sie sich das Bürgerrecht erwerben können.“30 Hierauf entgegnete Andersch: „Na ja das war im letzten Kriege auch so und heutzutage sind die alten jüdischen Frontkämpfer alle zur Seite geworfen worden. Jetzt werden sie ihnen alle die Konzessionen machen und später werden sie [sie], wenn sie sie nicht mehr brauchen, ermorden.“ Als der dritte Insasse, Kuftner, an dieser Stelle eine kritische Bemerkung zur antisemitischen Propaganda des NS-Regimes einwarf, kam das Gespräch von der engeren Thematik der Judenverfolgung wieder ab. Die Widersprüchlichkeit der geäußerten Ansichten über die Überlebenschancen der ‚Halbjuden‘ im nationalsozialistischen Deutschland war durchaus erklärlich. Wenngleich die Auffassungen in dieser Frage deutlich auseinandergingen, reflektierten sowohl Anderschs als auch Schilds Wahrnehmungen zumindest in Teilen durchaus intersubjektiv erfahrene Aspekte der Lebenswirklichkeit von ‚Halbjuden‘ im ‚Dritten Reich‘. Bis zuletzt stellte sich die Situation dieser „Grenzgänger“ ebenso ambivalent wie ungewiss dar, weil sich die Machthaber in ihren internen Querelen über die Behandlung der „Mischlinge ersten Grades“ weder zu deren vollständigen Integration in die ‚Volksgemeinschaft‘ noch zur Einbeziehung der ‚Halbjuden‘ in die Vernichtungspolitik entschließen konnten.31 Das Schwanken der NS-Rassenpolitik zwischen Indienstnahme und Entrechtung, Inklusion und Exklusion, übersetzte sich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen in entsprechend uneindeutige Bilder der staatlichen Maßnahmen gegenüber den ‚Halbjuden‘. Offenbar besaß Schild Kenntnis davon, dass Hitler besonders bewährten ‚Halbjuden‘ in der Wehrmacht, die sich durch Tapferkeit auszeichneten, „nach Abschluss des Krieges“ die rechtliche „Gleichstellung“ in Aussicht gestellt hatte.32 In der Wirklichkeit der NS-Rassenpolitik repräsentierte diese Regelung jedoch lediglich eine untergeordnete Ausnahmeerscheinung. Denn auf Geheiß Hitlers hatte die Wehrmachtsführung bereits im Frühjahr 1940 damit begonnen, den Großteil der „Mischlinge“ aus der Wehrmacht zu entfernen, so dass auch eine freiwillige Meldung nicht mehr als Option zur Verfügung stand, wie Schild fälschlich an-
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Room Conversation, Schild − Kuftner − Andersch, 15.09.1944, 7.30–11.45 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442. Vgl. zuletzt Meyer, Beate: „Erfühlte und erdachte ‚Volksgemeinschaft‘. Erfahrungen jüdischer ‚Mischlinge‘ zwischen Integration und Ausgrenzung“. In: Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Hg. v. Frank Bajohr u. Michael Wildt. Frankfurt / M. 2009, S. 144–164; Rigg, Bryan Mark: Hitlers jüdische Soldaten. Paderborn [u.a.] 2003, S. 154ff. Meyer: „Volksgemeinschaft“, S. 154.
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nahm.33 Sein Gesprächspartner Andersch wäre in der Lage gewesen, diese Fehleinschätzung zu korrigieren, denn schließlich war er mit dem längst erfolgten Ausschluss der ‚Halbjuden‘ und ihrer Angehörigen aus der Wehrmacht persönlich in Berührung gekommen.34 Anders als gegenüber den Verhöroffizieren hielt Andersch dieses Wissen gegenüber seinen Mitgefangenen jedoch offensichtlich zurück. Von allen denkbaren Deutungen der NS-Rassenpolitik gegenüber den ‚Halbjuden‘ hatte sich Andersch die drastischste Interpretation angeeignet. Dass sich Andersch spätestens zu diesem Zeitpunkt der Gefahr mehr als bewusst war, in der die ‚Halbjuden‘ schwebten, erschwert die Vorwürfe, die seine späteren Kritiker posthum an ihn richteten, als bekannt wurde, dass er im Frühjahr 1943 seiner Gattin den Schutz der gemeinsamen Ehe entzogen hatte. Es wäre freilich der Einwand denkbar, dass Andersch erst zu einem späteren Zeitpunkt, vielleicht sogar erst in der Kriegsgefangenschaft, zu der Einsicht gelangt sein könnte, dass das NSRegime plante, alle ‚Halbjuden‘ zu „ermorden“.35 Nach den unmittelbaren Erfahrungen mit der antijüdischen Politik des Nationalsozialismus, die Andersch während seiner „Mischehe“ und im Zuge seiner eigenen Diskriminierung durch Institutionen wie die Wehrmacht oder die Reichsschrifttumskammer gemacht hatte, konnte für ihn jedoch zumindest kein Zweifel bestehen, dass das Regime entschlossen war, alle ‚Rassenfremden‘ aus der ‚Volksgemeinschaft‘ auszuschließen. So weit das Wissen um den Holocaust in der deutschen Kriegsgesellschaft auch verbreitet war und wie außergewöhnlich informiert sich Andersch zeigte – es ist letztlich nicht mit Gewissheit zu beurteilen, ab wann er davon ausging, dass die NSRassenpolitik auf die physische Vernichtung aller europäischen Juden abzielte.36
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Vgl. Meyer: „Volksgemeinschaft“, S. 154; Döring u. Seubert: „Entlassen aus der Wehrmacht“, S. 178f. Im Frühjahr 1941 hatte Andersch selbst von Hitlers Verfügung über die „Behandlung jüdischer Mischlinge in der Wehrmacht“ profitiert, indem er als „deutschblütiger“ Ehemann eines „jüdischen Mischlings“ vom Militärdienst zunächst ausgeschlossen wurde, vgl. Döring u. Seubert: „Entlassen aus der Wehrmacht“, S. 178ff. So erhielten die Insassen von Fort Hunt z.T. Aufklärungsschriften, auch Andersch bekam am 11. September 1944 ein „newssheet“ zu lesen, an dem ihm jedoch nur der „report of shipment of Germans to Russia“ bemerkenswert erschien. Danach bestand offenbar wiederum Mangel an Lektüre; vgl. die Room Conversations, Andersch − Balcerkiewicz, 11. September 1944, 14.00–17.00 Uhr, sowie 14. September 1944, 7.30–11.45 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442. Vgl. Longerich, Peter: „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1944–1945. München 2006. Anderschs hoher Kenntnisstand fiel Mitgefangenen auf, vgl. die Room Conversation, Sundmacher – Suttner, 15. September 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 552: „Andersch war doch gut unterrichtet.“
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Eines steht jedoch fest: Spätestens seit Herbst 1944 befürchtete Andersch, dass die ‚Halbjuden‘ dem nationalsozialistischen Genozid zum Opfer fallen könnten. Diese Erkenntnis aus den Geheimakten von Fort Hunt liefert einen wichtigen neuen Anhaltspunkt für die Interpretation seiner Werkbiografie, denn Anderschs dramatische Einschätzung über die Gefährdung der ‚Halbjuden‘ bildet ein Indiz für die Ausprägung jenes Schuldkomplexes, der in Teilen der Germanistik als Schlüssel zu seinem späteren literarischen Werk gilt. In Folge der fortgesetzten Debatten um Anderschs Anpassungsleistungen im ‚Dritten Reich‘ entstand in der literaturwissenschaftlichen Forschung die Lesart, dass Andersch die eigenen Verfehlungen in kodierter Form in seinen Texten verarbeitet habe.37 Um seinen „zunehmende[n] Schuldkomplex“ zu bewältigen, habe er noch im Spätwerk literarische „Erinnerungsarbeit“ betrieben, indem er den versäumten Widerstand fiktional nachholte.38 Diese Interpretationslinie blieb jedoch in der Germanistik nicht unumstritten, zumal Andersch seine Empfindungen über die Geschichte seiner ersten Ehe niemals explizit thematisierte, geschweige denn öffentlich seine Reue bekundete. Auch in den wenigen bekannten Selbstzeugnissen fanden sich bislang nur vage Andeutungen auf mögliche Schuldgefühle gegenüber seiner früheren Ehefrau. So notierte Andersch in seinem „Frankfurter Tage- und Nächtebuch“, das aus der Kriegszeit datiert, merklich bekümmert, wie „das Leben der Frau, die ich verlassen habe, seine erstarrende Macht ausdehnt“.39 In einem Brief, den Andersch aus der Kriegsgefangenschaft in Camp Ruston am 8. Oktober 1944 an seine Mutter schrieb, äußerte er die Hoffnung, dass es „Angelika und Suse [...] einigermassen gut geht“ – noch besorgter zeigte er sich allerdings um jene Frau, für die er die Ehe mit Angelika aufgegeben hatte.40 Welche Befürchtungen ihn jedoch auch in Hinblick auf seine erste Ehefrau umtrieben, belegt das jetzt entdeckte Abhörprotokoll des US-amerikanischen Militärnachrichtendienstes mit bislang einmaliger Klarheit. Dass Andersch die im deutschen Reich verbliebenen ‚Halbjuden‘ – und damit auch seine geschiedene Ehefrau –
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Vgl. Reinhardt, Stephan: „Ästhetik als Widerstand – Andersch als Bürger und engagierter Schriftsteller“. In: Heidelberger-Leonard, Wehdeking: Alfred Andersch, S. 32–41, hier S. 35; Heidelberger-Leonard, Irene: „Erschriebener Widerstand? Fragen an Alfred Anderschs Werk und Leben“. In: Dies., Wehdeking: Alfred Andersch, S. 51–61, hier S. 56f., 59; Wehdeking, Volker: „Alfred Anderschs Leben und Werk aus der Sicht der neunziger Jahre. Eine Problemskizze“. In: Heidelberger-Leonard, ders.: Alfred Andersch, S. 13–31, hier S. 14f. Wehdeking: „Anderschs Leben“, S. 14f., 22. Zit. nach: Reinhardt: Andersch, S. 81. Brief Alfred Anderschs aus Camp Ruston an Hedwig Andersch v. 8. Oktober 1944; im Faksimile abgedruckt bei Tuchel: Andersch, S. 38: „Meine Angst um Gisela und die Ihren und ihre Arbeit ist grenzenlos. Ich habe da wahre Schreckensvorstellungen.“
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spätestens seit Herbst 1944 in Todesgefahr wähnte und über ihr Überleben bis Kriegsende in Ungewissheit verharren musste, erhöht die Plausibilität der Vermutung, dass ihn diese Beängstigungen an seine eigene Verantwortung für die Situation seiner früheren Ehefrau gemahnten. In Verbindung mit den Befunden der Literaturwissenschaft, die entsprechende Motive in seinen späteren Texten identifizierte, bekräftigt das Abhörprotokoll aus Fort Hunt damit die Interpretation, dass Andersch sein schriftstellerisches Schaffen auch dazu nutzte, seine lebensgeschichtlichen Belastungen zu bewältigen, indem er eine „Ästhetik der Scham“ entwickelte.41 Diskrepanzen zwischen der Lebensgeschichte des Autors und seinem autobiografischen Narrativ wurden auch in Hinblick auf Anderschs Desertion aus der Wehrmacht vermutet, die für seinen literarischen „Konstruktionsversuch einer widerständigen Identität“ unbestreitbar zentrale Bedeutung besaß.42 Durch den Vergleich der Schilderung der Desertion in Anderschs Kirschen der Freiheit mit der abweichenden Darstellung in der Erzählung „Amerikaner – erster Eindruck“, die Andersch noch im Jahr 1944 verfasst hatte, gelangte Ed Mather zu dem Schluss, dass es sich bei der berühmt gewordenen Fahnenflucht um eine bewusst geschaffene Legende gehandelt habe. Wie Andersch in seiner zeitgenössischen Erzählung selbst angedeutet habe, sei er nicht planvoll zum Gegner übergelaufen, sondern vielmehr zunächst versprengt worden und dann „beim Versuch, sich seiner Truppe wieder anzuschließen, unversehens und völlig unbeabsichtigt in die Hände der Amerikaner“ gefallen.43 Tatsächlich beanspruchte Andersch erst in den Kirschen der Freiheit die viel diskutierte „Ehre des Deserteurs“, während in seiner Erzählung „Amerikaner – erster Eindruck“ von einer Fahnenflucht noch mit keinem Wort die Rede gewesen war.44 Anderschs Gefangenenakte aus Fort Hunt scheint Mathers Vermutung auf den ersten Blick zu bestätigen: In keinem der erhaltenen Vernehmungsberichte und Registrierungsformulare finden sich Hinweise auf die angebliche Fahnenflucht. Dass die angebliche Desertion in seinem Dossier nirgends erwähnt wurde, erscheint umso bemerkenswerter, als die amerikanischen Nachrichtendienstoffiziere in vielen anderen Fällen in ihren Akten festhielten, wenn ein Gefangener während der Befragungen
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Vgl. den Beitrag von Markus Joch in diesem Band. Mather: „Masken“, S. 444. Ebd., S. 449. Vgl. die Erzählung in: GW V. Das Manuskript der Erzählung ist auch in Anderschs USKriegsgefangenenakte in den Unterlagen des OPMG überliefert, dort mit einem Eingangsvermerk v. Januar 1945, siehe Anm. 8.
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zu Protokoll gab, desertiert zu sein.45 Das Fehlen eines entsprechenden Vermerks in Anderschs Gefangenendossier deutet daher darauf hin, dass Andersch in den Verhören von Fort Hunt nicht für sich in Anspruch nahm, sich freiwillig in Gefangenschaft begeben zu haben. Das Schweigen der Quellen ist ein Indiz, aber noch kein Beweis: Schließlich wäre der Einwand denkbar, dass die vermissten Aussagen nur deshalb fehlen, weil sie schlichtweg keinen Eingang in die Aktenüberlieferung gefunden hatten. Denn weder die amerikanische Kriegsgefangenenverwaltung noch der US-Militärnachrichtendienst strebten eine systematische bürokratische Erfassung der Überläufer unter den deutschen Gefangenen an. Neben den überlieferten Registrierungsformularen blieb von den verschiedenen Verhören, denen Andersch in Fort Hunt unterzogen wurde, zudem nur ein einziger Vernehmungsbericht erhalten, der obendrein vergleichsweise knapp gehalten war.46 Doch selbst wenn man annähme, dass sich Andersch in Fort Hunt tatsächlich nicht als Deserteur ausgab, würde hieraus nicht zwangsläufig folgen, dass die später behauptete Desertion nicht stattgefunden hatte. Denn es gab nach Auffassung der Zeitgenossen durchaus Gründe, sich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft nicht als Deserteur zu erkennen zu geben, wenn man wie Andersch daran interessiert war, bei den Vertretern der Gewahrsamsmacht einen positiven Eindruck zu erwecken: Unter den deutschen Gefangenen kursierte die Ansicht, dass gegnerische Überläufer beim amerikanischen Militär in schlechtem Ansehen standen.47 Ähnliche Opportunitätserwägungen könnten erklären, warum sich Andersch auch in seiner Erzählung „Amerikaner – erster Eindruck“, die zur Veröffentlichung in einer Kriegsgefangenenzeitung vorgesehen war, seinem soldatischen
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Vgl. z.B. die Notiz im Feld „Remarks“ auf dem Basic Personnel Record, Gefreiter Rudolf Geigenmüller, o.D.; NARA, RG 165, Entry 179, Box 472: „Was deserter“. Vgl. die Notiz im Feld „Remarks“ auf dem Basic Personnel Record, Pionier Paul Koziol, o.D.; NARA, RG 165, Entry 179, Box 502: „Deserteur“. Vgl. die Notiz im Feld „Remarks“ auf dem Basic Personnel Record, Unteroffizier Karl Schipany, o.D.; NARA, RG 165, Entry 179, Box 539: „Deserted 10 May 1944“. Vgl. die Notiz im Feld „Remarks“ auf dem Basic Personnel Record, Gefreiter Alfred Becker, o.D.; NARA, RG 165, Entry 179, Box 446: „a deserter from german Army“. So sind zu den Verhören, die Andersch z.B. in den Room Conversations v. 12. September und 14. September 1944 gegenüber seinem Zellengenossen erwähnte, in der Akte keine Vernehmungsberichte enthalten, siehe Anm. 70f. Vgl. z.B. die Room Conversation, Flügel – Kohlstrunk, 24. März 1945; NARA, RG 165, Entry 179, Box 468: „K.: Den Überläufern geht es dreckig. Die kommen extra, kriegen schlechte Verpflegung und alles. F.: Geht das von der Genfer Konvention aus? K.: Nein, das machte der Ami von sich aus. Die bestraft er, weil sie kein soldatisches Benehmen haben. Überläufer hat keiner gern.“
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Lesepublikum nicht als Deserteur präsentierte.48 Denn selbst wenn Anderschs zeitnah verfasste Erzählung die Umstände der Gefangennahme wohl „etwas genauer und vermutlich authentischer“49 wiedergab als die entsprechenden Passagen in den Kirschen der Freiheit, ist erwiesen, dass auch dieser Text nicht frei von Stilisierungen und Verdrehungen blieb.50 Letztlich ist die Historizität von Anderschs Desertion auf der Grundlage der Akten von Fort Hunt nicht mit Gewissheit zu beurteilen. Um Anderschs Angaben über den Hergang seiner Fahnenflucht aus einer neuen Perspektive zu überprüfen, bietet es sich an, die erhaltenen deutschen und amerikanischen Militärakten und Lagekarten der am Schauplatz des Geschehens eingesetzten Feldverbände zu konsultieren, was bislang unterblieb.51 Die fortgesetzte Andersch-Sebald-Debatte kreiste zuletzt sogar um Anderschs mehrwöchige Inhaftierung im Konzentrationslager Dachau vom Frühjahr 1933. Auch zu diesem Aspekt der Werkbiografie ergaben Nachforschungen, dass Anderschs Darstellung von den Ereignissen in Dachau, die er in den Kirschen der Freiheit präsentierte, nicht in allen Punkten der Wahrheit entsprechen konnte. Anhand des historiografischen Befunds zur Geschichte des Konzentrationslagers entlarvten Rolf Seubert und Johannes Tuchel eine Reihe von Details in Anderschs angeblich authentischem „Bericht“ als fiktionale Konstruktionen.52 Seuberts detaillierte Recherchen kamen überdies zu dem Ergebnis, dass in den erhaltenen Unterlagen der Gefängniseinrichtungen, durch die Andersch während seiner Haft geschleust wurde, kein Nachweis über seinen Aufenthalt in Dachau zu finden sei. Neue Belege über Anderschs KZ-Haft liefert nun jedoch das Gefangenendossier aus Fort Hunt. Hier bekundete Andersch seine Gefangenschaft in Dachau nicht nur in den Vernehmungen gegenüber den amerikanischen Verhöroffizieren, sondern auch im vertraulichen
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Andersch übersandte die Erzählung um den Jahreswechsel 1944/45 von Camp Ruston aus der Kriegsgefangenenzeitschrift Der Ruf, vgl. den Text samt Begleitschreiben Anderschs, o.D., sowie das Antwortschreiben der Redaktion v. 11. April 1945 in der Kriegsgefangenenakte aus den Unterlagen des OPMG, siehe Anm. 8. Reinhardt: Andersch, S. 104. So etablierte Andersch in dieser Erzählung die Legende, dass er 1941 auf Grund seiner früheren KZ-Haft aus der Wehrmacht entlassen worden sei, vgl. das Manuskript in Anderschs Kriegsgefangenenakte aus den Unterlagen des OPMG, siehe Anm. 8: „‚At the time I participated in the French Campaign, but I was dismissed in spring 1941.‘ ‚Why?‘ ‚Oh,‘ I said, ‚one had remembered my political past; 1933 I had been in a concentration camp, for I had led a socialistic youth organization.‘“ In den Verhören von Pine Grove Furnace und Fort Hunt hatte Andersch noch den wahren Grund seiner Entlassung aus der Wehrmacht zu Protokoll gegeben, siehe Anm. 19f. Um Anderschs Desertion nachzuvollziehen nahm Stephan die örtlichen Schauplätze in Italien in Augenschein, ohne jedoch das überlieferte militärische Aktenmaterial zu berücksichtigen. Vgl. Tuchel: Andersch, S. 31–34; vgl. den Beitrag von Rolf Seubert in diesem Band.
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Gespräch mit seinen Zellengenossen. So registrierte ein Vernehmungsbericht, Andersch „was for sometime in Dachau“; ein zweites Protokoll verzeichnete ebenfalls, dass Andersch „1933 in Concentration [Camp] Dachau“ gewesen sei.53 Auch den Mitgefangenen berichtete Alfred Andersch in den belauschten „Room Conversations“ von Fort Hunt über seine Erfahrungen im Konzentrationslager. Einen Gesprächsanlass hierzu lieferte die Bemerkung seines Zellengenossen Gerhard Schild, der ebenfalls politischer Verfolgung ausgesetzt gewesen war: „Wie ich 1933 im Gefängnis war mit 200 andern Leuten[,] da war ich erstaunt[,] wie viele Kommunisten da waren. Und alle so begeistert wie am ersten Tage. Die anders politisch Gesinnten[,] den wars schon schnuppe[,] aber bei den Kommunisten war die Moral sehr hoch[,] ausgezeichnet.“54 Hierauf pflichtete Andersch bei: „Dasselbe war auch der Fall im KZ.“ Diese Stellungnahme deckte sich mit den Selbstauskünften aus den Kirschen der Freiheit, auch wenn Andersch nicht darauf einging, wie die Einschüchterung durch den nationalsozialistischen Überwachungsapparat dazu beigetragen hatte, dass er sich wenig später von der Kommunistischen Partei abwandte.55 Anschließend fuhr Andersch mit einem weiteren Rekurs auf seine Zeit in Dachau fort: „Im KZ hat es mich ja immer etwas verbittert[,] daß diese andern Voelker, die ja immer behaupten[,] daß sie von Anfang an wußten[,] was für ein Verbrecher Hitler war, trotzdem Deutschland nicht angegriffen haben, was ja damals sehr leicht gewesen wäre. Da mußten sie also warten bis wir aufgerüstet hatten[,] ehe sie sich bereit fanden[,] etwas zu unternehmen.“ Die Vernehmungsberichte und Abhörprotokolle aus Fort Hunt liefern damit die frühesten bekannten Belege über Anderschs Haft im Konzentrationslager Dachau, an deren Historizität kein Zweifel bestehen kann. Nicht zuletzt gewähren die Akten aus Fort Hunt Einblicke in Anderschs zeitgenössische Wahrnehmungen, die sowohl seine Zeitgebundenheit als auch seinen Anschluss an die erinnerungspolitischen Strategien der Nachkriegszeit offenbaren. Anderschs Bild von der deutschen Kriegsgesellschaft gestaltete sich in seinen Äußerungen aus Fort Hunt noch deutlich ambivalenter und skeptischer als in seinen späteren publizistischen Beiträgen. In einer Diskussion über „Germany’s attitude towards modern ideas since 1918“, die Andersch mit seinem Zellengenossen Balcerkiewicz in Fort Hunt führte, bezeichnete er die Deutschen pauschal als antimodernistisch: „He says the Germans were hostile (spiessbürgerlich
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Siehe Anm. 19. Room Conversation, Schild − Kuftner − Andersch, 15. September 1944, 7.30–11.45 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442. Reinhardt: Andersch, S. 47–51.
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und reaktionär) against such modern developments as jazz-music, although before 1933 Germany was becoming a leading power in many cultural aspects, such as architecture, art.“56 Dass Andersch der deutschen Bevölkerung obendrein kaum eine resistente Haltung gegenüber den Zumutungen des NS-Regimes zutraute, artikulierte sich, als das Gespräch in seiner Zelle am darauf folgenden Tag um die Radioansprachen führender Nationalsozialisten kreiste und seine Mitgefangenen abschätzige Bemerkungen über den Redestil Hitlers und Goebbels’ machten; hier warf Andersch ein: „Trotzdem hat jeder doch immer zugehört.“57 Mit dieser Einschätzung korrespondierte, dass Andersch in seiner Denkschrift den Rückhalt der „Oppositionsbewegungen gegen den Nationalsozialismus“ in weiten Teilen der Bevölkerung tendenziell als gering beurteilte.58 Auf der einen Seite erscheint sein Bild von jenen Gesellschaftsgruppen, die er als Träger der Opposition ausmachte, nach heutigem Wissensstand zum Teil allzu günstig. Die Ansicht, dass „mindestens 80% der Angehörigen der freien + geistigen Berufe oppositionell eingestellt [gewesen seien], besonders stark die Ärzte, Wohlfahrtpfleger, Rechtsanwälte + Juristen, und die studierende Jugend“, widerspricht zahlreichen Erkenntnissen über die Rolle der Intellektuellen im ‚Dritten Reich‘.59 Ähnliches gilt für seine pauschalen Aussagen über die angebliche Widerständigkeit der „alte[n] Beamtenschaft + Diplomatie“ gegen die Politik des NS-Regimes.60 Seine Bewertung, dass „weite Offizierskreise Gegner des N.S.“ gewesen seien, wurde indes schon in Fort Hunt widerlegt. Hier klassifizierten die amerikanischen Vernehmungsoffiziere etwa zwei Drittel aller durchgeschleusten deutschen Offiziere als „Nazis“.61 Ein ähnlich hoher Prozentsatz von Offizieren bekannte sich noch in den „Morale Interrogations“ des letzten Kriegsjahrs zu ihrer Loyalität zum Nationalsozialismus;62 ein Meinungsbild, das erst in Anderschs späteren Publikationen
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Room Conversation, Andersch − Balcerkiewicz, 14. September 1944, 7.30–11.45 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442. Room Conversation, Schild − Kuftner − Andersch, 15. September 1944, 7.30–11.45 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442. Hs. Denkschrift Alfred Anderschs: „Deutscher ‚Unterground‘“, o.D.; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442. Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949. München 2003, S. 681–683; vgl. Herbert, Ulrich: „Intellektuelle im ‚Dritten Reich‘“. In: Intellektuelle in der deutschen Politik. Hg. v. Gangolf Hübinger u. Thomas Hertfelder. Stuttgart, München 2000, S. 160–177. Vgl. Wehler: Gesellschaftsgeschichte, S. 725–729. Abschlussbericht des MIS, „Report of the Activities of two Agencies of the CPM Branch, MIS, G-2, WDGS“, o.D. (1945); NARA, RG 165, Entry 179, Box 575, hier S. 51. Dies ergibt die quantitative Auswertung der aus Fort Hunt überlieferten Morale Questionnaires, die mittlerweile in einer elektronischen Datenbank erfasst wurden.
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beiläufig anklang.63 Im Unterschied zu seiner Sicht auf die oppositionellen Eliten attestierte Andersch der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit des ‚Dritten Reichs‘ eine weitgehend opportunistische Haltung. Wie er in seiner Denkschrift darlegte, bildete „das Bestehen deutscher Oppositionsbewegungen“ für die Stabilität des Regimes kaum eine ernsthafte Herausforderung. Denn nach seiner Auffassung stützte sich die NS-Herrschaft nicht allein auf „Terror + Propaganda“, sondern fußte auch „auf der Basis breiter indifferenter oder abwartender Massen und der Jugend, der durch die Aufrüstungs-‚prosperity‘ grosse berufliche und militärische Möglichkeiten geboten wurden“. Anderschs Wahrnehmung, dass der Konformismus gerade in den jüngeren Alterskohorten der deutschen Kriegsgesellschaft die oppositionellen Regungen bei weitem überwog, bildete einen auffallenden Kontrast zu seinen publizistischen Beiträgen aus der Nachkriegszeit. In seinen Artikeln für die aus der Kriegsgefangenschaft hervorgegangene Zeitschrift Der Ruf räumte er zwar ein, dass das „junge Deutschland“ auch und gerade in der Wehrmacht „für eine falsche Sache [...] stand“. Nichtsdestoweniger attestierte Andersch der „jungen Generation“ uneingeschränkte „NichtVerantwortung für Hitler“. Der „älteren deutschen Generation“ schrieb er im Ruf die Schuld am Aufstieg des Nationalsozialismus zu, während er in Fort Hunt in den bürgerlichen Eliten noch die Träger der Opposition gesehen hatte. Auch seine Behauptung im Ruf, dass jeder ehemalige „junge Offizier“ nach dem Krieg auf die Frage nach den Verbrechen nur mit „einem knappen ‚Ich weiß von nichts!‘ antworten konnte“,64 widersprach seinen eigenen Kenntnissen von den „Greueltaten“,65 über die er bereits im Frühherbst 1944 in Fort Hunt diskutiert hatte.66 Das „Selbstmitleid,
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Vgl. Der Ruf. Eine deutsche Nachkriegszeitschrift. Hg. v. Hans Schwab-Felisch. München 1962, S. 64f., 67, 214. Vgl. Gallus, Alexander: „‚Der Ruf‘ – Stimme für ein neues Deutschland“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 25 (2007), S. 32–38. Zitate aus Anderschs Artikeln im Ruf v. 15. August und 15. Oktober 1946; Schwab-Felisch: Ruf, S. 26ff., 65. Zu Anderschs Kenntnissen von „Greueltaten“ vgl. die Room Conversation, Andersch − Balcerkiewicz, 12. September 1944, 7.30–12.00 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442: „B. Ich habe ihm [dem Vernehmungsoffizier] von die [sic] politische + moralische Lage in Deutschl. erzählt. A. Hast Du die Greueltaten bestätigt. B. Ja“. Sein Mitgefangener Schild besaß zudem detailliertes Wissen über Kriegsverbrechen, das er den Verhöroffizieren weitergab und zumindest auch seinem Zellengenossen Kuftner mitteilte, vgl. die hs. Aufzeichnungen und Vernehmungsberichte in Schilds Gefangenenakte; NARA, RG 165, Entry 179, Box 538. Vgl. die Room Conversation, Schild – Kuftner, 12. September 1944, 19.25–22.45 Uhr; ebd.: „S[child] describes how regimental commander had ordered killing of French inhabitants“. Zu den Differenzen zwischen späteren Publikationen und zeitgenössischen Vorstellungen zählte auch Anderschs Plädoyer für die „stärkste Dezentralisierung des Reiches“, worunter er offenbar vor allem die Absage an den großdeutschen Pangermanismus und eine föderalistische „Neu-Ordnung im deutschen Raum“ verstand, vgl. Anderschs Denkschrift „Deut-
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Entschuldungsbegehren und die Verwischung der Unterschiede zwischen Soldaten und Verfolgten des NS-Regimes“,67 welche die Germanistik in seinen späteren Texten ausmachte, erscheint vor diesem Hintergrund vor allem als ein Produkt der Vergangenheitspolitik der Nachkriegszeit.68 Die erinnerungspolitischen Akzentverschiebungen aus der Zeit nach dem Einschnitt von 1945 lagen in Fort Hunt noch in weiter Ferne. Streng genommen stellten zwar selbst die Akten aus „P.O. Box 1142“ retrospektive Quellen dar, weil zwischen Fronteinsatz, Gefangennahme und Internierung in Fort Hunt für die abgeschöpften Wehrmachtssoldaten mehrere Wochen vergehen konnten. Obwohl die Gefangennahme für viele Soldaten den Anlass bildete, ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg zu reflektieren, führte dies jedoch noch nicht zum Ausstieg aus ihren zeitgenössischen Wahrnehmungen, Einstellungen und Alltagsüberzeugungen. Das Material aus Fort Hunt bildete weiterhin den Referenzrahmen des Krieges ab. Erst nach Kriegsende wandelte sich auch Anderschs Perzeption. So kritisch sich Andersch noch in Fort Hunt über die deutsche Kriegsgesellschaft auch äußerte, schien er sich von der Identifikation mit seinem Heimatland dennoch nicht vollständig gelöst zu haben. So gehörte es in Anderschs zeitgenössischer Denkschrift ebenfalls zu den nicht explizierten, selbstverständlichen Prämissen, dass die staatliche Ordnung Deutschlands „einer nationalen Begründung“ in den Traditionen „deutschen Nationalgefühls“ bedurfte.69 Genauso schwang die Hoffnung auf den Erhalt nationaler Einheit mit, als Andersch am 12. September 1944 seinem Zellengenossen mit spürbarer Zustimmung erklärte, dass die Alliierten „anscheinend [...] doch Deutschl[and]. als ein Staat für sich selbst bestehen lassen“ wollten.70 Umso verstörter zeigte sich Andersch zwei Tage später nach einem Verhör, in dem der Vernehmungsoffizier ihn mit der „idea of splitting Germany into provinces“ konfrontiert hatte – der mithörende Nachrichtendienstmitarbeiter notierte, dass ihm Andersch „very impressed“ erschienen sei, als er die vorangegangene Befragung
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scher ‚Unterground‘“, siehe Anm. 58. Dagegen engagierte er sich im Ruf später bekanntlich für ein vereintes, zentralisiertes Nachkriegsdeutschland, vgl. z.B. den Artikel v. 15. August 1946; Schwab-Felisch: Ruf, S. 59ff. Braese, Stefan: „Unmittelbar zum Krieg – Alfred Andersch und Franz Fühmann“. In: Nachkrieg in Deutschland. Hg. v. Klaus Naumann. Hamburg 2001, S. 473–497, hier S. 477. Vgl. auch Dunker, Axel: „‚Du verbreitest Schrecken um dich‘. Faschismus, Antisemitismus und Gewalt im Werk Alfred Anderschs“. In: Gewalt und kulturelles Gedächtnis. Repräsentationsformen von Gewalt in Literatur und Film seit 1945. Hg. v. Robert Weninger. Tübingen 2005, S. 181–192. Hs. Denkschrift Alfred Anderschs: „Deutscher ‚Unterground‘“, o.D.; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442. Room Conversation, Andersch − Balcerkiewicz, 12. September 1944, 7.30–12.00 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442.
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rekapitulierte.71 Auch dass Andersch „nichts gutes [...] von Paulus[’] u. Seydlitz’ Bewegungen“ hielt, beruhte möglicherweise auf mehr als nur seiner Ablehnung der stalinistischen Sowjetunion, der er als „absoluter Gegner“ gegenüberstand.72 Neben den patriotischen Anklängen deutete sich in Anderschs Einschätzungen über die Kampfmoral der deutschen Fronteinheiten, für deren Schwanken er die höhere Führung verantwortlich machte,73 zugleich eine Identifikation mit militärischen Wertmaßstäben an, die auf ähnlichen Vorannahmen zu beruhen schienen wie seine brieflichen Bekenntnisse, „Spaß“ daran zu haben „100%ig Soldat [zu] sein“, seine anfängliche Verachtung für die „üble Drückeberger-Atmosphäre“ in seiner Einheit sowie sein Vorhaben, „als Reserve-Offiziers-Bewerber anzukommen“74. Zumindest belegt die Textstelle, dass er offensichtlich klare Vorstellungen davon besaß, was gute Kampfmoral ausmachte und eine fähige militärische Führung auszeichnete. Die Art, wie Andersch über die Wehrmacht redete, unterschied sich jedenfalls deutlich vom Ton derjenigen Kriegsgefangenen, die in den „Room Conversations“ von Fort Hunt gegen den deutschen Militarismus wetterten und sich von allen soldatischen Wertvorstellungen lossagten.75 Der kolportierte soldatische Habitus des Autors, seine einsatzwilligen, patriotischen Feldpostbriefe sowie die militärfreundlichen Artikel im Ruf stehen in offenkundigem Widerspruch zu jenem anti-militaristischen Gestus, der in den Kirschen der Freiheit aufschien. Auch diese Inkonsistenzen zählen zu den Diskrepanzen zwischen Anderschs Lebensgeschichte und seinem autobiografischen Narrativ. Anderschs Bekenntnisse zum Ethos des Militärs als „bizarr“76 zu verwerfen oder seine Affinität zu Ernst Jünger als „nicht mehr recht nachvoll-
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Room Conversation, Andersch − Balcerkiewicz, 14. September 1944, 7.30–11.45 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442. Ebd.: „Ich habe kein Hehl davon gemacht dass ich absoluter Gegner von Russland bin, dass ich nichts gutes halte von Paulus’ u. Seydlitz’ Bewegungen.“ Room Conversation, Andersch − Balcerkiewicz, 11. September 1944, 14.00–17.00 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442: „Feels that the morale of front line troops in Anzio was not too good due to bad leadership. Further away from the front morale was much better.“ Zitate aus Anderschs Briefen an seine Mutter v. 06. Dezember 1943 und 31. Mai 1944. In: Alfred Andersch: „...einmal wirklich leben“. Ein Tagebuch in Briefen an Hedwig Andersch 1943 bis 1975. Hg. v. Winfried Stephan. Zürich 1986, S. 19f., 41f.; vgl. auch Anderschs spätere Auffassungen von den „erstaunlichen Waffentaten junger Deutscher“, ihrer „Treue“, „Tapferkeit“ und „Inbrunst“ in seinem Artikel im Ruf v. 15. August 1946; Schwab-Felisch: „Ruf“, S. 27f. Vgl. z.B. die Room Conversation, Thomas − Rohsmann – Böhm, 21. Januar 1945; NARA, RG 165, Entry 179, Box 554: „Ich fühle mich als ein Zivilist, auf Grund meiner Einstellung, kein Soldat.“ So Reinhardt: Andersch, S. 88, 91.
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ziehbar“77 zu bezeichnen, wird jedoch eher normativen Vorstellungen der Gegenwart gerecht, als dass solche Bewertungen dazu beitragen, den zeitgenössischen Referenzrahmen des historischen Akteurs adäquat zu erfassen. Der Widerwillen gegen Krieg und Militär, der in den Kirschen der Freiheit vor allem im Zusammenhang mit der Erörterung des Eidbruchs zum Ausdruck kam, basierte auf Anderschs konzeptionellem Entschluss, „eine Art Magna Charta des Soldaten der Zukunft“78 zu konstruieren, lässt aber nur sehr bedingt Rückschlüsse auf die frühere Haltung des damaligen Wehrmachtsangehörigen zu. Zudem ließ sich der Text auch anders lesen. Manche Germanisten erkannten in Anderschs Werk geradezu eine „Mythisierung des Krieges“, attestierten ihm „ästhetische Militanz“ sowie eine betont „soldatisch-männliche Haltung“.79 Tatsächlich scheint eine Reihe von Textstellen in diese Richtung zu weisen.80 Dass Anderschs Literatur geradezu „kontaminiert [sei] mit dezidierten Bestimmungen des Soldatischen und Kriegerischen, mit Entschiedenheit, Ermannung, Kälte, Klarheit, Eindeutigkeit und so fort“,81 ist anhand seiner Texte freilich kaum nachvollziehbar und erscheint überzogen; nicht von ungefähr konkurrierten mit solchen pointierten Deutungen auch weiterhin ganz anderslautende Lesarten.82 Festzuhalten bleibt jedoch, dass in den zeitgenössischen Quellen, die Einblick in Anderschs Weltsicht gewähren, keine Anhaltspunkte für eine ausgeprägte Abneigung gegen das Militär und dessen Wertesystem zu finden sind und die späteren literarischen Selbstdarstellungen in dieser Hinsicht kaum Quellenwert beanspruchen können. Die erhaltenen Selbstzeugnisse aus der Kriegszeit weisen eher auf eine Identi-
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So Hanuschek in der Frankfurter Rundschau, siehe Anm. 20. Disposition für „Kapitel 7/Der Eid“, zit. nach: Korolnik u. Korolnik-Andersch: Sansibar, S. 44. Schütz, Erhard: „Fluchtbewegung, militant. Zu Alfred Anderschs Krieg“. In: Von Böll bis Buchheim. Deutsche Kriegsprosa nach 1945. Hg. v. Hans Wagener. Amsterdam, Atlanta 1997, S. 183–198. Der Autor führt einige Beispiele für die in Anderschs Werk konstatierte „ästhetische Militanz“ an, in vielen anderen Fällen löst er sich jedoch sehr weit vom Text oder verzichtet ganz auf Textbelege für seine z.T. sehr pointierten Urteile. Eine Betonung männlicher, soldatischer Tugenden lässt sich sogar in der Darstellung der Desertion in den Kirschen der Freiheit nachvollziehen: Zwar kommt der „Anteil der Angst an der Desertion“ zur Sprache, indes sollte die „letzte Entscheidung aber durch den Mut“ fallen, wie Andersch in einer konzeptionellen Skizze festlegte, zit. nach: Barner, Wilfried: „Alfred Andersch. Die Kirschen der Freiheit. Zeitsignatur, Form, Resonanz“. In: Zeit der Moderne. Zur deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Hg. v. Hans-Henrik Krummacher, Fritz Martini u. Walter Müller-Seidel. Stuttgart 1984, S. 1–23, hier S. 9. Schütz: „Fluchtbewegung“, S. 186. Vgl. Barner: „Andersch“, S. 1f., der an den Kirschen der Freiheit hervorhebt, dass man darin weder dem „apologetischen Memoirenstil der Generäle noch dem Landserjargon des unteren Dienstgrads“ oder dem „privaten Künstlertum im soldatischen Schutz einer ‚aristokratischen Form der Emigration‘“ begegne.
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fikation mit dem Ethos der Wehrmacht hin. Wie auch immer er seine Rolle als Wehrmachtsangehöriger verstand: Bis Andersch dem Krieg im Juni 1944 entkam, verhielt er sich wahrscheinlich ähnlich wie die überwältigende Mehrheit der Soldaten in der Wehrmacht – angepasst, pflichtbewusst und darauf bedacht, die Erwartungen der Vorgesetzten und seiner sozialen Umgebung zu erfüllen.83 Anderschs Akte aus Fort Hunt wirft darüber hinaus weitere Schlaglichter auf die Genese seiner Literaturproduktion. Ein Berührungspunkt zu seinem späteren Werk ergab sich, als das Gespräch mit seinen Mitgefangenen in Fort Hunt am Vormittag des 15. September 1944 auf Heinrich Himmler kam, den Anderschs Vater persönlich gekannt hatte und dessen Vater Anderschs Gymnasialdirektor gewesen war.84 Die Begegnung mit dem Oberstudiendirektor Gebhard Himmler am Münchner Wittelsbacher Gymnasium zwischen 1924 und 1928 verarbeitete Andersch 1979/80 in seiner letzten, viel gelesenen Erzählung Der Vater eines Mörders.85 Im Nachwort zu diesem autobiografischen Text verwahrte sich Andersch zwar dagegen, die Frage beantworten zu können, „wie der Unmensch und der Schulmann miteinander zusammenhängen“.86 Die Charakterisierung Gebhard Himmlers aus der Perspektive des Schülers Franz Kien, Anderschs erklärtem Alter Ego, gestaltete sich dennoch derart düster,87 dass die Literaturkritik die Erzählung als Lehrstück darüber auffasste, wie an der wilhelminischen Schule „der Boden für den NS-Totalitarismus bereitet“ worden sei.88 Während Andersch in seiner Erzählung die Interpretation anbot, dass „der junge Himmler“ nur deshalb „ein Hakenkreuzler geworden“ sei, „weil ihm der Alte so auf den Kasten ging“, hatte er sich zum Zeitpunkt seiner Internierung in Fort Hunt jedoch noch eine deutlich abweichende Erinnerung an Gebhard Himmler bewahrt.89 Zu den Äußerungen seiner Zellengenossen, die Heinrich Himmler als „irgendwie nicht normal“ bezeichneten, bemerkte Andersch: „Ja, der kommt von einer ganz gebildeten
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Vgl. Neitzel, Sönke u. Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt / M. 2011. Vgl. Reinhardt: Andersch, S. 25, 28. Zum Text der Erzählung und zu ihrer Rezeption vgl. GW V, S. 227–302, 518–524. GW V, S. 298f. Mit dem Schuldirektor sind durchgängig negative Konnotationen und Attribute verbunden, u.a. wird er als „tückisch“, „gefährlich“ „bösartig“ und „unerbittlich“ bezeichnet; GW V, S. 246, 255f., 264. Grimm, Gunther E.: „Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Die Maske des Bösen“. In: Interpretationen. Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Bd. 2. Stuttgart 1996, S. 224–251, hier S. 228ff.; Heßling, Rüdiger: „Faschismusanalyse als Literatur. Zu Alfred Anderschs autobiographischer Erzählung ‚Der Vater eines Mörders‘“. In: Das Wort 6 (1991), S. 259–267. GW V, S. 260.
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Familie. Beamte. Sein Vater war ein ganz netter alter Herr mit Spitzbart, der sich nach dem Hitlerputsch mit seinem Sohn verkrachte.“90 Während die vermeintliche Entzweiung mit dem „jungen Himmler“ in Anderschs Erzählung später wiederkehrte, in der Vater und Sohn als „tödlich verfeindet“ galten, hatte Andersch alle „netten“ Züge des „alten Himmler“ in seinem literarischen Portrait wegretuschiert.91 Möglicherweise meinte der Autor nur durch diese Komplexitätsreduzierung seiner Erzählung die Wirkung einer „politische[n] Bombe“ verleihen zu können, die er sich von ihr erwartete.92 Anderschs Interpretation wurde in der Historiografie häufig aufgegriffen, hielt der Bewertung von Himmlers Werdegang jedoch letztlich nicht stand, da die familiengeschichtlichen Privatquellen belegten, dass trotz großer Strenge im Elternhaus weder von „einer extrem autoritären Erziehung“ noch von „schwerwiegenden politischen Differenzen zwischen Vater und Sohn“ die Rede sein konnte.93 Anderschs Fiktionalisierung Gebhard Himmlers bietet jedoch ein weiteres Beispiel dafür, wie weit er sich auch bei der Konstitution seiner Figuren von den historischen Vorbildern löste und damit die „Literarisierung der Autobiographie“94 betrieb.95
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Room Conversation, Schild − Kuftner − Andersch, 15. September 1944, 7.30–11.45 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442. GW V, S. 260. Zu den Retuschen zählte auch die Auslassung von Himmlers „Spitzbart“. In seiner „Skizze zu einem jungen Mann“ von 1941 hatte das Attribut bei Oberstudiendirektor Mächler, dem Vorbild für die spätere Konstitution der Figur Himmlers, noch dazu beigetragen, darüber hinwegzutäuschen, „welch mephistophelischer Geist in dem stattlichen Mann mit dem weißen Spitzbart [...] lebte“, vgl. Wehdeking: Andersch, S. 119; Hacks, Corinna: „Die ‚Sorge um Klarheit‘: Zur Arbeitsweise des Autors am Beispiel der Textgenese des ‚Vater eines Mörders‘“. In: Heidelberger-Leonard u. Wehdeking: Alfred Andersch, S. 153–158, hier S. 157. Zu Himmlers Bart vgl. die Photographien bei Longerich, Peter: Heinrich Himmler. Biographie. München 2008, S. 62. Die Diskrepanzen zwischen historischer und fiktionaler Figur lösten bereits nach der Veröffentlichung der Erzählung Reaktionen von ehemaligen Mitschülern aus, die „Anderschens Märchen“ kritisierten, vgl. Grimm: „Andersch“, S. 238f. Vgl. Reinhardt: Andersch, S. 624. Vgl. Longerich: Himmler, S. 19f., 68, 112ff., Zitat: S. 759. Lamping: „Erzählen“, S. 222. GW V, S. 294–301. Im Nachwort problematisierte Andersch das Verhältnis von Fiktion und Realität, betonte jedoch „den Charakter der Erzählung als einer strikt autobiographischen Erinnerung“.
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Anderschs Gesinnungsgenossen: „Anti-Nazis“ zwischen Konformismus und Dissens Mit einer weiteren Person, die später als fiktionale Figur in seinem Werk wiederkehrte, hatte Andersch in Fort Hunt sogar eine Zelle geteilt: Der Waffen-SS-Soldat und Regimegegner Gerhard Schild war sowohl in „P.O. Box 1142“ als auch in Camp Ruston mit Andersch zusammen interniert und ging später in der Gestalt des Maxim Lederer in die Erzählung „Festschrift für Captain Fleischer“ ein.96 Die Akten aus Fort Hunt belegen, dass Lederers Lebensgeschichte, wie Andersch sie in seiner Erzählung skizzierte, mit der Biografie Gerhard Schilds in wesentlichen Punkten übereinstimmt, ohne vollständig deckungsgleich zu sein.97 Ebenso wenig schlugen sich Lederers „fanatische[] Geschichten aus der Emigration“, die er seinem Schicksalsgenossen Franz Kien erzählte, in Schilds Gefangenenakte aus Fort Hunt nieder; zumindest gingen keine entsprechenden Äußerungen in die beiden überlieferten Abhörprotokolle ein, die Gespräche zwischen Andersch und Schild wiedergaben.98 Anders als der verbittert wirkende Lederer, dem in Hinblick auf seine ehemaligen politischen Gesinnungsgenossen nur das Verdikt einfiel, dass „die Kommunistische Partei verkommen“ sei, lobte Schild in Fort Hunt die Unbeugsamkeit der kommunistischen Aktivisten in der Haft der NS-Polizei.99 In einer Hinsicht übertraf Schild seine Mitgefangenen jedoch durchaus an Radikalität: Keiner der übrigen „Anti-Nazis“ in seiner Umgebung in Fort Hunt schien derart entschieden mit seinem Heimatland gebrochen zu haben wie er. Wie Schild seinem Zellengenossen Kuftner gegenüber zum Ausdruck brachte, empfand er es geradezu als „eine Catastrophe [sic], dass wir in diesem Scheissland geboren sind“.100 Anders als bei vielen
_____________ 96
Vgl. die Erzählung in: GW V, S. 57–73. Bislang blieb offen, inwieweit Lederer eine Verkörperung Schilds darstellte oder die Züge von Walter Kolbenhoff trug, eines weiteren Weggefährten aus Camp Ruston und der „Gruppe 47“; vgl. Wehdeking, Volker: Der Nullpunkt. Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945-1948) in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern. Stuttgart 1971, S. 13f., 180; Reinhardt: Andersch, S. 109. 97 Lederers Andeutungen über seine Inhaftierung in NS-Deutschland und seine Prager Emigration deckten sich mit Schilds Selbstauskünften aus Fort Hunt. Während Lederer jedoch direkt „aus Prag nach Deutschland“ zurückgekehrt war, führte Schilds Weg eigenen Angaben zufolge im Sommer 1937 zunächst nach Belgien, wo er nach dem deutschen Einmarsch 1940 erneut inhaftiert wurde.; vgl. GW V, S. 59, 65; Report on Interrogation of Schild, Gerhard, Fort Hunt, 14. September 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 538. 98 GW V, S. 59, 65; vgl. die Room Conversation, Schild – Kuftner – Andersch, 15. September 1944, 7.30–11.45 Uhr, sowie die nur knappe Room Conversation v. 15. September 1944, 13.00–17.00 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 442. 99 Vgl. Anm. 54. 100 Room Conversation, Schild – Kuftner, 12. September 1944, 19.25–22.45 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 538.
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Mitgefangenen, stießen selbst die massiven Zerstörungen, die Schild nach alliierten Flächenbombardements in Berlin beobachtet hatte, bei ihm auf Zustimmung.101 Seinen Mitgefangenen Kuftner, der zwar ebenfalls dem NS-Regime ablehnend gegenüberstand, aber dennoch seine Identität als „ein guter Deutscher“ zu bewahren suchte und vor allzu weitgehender Kooperation mit den Kriegsgegnern zurückscheute, bemühte er sich davon zu überzeugen, im Verhör rückhaltlos auszusagen.102 Schild selbst zeigte sich bereit, den Vernehmungsoffizieren „alles [zu] sagen“, „militärische Geheimnisse“ eingeschlossen.103 Schilds oppositionelle Haltung gegenüber dem NS-Regime äußerte sich außerdem in seiner rückblickenden Bemerkung, er „habe jüdischen Freunden geholfen bei [ihrer] Auswanderung“.104 Umso ambivalenter gestaltete sich Schilds Dienstzeit in der WaffenSS, in die er nach eigenen Angaben Ende 1943 einberufen wurde.105 Zwar räumte er ein, dass insbesondere unter den Mannschaftsdienstgraden bei weitem nicht alle Angehörigen der Waffen-SS als „Nazis“ anzusehen seien.106 Für seine Kameraden im Stab des SS-Panzergrenadier-Regiments 38, mit dem er als Teil der 17. SS-Panzergrenadier-Division Götz von Berlichingen den Krieg in Frankreich erlebte, brachte Schild dennoch nichts als Verachtung auf, wie er seinem Zellengenossen in Fort Hunt bekundete:
_____________ 101 Room Conversation, Kuftner – Schild, 13. September 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 504: „Krieg ist eben Krieg. Wenn die Amerikaner nicht mit dem Bombenteppich gekommen waeren, waeren wir eben nicht zurueckgegangen. Es muessen [sic] eben erst eine Menge kaputt gehen, damit die Sache wieder ins Laufen kommt.“ Vgl. zu Schilds eigenen Beobachtungen über die Auswirkungen des Bombenkrieges in der Room Conversation v. 14. September 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 538: „In Berlin, da sind ganze Stadtviertel, die sind vollständig zerstört, da wohnt kein Schwanz mehr, höchstens da mal eine alte Frau noch, die sich von ihren Trümmern nicht trennen kann... Alles absolut tot.“ 102 Room Conversation, Kuftner – Schild, 13. September 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 504: „...hier kannst du nicht einerseits und andererseits sagen. Der Krieg wird gefuehrt von dem Nationalsozialismus. Das Deutsch Volk fuehrt den Krieg ja nicht, die sind ja nur verdummt worden. Und je schneller der Krieg zu Ende ist, desto besser für das deutsche Volk. Und je mehr ich dazu beitragen kann, desto besser. Verstehst du?“ 103 Room Conversation, Schild – Kuftner, 12. September 1944, 19.25–22.45 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 538. 104 Ebd. 105 Report on Interrogation of Schild, Gerhard, Fort Hunt, 14. September 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 538. Für den Personalersatz der Waffen-SS galt zu diesem Zeitpunkt zwar noch der Grundsatz der Freiwilligkeit, doch gab es bereits vereinzelte Aushebungen, vgl. Rohrkamp, René: „Weltanschaulich gefestigte Kämpfer“. Die Soldaten der Waffen-SS 1933– 1945. Organisation, Personal, Sozialstruktur. Paderborn u.a. 2010, S. 378–391. 106 Report on Interrogation of Schild, Gerhard, Fort Hunt, 14. September 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 538.
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„Ich war beim Stab, ich hasste alle.“107 Während der Operationen an der Westfront wurde Schild überdies Zeuge einer Reihe von Kriegsverbrechen an Zivilisten und Kriegsgefangenen, über die er den Vernehmungsoffizieren in Fort Hunt empört Bericht erstattete.108 So wenig sich Schild mit seiner militärischen Rolle identifizierte, konnte er sich doch nicht vollständig dem Krieg entziehen. An den Gefechten seines Regiments war er derart aktiv beteiligt, dass er vor seiner Gefangennahme verwundet wurde.109 In Gefangenschaft geriet er erst an jenem 29. Juli 1944, an dem die Division Götz von Berlichingen in der Normandie zerschlagen wurde.110 In den Kämpfen hatte er nach eigenem Bekunden sogar mehrere Gegner getötet: „Ein paar Franzosen habe ich umgelegt. Ich musste, sonst hätten die mich – Aber Amerikaner keine, da habe ich in die Luft geschossen.“111 Die situative Konstellation, die Schild als Zwangslage beschrieb, um sein Handeln zu erklären, lässt sich nicht rekonstruieren. Dass selbst Soldaten, die das Regime und seinen Krieg entschieden ablehnten, dennoch als Bestandteile der Kriegsmaschine funktionierten, verweist freilich erneut darauf, wie zwingend die sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen in der Wehrmacht Konformismus produzierten. Selbst das Schießen „in die Luft“ lässt sich nur als Teil einer Anpassungsstrategie verstehen, die Schild verfolgt haben muss, um das Handeln „mit den anderen“ zumindest zu simulieren und damit seinem „sozialen Tod“ in der Gruppenkultur der militärischen Einheit vorzubeugen.112 Ebenso verband ihn seine Fähigkeit zur Rationalisierung des Tötens, das er als Selbstverteidigung einordnete, mit der Mehrheit seiner Mitkämpfer. Schließlich bildete die Gewissheit, über Strategien der nachträglichen Sinnstiftung zu verfügen, die Voraussetzung dafür, überhaupt tödliche Gewalt ausüben zu können.113 Schilds einschneidende Erfahrungen als
_____________ 107 Room Conversation, Schild – Kuftner, 12. September 1944, 19.25–22.45 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 538. 108 Vgl. den Report on Interrogation of Schild, Gerhard, Fort Hunt, 14. September 1944, sowie Schilds detaillierten Aufzeichnungen über die entsprechenden Vorfälle, o.D.; NARA, RG 165, Entry 179, Box 538. So berichtete er über den SS-Hauptsturmführer Kurt Wahl, dass „im Juni / Juli 1944 [...] auf seinen Befehl französische Häuser geplündert und französische Zivilisten grundlos erschossen (bei Marchesieux)“ worden seien. 109 Room Conversation, Schild – Kuftner, 12. September 1944, 19.25–22.45 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 538. 110 Vgl. Tessin, Georg: Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939–1945. Bd. 4. Osnabrück 1980, S. 77. 111 Room Conversation, Kuftner – Schild, 13. September 1944, 7.45–14.15 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 504. 112 Kühne, Thomas: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert. Göttingen 2006, S. 88, 204, 272. 113 Vgl. Welzer, Harald: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt / M. 2006, S. 38–41, 47.
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Frontsoldat begründeten möglicherweise auch jenen Selbstvorwurf, den er in seiner für „P.O. Box 1142“ verfassten Denkschrift als Teil des Selbstverständnisses aller „Nazi-Gegner“ beschrieb: das Bewusstsein, von den „Verbrechen der Nazis [...] meist aus eigener Anschauung“ Kenntnis besessen, aber die „Politik“ der „Nazis“ „stillschweigend geduldet“ zu haben.114 Neben Schild hinterließen in Fort Hunt noch weitere „Anti-Nazis“ ihre Spuren, die zu bekannten Weggefährten aus Anderschs Kriegsgefangenschaft zählten. Der Leutnant Curt Vinz115 und der Obergefreite Irmfried Wilimzig116 waren nach ihrer Gefangennahme in Europa zwischen Juli und Oktober 1944 durch Fort Hunt geschleust worden, bevor sie im „Anti-Nazi“-Lager von Camp Ruston mit Andersch zusammentrafen und sich später mit ihm in der Redaktion des Ruf engagierten. Sowohl Vinz als auch Wilimzig präsentierten sich in Fort Hunt sowohl den Vernehmungsoffizieren als auch ihren Mitgefangenen als bekennende Gegner des Nationalsozialismus. Wilimzig gab im Verhör zu Protokoll, dass er sowohl die Herrschaft der NSDAP als auch ihr Parteiprogramm ablehne, selbst wenn er einzelne positive Seiten an Hitler und seinem Regime finden konnte.117 Dass sich Wilimzig tatsächlich kaum als „Nazischwein“118 verstand, bewies er auch in den Unterhaltungen mit seinen Mitgefangenen; eine pejorative Konnotation des Nationalsozialismus verband sich nicht zuletzt mit seiner Feststellung, „das[s] es keinen großen Unterschied zwischen Faschismus und Bolschewismus gibt“.119 Auch Curt Vinz distanzierte sich in den Verhören entschieden vom NS-Regime, betonte, „not
_____________ 114 Hs. Denkschrift Gerhard Schilds, ohne Titel, o.D.; NARA, RG 165, Entry 179, Box 538. 115 Geb. 12. Dezember 1908 in Lauenstein / Sachsen, wohnhaft in Wien, evangelisch, Abitur, im Zivilberuf Verlagskaufmann, zuletzt eingesetzt im Heereswaffenamt in Paris, dort am 25. August 1944 in Gefangenschaft geraten; in Fort Hunt v. 22. September – 03. Oktober 1944. Vgl. Vinz’ Gefangenenakte aus Fort Hunt; NARA, RG 165, Entry 179, Box 557. Zu Vinz’ Transfers vgl. die Akten des OPMG; NARA, RG 389, Entry 452a, Box 1377. Vinz teilte in Ruston sogar eine Baracke mit Andersch und avancierte nach Kriegsende zum Verleger des Ruf in München; vgl. Wehdeking: Nullpunkt, S. 10f., 15–21; Reinhardt: Andersch, S. 112, 116f., 123. 116 Geb. 08. Januar 1907 in Breslau, evangelisch, Hochschulbildung, im Zivilberuf Regisseur, zuletzt eingesetzt im Gren.Rgt. 954 und am 24. Mai 1944 in Italien gefangen genommen; in Fort Hunt v. 27. Juli – 03. August 1944. Vgl. Wilimzigs Gefangenenakte; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563; Wehdeking: Nullpunkt, S. 17; Reinhardt: Andersch, S. 111, 123. Zu Wilimzigs Transfers vgl. die Akten des OPMG; NARA, RG 389, Entry 452a, Box 1377. 117 Morale Questionnaire, Obergefreiter Irmfried Wilimzig, 02.08.1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563. 118 Room Conversation, Dreher − Wilimzig, 28. Juli 1944, 7.30–11.00 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563. 119 Room Conversation, Dreher – Wilimzig, 30. Juli 1944, 20.00–22.00 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563.
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party member“ gewesen zu sein, und bezeichnete sich als „Democrat“.120 In der Gefangenenunterkunft versicherten Vinz und sein Zellengenosse sich gegenseitig ihrer Identität als „outright A[nti-]N[azis]“.121 Sowohl Vinz als auch Wilimzig bezogen in den „Room Conversations“ überdies eindeutig Stellung gegen die antisemitische Rassenpolitik des NS-Regimes, über die beide weitreichende Kenntnisse zu besitzen schienen.122 Im Verhör legte Vinz zudem Wert darauf, für einen ehemaligen Offizierskameraden aus seinem Pariser Stab Fürsprache zu halten, der „repeatedly helped Jews who were arrested by SD, and of whom he learned, getting them out of KZ“.123 Neben dem Gegensatz zum Nationalsozialismus offenbarten Vinz und Wilimzig zugleich weitreichende Übereinstimmungen mit grundlegenden Normen des militärischen Systems. Vinz’ ungebrochenes Zugehörigkeitsgefühl zur Wehrmacht drückte sich bereits in seiner Weigerung aus, den Vernehmungsoffizieren militärisch verwertbare Informationen preiszugeben. Zwar räumte er ein, „that he feels that war is lost for Germany“, doch im Unterschied zu Antifaschisten wie Gerhard Schild insistierte Vinz, „that he cannot take it upon himself to give out detailed information of value to the enemy“.124 In den vertraulichen „Room Conversations“ mit seinen Mitgefangenen kam Vinz zu keiner günstigeren Beurteilung der strategischen Lage, die er als hoffnungslos einschätzte.125 Welche Maßstäbe Vinz dieser Analyse zu Grunde legte, offenbarte eine prinzipielle Bemerkung, mit der er seine Ansicht unterstrich, dass die Fortsetzung des Krieges „vergeben[s]“ sei: „Ich muss irgendwo einen Sinn sehen“ – um bereit zu sein, weiter zu kämpfen, setzte Vinz bei seinem Zuhörer als gedankliche Ergänzung voraus.126 Was Vinz hier implizierte,
_____________ 120 Report of Interrogation, Vinz, Curt, Fort Hunt, 03. Oktober 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 557. 121 Room Conversation, Petri– Vinz, 26. September 1944, 15.00–17.00 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 557. 122 Room Conversation, Vinz – von Eckartsberg, 24. September 1944, 8.15–11.45 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 557: „They discuss the Jewish question. [...] they both deplore the way the jews were handled.“ Room Conversation, Dreher − Wilimzig, 28. Juli 1944, 7.30–11.00 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563: „... ich hab’s bestimmt nie gern gesehen wenn sie es mit den Juden in Deutschland machten... [...] Nazischwein haben sie gerufen + solch ... können wir uns auch beschweren. Dann würden sie uns nur fragen: Was habt ihr denn mit den Juden gemacht + den Polen?“. 123 Report of Interrogation, Vinz, Curt, Fort Hunt, 03. Oktober 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 557. 124 Ebd. 125 Room Conversation, Vinz – Petri, 26. September 1944, 15.00–17.00 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 557: „Thinks situation hopeless. [...] Hopes it won’t last much longer. ‚Alles Blut, was jetzt fliesst ist vergeben[s].‘“ 126 Ebd.
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aber nicht aussprach, weil es ihm offensichtlich selbstverständlich erschien, brachte die internalisierten Gewissheiten dieses „Anti-Nazis“ über Militär und Krieg umso authentischer zum Ausdruck. Krieg per se wurde nicht grundsätzlich als falsch gedacht. Die Sinnhaftigkeit eines Krieges bestimmte sich Vinz’ Auffassung zufolge in erster Linie danach, inwieweit nach nüchterner Abwägung der militärischen Lage noch Aussichten bestanden, zu einem siegreichen Abschluss zu kommen. Auf dieser Grundannahme basierte wohl auch Vinz’ Bedauern über strategische Missgriffe der deutschen Kriegführung, das er wiederholt erkennen ließ. Den entscheidenden Fehler erblickte Vinz darin, dass das Deutsche Reich nicht bei den Eroberungen von 1939/40 stehen geblieben war: „Germany was foolish to continue war after conquering France, that by so doing the war got too big for Germany to handle.“127 Alle entstehenden Nachteile für die deutsche Kriegführung waren in Vinz’ Wahrnehmung – anders als etwa bei Gerhard Schild – mit eindeutig negativen Konnotationen belegt. Dies zeigte sich nicht zuletzt in seinem Kommentar zu den Äußerungen seines Zellengenossen, der die deutsche Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten darauf zurückführte, dass „wir [...] als Verbündeter von Japan“ zu diesem Schritt verpflichtet gewesen seien; hierauf entgegnete Vinz: „Die Achsenpolitik hat uns genug Unheil eingebracht. Denken Sie an Italien.“128 Mit der Exterritorialisierung der Verantwortung für die beklagten Fehlentwicklungen verbanden sich nicht nur in diesem Fall pejorative Assoziationen mit anderen Nationen. Ähnlich konstruiert erschien auch Vinz’ Erinnerung an den Untergang der Weimarer Republik: „Die d[eu]t[sche]. Demokratie scheiterte am Chauvinismus des Franzosen.“129 Eine nationalbewusste Abgrenzung zu den Nachbarvölkern sprach außerdem aus Vinz’ Erzählungen über die deutsche Kapitulation in Paris und die französische „Volksmenge“, die daraufhin „tobte“: „Das hat mich alles sehr erschüttert, dass so was in Paris möglich ist. Ich glaube, in Berlin und Hamburg wäre das nicht möglich, dass die Bestie Mensch so zum Durchbruch kommt.“130 Die Aneignung militärischer Normen und eine ausgeprägte Identifikation mit der Nation trat auch in Wilimzigs Selbstthematisierungen in Fort Hunt zu Tage. Wie Wilimzig in einem seiner Verhöre zu Protokoll
_____________ 127 Room Conversation, Vinz – Petri, 27. September 1944, 7.30–12.00 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 557. 128 Room Conversation, Vinz – von Eckartsberg, 24. September 1944, 11.50–17.00 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 557. 129 Room Conversation, Vinz – Petri, 26. September 1944, 15.00–17.00 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 557. 130 Room Conversation, Vinz – von Eckartsberg, 23. September 1944, 7.30–11.50 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 557.
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gab, hatte er vor der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs in Großbritannien gelebt; aus Pflichtbewusstsein sei er jedoch zurückgekehrt.131 Genauso wenig wie dieses Bekenntnis verhehlte Wilimzig den Vernehmungsoffizieren seinen Glauben daran, dass das Deutsche Reich noch in der Lage sei, die Fronten zu stabilisieren und die drohende Niederlage zu verhindern.132 In einem weiteren Verhör erwiderte Wilimzig auf die Frage, ob er sich „freuen [würde], wenn die Alliierten den Krieg gewinnen“, ähnlich selbstbewusst: „Ich würde mich nicht darüber freuen, weil ich fürchten müsste, dass Deutschland dann völlig kaputt geht, wenn die Alliierten den Krieg gewinnen“.133 Auf die Aktivitäten des Nationalkomitees Freies Deutschland angesprochen, reagierte Wilimzig ablehnend, schließlich „ist doch eine deutsche Regierung da, ich sehe nicht ein, was man bei einer solchen Bewegung machen soll“. In den vertraulichen Dialogen mit seinen Mitgefangenen äußerte sich Wilimzig nicht anders. Den aus deutscher Perspektive ungünstigen Kriegsverlauf sah er mit Bedauern und äußerte seine Zuversicht, dass „Deutschland nicht zusammenklappt“, sowie seinen Stolz darüber, „das[s] es nicht so einfach ist um Deutschland zu besiegen“ [sic].134 Genauso deckten sich seine Einschätzungen über die operativen Aussichten der Wehrmacht mit seinen Prognosen aus den Verhören, wie eines der Abhörprotokolle zusammenfasste: „Thinks Germans can hold advance of Americans in Normandy the way they want it.“135 Dass Wilimzig einer möglichen Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands kaum etwas abzugewinnen vermochte, und wie weit er davon entfernt schien, den Krieg grundsätzlich in Frage zu stellen, korrespondierte mit seiner unübersehbaren Identifikation mit dem Militär
_____________ 131 Morale Questionnaire, Obergefreiter Irmfried Wilimzig, 02. August 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563: „His unsympathetic attitude toward the regime was the reason why up until war-outbreak he spent most of his time abroad in England, France etc. However he felt it his duty to return to Germany when war broke out. He says that it would have been the easy way out for him to let himself be interned in England but that he nevertheless felt an obligation.“ 132 Ebd.: „P/W believes that the war will end in a compromise. [...] He does not think that the invasion has been decisive. He believes that both, the Russian and the invasion fronts, will eventually be stabilized.“ 133 Interrogation Wilimzig – Malner, Fort Hunt, 02. August 1944, 22.35 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563. 134 Room Conversation, Dreher − Wilimzig, 30. Juli 1944, 12.00–17.00 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563: „Wenn wir nur mehr Leute gehabt hätten. [...] Es kommt alles darauf an das[s] Deutschland nicht zusammenklappt. Wir müssen unsere militärische Selbstständigkeit behalten.“ 135 Room Conversation, Dreher – Wilimzig, 28. Juli 1944, 11.55–15.30 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563.
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und dessen Wertesystem.136 Dies klang nicht nur an, als er im Verhör beiläufig den ehernsten Grundsatz des Militärs reproduzierte: „Befehl ist Befehl[,] selbstverständlich, besonders in der Front“.137 Das Bild von der Wehrmacht, das Wilimzig in Fort Hunt kommunizierte, gestaltete sich in jeder Hinsicht positiv und systemkonform; die deutschen Truppen rühmte er als „the most daring soldiers“.138 Im Gegensatz dazu wusste er von den amerikanischen Soldaten, dass sie als „not [...] too good“ galten und sich vor allem auf „masses of material and especially on artillery“ verließen.139 Vor dem Hintergrund, dass Wilimzig die „Fighting Qualities“ von Kampftruppen in erster Linie daran maß, inwieweit sie sich als „daring“ präsentierten, offenbarten sich die negativen Implikationen in seiner Beschreibung der amerikanischen Taktik. Hinter der Unterstellung, die USStreitkräfte erzielten ihre Erfolge nicht durch persönlichen Einsatz, sondern durch ihr Aufgebot von Material, verbarg sich der Vorwurf der Feigheit. Diesem Verdikt lag offensichtlich ein Tapferkeitsideal zu Grunde, das Tatkraft und Wagemut im Kampf als höchste Tugenden weit über Technikbeherrschung stellte. Mit dieser Auffassung korrespondierte, dass Wilimzig noch in der Gefangenschaft die taktischen Entscheidungen seiner Vorgesetzten in Frage stellte, die seine Einheit erst in die Lage manövriert hatten, kapitulieren zu müssen.140 Neben Wilimzigs Identifikation mit dem Wertesystem von Nation und Militär belegt seine Akte aus „P.O. Box 1142“ zugleich, wie weitgehend die Aussagen aus den „Morale Interrogations“ mit den Äußerungen aus den „Room Conversations“ kongruierten und sich Vernehmungsberichte und Abhörprotokolle wechselseitig in ihrer hohen Aussagefähigkeit bestätigten.
_____________ 136 Vgl. Morale Questionnaire, Obergefreiter Irmfried Wilimzig, 02. August 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563: „He blames the existing hostilities on England’s policy of Balance of Power in Europe.“ 137 Interrogation Wilimzig – Malner, Fort Hunt, 02. August 1944, 22.35 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563. 138 Morale Questionnaire, Obergefreiter Irmfried Wilimzig, 02. August 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563. 139 Ebd. 140 Vgl. Morale Questionnaire, Obergefreiter Irmfried Wilimzig, 02. August 1944; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563: „P/W as well as the whole regimental staff were surprised by American tanks and one of the German officers raised the white flag of surrender when he saw that the situation was apparently hopeless. This officer acted for all of the officers and men who had thus been encircled. P/W believes that they could have avoided capture if they had withdrawn earlier.“
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Fazit Die kürzlich entdeckten Akten aus dem geheimen US-amerikanischen Vernehmungslager Fort Hunt offenbaren eine Reihe von bislang unbekannten Details aus der Lebensgeschichte Alfred Anderschs, die neues Licht auf seine Werkbiografie werfen und zu einzelnen Streitpunkten der fortgesetzten Andersch-Sebald-Debatte mehr Klarheit schaffen. Die Dokumente zeigen, dass Andersch schon in Fort Hunt auf die Strategie verfiel, sich Vorteile in der Gefangenschaft zu verschaffen, indem er sich wahrheitswidrig auf seine Ehe mit einer ‚Halbjüdin‘ berief. Zu Anderschs Falschaussagen in den Verhören von „P.O. Box 1142“ gehörte außerdem, dass er seine KZ-Haft in Dachau deutlich übertrieb und sein früheres Engagement in der Kommunistischen Partei verleugnete. Mit dieser Art von Selbstdarstellung verfolgte er offenbar das Ziel, sich für den politischen Wiederaufbau in amerikanischen Diensten zu empfehlen. Daneben ging es ihm erklärtermaßen darum, seine konfiszierten Papiere zurückzuerhalten, die er für seine schriftstellerischen Ambitionen benötigte. Aus Anderschs lebensgeschichtlichen Angaben, die er in den Verhören von Fort Hunt machte, geht in diesem Zusammenhang zudem eindeutig hervor, dass er den tatsächlichen Grund seiner Entlassung aus der Wehrmacht vom Frühjahr 1941 gekannt hatte, was in der Debatte um seine Biografie bis zuletzt umstritten geblieben war. Die neue Sachlage bekräftigt die Interpretation von Jörg Döring und Rolf Seubert, die vermuteten, dass Andersch seinen zeitweiligen Ausschluss vom Wehrdienst selbst betrieben hatte. Neben der Instrumentalisierung seiner geschiedenen Ehe belegt Anderschs Gefangenenakte aus Fort Hunt zugleich, dass ihn das Schicksal seiner früheren Ehefrau dennoch nicht losließ: Wie eines der erhaltenen Abhörprotokolle zeigt, ging er spätestens seit Herbst 1944 davon aus, dass die im deutschen Reich verbliebenen ‚Halbjuden‘ – also auch seine geschiedene Ehefrau Angelika – in Todesgefahr schwebten. Dieser Nachweis besitzt Neuigkeitswert, weil bislang keine Anhaltspunkte dafür vorlagen, inwieweit Andersch die Bedrohung seiner früheren Ehefrau durch die nationalsozialistische Judenverfolgung bewusst gewesen war. Zwar sagt Anderschs Äußerung aus Fort Hunt nichts darüber aus, wie er Angelikas Gefährdung zum Zeitpunkt der Scheidung einschätzte. Der Beleg über Anderschs schwerwiegende Befürchtungen bildet aber ein neues Indiz für die Plausibilität der Vermutung, dass sich dem späteren Schriftsteller in diesem Zusammenhang Schuldgefühle aufdrängten, die sich in seinem Werk in Form einer „Ästhetik der Scham“ niederschlugen. Ein weiterer Aspekt, der in den Debatten um die lebensgeschichtlichen Hintergründe seiner literarischen Selbstdarstellung kritisch hinterfragt wurde, betraf
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Anderschs Desertion aus der Wehrmacht. Die Akten aus Fort Hunt können diese berühmt gewordene Fahnenflucht weder bestätigen noch widerlegen, auch wenn die erhaltenen Unterlagen nahe legen, dass sich Andersch in den Verhören während der Kriegsgefangenschaft noch nicht als Deserteur bezeichnete. In Hinblick auf Anderschs KZ-Haft wiederum entkräftet das Gefangenendossier aus Fort Hunt jeden Zweifel an der Historizität seiner Gefangenschaft in Dachau. In den Akten aus Fort Hunt werden somit sowohl Verstrebungen als auch Brechungen zwischen autobiografischem Narrativ und Lebensgeschichte des Autors sichtbar. Daneben ermöglichen es die Akten aus Fort Hunt, Andersch und seine Gesinnungsgenossen mentalitätshistorisch präziser zu verorten. Andersch und die „Anti-Nazis“ repräsentierten ein Segment der Wehrmacht, das zwischen Konformismus und Dissens oszillierte. Von linkssozialistischen Vorstellungen standen sie ähnlich weit entfernt wie von genuin nationalsozialistischen Positionen. Sie hingen weder pazifistischen noch aggressiven bellizistischen Vorstellungen nach. Aktiven Widerstand zu leisten oder sich den Kriegsanstrengungen der Nation zu verweigern, fiel ihnen jedoch ebenso wenig ein, wie sie die Rassen- und Vernichtungspolitik des Regimes unterstützen konnten. So differenziert, wie sich die „Anti-Nazis“ in das politische Spektrum der Kriegsgesellschaft zwischen totalitarismuskritischer Linke und liberalem Bürgertum einordneten, verkörperten sie als Soldaten die Heterogenität der Wehrmacht und den Pluralismus der Wahrnehmungen und Sinnkonstruktionen, der in ihr herrschte. Selbst unter diesen „Anti-Nazis“ divergierte die Perzeption von Diktatur und Krieg. Während die einen das NS-Regime zumindest für die Dauer des Krieges weiterhin als „deutsche Regierung“ begriffen, sprachen die anderen von „Diktatur“, „Nazi-System“ und „Barbarei“.141 Den einen galt die „Jugend“ der deutschen Kriegsgesellschaft als Hoffnungsträger der „Nazi-Opposition“, während die anderen die „Jugend“ zu den Stützen des Regimes zählten.142 Jenseits solcher reflektierter Zuschreibungen wiesen die „Anti-Nazis“ auf einer tiefer liegenden Ebene, die sich vor allem in den unausgesprochenen Prämissen ihrer Selbstthematisierungen artikulierte, zugleich signifikante Überschneidungen auf, die sie wohl weit über ihr politisches Lager und ihr sozialmoralisches Milieu hinaus mit breiten Bevölkerungsgruppen verbanden. Unbenommen aller antifaschistischen Bekenntnisse bewahrten sich viele „Anti-Nazis“ ein ausgeprägtes „deutsches Nationalgefühl“ und das Selbstverständnis als „guter Deutscher“. Hiermit verband sich in nicht
_____________ 141 Zu den Formulierungen vgl. die Interrogation Wilimzig – Malner v. 02. August 1944, siehe Anm. 133, die Denkschrift Schilds, siehe Anm. 114, sowie die Room Conversation, Dreher – Wilimzig, 29. Juli 1944, 12.00–15.40 Uhr; NARA, RG 165, Entry 179, Box 563. 142 Vgl. die Denkschriften Anderschs und Schilds, siehe Anm. 58, 114.
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wenigen Fällen eine profunde Identifikation mit militärischen Normen. Elementare Kategorien wie „Ehre“, „Pflicht“, „Tapferkeit“ und „Nation“ waren auch für viele „Anti-Nazis“ keine Fremdworte, sondern erschienen vielmehr als selbstverständliche Grundbegriffe ihrer mentalen Rahmungen. Neben institutionellen und sozialen Zwängen gewährleistete wohl vor allem die Internalisierung solcher weithin geteilter, alltagsweltlicher Basisüberzeugungen, die älter und abstrakter waren als der Nationalsozialismus, dass selbst „Anti-Nazis“ aus regimefernen Kreisen bereit waren, sich in die Wehrmacht zu integrieren und der Kriegsmaschine des ‚Dritten Reichs‘ zu dienen, obwohl sie Hitlers Herrschaft und seine Ideologie ablehnten. Auch diese Erfahrung zählte zu den kollektiven Hypotheken der NS-Zeit, für deren Rationalisierung die deutsche Gesellschaft nach 1945 erinnerungspolitische Strategien benötigte. In dieser Perspektive besitzt Alfred Anderschs schriftstellerische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur neben ihrer literarisch-ästhetischen Dimension zugleich beträchtlichen Quellenwert als historisches Zeugnis der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Auch deshalb erscheint es erhellend, die Verflechtungen zwischen Biografie und Narrativ zu entwirren.
Literatur Andersch, Alfred: „einmal wirklich leben“. Ein Tagebuch in Briefen an Hedwig Andersch 1943–1975. Hg. v. Winfried Stephan. Zürich 1986. Andersch, Alfred: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe. Bd. V: Erzählungen. 2. Autobiographische Berichte. Hg. v. Dieter Lamping. Zürich 2004. Barner, Wilfried: „Alfred Andersch. ‚Die Kirschen der Freiheit‘. Zeitsignatur, Form, Resonanz“. In: Zeit der Moderne. Zur deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Hg. v. Hans-Henrik Krummacher, Fritz Martini u. Walter Müller-Seidel. Stuttgart 1984, S. 1–23. Braese, Stefan: „Unmittelbar zum Krieg – Alfred Andersch und Franz Fühmann“. In: Nachkrieg in Deutschland. Hg. v. Klaus Naumann. Hamburg 2001, S. 473–497. Döring, Jörg u. Rolf Seubert: „‚Entlassen aus der Wehrmacht: 12.03.1941. Grund: ‚Jüdischer Mischling‘ - laut Verfügung‘. Ein unbekanntes Dokument im Kontext der Andersch-SebaldDebatte“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 151 (2008), S. 171–184. Dunker, Axel: „‚Du verbreitest Schrecken um dich‘. Faschismus, Antisemitismus und Gewalt im Werk Alfred Anderschs“. In: Gewalt und kulturelles Gedächtnis. Repräsentationsformen von Gewalt in Literatur und Film seit 1945. Hg. v. Robert Weninger. Tübingen 2005, S. 181–192. Gallus, Alexander: „‚Der Ruf‘ – Stimme für ein neues Deutschland“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 25 (2007), S. 32–38. Grimm, Gunther E.: „Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Die Maske des Bösen“. In: Interpretationen. Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Bd. 2. Stuttgart 1996, S. 224–251. Gurfein, Murray I. u. Morris Janowitz: „Trends in Wehrmacht Morale“. In: Public Opinion Quarterly 10 (1946), S. 78–84. Hacks, Corinna: „Die ‚Sorge um Klarheit‘: Zur Arbeitsweise des Autors am Beispiel der Textgenese des ‚Vater eines Mörders‘“. In: Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Hg. v. Irene Heidelberger-Leonard u. Volker Wehdeking. Opladen 1994, S. 153–158.
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Schütz, Erhard: „Fluchtbewegung, militant. Zu Alfred Anderschs Krieg“. In: Von Böll bis Buchheim. Deutsche Kriegsprosa nach 1945. Hg. v. Hans Wagener. Amsterdam, Atlanta 1997, S. 183– 198. Schwab-Felisch, Hans (Hg.): Der Ruf. Eine deutsche Nachkriegszeitschrift. München 1962. Sebald, W.G.: „Between the devil and the deep blue sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden in der Vorsehung“. In: Lettre International 20 (1993), S. 80–84. Stephan, Winfried: Über Die Kirschen der Freiheit von Alfred Andersch. Frankfurt / M. 1992. Tessin, Georg: Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939–1945. Bd. 4. Osnabrück 1980. Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt – in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Anette Korolnik-Andersch. München 2008, S. 30–41. Wehdeking, Volker: Der Nullpunkt. Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945– 1948) in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern. Stuttgart 1971. – Alfred Andersch. Stuttgart 1983. – „Alfred Anderschs Leben und Werk aus der Sicht der neunziger Jahre. Eine Problemskizze“. In: Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Hg. v. Irene HeidelbergerLeonard u. dems. Opladen 1994, S. 13–31. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949. München 2003. Welzer, Harald: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt / M. 2006. Williams, Rhys W.: „Survival without Compromise? Reconfiguring the Past in the Works of Hans Werner Richter and Alfred Andersch“. In: Flight of Fantasy. New Perspectives on Inner Emigration in German Literature 1933–1945. Hg. v. Neil H. Donahue u. Doris Kirchner. New York 2003, S. 211–222.
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Zur Causa Andersch: Symptome einer verschwiegenen Adaption Alfred Anderschs Sansibar oder der letzte Grund (1957) und die intertextuellen Bezüge zum NS-Roman Mein Freund Sansibar ([1938] 1939) von Kuni Tremel-Eggert. Mit einem kurzen Hinweis auf Bodo Uhses Roman Leutnant Bertram (1943) [...] ich wollte mir ja eine Modell-Situation ausdenken, und dazu muss man manchmal das allzu Realistisch-Genaue verwischen. Unser Leben [...] ist ein in Geschichten verstricktes Leben, in Geschichten ohne Anfang und Ende, mit Horizont nach allen Seiten. Ich habe ein schlechtes Gedächtnis. Ich erinnere mich nicht an mein Leben. Ich erinnere mich an Augenblicke meines Lebens. Mein Leben verdichtet sich in Erinnerungen an Augenblicke. Alfred Andersch (1958, 1977, 1981)1
1. Notwendige Hinweise „Er wischte, wie immer,“ lässt Alfred Andersch seinen Helden Lothar Witte 1963 in der Erzählung „Ein Liebhaber des Halbschattens“ bekennen, „die Erinnerung an gewisse Dokumente weg, die er damals gelesen hatte“. Er folge der mütterlichen Einsicht: „Man lässt sich nicht gerne an die Wirklichkeit erinnern“: denn Amnesie sei, so belehrt der Autor, eine notwendige Funktion der „Anamnese“. Und nur so gelang es ihm, im
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Andersch, Alfred: „Aktion ohne Fahnen. Eine Situation in einem Hörspiel“. Hessischer Rundfunk (Typoskript). Erstsendung: 9. Juni 1958. Frankfurt / M. 1958; ders.: „Bücher schreiben und Filme machen – zwei Berufe in einem Boot“ (1977), zit. n.: Wehdeking, Volker: „Alfred Anderschs Leben und Werk aus der Sicht der neunziger Jahre: Eine Problemskizze“. In: Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Hg. v. Irene HeidelbergerLeonard u. Volker Wehdeking. Opladen 1994, S. 13–31, hier: S. 21; ders.: „Der Erzählte“. In: Kürbiskern (1981), H. 1, S. 114.
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Kriege „weder ein Täter noch ein Opfer gewesen“ zu sein, „sondern einer, der sich von der Tat wie vom Opfer drückte.“2 Was der Autor fiktionalisiert mitteilt, bestätigt er 1977 und 1981. „Unser Leben“, konstatiert er, sei „ein in Geschichten verstricktes Leben“. Für diese habe er „ein schlechtes Gedächtnis“, denn seine „Erinnerungen“ speicherten lediglich „Augenblicke“ seines „Lebens“.3 Nehmen wir ihn beim Wort, dann attestiert er sich eine selektierende Erinnerung und ein selektives Gedächtnis. Auch wenn er vermutlich die literarästhetische Transformation von Wirklichkeit gemeint hat, so wird aber zugleich eine selbst exkulpierende Begründung dafür mitgeliefert, dass sein in Geschichte, auch in die des Nationalsozialismus „verstricktes Leben“ autobiografisch und literarisch ihm nur unvollständig, zumindest aber verundeutlicht mitteilbar erscheint. Volker Wehdeking greift die Äußerungen auf und benennt die Bedingung von Anderschs Umgang mit history, story und life story: „Faschismus gleich Emigration aus der Geschichte, kein Stoff für Autobiographisches, gelöschtes Gedächtnisprotokoll;“4 denn allen autobiographischen und fiktionalen Darstellungen seiner Lebensphase zwischen zwanzig und dreißig, zweifellos prägenden Jahren, gibt Andersch den Charakter einer langen, verdrängten Fermate des Faschismus und der Introversion. Da wird immer wieder der Sprung von 1933, dem Jahr von Dachau [...] unmittelbar ins Jahr der Desertion 1944 vollzogen [...].5
Anderschs nachgewiesene Neigung zum Verdrängen von biografischen Informationen betreffen vor allem jene, die, aus Gründen des Selbstschutzes und der Glaubwürdigkeit seines Moralismus’, das zelebrierte ideologiekritische Verhältnis zum Nationalsozialismus, den Anspruch des zeitkritischen Literaten und seinen literarischen Erfolg beeinträchtigen könnten. Sprechen und Schreiben ex cathedra – das thematisieren die Andersch/Sebald-Debatte6 und jüngste Dokumentationen7 – leisten jene
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Andersch, Alfred: „Ein Liebhaber des Halbschattens“. In: ders.: Meistererzählungen. Zürich 1992., S. 44–87, hier: S. 61f. Andersch: „Bücher schreiben“, S. 21; Andersch: „Der Erzählte“, S. 114. Wehdeking, Volker: „‚Erinnerte Gestalten‘: Ein unbekannter Alfred Andersch der Jahre im Dritten Reich“. In: Sprache im technischen Zeitalter 27 (1989). H. 112, S. 286–295. Ebd., S. 286. Ritter, Alexander: „Eine Skandalinszenierung ohne Skandalfolge. Zur so genannten Andersch-Kontroverse in den 1990er Jahren“. In: Literatur als Skandal. Hg. v. Johann Holzner u. Stephan Neuhaus. Göttingen 2007, S. 469–479. Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt – in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Anette Korolnik-Andersch. München 2008, S. 30–41; Döring, Jörg u. Rolf Seubert: „‚Entlassen aus der Wehrmacht: 12.03.1941. Grund: ‚Jüdischer Mischling‘– laut Verfügung‘. Ein unbekanntes Dokument im Kontext der Andersch-Sebald-Debatte“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 151 (2008), S. 171–184; Römer, Felix: „Alfred Andersch abgehört.
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Selbststilisierung, die sich der Verbindung von öffentlich verdeckter Erinnerung, dem modischen linksintellektuellen Diskurs, seiner Literatenbedeutung, einer pragmatischen Literaturmarktorientierung, aber auch verschwiegener Umstände seiner Lesebiografie und Schreibgeschichte bedient. Es hat sich bislang noch niemand danach erkundigt, wie denn Andersch auf den markanten Titel seines Sansibar-Romans gekommen und welchen literarischen Vorbildern er verpflichtet sei. Auch neuere Äußerungen sparen beide Fragen aus.8 Das verwundert, zumal der Autor auf entsprechendes Nachsuchen u.a. durch Horst Bienek auffällig dilatorisch reagiert. In dem Interview von 1961 stellt dieser zweimal die Frage, wie er dazu gekommen sei, seinen „ersten Roman Sansibar oder der letzte Grund zu schreiben“.9 Andersch geht darauf nicht ein. Stattdessen korrigiert er mit renommierendem Unterton, dass dieser zwar sein erster Roman sei, aber das zweite Buch nach dem „autobiographische[n] Bericht Die Kirschen der Freiheit, 1952 [...]“. Bienek insistiert. Erneut weicht Andersch aus. Er ignoriert die Nachfrage und verweist auf eine nebulöse „immer anhaltende, allmählich eine Art magische Qualität annehmende Erinnerung an eine Wanderung, die ich im Jahre 1938 an der mecklenburgischen Ostseeküste unternahm“.10 Es ist dieses unnachgiebige Ausweichen in Verbindung mit apodiktischen Setzungen, die jedes Nachfragen unterbinden sollen. Das gelte auch für sein publiziertes Werk, belehrt Andersch, denn es sei definitiv „fertig“. Es stünde alles „drin“. Man habe daher grundsätzlich zu ‚schweigen‘,11 denn „wer sich selbst kommentiert, geht unter sein Niveau“. Solche sich selbst verordnete Strategie des Verschweigens und der zu verhindernden Kommunikation zwischen Autor und Leser sowie die sich selbst anklagenden Aussagen im Zusammenhang traumatischer Erfahrungen von
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Kriegsgefangene ‚Anti-Nazis‘ im amerikanischen Vernehmungslager Fort Hunt“. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4 (2010), S. 563–598. Hinderer, Walter: „Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund“. In: Interpretationen. Romane des 20. Jahrhunderts. Bd. 2. Stuttgart 1993, S. 59–94; Lamping, Dieter: „Alfred Andersch“. In: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Hg. v. dems. Bd. 1. Zürich 2004, S. 442–461; Bürger, Jan: „Sansibar, sonderbar“. In: Sansibar ist überall, S. 59–67. Bienek, Horst: „Alfred Andersch“. In: ders.: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München 1976, S. 137–151. Wieder in: Ritter, Alexander: Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 2003, S. 93–96. Andersch: „Aktion ohne Fahnen“. Vgl. Einführung durch den „Erzähler“, S. 3-5. Andersch, Alfred: „Pflaumen für Dramatiker“. In: ders.: Meistererzählungen, S. 188, 186; Andersch, Alfred: Die Kirschen der Freiheit. Zürich 1971 [Sigle: KF], S. 45f.: „Ich [...] ignorierte die Gesellschaft, die sich rings um mich als Organisationsform den totalen Staat errichtete. Der Ausweg, den ich wählte hieß Kunst. [...] Ich antwortete auf den totalen Staat mit der totalen Introversion. [...] Nachträgliche Erklärungen sind niemals stichhaltig.“
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Nationalsozialismus und Weltkrieg provozieren berechtigte Rückfragen zum Produktionskontext des Sansibar-Romans. Natürlich, literarische Weltdarstellung folgt in der Regel Vorbildern und ist Einfluss ausgesetzt.12 Das entlehnende Umschreiben zu Gunsten eines literarästhetisch überzeugenden Konzeptes ist legitim. Schriftsteller haben regelhaft respektvoll darauf hingewiesen, welcher literargeschichtlichen Tradition sie sich verpflichtet sehen. Andersch dagegen vermeidet in auffälliger Weise, sich vollständig zu den Traditionslinien seines Schreibens zu äußern. Es bieten sich folgende Möglichkeiten der Erklärung dafür an. Der Autor befürchtet durch die Aufdeckung der Vorlagen, dass die Öffentlichkeit an der Originalität seiner literarischen Themen, Stoffe und deren Ausgestaltung zweifeln könnte. Wenn diese Annahme zutrifft, dann signalisiert solch Verhalten beides, ein Unbehagen desjenigen, der sich anderer Autoren Leistungen bedient hat, und die Unsicherheit hinsichtlich der Qualität seines erzählerischen Talentes. Das, was hier als bewusste Enthistorisierung von Urheberbiografie und Schreibgeschichte einzuschätzen ist und eine Form der bewussten Exkulpierung annehmen lässt, das ist zugleich eine poetologische Attitüde, die – wie zu zeigen sein wird – Stoffwahl und Handlungsgang des Sansibar-Romans bestimmt. Der Forschungsdiskurs zu diesem Roman wird davon maßgeblich beeinflusst. Das gilt auch für die zwei Biografien, die beide weitgehend dem publiken Entwurf von Anderschs Selbstbildnis folgen. Bemerkenswert an Stephan Reinhardts Darstellung aber ist, dass diese ein öffentliches Erkundigen nach dem vom Autor selbst kaschierten Verhältnis zum Nationalsozialismus anstößt.13 Der Anregung, die auch die Erkundigung nach Anderschs Literaturkenntnis einschließt, wird in der Andersch-Philologie jedoch nicht konsequent nachgegangen, weil diese die Forschung zur NS-Kulturpolitik und der komplexen Literaturszene im ‚Dritten Reich‘, besonders der nationalsozialistischen Literatur, in ihren Diskurs nicht einbezieht. Selbst wenn das geschehen wäre, hätte sich nicht die Aufmerksamkeit auf die hier anzusprechende Kuni Tremel-Eggert richten können. Zwar gehört sie zu den nachdrücklich geförderten Autoren des ‚Dritten Reichs‘ und ist die erfolgreichste NS-Literatin, aber die Forschung hat erst in jüngster Zeit zum Literaturleben der NS-Zeit differenziert Stellung genommen.14
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Dazu beispielhaft Weber, Ulrich: „Kafka – Dürrenmatt. Angst vor dem Einfluss?“ In: Kafka verschrieben. Hg. v. Irmgard Wirtz. Göttingen 2010, S. 135–151. Jendricke, Bernhard: Alfred Andersch. Reinbek bei Hamburg 1988; Reinhardt, Stephan: Alfred Andersch. Eine Biographie. Zürich 1990, S. 238f. Ohne Verweise auf Tremel-Eggert: Graeb-Könneker, Sebastian: Autochthone Modernität. Eine Untersuchung der vom Nationalsozialismus geförderten Literatur. Opladen 1996; ders. (Hg.):
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Die folgenden Ausführungen gehen von diesen Thesen aus: 1) Der ideologiekritische, somit politische und zeitgeschichtliche Roman Sansibar oder der letzte Grund (1957; Sigle: SB)15 von Alfred Andersch ist zwei literarischen Vorbildern verpflichtet, Kuni Tremel-Eggerts antisemitischem Blut-und-Boden-Roman Freund Sansibar. Ein Roman aus unseren Tagen ([1938] 1939; Sigle: FS)16 sowie vermutlich auch Bodo Uhses antifaschistischem Zeitroman Leutnant Bertram (1943).17 Anderschs und Tremel-Eggerts Roman stimmen in der thematischen Ausrichtung des politischen Widerstandes und der Bewährung des Einzelnen zu Gunsten der Menschen prinzipiell überein. Sie unterscheiden sich durch die entgegengesetzte weltanschauliche Position, in der narrativen Umsetzung und der NS-geschichtlichen Einbettung, variiert nach der Weltanschauung ihrer Verfasser. 2) Weil Andersch in Freund Sansibar ein signifikantes Paradigma für die Volkstümler und die eigentliche nationalsozialistische Literatur erkennt,18 versteht er seinen Text als dialektischen Gegenentwurf. Diese Funktion aber kann im Sinne einer reflektierten Reminiszenz nicht öffentlichkeitswirksam werden, weil Andersch die Vorlagenreferenz verschweigt, dadurch zu sich selbst und seinem ideologiekritischen Verlangen in Widerspruch gerät. 3) Weil Belege für seinen Umgang mit dem Roman bislang fehlen, bleiben vorerst nur die Mittel von Textanalyse und Textvergleich, um
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Literatur im Dritten Reich. Dokumente und Texte. Stuttgart 2001; Bussemer, Thymian: Propaganda und Populärkultur. Konstruierte Erlebniswelten im Nationalsozialismus. Wiesbaden 2000; Bühler, Hans-Eugen und Edelgard Bühler: Der Frontbuchhandel 1939–1945. Organisation, Kompetenzen, Verlage, Bücher. Eine Dokumentation. Frankfurt / M. 2002; Schneider, Tobias: „Bestseller im Dritten Reich. Ermittlung und Analyse der meistverkauften Romane in Deutschland 1933–1944“. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (2004), S. 77–97; Düsterberg, Rolf (Hg.): Dichter für das „Dritte Reich“. Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. 10 Autorenporträts. Bielefeld 2009. – Mit Nachweisen: Glaser, Hermann: Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus. Frankfurt / M. 1986; Sarkowicz, Hans u. Alf Mentzer (Hg.): Literatur in NaziDeutschland. Ein biografisches Lexikon. Hamburg u. Wien 2000; Adam, Christian: Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich. Berlin 2010, S. 271–276. Andersch, Alfred: Sansibar oder der letzte Grund. Zürich 1970; zur Entstehungs- und Editionsgeschichte vgl. Ritter: Andersch, S. 89–93. Tremel-Eggert, Kuni: Freund Sansibar. Ein Roman aus unseren Tagen. München 1939 [1938], 2. Aufl. 1939 [21.-40. Tsd], 3. Aufl. 1941 [46.-55. Tsd.], 4. Aufl. 1942. Verwendete Ausgabe: 4. Aufl. o.J. Uhse, Bodo: Leutnant Bertram. Mexico-City 1943; weitere Auflagen: Berlin (DDR): Volk und Welt, 1947; Berlin: Aufbau, 1951; Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 2. Berlin: Aufbau, 1974. Andersch, Alfred: „Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation“. In: Das Alfred Andersch Lesebuch. Hg. v. Gerd Haffmans. Zürich 1979, S. 111–134, hier: S. 115f.
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Anderschs Lektürewissen zu plausibilisieren, die poetologischen Voraussetzungen und literarästhetische Transformation von erfahrener Zeit- und Literaturgeschichte im Sansibar-Roman zu erhellen. 4) Diese Analyse zielt weder auf den Nachweis der Plagiierung noch auf ethisch-moralische Einschätzungen und literarästhetische Bewertungen, auch nicht auf die Bedienung von Vorurteilen gegenüber Andersch.19 Ausschließliches Anliegen ist es, über einen intertextuellen Abgleich der erzählerischen Strategie Anderschs am Beispiel des Sansibar-Romans im Kontext von Autorbiografie, poetologischem Verständnis sowie Zeitgeschichte nachzuspüren und danach zu fragen, in welchem Maße der Vorbildtext als Inspirationsfundus und Gegenstand des Umschreibens eingeschätzt werden kann.
2. Die Volkstümler, Kuni Tremel-Eggert und Anderschs Lesergeschichte Zu Anderschs Texten einer Selbstabschirmung gehört auch die kritische Bilanzierung Deutsche Literatur in der Entscheidung von 1948. Der Autor räsoniert in seiner „Inventur der jüngsten Vergangenheit“ des nationalsozialistischen Regimes über die geistige „Teilhaberschaft an der kollektiven Schuld“ und die Konsequenzen für die Gegenwart. Er fordert programmatisch eine „sorgfältige Betrachtung des wahren Verhaltens des deutschen Geistes in den Jahren der Diktatur“, nur glaubwürdig vollziehbar „aus dem Geist der unerbittlichen Selbstkritik heraus“. In diesem Zusammenhang nennt er ausdrücklich „Die Volkstümler“, welche „es in Vertretung der Sache des Nationalsozialismus“ zu keiner „gültigen dichterischen Leistung gebracht“, aber das Regime gestützt haben, da die Texte „in den – zahlenmäßig allerdings breiten – Schichten jenes kleinen und mittleren Bürgertums“ gelesen wurden, „das [...] seiner sozialen Grundlage beraubt war,“ – wie es in Anderschs Familie geschehen ist.20 Es ist nicht nur dieses nachdrückliche Verdikt vor allem der völkischen Literatur, das bei Nachfragen zum intertextuellen Zusammenhang
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Vgl. Interview zu Alfred Andersch, geführt von Hanuschek, Sven: „‚Nicht alles in den Schüttelbecher tun und braune Soße drüber‘. Hier spricht die Tochter: Anette KorolnikAndersch und ihr Mann Marcel Korolnik forschen über Andersch im Nationalsozialismus – ein Interview“. In: Frankfurter Rundschau vom 27./28. September 2008. Andersch: „Entscheidung“, S. 114, 113, 131, 115f. – Während des Aufenthaltes als Kriegsgefangener in Fort Hunt (USA) verfasst Andersch 1944 einen Text, der als Vorläuferdokument eingeschätzt werden kann, vgl. Römer: „Andersch abgehört“, S. 586–589: Obersoldat Alfred Andersch/PW 81 G-256.993: Deutscher ‚Unterground‘“ [1944] (Dok. 7: „Hs. Denkschrift Alfred Anderschs aus Fort Hunt, o. D. (NARA, Entry 179, Box 442).
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von Anderschs Roman Sansibar oder der letzte Grund und Tremel-Eggerts Roman Freund Sansibar zu berücksichtigen ist. Teil dieses Verhaltenskomplexes zur Distanzierung von vermutbaren Verstrickungen in den Nationalsozialismus sind ebenfalls die Abwehrgesten und das Ausschweigen, mit denen er seine Lesergeschichte bereinigt, literarische Vorbilder sortiert, das familiäre Sozialisationsmilieu sowie den frühen beruflichen Werdegang im Interesse seiner Selbststilisierung zum tadellosen Moralisten zumindest glättet. In diesem Zusammenhang ist auch Anderschs Lesereminiszenz anzunehmen, die sich ihm als beeindruckendes Lektüreerlebnis des Romans Freund Sansibar eingeprägt hat. Es sind wahrscheinlich zwei Absichten, die ihn auf Tremel-Eggerts Roman zurückkommen lassen: den NS-Text als Projektionsobjekt für seinen kontrastiv dazu entworfenen ideologiekritischen Roman und als Orientierungsvorlage im Interesse des eigenen Schreiberfolges durch Übernahme narrativer Aspekte zu verwenden. Um wen handelt es sich bei Kuni Tremel-Eggert (geb. Kunigunde Tremel, 1889–1957)? Die Autorin mit ihrem umfangreichen Œuvre, publiziert zwischen 1921 und 1938, ist unter den völkischen Schriftstellern mit ihren trivialromantischen, national-konservativen, zunehmend im Geiste des Nationalsozialismus politisch agitierenden Texten die Erfolgreichste. Sie entstammt einem national-konservativen Handwerkermilieu des oberfränkischen Burgkunstadt. Ihre Erziehung, der frühe Tod ihrer Eltern, eventuell auch der Mangel an höherer Schulbildung, ihr Scheitern als Schauspielerin, das konservative Provinzmilieu, der wahrscheinliche Umgang mit völkisch denkenden Mitbürgern machen sie empfänglich für den Nationalsozialismus und seine rassistische Ideologie. Als ehrgeizige Autodidaktin und überzeugte Nationalsozialistin arrangiert sie sukzessive die Voraussetzungen für eine NS-ideologisch engagierte Literatenexistenz und erfolgreiche Schriftstellerkarriere. 1917 zieht sie mit ihrem Ehemann in die bayerische Metropole und die für die Nationalsozialisten wichtige Stadt, einem in den 1920er Jahren sich entwickelnden Zentrum für national-konservative, antisemitische und antirepublikanische Weltsicht. Hier begegnet sie 1921 in entsprechenden Gesinnungskreisen dem Journalisten, Schriftsteller und Hitler-Freund Dietrich Eckart,21 der ihr als völkische Schriftstellerin eine große Zukunft voraussagt: „Lassen Sie sich nicht irre machen. Schreiben Sie nie anders. Ihre
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Dietrich Eckart (1868–1923), Mitbegründer der NSDAP‚ Parteidichter und Autor des Sturmliedes der SA und des Kampfrufes „Deutschland erwache!“. Hitler widmet ihm die Erstauflage seines Buches Mein Kampf (1925). – Ryback, Timothy W.: Hitlers Bücher. Seine Bibliothek – sein Denken. Köln 2010, S. 53–87.
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Zeit wird kommen und wenn es nochmals zehn Jahre dauert.“22 Er wird Recht behalten. Eckart kann als Schlüsselfigur von Tremel-Eggerts Schriftstellererfolg eingeschätzt werden. Er ist Intimus von Adolf Hitler, Mitbegründer der NSDAP, Mitglied der völkisch-nationalistischen ThuleGesellschaft, Verfasser rechtsradikaler Schriften und von 1921 bis 1923 Chefredakteur des Völkischen Beobachters (1920–1945). Aus diesen Kreisen kann eine Offerte zur Kooperation gekommen sein, so dass Tremel-Eggert ihre Zusammenarbeit mit dem Verlag Langen-Müller (München) als Angestellte und Autorin aufgibt.23 Im Jahre 1937 tritt sie in die NSDAP ein.24 Sie ist Mitglied in der Reichsschrifttumskammer.25 Als Verlage gibt sie auf der Karteikarte „Alb. Langen, Franz Eher Nachf. München“ an sowie ihre Zugehörigkeit zur NSDAP und zum N.S.K.K.26 Tremel-Eggert ist eine literarisch gebildete, talentierte Erzählerin, immens fleißig und publiziert zwischen 1921 und 1942 über 60 Novellen und Erzählungen sowie acht Romane, darunter die Erfolgstexte Barb (1934) und Freund Sansibar (1938). Ihre verlagsgeschäftlichen Beziehungen zum Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf.,27
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„Kuni Tremel-Eggert erzählt vom Werden und Schaffen“. In: Großdeutsches Leihbüchereiblatt. Mitteilungsblatt der Reichsschrifttumskammer für den deutschen Leihbuchhandel 4 (1942) H. 11, S. 165f. Die Rotmansteiner (1921), Sanna Spitzenpfeil (1922), Fazer Rapp und seine Peiniger (1923), Die Straße des Lebens (1928). Bundesarchiv (Berlin): NSDAP Zentralkartei, Aufnahmedatum 1. Mai 1937, Mitgliedskarte ausgestellt am 15. Dezember 1937, Nr. 4590287; NSDAP Gaukartei. Bundesarchiv (Berlin): kein Eintrittsdatum; Nr.: 624. – Unter „Bemerkungen“ lässt sie aufführen: „Kürschner: ja; Bürgen: Herr Hauptmann Karl Mayer, Bayer. Rundfunk, Hauptlehrer Kolb, Bayer. Kulturministerium. Zeitungen etc.: Völk. Beobachter, Fränk. Volk, Bayer. General-Anzeiger, Würzburg, Münchener Ztg., Hamburger Fremdenblatt, Leipziger N. N., RheinischWestf., Kölnische Ztg., und viele kleinere in Franken. Sender: Bayern. Mitglied des S.D.S. (SDS: Schutzverband deutscher Schriftsteller, 1933 eingegliedert in den Reichsverband deutscher Schriftsteller).“ Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps (NSKK): Gegr. 1931, Sondereinheit der SA, danach Organisationsteil des NSDAP. Der Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf. (Presse- und Buchverlag: München) entsteht aus dem Ankauf des Münchener Presse- und Buchverlages Franz Eher (1901) im Jahre 1920 durch die NSDAP und entwickelt sich bis Kriegsende durch Enteignungen, Zukäufe und Gründung von Tochtergesellschaften zum größten Verlagskonzern Europas (1943: ca, 150 Einzelverlage; 1944/45: 85% der Presse; liquidiert 1952). – Die Verlagserscheinungen des Zentralverlages der NSDAP. Franz Eher Nachf. G.M.B.H. München, Berlin u. Wien 1921–1941. O.O.: o.V., [1941]; Gesamtproduktion von 1923 bis Oktober 1941: 131.813.873 Druckerzeugnisse (S. 226). Tremel-Eggerts Werke im Katalog (1941): Barb. Der Roman einer deutschen Frau, 51. Aufl. München 1941 (1. Aufl. 1933); dass.: Deutsche Kulturbuchreihe. Bd. 2. Berlin 1935; Sonnige Heimat. Erzählungen, 8. Aufl. München 1940 (1. Aufl. 1935); Fazer Rapps und seine Peiniger. Eine Erzählung aus dem Frankenland. München 1923; Die Rotmansteiner. Roman aus dem Frankenland. München 1921; Freund Sansibar. Ein Roman aus unseren Tagen. 3. Aufl. München 1940 (1. Aufl. 1938); Der Schmied von Hassberg. Roman. 2. Aufl. München 1937; Sanna Spitzenpfeil. Ein Roman. 5.–8. Tsd. München 1935;
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unter dessen Betreuung sie zur wichtigsten Belletristikautorin reüssiert, beginnen um 1930 und dauern bis 1945. Vermittelt wird sie von dem in der NSDAP einflussreichen Bayreuther Gauleiter Hans Schemm.28 Der Verlegerwechsel ist ein Beleg dafür, dass man ihre radikale völkische Weltsicht und NS-politisch-ideologisierte trivialromantische Erzählweise erkennt und für geeignet hält, diese als agitatorisches Mittel im Dienste des Parteiauftrags einzusetzen.29 In zwei autobiografischen Skizzen von 1934 und 1942 erläutert sie den Zusammenhang ihrer literarischen Arbeit mit der NS-Politik.30 Während der „Systemzeit“31 habe man sie „totgeschwiegen“, jetzt aber sehe sie ihre „heilige Verpflichtung“ bestätigt, über Deutschland „aus Rückerinnern, deutscher Sehnsucht und dem tiefen Zeiterleben heraus“ zu schreiben. Ihren Erfolg sieht sie als Konsequenz von staatlicher Protektion. Ihr „Schaffen“ habe „endlich [...] den Weg ins deutsche Volk“ gefunden, weil es der Parteiverlag Eher „kraft unserer großen deutschen, alles Morsche niederreißenden Revolution“ befördere.32 Legt man einer Spurensuche die literargeschichtlichen Umstände des Romans Freund Sansibar sowie die zeitgleichen Bedingungen von Anderschs Lebenslauf zugrunde, dann liegt es nahe anzunehmen, dass der Roman für Andersch leicht zugänglich gewesen sein muss. Man kann von zwei Voraussetzungsfeldern sprechen. Erste Voraussetzung: Auf Grund der privaten und offiziellen Beziehungen zu Parteikreisen, der Veröffentlichung des Romans im Zentralverlag der NSDAP Franz Eher Nachf., dem Presseimperium des ‚Dritten Reichs‘, und durch parteipolitische, verlegerische Protektion und Instru-
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Die Straße des Lebens. Roman. München 1922. – Tavernaro, Thomas: Der Verlag Hitlers und der NSDAP. Die Franz Eher Nachfolge GmbH. Wien 2004 (irreführender Titel; behandelt lediglich den Pressebereich); Hoser, Paul: „Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf.“. In: Historisches Lexikon Bayerns (Elektronische Resource, 2009). Hans Schemm (1891–1935) Journalist und Redakteur von Parteizeitungen, Gauleiter Oberfrankens (1925), SA-Gruppenführer, Mitglied im Bayerischen Landtag (1928) und Reichstag (1930), Bayerischer Kulturminister (1933–1935). Durch die Auflösung des Albert Langen-Verlages 1928 verliert sie ihre Anstellung und scheint durch die Verlagszusammenlegung zu Langen-Müller und dessen Ankauf durch den Deutschnationalen Handlungsgehilfen Verband 1931, einem völkisch orientierten Verlagsprogramm, zum Eher-Verlag gekommen zu sein. – Meyer, Andras: Die Verlagsfusion Langen-Müller. Zur Buchmarkt- und Kulturpolitik des Deutschnationalen Handlungsghilfen-Verbandes (DHV) in der Endphase der Weimarer Republik. Berlin 1989. Tremel-Eggert, Kuni: „Aus meinem Schaffen und Werden“. In: Die Zeitschrift der Leihbücherei. Fachblatt des deutschen Leihbücherei=Berufes. Themenheft: Die Woche des Deutschen Buches 4. bis 11. November 1934 3 (1934) H. 20, S. 6; Tremel-Eggert: „Werden und Schaffen“. NS-Bezeichnung für die Weimarer Republik. Anm. 30. – Zum ideologisierten Literaturverständnis: Gerstner, Hermann u. Karl Schworm (Hg.): Deutsche Dichter unserer Zeit. München 1939.
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mentalisierung sowie kulturpolitische Lenkung, ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP und der Reichsschrifttumskammer,33 erreicht Tremel-Eggert als Teil des nationalsozialistischen Propagandasystems einen hohen Bekanntheitsgrad und behauptet sich als eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen und führenden literarkulturellen NS-Aktivistinnen.34 TremelEggert steigt zur Bestsellerautorin auf. Das geschieht über die bekannten Maßnahmen von privilegierter Papierzuteilung, Massenauflagen und Preisgestaltung, organisierten Rezensionen, Dichterlesungen, der zwangsweisen Verbreitung der Texte durch Buchhandel, Leihbibliotheken, das OKW, Wehrmachts- und Lazarettbüchereien,35 NSDAP-Organisationen, die „Zentrale der Frontbuchhandlungen“ (gegr. 1939),36 gesonderte Wehrmachts- oder Feldpostausgaben usw. Tremel-Eggerts zwei Erfolgsromane sind ‚künstlich‘ produzierte Bestseller, deren Verbreitung dem geförderten Indoktrinierungsauftrag der Propaganda folgen, nicht einem tatsächlichen Leserinteresse.37 Eingebettet in diese allgemeinen Bedingungen sind es besondere einflussreiche Personen und Institutionen, die Tremel-Eggert protegieren und in dem politisch bewirkten Freiraum auf dem Literaturmarkt etablieren. Darunter befinden sich auch Alfred Rosenberg, NSDAP-Politiker und Chefideologe, als Herausgeber des Völkischen Beobachters (Eher-Verlag), seine Dienststelle Rosenberg38 und die daran beteiligten weiteren Einrichtungen und Buchhandels- wie Leserinformationen. Die publizistischen Konsequenzen sind evident. Der Erfolgsroman Barb (1934–42) erreicht 1941 die 50. Auflage und 1944 eine Gesamtbuchmenge von 750.000 Ex. und ist damit nach Karl Aloys Schenzingers Anilin (1937; 920.000 Ex.) und vor Ehm Welks Die Heiden von Kummerow (1937; 739.000 Ex.) in der Zeit von 1933 bis 1945 der Roman mit der zweit-
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Ihde, Wilhelm (Hg.): Handbuch der Reichsschrifttumskammer. Leipzig 1942; Kühnert, Jürgen: „Die Reichsschrifttumskammer – Zur Geschichte einer berufsständischen Zwangorganisation unter besonderer Berücksichtigung des Buchhandels“. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte. Bd. 17 (2008), S. 255–363. Barbian, Jan-Peter: Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. München 1995; Hopster, Norbert und Petra Josting: Literaturlenkung im „Dritten Reich“. Eine Bibliographie. Bd. 1. Hildesheim u.a. 1993. Die vom Verfasser verwendete Ausgabe der 4. Auflage von 1942 trägt auf dem Titelblatt den folgenden Besitzstempel: „Reservelazarett VIII Schwerin – Verwaltung – “. Bühler: Frontbuchhandel. Schneider: „Bestseller“, S. 70, 87. – Die Bestsellerlisten, angeführt von Schenzinger, Tremel-Eggert und Welk, bestätigen die Favorisierung von Wissenschafts- sowie ideologisierten Heimatromanen und unpolitischer Unterhaltungsliteratur. „Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“ (1934; DBFU). Vgl. Barbian: Literaturpolitik, S. 59–64, 274–277, 279–287. – Piper, Ernst: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe. München 2005; Adam: Lesen, S. 24–27, 43, 75f.
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höchsten Gesamtauflage.39 Diese Publizität befördert ebenfalls ihren letzten Roman Freund Sansibar. Erschienen 1938, liegt das Buch 1941 in 55.000 Exemplaren vor (3. Aufl.), wird aber über die 4. Auflage 1942 hinaus offenbar nicht mehr gedruckt. Ein entscheidender Vorteil für die Popularität auch des Romans Freund Sansibar ist die Position Tremel-Eggerts als Belletristin und Hausautorin im Eher-Verlag,40 der die politisch maßgebliche Parteiliteratur publiziert, darunter exklusiv Mein Kampf. Das marktbeherrschende Verlagsunternehmen liefert zwischen 1923 und 1941 insgesamt 131.815.875 „Gesamtstückzahl Broschüren und Bücher“ aus.41 Für Tremel-Eggert bedeutet dies, dass für ihre Bücher, auch für die früheren aus dem Langen-Verlag, im Kontext des ‚Führer‘-Buches geworben wird. Mehrere nicht exakt datierbare Prospekte und der Gesamtkatalog des Eher Verlages42 verdeutlichen diesen Propagandazusammenhang.43 Ein Werbeträger, der das Gesamtprogramm des Verlages vorstellt (vor 1939), bietet auf der Umschlagseite im Foto sechs „Standardwerke“ der Parteiliteratur an,44 an erster Stelle Hitlers Mein Kampf. Auf Seite 29, zwischen Gregor Strassers Kampf um Deutschland und Franz Vogls Neues Land durch Arbeitsdienstpflicht, empfiehlt der Verlag Tremel-Eggerts Roman Barb. Welche ideologische Bedeutung Partei und Verlag Tremel-Eggert zumessen, zeigt ein farbiges Faltblatt, mit dem suggeriert wird, ihr Roman Barb und vier weitere Texte45 gehören zu den „Standardwerken“ der Parteiliteratur.46 Ein anderes Werbeblatt (nach 1939) platziert den Roman Freund Sansibar und den Erzählband Sonnige Heimat zwischen deutschnationalen Titeln zum Weltkriegstrauma, der Kommunismusbedrohung und zu Kämpfern für den Nationalsozialismus.
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Schneider: „Bestseller“; Adam: Lesen, S. 271; „Ausgewählte Bestseller und ihre Auflagen“, S. 323–325. Vgl. Anm. 27. Die Verlagserscheinungen des Zentralverlages (Anm. 27), S. 226. Eher-Katalog (Anm. 27). Quelle: Deutsches Literaturarchiv Marbach. Im Bestand: Drei undatierte Prospekte. Hitler, Adolf: Mein Kampf (1925/26); Zöberlin, Hans: Der Glaube an Deutschland (1931); Röhm, Ernst: Geschichte eines Hochverräters (1928); Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1930); Schott, Georg: Das Volksbuch von Hitler (1924); Feder, Gottfried: Kampf gegen die Hochfinanz (1933). Die Rotmansteiner (1921), Sanna Spitzenpfeil (1922), Fazer Rapps und seine Peiniger (1923), Die Straße des Lebens (1928). Ein dem Roman Barb gewidmetes Faltblatt mit Bestellschein zeigt das Umschlagbild, informiert über Inhalt, Biografie und den ideologischen wie publizistischen Kontext der sechs Standardwerke des Verlages von Hitler, Zöberlin, Röhm, Rosenberg, Schott und Feder (vgl. Abb. 2 im Anhang). Ein weiterer Verlagsprospekt „Deutsche Weihnacht Deutsche Bücher“ (vor 1939) wirbt für drei Publikationen von ihr, für Barb, Freund Sansibar, Sonnige Heimat.
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Seit dem Erscheinen des Romans Barb (1934), ein Jahr nach der so genannten Machtergreifung, ist sie eine weithin bekannte Literatin. Der so außerordentliche Erfolg des Romans öffnete der Dichterin die Gasträume Münchens, die Vortragssäle der Großstädte, die Sendezeiten des Rundfunks, die Redaktionsstuben der Presse. Die Autorin reiste durch die Lande, wurde hofiert, herumgereicht [...] und hetzte von Vortragsabend zu Vortragsabend. In München, Augsburg und Nürnberg hatte sie jeweils mehr als 1200 Zuhörer.47
Die Bücher dieser advocata diaboli gehören, davon ist auszugehen, zum Bestand eines jeden deutschbewussten Haushalts.48 Sie ‚dürfen‘– wie der Eher Verlag in einem Prospekt fordert – „in keiner deutschen Familie [...] fehlen“,49 denn bei dem „deutschen Buch“ und seiner Vermittlung, so appelliert der Kommentator die bevorstehende „Woche des Deutschen Buches 4. bis 11. November 1934“, handele es sich um „die geistige Fürsorge für Millionen von Volksgenossen“.50 Zweite Voraussetzung: Die Ausführungen gehen, wie bereits erläutert, von der Annahme aus, dass Andersch die in München stadtbekannte und reichsweit propagierte NS-Autorin Tremel-Eggert geläufig ist und er zumindest den Roman Freund Sansibar kennt. Der bislang fehlende empirische Nachweis dafür (z.B. durch ein erhaltenes Leseexemplar unter seinen nachgelassenen Büchern) ist kein Widerspruch, zumal Andersch – wie bekannt – nach 1945 tunlichst darauf achtet, in keinerlei Zusammenhang mit der NS-Literatur gebracht zu werden. Folgerichtig pflegt er die Neigung, seine Biografie in Einzelheiten zu verschleiern oder zu ändern, keine detaillierte Autobiografie zu verfassen, sich statt dessen zur eigenen Person vorrangig in literarischen Texten zu melden, kein Tagebuch zu führen oder sich zur Stoffgeschichte des Sansibar-Textes im Zusammenhang zu äußern. Begründungen für dieses Verhalten sind Anderschs Sozialisation zu entnehmen. a) familiäre Sozialisation: Es ist die weltanschaulich fatale Melange, die das private und öffentliche Agieren des Vaters bestimmt: die Amalgamierung von bildungsbürgerlichem Honoratiorenhabitus, politischer und beruflicher Frustration des dekorierten, arbeitslosen Weltkriegsteilnehmers
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Schwarz, Georg: Hans Raithel und Kuni Tremel-Eggert. Volksdichter im Land am Obermain. Bayreuth 1989, darin: „II. Die Heimatschriftstellerin Kuni Tremel-Eggert. Zu ihrem 100. Geburtstag am 24. Januar 1989“, S. 27–47, hier: S. 31. Nach 1945 wird sie wegen antisemitischer Hetze angeklagt und gegen die Zahlung von 2000 Mark 1948 als Mitläuferin freigesprochen (Der Spiegel 13/1948). Das Schreibverbot bleibt erhalten. In der SBZ steht ihr Roman Barb. Roman einer deutschen Frau (1934) auf dem Index. Die Ehrung der Autorin zum 50. Todestag führt in der Öffentlichkeit von Burgkunstadt zu Kontroversen. Eher Prospekt (Anm. 43; vgl. Abb. 2 im Anhang). Tremel-Eggert: „Aus meinem Schaffen und Werden“; dies.: „Werden und Schaffen“.
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und antisemitischem, völkisch-nationalem Elitebewusstsein.51 Diese Bedingungen, angesiedelt zwischen Politik und Ästhetik, leiten des Vaters Handeln bis zu seinem frühen Tode 1929. Es können daher innerhalb der Familie vor allem zwei Umstände angenommen werden, die Anderschs Kenntnis der Autorin Tremel-Eggert wahrscheinlich machen.52 Der eine hat mit der Überzeugung des belesenen Vaters zu tun, die lesekulturelle Erziehung von Kindern sei von Bedeutung für die bürgerliche Persönlichkeitsentwicklung, einschließlich der Kenntnis völkisch-nationaler Publikationen.53 Der andere ist der gesellschaftliche Umgang in München, der Hauptstadt der so genannten Bewegung,54 in einer Atmosphäre, bestimmt von dem „deutsch-national[en], völkisch-patriotisch[en]“ und „antisemitisch“ überzeugten Vater, seinen Freunden aus national-konservativen und nationalsozialistischen Organisationen und entsprechendem Gedankenaustausch.55 Diese Umstände prägen Andersch, wie er selbst bekennt, denn man habe sein „ganzes Leben in der Gewalt jener Erlebnisse“ zu „verbringen, die uns in der Jugend ergriffen haben, und dass wir kein Milieu besser kennen lernen werden als die Welt der Eltern, den Kreis der Familie [...].“56 Das lässt sich an seiner ideologisch verhärteten Gesellschaftskritik ebenso erkennen wie an der Neigung zu vereinfachter Weltdarstellung und inkohärenter Motivverwendung. Man kann davon ausgehen, dass Tremel-Eggerts Name als der einer ideologisch verwandten Mitbürgerin und politisch protegierten Propagandistin als prominente NS-Literatin Gegenstand der familiären Gespräche ist. b) berufliche Tätigkeit: Der Vater Alfred Anderschs, Bücherfreund, Antiquar und vertraut mit der Münchner Verlags- und Buchhandelsszene, berücksichtigt bei der Berufsfindung seines Sohnes dessen literarisches Interesse. Dem gescheiterten Gymnasiasten vermittelt er eine Lehrlings-
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Piper: Rosenberg, S. 264: „Es triumphierten traditioneller Mainstream und aggressive Mediokratie, die sich – hier glichen sich antisemitische und kulturkonservative Topoi – in einem verzweifelten Abwehrkampf gegen das schleichende Gift der Moderne sahen.“ Reinhardt: Andersch, Kapitel 1–5. Neben dem Börsenblatt des deutschen Buchhandels, den Münchner Neuesten Nachrichten, Deutschlands Erneuerung bezieht man im Hause Andersch auch Dietrich Eckarts Völkischen Beobachter. Bauer, Richard u.a. (Hg.): München – „Hauptstadt der Bewegung“. Bayerns Metropole und der Nationalsozialismus. München 1993. Mitgliedschaft in der antisemitischen Thule-Gesellschaft (1918), der NSDAP (1920), im Wehrbund „Reichkriegsflagge“ (Ernst Röhm); Umgang mit Erich Ludendorf, mit Adolf Hitlers Intimus Dietrich Eckart, mit Ernst Röhm, Rudolf Hess, Alfred Rosenberg, Julius Friedrich Lehmann u.a.; Rose, Detlev: Die Thule-Gesellschaft. Legende – Mythos – Wirklichkeit. Tübingen 1994; Jacob, Frank: Die Thule-Gesellschaft. Berlin 2010. Andersch, Alfred: „Auf den Spuren der Finzi-Conti“. In: Über Alfred Andersch. Hg. v. Gerd Haffmans. Zürich 1987, S. 263.
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stelle im örtlichen WEGA-Verlag (1928/31), einem Kleinunternehmen mit schlichtem Programm.57 Nach den biografisch brisanten Jahren 1930 bis 1933 arbeitet er 1933/34 als Angestellter beim J. F. Lehmanns Verlag (München). Dass er in diesem Unternehmen, führend bei der Publikation von politisch radikalen Schriften zu völkischer Politik, Rassenkunde und Vererbungsforschung,58 eine Anstellung findet, ist wohl der langjährigen Beziehung des Vaters – trotz dessen Tod 1929 – zu seinem Gesinnungsfreund, dem antisemitischen Verlagsinhaber, zu danken.59 Beide, Lehmann-Verlag und Eher-Verlag, sind zu dieser Zeit die führenden völkisch-nationalistischen Verlage im Deutschen Reich, die mit ihren Publikationen den NS-Staat stützen. Angesichts der staatlich kontrollierten Verlagsprogramme, der anzunehmenden geschäftlichen Verbindung zwischen beiden Verlagen wird der literarische shooting star des Eher-Verlages, Tremel-Eggert, in den Jahren 1933/34 nicht nur in der Branchendiskussion und in den Medien als Gesprächsgegenstand präsent sein, sondern auch im Stadtgespräch und den verlagsinternen Unterhaltungen. Andersch bestätigt dies indirekt: Ich hasste die Arbeit, die mich jeden Morgen um acht Uhr vor den Kontenrahmen einer Verlagsbuchhandlung zwang, und ich ignorierte die Gesellschaft, die sich rings um mich als Organisationsform den totalen Staat errichtete. Der Ausweg, den ich wählte, hieß Kunst. [...] Ich antworte auf den totalen Staat mit der totalen Introversion.60
Erscheint seine Aversion gegenüber schlichter Verwaltungsarbeit glaubwürdig, erweist sich die pathetische Geste einer Regression des Künstlers, der er zu dieser Zeit nicht war, als eine der vielen deklamatorischen Selbstbestimmungen, mit denen Andersch die erratischen Teile seiner Biografie zu glätten versucht. c) Literaturwissen: Angesichts des Autors Neigung, seinen Lebensgang planvoll zu korrigieren, schränkt er auch sein veröffentlichtes Lektüre-
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Aus dem Verlagsprogramm: Hecker, Rudolf u. Bernhardine Wörner: Das Kind und seine Pflege. Lehrbuch für Säuglingspflege. Ausgabe A für Mütter. 7. Aufl. 1924. 12.–16. Aufl. 1928; Link, Irma: Astrologie. 1925; Alterdinger, Josef: Handbuch für Theater, Malerei und Bühnenbau. 3. Aufl. 1927; Sparwasser, Else: Herr Ludwig der Gestrenge. Ein Roman aus Bayerns vergangenen Tagen. 1927 u.a. Fünfzig Jahre J. F. Lehmanns Verlag 1890–1940. München u. Berlin [1940]; mehr als 40 Titel zur „Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik“, 67 Titel zu „Rassenkunde und Sippenkunde“. Reinhardt: Andersch, S. 19, 22, 54f., 58, 515; Heidler, Mario: „Der Verleger als Kulturunternehmer. Der J. F. Lehmanns Verlag und die Rassenkunde in der Weimarer Republik“. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 16 (1976), S. 291–318; Stöckel, Sigrid (Hg.): Die „rechte Nation“ und ihr Verleger. Politik und Popularisierung im J. F. Lehmanns Verlag 1890–1979. Berlin 2002. Andersch: Kirschen der Freiheit, S. 45f.
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wissen auf unverfängliche Hinweise zu Weltliteratur und Literatenkollegen ein.61 Er hält nicht das ein, was er verspricht, nämlich „mit dem Finger auf die Texte“ hinzuweisen, „mit denen ich gelebt habe“; denn er sei, sagt er sich exkulpierend, ein gebildeter Allerweltsleser kanonisierter Werke, und „[er] habe keinen besonders abseitigen und bizarren Geschmack, kann keine Entdeckungen unbekannter literarischer Kontinente anbieten.“62 Die Fragwürdigkeit dieser Selbstauskünfte ist schon dadurch offenkundig, dass NS-Titel fehlen, d.h. dass er vorgeblich keinerlei nationalsozialistische Texte gekannt noch gelesen habe. Da aber die NS-Weltanschauung des Vaters und sein entsprechender Umgang zwangsläufig zu innerfamiliären Gesprächen über Nationalsozialismus und völkische Literatur geführt haben, hat der Sohn auch dem Diskurs über einschlägige Titel nicht ausweichen können. Daher muss man sich wohl die Lesekultur in der Familie Andersch so vorstellen, wie Tremel-Eggert sie für die eigene beschreibt: [...] Namen wie Nietzsche, Schopenhauer, Goethe, Bismarck, Hans Sachs waren mir bald so wohlbekannt und geläufig wie heute unseren Kindern die Namen und Taten der großen Männer unserer Bewegung.63
Auch nach dem Tod des Vaters, seiner Trennung von der Familie ist für den literarisch interessierten und ideologiekritischen jungen Andersch die Wahrnehmung des Namens Tremel-Eggert, der Bestsellerin mit ihren Erfolgsromanen, unvermeidlich. Die hohen Auflagen der Romane, vertrieben vom den Literaturmarkt beherrschenden Eher-Verlag und ihre mediale Hofierung machen sie zu einer prominenten Kulturträgerin innerhalb der NS-Propagandastrategie. d) Reichsschriftumskammer:64 Das Verhältnis von Andersch zum NSStaat ist keineswegs so eindeutig, wie er es nach 1945 der Öffentlichkeit glauben machen will.65 Im Rückblick auf seine Erfahrungen verfasst er in dem autobiografischen Roman Kirschen der Freiheit (1952) jene markanten Sentenzen, die – wie von ihm beabsichtigt – allgemein als verbindliche Bekenntnisse gewertet werden, mit denen er – für sich definitiv – seine von nun währende Distanz zum ‚Dritten Reich‘ während der 1930er Jahre
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Andersch, Alfred: „Der Seesack. Aus einer Autobiographie“. In: Literaturmagazin 7. Reinbek 1977, S. 116–133. Wieder in: Haffmans (Hg.): Andersch Lesebuch, S. 83; Andersch, Alfred: Mein Lesebuch oder Lehrbuch der Beschreibungen. Frankfurt / M. 1978, Vorwort: S. 7–15; Nachlass Andersch (Deutsches Literaturarchiv Marbach): „Aufstellung der in Verlust geratenen Gegenstände zum Antrag Alfred Andersch, Frankfurt / M., Bürgerstr. 16/IV infolge Bombenschaden 27./28. Juli 1943 in Hamburg.“ Vgl. dazu: Wehdeking, Volker: Alfred Andersch. Stuttgart 1983, S. 161–165; Reinhardt: Andersch, S. 79, 86f. Andersch: Mein Lesebuch, S. 7. Tremel-Eggert: „Werden und Schaffen“. Kühnert: „Reichsschrifttumskammer“. Vgl. Ritter: „Andersch-Kontroverse“.
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bis zur Desertion 1944 benennt. Die Genrezuordnung Ein Bericht und die autobiografisch bestimmte Erzählsituation suggerieren verbindliche Authentizität, was sie auch sollen, aber nicht leisten. Seine publizierte, also von ihm gewollte und ‚bereinigende‘ Umorganisation des fiktionalisierten Lebenslaufs, ist die literarisierte Geste eines öffentlich exkulpierenden Rückzugs in die angeblich innere Emigration. Berücksichtigt man solche rhetorischen Rückzüge im Zusammenhang mit dem Anliegen dieser Ausführungen, dann erscheint es geboten, im Zusammenhang mit seinen Distanzierungsgesten gegenüber dem ‚Dritten Reich‘ noch einmal auf sein Verhältnis zur Reichsschrifttumskammer einzugehen. Es ist darüber bereits geschrieben worden, doch nicht mit der notwendigen Konsequenz.66 Für Publizisten besteht Mitgliedzwang. Mitgliedschaft bedeutet Prestigegewinn und Aussicht auf finanzielle wie organisatorische Unterstützung bei Verlagssuche und Vermarktung. Nichtarier sind ausgeschlossen. Teilzeitautoren wird in begründeten Fällen eine Befreiung oder eine Ausnahmegenehmigung gewährt. Andersch – als Publizist noch nicht hervorgetreten, aber sich als solcher begreifend – spekuliert offensichtlich auf die beruflichen Vorteile, die ihm durch Beitritt in der Zukunft nützlich sein können. Die Unterlagen der Bewerbung und Korrespondenz sind fast vollständig erhalten.67 Noch im Jahre 1943, anderthalb Jahre vor seiner Desertion, biedert er sich mit Hilfe taktischer Winkelzüge dem Regime an, indem er sich um die Aufnahme in die „Gruppe Schriftsteller“ bei der Reichsschrifttumskammer bemüht, einer der NSDAP-Einrichtungen des ihm angeblich verhassten NS-Regimes. Der Entschluss dazu fällt in eine Umbruchphase seines Lebens. Er trennt sich Ende Februar 1942 von seiner Frau Angelika, kündigt bei den Leonar-Werken, zieht von Hamburg nach Frankfurt am Main, beginnt am 1. März 1942 als Werbetexter bei der Kosmetikfirma Mouson, wird 1943 erneut zur Wehrmacht einberufen, wegen Krankheit bis 1944 zurückgestellt und desertiert Anfang Juni 1944 in Oberitalien. Andersch scheitert zweimal, die Mitgliedschaft zu erwerben. Der erste nicht überlieferte Antrag, gestellt wahrscheinlich Anfang Februar 1943, wird aus formalen Gründen abgelehnt, den zweiten vom 22. Februar 1943 erhält er mit der sachlichen Begründung zurück, dass seine „schriftstellerische Tätigkeit nur gelegentlicher Art oder geringfügigen Umfanges ist“, er daher von dem „Erfordernis einer Mitgliedschaft“ bis zum „31.12.1943“ befreit werde (vgl. Anhang: Abb. 8).
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Vgl. die Biografien von Jendricke und Reinhardt. Vgl. Abb. 3–10 im Anhang. Quelle: Bundesarchiv Berlin – BArch (ehem. BDC), Rkk, Andersch, Alfred; Reinhardt: Andersch, S. 84f. Die dortigen Ausführungen berichten lediglich über den Inhalt der Unterlagen ohne Ausdeutung und sind teilweise fehlerhaft.
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Schaut man auf die von ihm für die NS-Behörde gemachten Aussagen, dann zeigt sich, dass er mit falschen Angaben, unterschlagenen Informationen und Zusagen hinsichtlich einer zukünftigen Schriftstellerkarriere die Mitgliedschaft unbedingt erlangen will: 1. Unter „Familienstand“ vermerkt er „geschieden“ (vgl. Anhang: Abb. 3). Das ist unzutreffend. Die Ehescheidung wird erst am 6. März 1943 juristisch gültig. Indem er den Ehestand verschweigt, vermeidet er Angaben zur „Rassezughörigkeit“ der ‚halbjüdischen‘ Ehefrau und kann seine Arierabstammung als politische Legitimation in Anspruch nehmen. 2. Andersch ist Mitglied der „N. S. Reichsfachschaft Deutscher Werbefachleute“ sowie der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF; vgl. Anhang: Abb. 4); 3. Auf die Nachfrage: „Welchen anderen politischen Parteien haben Sie früher angehört?“ antwortet Andersch mit „keiner“ und unterschlägt seine Zugehörigkeit zu einer KP-Gliederung (vgl. Anhang: Abb. 4); 4. Im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit erwähnt er die Anstellung beim Wega-Verlag (München) nicht, nennt aber aus taktischen Gründen seine Arbeitsstelle im völkisch-antisemitischen J. F. Lehmanns Verlag (München; vgl. Anhang: Abb. 6). Die regimefreundliche, darin opportunistische Manipulation seiner Biografie wiederholt sich im beigefügten „Lebenslauf“ (vgl. Anhang: Abb. 6). Seine Zusammenarbeit mit der KP, Verhaftung und KZ-Aufenthalt, die Ehe mit der ‚Halbjüdin‘ und die bereits eingeleitete Ehescheidung bleiben unerwähnt. Stattdessen gibt Andersch, ein Kotau vor der NS-Behörde, genaue Auskunft über seine militärischern Einsätze beim „Westfeldzug in vorderster Linie [sic!]“. Diese anbiedernde Geste wiederholt er im Hinblick auf seine Lebensplanung als Schriftsteller. Er habe zwar schon früher geschrieben, also vor 1941, jedoch nichts veröffentlicht. Zukünftig aber habe er die „Absicht“, „nach dem Kriege ausschließlich schriftstellerisch tätig zu sein“. Damit erfolgt indirekt das Eingeständnis, dass er mit einem ‚Endsieg‘ rechnet und einer Schriftstellerkarriere, für die er mit der Unterstützung durch die Reichsschrifttumskammer und das NS-Regime kalkuliert.68
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Im Hinblick auf das Zusammenleben mit seiner aktuellen Lebensbegleiterin notiert Andersch am 17. April 1943 im Tage- und Nächtebuch: „Wenn mein Leben mir durch diese Zeiten erhalten bleibt, dann wird dieses Leben Dir gehören. Über das gemeinsame Leben nach dem Krieg“ (Reinhardt: Andersch, S. 85).
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3. Tremel-Eggert und der Blut-und-Boden-Roman Freund Sansibar Hat Alfred Andersch Tremel-Eggerts Freund Sansibar gelesen, der erst 1938 [1939] erscheint? In den Äußerungen zu seinem Lektüreverhalten wird der Propagandaroman nicht genannt. Sein generelles Verschweigen von rezipierter NS-Literatur ist berechtigterweise verdächtig und korrespondiert mit seiner grundsätzlichen Neigung zum „Desengagement“.69 Diesen Umstand unterstützt sein Biograf Reinhardt durch Belege aus Anderschs literarisierten wie selbstreferentiellen Einschätzungen. Dessen nützlicher Hinweis auf frühe Texte wie „Skizze“ und „Ein Techniker“ und ihre zu Nähe zu „Blut-und-Boden“, Heroisierung, Romantisierung und Versprachlichung „im Geiste der Zeit“ wird zu allgemein als „Anpassung“ und „Zugeständnis an das Vokabular der Nazis“ bewertet. Rückfragen nach Quellen erfolgen nicht.70 Um welches publizistische Phänomen geht es bei dem antimodernistischen Erfolgstext Freund Sansibar? Tremel-Eggert ist eine NS-ideologische Reaktionärin, die regionalistische, geschichtsklitternde Weltanschauungsliteratur verfasst. Ihr 500seitiger parteipolitisch engagierter, autobiografisch eingefärbter und antisemitischer Zeit- und Entwicklungsroman steht in der realistischen, trivialromantischen Erzähltradition von ideologisch anfälliger Heimat- wie Dorfgeschichte und Agitationsliteratur.71 Freund Sansibar ist ein NS-Propagandatext der Blut-und-Boden-Literatur, die für ein rassistisches, dennoch christliches, territorial expansiv denkendes deutsches Bauerntum wirbt und dieses als privilegierte Gegenwelt zum städtischen Leben und der jüdischen Ahasverexistenz propagiert.72 Die Texte folgen als didaktisierte Zeitromane einer biologistischen, ‚volksgemeinschaftlichen‘ Idee von Gesellschaft und Staat und organisieren die Weltdarstellung in einem völkisch, d.h. rassistisch begründeten radikalen Antagonismuskonzept von Eigen- und Fremdbildern. Auf der Grundlage des beschworenen nationalen Krisenszenarios ihrer Zeit gewinnt die Autorin ihr Thema von der Sehnsucht nach poli-
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Kesting, Hanjo: „Die Flucht vor dem Schicksal. Über den Schriftsteller Alfred Andersch“. In: Alfred Andersch. Text + Kritik 61/62. München 1979, S. 3–22, hier: S. 7. Reinhardt: Andersch, S. 77f. Zur Ideologisierungsgeschichte des Heimatbegriffs: Bausinger, Herman: „Heimat und Identität“. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 67 (1980), S. 229–242; von Bredow, Wilfried u. Hans-Friedrich Foltin: Zwiespältige Zufluchten. Zur Renaissance des Heimatgefühls. Berlin u. Bonn 1981; Krebs, Diethart u. Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933. Wuppertal 1998. Corni, Gustavo u. Horst Gies: „Blut und Boden“. Rassenideologie und Agrarideologie im Staate Hitlers. Idstein 1994.
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tischer Erfüllung einer angeblich historisch begründbaren Weltgeltung des Deutschen Reiches, getragen von einer nationalkonservativen Bewegung und dem Führerprinzip. Sie erzählt von der Scheinutopie einer nationalen Idealgesellschaft in pathetischer Sprache, verlogener Sentimentalität und – nach Klemperer – des „verzerrten und vergifteten Heroismus“ von Mensch und Naturfeier.73 Den Pluralismus der künstlerischen Moderne ersetzt sie durch eine fiktive Eindeutigkeit des Freund-Feind-Antagonismus’ und die Vorstellung von einer homogenen ‚Volksgemeinschaft‘, mit denen sie suggeriert, durch den Nationalsozialismus eine harmonische Zukunft erwarten zu dürfen. Diese Welterklärung ist zugleich Selbstdarstellung der Autorin, Propaganda für die herrschende NS-Ideologie und die völkisch begründete Inszenierung von legitimer Macht zur Unterdrückung und Verfolgung Andersdenkender. Tremel-Eggert ist keine Schriftstellerin, die in der Auseinandersetzung mit der literargeschichtlichen Entwicklung eine eigenständige künstlerische Position entwickelt. Maßgeblich sind für sie ihre nationalsozialistische Überzeugung, die literaturpolitischen Vorgaben und das Schreibkonzept der Heimatliteratur. Was sie für sich als Literatin reklamiert, hat eine Rezension von 1939, das Buch empfehlend, bereits vorgegeben.74 Der ‚echte‘ „Volksroman“ Freund Sansibar sei durch „Klarheit und Einfachheit der Handlung“ leicht verständlich, die Themen von „deutsche[r] Wandlung“, agrarkulturellem, völkischem Beharren und Antisemitismus aktuell. Parteiamtlich genehmigter Text (Produktion) und parteiamtliche abgesegnete Leistung (Rezeption) beglaubigen sich gegenseitig und folgen offiziellen Definitionen nationalsozialistischer Kunst, wie sie u.a. der Literat und NS-Kulturfunktionär Gerhard Schumann 1937 definiert: Es ist ein Unding, den nationalsozialistischen Künstler auf ein ödes Abwandeln des nationalsozialistischen Parteiprogramms beschränken zu wollen, ihn zum gefälligen Hausdichter, -maler oder -musiker der Partei [...] zu machen. Nicht die Tatsache wehender Hakenkreuzfahnen oder polternder Marschstiefel auf der Bühne, nicht die mystisch zusammengewürfelten Begriffe Blut, Ehre, Freiheit, Volk, Scholle, Führer usw., nicht die ölfarbene, blutige Darstellung sterbender Kämpfer der Bewegung, mit einem Wort, nicht der Stoff, sondern die Haltung entscheidet für uns.75
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Klemperer, Victor: LTI. Lingua Tertii Imperii. Die Sprache des Dritten Reiches. Leipzig 1991, S. 13. Die Bücherkunde 6 (1939) H. 8, S. 427f. Schumann, Gerhard: „Politische Kunst?“ In: ders.: Ruf und Berufung, München 1943, S. 10– 14, hier: S. 12f.; Gerstner u. Schworm (Hg.): Deutsche Dichter, S. 557–568. Zu Freund Sansibar: S. 564–566: „Über allem aber lodert [...] wie eine helle Flamme das jubelnde, von höchster Beglückung und ehrlichster Dankbarkeit zeugende Bekenntnis zum neuen
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Was Ralf Schnell in seiner immer noch gültigen Erläuterung der Kriterien nationalsozialistischer Literatur mitteilt, sind jene politisch-poetologischen Vorgaben, an die sich Tremel-Eggert strikt hält.76 Der Roman illustriert – orientiert an der Figur Adolf Hitlers – den Aufstieg der nationalkonservativen Bewegung und NSDAP vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Machtergreifung 1933, die so genannte Kampfzeit, sowie die Vorstellungen nationalsozialistischer Gesellschaftspolitik im Kontext eines geklitterten Geschichtsverständnisses. Um ihr Anliegen verständlich vorzustellen, exemplifiziert die Autorin dieses an der Biografie zweier Freunde und Frontsoldaten, die des existentiell verunsicherten Bauern Pankraz Ott von der Fränkischen Alb und des existentiell gefestigten Politabenteurers und NS-Führers Titus Pfautsch, genannt Sansibar, angesiedelt in einem ländlichen Weltausschnitt des Jura. Mit ihnen personalisiert sie stellvertretend den Dualismus von traumatisierter deutscher Bevölkerung und dem Einzelnen als Visionär, der Deutschland aus der nationalen Identitätskrise erlöst. Lokalismus, gesellschaftliche Enge und stereotypisiertes Personal offerieren dem Durchschnittsleser ein attraktives Identifizierungspotenzial. Um parteipolitische Glaubwürdigkeit zu beanspruchen, arbeitet sie die Ideologeme der NS-Weltsicht ein: Weltkriegsniederlage und so genannte Schmach von Versailles, Weltwirtschaftskrise und Inflation, bäuerliche Existenznot, habgieriges Judentum und weltpolitischer Machtanspruch. Damit dieser überzeitliche Anspruch erhalten bleibt, blendet sie Tagesaktuelles und Parteipolitisches weitgehend aus, schwadroniert dafür in parteiphraseologischen Diskursen über deutsche Tugenden, Heimat und nationales Sendungsbewusstsein, einmündend in ein programmatisches fabula docet aggressiver Propaganda.
4. Anderschs Sansibar-Roman und Tremel-Eggerts Freund Sansibar Nicht nur die auffälligen Ähnlichkeiten beider Sansibar-Romane sprechen für Anderschs Textkenntnis, sondern bereits die Übereinstimmungen mit dem frühen autobiografischen Text „Ein Techniker“ (ca. 1941/42). Gemeint sind die handlungsrelevanten Episoden, mit denen die Frontheim-
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Deutschland. Das Buch ist der große, aus den Quellen geschöpfte Volksroman unserer Tage.“ Schnell, Ralf: „Was ist nationalsozialistische Dichtung?“ In: Merkur 39 (1985). H. 5, S. 397– 405; Glaser: Spießer-Ideologie; Caemmerer, Christiane u. Walter Delabar (Hg.): Dichtung im Dritten Reich? Zur Literatur in Deutschland 1933–1945. Opladen 1996; Delabar, Walter, Horst Denkler u. Erhard Schütz (Hg.): Banalität mit Stil. Zur Widersprüchlichkeit der Literaturproduktion im Nationalsozialismus. Zeitschrift für Germanistik. N.F. Beiheft 1 (1999).
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kehrer Unteroffizier Pankraz Ott in Tremel-Eggerts Roman (1938 [1939]) und „Leutnant[s] der Reserve Albert Gradinger“ während ihrer Bahnfahrt 1918 von der Westfront nach Hause vorgestellt werden.77 In beiden Texten geht es thematisch um die Krise des Einzelnen, in der sich die Krise der Gesellschaft wiederholt. Beide Autoren setzen dafür einen allwissenden Erzähler ein, der die Figur des sich erinnernden Frontsoldaten – den Helden – steuert, aus seiner Perspektive politisierend und moralisierend berichten lässt, dafür erlebte Rede und inneren Monolog mischend. Historische Zeitanbindung, Schauplatzeinrichtung, Personenhandlung und Blickrichtung sind identisch. Die Demobilisierten sind beide im selben Jahr von der Westfront über den Rhein nach Bayern in die Heimatregion der Autoren unterwegs, der eine über Mainz nach Bamberg (1933 Zentrum der NS-Macht und des Antisemitismus/frühe Judenverfolgung) und der andere über Köln nach München (Stadt der NSDAPGründung) auf dem Weg zum jeweils tyrannischen Vater: eine Rückkehr zum Vater/Sohn-Konflikt, in das Milieu desolater Familienunternehmen. Im überfüllten Zugabteil räsonieren beide über den verlorenen Krieg, die vergeudete Lebenszeit und – mit dem Blick durch das Abteilfenster nach draußen – über ihre Erwartung einer friedlichen Zukunft. Die Konstituenten und ihre narrative Umsetzung stimmen überein, ebenso die neuromantisch sprachstilistische und rhetorisch pathetische Ausgestaltung.78 Das gilt gleichfalls für die Befindlichkeit der Helden und deren „Denkbilder“79, die von der Verzweiflung des Verlierers geprägt sind. So erinnern sich beide an überstandene letzte Kriegshandlungen, reflektieren in identischer Weise Politik und Gesellschaft, beeinflusst „von der Bitterkeit des gehetzten, von Hass umwogten Marsches und von Verachtung für das chaotische Sich-Treiben-Lassen des Vaterlandes“,80 gespiegelt in negativ beseelter Landschaft: Katastrophenszenario kontrastiert Sehnsucht nach Ordnung und Heimat. Die Nationalsozialistin Tremel-Eggert zeigt klare Perspektiven für die Regeneration von Volk und Staat auf, eingefangen im Motiv von der Heimkehr und eingebettet in die zelebrierte Utopie von der rassisch-biologisch begründeten deutschen ‚Volksgemeinschaft‘. Die heimatliche Orientierung für „Gutes und Schö-
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FS 5–25; Andersch, Alfred: „Ein Techniker“. In: ders.: Erinnerte Gestalten. Frühe Erzählungen. Zürich 1986, S. 39–162, hier: S. 79–92. – Dazu: Wehdeking: „Erinnerte Gestalten“. – Identische Kennzeichnung beider Personen durch semantisch hochwertende Namen: Gradinger: gerade; Albert: männl. Vorname (Adalbert), etwa „von glänzender Abstammung“. – Ott: volkstümliche Form von Otto (Kaiser-/Bischofsname); Pankraz: Pankratius, männl. Vorname, etwa „der alles Beherrschende“. Wehdeking weist auf die „irrational gefärbten Versatzstücke[n]“ und „ein allzu starkes Eingefärbtsein mit den Klischees des Dritten Reiches“ hin („Erinnerte Gestalten“, S. 293). Andersch: Erinnerte Gestalten, S. 80. Andersch: „Techniker“, S. 79f.
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nes“ sei „Deutschland!!!“, „sein Dorf“, seien die „Wurzeln in seinem Bauerntum“, „Freund Sansibar“.81 Andersch attribuiert seine Figur mit einer ähnlichen, aber eher diffusen ‚Suche‘ nach Zukunft: „Er weiss, dass der Krieg auf lange Zeit hin die letzte Landmarke für ein Volk sein wird“ und er „begreift [...] das volle Ausmaß des nationalen Unglücks.“ „Heimat“ bedeutet ihm aktuell „nichts“, „aber er fühlt, dass [...] eine Bewegung aus einem leeren, aber suchenden Herzen kommt.“82 Bevor nun ein weiterer Vergleich der beiden Romane durchgeführt werden kann, ist verkürzt auf jene denkbaren psychosozialen und literatursoziologischen Ursachen im Zusammenspiel von Autorbiografie, literarkulturellem Diskurs und Schreibgeschichte hinzuweisen, mit denen sich die textliche Verwertung von Tremel-Eggerts Sansibar-Roman durch Andersch begründen lassen. Die Biografien beider Autoren sind von problematischen Familienverhältnissen, beruflichen Enttäuschungen, Weltkriegserfahrung an Front wie ‚Heimatfront‘ und krisenhafter Nachkriegsentwicklung, von politischem Widerstand und gesellschaftspolitischer Regenerationsabsicht geprägt. Ihre Texte verwirklichen die Reflexion der eigenen Lebensgeschichte und sind daher in hohem Maße autobiografisch angelegt. Beide Texte thematisieren retrospektiv und didaktisierend – aus gegensätzlicher Weltsicht und Intention – Formen des politischen Widerstandes, gespiegelt in der Krise und Identitätssuche ihrer Protagonisten im zeitgeschichtlichen Kontext des ‚Dritten Reichs‘, schildern die beispielhafte existenzielle Grenzerfahrung und politisch-moralische Bewährung des Einzelnen. Daraus folgen vier vorstellbare Bedingungsfelder von Anderschs Textrezeption: 1. Der Autor sieht sich vom Wiedererkennen einiger Details in beider Biografie und Romane direkt oder indirekt angesprochen; 2. Er, der Schriftsteller, ist beeindruckt von dem Erfolg der Schriftstellerkollegin, den er als Konsequenz einer Verbindung von politischer Thematik, erzählerischem Konzept und zeitgeschichtlichem Umfeld einschätzt; 3. Weil zum einen die politische Thematik für den Rezeptionserfolg im adäquaten politischen Milieu sorgt, folgt er diesen Voraussetzungen und überträgt sie auf seinen politischen Text, die nationalsozialistische
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FS 7–9. Andersch: „Techniker“, S. 91f. – Um denkbaren Gegenargumenten für diesen Fall der Textkorrespondenz zuvorzukommen: Der mögliche Verweis auf das in der zeitgenössischen, vor allem in der völkischen Literatur verbreitete Heimkehrer-Motiv des in seiner Identität irritierten Frontsoldaten und die ausbleibenden Fragen nach literarischen Vorbildern, nicht nur Wehdekings, sondern auch der weiteren Andersch-Forschung, sind ungeeignet, den geschilderten Sachverhalt zu relativieren.
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Weltanschauung und den NS-Staat ideologiekritisch kontrastierend, indem er diese in Frage stellt; 4. Damit sein Anliegen eine ebenso breite Resonanz erfährt, adaptiert er grundsätzlich das literarästhetisch schlichte, regionalistische Erzählkonzept mit seiner personell attraktiven Identifizierungsofferte an den Leser. Der folgende Vergleich beider Texte – ergänzt um einen späteren Exkurs zu dem Roman Leutnant Bertram von Bodo Uhse, einem weiteren möglichen Vorlagentext für Anderschs Sansibar-Roman – orientiert sich an den maßgeblichen Erzählkonstituenten. Über das Anliegen jeder Teilanalyse informiert eine vorangestellte These. 4.1 Thema, Intention und Erzählsituation Vergleichbare Umstände beider Schriftstellerbiografien, bestimmter Aspekte des zeitgeschichtlichen Kontextes sowie der genrespezifischen Voraussetzungen, die sich aus ähnlicher Intention und Thematik der Texte ergeben, führen zu textstrukturellen Übereinstimmungen. Politisches Thema, belehrende Intention und Erzählsituation erweisen sich prinzipiell als weitgehend identisch, lediglich variiert durch unterschiedliche Weltsicht und erzählerisches Vorgehen. Beide Autoren sind mit ihren politischen Romanen und der Darstellung von Menschen unter dem Nationalsozialismus ihrem jeweiligen Zeitgeist verpflichtet. Tremel-Eggert geht es als engagierter Literatin des NSRegimes darum, dem „Aufbruch des neuen Deutschland“83 propagandistisch zu dienen. Sie fordert ein moralisch gebotenes Eintreten für Deutschland als nationaler Heimat durch den couragierten Einzelnen, um den aus ihrer Sicht legitimen Widerstand gegen Kommunisten, Sozialisten, Juden und die so genannte Systemzeit der Weimarer Republik zugunsten einer völkisch-nationalen Autokratie zu befördern. Andersch folgt seiner moralischen, autobiografisch begründeten Verpflichtung der ideologiekritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und so dem Aufbruch des neuen Deutschland nach 1945 zu dienen. Tremel-Eggerts pervertierte Idee von der ideologisierten Wahrheitssuche und ihr deklamatorisches Eintreten für die NS-Diktatur konterkariert Andersch mit seinem indirekt geäußerten, ebenfalls deklamatorischen Antifaschismus, der der grundsätzlichen Wahrheit folge, die „keine Tendenz und keine Predigt nötig“ habe.84 Diese ostentative Forderung relativieren allerdings, wie bei ihm häufig der Fall, eigenes Verhalten und Aussagen an anderer
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Rezension der Ausgabe 1939 [1938]. In: Die Bücherkunde 6 (1939) H. 8, S. 427f. Alfred Andersch, 1947. Zit. n.: Haffmanns (Hg.): Über Alfred Andersch, S. 5.
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Stelle, mit denen er konzediert, „Künstler und Moralist“85 zu sein, schlössen sich nicht aus, denn „jeder Schriftsteller“ ‚beschäftige‘ sich schließlich mit den gesellschaftlichen und politischen Problemen seiner Zeit“.86 Die Einrichtung der Erzählsituation richtet sich in beiden Texten nach dem politisch aufklärerischen Anliegen. Weil beide Urheber hinsichtlich dieser Bedingungen identischen Voraussetzungen folgen, entscheiden sie sich für einen moralisierenden auktorialen Erzähler, den sie so ausstatten, dass dieser – mehr oder minder nachdrücklich – im Auftrage des Autors den Text in der Weise steuern kann, damit politische Positionen und aufklärerische Intention in der narrativen Umsetzung gewährleistet sind. Beide gehen dialektisch vor und kontrastieren in ihrer dualistischen Weltgestaltung die „Einen“ mit den „Anderen“. Der qualitative Unterschied zwischen den Erzählsituationen ergibt sich aus der qualitativ unterschiedlichen politischen Perspektive und Botschaft. Tremel-Eggerts Erzähler agiert retrospektiv und chronologisch, stellt von der Autorin erlebte deutsche Geschichte vor, exemplifiziert am vorbildlich gemeinten Widerstand des agitierenden Protagonisten gegen demokratische Verhältnisse zu Gunsten des Aufstiegs der NSDAP vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Machtergreifung 1933. Über erlebte Rede und inneren Monolog vermittelt der Erzähler ideologisch manipulierte Einblicke in die sozialen und weltanschaulichen Verhältnisse einer mainfränkischen Region. Mit belehrenden Erzählerberichten didaktisiert sie ihr propagandistisches Anliegen, um einen Prozess der weltanschaulichen Meinungsbildung zu initiieren und zu verfestigen. Andersch dagegen schildert keine gesellschaftliche Entwicklung, sondern deren Resultat zum Ende des 1930er Jahre, indem er „nicht ‚brav hintereinander‘, sondern in unaufhörlich wechselnder Verschiebung der Perspektiven“ erzählt, „bedingt durch das streng durchgehaltene Prinzip der simultanen Figurenführung“.87 Sein zurückgenommener Erzähler berichtet aus zumeist personaler Perspektive (Innenperspektive/Bewusstseinsinhalte) den monologisierten/dialogisierten Erzählvorgang und dessen unmittelbare Verknüpfung von erzählter Gegenwart mit erinnerter Vergangenheit, von innerer Handlung und äußerer (Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit). Gegenstand ist die paradigmatische gesellschaftspolitische Situation einer deutschen Kleinstadt (Ostseeküste) unter den Bedingungen der NS-Diktatur 1937, arrangiert als mikrokosmische Spiegelung von Gesellschaft und Geschichte in der Krise, demonstriert an regressiv agierenden Figuren als Widerständler und Opfer.
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Andersch, Alfred: „Nachricht über Vittorini“. In: ders.: Die Blindheit des Kunstwerks. Literarische Essays und Aufsätze. Zürich 1979, S. 38f. Bonilla, Kristina: „Literatur für die Middle Class. Kristina Bonilla unterhielt sich mit Alfred Andersch“. In: Zürcher Woche vom 13./14. Juni 1970. Bienek: „Andersch“, S. 94.
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4.2 Romantitel Andersch wiederholt das auffällige Signalwort Sansibar aus dem Titel von Tremel-Eggerts Roman. Für eine Übernahme sprechen der große Bekanntheitsgrad der Autorin, die besondere Lesesozialisation in Anderschs Familie, eine nur zweimalige Verwendung des Toponyms durch erwähnenswerte Werke der deutschen Literaturgeschichte, das semantische Potenzial der Bezeichnung und das dialektische Verhältnis beider Texte zueinander. Von beiden Autoren liegen keine Begründungen dafür vor, warum dieses markante Toponym an so exponierter paratextueller Stelle verwendet wird. Wie setzen die Autoren das ambivalente Begriffspotenzial in der Titelfunktion um? Die Wirkung von „Sansibar“ als Titelwort und dessen Vorausdeutung auf Thema, Inhalt und Intention der Texte resultiert aus dem Potenzial von Semantik und Konnotationen. Das afrikanische Wort, autochthoner Kultur einer ostafrikanischen Insel zugehörend, mutiert kolonialhistorisch zur Vokabel für Sklaverei/Autokratie, kulturgeschichtlich zur Metapher für Exotik in der Tradition von Insel- und Utopiemotivik, zum Topos von Sehnsucht, Aufbruch und Zivilisationsflucht, zum patriotisch-moralisch aufgeladenen Toponym im Kontext von Helgoland und Deutschlandlied.88 Tremel-Eggert übernimmt die Bezeichnung möglicherweise aus der deutschen Kolonialliteratur, die in den 1920er und 1930er Jahren im Zusammenhang mit der völkischen Heimatdebatte und einer Expansionsphilosophie neue Aktualität gewinnt.89 Für die Funktion ihres Romantitels nutzt sie beides, die Sehnsuchtsmotivik sowie die patriotisch-moralische Symbolik, die – wider die historische Wirklichkeit des Sansibar/Helgoland-Vertrages – Deutschlands frühe Traumatisierung durch international aberkannte Weltgeltung meint.90 Sie macht die Bezeichnung zum Leitmotiv, epischen Integrationsmittel, zur zentralen Metapher für völkischen Aufbruch und Patriotismus und damit zum Movens auf der Handlungsund Metaebene der Intention.
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Sansibar unter Sultan Seyyid Daid (1806–1856) Zentrum ostafrikanischer Sklaverei, Teil des Schutzgebietes Deutsch-Ostafrika (1885–1918), gegen Helgoland (Helgoland/SansibarVertrag 1890) eingetauscht; Helgoland: Insel revolutionärer, demokratischer, freiheitlicher Hoffnungen (H. Heine, H. v. Fallersleben: „Das Lied der Deutschen“, 1841), nach 1890 Symbol national-patriotischen Selbstverständnisses des Wilhelminischen Kaiserreichs. Frenssen, Gustav: Peter Mohrs Fahrt nach Südwest (1906); Grimm, Hans: Volk ohne Raum (1926); Kolonialpolitisches Amt der NSDAP (1934): Pläne für ein mittelafrikanisches deutsches Kolonialreich. – Warmbold, Joachim: „Ein Stückchen neudeutsche Erd’ ...“ Deutsche Kolonialliteratur. Aspekte ihrer Geschichte, Eigenart und Wirkung, dargestellt am Beispiel Afrika. Frankfurt / M. 1982. FS 10–12.
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Für die erzählerische Umsetzung kennzeichnet sie ihren Helden Titus Pfautsch mit diesem Beinamen, der ihm aufgrund eines früher gescheiterten Auswanderungsunternehmens auf die ‚deutsche Kolonie‘ und „Märcheninsel“ Sansibar geblieben ist. Durch die Anthropomorphisierung deutscher Weltgeltungsphantasien überträgt sie der Titelsemantik eine soziale und emotionale Qualität im Sinne der propagierten und gegenwärtig realisierten ‚Volksgemeinschaft‘. Das farbige Panoramabild auf dem Schutzumschlag des Buches (vgl. Anhang: Abb. 1) illustriert mit dem Ehepaar und dessen Blick in die idyllisierte Mittelgebirgslandschaft die sentimentalisierte politische Botschaft. Sansibars Kennzeichnung als Freund spezifiziert die Eigenschaften und den Auftrag des Helden: als Freund der ihn komplimentierenden Figur des desillusionierten deutschen Bauern Pankraz Ott aus der Identitätskrise zu helfen91 und als Führer und Agitator den gesellschaftspolitischen Weg Deutschlands zum sozialutopischen Ziel einer völkischer Erneuerung zu weisen. Im Zusammenwirken von Haupttitel und zeitgeschichtlich wie politisch einordnenden Nebentitel Ein Roman aus unseren Tagen verdichtet die Autorin Handlung und Botschaft, kündigt ihren Protagonisten als Versinnbildlichung des Nationalsozialismus an, als Volksfreund der Deutschen wie der Führer Adolf Hitler. Auf diese Weise signalisiert sie dem Leser keinen sentimentalen Eskapismus, sondern Aktivität und Bodenständigkeit als Bedingungen einer politischen und geistigen Binnenkolonisation Deutschlands.92 Das auffällige Titelwort ‚Sansibar‘ wiederholt sich achtzehn Jahre später bei Andersch. Er schätzt offenkundig dessen Literarisierbarkeit und rechnet damit, dass der Titel aus dem Literaturwissen der Öffentlichkeit herausgefallen ist. Es ist vor allem die Sehnsuchts- und Inselutopiemotivik, die Anderschs Interesse steuert, eine Folge seiner Affinität zu Inseln und den damit verbundenen autobiografischen und literargeschichtlichen Konnotationen. 1951/52 lebt er in Kampen auf Sylt, 1953 auf den Liparischen Inseln, wo die Romanplanung mit dem aus TremelEggerts Roman angeregten Arbeitstitel „Graues Licht“93 und die Niederschrift beginnen. Im Jahr des Manuskriptabschlusses 1956 korrespondiert er mit Arno Schmidt über die von beiden befürchteten negativen Veränderungen der Bundesrepublik durch NATO-Beitritt (1954) und
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Tremel-Eggert bezieht sich mit der Titelformulierung auf Emil Strauss’ Roman Freund Hein. Eine Lebensgeschichte (1902). FS 5. Das Motiv ‚graues Licht‘ verwendet Tremel-Eggert in der Peripetiephase der Romanhandlung, als Pankraz Ott seine Katharsis erlebt (FS 329–336, hier 338, 2x 332).
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KPD-Verbot (1956). Sie erwägen Irland als potenzielles Emigrationsziel, als ihr Utopia vom idealen Staat auf der Insel Felsenburg.94 Andersch orientiert sich bei der Titelformulierung an der zweiteiligen Fügung des Vorbilds, indem er ebenfalls eine Doppelsemantik offeriert, bestehend aus der exemplarisch konkreten und einer grundsätzlichen, abstrakt-programmatischen Information.95 Entsprechend seiner völlig anderen Definition von politischem Widerstand semantisiert er Tremel-Eggerts Texttitel um. Er befreit den ersten Teil vom ideologisch-geschichtlichen Ballast, von der sozialen Sentimentalisierung, reduziert ihn auf den Exotikeffekt, den Inselmythos und dessen utopische Qualität. Die zweite Veränderung bezieht sich auf den Erläuterungsteil des Titels. Andersch löscht den parteipolitischen Bezug und gibt ihm eine ethisch überhöhte Dimension, mit der er auf die philosophische, metaphysisch-ontologische und moralisch-appellative Dimension des Textes weist. Er ersetzt diesen durch den Leibnizschen Satz „vom zureichenden Grunde“;96 denn ihm geht es nicht um parteipolitische Agitation, sondern um Ideologiekritik sowie die ethisch kontrollierte Erkenntnissuche nach Lebensweg, Lebenssinn, Willensfreiheit und Identität. Zielt TremelEggerts Titel auf leichte Verständlichkeit, auf emotionalen und zeitgeschichtlichen Anspruch, akademisiert Anderschs das Signalwort, was zu einer dem Durchschnittsleser kaum verständlichen Erläuterung führt. Entsprechend seiner bekannten Neigung zu Moralismus, rigorosen Urteilen und pathetischen Verbalgesten schärft er die Leibnizsche Formulierung zu: oder der letzte Grund. Die alternativlose und damit apodiktische Bewertung dulde, belehrt der Autor, keinen Widerspruch. Die Titelei impliziert die antithetische Funktion seines Romans als Kompensationsleistung der ihm unterschwellig bewussten traumatischen Erfahrungen von unterlassenem Widerstand und sich wiederholendem Ausweichen.97
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Brief von Andersch an Schmidt vom 20. Dezember 1956: „Ohne diese beiden Faktoren wäre Irland in der Tat das geeignetste Land zum Emigrieren, oder für die Form der Halbemigration, die wir im Sinne haben“. Schmidt bestätigt Andersch am 23. Dezember 1956, dass Irland als „das einzig ‚freie‘ Land in Europa. [...] In außereuropäischen Räumen wär’s natürlich die Insel Felsenburg, wo man ebenfalls Englisch spricht, und alle Leute 100 Jahre alt werden – nur ist die Überfahrt dorthin für mich zu teuer.“ In: Schmidt, Arno: Der Briefwechsel mit Alfred Andersch. Zürich 1985, S. 105, 107. Die parallele und zugleich alternative Aussage folgt einer Formulierungstradition: J.W. von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden (1821); Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel oder wo sich Herzen zum Herzen find’t (1892); Max Frisch: Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie (1953). Der Rückbezug auf den ‚Satz vom zureichenden Grunde der Dinge‘ für alles Seiende impliziert die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Welt: „Alles, was ist, hat einen Grund seines Seins“ (Grund-Folge-Gesetz: Ursache und Wirkung; G.W. Leibniz, 1646–1716). Bemerkenswerterweise berücksichtigt Andersch ein Jahr nach Erscheinen des SansibarRomans das Signalwort ‚Sansibar‘ nicht bei der Titelformulierung seines Hörspiels „Aktion
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4.3 Schauplätze Schauplätze bieten einen Weltausschnitt an, die von den Autoren für den Handlungsablauf von Erzähltexten zweckmäßig ausgewählt werden. Angesichts von Anderschs konzeptioneller Orientierung an dem Roman von Tremel-Eggert folgt auch die Wahl seines Schauplatzes Rerik zwei identischen Kriterien, dem Lokalismus regionalistischer Eingrenzung und der semantischen Sättigung mit politischem Potenzial. Generell fällt auf, dass beide Autoren sich für die literarästhetische Umsetzung ihrer identischen Thematik von existentieller Grenzerfahrung des Einzelnen für den regionalen Präzedenzfall entscheiden: die hermetische mikrokosmische „Modell-Situation“98 im regionalen Reduktionsraum.99 Die Regionalität einer ländlich-kleinstädtischen Gemeinde und Provinz lässt differenzierte Individualisierung und übersichtliches Personenagieren im Spannungsfeld von Heimat und Fremde zu, topografische wie fiktionale Nähe und Ferne, nostalgische Erinnerung und sentimentale Sehnsucht, ideologische Gefolgschaft und Verweigerung. Ihre jeweilige erzählte Provinz eignet sich dazu, unter konträren weltanschaulichen Vorzeichen eine literarische Antwort auf gesellschaftliche Fragen der Zeit zu geben. Tremel-Eggerts Dorf Kümmersberg und die Region um Burgkunstadt im bayerischen Oberfranken und Anderschs Kleinstadt Rerik an der mecklenburgischen Ostseeküste sind symbolträchtige Schauplätze des NSRegimes. Wie verfährt die Autorin im Einzelnen? Sie transformiert die Obermainregion – eine der ihr vertrauten traditionsreichen Kulturlandschaften – in der Verbindung von topografischer Fixierung in der Wirklichkeit und fiktionaler Auffüllung erzählerisch zu einem historisch-politisch bedeutsamen Raum in Grenzlage. Dieser bildet für den Handlungsgang den Fluchtpunkt einer narrativen Mythisierung und Verquickung von geklitterter deutscher Geschichte mit Heimatideologie und Christentum. Um die Bedeutung von Provinz für ihren Text zu funktionalisieren, macht Tremel-Eggert die Bauernhöfe von Pankratius Ott zum Mittelpunkt eines Raum-/Zeitgefüges, das von dem Nest Kümmersberg über die Städte Coburg (ab 1922: Hochburg der Nationalsozialisten), Bamberg (1926: NSFührertagung), Bayreuth (1933: Hauptstadt NS-Gau Bayerische Ostmark),
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ohne Fahnen“, das auf der thematischen wie stofflichen Grundlage des Romans entsteht. Auch wenn der Text auf die Barlach-Handlung reduziert wird, lässt sich keine überzeugende Erklärung dafür finden. Die Titelformulierung des Hörspiels weist eine auffällige Übereinstimmung mit Peter Bamms Text Die unsichtbare Flagge (1952) auf, der wenige Jahre vor dem Sansibar-Roman und der Hörspielfassung erschienen ist. Andersch: „Aktion“, S. 5. Vgl. die wegweisenden Beiträge von Mecklenburg, Norbert: Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman. Königstein / Ts. 1982; ders.: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. München 1986.
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Nürnberg (Stadt der Reichsparteitage), Deutschland und die Welt reicht, von der Gegenwart bis in die urzeitliche Sagenwelt. Diese Organisation korrespondiert mit dem Blut-und-Boden-Diktum, dass „ihrer aller Urzelle [...] das Dorf“ ist, von dem seit der Frühzeit die politische Missionierung von Staat und Welt ausginge. Unter diesen Umständen entfalten die beiden Leitfiguren, der Bauer Pankraz Ott und der Agitator Titus Pfautsch vulgo Sansibar, ihre erfolgreichen ‚volksgenossenschaftlichen‘ Aktivitäten für NSIdeologie und NS-Staat. Die Referenzsicherheit ergibt sich ihr aus der parteipolitischen Überzeugung, dass sie und die NSDAP über die Wahrheitssuche als Mittel gegen das „große Müdesein“100 in der Gesellschaft verfügten: die ländliche „Heimat du, ewig beständige, du allein treue. Nicht die Städte [...] sind Deutschland. [...] Kümmersberg ist Deutschland!“101 An der literarischen Verwendung des historischen Ortes Rerik102 im Sansibar-Roman ist erkennbar, wie Andersch sich am Vorbildtext von Tremel-Eggert orientiert und mit welchen Mitteln er den Zusammenhang von autobiografischem Bezug und NS-Zeit bewusst zu neutralisieren versucht. Wie bei Tremel-Eggert ist die Ortswahl autobiografisch und regionalgeschichtlich begründet. Die Schauplatzeinrichtung und erzählerische Nutzung folgt ebenfalls dem regionalistischen Prinzip von der Spiegelung der Welt im mikrokosmischen Ausschnitt. Entsprechend der NS-politischen Thematik und darauf ausgerichteten Schauplatzwahl bei Tremel-Eggert entscheidet Andersch, konzeptionell logisch, nach demselben Kriterium und wählt einen gleichermaßen NS-politisch überaus relevanten Ort als Schauplatz: eine ihm vertraute ländlich-provinzielle Region mit einem topografisch auffindbaren Ort und spezifischem Lokalkolorit, nämlich Rerik, an der Peripherie des Deutschen Reiches liegend, in Grenznähe, nicht im Osten, sondern im Norden. Sein vergleichbares Raum-Zeit-Gefüge ist ebenso konzentrisch angelegt und globalisiert den Schauplatz vom Innenraum der Kirche St. Georg über die Ostseeküste (Wismar/Lübeck) bis an den Mississippi und nach Russland in Verbindung mit einer Austiefung des Zeitgefüges von der Handlungsgegenwart bis in die Frühgeschichte. Ist für Tremel-Eggerts Erzähler die Region der mikrokosmische Bezugsraum einer biografischen und ideologischen Heimat, differenziert Andersch, indem er festlegt, dass Region ebenfalls biografische Heimat sei, nicht aber ideologische, denn nur so können seine Figuren individuell „auf den totalen Staat“ und das „Unrecht“ in eigener „Freiheit“ reagieren. Für Andersch ist Rerik Deutschland.103
_____________ 100 FS 94. 101 FS 29. 102 Kleinstadt und Badeort (Kreis Bad Doberan, Bez. Rostock) nordöstl. von Wismar, am Salzhaff (Ostsee) und am Anfang der Halbinsel Wustrow gelegen (2100 E./1999). 103 KF 45f., 112.
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Es gibt einen gravierenden Unterschied im Umgang mit dem Schauplatz: Tremel-Eggert behält das politische Potenzial bei, füllt es zusätzlich im Interesse ihrer politischen Belehrung semantisch auf, um dreizehn Jahre deutsche Geschichte als Parteigeschichte der NSDAP durch dynamisch agierende und nationalbewusste Bürger interpretieren zu können. Andersch dagegen konzentriert sich auf die Widerstandsaktionen weniger Personen gegenüber dem NS-Regime an einem Tag im Jahr 1937, entleert das historisch-politische Potenzial des wirklichen Ortes Rerik von 1938 und führt das Regressionsverhalten seiner Figuren vor. Dem kritischen Leser, vertraut mit Anderschs Roman- wie Hörspieltext und der tatsächlichen Ortsgeschichte, stellen sich auf Grund dieser irritierenden Umstände zwei Fragen zu seiner inhaltlich sinnvollen Schauplatzwahl und erzählerischen Umsetzung. Welches sind die Voraussetzungen für Anderschs widersprüchliche Entscheidung? Und: In welcher Weise geht der Autor mit der NS-Kleinstadt Rerik um? Es ist anzunehmen, dass er – angesichts seiner Neigung zu exkulpierender Verschleierung des Verhältnisses zur NS-Zeit – durch Veränderung und Aussortierung von belastenden Fakten auch bei der literarästhetischen Umsetzung des Schauplatzes Rerik so verfährt. Geht man davon aus, dann hat der Autor versucht, die Konfliktsituation von biografischer Camouflage, konzeptionell geeignetem Material und literarästhetischer Notwendigkeit zu lösen, indem er die ihm langfristig wichtigere Bedingung des Selbstschutzes präferiert zu Lasten der künstlerischen Plausibilität seines Sansibar-Romans. Die ortsgeschichtlichen Fakten einer für die NS-Politik außergewöhnlichen Kleinstadt, die der Autor eliminiert, unterstreichen seine vermutlichen Befürchtungen, davon in der Öffentlichkeit belastet zu werden. Auch wenn „Dokumentar-Wirklichkeit [...] kein künstlerisches Kriterium“ ist, wie Petra Morsbach zu Recht feststellt, so hat doch Andersch „ein Problem mit der Wirklichkeit“ – hier mit seiner Biografie und dem tatsächlichen Orte Rerik –, „weil das Bemühen des Erzählers um Authentizität – also erlebte Wirklichkeit – am deutlichsten missglückt ist“:104 1) Dass Andersch diesen NS-ideologisch bedeutungsvollen Ort wählt, überzeugt von der Romanthematik her, dass er aus biografischen Gründen die historischen und politischen Konnotationen meidet, den historischen Schauplatz entideologisiert und enthistorisiert, zu einem idyllisierten Fischerdorf Rerik fiktionalisiert, führt zum Bruch mit dem literarästhetischen Anspruch des Kunstwerks.
_____________ 104 Morsbach, Petra: Warum Fräulein Laura freundlich war. Über die Wahrheit des Erzählens. München u. Zürich 2006, S. 43.
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2) Rerik ist Andersch auf Grund „einer Wanderung entlang der Küste Mecklenburgs, im Spätherbst 1938“ vertraut.105 In der Hörspielfassung des Sansibar-Romans bestätigt der Erzähler, dass ihm Rerik und die Region von einem Aufenthalt im „Spät-Oktober 1938“ bekannt seien: „[...] ich gab der Stadt den Namen Rerik“.106 Um die topografische Verbindlichkeit im Sinne der fiktiven Wirklichkeit aufzuheben, weist der Erzähler überflüssigerweise darauf hin, dass er sich gleichzeitig von der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit distanziere, indem er „das allzu Realistisch-Genaue“ ‚verwische‘, verbindet jedoch gleichzeitig Rerik mit der geschichtlichen verifizierenden Attribuierung vom „uralten wendischen Fischerdorf“ im Hörspieltext und mit der historischen Wirklichkeit des Jahres 1937 in der Romanhandlung. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Andersch mit der Jahreszahl noch einmal darauf hinweisen will, er habe mit dem Jahr 1938 und den biografischen Implikationen nichts zu tun.107 3) Das NS-politische Potenzial des historischen Ortes Rerik setzt sich aus Facetten zusammen, die das NS-Regime kennzeichnen: (a) Rerik ist ein NS-propagandistisch begründetes Siedlungskonstrukt,108 das am 1. April 1938 das Stadtrecht erhält; (b) Die Verleihung an die reichsdeutsche Mustersiedlung erfolgt in einer Propagandaaktion der Partei durch den Reichsstatthalter Friedrich Hildebrandt;109 (c) Die Vergabe des angeblich germanischen Siedlungsnamens Reric ist Teil der ideologischen Zielsetzung, den Anspruch auf die frühgeschichtliche Germanisierung im Ostseeraum zu festigen;110 (d) Die Aktion flankiert propagandistisch die Annexion Österreichs, die „Sudetenkrise“ und die sich abzeichnenden Judenpogrome; (e) Rerik ist Militärstandort und größter Flakartillerie-
_____________ 105 Andersch: „Aktion“, S. 3; Variante: „[...] als ich im Spät-Oktober 1938 den mecklenburgischen Küstensaum entlang wanderte [...]“ (S. 4). – Andersch arbeitet zwischen vom 1. April 1937 bis zur Einberufung Anfang 1940 bei den Leonar-Werken (Hamburg). Von hier aus unternimmt er Ausflüge, darunter im Oktober 1938 an die mecklenburgische Ostseeküste. 106 Andersch: „Aktion“, S. 4, 5. 107 Andersch: „Aktion“, S. 5. 108 Schacht, Alexander: Wustrow. Vom Rittergut zur Garnison. Schwerin 1995. 109 Rostocker Anzeiger vom 2. April 1938; „Acht neue Städte in Mecklenburg. Rerik (Alt-Garz), Kühlungsborn (Arendsee/Brunshaupten), Lübtheen, Zarrentin, Klütz, Dassow, Neukloster und Dargun erhielten heute Stadtrecht“. In: Mecklenburger Zeitung vom 1. April 1938, Nr. 77. 110 Beltz, Robert: „Rerik und Thrasiko. Zwei Namen unserer frühesten Geschichte“. In: Monatshefte für Mecklenburg 14 (1938) S. 220–222; Jöns, Hauke, Friedrich Lüth u. Michael Müller-Wille: „Ausgrabungen auf dem frühgeschichtlichen Seehandelsplatz von GroßStrömkendorf, Kreis Nordwestmecklenburg. Erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes“. In: Germania 75 (1997), Bd. 1, S. 193–221.
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schießplatz der Deutschen Wehrmacht (Ausbau: 1933–1938).111 (f) Es erfolgt die Einführung des jüdischen Passes mit dem Stigma ‚J‘. Zusammengefasst: Rerik ist ein Ort der Unfreiheit, Inhumanität und militärischen Macht. Ist das ‚Verwischen‘ dieser Zusammenhänge eine Funktion des Verdrängens, also Schutzmaßnahme, „das allzu Realistisch-Genaue“ nicht öffentlich werden zu lassen, d.h. seine Biografie von Implikationen mit Rerik, dem ‚Dritten Reich‘, einer Nähe zum Regime und letztlich seiner Kenntnis des Sansibar-Romans von Tremel-Eggert freizuhalten? Antwortete er, die politischen Konnotationen seien für das Textverständnis überflüssig oder aber erschlössen sich über den Ortsnamen, dann wiche er aus, denn dem Leser ist die Ortsgeschichte unbekannt, was wiederum zu rezeptionsästhetischen Problemen führt. Also bleibt die Frage: warum das camouflierte Rerik an der Ostsee und nicht irgendeine andere Küstenstadt? Schaut man auf die grundsätzlich übereinstimmenden Bedingungen von autobiografischem Bezug, historischer Wirklichkeit und fiktionaler Realität, dann stellt man fest, wie bei Tremel-Eggert diese Konstituenten im Erzählkonzept miteinander funktionieren, bei Andersch jedoch auseinander fallen. Petra Morsbach hat an Hand von Anderschs Erzählung Der Vater eines Mörders (1980) den literarästhetisch gestörten Zusammenhang von historischer Wirklichkeit und literarisch beanspruchter Authentizität, von der Wahrheit subjektiver Weltgestaltung und ihrem Bezug zur außerliterarischen Wirklichkeit aufgezeigt.112 An der fiktiven und zugleich historischen Figur vom Schuldirektor Himmler werde dies deutlich. Der verwendete „Klarname“, im Kontext vom autobiografischen SchulTrauma und „Nazi-Trauma“113, führe im „Gedächtnismanagement“ zu Veränderungen, die bei der literarischen Umsetzung „deutliche, ästhetisch fatale Zeichen der Unwahrheit und des Irrtums“ ergäben.114 Im Sansibar-Roman gibt es den vergleichbaren Fall, die Ortsbezeichnung Rerik. Als Stellvertretervokabel für die raum-zeitliche Verortung der Handlung im NS-System ist das Toponym Rerik wie der Name Himmler die erzählerische Scharnierstelle zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Auch diesem zeithistorisch gebundenen und handlungszentralen Klarnamen
_____________ 111 Der Aufbau des Luftwaffenübungsplatzes Wustrow – jetzt Flakartillerieschießplatz Rerik. (Bis zum Beginn des großen Krieges im Sommer 1939) Hg. mit Genehmigung des Reichsluftfahrtministeriums von Regierungsoberamtmann Bergsdorf, Flakartillerieschule Wustrow. 2. erw. Auflage München: Artis, 1942. 112 Morsbach: Fräulein Laura. Darin: „‚Um die allergröbste Mißdeutung auszuschließen‘. Der Vater eines Mörders“, S. 33–55. 113 Morsbach: „Mißdeutung“, S. 49f. 114 Morsbach: „Mißdeutung“, S. 45.
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samt seiner semantischen Füllung, NS-gesättigt, verweigert der Autor die ästhetische Integration. So bleibt Rerik im Text, die Folge verweigerter Referenz, ein erratisches Schauplatzmotiv der Verschleierung und Unwahrheit. Es verursacht – wenn man Morsbachs Urteil zum HimmlerMotiv folgt – jene auch im Sansibar-Text „gestörte Ästhetik“, von der man auf ein NS-traumatisches Teilthema „von hoher persönlicher Brisanz schließen“ kann, das „nicht zu der Wirklichkeit“ führt, „die bewältigt werden sollte, „sondern von ihr weg.“115 4.4 Personen und Handlung Schriftsteller, die ihre politische Ansicht literarisiert vermitteln wollen, sind poetologisch zu der Zusammenstellung von Konstituenten genötigt, geeignet zur entsprechenden Funktionalisierung der Erzählabsicht. Das führt – wie Andersch richtig sagt – zum Konstrukt der ‚Modellsituation‘, an der über stereotypisierte Figuren und ihr Handeln die weltanschauliche Demonstration, dialektisch organisiert, vom Leser nachvollzogen werden kann. Beide, Tremel-Eggert und Andersch, folgen diesem Konzept. Es ist Anderschs rechtfertigender poetologischer Hinweis im einleitenden Erzählerbericht seines Hörspiels „Aktion ohne Fahnen“ (1958), mit dem er für sich, indirekt auch für Tremel-Eggert, die vom politischen Anliegen bestimmte Konstruktion beider politischen Sansibar-Romane an Hand von drei Umständen erklärt: die kalkulierte Organisation einer erzählerisch geeigneten „Modell-Situation“; ihre regionalistische Platzierung in dörflich-kleinstädtischem Milieu; die Abschwächung der historischpolitischen Konnotationen durch das ‚Verwischen‘ des „allzu RealistischGenaue[n]“.116 Lokalismus und relativierte NS-historische Referenzen verstärken im Interesse des politischen Anliegens die gewünschte Funktionalisierbarkeit von Personen und unterschiedlich definierter Widerstandsthematik, verbunden mit einem unterschiedlichen ethisch-moralischen Imperativ. Diesen Prämissen folgen die Wahl des epischen Personals und dessen Agieren im Spiegel von Zeitkrise, Personenkrise und Identitätssuche. Nach einer grundsätzlichen Klärung des Zusammenwirkens von Personenkonstellation und Handlungsgang in beiden Romanen schließen sich drei Exkurse über herausragende Figuren an: zu den Protagonisten Titus Pfautsch alias Sansibar/Lesender Klosterschüler, den Juden Ignaz/Judith Levin alias Leffing und den Indefinitpronomen die Einen/die Anderen.
_____________ 115 Morsbach: „Mißdeutung“, S. 48f. 116 Andersch: „Aktion“, S. 5.
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Wie verfährt Tremel-Eggert? Ihr ethisch-moralisch verbrämtes politisches Anliegen ist ideologisch festgelegt. Freund Sansibar „ist ein Roman der deutschen Sehnsucht, des deutschen Kampfes und seiner, mitten aus unserem Volk erwachsenen Erfüllung“ (1942). Diese Konzeption der pervertierten Utopie hat konstitutiven Einfluss auf die Organisation der Figuren und deren Handeln. Mit dem agitatorischen Text will sie die Öffentlichkeit weltanschaulich belehren. Daher wiederholt sie diese Kommunikationssituation im Roman, indem der Erzähler einen agitierenden Protagonisten als missionierenden ‚Führer‘ und personifiziertes NS-Parteiprogramm einsetzt mit dem Auftrag, das deutsche Volk, repräsentiert durch Stellvertreter, für das ‚neue nationalsozialistische Deutschland‘ zu gewinnen. Weil Gegenstand und Romanausgang definitiv sind, geht es im Text lediglich darum, die Botschaft zu veranschaulichen. Für die epische Realität, präformiert durch die historische Realität, bedarf es stereotypisierter Rollenakteure, die das soziologische Spektrum der Bevölkerung repräsentieren, um das politische Anliegen auf diese projizieren zu können. Damit die Botschaft der NS-Ideologie und die damit verbundene Frontstellung gegen die Feinde der NSDAP vorgeführt werden können, installiert der Erzähler drei Personenkreise, die die gesellschaftspolitische und soziologische Situation zwischen den Weltkriegen dokumentieren sollen. Den unterschiedlich existentiell irritierten Vertretern der Bevölkerung, dem Bauern, Schreiner, Getreidekaufmann, Arzt, Lehrer und Sattler, stehen gegenüber der Agitator Sansibar, d.i. Titus Pfautsch, als Personifizierung von NS-Parteiprogramm und Führungsauftrag sowie die Gegner der ‚Bewegung‘, der Jude, die Sozialisten und Kommunisten. Sansibars Wille zur nationalkonservativen Umgestaltung der Gesellschaftsordnung – mit der Benennung sinnfälligerweise dem römischen Kaiser Titus gleichgesetzt117 – kontrastiert die Willenlosigkeit des Freundes Pankraz Ott, stellvertretend für das politisch und wirtschaftlich traumatisierte deutsche Volk. Im epischen Vorgang gelingen politische Bekehrung, Ausschaltung der Volksfeinde und die Solidargemeinschaft der Volkgenossen im Glauben an den Nationalsozialismus. Weil Andersch in seinem Roman ebenfalls ein politisches Anliegen vorträgt, wiederholen sich in seinem Text identische Prinzipien der Erzählorganisation. Die übereinstimmenden Details sind nicht nur eine Folge des Genrezwangs, sondern auch die Folge von Anderschs Vorbildorientierung. Indem er Modellsituation gegen Modellsituation stellt, seine
_____________ 117 Titus: Name lat. Herkunft, römischer Kaiser, Bedeutung im Sinne von Ruhm, Verdienst, Ansehen; im 1. Jahrhundert Eroberer und Zerstörer Jerusalems, als idealer Herrscher gerühmt.
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apodiktische politische Botschaft gegen die andere, folgen seine ebenfalls stereotypisierten Figuren in ihrer darauf abgestimmten Rollenkonfiguration in paralleler Personenführung, bei unterschiedlicher Handlungsstruktur (szenische Bildabfolge), grundsätzlich der Konzeptlogik von Tremel-Eggert. Dass Andersch die Zahl der Akteure verringert, ist eine Folge der didaktisierenden, parabelhaften ‚Modellsituation‘, die auf einen hermetischen Handlungsgang auf hermetischem Schauplatz innerhalb einer hermetischen Zeitspanne abzielt. Wie verfährt Andersch für seine Rollenprosa bei der Bestimmung der Figuren und deren Choreografie? Einer Mitteilung poetologischer Kriterien, die die Vorgehensweise erläutern, weicht er aus. Steuerndes Kriterium ist die axiomatisierte Feststellung seiner untadligen, ihm unangreifbar erscheinenden weltanschaulichen Redlichkeit, verbunden mit vagen, eher widersprüchlichen Hinweisen zur narrativen Umsetzung. Wenn sich ein „Schriftsteller [...] mit den gesellschaftlichen und politischen Problemen seiner Zeit“ ‚beschäftigt‘,118 dann sei die „Abstraktion“ die angemessene „Reaktion der Kunst auf die Entartung der Idee zur Ideologie“119. Er schreibe darüber ja „aus Wahrheitsliebe“, habe daher „keine Tendenz und keine Predigt nötig“,120 denn er wolle lediglich „Möglichkeiten“ anbieten, „aus denen sie [die Leser; A.R.] wählen können.“121 Die Personalentscheidungen trifft er analog zu Tremel-Eggerts Text, so dass die Kriterien dafür, ihre Ausstattung und ihr Handeln sowie die dreifache Figurengruppierung weitgehend übereinstimmen. Für seinen mikrokosmischen Bezugsraum von 1937 wählt er den Fischer, Kommunisten, Theologen, den Jungen und die Jüdin als vergleichbare Stellvertreterfiguren der Bevölkerung, auch eine geistige ‚Führungsperson‘, Barlachs Kunstfigur des Lesenden Klosterschülers, und die Gegner, verkörpert durch die marionetten-, d.h. schemenhaften Repräsentanten des NS-Staates. Um das ausweichende Verhalten seiner Personen plausibel erscheinen zu lassen, fügt er diesen eine zweite Figur bei, die die jeweils problematische Haltung begründen soll: Gregor und Franziska (Regimeopfer), Judith und Mutter (Regimeopfer), Junge und Vater (Lebenskrise, Tod auf See), Helander und Käthe (sinnloser Kindsbetttod), Knudsen und Bertha (potenzielles Regimeopfer), Lesender Klosterschüler und Barlach (Regimeopfer). Mit dieser Maßnahme verstärkt der Erzähler aber lediglich den Konstruktcharakter der Figuren, ihre Stereotypie und Funktion als Rollenträger.
_____________ 118 119 120 121
Bonilla: „Literatur“. Andersch, Alfred: „Die Blindheit des Kunstwerks“. In: Andersch Lesebuch, S. 212f. Alfred Andersch, 1947. Zit. n. Über Alfred Andersch, S. [5]. KF 71.
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Seine Zusammensetzung folgt dem Prinzip der anonymisierten, distanzierenden Stellvertreterfunktion für isolierte Menschen, die durch die Attribute Diskriminierung, Identitätssuche und Fluchtabsicht zur Gruppe werden. Die Personenkonstellation, symbolisch ausgezeichnet durch die Zahl Fünf als Zirkularziffer der Vollendung und des menschlichen Mikrokosmos, ist konzentrisch um die zentrale, einzige reale Figur der Holzskulptur angelegt. In dieser Konfiguration agieren die einsamen Personen zwischen Rückzug und Aufbruch, Existenzüberprüfung und Entfremdung, Freiheits- und Entscheidungssuche. Den ersichtlichen Widerspruch von Theorie – der politisch-moralischen Botschaft – und der Praxis – literarische Umsetzung – löst Andersch bei der Figurenkonzeption nicht auf. Andersch verfällt, gesteuert von den Zwängen seiner politischen Weltsicht, in dasselbe Klischieren und Funktionalisieren der paradigmatischen Figuren im Dienste einer politischen Idee wie Tremel-Eggert. Diese Reduktion macht deren Handeln vorhersehbar. Damit folgt er mit seinem Gegenentwurf den Einflüssen des Vorbildtextes und erliegt den üblichen erzählerischen Konsequenzen, die sich aus der literarischen Umsetzung eines festgelegten politischen Anliegens ergeben. Wie bei Tremel-Eggert verfügen auch seine Personen über keine Entscheidungsfreiheit, denn ihr Handeln ist eine ihnen übertragene Funktion im Dienste der moralisierenden Belehrung durch den Autor. Und: Seine Figuren agieren im Unterschied zu Tremel-Eggerts Personen, die in Widerstand und Aufbruch innerhalb der Textlogik glaubwürdig handeln, überwiegend regressiv, resignativ, sich in der ‚Desertion‘ mit privatisierten moralischen Argumenten exkulpierend:122 sie „antworte[n] auf den totalen Staat“ zwar nicht mit völliger Introversion, aber doch mit Zögerlichkeit und Zurückweichen vor der Geschichte.123 Sein Modifizieren des chronologischen wie kausalen Erzählens aus auktorialer Perspektive durch Techniken moderner narrativer Ausgestaltung ändert nichts am grundsätzlich nachgeahmten Konzept, aus dem sich die literarästhetischen Probleme des Romans ergeben.
_____________ 122 Von Andersch favorisiertes Motto: „Ich baue nur noch auf die Deserteure“ (André Gide, Journal, 11. Mai 1941). 123 „Ich haßte die Arbeit, die mich jeden Morgen um acht Uhr vor den Kontenrahmen einer Verlagsbuchhandlung zwang, und ich ignorierte die Gesellschaft, die sich rings um mich als Organisationsform den totalen Staat errichtete. Der Ausweg, den ich wählte hieß Kunst. [...] Ich antworte auf den totalen Staat mit der totalen Introversion.“ Andersch: Kirschen, S. 45f. Vgl. dazu auch das Verhalten der Hauptperson in Peter Bichsels Erzählung mit dem gleichermaßen exotischen Titel „San Salvador“.
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Exkurs: Protagonisten – Titus Pfautsch, gen. Sansibar und Lesender Klosterschüler Die zwei Leitfiguren, Lesender Klosterschüler in dem einen und Sansibar in dem anderen Roman, lassen erkennen, dass Andersch auf TremelEggerts Text rekurriert und den eigenen Protagonisten als korrespondierende Antithese konzipiert hat. Beide Personenentwürfe sind symbolisch gemeint und repräsentieren in dieser Funktion das, was die Autoren als geistige Orientierung für ihr Weltbild, den Text und die Rezeption in Anspruch nehmen. Sie erfüllen als Führungspersonen den jeweiligen Utopieanspruch der Intention und markieren den ideellen wie tatsächlichen Fluchtpunkt der Handlung. Der NS-Agitator und Antisemit Sansibar personifiziert in TremelEggerts Roman paradigmatisch die national-konservative Revolution, die so genannte Kampfzeit der NSDAP bis zur so genannten Machtergreifung am 30. Januar 1933, das NS-Parteiprogramm, den Führerkult und Reichskanzler Adolf Hitler.124 Um diese Funktion historisch zu legitimieren, lässt der Erzähler ihn an den parteipolitisch mythisierten Ereignissen teilnehmen.125 Sansibars Qualifikation dokumentieren sein Beiname und seine Biografie. Er verkörpert als gescheiterter Auswanderer (verlorene Weltgeltung Deutschlands), gescheiterter Soldat (verlorener Weltkrieg, Versailler Vertrag), verarmter Bauernsohn (verlorener Gesellschaftskonsens/Wirtschaftskrise) die deutschen Traumata. Weil er Deutschland davon befreien soll, wird er – von Gott ausgewählt126 – als dynamischer Idealist, Patriot und Politmissionar konzipiert. In dieser Rolle repräsentiert er die parteipolitische Zuversicht,127 „das Deutsche schlechthin“ und die „deutsche Heimat“,128 für die er – unter dem „Zeichen mit dem Sonnenkreuz“129 – „als Sämann in einsames weißes Land, seine, die neue Saat“ ausbringt.“130 Mit seinem sozialdarwinistischen Programm131 der Utopieerfüllung in einer egalitären ‚Volksgemeinschaft‘ „eines Blutes, eines Volkes, einer Zeit“132 lässt der Erzähler ihn gegen „Müdesein“, „Ohnmacht“ und Ziellosigkeit antreten,133 denn es müsse „‚endlich anders werden‘“134 in Deutschland.135
_____________ 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133
FS 96, 221, 291, 294, 397f., 414, 420–427. FS 220–223, 293f., 296, 397, 421. FS 215. FS 297f., 351f., 221, 279. FS 349, 290. FS 383. FS 233. FS 297f., 298. FS 189. FS 94, 216, 176f.
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Anderschs Entwurf seiner Gegenfigur des Lesenden Klosterschülers kann nicht verdecken, dass das konzeptionelle Grundmuster der Vorbildperson und der daran orientieren Konstruiertheit durch die narrative Umsetzung zu erkennen ist. Als Folge der von ihm wiederholt beschworenen Traumatisierung durch den NS-Staat setzt er keinen indoktrinierenden, d.h. bevormundenden postillon de la politique ein, der ein politisches Kontrastprogramm verkündet. Er wählt für sein politisches Anliegen von der freien Entscheidung des Individuums die reale Skulptur Lesender Klosterschüler von Ernst Barlach.136 Ihre Bedeutung als der geistige Mittelpunkt der Romanfiguren, der erzählten Botschaft und des Autors Weltsicht vermittelt der Text dadurch, dass der Erzähler sie ins Zentrum des Raumgefüges und der fünfköpfigen Personenkonstellation stellt und mit der Zahl Fünf symbolisch auflädt: die Zirkularzahl der Vollendung und des menschliche Mikrokosmos. Der von Tremel-Eggert und der NS-Ideologie funktionsentleerten Utopie stellt Andersch – tautologisch gesprochen – die offene Utopie gegenüber. Und das vollzieht er systematisiert über die Ausstattung seiner Figur mit Eigenschaften, die die Eigenschaften von Tremel-Eggerts Sansibar in direkter Korrespondenz kontrastieren: regressiv/aggressiv, leise/laut, introvertiert/extrovertiert, geistig offen/geistig geschlossen, Lesen/Reden, rezipierend/produzierend, emigrierend/verbleibend, sitzend/laufend, Kunstfigur/Lebensfigur, dauernd/kurzlebig, hintergründig/vordergründig, geistig offen/geistig verschlossen, Kunst/Politik. Mit dem Lesenden Klosterschüler beansprucht Andersch wie TremelEggert mit Sansibar eine Rückzugsmöglichkeit aus der eigenen Sinn- und Gesellschaftskrise. Auch bietet seine Figur als ebenfalls zentrales Textsymbol das Prinzip von Freiheit im Aufbruch an, jedoch als Identifikationsfigur „ohne Auftrag“.137 Beide wiederum offerieren Rettung vor dem Zugriff durch die „Anderen“138, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied einer moralischen und unmoralischen Begründung. Auch wenn Andersch für sich beansprucht, mit seinem Roman gleichermaßen als Patriot und Aufklärer zu handeln, so gewinnt doch die beabsichtigte Kontrastierung nicht jene notwendig scharfen Konturen der eindeutigen ästhetischen Transformation und Stellungnahme. Der Leser bleibt mit dem irritierenden Eindruck zurück, Anderschs Sansibar-Roman changiere zwischen eigenständiger Kunstleistung und abhängiger Nachahmung.
_____________ 134 FS 298. 135 FS 233. 136 Zur Verunsicherung Ernst Barlachs in seiner Haltung gegenüber dem NS-Regime: Piper, Ernst: Nationalsozialistische Kunstpolitik. Ernst Barlach und die „entartete“ Kunst. Frankfurt / M. 1978, S. 18f., 113ff. 137 SB 43f. 138 SB 29.
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Exkurs: Juden – Ignaz und Judith Levin In Tremel-Eggerts Roman tritt lediglich ein Vertreter der jüdischen Bevölkerung Deutschlands auf, der Jude Ignaz. Die Autorin stattet ihn – wie zur Zeit der Romanniederschrift als Ideologem vorgegeben – im Sinne des Zerrbilds vom ‚hässlichen Juden‘ aus. Damit folgt sie dem Negativtopos des männlichen Bürgers jüdischen Glaubens und greift, in parteipolitischem Gehorsam, die Negativklischees des Antisemitismus wie der antijüdischen Denktradition auf. Ihre Figur verkörpert den vom NS-Staat zum Volksfeind Nummer eins deklarierten Mitbürger und die Verbalisierung der antisemitischen Karikaturen in der Wochenzeitung Der Stürmer.139 Seine stereotypisierende Ausstattung bezieht die Autorin aus dem Eigenschaftenkatalog des ‚minderwertigen Menschen‘, wie es die einschlägige antisemitische Literatur, darunter auch Adolf Hitlers Mein Kampf, vorgibt. Der Hinweis im Bestimmungswort des Namenkompositums „Schächterignaz“ auf sein Judentum und die jüdische Tradition des rituellen Schlachtens von Tieren ist negativ gemeint, um ihn als Juden und brutalen Menschen zu stigmatisieren und gesellschaftlich auszugrenzen. Das gilt auch für sein berufliches Tun. Der „‚Geschäftsmann‘“ und „‚Güterschlächter‘“140 ist der wohlhabende, betrügerische, dem Geld verpflichtete, physisch und mental widerwärtige Jude, ahasverisch vagabundierend, unpatriotisch, selbstsüchtig und anbiedernd. Er personifiziert den „‚Saujud‘“,141 die „‚Eiterbeule im Volkskörper‘“142, das „‚Unglück der Menschheit‘“143, ist schuld an Weltkrieg und Wirtschaftskrise144 und daher zu Recht willfährigen Richtern und Lynchjustiz ausgesetzt.145 Um die ideologisch gewollte Opferrolle der Juden und das Klischee vom ‚hässlichen Juden‘ zu konterkarieren und dadurch als demagogische Darstellung wie Konsequenz der menschenverachtenden NS-Politik zu entlarven, entwirft Andersch eine Kontrastfigur aus der Motivtradition der ‚schönen Jüdin‘.146
_____________ 139 Der Stürmer (1923–1945), antisemitische Wochenzeitung. – Schwarz, Julia: „Visueller Antisemitismus in den Titelkarikaturen des ‚Stürmer‘“. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung (2010), Bd. 19, S. 197–216. 140 FS 280. 141 FS 129, 270f., 277–281, 414–417. 142 FS 400. 143 FS 325. 144 FS 323–328. 145 FS 400. 146 Daemmrich, Horst S. u. Ingrid Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur. Tübingen 1987, S. 191–196, hier: S. 195; Gilman, Sander L. (Hg.): „Der schejne Jid“. Das Bild des „jüdischen Körpers“ in Mythos und Ritual. Wien 1998; Grözinger, Elvira: Die schöne Jüdin. Klischees, Mythen und Vorurteile über Juden in der Literatur. Berlin 2003; Kohlbauer-Fritz, Gabriele (Hg.): Beste aller Frauen. Weibliche Dimensionen im Judentum. Wien 2007.
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Das ist zwar konzeptionell konsequent, aber es misslingt, die Jüdin als glaubwürdiges Opfer der Pogrome und dialektischen Gegenpart zu vermitteln. Die Bedingungen dafür hängen mit dem Kontext der Autorbiografie und mit problematischen literarästhetischen Entscheidungen zusammen. Schon dass er seiner jüdischen Figur nicht dieselbe zentrale erzählerische Bedeutung gewährt, mindert die Glaubwürdigkeit des personalen Entwurfs. Auch die für den Leser verdeckte symbolische Bedeutungsanreicherung durch den semantisch bedeutsamen Namen Judith Levin147, ihre Identifizierung – Geschichte verfälschend – durch einen Pass mit dem Stigmatisierungszeichen des roten ‚J‘148, die Fluchtstation Rerik und das Risiko der illegalen Emigration verhindern nicht, dass sich Zwischentöne einer Ironisierung der persönlichkeitsarmen, unverheirateten weiblichen Figur erkennen lassen. Das Figurenprofil bleibt insgesamt blass, sentimentalisiert, aber auch verkitscht – Judith hat „ein aus Gaslicht und Schwärze zart und unerbittlich geformtes Profil“149 – und scheint nach den genrehaft und erotisch stilisierten jungen deutschen Bäuerinnen in Tremel-Eggerts Sansibar, vor allem nach den Frauenfiguren in Bodo Uhses Roman Leutnant Bertram modelliert zu sein.150 Ein weiteres Moment ist der Versuch, die Ignaz-Figur und den Antisemitismus möglichst nachdrücklich dadurch zu kontrastieren, indem Andersch die Sichtweise der Täter gegen diejenige der Opfer auswechselt. Solch plausible Veränderung der Erzählsituation verhindert jedoch nicht, dass er – sozialisiert im ‚Dritten Reich‘ und in antisemitisch orientierten Elternhaus – sich bei der Ausstattung seiner Figur entgegen der eigenen ideologiekritischen Grundposition von den Facetten einer negativen Denktradition und dem ambivalenten Klischee von der beruflosen ‚schönen Jüdin‘ nicht konsequent distanziert. Wesentliche Attribute des Judenbildes bei Tremel-Eggert und der Motivtradition wiederholen sich.
_____________ 147 SB 17, 22. Judith: Judith Levin: vgl. SB 20, 25; (Leffing, SB 20, 21); Judith, (hebr.) Frau aus Jehud; Bezug auf das „Buch Judit“ (Apokryphen), in dem über die gläubige Witwe J. berichtet wird, dass sie unter der gewalttätigen Herrschaft Nebukadnezar II. dessen Feldhauptmann Holofernes tötete und ihre Vaterstadt Bethulia rettete, in die sich das bedrohte Volk Israel zurückgezogen hatte (Kontrastperson zur Romanfigur Judith); Levin, (hebr.) Sohn von Jakob und Lea (Genesis; 1. Moses 29, 34 / AT). 148 1938: Kennzeichnung jüdischer Bürger durch Passmarkierung: Nach dem Vertrag zwischen der Schweiz und dem ‚Deutschen Reich‘ (29. September 1938) erfolgt die „Verordnung über Reisepässe für Juden“ (rotes ‚J‘); Pogrom/Reichskristallnacht, Konferenz zur Endlösung, Arisierung jüdischen Besitzes, Höhepunkt jüdischer Emigration. 149 SB 108. 150 Frauenfiguren bei Tremel-Eggert in der Blut-und-Boden-Literatur: Glaser: Spießer-Ideologie, S. 145, 152. Siehe auch Exkurs zu Bodo Uhse.
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Die erste Konzession an die NS-Rassentheorie von einer spezifisch jüdischen Physiognomie ist Gregors Feststellung, auf Grund von Judiths Profil rückschließen zu können, dass sie aussähe „wie ein verwöhntes junges Mädchen aus reichem jüdischen Hause“,151 weil sie eines dieser „jungen jüdischen Gesichter“ habe, „ein besonders schönes Exemplar“.152 Mit der zweiten Konzession erfüllt der Autor das Klischee von der schmarotzenden ‚Bourgeoisen‘153 und dem reichen jüdisch-großbürgerlichen Establishment.154 Sie sei „eine junge Dame aus einer Hamburger Villa“155 „am Leinpfad“156, „mit [...] Degas im Salon“, einem „Garten mit den portugiesischen Rosen im Sommer, den Georginen und Dahlien im Herbst und mit dem olivseidenen Wasser das Alsterkanals,“157 mit Urlaub in „Kampen“ und „Sils Maria“, zwischen „Landhäuser[n]“, „Grandhotels“158, „Tennispartner[n] und Gentlemen“159. Sie ist reich, wohl erzogen,160 interessiert und gebildet,161 glaubt an die Käuflichkeit der Menschen.162 Insgesamt verkörpert sie bildungsbürgerliche Arroganz163 und weibliche Weltfremdheit164, aber auch das politische Versagen des gebildeten Judentums. Die dritte Konzession besteht in der propagandistischen Verknüpfung von jüdischer Frau, Sexualität und Rassenschande. Dazu entwirft der Erzähler sie zur weiblichen Sensation von Reriks Hafenmilieu, indem er sie in den Fluchtpunkt der Perspektiven dreier Männer – Gastwirt, Matrose und Revolutionär –, ihrer schwülen Besitzphantasien und davon stimulierten Gefühlswelt Judiths platziert. Sie, das „schwarzhaarige[s] Mädchen“ mit dem „schönen, zarten, fremdartigen Rassegesicht“ wird zum erotisierten Objekt stilisiert, zur „wilde[n] Komposition aus Augen, Nase, Lippen und Backenknochen“, zur „hübsche[n] Krabbe“, zum Sexobjekt einer – nach den Reichsgesetzen – möglichen Rassenschande.165 Die Form der chauvinistischen, genrehaften und erotisch stilisierten jungen deutschen Bäue-
_____________ 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165
SB 108. SB 59. SB 114. Sombart, Werner: Die Juden und das Wirtschaftsleben. Berlin 1911. SB 80. SB 18. SB 104. SB 122. SB 110. SB 72. SB 33, 75. SB 18f. SB 62. SB 18. SB 63, 112, 73.
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rinnen findet sich andeutungsweise bei Tremel-Eggert,166 jedoch sehr ausgeprägt in Bodo Uhses Roman Leutnant Bertram. Es ist nicht auszuschließen, dass Andersch auch Leseerfahrungen aus dem autobiografisch eingefärbten Roman Die Jüdin von Toledo von Lion Feuchtwanger, einem von ihm geschätzten Schriftsteller,167 berücksichtigt hat, zumal dieser Text drei Jahre vor der Publikation des Sansibar-Romans erschienen ist. Des Autors vermutlicher Konflikt von privatem Fehlverhalten, eingeforderter Totalitarismuskritik und Humanitätsförderung und erzählerischer Notwendigkeit mündet so erzählerisch in einen literarisch fatalen Kompromiss, der beim Leser – mit seinem Wissen über Holocaust und Autorbiografie – einen zumindest zwiespältigen Eindruck vermittelt. 4.5 Die Einen und „die Anderen“ Anderschs in ständiger Wiederholung geäußerter rigoroser Moralismus ist eine Folge seines dualistischen Gesellschaftsbildes. Er teilt sein Romanpersonal in die Einen, die mehr oder weniger überzeugt Widerstand leisten, und „die Anderen“, die das Unrechtsregime des ‚Dritten Reichs‘ verkörpern und durch Unterdrückung und Verfolgung stützen. Mit dieser Disposition folgt er dem Freund/Feind-Schema bei Tremel-Eggert. Die Wahl des epischen Personals, dessen Organisation und Agieren, ist eine Funktion von Thematik und Intention des Textes. Ein solcher Zusammenhang gilt insbesondere für den politischen Roman, in dem – ausgerichtet auf die weltanschauliche Position des Autors – das Konfliktpotenzial weniger an Einzelpersonen gebunden ist denn an Gruppierungen, die von Einzelpersonen vertreten werden. Von dieser Voraussetzung sind die Konzeptionen beider Romane bestimmt. Tremel-Eggert – überzeugte Parteigenossin – beauftragt ihren Erzähler, über den Widerstand gegen die Feinde des Nationalsozialismus und die Etablierung des NS-Regimes zu berichten. Andersch – überzeugter Kritiker totalitärer Systeme – folgt ihrer konzeptionellen Entscheidung, jedoch spiegelbildlich angelegt mit entgegengesetztem Vorzeichen: Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Weil nach Anderschs Diktum, „die Abstraktion [...] die instinktive oder bewusste Reaktion der Kunst auf die Entartung der Idee zur Ideologie [sei]“ und die „humanen und religiösen Ideen“ zur „ideologischen Gebrauchsanweisung“ pervertierten,168 reduziert er die NS-
_____________ 166 FS 168f., 223f., 240, 274, 283, 347. In dem Roman dominiert begreiflicherweise das Bild von der tatkräftigen, treuen deutschen Frau und Mutter. Vgl. auch Anm. 155. 167 Anm. 61. 168 Andersch: „Blindheit“, S. 212.
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Machthaber auf das Indefinitpronomen „die Anderen“, um diese durch dekonstruierende Enthistorisierung zu ächten und zu eliminieren. In einer wortreichen Rechtfertigung – „Über den Gebrauch zweier Wörter in einem Roman“ (1963/64)169 – weist er den Vorwurf des „lügnerische[n] Stilisierungsprinzips“ zurück, weil „nazi“ ein harmloser bairischer Name sei, die Nationalsozialisten aber Nazis und keine „Menschen“. Was er aber nicht erwähnt, ist der Umstand, dass diese verbale Abqualifizierung des Bösen keine Erfindung von ihm ist, wie er indirekt vorgibt. Die von beiden Autoren verwendete Konfrontationsrhetorik hat ihre Voraussetzungen in ideologiegeschichtlichen Konstellationen, in denen konträre gesellschaftspolitische Vorstellungen zu rivalisierenden Positionen führen. Konfrontation ist als Machtmittel ein wesentlicher Bestandteil der sonst so diffusen NS-Ideologie. In Mein Kampf (1925/1927) weist Adolf Hitler bereits mit der Überschrift auf den Kampf als Mittel der Konfrontation und Durchsetzung politischer Vorstellungen hin. Mit der Einteilung der Gesellschaft in die Einen – seine Parteigänger – und die Anderen – seine politischen Gegner – simplifiziert er die tatsächlichen gesellschaftspolitischen Verhältnisse im Interesse von nötigender Parteinahme und Agitation. Hitler spricht kontinuierlich vom ‚Zusammenprall‘ der „Wogen zweier Weltanschauungen“, vertreten durch die Nationalsozialisten und ihre „Gegner“, die „Propheten einer bürgerlichen Weltanschauung“, die Marxisten und die Juden. „Wenn wir Nationalsozialisten damals eine Versammlung abhielten, waren wir Herren derselben und nicht ein anderer;“ denn „allein die anderen wußten, daß vorher mindestens der doppelten oder dreifachen Zahl von ihnen der Schädel eingeschlagen worden wäre“.170 Diese Konfrontationsthematik beeinflusst nicht nur Haltung und Sprachgebung parteipolitischer Publikationen, sondern auch die NS-literarische Belletristik. Das gilt auch für Tremel-Eggert. Ihr Roman ist wie Hitlers Text auch eine Darstellung der so genannten Kampfzeit, personifiziert in der ‚revolutionären Führerfigur‘ von Freund Sansibar. Die ideologische Frontstellung des reisenden Agitators und seiner Urheberin ist im Sinne der parteipolitisch agierenden Autorin eindeutig: sie ist gerichtet gegen die Anderen, die politischen Volksfeinde von Kommunisten/Sozialdemokraten und Juden. Weil es ihr zum einen um die propagandistische Flankierung des NSStaates geht, zugleich aber auch darum, die neue Zeit als grundsätzliche Erneuerung von Deutschland und seiner Position in der Geschichte
_____________ 169 Heidelberger-Leonard u. Wehdeking (Hg.): Andersch, S. 226–228. 170 Unterstreichungen durch den Verfasser. – Hitler, Adolf: Mein Kampf. München 1937, S. 541–547; vgl. auch: S. 311–362, 538–567.
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darzustellen, vermeidet sie nahezu sämtliche zeitgeschichtliche Hinweise auf den Nationalsozialismus. Dieses erzählerische Überhöhen durch Anonymisieren wendet sie auch auf das an, was sie unter dem Bösen versteht. Sie bündelt die Feinde des Nationalsozialismus zur opponierenden und zu eliminierenden Gruppe. So macht sie ihren Helden Sansibar zum Teilnehmer an den historischen SA-Krawallen und antisemitischen Ausschreitungen in der Nacht vom 14./15. Oktober 1922 in Coburg, unter Beteiligung Adolf Hitlers, und lässt ihn mitteilen: „‚Ich seh zwar ein bißchen angeklätzt aus, nicht? Aber die anderen, die sind nicht weniger schön.‘“171 Die Frontstellung wiederholt sie auch für den so genannten Hitlerputsch vom „neunten dieses November“: „‚die einen singen, die anderen schießen [...] blind in deutsches Blut, [denn] die anderen sind die Stärkeren, sie haben das Ruder in der Hand.‘“172 Im Sinne seiner antifaschistischen Perspektive und Intention kehrt Andersch die Personenkonstellation um. Er rückt die Gegner des Nationalsozialismus ins Handlungszentrum, subsumiert das bei Tremel-Eggert regimetreue Personal unter der Formel von den „Anderen“, diese als das Böse kollektivierend, anonymisierend und ausgrenzend.173 Weil es um Widerstand geht, dient das Leitmotiv dem Erzähler kontinuierlich als Bedrohungsmetapher dazu, die Aktion und die Ängste auf die allgegenwärtige existentielle Gefährdung zu projizieren. Durch diese Maßnahme einer rhetorischen Zuspitzung der weltanschaulich antagonistischen Personengruppen vereinfacht er – dem auch ihn prägenden NS-Zeitgeist in verdächtiger Nähe folgend – wie Tremel-Eggert die zeitgeschichtlichen Verhältnisse im Roman und riskiert Tendenzen zur Ideologisierung seines politischen Verdikts. Gleichzeitig schwächt er das ab, was eigentlich seine ideologiekritische Intention ist, die Auseinandersetzung mit der NS-Ideologie und NS-Diktatur. Irene Heidelberger-Leonard weist mit scharfen Worten auf diese „Abwesenheit von Antisemiten und Nazis“ hin, wirft Andersch „Geschichtsfälschung“ vor, weil es wiederum nur um „vorbildliche Deutsche“ gehe und daher „von einer ernsthaften ästhetisch-politischen Auseinandersetzung mit der Bestialität des Nationalsozialismus [...] keine Rede sein“ könne.174
_____________ 171 FS 221. 172 FS 220–223, 291–294, hier 294; Unterstreichungen durch den Verfasser. 173 Vgl. ähnliche Formulierungen in: Bamm, Peter: Die unsichtbare Flagge (1952). 174 Heidelberger-Leonard, Irene: „Erschriebener Widerstand? Fragen an Alfred Anderschs Werk und Leben“. In: Heidelberger-Leonard u. Wehdeking (Hg.): Alfred Andersch, S. 51–61, hier: S. 53.
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Die von Andersch zurecht nicht publizierte Apologie „Ueber den Gebrauch zweier Wörter in einem Roman“,175 mit der er wortreich und sprachlich kapriziös der Kritik eines Münchner Germanisten an der Bezeichnung „die Anderen“ begegnet, ist eine intellektuell schlichte, daher eher peinliche Stellungnahme. Der Text enthält jedoch zwei bemerkenswerte Aussagen, von denen die zweite auch zufälligen Charakter haben kann. Zum einen ist es erstaunlich, wie empfindlich Andersch auf negative Kommentare zu diesem Motiv reagiert. Und zum andern fällt auf, wenn er erläuternd ausgerechnet auf Ludwig Thoma rekurriert,176 einen ausgewiesenen Unterstützer von Tremel-Eggert, und auf die namengeschichtlichen Zusammenhang von Nazi und Ignazius, dem Namen des verhassten Juden in deren NS-Roman. Dass er in den Hörspieltext „Aktion ohne Fahnen“ wesentliche Motive, die sich auf die Macht des NS-Staates beziehen wie die „Anderen“, Antisemitismus und Gestapoauftritt nicht aufnimmt, lässt sich nicht unbedingt als Konsequenz der Stoffreduktion deuten. 4.6 Exkurs: Kurzer Hinweis auf das Verhältnis von Anderschs Sansibar Roman zu Bodo Uhses Leutnant Bertram (1943) In Anderschs autobiografischer Skizze „Der Seesack“ heißt es: „Spanien ist der Schlüssel für alles. Ich werde nicht müde, alles über den Bürgerkrieg in Spanien zu lesen. Es hat eine große Geschichtsschreibung hervorgebracht, und eine große Literatur: Malraux, Hemingway, Orwell, Regler, Weiss.“177 Unabhängig davon, wann Andersch tatsächlich diesen Lektürehinweis niedergeschrieben hat, vermittelt er den Eindruck, dass er sich kontinuierlich, also schon vor der Erstveröffentlichung von „Seesack“, für diejenigen Veröffentlichungen interessiert hat, die den Spanischen Bürgerkrieg thematisieren. Als Motivation dafür verweist er auf eines seiner Traumata, den Widerstand gegen das NS-Regime nicht mit der Waffe geleistet zu haben. Mit penetranter Redundanz, mit der er vermutlich dem angenommenen Misstrauen seiner wenig glaubwürdigen Widerstandsethik korrigierend begegnet, bekennt er:
_____________ 175 Andersch, Alfred: „Ueber den Gebrauch zweier Wörter in einem Roman“ (unveröff., 1963/1964). Zit. n.: Heidelberger-Leonard u. Wehdeking (Hg.): Alfred Andersch, S. 226–228. Wieder in Ritter: Andersch, S. 97–99. 176 Thoma, Ludwig: Der Schusternazi (Komödie). 177 Andersch: „Seesack“, S. 94.
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Ich habe eine feine Entschuldigung: ich bin überhaupt nicht auf diese Idee gekommen. Wirklich, ich schwöre es: der Gedanke, ich könne nach Spanien gehen, ist mir niemals gekommen. Aber das macht die Sache nachträglich um so schlimmer. Ich könnte ja Gründe dafür finden, warum ich nicht nach Spanien gegangen bin, objektive und subjektive, aber dass ich nicht ein einziges Mal daran gedacht habe, es zu tun, ist eigentlich unentschuldbar.178
Um möglicherweise keine unerwünschte Schlussfolgerung beim Leser aufkommen zu lassen, verweisen die Autornennungen ausschließlich auf jene Publikationen, die den Krieg auf der iberischen Halbinsel aus kritischer Perspektive schildern, d.h. sie schließen jene nationalistisch und NSideologisch geprägten Publikationen aus, die zwischen 1939 und 1945 zahlreich erschienen sind.179 Eingedenk der Neigung Anderschs, sein problematisches Verhältnis zum ‚Dritten Reich‘ durch Selbstanklage und korrigierende Bereinigung der Biografie zu verschleiern, sieht sich der Philologe durch die zitierte Feststellung angeregt, ausgewählte deutschsprachige Romane zum Spanischen Bürgerkrieg zu konsultieren. Die auffälligste Lücke in der Aufzählung betrifft Bodo Uhse und seinen Spanien-Roman Leutnant Bertram (1943).180 Die Lektüre irritiert. Uhse schildert in zwei Teilen die gesellschaftspolitischen Verhältnisse im Deutschen Reich und während des Spanischen Bürgerkrieges. Der Text weist eine Reihe von teilthematischen und motivlichen Ähnlichkeiten bei der Schauplatzwahl (Topografie/Ort), den Figuren und der erzählten Zeit mit dem Sansibar-Roman auf. Aus Sicht des auktorialen Erzählers werden im ersten Teil die Spannungen zwischen den Bewohnern eines kleinen Fischerdorfes an der mecklenburgischen Ostseeküste, den Angehörigen einer Luftwaffenbasis und dem NS-Staat vorgestellt. Das Dorf hat während des deutschen Engagements im Spanischen Bürgerkrieg 1937 bis 1939 der Einrichtung einer Militäreinrichtung zu weichen. Zum Personal gehören gleichfalls ein bodenständiger, gläubiger Fischer (Friedrich Christensen) und ein kommunistischer Agent (Hein Sommerwand), der einer unter dem Druck der Kommunistenverfolgung sich auflösenden KP-Zelle angehört, dessen Leiter den Decknamen Georg [sic!] trägt. Mit der Figur des Agenten und Saboteurs Sommerwand verbindet Uhse das Fluchtmotiv (Dänemark/ Schweden) und ein friedliches Exilleben, worauf sich Sommerwand nicht einlässt, nach Spanien gelangt und auf der republikanischen Seite kämpft.
_____________ 178 Andersch: „Seesack“, S. 94. 179 Vgl. u.a.: Beumelburg, Werner: Kampf um Spanien (1940). 180 Uhse, Bodo: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 2. Berlin 1974. Vgl. die informative „Nachbemerkung“ von Günter Caspar, S. 719–761. – Bannasch, Bettina u. Christiana Holm (Hg.): Erinnern und Erzählen. Der spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Literatur und in den Bildmedien. Tübingen 2005; Bernecker, Walther u. Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen: Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936–2006. Nettersheim 2006.
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Die in der Ehe frustrierten Frauen stattet Uhse als hocherotische, libertine Damen einer bigotten Gesellschaft aus und schildert sie detailliert in eindeutigen Situationen des Fremdgehens. Blickt man allein nur auf diese Textkorrespondenzen, dann scheint es so zu sein, dass die Anleihen bei Uhse und die Anleihen bei Tremel-Eggert als Ergänzungen zu werten sind. Es erstaunt, dass Andersch nicht auf Uhse verweist, zumal dieser ein prominenter deutscher Kommunist (seit 1931) und Emigrant (Paris 1933) ist, der bis 1940 als Kommissar die Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg unterstützt. Für das öffentliche Ignorieren der Person Uhses als Autor eines Spanienromans in der Tradition linksintellektueller ideologiekritischer Auseinandersetzung mit dem NS-Regime und das sich Ausschweigen über seine Romankenntnis sind folgende Gründe denkbar: einmal der gravierende Unterschied in der Biografie beider. Uhse (Jg. 1904) ist anfänglich Mitglied der NSDAP, wird 1930 von der Partei ausgeschlossen, wechselt 1935 zur Exil-KPD. Andersch (Jg. 1914) löst sich von der KPD und aus seinem Regimewiderstand, zieht sich bis Kriegsende auf ein diffuses Taktieren zwischen Anpassung, Gleichgültigkeit und Ausweichen zurück. Für Andersch tut Uhse genau das, was ihn an sein Versagen erinnert, nämlich eine konsequente Oppositionshaltung zur NSDiktatur einzunehmen. Hinsichtlich seiner anzunehmenden Textkenntnis bleibt er gleichfalls verschwiegen, um möglicherweise zum einen die erzählerischen Korrespondenzen zwischen beiden Romanen zu verdecken und zum andern nicht in Verbindung mit einem Roman gebracht zu werden, in dem das kritische Porträt eines deutschen Offiziers in der Rolle des Romanhelden gezeichnet wird und die Umschlagzeichnung der ersten Ausgabe von 1947 eine Luftwaffenuniform ziert. Um das philologisch zuverlässig zu verifizieren, was hier lediglich provisorisch vorgetragen worden ist, bedarf es weiterer Recherchen zur Lesebiografie Anderschs und einer intertextuellen Analyse beider Romane, eingebettet in den dazugehörigen zeit- wie literargeschichtlichen Kontext.
5. Über „ein schlechtes Gedächtnis“ oder: Vorläufiges Resümee „Unser Leben“, bekennt Alfred Andersch 1977, sei „ein in Geschichten verstricktes Leben“. Für diese habe er, so heißt es vier Jahre später, „ein schlechtes Gedächtnis“, denn seine „Erinnerungen“ speichern lediglich „Augenblicke“ seines „Lebens“. Nehmen wir ihn beim Wort, dann attestiert er sich eine selektierende Erinnerung und ein selektives Gedächtnis. Der Rückgriff auf Tremel-Eggerts Blut-und-Boden-Roman Freund Sansibar und der literarische Versuch, diesen als beispielhaftes Dokument der NS-
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Diktatur in seinem Sansibar-Roman literarästhetisch zu bewältigen, ist Bestandteil von Alfred Anderschs autobiografischem und gesellschaftspolitischem Legitimationsbedürfnis im Kontext einer demokratischen Neuordnung. Auch wenn er vermutlich die literarästhetische Transformation von Wirklichkeit gemeint hat, so wird aber zugleich eine ihn selbst freisprechende Begründung dafür mitgeliefert, dass sein in Geschichte, auch in die des Nationalsozialismus, „verstricktes Leben“ autobiografisch und literarisch ihm nur unvollständig, zumindest aber verundeutlicht publizierbar erscheint.181 Die Verschleierung von Facetten seines curriculum vitae ist Teil seines Psychogramms, seines Verhaltens als engagierter Künstler, seiner Publikationen. Rufen wir uns in Erinnerung: Unter den zahlreichen, inhaltlich redundanten Begründungen zur literarästhetischen Transformation von Wirklichkeit gibt es einige Dikta, die apodiktisch auf grundsätzliche Richtlinien dieses Tuns hinweisen und daher auch synoptisch zusammenzufassen sind. Nur die „Kunst“, sagt Andersch, auch die Literatur könne „eine radikale Antwort“ auf die „Entartung der Idee zur Ideologie“ geben,182 weil diese „aus Wahrheitsliebe“183 entstehe und dazu diene, „das Unrecht zu zerreißen, wo immer man es trifft.“184 „[...] nachträgliche Erklärungen sind niemals stichhaltig“,185 denn „Literatur gräbt aus“, ist „eine Archäologie der Seele.“186 Verknüpft man die These von Anderschs Orientierung an TremelEggerts Roman Freund Sansibar und vermutlich auch an Bodo Uhses Leutnant Bertram mit den Leitworten „Wahrheit“, „Unrecht“ und „radikale Antwort“, dann stellt der textliche Abgleich zu Vorbild und Einfluss deren Verbindlichkeit in Frage. Es sind die in der Summe erläuterten Adaptionen, Textanlehnungen und Analogien sowie die damit verbundenen Korrekturen an der ideologisch zu bereinigenden Biografie, die das öffentlich Mitgeteilte und öffentlich Verschwiegene, die literarische „Archäologie der Seele“ steuern. Versucht man nach dem intertextuellen Abgleich der Romane zu einem Resultat zu gelangen, dann kann man dieses aus Gründen der Übersichtlichkeit auf die folgenden Aspekte reduzieren: thematische, strukturelle und narrative Adaptionen, Entlehnungen und Analogien, ausgeblen-
_____________ 181 Andersch, Alfred: „Bücher schreiben und Filme machen – zwei Berufe in einem Boot“ (1977); zit. n.: Wehdeking: „Alfred Anderschs Leben“, S. 21. 182 Andersch: „Blindheit“, S. 212. 183 Andersch 1947. Zit. n. Haffmans (Hg.): Über Alfred Andersch, S. [5]. 184 Andersch, Alfred: „In der Nacht der Giraffe“. In: ders.: Geister und Leute. Zehn Geschichten. Zürich 1974, S. 12. 185 Andersch: Kirschen der Freiheit, S. 45f. 186 Andersch: „Seesack“, S. 92.
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dete Fakten im biografischen Kontext und Anderschs Motivation für ein so organisiertes Handeln. Die Qualität dieser Aspekte ergibt sich nicht aus ihrer Funktion singulärer Indikatoren, sondern aus der Bewertung im Zusammenhang mit Autorbiografie, Texten und Zeitgeschichte. Andersch konzipiert seinen Sansibar-Roman als Kontrasttext zu Tremel-Eggerts Sansibar-Roman, indem er – – ebenso autobiografische Erfahrungen der NS-Zeit und private Traumata berücksichtigt; – schon zu Beginn seines schriftstellerischen Arbeitens Episodisches aus Tremel-Eggerts Roman in seine Erzählung „Ein Techniker“ übernimmt; – das Titelwort Sansibar verwendet, die Überschrift nach seiner Intention abwandelt; – der Widerstands- und NS-Thematik und einem rigiden Moralismus folgt, jedoch mit umgekehrten Vorzeichen; – sich an Modellsituation, Regionalismus und Stereotypisierung orientiert; – den epischen Vorgang der existentiellen Grenzerfahrung seiner Figuren gleichfalls durch einen auktorialen Erzähler retrospektiv vorstellt; – durch Adaption und Referenzen seinen Roman als Auseinandersetzung mit der NS-Ideologie und dem erfolgreichsten Blut-und-Boden-Roman der Zeit versteht; – das Konfrontationsschema von Tätern und Opfern für die Handlungslogik in einer politisch antagonistisch eingerichteten Welt wiederholt; – das Freund/Feind-Schema im Indefinitpronomen die Anderen und dem Judenmotiv adaptiert; – vermutlich fasziniert ist vom erzählerischen Erfolgsmodell des NSRomans. Die verschwiegene Orientierung an Tremel-Eggerts antisemitischem Roman bestätigt sein Diktum von Amnesie als Funktion der Anamnese und kalkuliert das eigene und öffentliche Vergessen. Der Sansibar-Roman ist somit ebenfalls ein Zeugnis von Anderschs selektierender Selbstinszenierung, weil er – – die sehr wahrscheinliche Kenntnis des Romans als Teil seines Eskapismus’ und selbstgerechten Moralismus’ unterschlägt; – in den Nachrichten über die häusliche literarische Sozialisation die NSLiteratur ausklammert, jedoch die völkische Literatur als perverse ästhetische Verirrung deutscher Literatur verurteilt;
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– die NS-historischen Konnotationen seines Schauplatzes Rerik, im
Unterschied zu Tremel-Eggert und im Widerspruch zur Erzähllogik, eliminiert. – die literarische Transformation von zeitgeschichtlicher Wirklichkeit, entgegen den zeitgeschichtlichen Festlegungen wie Rerik (Schauplatz) und 1937 (Zeit), als literarästhetischen Konzeptbruch anbietet und damit Selbstzensur als Funktion der Selbstinszenierung praktiziert. Der mögliche Einwand, im Referenzverlust manifestierten sich allgemeiner Identitätsverlust und damit ein narratives Problem der nicht mehr fassbaren Wirklichkeit, erscheint in diesem Fall wenig plausibel.187 Die Beobachtungen an beiden Sansibar-Romanen stützen die von Sebald initiierte Andersch-Debatte und gewinnen zusätzliche Bedeutung im Kontext aktueller Beiträge zur Autorbiografie und den Nachrichten zum Verhalten der intellektuellen Klasse in Deutschland. Zukünftige Forschung hat sich zu fragen, inwieweit – – die kontinuierlich gepriesene Ästhetik seines literarischen Widerstandes zumindest als pauschale Einschätzung nicht zunehmend fragwürdig erscheint; – angesichts der Gemengelage von ideologiekritischer Weltbeschreibung, problematischer Biografie und Textleistung im Dienste der Inszenierung des redlichen Intellektuellen eine modifizierte Rezeption und Bewertung geboten und Fragen nach Erfindungspotential, Quellennutzung und Theorieredlichkeit zu stellen sind; – das selbst exkulpierende öffentliche Ausweichen vor der Konfrontation mit sich und der NS-Zeit seine propagierte Redlichkeit als Totalitarismuskritiker und Künstler in Frage stellt und die Öffentlichkeit düpiert; Das moralisierende Insistieren Anderschs und das damit verbundene Exkulpieren seiner selbst durch Ausschweigen und Verändern hat wohl weniger etwas damit zu tun, was Goethe gegenüber Eckermann 1832 an Bedenken äußert, wenn er darüber räsoniert, ob „die Politik [...] für den Poeten ein passender Gegenstand“ sei.188 Es scheint vielmehr die Folge eines – Hans Dieter Schäfer zitierend – „gespaltenen Bewusstseins“ zu sein,189 das sich – nach Petra Morsbach – am ästhetisch gestörten Zusammenhang von historischer Wirklichkeit und literarisch beanspruchter
_____________ 187 Vgl. Gnam, Andrea: „Referenzverlust als narratives Problem“. In: Wirkendes Wort 1 (1993), S. 90–98. 188 Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. O.O. 1960. Anfang März 1832, S. 364f. 189 Schäfer, Hans Dieter: „Das gespaltene Bewusstsein. Über die Lebenswirklichkeit in Deutschland 1933-1945“. In: ders.: Das gespaltene Bewußtsein. Über Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933-1945. München u. Wien 1981, S. 114–162.
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Authentizität, an der gestörten Verbindung von der Wahrheit subjektiver Weltgestaltung und ihrem Bezug zur außerliterarischen Wirklichkeit zeigt.190 Anderschs Verschweigen der Vorlage und ihrer Funktion ist Bestandteil einer Art von verbalem Barrikadenbau, den er aus autobiografischen Selbstschutzgründen nach 1945 betreibt. Man muss sich aber nur auf die Zehenspitzen stellen, um hinter den Schutzwall schauen zu können. Dann kann man Irene Heidelberger-Leonards vor fünfzehn Jahren geäußerte Skepsis nur teilen. Dem hier „geschärften Blick“ stellt sich „die Frage noch einmal: wie hat Andersch es, jenseits seiner Selbstdarstellungen, wirklich mit dem Nationalsozialismus gehalten?“ Und die Fragestellerin folgert, unter Bezugnahme auf die frühe Erzählung „Ein Techniker“, dass „die Mär vom sich schließenden Schuldkonto [...] zwar 1946 vom Publizisten Andersch beschworen worden sein“ ‚mag‘, – dieser „Schriftsteller aber hat es schon immer besser gewusst.“191
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_____________ 190 Morsbach: Fräulein Laura, S. 33–55. 191 Heidelberger-Leonard: „Erschriebener Widerstand?“, S. 51, 53.
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Anhang
Abb. 1: Kuni Tremel-Eggert: Freund Sansibar. Ein Roman aus unseren Tagen. Schutzumschlag der 3. Auflage (46.–55. Tausend) [1941].
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Abb. 2: Kuni Tremel-Eggert: Barb. Der Roman einer deutschen Frau. (1. Auflage 1933), Buchprospekt des Eher-Verlages o.J.
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Abb. 3: Bundesarchiv Berlin – BArch (ehem. BDC), Rkk, Andersch, Alfred.
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Abb. 4: Bundesarchiv Berlin – BArch (ehem. BDC), Rkk, Andersch, Alfred.
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Abb. 5: Bundesarchiv Berlin – BArch (ehem. BDC), Rkk, Andersch, Alfred.
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Abb. 6: Bundesarchiv Berlin – BArch (ehem. BDC), Rkk, Andersch, Alfred.
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Abb. 7: Bundesarchiv Berlin – BArch (ehem. BDC), Rkk, Andersch, Alfred.
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Abb. 8: Bundesarchiv Berlin – BArch (ehem. BDC), Rkk, Andersch, Alfred.
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Abb. 9: Bundesarchiv Berlin – BArch (ehem. BDC), Rkk, Andersch, Alfred.
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Abb. 10: Bundesarchiv Berlin – BArch (ehem. BDC), Rkk, Andersch, Alfred.
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Erzählen als Kompensieren Andersch revisited und ein Seitenblick auf die Sebald-Effekte Im Kommentar zur Werkausgabe von 2004 stellt der Herausgeber Dieter Lamping das Verhalten von Alfred Andersch im Nationalsozialismus als weitestgehend untadelig dar, die Vorhaltungen von W.G. Sebald als gegenstandslos. Im Übrigen habe der Polemiker in seinem unbegründeten Furor „auch nicht viel beitragen können zu der für den Literaturkritiker wie den Literaturwissenschaftler wesentlichen Frage, welcher Zusammenhang zwischen dem biographischen Faktum der Scheidung [von der ‚Halbjüdin‘ Angelika, 1943, M.J.] und dem Werk Anderschs bestehe“.1 Beidem sei im Folgenden widersprochen. Wiewohl sich Sebald einige Überzeichnungen geleistet hat, enthält seine Philippika einen bis heute plausiblen Kern. Die zentrale Aussage, wonach sich Andersch als Erzähler ex post mit einer „Aura des Widerständlerischen“2 umgab und sie in einer beträchtlichen Spannung zur Anpassung im NS stand, trifft zu, wenn auch nur auf die Aufstiegsphase, bis 1957. Natürlich hat niemand, auch der ,Literaturpfaffe‘ nicht, von Andersch politischen Widerstand im NS verlangt. Das Problem bestand darin, dass ein Wortführer der frühen Gruppe 47 sich und andere kontrafaktisch in die Nähe des Widerstands schrieb. Vom nachträglichen Verklären beseelt, so die erste These, zeigen sich die Die Kirschen der Freiheit, Sansibar oder der letzte Grund und darüber hinaus schon eine Erzählung von 1947, die Sebald nur streifte, Deutsche Literatur in der Entscheidung. An den Kirschen und an Sansibar sind Techniken dezenter Selbstheroisierung beobachtbar, am Entscheidungs-Text eine Fremdverklärung, die Überhöhung der Inneren Emigration. Anderschs Vortrag vor der Gruppe 47 in Ulm verhandele ich als faktuale Erzählung, da sie nicht weniger reklamierte als die „sorgfältige Betrachtung des wahren Verhal-
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Alfred Andersch: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe. Hg. v. Dieter Lamping. Zürich 2004 (im Folgenden GW), hier GW I, S. 456. Sämtliche Äußerungen von Andersch, soweit nicht anders ausgewiesen, und der Kommentar von Lamping werden nach der Gesamtausgabe zitiert, Bandnummer (römisch) und Seitenzahl (arabisch) jeweils nachgestellt. Sebald, W.G.: „Between the devil and the deep blue sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden in der Vorsehung“. In: Lettre International 20 (1993), S. 80–84, hier S. 80.
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tens des deutschen Geistes in den Jahren der Diktatur“,3 nur dass die Betrachtung einer Märchenstunde glich (Abschnitt I). Zweitens: Der gegen Sebald erhobene Biographismus-Vorwurf stand von Beginn an4 auf tönernen Füßen, denn der Biographist par excellence hieß Andersch, der nur an seinen eigenen Maßstäben zu messen ist. Mit der Desertionsgeschichte der Kirschen nutzte er wie kein anderer die eigene Vita zur Selbstdurchsetzung im literarischen Feld. Und er erhob in der unmittelbaren Nachkriegszeit einen forcierten Wahrheitsanspruch, der die kritische Relektüre seiner Schriften allererst stimuliert hat: „Aufgabe der deutschen Literatur: revolutionärer Realismus“.5 Insofern haben wir es mit einem Programmproblem zu tun. So ratsam es nun zu sein scheint, den Anspruch ausschließlich an den Kirschen zu überprüfen, einem als „Bericht“ annoncierten, erklärtermaßen autobiographischen Text (II), dem Roman Sansibar dagegen die Lizenzen des Fiktionalen zuzubilligen – in diesem Fall stößt eine strikte Unterscheidung zwischen Autobiographie und Fiktion an eine angebbare Grenze. Drittens: Für Andersch spricht, mit wachsender räumlicher Distanz zum westdeutschen Literaturbetrieb von der Selbstverklärung Abstand genommen zu haben. Sebald überdehnte seinen Angriff, als er selbst Efraim, den Roman von 1967, noch skandalisierte; damit ignorierte er einen werkgeschichtlichen Einschnitt. Solange Andersch an den Schaltstellen des Betriebs saß, vor 1958, erzählte er in einer Weise, die seine Verfehlung im NS fragwürdig kompensierte; danach aber, mit der Übersiedelung ins Tessin, wich die Aura des Widerständlerischen einer Ästhetik der Scham. Mit Efraim hat er sich dem Fehlverhalten gegenüber einer ‚Halbjüdin‘ gestellt (III). Viertens: Die von Sebald ausgelöste Debatte währt mit mittlerweile 18 Jahren deutlich länger als vergleichbare Auseinandersetzungen (der deutsch-deutsche Literaturstreit, ebenfalls ums Schreiben unter und nach einer Diktatur kreisend, ebbte nach spätestens einem Jahrfünft ab). Woher die Persistenz? Konfliktfördernd wirkt der Umstand, dass die Debatte mit dem Verhältnis Faktualität-Fiktionalität eine elementare Methodenfrage berührt, und zuvorderst der normative Nervenpunkt, nach welchen Maßstäben heutige, von Diktaturen verschont gebliebene Leser literarische
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GW VIII, S. 190. Vgl. zur anti-biographistischen Linie bereits Höller, Hans: „Der ,Widerstand der Ästhetik‘ und Die Fabel von der Rettung der Kunstwerke“. In: Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Hg. v. Irene Heidelberger-Leonard u. Volker Wehdeking. Opladen 1994, S. 142– 151, hier S. 142. Heidelberger-Leonard, Irene: „Erschriebener Widerstand? Fragen an Alfred Anderschs Werk und Leben“. In: Dies. u. Wehdeking: Alfred Andersch, S. 51–61, hier S. 59. „Der Anti-Symbolist“, GW VIII, S. 184.
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Verarbeitungen des NS überhaupt beurteilen können.6 Insofern erweist sich der Sebald-Effekt als ein fermentiver. Die Herausforderung aus Norwich hat Bruchlinien in Literaturwissenschaft und -kritik sichtbar werden lassen, darüber hinaus Parteinahmen für Andersch von unterschiedlicher Qualität hervorgerufen. Es ist daher an der Zeit, die Stellungnahmen contra Sebald in methodischer („Biographismus“) wie normativer Hinsicht („Rigorismus“) zu diskutieren (IV). Fünftens drängt sich die Frage auf, für welche Alternativen ein werkbiographischer Ansatz wie der hier vorgeschlagene offen ist. Mit diskursund feldtheoretischen Perspektiven, so die abschließende These, ist er durchaus vermittelbar. Mehr, ein praktischer Methodenpluralismus hilft, bei der Bewertung von Anderschs Schaffen Kurs zu halten zwischen der Scylla des Rigorismus und der Charybdis übermäßiger Nachsicht (V).
I. 1977, drei Jahre vor seinem Tod, erklärt Andersch, den Verbleib in NaziDeutschland als Versäumnis zu empfinden. „Was ich hätte tun können, und was ich nicht getan habe: Ich hätte emigrieren können. In einer Diktatur in die innere Emigration zu gehen, ist die schlechteste aller Möglichkeiten.“7 Dass er sich zur respektablen Offenheit erst spät durchringen kann, verweist zurück auf die Schwierigkeiten von Deutsche Literatur in der Entscheidung. Als Andersch im November 1947, mit 33 Jahren, vor der sich gerade konstituierenden Gruppe 47 die Leistungen der Inneren und der ,Äußeren‘ Emigration vergleicht, bescheinigt er sich eine „völlige Voraussetzungslosigkeit“.8 Realiter ist es mit der Unbefangenheit gegenüber den beiden Lagern der älteren Autorengeneration nicht weit her, der Sprechende befindet sich vielmehr in einem double bind. Literarisch, als Liebhaber westeuropäischer und amerikanischer Moderne, wie auch politisch, als parteiunabhängiger Sozialist, steht er vielen Exilanten nahe. Er selbst aber hat, obwohl es ihm 1936 möglich gewesen wäre, Nazi-Deutschland nicht verlassen, schon das verbindet ihn mit den Inneren Emigranten. Daraus ergibt sich eine gespaltene Disposition, die sich auf seine Bewertungen der nach Kriegsende entbrannten Emigrationsdebatte auswirkt.
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Die mitlaufenden Machtkämpfe im literaturwissenschaftlichen Feld, einen nicht ganz unwesentlichen Aspekt, spare ich aus Platzgründen aus. Vgl. dazu den älteren, ebenfalls eher Andersch-kritischen Beitrag des Verf.s: „Streitkultur Germanistik. Die Andersch-Sebald-Debatte als Beispiel“. In: Germanistik in/und/für Europa. Faszination – Wissen. Hg. v. Konrad Ehlich. Bielefeld 2006, S. 263–275. Zit. n. Reinhardt, Stephan: Alfred Andersch. Eine Biographie. München 1990, S. 580. GW VIII, S. 211.
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Wir erinnern uns: Frank Thiess, der selbsternannte Erfinder der Inneren Emigration, sagt 1945 den Exilanten nach, sie hätten „aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie zugeschaut“,9 Autoren wie er dagegen dem deutschen Volk im Leid zur Seite gestanden. Der speziell auf Thomas Mann gemünzten Diffamierung mag keiner der älteren in Deutschland gebliebenen Autoren widersprechen. Sie sind verärgert über Mann, denn der hat umgekehrt sämtlichen Texten, die im ,Dritten Reich‘ erscheinen konnten, den künstlerischen und moralischen Wert abgesprochen. Andersch nun neutralisiert den Streitwert durch paritätisch verteiltes Lob. Er zeichnet Thomas Mann als „größte[n] lebenden Autor deutscher Sprache“ aus,10 sein Werk habe die Zugehörigkeit Deutschlands zur atlantischen Kultur bewiesen, das Exil insgesamt „das internationale Ansehen des deutschen Namens wenigstens teilweise retten“ können.11 Das ist neu, eine deutliche, wenn auch nur implizite Distanzierung von Thiess. In gleicher Schärfe aber weist der Newcomer Manns Pauschalschelte zurück und rehabilitiert den allergrößten Teil der in Nazi-Deutschland erschienenen Literatur – mit einer bemerkenswerten Begründung: „[...] jede Dichtung, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus ans Licht kam, [bedeutete] Gegnerschaft gegen ihn [...], sofern sie nur Dichtung war. Eine Zeugung des Dichterischen aus dem Geist des Nationalsozialismus gab es nicht.“12 Der Zirkelschluss bedeutet, zu Ende gedacht: Jeder Text, der nicht als spezifisch nazistisch einzustufen ist, verdient das Gütesiegel der Gegnerschaft. Das bequeme Legitimationskriterium erlaubt es, selbst die Kalligraphie, also einen literarischen Eskapismus, der sich in der Diktatur auf unpolitische Themen verlegte, der Gegnerschaft zu subsumieren. Zumal wenn man, wie Andersch, den damit bezeichneten Autoren nicht nur eine „entschiedene Abneigung gegen das System“ attestiert, sondern sie auch unter einer vorteilhaften Überschrift versammelt: „Widerstand und Kalligraphie“.13 Das wenig aussagekräftige „und“ verwischt den Unterschied zwischen – nur verständlichem, nicht zu bekrittelndem – Ausweichen und tatsächlichem Widerstand, dessen Begriff doch wohl an erkennbares Bekämpfen zu binden wäre. Nimmt man das Kriterium „nichtnazistisch“ ernst, rechnen im Grunde selbst erbauliche Ufa-Drehbücher zur Gegnerschaft. Auffällig zudem, dass Andersch außer dem ersten
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Zit. n. Grosser, Johannes F.G.: Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland. Hamburg u. a. 1963, S. 24. GW VIII, S. 203. Ebd. S. 202. Ebd. S. 191f. Ebd. S. 196f.
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Präsidenten der Reichsschrifttumskammer, Hans-Friedrich Blunck, keine nazistischen Autoren oder Mitläufer nennen will. Kein Wort zu Benns Temporärfaschismus von 1933/34, noch interessanter der Umgang mit dem spektakulären Fall Thiess. Nur vier Monate vor Anderschs Rede hat die Frankfurter Rundschau den lautesten der Inneren Emigranten, nach eigener Auskunft „vom tiefsten Hass gegen den Nationalsozialismus erfüllt gewesen“,14 mit zwei Interviews vom Juni 1933 konfrontiert. In ihnen erklärt der geschworene Nazi-Feind das „Durchgreifen“ Hitlers zur „erlösenden Tat“, sie nehme „einen bedeutenden Platz in der Geschichte Deutschlands ein“.15 Dass Thiess nach Kriegsende besser geschwiegen hätte, beschweigt Andersch. Vielleicht hat er wenig Zeitung gelesen. Umso besser kennt er sich bei Ernst Jünger aus. Auf den Marmorklippen (1939) wird nicht nur, vertretbar, als regimekritische Verschlüsselung gewürdigt, sondern auch als ein „einzigartige[s] Kunstwerk“ gerühmt, „das zum Anlaß der Selbstbesinnung für große Teile der militärischen Jugend Deutschlands wurde“.16 In Verbindung mit „große Teile“ klingt „Selbstbesinnung“, als hätten jüngere Wehrmachtssoldaten unterm Einfluss Jüngerscher Strahlungen kurz vor der Kollektivdesertion gestanden. Die kuriose Suggestion fügt sich gut in die Gesamtoperation. Zunächst macht der Sprechende durch das Ausblenden politisch belasteter Autorschaft und einen schwammigen Gegnerschafts-Begriff die „Identität [...] der in Deutschland verbliebenen Literatur“ mit „innerer Emigration“ glauben,17 dann will er unter dieser nicht etwa das Verstummen oder die im NS ebenso legitime Flucht ins Unpolitische verstehen, sondern gleich eine subversive Kraft, für die die Marmorklippen nur das Paradebeispiel abgeben. Die Innere Emigration habe, heißt es nicht ohne Eifer, „in einem jahrelangen aufreibenden Kleinkrieg mit der offiziellen Propaganda zur inneren Aushöhlung des Systems beigetragen“.18 Goebbels am Rande des Nervenzusammenbruchs. – Wie es um den Wahrheitsgehalt dieser Geschichtserzählung bestellt war, zeigt ein Blick in das Lexikon von Alf Mentzer und Hans Sarkowicz zur Literatur in Nazi-Deutschland. Kritische Anspielung oder gar unverhüllte Opposition bildeten seltene Ausnahmen, die Regel waren neben dem Verstummen von Schriftstellern die Kalligraphie, der Gestus geistesaristokratischer Zeitenthobenheit und schließlich
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Zit. n. Grosser: Kontroverse, S. 81. Zit. n. Knes, Ulrike: „Frank Thiess. Ein Autor zwischen Realität und Selbststilisierung“. In: Literatur der ,Inneren Emigration‘ aus Österreich. Hg. v. Johann Holzner u. a. Wien 1998, S. 47– 72, hier S. 53. GW VIII, S. 199. Ebd., S. 200. Ebd.
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die völkisch erwünschte Blut-und-Boden-Literatur. Heteronome Bedingungen zeichnen nun mal das unter ihnen Produzierte. Warum präsentiert Andersch Innere Emigration und Exil als Varianten des Gleichen, als hier versteckten, dort „offene[n] Widerstand“,19 versucht er die Daheimgebliebenen auf moralische Augenhöhe mit den Exilanten zu bringen? Es ist Überkompensation im Spiel. Manns Bemerkung, allem in Nazi-Deutschland Gedrucktem hafte „ein Geruch von Blut und Schande“20 an, muss einem Autor widerstreben, der 1943 einen Akkreditierungsantrag bei der Reichschrifttumskammer (RSK) stellte und im Folgejahr eine Erzählung in der Kölnischen Zeitung veröffentlichte, nachdem er diesen wie noch zwei weitere Texte dem Suhrkamp Verlag angeboten hatte. Im Hochschreiben der Inneren Emigration und mehr noch in ihrer geräumigen Definition steckte eine unausgesprochene Rechtfertigung für die bis 1977 ganz verschwiegenen Frühschriften. Psychologisch nötig war die Selbstlegitimation zuvorderst gegenüber dem großen Vorbild21 in Pacific Palisades beziehungsweise, nunmehr, Zürich. Zugleich half Andersch, instinktsicher, wenn auch wohl nicht bewusst, den neuen Kameraden in Ulm aus einer ganz ähnlichen Verlegenheit. Gegen das vorgebliche Konstitutionsprinzip der ,47er‘, dass nicht eingeladen wird, wer vor ’45 mitzuschreiben bereit war, hatten auch andere Mitglieder der Gruppe verstoßen, darunter Hans-Werner Richter. Die Kleinund Kleinstveröffentlichungen im NS pflegte man sich gegenseitig zu verschweigen. Mit der großzügigen Fassung von Innerer Emigration kam Andersch dem Entlastungsbedürfnis im Publikum entgegen; aus dem geernteten Beifall, der Überlieferung nach rauschend, sprach eine gewisse Dankbarkeit. Die Grenze zwischen Innerer Emigration und so genannter Junger Generation verlief realiter fließend; diesem Nicht-Gesagten, der verborgenen Kohäsionskraft der frühen Gruppe 47, verdankte sich der Erfolg der ersten Positionsnahme. Man mag sich fragen, was an einer allseits konzilianten Rede so bedenklich sein soll. Erheiternd wirkt es noch, wenn der Soldatensohn Andersch Hauptmann Jünger hartnäckig eine Heldenrolle anträgt, die der Verehrte, das muss man ihm konzedieren, ebenso standhaft ablehnte (noch 1973, in einer Antwort auf eine Festrede Anderschs: „Im Wider-
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Ebd. Zit. n. Grosser: Kontroverse, S. 31. Die für die Publikation im ,Dritten Reich‘ vorgesehene, wenn auch unveröffentlicht gebliebene „Skizze zu einem jungen Mann“ zeigt sich vom Decadence-Stil des Tod in Venedig beeinflusst (vgl. Wehdeking, Volker: Alfred Andersch. Stuttgart 1983, S. 10f.). Das heißt, sie war am Ton ausgerechnet jenes Autors geschult, der 1946 die Bereitschaft zur Publikation im NS inkriminieren wird. Nicht der kleinste Grund für Anderschs Befangenheit 1947.
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stand bin ich nicht gewesen“).22 Ein größeres Problem ist, dass der Entscheidungs-Vortrag von der vorderhand ausgewogenen Linie des Lobs für ,beide‘ Emigrantenlager an einem sensiblen Punkt abweicht, um mit zweierlei Maß zu messen. Werden Jünger die militaristischen und antidemokratischen Töne zu Weimarer Zeiten als Hypothek angelastet, die das später gewonnene moralische Prestige schmälerten? Nicht doch, im Licht der bedauerlichen Vorgeschichte strahlt die „Konversion“ von 1939 umso heller.23 Auch steht das Idol für einen „Widerstand“, der „nicht abgewertet werden sollte, nur weil ihm der endgültige Erfolg versagt war“.24 Misserfolg besagt also nichts gegen den Wert des Versuchs. Die Prämisse wird jedoch außer Kraft gesetzt, als es um bestimmte Autoren des Exils geht. Alfred Döblin und Heinrich Mann, die von Beginn an hinter der Republik standen, keiner Konversion bedurften, müssen sich die politische Niederlage von 1933 schon selbst zuschreiben. Bei allem löblichen Eintreten für Demokratie und Freiheit seien sie mindere Realisten gewesen, die ihre Romane mit Tendenz und Predigt aufluden. Der „geheime künstlerische Schaden“ erkläre „vielleicht“ auch die „schließliche Wirkungslosigkeit des Tendenzromans“.25 Was der Redner hier leise insinuiert – selbst schuld –, wird er 1956 vereindeutigen, im Halbsatz eines Radio-Kommentars zu den älteren Autoren generell: „Für mich ist es mit Verlaub gesagt eine Generation, die das deutsche Unglück namens Hitler entweder direkt unterstützt oder so miserabel gegen es gekämpft hat, dass sie es nicht verhindern konnte und emigrieren musste [Herv. M.J.].“26 Solche Sicht gleicht blankem Hohn, in der schiefen Verdienstarithmetik von 1947 zeichnet er sich freilich schon ab: andeuten, bestimmte Verteidiger von Weimar hätten zu ihrer Vertreibung unbeabsichtigt beigetragen; im gleichen Atemzug die Spätbekehrung eines Wegbereiters des NS so hoch stilisieren, dass man meinen könnte, die Alliierten seien Jüngers „endgültigem“ Erfolg nur zuvorgekommen. Anderschs „Verständnis und seine Vorliebe für die Emigranten“27 zu rühmen, wie Hans Magnus Enzensberger noch 1994, heißt offenkundig, über Gebühr zu simplifizieren. Gleiches gilt für das entgegengesetzte, ebenso bündige Urteil einer „unverblümten Schmähung der äußeren
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Zit. n. Reinhardt: Andersch, S. 517. GW VIII, S. 198. Ebd., S. 210. Ebd., S. 205f. Zit. n. Peitsch, Helmut: „Die Gruppe 47 und die Exilliteratur – ein Mißverständnis?“ In: Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik. Hg. v. Justus Fetscher u. a. Würzburg 1991, S. 108–134, hier S. 108f. Zit. n. Figge, Klaus: „Alfred Andersch als Radiomacher“. In: Heidelberger-Leonard u. Wehdeking: Alfred Andersch, S. 42–50, hier S. 49.
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[Emigration]“28 – dazu wiederum will schon die erklärte Hochschätzung Thomas Manns nicht passen. Beiden Wahrnehmungen entgeht das für Deutsche Literatur in der Entscheidung Charakteristische, ein argumentativer Balanceakt mit bezeichnenden Nuancierungen: die Innere Emigration und damit, verdeckt, auch die Junge Generation gegen die Pauschalschelte Thomas Manns verteidigen, ohne die ästhetische Orientierung an der Moderne, die Verehrung gerade für den Scheltenden, preiszugeben und ohne jene politische Nähe zum Exil zu verleugnen, die sich in besagter Kollektivwürdigung der Geflohenen niederschlägt. Ein Wille zum Ausgleich zwischen Innerer und ,Äußerer‘ Emigration besteht allemal, doch findet er seine Grenze im Eigeninteresse des Sprechenden. Die Aufwertung der Literatur im NS, besonders ihrer soldatischen Variante, spendet der so genannten Jungen Generation, mehrheitlich ehemalige Angehörige der Wehrmacht, die auf die Vierzig zugehen, ein Selbstbild der Unbelastetheit. Hier liegt der Hauptantrieb. Zugleich werden mit den Sticheleien (zunächst nicht mehr!) gegen einen bereits präsenten Remigranten wie Döblin und einen möglichen wie Heinrich Mann diejenigen abgewertet, die der reifen Jugend das Monopol auf Unbelastetheit streitig machen könnten. Seitenhiebe aus Befangenheit gelten den literarpolitisch nächststehenden, den unorthodox linken Emigranten, zu denen Andersch und andere gern gezählt hätten, wenn auch erst nach ’45. Mit anderen Worten: Bei aller Vermessenheit, strategisch handelt der Neuling klug, er verschafft sich und der Gruppe 47 das ursprüngliche symbolische Kapital. Gewiss, man ist versucht zurückzufragen: Berlin Alexanderplatz ein Tendenzroman? Und was die Ehrenrettung der Literatur im NS betrifft: Dafür wählt Andersch das falsche Beispiel, Der Großtyrann und das Gericht wäre geeigneter gewesen als der Kult um Jünger. Wie die Marmorklippen ist der Roman von 1935 als regimekritische Anspielung lesbar,29 mit dem Unterschied, dass er von einem politisch unbelasteten Autor stammte. Werner Bergengruen wird pikanterweise nicht einmal genannt (sei es aus Unkenntnis, sei es, weil dem Katholiken das Soldatische fehlt). Und doch, wichtiger als eine Kritik literaturgeschichtlicher Verzeichnungen ist die soziale Logik, der Anderschs Positionierung folgt. Neuankömmlinge im literarischen Feld, Propheten, mit Bourdieu zu sprechen, neigen in der Regel zur Absetzung von der älteren Autorengeneration, zu „Diskontinuität, Bruch, Differenz, Revolution“ in ästhetischer oder politmoralischer, gern auch in beiden Hinsichten. „Epoche
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Heidelberger-Leonard, Irene: „Zur Dramaturgie einer Abwesenheit – Alfred Andersch und die Gruppe 47“. In: Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47. Hg. v. Stephan Braese. Berlin 1999, S. 87–101, hier S. 99. Vgl. Sarkowicz, Hans u. Alf Mentzer: Literatur in Nazi-Deutschland. Ein biografisches Lexikon. Hamburg 2000, S. 89.
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machen“ heißt, „eine neue Position jenseits der etablierten Positionen, vor diesen Positionen, als Avantgarde entstehen zu lassen“.30 Anderschs manifestartiger Vortrag von 1947 aber muss die symbolische Aggression drosseln, sich eine Attacke gegen die älteren deutschen Autoren auf politmoralischem Gebiet fast ganz versagen. Die Innere Emigration zu hinterfragen ist nicht möglich, ohne Fragen nach Konzessionen auch des Sprechenden und seiner Zuhörer in Ulm aufzuwerfen; ein Angriff auf die unorthodox linken Exilanten, der über Nadelstiche hinausginge, liefe Gefahr, ins Fahrwasser des Ultranationalisten Thiess zu geraten. (Wie viel Absetzungswille Andersch zunächst unterdrücken musste, geht aus dem späteren Radio-Kommentar hervor.) Was dem Propheten an neuer Position bleibt, ist die Zuversicht, sich von beiden Lagern der älteren Autorengeneration durch eine neue Klarheit abzuheben. Die Inneren Emigranten seien außerstande, sich von Kalligraphie und Symbolismus, den vom NS erzwungenen Formen, nach langen Jahren der Diktatur zu lösen, ihnen fehle „die Kraft unmittelbarer Aussage“.31 Die gleiche Qualität glaubt der Prophet den geflohenen Priestern Döblin und Heinrich Mann vorauszuhaben: „Realistische Literatur ist Literatur aus Wahrheitsliebe, die Wahrheit aber spricht immer für sich selbst, sie hat keine Tendenz und keine Predigt nötig.“32 Grund genug, unmittelbare Aussage, Wahrheitsliebe und Tendenzfreiheit des Berichts von 1952 zu beleuchten.
II. Tatsächlich unterscheiden sich Die Kirschen der Freiheit von so manchem Nachkriegsschwulst der heimischen Priester, der Inneren Emigranten älterer Jahrgänge,33 durch das angenehm profane Motiv der Angst. Bei aller Frustration über die Handlungsunfähigkeit seiner KPD nach der faschistischen Machtübernahme, es ist die Angst, die Andersch, folgt man dem erzählenden Ich, nach der zweiten Verhaftung 1933 zur Flucht in die Kunst bewegt.34 Auch elf Jahre später, bei der Desertion im Juni 1944, spielt das menschliche Grundgefühl eine Rolle: „Und außerdem wollte ich
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Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt / M. 1999, S. 253. GW VIII, S. 197. Ebd., S. 205. Man denke zuvorderst an die nebulöse Dichtungsmystik, auf die sich Frank Thiess nach Kriegsende verlegte: Zeitwende. Drei Vorträge. Hamburg 1946. Besonders der zweite Vortrag, „Goethe als Symbol“ (S. 33–54), ist kaum anders denn als Weimarer Klassik auf Schwundstufe qualifizierbar. GW V, S. 352.
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natürlich rüber, weil ich Angst hatte, ins Feuer zu kommen und, sinnlos oder nicht sinnlos, sterben zu müssen.“35 Derlei Geständnisse nehmen für den Autor noch heute ein, und sie scheinen Enzensberger recht zu geben, der uns unlängst wissen ließ, Andersch habe „nie für sich in Anspruch genommen, ein Held zu sein.“36 Allein, HME, der lebenslange Bewunderer, erinnert sich ein wenig selektiv. Den vorgezogenen Abschied von der Wehrmacht wollte Enzensbergers Förderer nicht nur als verständliche Flucht und Akt existenzieller Selbstbestimmung verstanden wissen, es ging um etwas mehr. „Mein ganz kleiner privater 20. Juli“, so die prominenteste Sentenz der Kirschen, „fand bereits am 6. Juni statt“37: Abgesichert durch eine kokette Selbstverkleinerung, manövriert sich der Erzähler in die Nähe des Widerstands. Unbescheiden wirkt auch eine Vorstellung des erzählten Ichs von 1944, der das erzählende von ’52 beipflichtet: Kraft der Desertion habe man sich den Amerikanern als ebenbürtiger Verhandlungspartner nähern können. „Dachte nicht daran, mich bedingungslos zu übergeben, was im Akt der Gefangennahme beschlossen lag. Ich würde freiwillig kommen und mir damit das Recht vorbehalten, meine Bedingungen zu stellen. (Ich meine natürlich nicht die Bedingung besserer Behandlung in der Gefangenschaft, sondern politische Bedingungen für die Zeit nach dem Kriege.)“ A little socialism, guys. Für eine starke Verhandlungsposition gibt es schließlich zwei Gründe. „Ich wollte rüber, weil ich mir damit aufs neue das Recht erwarb, Bedingungen stellen zu können, auf die ich mir schon in der Vergangenheit einen Anspruch erworben hatte; ich wollte diesen fast verjährten Anspruch erneuern.“38 Dass die Fahnenflucht und zuvor schon die kurze KZ-Haft ausreichen sollen, um den Befreiern Deutschlands von gleich zu gleich zu begegnen, gibt angesichts des Blutzolls, den die Alliierten entrichteten, zu denken. Umso mehr, als das übermäßig selbstbewusste Auftreten sich als typisch erweist für die Grundtendenz des Berichts, die biographischen Trümpfe zu strapazieren. Ein Zug, in dem das Retuschieren von Fakten, der Zungenschlag ihrer Präsentation und ihr Kontextualisieren zusammenspielen, wobei letztere Techniken höher zu gewichten sind. Dafür zwei Beispiele. Den Historikern Johannes Tuchel und Felix Römer wie schon der Biographie Stephan Reinhardts verdanken wir die Information, dass Andersch betreffs der Haftdauer im KZ Dachau übertrieben hat. In den Kir-
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Ebd., S. 381. Enzensberger, Hans Magnus: „Flucht vor Deutschland. Ein Dialog“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Annette Korolnik-Andersch. München 2008, S. 25–28, hier S. 27. GW V, S. 375. Ebd., S. 380.
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schen spricht er von einem „Vierteljahr“, gegenüber den Amerikanern 194439 und der Schweizer Einwanderungsbehörde 196440 gar von sechs Monaten; tatsächlich waren es maximal sechs Wochen.41 Auf den ersten Blick wirken die Ungereimtheiten wenig anstößig. Zwar verletzt die Falschangabe in den Kirschen streng genommen jene Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit, die der Autor mit den selbst gewählten Gattungsbezeichnungen Autobiographie und Bericht eingeht. Auch kann man verfolgen, wie Andersch vor den deutschen Lesern darauf achtet, es mit dem Übertreiben nicht zu übertreiben, während er ausländischen Adressaten die kühnere Version anbietet. Doch mutet der Unterschied zwischen sechs Wochen, drei oder sechs Monaten wie eine Quantité négligeable an, Zeichen eines lässlichen Renommierens, gespeist vom menschlich-allzumenschlichen Wunsch, den eigenen Lebenslauf eine Idee oppositioneller aussehen zu lassen, als er ohnehin war. Selbst wenn man, im Gefolge von Rolf Seubert, Indizien für einen erfundenen KZ-Aufenthalt anführt,42 ein nicht mehr nur sachtes, sondern kräftiges Retuschieren in Betracht zieht, lässt sich dem Berichterstatter noch – nun allerdings mit angestrengter Nachsicht – zugute halten, dass seine Repressionserfahrung keiner nachträglichen Ausschmückung bedurft hätte. Bereits mit den beiden Verhaftungen von 1933, den biographisch unstrittigen, hatte Andersch den meisten Nachkriegsdeutschen ein Opferkapital voraus – und wie viel mehr heutigen Lesern. Die Nachgeborenen sollten sich also, will es scheinen, vorm Bekritteln hüten. Kritikaskese lässt sich jedoch kaum durchhalten, wenn man den Tonfall des Erzählers berücksichtigt. Er sagt nicht einfach: „mein Vierteljahr Haft“, er sagt: „Mein lumpiges Vierteljahr Haft zählt nicht gegen die zwölf Jahre, die viele meiner Genossen hinter dem Draht von Lagern verbrachten.“43 Er renommiert nicht einfach, er renommiert im Gewand der Bescheidenheit. So nimmt die Selbstdarstellung einen unguten Beigeschmack an, auch wenn in bewusster Formulierung ein honoriges Moment innerer Zerrissenheit steckt. Der Autor kann sich die Übertreibung vom „Vierteljahr“ nicht erlauben, ohne sich mit dem Adjektiv „lumpig“ und der Verbeugung vor dem größeren Leid der Genossen herabzusetzen.44 Was die
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Vgl. den Beitrag von Felix Römer in diesem Band. Vgl. Reinhardt: Andersch, S. 644. Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Korolnik u. AnderschKorolnik: Sansibar, S. 31–41, hier S. 33. Vgl. den Beitrag von Rolf Seubert in diesem Band. GW V, S. 351. So die erhellende Beobachtung von Jörg Döring in diesem Band: „Nur die ästhetische Selbsterniedrigung des Erzählers macht es für den Autor aushaltbar, dass er in Bezug auf seine Haftdauer den autobiographischen Pakt verletzt.“
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Beziehung Anderschs zu sich selbst und seiner alten Bezugsgruppe angeht, ist ein durchaus skrupulöses Verfahren auszumachen. Anders steht es um den Umgang des Autors mit seinen zeitgenössischen Lesern. Ihnen, und das heißt zuvorderst: der neuen peer group der Nonkonformisten, präsentiert sich ein Mann von Edelmut, der seine KZ-Haft, die höchste Achtung gebietende, zugunsten anderer Opfer herunterspielt. Realiter spielt er sie hoch, eine zweifelhafte Noblesse. Zusammen klingen Bescheidenheit und Renommieren auch bei der Einordnung der Desertion im weltgeschichtlichen Zusammenhang. Wie es der Zufall will, fällt der „ganz kleine private 20. Juli“ in Italien genau auf den D-Day. Eine so bedeutungsreiche Koinzidenz, dass der Erzähler die sonst betonte Nüchternheit fahren lässt. An jenem Morgen des 6. Juni 1944 zitterte die Atmosphäre in verhaltener Erregung. Hätte ich damals gewußt, was ich heute weiß, so wäre mir die Stille nicht so unerklärlich gewesen; ich hätte die Ursache des Zauberbanns erraten, der den Krieg zwischen dem Tyrrhenischen und dem Ligurischen Meer in seine Fänge schlug. An diesem Tage legte der italienische Krieg sein Ohr auf die Erde, um auf den normannischen Krieg zu horchen. [...] Das Schicksal der Massen vollendete sich, als ich mich von ihm für die Dauer eines Tages löste.45
Am 6. Juni bestand in Mitteleuropa eine geheime Achse, zumindest eine evozierte: Oben links rücken die Alliierten vor, unten rechts destabilisiert Private Andersch, wenn auch nur im Kleinen. Zangenbewegung. Die Bemerkung zur Lösung vom Schicksal der Massen an die Invasionspassage zu rücken, folgt dem gleichen Prinzip wie die dem „privaten 20. Juli“ vorgeschaltete Verkleinerung. Andersch ist zu versiert, um sich mit den anlandenden Alliierten oder dem Stauffenberg-Kreis plump auf eine Stufe zu stellen; assoziative Nähen herzustellen genügt. Auf die rhetorische Technik der Desertionsgeschichte ging Sebald nur andeutungsweise ein („Hemingway-Glanz“),46 in diesem Punkt ist seine Beschreibung zu präzisieren. Der Verächter, Sohn eines Oberstleutnants, begründete sein Unbehagen an der Aura des Widerständlerischen mit einem anderen Aspekt, für den er qua Herkunft besonders sensibilisiert war: Andersch kaschiere mit der „elaborate(n) Darstellung der Desertion“,47 dass er, wie aus der Feldpost an die Mutter hervorgehe, vor der Fahnenflucht zu italienischer Landserromantik neigte („... der Abend ist sanft und warm, und die Chianti-Flasche fehlt nicht. Und zu all dem muß man noch 100% Soldat sein. Aber es macht Spaß“).48 Eine den
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GW V, S. 407f. Sebald: „Devil and deep blue sea“, S. 82. Ebd. Andersch, Alfred: „...einmal wirklich leben“. Ein Tagebuch in Briefen an Hedwig Andersch 1943 bis 1975. Hg. v. Winfried Stephan. Zürich 1986, S. 41.
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Nachkriegslesern verschwiegene Tendenz zum Kriegstourismus und ein militärischer Einsatzwille zumindest vorübergehender Art stehen außer Frage, allerdings ist zu bedenken, dass der Adressant von 1943 a) einer Soldatenwitwe schrieb, der gegenüber er einen familiären Legitimationszwang verspürt haben dürfte, und b) einer bangenden Mutter, die er aufmuntern wollte. Interessanter als Sebalds Überführungsehrgeiz ist mittlerweile, was selbst er nicht bezweifelte. Wie die Fürsprecher und die neutralen Beobachter Anderschs setzte auch er die Fahnenflucht voraus, bei allem Dissens in der Bewertung.49 Dabei sind Zweifel am Faktum selbst erlaubt. Der Begriff Desertion bezeichnet ein gewolltes und zielbewusstes Überlaufen, wie es die Kirschen so fesselnd schildern: Der gewitzte Obersoldat täuscht seinen Kameraden eine Fahrradpanne vor, lässt sich zurückfallen und bewältigt tags darauf die „taktische Aufgabe“, sich den herannahenden Amerikanern „von der Flanke her zu nähern“.50 Ganz anders stellt sich der Ablauf in Amerikaner – erster Eindruck dar, einem Text aus dem Nachlass, geschrieben 1944 unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse. Von einer Desertion ist nirgends die Rede, statt dessen von einem versprengten Soldaten, der, dem Marschbefehl folgend, bei San Virginio seinen Bataillonsstab zu finden glaubt. Dort jedoch fällt er zu seiner Überraschung den noch weiter südlich bei Rom gewähnten Amerikanern in die Hände. Diese erste Version, die San Virginio schmucklos als „Ort meiner Gefangennahme“51 apostrophiert, hat Ed Mather 2000 als die
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Hier mit den Verehrern einig, erinnert Tuchel daran, „dass sich Andersch dem tödlichen Risiko des Fahnenflüchtigen aussetzte“ (Tuchel: „Alfred Andersch“, S. 40) – hätte die Wehrmacht ihn ergriffen, hätte sie ihn höchstwahrscheinlich exekutiert. Sebald dagegen, erscheint Andersch „als einer, der sich – was ihm niemand verdenken wird – bei guter Gelegenheit in die Büsche schlug“ (Sebald: „Devil and deep blue sea“, S. 82). Die Formulierung mit hämischem Unterton hat ihrem Urheber zu Recht Sympathien gekostet. Bei aller gönnerhaften Parenthese Feigheit anzudeuten, bedeutet, das Risiko auszublenden. – Dem Verf. selbst scheint eine Desertion während des Rückzugs der Wehrmacht aus Mittelitalien weder ein Zeichen von Feigheit noch besonders mutig. Wenn Andersch denn desertiert ist, dann hat er die Gefahr, ins Feuer der Alliierten zu geraten, getauscht gegen die, von den so genannten Kameraden gehängt zu werden. Dass er die Angst vor Ersterem in den Kirschen selbst ansprach, zählt zu seinen großen Momenten. Schwierigkeiten mit der Kategorisierung einer Flucht als Widerstandsakt habe ich zum einen, weil sie sich Nachkommen oder Freunden einer Sophie Scholl, eines Georg Elser, auch eines Stauffenberg schwerlich erklären ließe. Die Akteure des wirklichen Widerstands waren bereit, aus einer relativ sicheren Existenz in eine hochriskante zu wechseln. Zum anderen ist mir kein DDR-Flüchtling bekannt, der sich je mit einem Widerstand assoziiert hätte. Eine Desertion aus der Wehrmacht betrachte ich als die ehrenwerte Weigerung, im Dienst eines verbrecherischen Regimes zu töten oder getötet zu werden, nicht mehr, nicht weniger. Zur symbolischen Bedeutung der Flucht vgl. Abschnitt V. GW V, S. 406. Ebd., S. 307.
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authentischere eingestuft und darauf die in der deutschen Diskussion bislang ignorierte These gegründet, die Kirschen verwandelten eine ungewollte Gefangennahme nachträglich in eine beabsichtigte.52 Ein brisanter und möglicher Schluss, wenn auch nicht der einzig mögliche. Die erste Version allein reicht als Beweisstück nicht aus.53 Halten wir zunächst fest, dass jeglicher Beleg für eine Fahnenflucht fehlt. Das amerikanische Gefangenendossier, das auf 27 Seiten die Ergebnisse der Vernehmungen des Prisoner of War und Abhörprotokolle enthält, vermerkt keine Desertion – was aufhorchen lässt angesichts von Anderschs prinzipieller Mitteilsamkeit und mehr noch, da er, wie oben erwähnt, in den Kirschen erklären wird, sein freiwilliges Kommen habe ihn ermutigt, den Siegern politische Bedingungen zu stellen. Dessen ungeachtet lässt der fehlende Vermerk unterschiedliche Deutungen zu. Variante a: Eine freiwillige Gefangennahme fand nicht statt, daher konnte der Gefangene in der Vernehmung auch keine für sich beanspruchen; b) sie fand statt, Andersch teilte sie auch mit, nur ging – wie angesichts der Aktenlage nicht auszuschließen ist – ihre Dokumentation verloren; c) er verschwieg die Desertion, weil unter einigen deutschen Kriegsgefangenen das Gerücht kursierte, Überläufer stünden bei den Amerikanern in schlechtem Ansehen. Von Interesse in unserem Kontext sind die drei Möglichkeiten, da jede von ihnen ein neues Licht auf die spätere Selbstpräsentation des Erzählers wirft. Variante a: Nach Kriegsende begann der aufstrebende Autor zu realisieren, dass ihm der Zufall einen ungeahnten Trumpf zugespielt hatte. Mit etwas Phantasie ließ sich die vorzeitige Gefangennahme zur selbst herbeigeführten umdichten und so ein hoch distinktives Image politischer Dissidenz schaffen. Entgegen kam der Desertionsfiktion ein Realanteil. Die Erleichterung über das Ende der Wehrmachtskarriere, das Element, in dem beide Erzählversionen übereinstimmen, ist glaubhaft. Dennoch, trifft a) zu, liegt eine denkwürdige Legendenbildung vor, der die gesamte Leserschaft aufgesessen ist (der Verf. eingeschlossen), zudem eine Fiktionalisierungsleistung, die die von Andersch wiederholt stark gemachte Unterscheidung zwischen seiner Autobiographie und seinen Romanen erheblich schwächt. Die von einer Desertion ausgehenden Varianten b und c: Fest steht, dass Andersch, wenn nicht schon im Verhör, dann in Amerikaner – erster Eindruck, dem noch in Camp Ruston, unter US-Aufsicht fertig gestellten Text, die freiwillige Gefangennahme verschwieg. Hat die Desertion statt-
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Mather, Ed: „,Vielleicht ist unter allen Masken, aus denen man wählen kann, das Ich das Beste‘. Über die Entstehung einer Legende auf der Grundlage einer Autobiographie. Alfred Anderschs Kirschen der Freiheit“. In: Neophilologus 84 (2000), S. 433–455. Vgl. zu den Fakten in der Desertionsfrage Felix Römers Beitrag in diesem Band.
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gefunden, liegt eine Selbstzensur vor. Von ihr zeugt auch die (ebenfalls von Felix Römer belegte) Entscheidung, in der Vernehmung die kommunistische Vergangenheit zu verleugnen und sich als ehemaliger KZ-Häftling aus der Sozialdemokratie auszugeben. Andersch geht vorsichtig mit der Gewahrsamsmacht um. Wogegen nichts zu sagen ist, nur steht das Taktieren in ironischer Diskrepanz zur Auskunft der Kirschen, den Amerikanern 1944 eben durch die Desertion und die KZ-Haft als ebenbürtiger Verhandlungspartner in politicis entgegengetreten zu sein. Vollmundig ist sie insofern, als dem POW nichts ferner lag, als den neuen Herren „politische Bedingungen für die Zeit nach dem Kriege“ zu stellen.54 Eine Formulierung, die sich nicht etwa sinistrer Täuschungsabsicht, sondern der Selbsttäuschung verdankt. Erst nach der Kriegsgefangenschaft, wieder auf deutschem Boden, in komfortablerer Lage, führte Andersch mit der US-Zensurbehörde sein Scharmützel um die politische Ausrichtung des Ruf, das zum Verbot der Zeitschrift führte. Die spätere Unnachgiebigkeit in Sachen demokratischer Sozialismus und deutsche Selbstbestimmung projiziert das erzählende Ich von 1952 auf das erzählte Ich von 1944 zurück. Zwischenfazit: Klammert man die ärgsten Optionen, eine erfundene Desertion und/oder KZ-Haft, aus, summieren sich die bislang angesprochenen, von Sebald nicht einmal inkriminierten Passagen zu einer merklichen, obgleich dezenten Selbstilisierung. Schon sie wirft eine Leitfrage zu Andersch frei nach Winterspelt auf: What made him tick? Sie stellt sich zumal, wenn die ärgsten Möglichkeiten zutreffen. Denken wir die Frage fortan mit und beziehen wir nun den Aspekt ein, auf den Sebald abhob, den Kontrast von Erzähltem und Nicht-Erzähltem. Scharf fällt er aus aufgrund einer narrativen Qualität, die Sebald wohl aus Gründen der Erzählerkonkurrenz unerwähnt ließ. Die Kirschen der Freiheit erzeugen den Sog einer geschlossenen und finalisierten Geschichte. Geschlossen, da sie aus einer einzigen Kette von Fluchten besteht: 1930 aus dem kleinbürgerlichen Elternhaus in die KPD, 1933 aus der gelähmten Partei in die „totale Introversion“,55 1944 aus der Wehrmacht in die Freiheit von der Uniform. Finalisiert, da die Handlung auf die Desertion zuläuft. Sie bildet den Fluchtpunkt, markiert einen Wiederholungszwang mit glücklichem Ausgang. Wie 1933 entzieht das erzählte Ich sich unter dramatischen Umständen einem Kollektiv, doch während das damalige Ich wie die meisten anderen Genossen nur die Faust in der Tasche geballt hat, holt das von 1944 das Versäumte in einem
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Vgl. auch Reinhardt: Andersch, S. 112–126, der das verständlicherweise auf Wohlwollen bedachte Verhalten bereits akribisch dokumentiert. GW V, S. 356.
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Alleingang nach, wählt die selbstbefreiende Tat, wieder ein Dégagement und eine Selbstabsonderung, diesmal aber auf moralisch hohem Niveau. Das heißt, die wiederholte Selbstdeutung des Erzählers, in seinem Leben von Anfang bis Ende einen „unsichtbaren Kurs“ gehalten zu haben,56 unsichtbar noch für das erzählte Ich, sichtbar hingegen für das erzählende, wird durch die Handlungsführung plausibilisiert. Nur dass der Erzähler dadurch eine Kursabweichung unsichtbar macht, ein Kapitel im wirklichen Leben, das sich in die Linie eigensinniger Entfernungen vom Kollektiv nicht eben fügt. Seit Reinhardts Biographie ist es den meisten geläufig. Von 1935 bis 1943 war Andersch mit einer ‚Halbjüdin‘ verheiratet, wie es im Jargon der Nürnberger Gesetze hieß. Im Herbst 1940 beginnt er ein Verhältnis mit der Malerin Gisela Groneur, zu deren Bekanntenkreis, nach Anderschs Empfinden „ein tiefer, brausender Strudel des Lebens“,57 auch Funktionäre der NSDAP gehören. Sie ermöglichen der Künstlerin 1943 gleich drei Ausstellungen. Giselas neuer Gefährte will ebenfalls nicht mehr abseits stehen; davon zeugt schon das Vokabular, mit dem er den ersten Versuch einer längeren Erzählung durchsetzt, „Ein Techniker“ von 1942. Unter anderem ist die Rede von einer „offenen und geheimen Führerschaft, die vom Instinkt des Blutes oder der Seele getrieben, die Kraft aufgebracht hat, durch die Schale hindurchzustoßen, welche der reine Geist um das Leben zieht [...].“58 Im Februar 1943 kündigt Andersch
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Ebd., S. 329, S. 364, S. 373. Zit. n. Reinhardt: Andersch, S. 74. GW IV, S. 100. Reinhardt: Andersch, S. 77, kommentiert die Stelle wie folgt: „Das klang nach Blut-und-Boden und ebenso als Zugeständnis an das Vokabular der Nazis wie die Feststellung, daß Albert seinen Vater liebte ,wegen seines eingeborenen Fleißes, dieses Erbteils einer gesunden, ungebrochenen Rasse.‘ Unterlegt man, daß Fritz Albert [zu Zeiten der ersten Ehe Anderschs Schwager und das Modell für den Protagonisten Albert Gradinger, M. J.] Halbjude war, was der Leser freilich nicht wissen konnte, dann lässt sich daraus ein heimlicher Protest gegen den NS-Rassismus herauslesen; im anderen Falle war es wohl ein Beispiel von Anpassung.“ Ein heimlicher Protest? Die Erwägung ist Wunschdenken: Bezöge sich letztgenannte Stelle auf die Figur des Vaters – Dr. Josef Gradinger (= Dr. Eugen Albert) –, dann das Possessivpronomen „seines“ auf eben ihn. Josef Gradinger aber ist in der Erzählung, was auch das reale Vorbild war: kein Jude. Einem Nichtjuden das Erbteil einer gesunden, ungebrochenen Rasse zuzuschreiben, folgt der Rassen-Ideologie, statt ihr zu opponieren. Um Liebe zum Vater geht es hier jedoch gar nicht. Tatsächlich bezieht sich der Fleiß als Rassemerkmal auf Alberts Jugendfreund Georg Stein (GW IV, S. 36), dessen Äußeres („helles Haar“, „blaue Augen“) für die zeitgenössischen Lektoren ,arisch‘ markiert ist. Leider hat Andersch hier, offensichtlich um die Publikationschancen zu erhöhen, ein antisemitisches Flair in Kauf genommen (nichtjüdisch = ungebrochen, ‚halbjüdisch‘ = gebrochen). Typisch ist es weder für diese Erzählung – dazu wird Alberts jüdische Mutter zu respektvoll dargestellt – noch für Anderschs Schriften vor 1945 überhaupt, verschweigen aber wollen wir den schwachen Moment nicht (vgl. auch Abschnitt IV).
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der RSK eine Tätigkeit als Nebenerwerbsschriftsteller an. Solche erhalten einen so genannten Befreiungsschein und damit die Publikationserlaubnis, sofern sie die erforderlichen Unterlagen beibringen, zu denen auch ein ,Ariernachweis‘ des Ehepartners zählt. Daher drängt Andersch Angelika zur Scheidung, gegen ihren Willen und ohne Rücksicht auf eine Frau, deren jüdische Mutter kurz zuvor deportiert wurde. Im Aufnahmeantrag an die RSK vom 16. Februar beantwortet er die Frage nach dem Ehepartner mit „geschieden“, in Vorwegnahme der offiziellen Trennung durch das Landgericht Frankfurt am 6. März. Eine Verleugnung. Anders der Umgang mit Angelika eineinhalb Jahre später (worüber sich Sebald besonders mokierte): Als der POW die Amerikaner um Rückgabe seiner beschlagnahmten Manuskripte bittet, macht er nicht nur die KZ-Haft zu seinen Gunsten geltend, er reklamiert auch Angelika wieder für sich. „Prevented from free writing, up to now, my wife being a mongrel of jewish descent [...].“59 Das Bekannte sei hier noch mal aufgerufen, da erinnernswert ist, wie sich der Kritiker Sebald und wie der Hauptverteidiger Lamping zur Tilgung60 des unrühmlichen Kapitels im Bericht verhalten haben. Sebald hätte ohne Reinhardts Informationen der Ausgangspunkt für den Abgleich von Realgeschehen und faktual auftretender Erzählung gefehlt, daher dem bei aller Wertschätzung für Andersch gewissenhaft recherchierenden Biographen dankbarer sein müssen, als er war. Gleichwohl trifft seine Kritik den neuralgischen Punkt, wenn sie den Bericht unter „Konfession und Auslassung“61 verhandelt und als apologetisch einstuft. Anderschs Offenheit war eine Form des Verbergens. ,Gestanden‘ wird, was einem niemand verdenken kann oder sollte (Angst auf dem Polizeipräsidium und eine Fahnenflucht), ausgespart wird der Komplex RSK/Angelika. Lamping dagegen, das wurde bislang wenig beachtet, lässt in einem Aufsatz von 2000 das Heikle wieder verschwinden. Er arbeitet die Flucht als Leitmotiv der Kirschen heraus, merkt auch an, dass „Andersch für seinen Bericht nur die Episoden seines Lebens aus[wählt], in denen etwas von dem Lebens-Sinn, der Flucht in die Freiheit, greifbar ist“,62 übergeht jedoch selbst in den Fußnoten, was der Autor dafür ausgeblendet hat. Folglich spart sich der Exeget auch die Frage, ob die Rede vom unsichtbaren Kurs haltbar ist.
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Zit. n. Sebald: „Devil and deep blue sea“, S. 82. Vgl. zur Streichung aus dem ursprünglichen Konzept den Beitrag von Jörg Döring in diesem Band. Vgl. Sebald: „Devil and deep blue sea“, S. 81. Lamping, Dieter: „Erzählen als Sinn-Suche. Formen und Funktionen autobiographischen Erzählens im Werk Alfred Anderschs“. In: Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Hg. v. Rüdiger Zymner u. a. Köln 2000, S. 217–229, hier S. 225.
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Derlei Analyse mit Auslassung, in der Andersch-Philologie nach wie vor der gute Ton, weil artig ,immanent‘, ist angesichts der Gattungsbezeichnung „Bericht“ äußerst problematisch. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass auch Berichte sich zu einem vorgängigen Geschehen unvermeidlich selektiv verhalten, dürfte es einen Unterschied machen, ob sinnentsprechend oder verzerrend selektiert wird. Die Verzerrung hier ist offensichtlich. Der Erzähler erklärt im Text, er habe mit der Desertion „die Tat gewählt, die meinem Leben Sinn verlieh“,63 und berücksichtigt zur Beglaubigung nur die Ereignisse, die die Fahnenflucht tatsächlich als Endpunkt einer langen Ausbruchsgeschichte, eben des „unsichtbaren Kurses“ erscheinen lassen. Das Realgeschehen hingegen folgte statt der suggerierten geradlinigen Bahn bestenfalls einem Zickzack-Kurs: bis Sommer 1940 eine begreifliche Flucht in die Kunst, danach als angehender Autor eine Angleichung an die herrschenden Verhältnisse, ’44 (vielleicht) eine honorige Flucht, dann wieder eine Anpassung, der Rückgriff auf Angelika vor den Amerikanern.64 Die Ursache der Kluft zwischen Story und Realgeschehen liegt auf der Hand. Die biographischen Trümpfe strapazierte Andersch, da er sich des weniger Rühmlichen zumindest punktuell bewusst war. Aus Reinhardts Quellen geht hervor, dass ihm die Trennung von Angelika ausgerechnet zum Zeitpunkt der ersten Deportationen von Anfang an Gewissensbisse bereitete.65 In der Selbstdarstellung von 1952 begegnet uns somit der kompensatorische Antrieb wieder. Es ging darum, vor sich selbst zu bestehen und vor den anderen: Der KZ- und der Desertions-Trumpf mussten ausgespielt werden, doch hätten sie unter den Nonkonformisten kaum gestochen, wenn die deutsch-jüdische Separationsgeschichte miterzählt worden wäre. Das auf Dissidenzkapital gegründete Prestige hätte sich sogleich minimiert.
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GW V, S. 373. Als unfein erweist sich die Wiederentdeckung Angelikas besonders im Licht jenes Dokuments, das Jörg Döring und Rolf Seubert 2008 zu Tage förderten (Dies.: „,Entlassen aus der Wehrmacht: 12.03.1941. Grund: ,Jüdischer Mischling‘ – laut Verfügung‘“. Ein unbekanntes Dokument im Kontext der Andersch-Sebald-Debatte. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 151 (2008), S. 171–184). Die vorübergehende Entlassung aus der Wehrmacht im März 1941 verdankte Andersch nicht, wie wohl im Familienkreis kolportiert und selbst noch von Sebald angenommen, der KZ-Haft, sondern der „jüdischen Versippung“. Woraus ein biographischer Dreischritt folgt, der Sebalds Rede vom „Ehemanöver“ untermauert. Ob die Entlassung nun auf eigene Initiative erfolgte oder automatisch, 1941 profitiert Andersch von einer ‚Halbjüdin‘, von der er sich praktisch schon entfernt hat. Was ihn nicht hindert, ihr zwei Jahre später der schriftstellerischen Ambitionen wegen auch offiziell den Laufpass zu geben, aus dem privaten Vor- ist mittlerweile ja ein Nachteil geworden. Und als es gilt, vor den Amerikaner den eigenen Opferstatus zu belegen, ist er so frei, sich wieder als Ehemann Angelikas auszugeben, um ein zweites Mal von ihr zu profitieren. Liberté toujours, die Kehrseite der Freiheit. Vgl. Reinhardt: Andersch, S. 82.
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Dass Menschen sich gut verkaufen und ihr Gesicht wahren wollen, wissen wir von uns selbst. Deshalb: Kritik ja, Tribunalisieren nein. Kritik, da Andersch sich damit hätte begnügen können, von den Pluspunkten ohne Stilisierung zu erzählen und das Unvorteilhafte wegzulassen. Zur Auslassung war er sozial genötigt, nicht zur Selbstüberhöhung. Erst durch die Kombination beider Verfahren öffnete sich die Schere zwischen realistischem Programm und Erzählpraxis. Den Autor dafür zu verurteilen wäre zu einfach, denn die Scheu, den Wahrheitsanspruch wirklich einzulösen, ist nur Symptom. Im Zwang zur vorteilhaften und in der gewaltigen Versuchung zur optimalen Selbstpräsentation nach 1945 liegt die eigentliche Wahrheit des Berichts. Ein kleiner Held, nicht mehr, nicht weniger, genau danach sehnte sich die nonkonformistische Konsumentengruppe. Schwer, einer spürbaren Nachfrage Widerstand zu leisten.
III. Und die Wahrheit literarischer Fiktion? Die Entscheidung, die im Bericht noch umkurvte Problemzone der Vita in Sansibar und Efraim ausführlich zu verarbeiten, ist ein erstes Indiz, dass das Problembewusstsein des Autors im Nachhinein größer war als das seines Mainzer Fürsprechers heute ist. Lamping nämlich sieht, wie eingangs angedeutet, gar keine wunden Punkte. Dass Andersch sich von seiner ersten Frau getrennt hat, um unter den Bedingungen des NS Autor werden zu können, könne schon deshalb nicht stimmen, weil er die Befreiung von der RSK-Mitgliedschaft beantragt hat, keine Aufnahme. „Andersch ist somit tatsächlich ein Beispiel dafür, dass man in der Nazi-Zeit auch veröffentlichen konnte, ohne Mitglied der Reichsschrifttumskammer zu sein.“66 Zwischen dem Wunsch zu publizieren und der Scheidung bestehe folglich kein ursächlicher Zusammenhang. Hier befindet sich der Verteidiger in einem Irrtum, der einem aufgrund des verwirrenden Begriffs „Befreiung“ leicht unterlaufen kann. „Tatsächlich waren“, so Volker Dahm vom Münchner Institut für Zeitgeschichte, „die ,befreiten Mitglieder‘ (eigentlich ein Paradoxon) in ihren Rechten und Pflichten gegenüber der Kammer in jeder Hinsicht den regulären Mitgliedern gleichgestellt [...]. Das bezieht sich auch gerade auf die Abstammung [...].“ Für den „Kriegsbefreiungsschein“, den Andersch erhielt, war ein Aufnahmeantrag auszufüllen, „der selbstverständlich auch die Frage nach der Rassezugehörigkeit enthielt“.67 Befreit waren Nebenerwerbsschriftstel-
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GW I, S. 455. Schreiben an den Verf. vom 6. Februar 2006.
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ler von den Beitragszahlungen, das war der ganze Unterschied; ,einwandfreie‘ Abstammungsnachweise mussten auch sie beibringen, und hier stand dem Kandidaten Andersch Angelika im Weg. Für die Scheidung gab es keine andere Notwendigkeit.68 Kühn ist im Übrigen Lampings Mutmaßung, Andersch habe seine schriftstellerische Tätigkeit in keiner Abhängigkeit vom RSK-Antrag gesehen. Warum hat er ihn dann gestellt? In einem anderen Punkt stellt sich der Fürsprecher zu Recht vor den Autor. Falsch war Sebalds Suggestion, Andersch habe Angelika mit der Scheidung den Schutz vor der Deportation entzogen. Das hätte er nur, wäre er mit einer Jüdin verheiratet gewesen. Jüdinnen verloren den bis kurz vor Kriegsende währenden Schutz durch die Mischehe, wenn diese durch Scheidung oder Ableben des nichtjüdischen Ehepartners aufgelöst wurde. Lampings Information, dass die ,Mischlinge ersten Grades‘, zu denen Angelika zählte, den ,Volljuden‘ nicht gleichgestellt und deshalb auch nicht den gleichen Verfolgungen ausgesetzt waren, ist insofern wichtig. Sie erklärt, warum Frau und Tochter der Deportation entgingen, und zeigt, dass Andersch sich keine bewusste Schutzverweigerung, mithin verbrecherisches Handeln geleistet hat. Von Schuld zu sprechen, wie Sebald, ist zu hoch gegriffen. Was vorliegt, ist eine Verfehlung. So ehrenwert der Verteidigungsimpuls sein mag, Lamping macht es sich zu einfach, wenn er mit der lapidaren Feststellung, „dass Angelika Andersch und ihre Tochter Susanne weder inhaftiert noch deportiert wurden und den Krieg überlebt haben“,69 die Angelegenheit hurtig abschließt. Die retrospektive Klugheit lässt außer acht, dass die historischen Akteure noch nicht wissen konnten, was wir heute wissen. In welcher Lage sich „jüdische Mischlinge“ im NS befanden, ist seit 1999 dem gleichnamigen Standardwerk von Beate Meyer entnehmbar: [...] die Behandlung des jüdischen Elternteils [deutete] ihnen zukünftige Verfolgungsmaßnahmen an. Im Hintergrund drohte das noch bedrückendere Schicksal der jüdischen Verwandten, die – wenn sie nicht emigriert waren – in die Vernichtungslager deportiert wurden. Die ,Mischlinge‘ konnten nicht darauf vertrauen, dass ,das deutsche Blut‘ in ihren Adern oder die deutsche Staatsbürgerschaft ihnen eine andere Behandlung garantieren würde als den in den Holocaust einbezogenen ,Mischlingen‘ in den besetzten Ostgebieten. [...] In fast allen Berichten von Personen, die als ,Mischlinge‘ verfolgt wurden, kommt zum
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Nicht etwa, dass Gisela Groneur ein Kind von ihm erwartet hätte – eine im Internet irrlichternde Angabe, der eine Verwechslung der von Groneuer in die Ehe eingebrachten Söhne Michael und Martin mit leiblichen Söhnen Anderschs zugrunde liegt. Die gemeinsame Tochter Hedwig Annette wurde erst 1950 geboren. GW I, S. 455.
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Ausdruck, dass ihnen die latente Todesgefahr – zumindest in zugespitzten Situationen – bewußt war.70
Die Situation von Angelika Andersch spitzt sich 1942 mit der Deportation der Mutter zu. Ida Hamburger wird zum Verhängnis, dass ihr nichtjüdischer Ehemann 1929 verstorben ist. Wie hätte ihre Tochter ausschließen können, dass die Scheidung für sie à la longue die gleichen Konsequenzen hat wie für die Mutter die Verwitwung? Die Beschlüsse der dritten Wannsee-Konferenz im Oktober 1942, auf der sich die Himmler-HeydrichLinie nach Einbeziehung auch der deutschen ,Mischlinge‘ in den Judenmord nicht durchsetzen konnte, ihnen eine Schonfrist bis zum ,Endsieg‘ eingeräumt wurde, waren für die Betroffenen opak. Amtliche Bekanntmachungen gab es nicht. Ebenso wenig beruhigen konnte, dass ,Mischlingen ersten Grades‘ ab Juni 1942 der Besuch weiterführender Schulen verboten wurde.71 Auch Alfred Andersch, dem das Schicksal der Schwiegermutter vor Augen stand, konnte fatale Folgen der Scheidung kaum ausschließen. Vielleicht nahm er zum Zeitpunkt des Vollzugs ‚Halbjuden‘ einfach als nicht-verfolgt wahr. Wie aber hätte ihm entgehen können, dass sich diese Gruppe im Visier der Nazis befand? Schließlich hatte schon die Ehe mit einer ‚Halbjüdin‘ genügt, 1941 wegen „jüdischer Versippung“ aus der Wehrmacht entlassen zu werden. Im Herbst 1944 jedenfalls, haben wir von Felix Römer erfahren, schätzte auch Andersch die ‚Halbjuden‘ als gefährdet ein. Spätestens jetzt musste ihm klar sein, sich im Vorjahr eine produktionsorientierte Rücksichtslosigkeit erlaubt zu haben. Natürlich dürfen sich ein Nichtjude und eine ‚Halbjüdin‘ entlieben (muss man’s erwähnen?), doch gingen vieler solcher Paare sicherheitshalber erst nach dem Krieg zum Standesamt. Das dauerte dem Jungautor zu lang. Die unsichere Konstellation in der Endphase des Krieges sei hier nicht erwähnt, um Andersch anzuschwärzen. Der springende Punkt ist, dass er sich nach 1945 eines Fehlverhaltens bewusst war und wie er sich zu ihm verhielt. Der Privatmann berichtet (laut Sven Hanuschek) Freunden, Frau und Tochter in die Schweiz gerettet zu haben;72 der Romancier sucht nach einer Wiedergutmachung in zwei literarischen Fiktionen, die unterschiedlicher nicht hätten ausfallen. Wenn in Sansibar Gregor wie sein Autor mit den Kommunisten bricht, aber anders als dieser eine schöne Jüdin vor den Nazis rettet, handelt es sich natürlich um „umgeschriebene Lebensgeschichte“,73 wie Sebald so
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Meyer, Beate: „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945. 3. Aufl., Hamburg 2007, S. 373. Vgl. ebd., S. 99. Hanuschek, Sven: „In der Andersch-Falle“. In: Frankfurter Rundschau vom 20. August 2008. Sebald: „Devil and deep blue sea“, S. 82.
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treffend bemerkt. Auf einem anderen Blatt steht die Legitimität des Verfahrens. Während der Ankläger moniert, Andersch mache „aus Gregor den geheimen Helden, der er selber nie gewesen ist“,74 pflegen die kontinentaleuropäischen Anwälte genauso gereizt zu antworten, schon die Frage nach dem biographischen Hintergrund sei banausisch, sie ignoriere die Eigenlogik der Kunst.75 Eine dritte Position bezog 2000 Rhys W. Williams, dem zufolge sich gerade an der Differenz von Vita und Fiktion die narrative Eigenlogik ablesen lässt.76 Andersch spielt in der Fiktion durch, was er im wirklichen Leben nicht realisiert hat. Mithin nimmt die Rettungsfabel von 1957 vorweg, was ihr Autor erst 1974 programmatisch formulieren wird: „Geschichte berichtet, wie es gewesen. Erzählung spielt eine Möglichkeit durch.“77 Mir scheint, die Crux von Sansibar liegt darin, diese Kontingenzfunktion von Romanen nicht konsequent genug auszuschöpfen. Dass Andersch sich und den Nachkriegslesern den Tagtraum von der heldischen Existenz erfüllt, wäre durch die Lizenz des Fiktionalen leidlich gedeckt, hätte er die erfundene Figur des Gregor nicht zugleich in die Nähe des Berichts geschrieben. Der vielzitierte Satz vom Möglichkeitssinn der Erzählung harmoniert mit einer Proseminarweisheit. Anders als der Autor einer faktualen erhebt der Autor einer fiktionalen Erzählung nicht den Anspruch, seine Figuren seien in einem wirklichen Geschehen verwurzelt,78 zwischen sich und sie schaltet er per definitionem einen erfundenen Erzähler. Merke: Autor und Figur niemals verwechseln. Ergo: Da Andersch nicht behauptet, wie Gregor gehandelt zu haben, darf er ihn handeln lassen als sich selbst. Intrikat indes wird es, wenn der Autor einen Erzähler installiert, der die Grenze zwischen literarischer Figur und öffentlich bekannter Autor-Person aufweicht. Die heroische Figur des Gregor ist die einzige in Sansibar, die sich durch eine ganze Merkmalskette mit dem erklärtermaßen autobiographischen Ich des Berichts verbunden zeigt: gleichaltrig, Ex-Kommunist, von der Passivität der Partei angewidert, Einzelgänger, mit hoch entwickeltem Kunstsinn gesegnet, an Gott zweifelnd, aber doch betend. Andersch erlaubte es seinem Leserstamm von 1957, Gregor mit dem Autor zumindest zu assoziieren, umso mehr, als der Held seine Trennung von der KPD
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Ebd. Vgl. Fußn. 4. Vgl. Williams, Rhys W.: „,Geschichte berichtet, wie es gewesen. Erzählung spielt eine Möglichkeit durch.‘ Alfred Andersch and the Jewish Experience“. In: German Monitor (2000). Jews in German Literature since 1945, S. 477–489. GW III, S. 25. Vgl. Martinez, Matias u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999, S. 13.
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ständig als Desertion oder Fahnenflucht bezeichnet, nicht etwa, wie man erwarten sollte, als Abschied, Ausstieg oder Rückzug. So ergibt sich ein heikler Mix aus Identität und Differenz. Die Gemeinsamkeiten zwischen Figur und Autor suggerieren eine wie auch immer geartete Haltungsnähe, die in einem sensiblen Punkt nicht bestand. In der Mischung aus Gemeinsamkeit und Differenz muss man keine intentionale Irreführung wittern, vermutlich hat Gregor seinen Autor einfach identifikatorisch angezogen. Fest steht nur, wodurch sich die fiktionale Wunschbiographie angreifbar machte: Gregor zählte noch halb zu dem vom realistischen Programm begleiteten Bericht, halb schon zum Programm der besseren Möglichkeiten. Das Problem lag in der Programmüberschneidung. Als aus anderen Gründen grenzwertig erweist sich die Zeichnung der geretteten Jüdin. Für Judith, eine Hanseatin, hat die Münchnerin Angelika bei aller Regionalverschiebung überdeutlich Patin gestanden: beide urbane Großbürgertöchter, beide verlieren die jüdische Mutter durch die Nazis. Sebalds Beobachtung, man merke Anderschs Umgang mit Judith kleinbürgerliche Ressentiments an, lässt sich teilweise bestätigen, so unglücklich das angebliche Beweisstück gewählt war. Beargwöhnt nämlich Gregor „ein verwöhntes junges Mädchen aus reichem jüdischen Haus“,79 ist er keineswegs Sprachrohr des Autors. Auf besagte direkte Rede folgt in Sansibar wenig später ein innerer Monolog, in dem sich Gregor lang und breit ereifert, wie formvollendet seine vornehme Schöne mit Pfarrer Helander zu plaudern weiß, dem „tadellosen Edelmann Gottes“.80 Nun steht Gregors Grimm aber in offenkundigem Missverhältnis zum nur freundlich geführten Gespräch der beiden, auch stellt Helander im Gesamtgefüge der Erzählung eine hoch integre, über heimliches Bekritteltwerden erhabene Figur dar. Der Kontext lässt erkennen, dass Andersch an der einen wie an der anderen Stelle kleinbürgerliche Reflexe vorführt, sie unterlaufen ihm nicht. Im Gegenteil, er zeigt sich als Erzähler in der Lage, zu seinem Bewusstsein der frühen vierziger Jahre, Schwierigkeiten mit einer ganz bestimmten höheren Tochter, auf Distanz zu gehen. Wie alle Autoren von Format nutzt er eine fiktive Figur, um sich selbst kritisch zu objektivieren. Nein, kleinbürgerliche – das heißt noch nicht: antisemitische – Ressentiments schimmern andernorts durch, immer dann, wenn der Erzähler auch Judith intern fokalisiert und ihr Innenleben als allzu samtenes vorführt. Welche Art von Retter schwebt dem schutzbedürftigen Fräulein vor? Ein unscheinbarer Ex-Kommunist? Ungern, Judith bevorzugt „ein schmissiges Plakat von Herren, Kavaliere mit intakten Ehrbegriffen,
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GW I, S. 128. Ebd., S. 137.
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schweigend bereit, den Schutz einer Dame zu übernehmen“81 – überkandidelt. Als es auf der Flucht aus Rerik schon eilt, zeichnet sich ab, dass Judith ihren Koffer im Hotel wird zurücklassen müssen. Den erklärt Gregor, ganz Realist, für unwichtig. „Unwichtig, überlegte sie zornig, während sie an das Kleid, die Wäsche und die zwei Schuhe dachte, die sich in ihrem Koffer befanden. Die hübschen Toilettensachen.“82 Dabei hat sie genug Geld bei sich, um sich in Schweden neu einkleiden zu können – kindisch. Und schließlich: Welche Tarnung hat sich Judith Levin zugelegt, um von ihrem deutschen Wirt nicht als Jüdin erkannt zu werden? Sie trägt sich ins Gästebuch unter einem falschen, ganz und gar unverdächtigen Namen ein: „Judith Leffing. Das klang ganz gewöhnlich hanseatisch.“83 Den jüdischen Vornamen lässt sie stehen, ein bisschen unbedarft ist sie also auch noch. Zu Anderschs Hang, sich lustig zu machen über Judith (im Hebräischen: Lob) passt die Anlage des Plots. Da aus der acht Jahre älteren Angelika eine Juniorpartnerin auf der Flucht wird, entsteht eine für Gregor von vornherein günstige Rollenverteilung. Baby, bleib dicht hinter mir. Gegen Ende allerdings ändert sich das Bild, gewinnt Judith an Umsicht und Statur, ja sie überragt Gregor noch, als sie skrupulöser als er vorgeht, es ablehnt, den störrischen Fischer Knudsen mit Gewalt zur Fluchthilfe zu zwingen. Eine aufschlussreiche Friktion im Text. Im Ganzen dominieren noch die indirekte Selbstheroisierung und ein insofern trübes Kompensieren, als sich die genannten Sticheleien wie privates Nachkarten respektive Überkompensieren von schlechtem Gewissen lesen. Zugleich deuten sich Selbstkritik und eine Verbeugung vor Judith alias Angelika an. Vorboten eines Kurswechsels, den Efraim vollzieht. Wie bekannt, schlüpft Andersch als Ich-Erzähler in die Rolle eines Londoner Journalisten deutsch-jüdischer Herkunft, der Anfang der sechziger Jahre im Auftrag seines Chefredakteurs, Keir Horne, nach dem Verbleib von dessen Tochter Esther recherchiert. Efraims Nachforschungen in Berlin ergeben, dass Horne seine jüdische Geliebte, Marion Bloch, und die gemeinsame Tochter einst in Nazi-Deutschland hat sitzen lassen. Uns stellt sich die Gretchenfrage, weshalb Andersch aus der Sicht des Juden erzählt, wo doch die Vergangenheit Hornes der eigenen mehr ähnelt. Sebald erklärt, der Autor habe sich in Horne nicht wiedererkennen wollen, daher die Verschiebung.84 Das heißt schizophrene Tendenzen zu unterstellen, die Funktion der Konstruktion zu verkennen. Gegenthese:
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Ebd., S. 75. Ebd., S. 123. Ebd., S. 27. Vgl. Sebald: „Devil and deep blue sea“, S. 84.
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Andersch suchte eine Möglichkeit, sich dem biographischen Makel zu nähern, ohne für die Leser in der Negativfigur Horne erkennbar zu sein. Er traf Vorkehrungen, die verhinderten, dass die Rezipienten eine Beziehung zwischen Autor und Figur auch nur erahnen konnten: erstens die Wahl des jüdischen Ich-Erzählers, der sich als Protagonist wie ein Filter vor die vermeintliche Nebenfigur schiebt, zweitens die Verfremdung Hornes, als schlampiger, aufgeschwemmter Alkoholiker mit weißem Haar das genaue Gegenteil des bekannt peniblen Andersch, eines ranken und eleganten sportsman, der mit 53 jünger wirkt, als er ist. Die Differenz Engländer/Deutscher tut ein Übriges. Erst die Distanzierungstechnik, eine zur Wahrung symbolischen Kapitals notwendige, keine anstößige Selbstverhüllung, erlaubte es, den eigenen Egoismus zu Zeiten des NS zu objektivieren, namentlich im sechsten Kapitel. Das Schicksal Esthers kann Efraim nicht klären, dafür erfährt er von einer betagten Zeitzeugin, der Klostervorsteherin Ludmilla, die genaueren Umstände von Hornes Verfehlung. Er, der nicht-jüdische Brite, hat sich 1938 geweigert, seine deutsche Tochter zu adoptieren. Beachtenswert, mit welchen Worten die Nonne das Versäumnis kommentiert und wie Efraim darauf reagiert. „,Wenn Esther adoptiert worden wäre‘“, so Ludmilla, „,hätte man sie nur noch als ‚Halbjüdin‘ registriert, und dann hätte sie sogar bei uns auf der Schule bleiben können, wäre vielleicht überhaupt unbehelligt geblieben.‘ ,Nur ihre Mutter hätte man eines Tages abgeholt und mit Giftgas getötet‘, sagte ich.“85 Es scheint, als betone Andersch die Differenz jüdisch/‚halbjüdisch‘, um den Status von ‚Halbjuden‘ zu verharmlosen und sich so zu exkulpieren, doch eine Selbstberuhigung wird durch den adverbialen Zusatz „vielleicht überhaupt“ verhindert. Die Nonne ist sich des Entrinnens der ‚Halbjuden‘ so wenig gewiss, wie Andersch es gegen Kriegsende sein konnte. Überdies quittiert Efraim die feine Unterscheidung zwischen Juden und ‚Halbjuden‘ mit einer sarkastischen Ablehnung, die nicht wirklich der Klosterfrau gilt. Sie zielt auf Andersch selbst. Der Autor erinnert sich durch seinen Ich-Erzähler daran, wen er mit Angelika verließ: Esther verhält sich als Tochter der vergasten Jüdin Marion wie Angelika zu Idl Hamburger (als Tochter Hornes wie Susanne zu Alfred Andersch). Für verdeckte Selbstkritik sprechen noch andere Details. Die großzügige Deutung, die Ludmilla Hornes Verhalten angedeihen lässt: „Ich nehme an, dass Esthers Vater einfach nicht wusste, um was es ging“86, gleicht der Voraussetzung nach – Unwissenheit als mildernder Umstand – dem zweiten Argument, das Andersch zu seinen Gunsten hätte anführen
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GW II, S. 345. Ebd., S. 344.
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können und das von seinen Fürsprechern auch geltend gemacht wird:87 dass er sich 1943 vielleicht noch nicht bewusst war, welche Konsequenzen die Trennung für Frau und Tochter hätte haben können. Der nachsichtige Ansatz der Ordensfrau aber wird entwertet, er erscheint Efraim durchsichtig: „Sie sucht [Herv. M.J.] nach Gründen, ihn [Horne] zu entschuldigen.“88 Der Erzähler schwächt die Verteidigungsposition weiter, indem er sie einer unvorteilhaft gezeichneten Figur überlässt. Ludmilla, so viel kann Efraim in Erfahrung bringen, zählt zu einer Gruppe von Nonnen, die Esther 1938 zur Mutter zurückschickten, statt sie im Kloster zu verstecken. Als der Protagonist an diesem Punkt nachhakt, blockt die Klosterfrau ab. Mit der Aufdeckung von Hornes Vergangenheit verändert sich Efraims Position gegenüber dem Chefredakteur grundlegend: „[...] ich [bin] vor allem anderen der Mitwisser von Keirs Schuld. Ich, Georg Efraim, bin der einzige Kenner seiner Schande.“89 Die Lage des Protagonisten ähnelt nunmehr der seines Autors – auch er ein Mitwisser, den die Vergangenheit eines langjährigen Vertrauten umtreibt, die des Privatmanns Andersch. Die narrative Konstruktion, in der Efraim zu Horne steht wie der mittlere Andersch zu seinem Ich von 1943, lässt gleichfalls Rückschlüsse auf das Selbstbild des Romanciers zu. Da er sein gegenwärtiges Ich an Efraim, das alte an Horne delegiert, erweisen sich Efraims Bewertungen von Hornes Verhalten als verschlüsselte Selbstbewertungen Anderschs. Der Protagonist spricht zunächst von Schuld, Schande und Verbrechen, kehrt kurz „zur Technik des understatement zurück – was Keir auf dem Kerbholz hat, ist eine Unterlassungssünde, nichts weiter“, um schließlich, beiläufig fast, doch wieder den Ausgangsbegriff zu wählen: „Trägt er [Horne] so schwer an der Last seiner Schuld, dass er einen brauchte, dem er sie beichten konnte?“90 Ein strenges, wenn auch interrogativ formuliertes Urteil. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es wird hier nicht behauptet, die Bedeutung der narrativen Konstruktion erschöpfe sich in den biographischen Bezügen und sei allein durch eine Schlüsseltext-Lektüre erschließbar. Es geht um eine Bedeutungsebene. Das Experiment, einen jüdischen Protagonisten zu wählen, diente dem Erzähler unter anderem dazu, sich in den unterschiedlichsten Masken einzugestehen, dass die Entscheidung von 1943 nicht schon deshalb akzeptabel war, weil Frau und Tochter dem Schlimmsten entgingen. Alfred Andersch hat es sich in den
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Vgl. etwa eine Bemerkung von Lamping: „Wir wissen auch nicht, wie er die Situation seiner Frau als ,Halbjüdin‘ in der Endphase des Kriegs eingeschätzt hat“ (GW I, S. 454). GW II, S. 344. Ebd., S. 360. Ebd., S. 361.
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sechziger Jahren schwerer gemacht als in den Fünfzigern, den biographischen Makel noch kritischer gesehen („Schuld“), als es angemessen war. Dass er sein konstruktives Talent nunmehr in den Dienst eines verdeckten Selbstgerichts stellte, statt wie zuvor in den der Selbstverklärung, verdient Respekt. An Licht- und Schattenseiten zu erinnern lohnt, weil zwischen Pauschalverherrlichung und -diskreditierung des Erzählwerks eine schlechte Symmetrie besteht. Beiden Lesarten entgeht das Interessanteste am Autor, der Einstellungswandel: von den Autofiktionen der fünfziger Jahre, die vom makellosen Lebenslauf träumten, zum nachdenklichen, wenn nicht selbstquälerischen Erzählen der Sechziger, zur Ästhetik der Scham. Dies war der „unsichtbare Kurs“.
IV. Die bisherigen Befunde untermauern Sebalds Kritik an der selbstheroisierenden Tendenz, widersprechen aber, soweit sie das prozessuale Moment des Œuvres hervorheben, der Coda von Between the devil, das literarische Werk Anderschs sei der „Mantel“, in den sich „ein von Ehrgeiz, Selbstsucht, Ressentiment und Ranküne geplagtes Innenleben“ hülle.91 Abgesehen vom Bildbruch im abschließenden Verdikt92 machte sich Sebalds Text anfechtbar durch den sich während der Verfertigung offenkundig verstärkenden Hang, am Wortführer der frühen Gruppe 47 kein gutes Haar zu lassen. Die Verurteilung in Bausch und Bogen unterschätzte die Modifikationsfähigkeit des polemischen Objekts, erlag einer biographischen Illusion im Sinne Bourdieus: Ein Faktum der Vita (hier: das Fehlverhalten im NS) wird als Keimzelle aufgefasst, aus der sich nichts als ein kohärenter Werkzusammenhang entfalte93 (hier: nachträgliche Selbstverklärung). Insoweit leuchtet es ein, wenn sich Lampings Kommentar über eine „ebenso schlichte wie strenge Überzeugung“ des Anklägers mokiert: „Wer einmal einen Fehler begangen hat, ist auf Dauer moralisch beschädigt, und wer als Person gefehlt hat, kann kein guter Schriftsteller mehr sein.“94 Allein, der Fürsprecher verfährt kaum komplexer. Er versichert, ihm sei nicht daran gelegen, Andersch „vor berechtigter Kritik zu schützen oder
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Sebald: „Devil and deep blue sea“, S. 84. So eine Spitze von Helmut Peitsch: „,Was geschieht, wenn [...] neben den üblichen Generals-Memoiren plötzlich das Buch eines Deserteurs erscheint?‘ Alfred Anderschs Kirschen der Freiheit im Kontext“. In: Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Hg. v. Lars Koch u. Marianne Vogel. Würzburg 2007, S. 250– 270, hier S. 253. Vgl. Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt / M. 1998, S. 75ff. GW I, S. 456.
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gar problematische Teile des Werks zu verbergen“, die Werkausgabe solle „Gelegenheit geben, Vorwürfe gegen ihn zu prüfen – aber nicht anhand biographischer Spekulationen, sondern mit Hilfe genauer Lektüren.“ Desto gespannter ist man, wie der Anspruch auf Seriosität umgesetzt wird. Die Praxis ist, Sebalds Thesen zum Verhältnis von Leben und Werk kurz als „Biographismus und moralischen Rigorismus“95 abzukanzeln und einer inhaltlichen Auseinandersetzung schlicht auszuweichen.96 Mit der Weigerung, den Beziehungen zwischen Leben und Werk auch nur ansatzweise nachzugehen – als schlössen sich biographische Rückbezüge und genaue Lektüre aus –, beraubt man sich der Möglichkeit, zu entdecken, dass Andersch auf den biographischen Makel narrative Antworten von moralisch sehr unterschiedlicher Qualität gegeben hat – und damit ironischerweise eines Arguments, das sich Sebalds strenger Prämisse entgegen halten ließe. Folglich nimmt man sich so auch die Chance, die Entwicklung des Œuvres zu erklären. Am ehesten erhellen lässt sie sich, wenn man berücksichtigt, dass sich in einem literarischen Werk „dessen immanente Notwendigkeit, sein Anspruch auf Ausführung, Verbesserung und Vollendung, mit sozialen Zwängen [vermischt], die das Werk von außen her lenken.“97 Der innere Antrieb, sich mit Efraim an den wunden Punkt heranzutasten, traf auf den Zwang, sich vor der Leserschaft nicht zu dekuvrieren, mit dem Ergebnis, als Erzähler einen erhöhten Aufwand an verfremdender Konstruktion betreiben zu müssen. Bleibt die Frage, warum Andersch sich dann auf das riskante Unternehmen Efraim überhaupt einließ; individualpsychologische oder moralisierende Begründungen (,Reife‘, ,Läuterung‘) wären ein wenig dünn. Dass der Zwang zur verhüllenden Formgebung zugleich eine künstlerische Herausforderung darstellte, einen Reiz, ist schon ein rele-
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Ebd., S. 457. Die sachliche Replik beschränkt sich auf eine einzige Bemerkung, und sie nimmt es mit den Fakten nicht allzu genau. Sebald erwecke den Eindruck, „als sei Sansibar ein autobiographischer Roman, mit dem der Autor seine Biographie schönen wollte, Judith eine – dem Publikum außerdem erkennbare – Persona für Angelika und Gregor eine für Alfred Andersch (wie später Franz Kien)“. (GW I, S. 457) Sebald stellte lediglich fest, dass Andersch Gregor heldischer handeln lässt als sich selbst, er behauptete nicht, Andersch suggeriere dem Publikum eine Identität von Autor und Protagonist (Ansätze dazu sieht vielmehr der Verf., vgl. Abschnitt III). Dass Andersch mit Judith eine dem Publikum erkennbare Persona geschaffen habe, steht bei Sebald schon gar nicht (ebenso wenig wie beim Verf.). Wie auch, Angelika Andersch war 1957 der literarischen Öffentlichkeit unbekannt. Welche Merkmale dafür sprechen, dass Alfred und Angelika die Bezugspersonen für Gregor und Judith waren – darauf allerdings wollte der Kritiker hinaus –, diskutiert Lamping mit keiner Silbe. Die Linie des Aufsatzes von 2000, Beziehungen zwischen literarischem Text und Vita auszublenden, führt er damit fort. Mehr, die anti-biographistische Ausrichtung des Kommentars liest sich wie eine Rechtfertigung der vom Aufsatz gewählten Methode. Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt / M. 1974, S. 87.
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vanterer Faktor, doch hätte der Erzähler seine konstruktiven Fähigkeiten wie zuvor auf weniger gewagte, weniger schmerzhafte Stoffe verwenden können. Begünstigt wurde die Bereitschaft zur verdeckten Selbstkritik vor allem durch die Umsiedelung in die Schweiz; da besteht m. E. ein ursächlicher Zusammenhang, nicht nur eine Koinzidenz. Mit der räumlichen Distanzierung vom westdeutschen Literaturbetrieb nahm die Selbstdistanz zu und schwächten sich die sozialen Zwänge ab. Wie sonst wäre zu erklären, dass der Autor zwar nach wie vor das Gesicht zu wahren suchte, in seinen Interviews und Essays das in den fünfziger Jahren lancierte, geschönte Selbstbild auch nie zurücknehmen sollte, doch als Romancier nach 1958 darauf verzichtete, die dezent selbstheroisierende Linie fortzuführen? Umgekehrt fallen die fragwürdigen Arbeiten nicht zufällig in die frühen und mittleren fünfziger Jahre. Zu einer Überkompensation schlechten Gewissens ließ sich der Erzähler in einer Phase verleiten, in der er sich gegen die Kalligraphie der (älteren) Inneren Emigranten durchsetzen musste und, als Leiter einflussreicher Radio-Redaktionen (Hamburg, Frankfurt, Stuttgart) wie auch als Herausgeber von Texte und Zeichen, die Bewunderung befreundeter Autoren spürte, besonders der jüngeren (Enzensberger!). In dieser Situation gab er der Versuchung zur beschönigenden Selbstpräsentation nach, zur ,linken‘ Kalligraphie. Nun war es aber, wie erinnerlich, die Kalligraphie der Inneren Emigranten, von der sich der Prophet 1947 abheben wollte. Er überschätzte die eigene „Kraft unmittelbarer Aussage“, da er eine Gegenkraft unterschätzte. An die Stelle des diktatorischen Literaturbetrieb im NS, dessen formeller Zensur die Kalligraphie älteren Typs geschuldet war, trat das literarische Feld im Nachkriegsdeutschland, das eine ungleich mildere und doch effektive Zensur ausübte, die Grenze des gesellschaftlich Benennbaren vorgab, eine neue Art des Schönschreibens erforderte und prämierte. Wie in jedem Feld begegnen wir auch in diesem einer Art von Zensur, die den Sprechenden nötigt, sich „nur das durchgehen zu lassen, was sich gehört, was sagbar ist“.98 Die deutsch-jüdische Separationsgeschichte zählte zum Unsagbaren, von ihr zu berichten, barg das Risiko einer Ächtung durch das eigene Umfeld wie durch die konservativen Gegner. – Mit Bourdieus erweitertem Zensurbegriff zu operieren, hat seine Tücken, er verwischt den Unterschied zu handfesten Indizierungen.99 Gleichwohl
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Vgl. Bourdieu, Pierre: „Die Zensur“. In: Ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt / M. 1993, S. 121–135. Vgl. den prinzipiellen Einwand von York-Gothart Mix: „Zensur“. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. v. Thomas Anz. Stuttgart 2007, S. 492–500, hier S. 500: „Die Konventionen und Restriktionen, die intersubjektives Agieren regeln und auf die Vermei-
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können wir ihn fallweise, bei bewusster Berücksichtigung seiner Schwäche verwenden, mit ihm die auf einen Autor einwirkenden Zwänge zur Selbstzensur akzentuieren, um zu vermeiden, die Geschichte von Anderschs Auslassung nur als eine der Beschönigung zu erzählen (ein allzu einsinniges Narrativ). Schon der Fairness halber tun wir gut daran, den Zwang zur vorteilhaften Selbstpräsentation gegenüber einer Konsumentengruppe (II.) und die Grenzen des für einen Autor Sagbaren zu beachten. Läuft dieser Vorschlag lediglich darauf hinaus, literatursoziologisch zu reformulieren, was eine besonnene Stimme aus dem Feuilleton bereits 2008 und ganz ohne feldtheoretischen Beistand angemahnt hat? Man könnte es meinen: Wenn nun klar wird, dass manches an seinen [Anderschs] Berichten über die eigene Vergangenheit geschönt war, schmälert das im Grunde nicht seine literarische Arbeit, sondern nur seine politische Glaubwürdigkeit. [...] inzwischen wäre es wohl an der Zeit, in Autoren wie Andersch nicht nur die Könige des damaligen Literaturbetriebes zu sehen, sondern ebenso deren Opfer. Nach der totalen moralischen Niederlage des Landes muss der Drang zur Abrechnung mit dem Vergangenen und zur vorteilhaften Selbststilisierung enorm gewesen sein. Dafür brauchte es, wie im Falle Anderschs, nur kleine biografische Retuschen [...]. [...] Vernünftig wäre der Versuch, mit wachsender historischer Distanz den Gründen für die politisch korrekte Selbststilisierung während der Nachkriegsjahrzehnte genauer auf die Spur zu kommen. Wenig hilfreich ist es dagegen, wie Sebald den Ton des überzogenen Moralismus zu übernehmen [...].100
Richtungsweisend für künftige Forschung zur Nachkriegsliteratur ist Uwe Wittstocks Vexierbild von den Königen und den Opfern, doch bündeln sich in seinem Kommentar auch einige Schwachpunkte ritueller SebaldSchelte. Erstens übergeht er, was den literaturwissenschaftlichen Widersachern Sebalds ebenso gern entfällt: Ohne die Intervention aus Norwich wären wir auf die Selbststilisierungen und Retuschen nicht einmal aufmerksam geworden. Das Nachdenken darüber setzte erst ein, nachdem ein Außenseiter der Germanistik die von Reinhardt gelieferten biographischen Informationen ins Verhältnis zum Werk gesetzt hatte;101 ohne den Weckruf kein Aufwachen, ganz einfach. Eine Würdigung dieses, des wichtigsten Sebald-Effekts wäre bei allen Vorbehalten fällig. Zweitens hat die Polemik von 1993 eine Kette von Anschlusskommunikationen ausgelöst, in deren Licht sich eine Bagatellisierung der Retuschen als fragwürdig erweist. So konstatiert Johannes Tuchel, den als neutralen Gutachter zu bestellen von
_____________ dung von Persönlichkeitsverletzungen, Peinlichkeiten und Scham zielen, sind von den an die Modi der Medialisierung gebundenen Zensurnormen abgrenzbar.“ 100 Wittstock, Uwe: „Alfred Andersch im Dritten Reich“. In: Die Welt vom 19. September 2008. 101 Vgl. das Publikationsdatum in Fußn. 4.
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Annette Korolnik-Andersch nobel war, durch Sebalds Attacke aber auch erzwungen wurde, an einer Stelle seiner um Sachlichkeit bemühten Studie von 2008, dass ein gewisser SS-Brigadeführer Eicke erst nach Anderschs Entlassung im KZ Dachau eintraf.102 In den Kirschen hingegen lasen wir: „Oder zahlt man nicht zu teuer, wenn man den Revolver vergißt, den einem der Brigadeführer Eicke angedroht hat für den Fall, dass man noch einmal nach Dachau käme [...].“103 Eine „kleine biografische Retusche“? Nun, Andersch konnte auch in die Vollen gehen. Gerade wenn wir einem engagierten Literaten die Versuchung zur vorteilhaften Selbststilisierung nach 1945 zugute halten, empfiehlt sich eine Unterscheidung: zwischen unabdingbaren Retuschen, die Verstrickung verbergen (die Auslassung), und solchen, die mit sozialen Zwängen nichts, dafür umso mehr mit Fabulierfreude zu tun haben (der imaginierte Brigadeführer). Abwegig ist, drittens, eine Trennung zwischen den Selbststilisierungen und den literarischen Arbeiten („schmälert [...] nur seine politische Glaubwürdigkeit“). Die Beschönigungen und Dramatisierungen waren zentraler Bestandteil eines literarischen Debüts, dem Andersch sein ursprüngliches symbolisches Kapital als Erzähler verdankte, das den Folgewerken allererst Aufmerksamkeit verschaffte. Gegen die Trennung, der auch der Anti-Biographismus zuneigt, praktisch, durchs Eskamotieren der Beziehungen zwischen Leben und Werk, spricht im Übrigen ein methodischer Gesichtspunkt. Beziehen wir die dem Schreiben vorausliegenden Tatsachen ein, verfügen wir über einen Maßstab, an dem sich die konstruktiven und/oder Fiktionalisierungsleistungen eines literarischen Werks ermessen lassen. Irritierend, dass gestandene Literaturwissenschaftler (Lamping) und -kritiker (Wittstock) eine auch rein heuristisch, das heißt moralisch gelassen handhabbare Option ausschlagen.104 Abweichungen zwischen Leben und Erzählwerk muss man nicht nach Sebalds Muster beschreiben (Differenz als Tarnung, Selbstverklärung und/oder Verdrängung), man kann sie als Parameter konstruktiver Phantasie verstehen. Wenig hilfreich aber ist die Blockadeprämisse, eine Thematisierung der Diskrepanzen sei grundsätzlich vorwissenschaftlich und/oder kunstfremd. Wenn die Andersch-Sebald-Debatte einen Fingerzeig enthält, dann den, dass Nutzen und Nachteil biographisch rückgebundener Lektüre vom konkreten Fall abhängen. Die Literaturwissenschaft benötigt keine Daten aus dem Leben eines, sagen wir, Thomas Pynchon, um die Bauformen der
_____________ 102 Vgl. Tuchel: Andersch, S. 33. 103 GW III, S. 355. 104 Vgl. als große Ausnahme aber Döring, Jörg: Ich stellte mich unter, ich machte mich klein. Wolfgang Koeppen 1933–1948. Frankfurt / M. 2003, S. 27f.
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Enden der Parabel analysieren zu können. Einspruch erheben muss sie, wenn, wie zuletzt in der Causa Esra,105 eine Beziehung zwischen Leben und Werk dergestalt hergestellt wird, dass eine Privatperson x sich in der Figur y des Romans z wiederzuerkennen glaubt, eine Verletzung des Persönlichkeitsrechtes sieht und den Klageweg beschreitet. Die klagende Person und mehr noch eine Justiz, die ihr Recht gibt, verkennen das Spezifikum von Romanen, Realität nur zu simulieren. Machte solcherlei Absehen von literarischer Eigenlogik Schule, müsste die halbe deutschsprachige Hochliteratur auf den Index, die Kunstfreiheit würde Makulatur.106 Anders gelagert ist der Fall Andersch. Gehen wir hier den Beziehungen von Leben und Werk nach, dann nicht, um Beschneidungen von Kunstfreiheit Tür und Tor zu öffnen, sondern um spezifische Handhabungen von Kunstfreiheit zu erhellen. Die Kirschen der Freiheit zählen zu einer Kategorie von Werken, die ihren Simulationscharakter ausdrücklich dementieren, die Übereinstimmung mit ,wirklicher Wirklichkeit‘ beanspruchen. Umso relevanter ist das Ausgelassene und fiktiv Hinzugefügte, der Kontingenzanteil im vermeintlich nur Realistischen. Dass der Autor von Bericht und Autobiographie sprach, mit den Lesern einen Wahrheitspakt (im Sinne Lejeunes) einging, setzt den ,biographistischen‘ Ansatz Sebalds ins Recht. Das Verhältnis von Bericht und erstem Roman im biographischen Licht zu erkunden ist wiederum der besonders gearteten Beziehung von faktualer und fiktionaler Erzählung in Anderschs Frühwerk angemessen. Eine erfundene Figur, die des Gregor, ist so beschaffen, dass sie eine Verbindung zwischen grundverschiedenen Gattungen herstellt. Die Assoziierbarkeit der Figur mit der Privatperson des Autors stellt natürlich, needless to say, kein justiziables Problem dar, sie wirft Fragen der Erzählmoral auf, da Anderschs Hang zur Selbststilisierung von der faktualen auf die fiktionale Erzählung übergreift. Das Affiziertwerden zu beobachten bedeutet nicht, die Eigenlogik des Fiktionalen zu missachten, es heißt, dem Antrieb einer Realitätssimulation nachzuspüren. Dass Letzterer mit Biographischem zu tun hat, war im Grunde schon den ersten Entgegnungen auf Sebald klar, die bezeichnenderweise nicht ohne performativen Widerspruch auskamen. Bei allem erklärten AntiBiographismus, nun, 1994, nach der Herausforderung, gingen auch Irene Heidelberger-Leonard und Hans Höller den Beziehungen zwischen Leben
_____________ 105 Vgl. den Rechtsstreit um den Roman Esra von Maxim Biller zwischen 2003 und 2008. 106 Vgl. Eichner, Christian u. York-Gothart Mix: „Ein Fehlurteil als Maßstab? Zu Maxim Billers Esra, Klaus Manns Mephisto und dem Problem der Kunstfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland“. In: Literaturkritik.de, Nr. 6 (Juni 2007), http://www.literaturkritik.de/ public/rezension.php?rez_id=10827&ausgabe=200706 (Stand: 15. März 2011), S. 9f. (Druckversion).
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und Roman nach. Sie praktizierten, was doch prinzipiell unnötig sein soll,107 allerdings nur, um Sansibar zur legitimen Wunschbiographie zu erklären, die als Selbstkritik lesbar sei108 und lediglich an den für den modernen Roman konstitutiven Möglichkeitssinn anschließe.109 Eine Verteidigungslinie, die von den Unkosten des Möglichkeitssinns im konkreten Fall abstrahiert. Will man denn in der Erfindung des besseren Ich schon eine Selbstkritik sehen, dann handelt es sich um eine behaglichere, selbstgerechtere und weniger riskante als die in Efraim praktizierte. Die Wunschbiographie lizensiert weder die Überschneidungen zwischen Gregor und dem autobiographischen Ich noch den zum Teil despektierlichen Umgang mit der Figur Judiths. Wobei die Assoziierbarkeit von Romanheld und Berichts-Ich mittlerweile das kleinere, ein Randproblem darstellt; es hat sich relativiert, seit sich die Rezeption von Sansibar, zumal durch die Aufnahme in den Schul-Kanon, von der Rezeption der Kirschen der Freiheit entkoppelte. Schwerer wiegt heute ein Manko, das Heidelberger-Leonard registrierte, ohne es zu erklären. Mit Gregor, Helander und Knudsen, Judiths Rettern, lernen die Leser nur vorbildliche Deutsche kennen,110 Nazis und Antisemiten fehlen.111 An der Art der Figurenwahl hatte Ruth Klüger schon 1986 bemängelt, die narrative Phantasie behalte über den Realismus die Oberhand.112 Diese erste, das Verhältnis von Roman und gesellschaftlicher Wirklichkeit thematisierende Kritik aus dem angelsächsischen Raum verhält sich zur zweiten, dem Verhältnis von Roman und Autorbiographie geltenden, komplementär, da sie die Wahrheitsfrage anders, doch ebenso plausibel stellt. Wiewohl dem Rettungsplot von Sansibar zuzubilligen ist, das gesellschaftlich Denkbare durchzuspielen und mit der Kontingenz eine seit alters her bekannte Funktion fiktionalen Erzählens zu erfüllen, fällt auf, dass es an einem realistischen, zum frühen Erzählprogramm Anderschs besser passenden Gegengewicht fehlt. Zum Figurenpersonal, kann man
_____________ 107 Vgl. Heidelberger-Leonard: „Erschriebener Widerstand?“, S. 59: „Zu entwirren, wann, wo und wie Werk und Leben aufeinander bezogene sind, kann nicht eigentliche Ausgabe des Literaturwissenschaftlers sein. Die ästhetisch-ethischen Schichtungen des Werks in ihrem gesellschaftspolitischen Spektrum allein [Hervorh. M. J.] sind es, die uns zu dekodieren aufgegeben sind.“ 108 Vgl. ebd., S. 57. 109 Vgl. Höller: „Widerstand der Ästhetik“, S. 143. 110 Zur Erinnerung: Dem Vorhaben von Gregor und Helander, die Jüdin und die BarlachFigur (Der Lesende Klosterschüler) nach Schweden zu retten, verweigert sich Knudsen zunächst, doch nur aus Verantwortungsgefühl. Er will nicht riskieren, dass seine psychisch kranke Ehefrau seinen Schutz vorm nazistischen Euthanasieprogramm verliert. 111 Vgl. Heidelberger-Leonard: „Erschriebener Widerstand“, S. 56. 112 Klüger, Ruth: „Gibt es ein Judenproblem in der deutschen Nachkriegsliteratur?“ [1986]. In: Dies.: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 1994, S. 9–38.
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ergänzen, zählen weder die Nazis – sie kommen nur von Ferne, als teiggesichtiges Gesindel vor113 – noch die Mitläufer. Sansibar kennt keine Grauzonen, nur die Drei-Mann-Volksfront hier, die Anderen dort. Die beharrlich wiederholte Abgrenzungsformel, die in den inneren Monologen aller drei Aktivisten vorkommende (!), gleichsam telepathische, verdankte sich wie das Handeln Gregors einem kompensatorischen Beweggrund. Aus eigener Erfahrung wusste Andersch nur zu gut, wie leicht man im NS in die moralische Grauzone geraten konnte; in der Simulation des Realen schaffte er dafür umso klarere Verhältnisse. Mentalitätsgeschichtlich interessant ist die Sehnsucht nach Trennschärfe, nach wir und sie, aus zwei Gründen, von denen der eine über den Einzelfall hinausweist. Die Unfähigkeit so vieler Intellektueller, sich nach dem Krieg sich zu ihrer Jugend im NS offen zu erklären, schrieb Michael Kleeberg kürzlich, in einem lesenswerten Essay zu Luise Rinser, der Verfassung des Publikums zu, das heißt der mit jedem Jahr und jedem Jahrzehnt nach 1945 zunehmende(n) Schwierigkeit jeder Nuancierung. Im Blick auf jene Jahre sind uns sukzessive Wille und Fähigkeit abhandengekommen, die Graustufen wahrzunehmen, in denen das menschliche Leben sich im Allgemeinen abspielt. Zwischen Tätern und Opfern, zwischen Gegnern und Mitläufern ist im Blick zurück kein Platz mehr, und in einer Zeit, in der quasi ein ganzes Volk geschlossen die Nationalsozialisten bekämpft, 65 Jahre nachdem es sie nicht mehr gibt, vielleicht weniger denn je.114
In die Kollektiveinstellung spielt neben dem Zeitfaktor auch eine Wechselwirkung hinein, wie unser Beispiel zeigt. Andersch konnte nicht damit rechnen, für seine und anderer Konzessionen im NS Verständnis zu finden, also ließ er im Roman, einer Reinheitsphantasie, die Grauzonen verschwinden. Umgekehrt waren und sind klare Demarkationslinien wie die in Sansibar gezogene nur dazu angetan, den Glauben der Nachgeborenen an allzeit eindeutige Unterscheidbarkeit zu verstärken. Romane wie dieser bilden infolge der Kanonisierung seit den siebziger Jahren ein nicht zu unterschätzendes Medium der Erinnerung an den NS.115
_____________ 113 GW I, S. 178. 114 Kleeberg, Michael: „Luise Rinsers Vergesslichkeit“. In: Der Spiegel, Nr. 2, 2011, S. 100–106, hier S. 106. 115 Umso verdienstvoller ein Kommentar von Michael Kämper-van den Boogaart, der aus der Flut gänzlich unkritischer Lesehilfen zu Sansibar hervorsticht: „Dass die Vision einer solchen guttätigen Männergemeinschaft etwas Verlogenes hat, ist vor allem mit Blick auf den Faschismus nicht von der Hand zu weisen. Zweifellos stimmt es, dass der Roman sein ganzes Licht auf ein paar gute deutsche Männer wirft, während er die Übermacht im Begriff der Anderen abdunkelt.“ („Für den lonesome hero und das Gute im Mann. Andersch, ,Sansibar oder der letzte Grund‘“. In: Klaus-Michael Bogdal, Clemens Kammler u. a.: (K)ein Kanon. 30 Schulklassiker neu gelesen. München 2000, S. 156–160, hier S. 159.)
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Um zu sehen, dass die Nuancierungsscheu von Autor und Publikum aneinander gewachsen sind, müsste man freilich erst einmal einen Autor der Grauzone erkennen. Die Gelegenheit dazu haben die Fürsprecher bislang verpasst, weil a) Sebalds Schärfe einen affektiv verständlichen Verteidigungsimpuls hervorgerufen hat, der b) zu Gunsten des Attackierten eine bestimmte Relation anführen kann: „Im Vergleich zu dem Großteil derer, die sich nach 1945 als ,innere Emigranten‘ rühmten, bietet Andersch kaum Anlass, ihn moralisch zu diskreditieren.“116 So viel ist unbestreitbar: Andersch gehörte nicht zu jenen Autoren, die 1933 dem neuen Staat huldigten, um sich nach 1945 auf die Trennung zwischen Kunst und Leben zu berufen (Modell Benn) oder gar als früher Widerstandskämpfer zu gerieren (Thiess). Ins Leere geht der Vergleich allerdings als Argument gegen Sebald, denn ihm ging es nie um eine Gleichsetzung mit dem Typus, der nach Kriegsende planen Konformismus vernebelte. An Anderschs Fall, hieß es zu Beginn des Lettre-Artikels, lasse „sich erkennen, wie sehr Kompromissbereitschaft und Opposition ineinander changieren [...].“117 1999, in der Vorbemerkung zu Luftkrieg und Literatur, anlässlich des Neuabdrucks, stellte der Störenfried erneut klar, den Nachweis erbringen zu wollen, dass eine oppositionelle Grundhaltung und eine wache Intelligenz, wie sie Andersch zweifellos auszeichneten, während der scheinbar unaufhaltsam fortschreitenden Machtentfaltung des faschistischen Regimes sehr wohl übergehen konnte in mehr oder weniger bewusste Versuche der Anpassung und dass sich daraus später für eine öffentliche Person wie Andersch die Notwendigkeit der Adjustierung des Lebenslaufs durch diskrete Auslassungen und andere Korrekturen ergab.118
„Ineinander changieren“ und „übergehen“ sind die von den Sebald-Kritikern überlesenen Schlüsselvokabeln. Sie treffen die Differenzqualität von Anderschs Verhalten im NS sehr genau – genauer allerdings auch, als Sebald selbst dann, einmal in polemischer Fahrt, zu veranschaulichen bereit war. Welten trennten Andersch, den um 1930 auf der Linken Sozialisierten, vom biologistischen Denken, das einen Benn für NS-Propaganda vorübergehend anfällig machte.119 Fremd war ihm dementsprechend auch eine deutschnationale Sehnsucht nach dem starken Mann à la Thiess. Was ihn
_____________ 116 Böttiger, Helmut: „Die blassbeigen Jahre“. In: Der Tagesspiegel vom 08. Januar 2009. 117 Sebald: „Devil and blue sea“, S. 80. 118 Ders.: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch [1999]. Frankfurt / M. 2001, S. 7. 119 Vgl. Benn, Gottfried: „Züchtung“ [1933]. In: Ders.: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Bd. 4: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Hg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt / M. 1989, S. 237–244.
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nicht nur nicht hinderte, nach 1940 durch die auch offizielle Trennung von der ersten Frau und den Einsatz von Blut-und-Boden-Vokabeln die Voraussetzungen fürs Publizieren-Können im NS zu erfüllen. Das Ineinander von Opposition und Anpassung lässt sich auch bis in die narrativen Einzelheiten verfolgen. In „Ein Techniker“ begegnet man einem ‚halbjüdischen‘ Protagonisten, Albert Gradinger, den das Fronterlebnis im Ersten Weltkrieg verändert hat: „[...] seine ganze im Feuer erworbene Reife, die Haltung eines Fünfundzwanzigjährigen, der aus dem großen Krieg heimkehrt, sammelt sich in tiefer, ruhiger Entschlossenheit.“120 Das ist einerseits Ernst-Jüngertum pur, sehr zur Freude militaristischer Lektoren, andererseits, weil die Reife einem ‚Halbjuden‘ zugeschrieben und so an den Dienst dieser Gruppe fürs Vaterland erinnert wird, ein oppositionelles Signal, für völkisch gesinnte Lektoren ein Ärgernis. Zufrieden aber werden diese gestellt, wenn derselbe Albert Gradinger einen nicht-jüdischen Freund, Georg Stein, „wegen seines eingeborenen Fleißes [liebt], dieses Erbteils einer gesunden, ungebrochenen Rasse“.121 Unschön formuliert. Rassismus aus Überzeugung? Das nicht: Mit Fritz Albert, dem 1938 am Herzinfarkt verstorbenen Bruder Angelikas, der für Albert Gradinger Porträt stand, war Andersch befreundet. 1950 wird er Fritz, der noch die Arisierung seines Betriebs erleben musste, mit Biologie und Tennis ein Denkmal in Form eines Theaterstücks setzen, in den Kirschen schließlich wird er ihn als nüchternen, Andersch darin überlegenen Naturwissenschaftler würdigen.122 „Ein Techniker“, dürfen wir angesichts des Verhaltens davor und danach schließen, stammte nicht von einem Antisemiten. Der Konformismus aber schrieb 1942 mit.123
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GW IV, S. 59. Ebd., S. 36. GW V, S. 362. So untypisch besagte Stelle für Anderschs Schriften im NS ist, als Petitesse lässt sie sich kaum einstufen, zumal vorm biographischen Hintergrund nicht. Albert Gradinger implizit einer ungesunden, gebrochenen Rasse zuzuordnen hieß, sich einen gewissen Undank zu leisten. Es war nun einmal (vgl. Reinhardt: Andersch, S. 64f.) das Modell aus der Realität, Fritz Albert, der Andersch 1937 als Assistenten des Werbeleiters nach Hamburg, zu einem der führenden deutschen Fotopapierhersteller holte – und so den Schwager von der ungeliebten Arbeit im völkischen Lehmanns Verlag befreite. Andersch selbst hat die (auch) bei Fritz gemachten, moralischen Schulden nach dem Krieg gesehen. Wenn er sich nun gleich zweimal vor ihm verbeugte, handelte sich um ein Unterkapitel der Kompensationsgeschichte. Es lässt den Wunsch nach ,Wiedergutmachung‘ erkennen wie auch den, die Bezüge zur Familie Albert abzudunkeln. Vergleichsweise leicht ist das noch im ArisierungsDrama von 1950, wo der Technische Direktor und ,Mischling ersten Grades‘ Fritz Albert zu „Fritz Helwig“ wird (was das Verdienst des Zeitstücks gegen den Antisemitismus um kein Iota schmälert). In den Kirschen fällt der Name Albert, doch stets so, als handele es sich um einen Vornamen („Wir saßen auf einer Restaurant-Terrasse in Blankenese, Albert und ich“, GW V, S. 362). Auch vermeidet es Andersch, seinen Freund als Schwager kenntlich zu machen. Erzählmoralisch zweideutig kommt er nun auf dessen Herkunft und
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Kurz, die Tendenz in Literaturwissenschaft wie -kritik, Sebald das Rigorismus- und Moralismusetikett anzuheften statt sich mit bedenkenswerten Elementen seines Textes zu befassen, bleibt unbefriedigend. Erklärlich ist sie, da das Relationsargument gleich zwei Komponenten enthält: Andersch passte sich im NS immerhin weniger an als die prominentesten der Inneren Emigranten und trat danach ehrlicher auf. Wie uns sein Biograph nachdrücklich ins Gedächtnis ruft,124 stand dieser Autor nicht nur zu seiner Angst, in den Kirschen bekannte er zudem, nach dem Rückzug von 1933 an einem 9. November Hitler einmal ein „Heil“ zugerufen125 und im Frühjahr 1940 einen deutschen Sieg für möglich, eine Desertion nicht einmal gewünscht zu haben.126 Dadurch, so ließe sich fortsetzen, vergrößert sich der Unterschied zu Benn, dem Schöpfer der legendären Technik von 1950, ein halbes Dutzend publizistischer Verneigungen vor dem NS-Staat beiläufig als „romantisch“ zu verniedlichen.127 Ein Verweis auf die weniger dreiste Selbstdarstellung, die größere Offenheit aber führt nur zur rezeptionsgeschichtlichen Pointe. Gerade die Aufrichtigkeitsgeste sollte langfristig einen Bumerang-Effekt zeitigen, besonders sie stachelte Sebald an, und dies nachvollziehbar. Mit der Wendung von „Konfession und Auslassung“ erfasste seine Gegenlektüre das Prinzip der Kirschen, durch das Eingestehen der halben Wahrheit die ganze zu verdecken. Eine „Erzeugungsformel“,128 die auch an den beiden rühmlichsten Stellen am Werk ist: zwei Momente politischer Labilität bis 1940 einräumen, wie von augenblicklichen Form-
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Schicksal zu sprechen: „Albert starb während eines Tenniskampfes durch Herzschlag; am Vormittag hatte man ihm gesagt, dass er als Halbjude aus dem Werk, das er geschaffen, ausscheiden müsse. [...] Darnach [sic] machte es mir auch keinen Spaß mehr, in seinem Labor herumzupüttschern“ (S. 363). Einerseits schmückt sich Andersch mit einer nunmehr, 1952, im nonkonformistischen Umfeld politisch korrekten Freundschaft – was man eingedenk des Umgangs mit Fritz in „Ein Techniker“ und zumal im Licht der Trennung von Angelika anstößig finden mag. Andererseits erinnert der Autor eine zeitgenössische Öffentlichkeit, die davon mehrheitlich nichts hören will, an Arisierung als Verbrechen – das diskursive Verdienst ist enorm. Die moralische Bewertung der Passage hängt mithin vom Blickwinkel ab. Allerdings scheint mir selbst in werkbiographischer Hinsicht das moralisch vorteilhafte Moment zu überwiegen. Die familiäre Beziehung zu Fritz zu verschweigen, fiel Andersch offenkundig nicht leicht, immerhin zeichnete er ihn als denjenigen aus, der ihm 1938 auf trockene Art die Dichtungsmystik ausgetrieben habe: „,Weißt du zum Beispiel, warum die Hände sauber werden, wenn man sie mit Seife wäscht?‘ Ich wußte es tatsächlich nicht und gab von da an der Symbolik eine aufs Maul, wenn sie sich in mir regte“ (ebd.). Fritz Albert als Geburtshelfer des Anti-Symbolisten, nicht weniger. Selbst wenn Andersch die Anekdote erfunden haben sollte, sie ist sympathisch. Vgl. Stephan Reinhardts Argumentation in diesem Band. GW IV, S. 347. Ebd., S. 387. Benn, Gottfried: Doppelleben [1950]. Stuttgart 1984, S. 84. Bourdieu: Die Regeln, S. 130.
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schwächen sprechen, um von der nach 1940 vollzogenen, allmählichen Anpassung an die Spielregeln des NS und ihrem Preis schweigen zu können. Mag der Unterscheidung von halb und ganz auch etwas Kleinkariertes, Eiferndes, Erbsenzählerisches anhaften (Zutreffendes bitte ankreuzen), sie betrifft einen wesentlichen Aspekt der Entstehungs- und Erfolgsgeschichte. Das Bekenntnis zu Momenten politmoralischen Nachgebens erleichterte es dem Erzähler offensichtlich, sich im gleichen Zug die Selbststilisierungen durchgehen zu lassen. Überdies vollendete der Registerwechsel zwischen (meist) subtiler Selbstheroisierung, vorteilhafter Auslassung und wohldosierter Selbstkritik eine Komposition, deren Anziehungskraft auf befreundete Konkurrenten wie Heinrich Böll nicht nur auf dem Desertionsbekenntnis beruhte. Lassen wir Fragen der Erzählmoral einmal beiseite, erweist sich die Kunst halber Aufrichtigkeit als einer der entscheidenden Distinktionsgewinne Anderschs im literarischen Feld der fünfziger Jahre. Ein vergleichbar geschicktes Zuschneiden der Wahrheit findet sich weniger in der deutschen Nachkriegsliteratur als bei einem etwas älteren, einem Binnenerzähler, in der „wahrheitsgleichen Erdichtung“ des Odysseus.129 Gerecht wird man Andersch nicht, indem man verharmlost, was der Lettre-Artikel plausibel kritisierte, sondern indem man einblendet, was er ignorierte. Beizupflichten ist Lampings Hinweis, dass Andersch das deutsch-jüdische Verhältnis früher und intensiver als andere deutsche Nachkriegsschriftsteller zur Sprache brachte,130 ein für Efraim fraglos geltendes Verdienst. Hinzu kommt, dass dieser und nur dieser ,47er‘ sein Prestige einsetzte, um das Werk Jean Amérys zu fördern, zu einem Zeitpunkt (um 1970), da der Überlebende der Shoah sich im literarischen Feld der Bundesrepublik in heillos dominierter Position befand.131 Die Meriten wären für heutige Leser ein guter Grund, honorige Kompensationen von Lebensgeschichte gegen eine kritikwürdige wie Sansibar abzuwägen;132 darin bestünde ein wünschenswerter, wenn auch nur indirekter Sebald-Effekt.
_____________ 129 Homer: Ilias. Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. München 2002, S. 702 (19. Gesang). 130 GW I, S. 458. 131 Vgl. Heidelberger-Leonard, Irene: Jean Améry. Revolte in der Resignation. Biographie. Stuttgart 2004, S. 199. 132 Womit die Variationsbreite von Anderschs Ausgleichswünschen nur angedeutet ist. Sie reichen von hanebüchenen Folgen – der Inneren Emigration einen Widerstand andichten – über den singulär verdienstvollen Einsatz für Améry bis zum späten Engagement, dem legitimen, wenn auch übereifrigen Protest gegen den so genannten Radikalenerlass. Im Kern gerechtfertigt war der Einspruch von 1976, weil die Bundesrepublik mit den Berufsverboten unter das Liberalitätsniveau der westeuropäischen Demokratien fiel. Unverstelltem Zorn entsprang er, weil gewesene NSDAP-Mitglieder wie Karl Carstens sich zu Hütern der Freiheitlich Demokratischen Grundordnung aufschwangen. Sympathisch solidarisch war er, weil er von einem Ex-Kommunisten stammte, der sich von zukunftsvertraulichen ML-Phrasen schon vier Jahrzehnte zuvor verabschiedet hatte. Und verstiegen
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V. Zur Erklärung von Anderschs Positionsnahmen biographische Informationen heranzuziehen, ist keine alternativlose Methode, wie Helmut Peitschs Betrachtungen von 2007 zur Desertionsgeschichte beweisen. Sie unterstreichen, dass die Rede vom „privaten 20. Juli“ sich „gegen die ,generalsmemoirenhafte‘ Einschränkung des Rechts auf Einsicht und Entscheidung“133 richtete, „dem offiziellen(n) Bild des Widerstandskämpfers als der diplomatisch militärischen Elite entstammenden christlich-national-moralischen Opfer“134 opponierte und entsprechend erboste Reaktionen im konservativen Feuilleton hervorrief. Der diskursanalytische Ansatz sieht den Unterschied, den die Stellungnahme innerhalb ihrer zeitgenössischen Aussagenformation setzte, und erinnert uns so an einen Gesichtspunkt, der werkbiographischer Sicht leicht entgeht. Dass die Desertion womöglich erfunden, ihre Darstellung jedenfalls Teil einer Selbstüberhöhung war, ändert nichts an ihrer symbolischen Bedeutung. Die Aufwertung einer Fahnenflucht brüskierte 1952 die Richtigen, alte Kameraden inner- und außerhalb des Feuilletons, die die Weigerung, weiter für ein verbrecherisches Regime zu töten oder getötet zu werden, hartnäckig als vaterlandslosen Wankelmut diffamierten, wenn nicht glatt als Verrat. Dass es Andersch gelang, die diskursive Polizei auf den Plan zu rufen, etwa in Gestalt des unsäglichen Hans Egon Holthusen, zählte zu seinen zivilisatorischen Leistungen. Dennoch, meine ich, steckte in der Metapher vom „privaten 20. Juli“ ein ignorantes Moment. Dies nicht so sehr, weil sie den Unterschied zwischen einer Flucht und einem Attentat bagatellisierte. Lobredner des Stauffenberg-Kreises zu provozieren war insoweit gerechtfertigt, als diese nur den Widerstand gelten ließen, dem fünf Jahre Beteiligung am Angriffskrieg vorausgegangen waren. Problematischer war das der Metapher zugrunde liegende Blickfeld, in dem von vornherein nur militärische Wi-
_____________ war er, weil er Prüfungsverfahren im öffentlichen Dienst mit ausströmendem KZ-Gas verglich. Das krasse Überziehen zeugte nicht nur von der unseligen Denkgewohnheit mancher westdeutscher Linker, die Shoah zu universalisieren, es lag auch an Anderschs Hang, nun besonders gewagt für andere einzutreten, nachdem er in einer früheren Lebensphase so konform wie Millionen andere gehandelt hatte. Woher sonst der schrille Ton, der dem in der Regel bedächtigen der späten Texte merkwürdig kontrastierte? In den Kompensationsvarianten spitzt sich denkwürdig zu, was die Forschung zur Gruppe 47 bereits Anfang der neunziger Jahre zu den frühen Gruppenmitgliedern im Allgemeinen feststellte: Ihre Romane und publizistischen Stellungnahmen nach 1945 holten den Widerstand nach (vgl. Trommler, Frank: „Die nachgeholte Résistance. Politik und Gruppenethos im historischen Zusammenhang.“ In: Fetscher u. a.: Gruppe 47, S. 23–45). 133 Peitsch: Kirschen der Freiheit im Kontext, S. 255. 134 Ebd., S. 257.
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derstandsvarianten auftauchten. Indem Andersch mit dem Anschlag in der Wolfsschanze konkurrierte sowie mit einem (imaginären) Waffenstillstandsangebot von Marschall Rommel, das seinerseits partout als „Desertion“ figurieren sollte,135 blendete er den Widerstand außerhalb der Wehrmacht aus. Vergleicht man die Fahnenflucht mit den Aktionen der Weißen Rose, des Georg Elser, der Roten Kapelle oder auch des ArbeiterEhepaars Quangel (für das sich ein Berliner Kollege bekanntlich mehr interessiert hat),136 wirkt die Selbstdarstellung als kleiner Widerständler allemal anmaßend;137 vertretbar war sie allenfalls innerhalb des vom Autor selbst gewählten Bezugsrahmens. Fixiert aufs Militärische blieb der Soldatensohn noch dort, wo er ihm scheinbar nur absagte. Der blinde Fleck in der Selbstwahrnehmung resultierte aus einer habituellen Prägung; ein Habitus aber zählt zu den halb biographischen, halb soziologischen Faktoren,138 dies das erste Indiz, dass die Diskursanalyse ihrerseits der Ergänzung bedarf. Für einen methodisch pluralen Zugang sprechen noch prinzipiellere Erwägungen. Peitsch setzt seinen Ansatz von dem des so genannten Biographisten wie folgt ab: „Sebalds Voraussetzung, dass Stilisierung Lüge sei, gilt ausschließlich für die Beziehung des Textes auf das vergangene Leben des Verfassers, ohne dass er die Beziehung des Textes auf den gegenwärtigen Adressaten berücksichtigt.“139 Tatsächlich? Als Sebald davon ausging, „die Notwendigkeit der Adjustierung des Lebenslaufs“ habe sich für Andersch aus dem Status als „öffentliche Person“ ergeben, dachte er offenkundig mit, dass der Erzähler mit den Anpassungen die Reaktionen all derer antizipierte, denen er sichtbar war. Die Leser-Adressaten-Beziehung berücksichtigte auch Sebald, nur wählte er einen anderen Aspekt, und wir tun gut daran, seine und Peitschs Sichtweisen zusammenzuführen, so gegenläufig sie sich zueinander verhalten. Vom Diskursanalytiker können wir lernen, dass die Desertionsfeier auf die zeitgenössischen Leser wie gewünscht polarisierend wirkte, den latenten Riss unter den ehemaligen Wehrmachtsangehörigen offenlegte (Wiederbewaffnung der Bundesrepublik: ja/nein?), die Nonkonformisten im selben Maß ermutigte („Trompetenstoß in schwüler Stille“ hieß Bölls
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GW IV, S. 375. Fallada, Hans: Jeder stirbt für sich allein [1946]. Berlin 2011. Zur Begründung: Fußn. 49. Herkunftsbedingte Dispositionen bewirken Bourdieu zufolge (Die Regeln, S. 29) eine „Tendenz zur Beharrung in einer spezifischen Daseinsweise“. Bei Andersch lässt sie sich auch daran ablesen, dass im Gesamtwerk, über alle Gesinnungswechsel hinweg, militärische Sujets den relativ breitesten Raum einnahmen: die Weltkriegs-I-Reminiszenzen im „Techniker“, der soldatische Protagonist in „Heimatfront“, das zweite Buch der Kirschen, schließlich Winterspelt, von der Jünger-Idolatrie zu schweigen. 139 Peitsch: Kirschen der Freiheit im Kontext, S. 254.
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Rezension) wie die konservativen Leser in Rage brachte. Ein Spaltungseffekt, den Sebald nicht wahrnehmen wollte, da er, einigermaßen obsessiv, den westdeutschen Literaturbetrieb der fünfziger Jahre als monolithischen Lügenzusammenhang betrachtete, die Binnendifferenzen damit verkannte. Auf der anderen Seite lässt sich mit Sebald sehen, was die Diskursanalyse außen vor lässt: dass Andersch beiden Lagern der zeitgenössischen Leser etwas vormachte, wenn er eine verstrickungsfreie Vita im NS konstruierte. Die zu erwartenden Reaktionen der Adressaten wirkten umgekehrt auch auf den Schreibprozess des Autors ein, wahrheitsmindernd. Sollte sich die Andersch-Philologie künftig auf eine der beiden Perspektiven versteifen, wäre sie auf dem falschen Weg, denn der politisch segensreiche und der Verlogenheitsaspekt der Kirschen bilden zwei Seiten derselben Medaille: Ohne die vom ,Biographismus‘ beanstandeten Begradigungen des Lebenslaufs hätte Andersch den von der Diskursanalyse einleuchtend ausgezeichneten Spaltungseffekt nicht erzielt. Die Leser, so viel konnte sich schon der Autor selbst ausrechnen, hätten sich für ganz andere Stellen als die vom „privaten 20. Juli“ interessiert, die nonkonformistischen wären wahrscheinlich von ihm abgerückt, die konservativen über ihn hergefallen. Begraben können hätte er damit auch die feldbezogene, schon dem Entscheidungs-Vortrag ablesbare Ambition, die Stellung als Leitautor der Nonkonformisten einzunehmen – dies die dritte Codierung der vom antizipierten Leserblick gesteuerten „Adjustierungen“. Was Sebald rein moralisierend beschrieb und in der Diskursanalyse naturgemäß unthematisiert bleibt, da es sich in den empirisch feststellbaren Publikumsreaktionen nicht manifestiert, bestätigt in feldtheoretischer Sicht, dass die Gesellschaft „noch im Herzen des künstlerischen Projekts [interveniert]“:140 Beim Aufbau eines Selbstbilds der Unbelastetheit trieb der Prophet die Selbststilisierungen jedoch etwas weiter als für den Legitimationskampf nötig. Weil auch ein auf die Selbstaufwertung von Autoren abhebender Ansatz allein nicht ausreicht, schlage ich vor, die Kategorie der Kompensation hinzuzuziehen. Es ist kein großes Gründeln nötig, um zu erkennen, dass Andersch den (im Doppelsinn) Komplex RSK/Angelika als beschämend empfand. Unangenehm war ihm ja selbst noch der harmloseste Gesichtspunkt der ganzen Angelegenheit, einer, den heutige Leser kaum kompromittierend werden finden können, das Faktum, eine kleine Pubertäts-Erzählung („Sechzehnjähriger allein“) bereits 1944 publiziert zu haben. Erst 33 Jahre später wird er sie erwähnen, um sogleich wahrheitswidrig nachzuschieben, die Kölnische Zeitung habe sie nicht veröffentlicht.141 Was für ein Eiertanz.
_____________ 140 Bourdieu: Zur Soziologie, S. 86. 141 GW V, S. 433.
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Zur Methodik gehört last not least, zu reflektieren, was genau einen veranlasst, sich mit den Anfängen eines vor über dreißig Jahren verstorbenen Autors eher kritisch zu befassen. Lust am Denkmalssturz scheidet aus, das Denkmal steht schon lange nicht mehr, wenn denn je eines stand. Sind es die und die kleineren oder größeren Sünden im NS? Dass auch Schriftsteller moralisch fehlen, ihren Vorteil suchen, lavieren und tricksen, soll vorkommen, zumal unter diktatorischen Bedingungen. Wovor kaum einer gefeit ist, verdient Aufmerksamkeit erst, wenn der bewusste Autor so konformistisch wie zig andere gehandelt hat, im Nachhinein aber seine öffentliche Existenz ins Zeichen der Dissidenz stellt; wenn zwischen der Selbstdarstellung nach 1945 und dem Verhalten davor ein deutliches Gefälle besteht, das von einem Cordon sanitaire aus wohlwollenden Beobachtern und Verehrern verkleinert oder ganz vernebelt wird.142 Man muss weder der moralischen Hybris der Nachgeborenen verfallen noch in einen Sebald-Sog geraten sein, um wahrzunehmen, dass die Selbststilisierungen des aufstrebenden Andersch bei allen sozialen Zwängen einen Überhang an Selbstgefälligkeit und Wunschdenken aufwiesen. Dazu zählte auch, die politischen Zustände nach dem 8. Mai 1945 mit denen davor zu verwechseln. Seine Desertionsgeschichte bezeichnete Andersch 1955 als „Untergrundliteratur“.143 Kaum hatte er ein paar reaktionäre Verrisse eingefahren, schon befand er sich im Widerstand, im besetzten Paris des Jahres 1944, an Sartres Seite. Und doch war die Bezeichnung nicht nur verstiegen, sie traf auch zu. Der Traum vom Heldentum sprach im Bericht untergründig mit.
Literatur Andersch, Alfred: „...einmal wirklich leben“. Ein Tagebuch in Briefen an Hedwig Andersch 1943 bis 1975. Hg. v. Winfried Stephan. Zürich 1986. – Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe. Hg. v. Dieter Lamping. Zürich 2004. Benn, Gottfried: „Züchtung“ [1933]. In: Ders.: Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke. Bd. 4: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Hg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt / M. 1989, S. 237–244. – Doppelleben [1950]. Stuttgart 1984. Böttiger, Helmut: „Die blassbeigen Jahre“. In: Der Tagesspiegel vom 08. Januar 2009. Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt / M. 1974. – „Die Zensur“. In: Ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt / M. 1993, S. 121–135. – Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt / M. 1998.
_____________ 142 Enzensberger etwa konnte 2008 behaupten, Andersch habe vor der Desertion überhaupt nichts publiziert („Flucht vor Deutschland“, S. 27). Bis heute hat ihm keiner der Verehrer widersprochen. Natürlich wissen sie es besser, seit den Erinnerten Gestalten (1986) schon. Aber... 143 Brief an Eugen Classen, zit. n. Reinhardt: Andersch, S. 249.
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– Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt / M. 1999. Döring, Jörg: Ich stellte mich unter, ich machte mich klein. Wolfgang Koeppen 1933–1948. Frankfurt / M. 2003. – u. Rolf Seubert: „‚Entlassen aus der Wehrmacht: 12.03.1941. Grund: ‚Jüdischer Mischling‘ laut Verfügung‘. Ein unbekanntes Dokument im Kontext der Andersch-Sebald-Debatte“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 151 (2008), S. 171–184. Eichner, Christian u. York-Gothart Mix: „Ein Fehlurteil als Maßstab? Zu Maxim Billers Esra, Klaus Manns Mephisto und dem Problem der Kunstfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland“. In: Literaturkritik.de, Nr. 6 (Juni 2007), http://www.literaturkritik.de/public/rezen sion.php?rez_id=10827&ausgabe=200706 (Stand: 15. März 2011). Enzensberger, Hans Magnus: „Flucht vor Deutschland. Ein Dialog“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Annette Korolnik-Andersch. München 2008, S. 25–28. Fallada, Hans: Jeder stirbt für sich allein [1946]. Berlin 2011. Figge, Klaus: „Alfred Andersch als Radiomacher“. In: Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Hg. v. Irene Heidelberger-Leonard u. Volker Wehdeking: Opladen 1994, S. 42–50. Grosser, Johannes F.G.: Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland. Hamburg u. a. 1963. Hanuschek, Sven: „In der Andersch-Falle“. In: Frankfurter Rundschau vom 20. August 2008. Heidelberger-Leonard, Irene: „Erschriebener Widerstand? Fragen an Alfred Anderschs Werk und Leben“. In: Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Hg. v. ders. u. Volker Wehdeking. Opladen 1994, S. 51–61. – „Zur Dramaturgie einer Abwesenheit – Alfred Andersch und die Gruppe 47“. In: Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47. Hg. v. Stephan Braese. Berlin 1999, S. 87–101. – Jean Améry. Revolte in der Resignation. Biographie. Stuttgart 2004. Höller, Hans: „Der ,Widerstand der Ästhetik‘ und Die Fabel von der Rettung der Kunstwerke“. In: Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Hg. v. Irene Heidelberger-Leonard u. Volker Wehdeking. Opladen 1994, S. 142–151. Homer: Ilias. Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. München 2002. Joch, Markus: „Streitkultur Germanistik. Die Andersch-Sebald-Debatte als Beispiel“. In: Germanistik in/und/für Europa. Faszination – Wissen. Hg. v. Konrad Ehlich. Bielefeld 2006, S. 263– 275. Kämper-van den Boogaart, Michael: „Für den lonesome hero und das Gute im Mann. Andersch, ,Sansibar oder der letzte Grund‘“. In: Klaus-Michael Bogdal, Clemens Kammler u. a.: (K)ein Kanon. 30 Schulklassiker neu gelesen. München 2000, S. 156–160. Kleeberg, Michael: „Luise Rinsers Vergesslichkeit“. In: Der Spiegel, Nr. 2, 2011, S. 100–106. Klüger, Ruth: „Gibt es ein Judenproblem in der deutschen Nachkriegsliteratur?“ [1986]. In: Dies.: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 1994, S. 9–38. Knes, Ulrike: „Frank Thiess. Ein Autor zwischen Realität und Selbststilisierung“. In: Literatur der ,Inneren Emigration‘ aus Österreich. Hg. v. Johann Holzner u. a. Wien 1998, S. 47–72. Lamping, Dieter: „Erzählen als Sinn-Suche. Formen und Funktionen autobiographischen Erzählens im Werk Alfred Anderschs“. In: Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Hg. v. Rüdiger Zymner u. a. Köln 2000, S. 217–229. Martinez, Matias u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999. Mather, Ed: „,Vielleicht ist unter allen Masken, aus denen man wählen kann, das Ich das Beste‘. Über die Entstehung einer Legende auf der Grundlage einer Autobiographie. Alfred Anderschs Kirschen der Freiheit“. In: Neophilologus 84 (2000), S. 433–455. Meyer, Beate: „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945. 3. Aufl., Hamburg 2007, S. 373. Mix, York-Gothart: „Zensur“. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. v. Thomas Anz. Stuttgart 2007, S. 492–500. Peitsch, Helmut: „Die Gruppe 47 und die Exilliteratur – ein Mißverständnis?“ In: Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik. Hg. v. Justus Fetscher u. a. Würzburg 1991, S. 108–134.
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Das Erproben von Alternativen, aber nicht „Transsubstantiation von Schuld bzw. Mitschuld in Schuldfreiheit“ Zu einem falschen Satz von W.G. Sebald Mit Recht betont Axel Dunker, dem wir das Nachwort zum Band Essayistische Schriften I der schönen Andersch-Ausgabe der Gesammelten Werke von 2004, herausgegeben von Dieter Lamping, verdanken, dass „nur wenige Essayisten der Nachkriegszeit“ es „an Vielseitigkeit, Spürsinn und Beweglichkeit mit Andersch aufnehmen“ können.1 Nach 1945 hat Alfred Andersch als Rundfunkredakteur, Zeitschriftenherausgeber und Essayist wesentlich dazu beigetragen, den im ‚Dritten Reich‘ verlorenen „Anschluß an die internationale Moderne“2 wiederherzustellen. Und zu Recht betont Dieter Lamping, dass Andersch in seinen Romanen durch komplexe Kompositionen formal mutige Brücken schlägt zwischen Realismus und Avantgarde. Und Andersch hat das Problem der Freiheit des Individuums, der „Selbstbestimmung des einzelnen inmitten politischer und gesellschaftlicher Zwänge“3 auf besondere Weise zum Thema gemacht. Er stellt Subjektivität, Selbstbestimmungsversuche, Fragen, Korrekturmöglichkeiten in den Mittelpunkt. Es geht Andersch um den Menschen, um „Idee, Handlung, Zustand, Stimmung“4, wie es in dem glänzenden Essay „Die Blindheit des Kunstwerkes“ heißt. Und das eben macht Andersch auch zu einem Autor der Moderne, nicht Ernst Jünger, der gerade absurderweise im Marbacher Literaturmuseum der Moderne als „Jahrhun-
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Dunker, Axel: „Einführung: Alfred Anderschs essayistische Schriften“. In: Andersch, Alfred: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe. Bd. VIII. Hg. v. Dieter Lamping. Zürich 2004, S. 453–464, hier: S. 459. Sämtliche Zitate von Andersch, soweit nicht anders ausgewiesen, und der Kommentar von Lamping u. a. werden im Folgenden nach der Gesamtausgabe nachgewiesen (GW Bandnummer römisch/Seitenzahl arabisch). GW I/458. GW I/446. GW IX/226.
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dertautor“ und als Prototyp der Moderne präsentiert wurde.5 Alfred Anderschs Roman Sansibar oder der letzte Grund und die Erzählung „Der Vater eines Mörders“ sind zu Recht Schullektüre. Die Kirschen der Freiheit und Winterspelt sollten es werden. Diesem Band ist der Titel gegeben worden: Alfred Andersch revisited. Werkbiografische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte. Zeitgerecht zu der Tagung, auf die der Band zurückgeht, hat Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung Sebalds Anderschschelte fortgeführt. Es gebe neue Belege, meinte Winkler, die Sebalds These, Andersch sei ein schäbiger Opportunist gewesen, bestätigten.6 Ich komme später noch einmal auf diese mit heißer Nadel genähte Invektive zurück. Nur soviel jetzt: So geht es wirklich nicht. Zum Beispiel: Zu Beginn seines Artikels zeichnet Winkler das Bild eines realitätsfremden Moralisten – er meint Alfred Andersch –, eines „engagierten Schriftstellers“, den seine „moralischen“ – Winkler sagt denunziatorisch – „Überlegenheits“-Gefühle in dem gegen den „Radikalenerlass“ gerichteten Gedicht „Artikel 3 (3)“ zu „maßlosen Anspielungen“ verleitet hätten. Worum geht es in dem Gedicht? Andersch hatte 1976 die die gesellschaftliche Atmosphäre vergiftende Praxis, Anwärter des öffentlichen Dienstes hinsichtlich ihrer politischen Gesinnung einem Prüfungsverfahren zu unterziehen, als verfassungswidrig bezeichnet und dies mit Verfolgungsmethoden der Nazis verglichen. Andersch hatte dabei zunächst das Grundgesetz zitiert: „niemand darf wegen [...] seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ und dann, weil er der Meinung war, dass der so genannte „Radikalenerlass“ gegen diesen Grundgesetzartikel verstieß, an die Minderheitenverfolgung in Nazideutschland erinnert mit dem zugespitzten Vergleich: „ein geruch breitet sich aus/der geruch einer maschine/die gas erzeugt“.7 Das ist Übertreibung als erlaubtes Mittel, zumal erst der Vergleich mit dem ‚Dritten Reich‘ in der Regel überhaupt Gehör fand. Damit, so empört sich Winkler im Oktober 2010, habe Andersch die Bundesrepublik von 1976 mit dem nationalsozialistischen „Auschwitz-Staat“ gleichgesetzt. Winkler: „Die alte Bundesrepublik war vieles, aber bestimmt kein AuschwitzStaat.“8 Das hat Andersch weder behauptet noch im Sinn gehabt. Der besorgte Demokrat und Homo politicus wies damit nur auf eine mit großem Aufwand betriebene Fehlentwicklung hin. Und mit seiner Intervention
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Vgl. die Ausstellung: „Ernst Jünger: Arbeiter am Abgrund“ vom 7. November 2010 bis 27. März 2011 im Literaturmuseum der Moderne/Marbach a. N. Winkler, Willi: „Der schäbige Winkelzug des großen Moralisten. W.G. Sebald stellte den Schriftsteller Alfred Andersch einst als Opportunisten dar. Nun gibt es Belege dafür, dass er mit seiner Kritik recht hatte.“ In: Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 2010. GW VI/124. Winkler: „Der schäbige Winkelzug“.
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hatte Andersch ja in der Sache Recht: 500.000 einschüchternde Verfahren politischer Gesinnungsschnüffelei führten im Laufe von über zwei Jahrzehnten zu etwa 300 Berufsverboten.9 1995 verurteilte deshalb der Straßburger Menschengerichtshof die Praxis des „Radikalenerlasses“ als Verstoß gegen das Menschenrecht der freien Meinungsäußerung. Und während zum Beispiel ein nahe einer DKP- oder KBW-Veranstaltung geparktes Auto einen am politischen Zeitgeschehen interessierten oder gar nur neugierigen Lehramtsanwärter in Erklärungsnöte bringen und, hatte er Pech, sogar die Anstellung kosten konnte, schützte, wie wir gerade erfahren haben, die „Zentrale Rechtsschutzstelle“ des Auswärtigen Amtes noch immer schon seit Jahrzehnten gesuchte Nazis, die schwerster Kriegsverbrechen beschuldigt wurden.10 Dieses Wissen über das AA hatte Andersch 1976 wohl nicht, er wusste aber und schrieb es in sein Gedicht „Artikel 3 (3)“, dass viele der verhörenden Beamten die „mitgliedsnummer der/nsdap“ gehabt hatten. Und dass so die Ungleichbehandlung von ehemaligen Nazis und von des Kommunismus Verdächtigen im Alltag des Kalten Krieges mit Händen zu greifen war. Sie empörte Andersch zu Recht: „empört euch – der himmel ist blau“. Mir ist unverständlich, warum Winkler hier Mobbing seines Feindbildes vom „engagierten Schriftsteller“ betreibt, statt sich redlich einzulassen auf Zeit und Umstände. Es gibt nicht den geringsten Grund, es zu verschweigen: Seine vorübergehende Ambivalenz zum ‚Dritten Reich‘ hat Andersch selbst bekannt gemacht. Nicht W.G. Sebald. Und zwar 1952 im autobiografischen „Bericht“ Die Kirschen der Freiheit. Da heißt es, bezogen auf den 9. November 1935, als Hitler die 23 Toten des Putsches von 1923 in die neuen Ehrentempel am Königsplatz umbetten ließ: „da öffnete auch ich meinen Mund und schrie: ‚Heil!‘“11. Wie lange dauerte dieses Dabeisein und SichArrangieren? Bezogen auf den Frühling 1940, als Andersch, gerade in Rastatt rekrutierter Soldat am Oberrhein, im drôle de guerre sich den französischen Stellungen gegenüber befand, heißt es in den Kirschen der Freiheit ganz unmissverständlich: „Ich war derart auf den Hund gekommen, daß ich einen deutschen Sieg für möglich hielt. Ich gab damals der Kanalratte“ – Hitler – „eine Chance. Jedesmal, wenn ich daran denke, spucke ich innerlich vor mir aus.“12 Andersch hat sein Verhalten im ‚Dritten Reich‘ für die Jahre zwischen 1935 und 1940 also selbst scharf kritisiert als Mitläufertum. In den Kirschen der Freiheit ordnet er sich mit der
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Vgl. Histor, Manfred: Willy Brandts vergessene Opfer. Geschichte und Statistik der politisch motivierten Berufsverbote in Westdeutschland 1971–1988. Freiburg 1999. Vgl. Conze, Eckart u.a.: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München 2010. GW V/347. GW V/387.
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Formulierung „Ich antwortete auf den totalen Staat mit der totalen Introversion“13 der Inneren Emigration zu. Und er räumt selbstkritisch ein, dass er, hätte er sich nicht „Angst“ und „Mut“ bewahrt, Hitler vielleicht für die weiteren Kriegsjahre auf den Leim gegangen wäre. Doch das war gottseidank nicht der Fall. Bis wann hat Andersch einen deutschen Sieg für möglich gehalten? Ich vermute, dass er damals wie viele Deutsche skeptisch zu werden begann, als gegen Ende 1941 der deutsche Vormarsch in Russland ins Stocken geriet. Für 1942/43, als Andersch nach Frankfurt zu Mouson ging als Werbeassistent und dann Werbeleiter, haben die Frankfurter Lotte Schiffler, Gisela Anderschs Schwester, und Trude Boxheimer, Korrespondentin bei Mouson, glaubwürdig erklärt, dass Andersch ihnen damals als Antinazi und Oppositioneller begegnet sei. Andererseits schreibt Andersch noch am 15. September 1943 nach der zweiten Musterung in einem für einen Regimegegner etwas merkwürdig überspitzt patriotischen Brief an die Mutter, dass er sich freue, nun in gesunder körperlicher Verfassung seinem „untrüglichen Instinkt für die Pflicht und die Verantwortung“ und die „wahren Werte des Lebens“ folgen zu können.14 Vom „inneren Schweinehund“, dem er so nicht „nachzugeben brauche“, schreibt Andersch, und im Dezember, inzwischen eingezogen, der Mutter von einer „üblen Drückeberger-Atmosphäre“.15 War das für die Zensur gedacht? In der längeren – wohl vor der zweiten Einberufung geschriebenen – Erzählung „Der Techniker“ – in der Andersch erkennbar von Angelikas Familie Albert erzählt – ist zudem auch die Rede von „Blut“ und von „gesunde[r], ungebrochene[r] Rasse“.16 Rhys W. Williams hat sehr früh schon auf diese Unklarheit hingewiesen.17 Gleichwohl: Andersch war auch nicht vorübergehend – so habe ich das verstanden – ein Parteigänger der Nazis. Aus der völkischen, antisemitischen Thule-Gesellschaft des Vaters und aus Anderschs immerhin zweieinhalbjähriger Tätigkeit vom September 1934 bis März 1937 im damals führenden völkischen F. J. Lehmann’s Verlag war ihm das führende NS-Personal in München nicht unbekannt. Das waren unter anderem Leute wie Himmler, Rosenberg, Streicher, Hans Frank, Rudolf Heß, der
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GW V/356. Andersch, Alfred: „einmal wirklich leben“. Ein Tagebuch in Briefen an Hedwig Andersch 19431975. Hg. v. Winfried Stephan. Zürich 1986, S. 15. Ebd., S. 20. GW IV/36. Vgl. Williams, Rhys: „‚Geschichte berichtet, wie es gewesen. Erzählung spielt eine Möglichkeit durch‘. Alfred Andersch and the Jewish Experience“. In: Jews in German Literature since 1945: German-Jewish Literature? Hg. v. Pól O’Dochartaigh. Atlanta, Amsterdam 2000, S. 477–489, hier: S. 479.
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Verleger Dietrich Eckart – Antisemiten, die die abstruse Theorie von der jüdischen Weltverschwörung propagierten. Aber das waren doch nicht Leute, zu denen sich Andersch hingezogen fühlte. Sein Mentor wurde vielmehr um 1934/35 Günther Herzfeld-Wüsthoff, ein Antiquar und Rezitator, der Shakespeare und Kleist rezitierte. In der Königinstraße 9 in München unterhielt er ein Antiquariat. Herzfeld-Wüsthoff, ein Pate von Thomas Manns jüngster Tochter Elisabeth und jüdischer Gardeoffizier des 1. Weltkrieges, lektorierte Andersch und ermunterte ihn zu schreiben. Ihm, Herzfeld-Wüsthoff, hatte Andersch seine Gedichte gezeigt, unter anderem ein Liebesgedicht an Angelika (Titel: „Der Entfernten“). Es könne, antwortete ihm Herzfeld, durchaus jede Anthologie deutscher Lyrik zieren. Herzfeld-Wüsthoff wies Andersch hin auf die Bedeutung von Handwerk, Kunstfertigkeit, Formwillen, Ästhetik. In den Kirschen der Freiheit schreibt Andersch deshalb: Erlebte bei Dr. Herzfeld zum erstenmal statt Ästhetik die Gespanntheit der Kunst, das, was mich selbst mit Unruhe erfüllte und Stimmungen hervorrief, die sich aus Ungeduld und Ekel mischten.18
Diese Aussage trifft Anderschs Art und Weise zu schreiben genau, und das gilt bis hin zum „Vater eines Mörders“. Anderschs Lebensplan war offenbar zu schreiben und zu publizieren. Und nicht im Krieg als Soldat an der Front zu sterben. Deshalb wollte er wohl auch in eine Propagandakompagnie – also als Reporter arbeiten – oder auf einen so genannten „Druckposten“ ins Reichsluftfahrtministerium kommen – wie es in der Erzählung „Heimatfront“19 angesprochen wird. Andersch hatte die drei Erzählungen „Skizze zu einem jungen Mann“20, „Ein Techniker“21 und „Sechzehnjähriger allein“22, von denen wir wissen, zu einem Buchmanuskript zusammengestellt und an den Suhrkamp Verlag in Berlin geschickt. Und vergeblich dafür bei der Frankfurter Zeitung um Veröffentlichung nachgesucht. Der Redakteur Otto Brues druckte dann im April 1944 in der Kölnischen Zeitung die Erzählung „Sechzehnjähriger allein“. Als ich bei der Arbeit an der Andersch-Biografie23 auf die Tatsache stieß, dass Andersch sich 1943 von Angelika hat scheiden lassen, weil er publizieren wollte und ihr, der nach nationalsozialistischer Rassen-Arithmetik ‚Halbjüdin‘, damit im Grunde seine Solidarität entzogen hatte, wollte ich es nicht glauben. Zugleich wurde mir bewusst, dass dieser –
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GW V/358. GW IV/135–187. GW IV/9–26. GW IV/27–102. GW IV/103–110. Reinhardt, Stephan: Alfred Andersch. Eine Biographie. Zürich 1990.
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Dieter Lamping sagt: „große Fehltritt“,24 Annette Korolnik-Andersch „idiotisch“25 – tiefe Spuren in Anderschs Werk hinterlassen hat. Dass er eigentlich erst verständlich machte, warum zum Beispiel in Sansibar die Rettung der Jüdin Judith eine so zentrale Rolle spielt. Andersch hat also wesentliche Ereignisse seiner Lebensgeschichte bzw. der Geschichte – man denke an den Roman Winterspelt – neu geschrieben, Alternativen durchgespielt zu Fehlverhalten. Das war und ist meine Interpretation in der Anderschbiografie. W.G. Sebald sah das anders. Er hat 1993 in der Zeitschrift Lettre und 1999 erneut in Luftkrieg und Literatur den Vorwurf erhoben, Andersch habe nicht schuldhaft erfahrene Lebensgeschichte korrigiert, sondern sich reingewaschen, die „Transsubstantiation von Schuld bzw. Mitschuld in Schuldfreiheit“26 betrieben. Er sei ein gewissenloser Literatur-Karrierist gewesen, der sich moralisch diskreditiert habe und als Schriftsteller unglaubwürdig sei. Sebald nahm damit eine Haltung ein, die Dieter Lamping zu Recht als pharisäerhaft mit den Worten zurückweist: Wer einmal einen Fehler begangen hat, ist auf Dauer moralisch beschädigt, und wer als Person gefehlt hat, kann kein guter Schriftsteller mehr sein.27
Sebalds Begründungen waren und sind auch heute nicht stichhaltig. Denn warum und wieso soll es verlogene Umwandlung von Schuld in Schuldfreiheit sein, wenn Andersch in Sansibar eine Art Volksfront beschreibt, die das Leben der Jüdin Judith rettet? Den Roman Efraim ließ er überhaupt nicht gelten. Andersch habe in ihm, so die Behauptung, das „Trauma seines eigenen moralischen Versagens“ ausgeblendet. Die Begründung: Andersch habe zu seinem alter ego nicht den Chefredakteur Keir Horne gemacht, Horne, der es eigentlich sein müsste, weil er seine – ‚halbjüdische‘ – Tochter Esther 1938 in Berlin ihrem Schicksal überlassen hat. Sondern er habe zum alter ego den Journalisten Efraim gemacht. Sebald: Genauer gesagt, er [Andersch; S.R.] versetzt sich in ihn hinein und breitet sich rücksichtslos in ihm aus, bis es, wie der Leser allmählich realisiert, einen George Efraim gar nicht mehr gibt, sondern bloß noch einen Autor, der sich an die Stelle des Opfers manövriert hat.28
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GW I/454. „‚Nicht alles in den Schüttelbecher tun und braune Soße drüber‘. Hier spricht die Tochter: Anette Korolnik-Andersch und ihr Mann Marcel Korolnik forschen über Andersch im Nationalsozialismus – ein Interview.“ In: Frankfurter Rundschau vom 27./28. September 2008. Sebald, W.G.: „Between the devil and the deep blue sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden in der Vorsehung“. In: Lettre International 20 (1993), S. 80–84, hier: S. 80. GW I/456. Sebald: „Between the devil“, S. 84.
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Das war und ist unzutreffend. Andersch ist in der Figur Horne ebenso anwesend wie in Efraim und im ganzen Buch natürlich. Dass Horne seine Tochter Esther 1938 verleugnet und im Stich gelassen hat, ist sein großes Lebenstrauma. Des Öfteren ist die Rede von Hornes Schuldgefühlen, von seiner Schmach und Schande, vom „dunkelsten Punkt“29 in Hornes Leben. Unzulänglich war und ist auch der Vorwurf, Andersch lasse den jüdischen Journalisten Efraim deutschen Jargon sprechen und habe damit den Sprachton eines Juden verfehlt. Andersch zeigt vielmehr, wie der Journalist Efraim, der einen Lebensneuanfang als Schriftsteller sucht und in ihn im Laufe des Romans auch hineinfindet, ständig über Sprache nachdenkt. Wie soll er sich ausdrücken? Er fällt einerseits zurück in den ihm seit seinen Kinderzeiten in Berlin noch vertrauten Jargon. Er spielt auch mit Klischees und Klischeevorstellungen. Gleichzeitig hört er neue Worte und Redensarten wie zum Beispiel „bis zur Vergasung.“30 Efraim ist, worauf Dieter Lamping hingewiesen hat, nach 1945 der „erste Roman eines nicht-jüdischen deutschen Autors, der aus der Perspektive eines Juden erzählt wird.“31 Glaubhaft entfaltet Andersch das Hauptthema des Romans, Efraims Identitätsverlust, ausgelöst durch den Mord an den Eltern in Auschwitz: „Angesichts von Auschwitz will ich zur Ehre Gottes annehmen, dass es ihn nicht gibt.“32 „Das Leben des Menschen ist ein wüstes Durcheinander aus biologischen Funktionen und dem Spiel des Zufalls.“33 Und Andersch hat das übersetzt in einen bewusst komplexen Raum- und Zeitablauf und in ein korrespondierendes Motivgeflecht, das im Ahasverhaften des verfolgten Juden mündet. Was ihm jüdische Emigranten wie Jean Améry, Robert Neumann und Ludwig Marcuse bestätigt haben.34 Der Roman Efraim hat mit Reinwaschen-Wollen nichts zu tun. Der Roman setzt vielmehr Anderschs Vorsatz um: Damit ich mein Metier ausüben kann, schreibe ich Texte, von denen ich mir einbilde, sie verhinderten, daß ich eines Tages wieder eine Straßenwalze in einem KZ ziehen muß.35
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GW II/363. GW II/168. GW II/436f. Vgl. auch: Lamping, Dieter: „Die Darstellung von Juden in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Das Beispiel Alfred Andersch“. In: Argonautenschiff: Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin u. Mainz e.V. 6 (1997), S. 224–237. GW II/77. Ebd. GW II/404. Andersch, Alfred: „Öffentlicher Brief an einen sowjetischen Schriftsteller, das Überholte betreffend“. Zit. n. Mather, Ed: „‚Vielleicht ist unter allen Masken, aus denen man wählen kann, das Ich die beste‘. Über die Entstehung einer Legende auf der Grundlage einer Autobiografie: Alfred Anderschs Kirschen der Freiheit“. In: Neophilologus 84 (2000), S. 443–455, hier: S. 454.
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Warum aber hat sich Sebald so sehr auf Andersch kapriziert? Sind es Parallelen zwischen den Vätern von Sebald und Andersch? Sebalds Vater trat 1929 – er war arbeitslos – als Berufssoldat in die Wehrmacht ein und stieg bis zum Hauptmann auf. Er war an der Ostfront, in Stalingrad und dann an der Westfront. Anderschs Vater, Antisemit, Ludendorff-Anhänger, brachte es im 1. Weltkrieg vom Soldaten bis zum Feldwebelleutnant. 1929 starb er verarmt an den Folgen einer Kriegsverletzung. Sebald, der zunächst unter der Obhut seines von ihm geliebten Großvaters aufwuchs, blieb auf Distanz zu seinem Vater. Der Vater war in den fünfziger Jahren der gerade etablierten Bundeswehr beigetreten und dort 1971 im Range eines Oberstleutnants pensioniert worden. Es war zum Zerwürfnis zwischen Sebald und dem Vater gekommen. Der 68er stellte Fragen nach dem ‚Dritten Reich‘. Der Vater schwieg. Sebald emigrierte – nach seinem Verständnis – nach England. Als Student legte er seine Taufnamen ab, den teutonischen „Winfried“ und den „Georg“, den er mit seinem Vater teilte. Bereits Dozent in Norwich, fiel ihm Anfang der 80er Jahre bei einem Besuch der Eltern in Sonthofen ein Fotoalbum des Vaters in die Hände, ein Weihnachtsgeschenk zum ersten Kriegsweihnachten 1939 an die Mutter, in dem der Vater Kriegsszenen dokumentiert hatte, zerstörte Dörfer, rauchende Ruinen, eine junge Sinti und Roma mit Kind hinter Stacheldraht. Ich folge hier der Darstellung von Mark M. Anderson, einem New Yorker Germanisten. Sebald hatte dem Vater schon in den 60ern vorgeworfen, Hitler passiv unterstützt und sich in den 50er Jahren an der „Verschwörung des Schweigens“ beteiligt zu haben.36 Wenig später nach der Entdeckung der Kriegsfotos teilte die Mutter Sebald mit, dass sein geliebter Grundschullehrer Armin Müller Selbstmord begangen habe. Müller, ein so genannter Vierteljude, hatte als solcher im ‚Dritten Reich‘ in Sonthofen als Lehrer Berufsverbot. Obwohl die Sonthofener davon wussten, wurde das in den Adenauer-Jahren bewusst verschwiegen. Sebald war emotional bewegt und recherchierte. Er verbindet Autobiografie und Fiktion – wie Andersch ja auch. In seinem Erzählband Die Ausgewanderten gab er dem Lehrer den Namen Paul Bereyter. Und schilderte dessen Diskriminierung, empört über die Gründlichkeit, mit welcher diese Leute in den Jahren nach der Zerstörung alles verschwiegen, verheimlicht und, wie mir manchmal vorkommt, tatsächlich vergessen haben [...].37
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Anderson, Mark M.: „Wo die Schrecken der Kindheit verborgen sind. W.G. Sebalds Dilemma der zwei Väter. Biografische Skizzen zu einem Portrait des Dichters als junger Mann.“ In: Literaturen 7/8 (2006), S. 32–39. Sebald, W.G.: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt a. M. 1994, S. 74.
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Hat Sebald vielleicht – die Frage sei nachträglich erlaubt – die Kollaboration seines Vaters in der Nazivergangenheit auf Andersch projiziert? In meiner Andersch-Biografie habe ich die Entfremdung, Trennung und Scheidung zwischen Angelika und Alfred Andersch dargestellt. Die Ehe war „kaputt“, wie der sehr glaubwürdige Hamburger Bruder Martin erklärte, Andersch verliebte sich in Gisela Groneuer und pendelte zwischen ihr und Angelika, „der Frau, die ich verlassen habe“38, wie er es im „Tage- und Nächtebuch“ ausgedrückt hat. Angelika Andersch hat mir in einem längeren Telefongespräch – am 22. Februar 1989 – diese Darstellung bestätigt und, befragt nach den Gründen der Scheidung, hinzugefügt, dass sie über Alfred Andersch „nie etwas Negatives gesagt“ habe.39 Angelika zog mit ihrer Tochter Susanne nach Olching, in eine 20 Kilometer westlich von München gelegene Gemeinde. Sie bewohnte dort, so Annette Korolnik-Andersch, ein kleines Einfamilienhaus und hielt engen Kontakt zu Hedwig Andersch. Briefe bestätigen, dass Andersch sein Verhältnis zu Angelika nach der Scheidung aufrechterhalten und an ihrem und Susannes Wohl ganz stark interessiert war. An seine Mutter Hedwig schreibt Andersch am 16. März 1944 als Soldat aus Dänemark: „Deinen Brief über Angelika’s Sonntagsbesuch habe ich erhalten.“40 Im Brief vom 12. April 1944 an seine Mutter Hedwig äußert er die Bitte: „informiere einstweilen auch Otto, Rudi und Angelika“,41 oder im Brief aus dem amerikanischen Kriegsgefangenenlager vom 6. Juli 1944 heißt es: Bitte grüße Angelika noch nachträglich zu ihrem Geburtstag. Und Susie zum allmählich näher rückenden Schuleintritt. Na, ich werde wohl über sie Bericht bekommen, wenn es möglich ist.42
Und im Brief vom 8. Oktober 1944 aus der Kriegsgefangenschaft der Satz: „Ich hoffe, daß es Dir in Schliersee und Angelika und Suse in Olching einigermaßen gut geht.“43 In einem Brief vom 12. Dezember 1944 an seine Mutter Hedwig schreibt Andersch: „An Angi [Angelika, S.R.] habe ich letzte Woche gesondert geschrieben.“44 Angelika Andersch blieb unbehelligt. 1944 wurde sie nicht zu Zwangsarbeiten herangezogen. Es bleibt: Andersch hatte ihr durch die Scheidung seine Solidarität entzogen.
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Reinhardt: Andersch, S. 81. Reinhardt: Andersch, S. 648. Zit. nach Privatarchiv Familie Andersch. Andersch: Einmal wirklich, S. 29. Andersch: Einmal wirklich, S. 42. Andersch: Einmal wirklich, S. 44. Andersch: Einmal wirklich, S. 47.
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Natürlich ist die Frage zu stellen, was wusste, was konnte Andersch damals – 1941, 1942, 1943, 1944 – wissen vom Schicksal der Juden und der ‚Halbjuden‘? Die von Felix Römer mitgeteilten Abhörprotokolle, in denen es am 15. September 1944 in der Gefangenenstube offenbar auch um das Schicksal der Juden und ‚Halbjuden‘ ging, sagen darüber leider so gut wie nichts aus.45 Der amerikanische Abhöroffizier hatte in diesem Falle sein Aufnahmegerät zu spät eingeschaltet. Ganz unwissend war Andersch nicht. Vom Herbst 1933 bis Anfang 1937 arbeitete er in München im Vertrieb des damals rassetheoretisch führenden J.F. Lehmann‘s Verlag. Der Verlag publizierte unter anderem die Zeitschrift Volk und Rasse sowie Hans F.K. Günthers Standardwerk Rassenkunde des deutschen Volkes, 1937 bereits in einer Auflage von 500.000 Stück. Andersch war gewiss informiert über die Rassenpolitik der Nazis, über die immer bedrohlichere Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden, Sinti und Roma und anderer Minderheiten. Hatte er doch die ‚Halbjüdin‘ Angelika Albert am 15. Mai 1935 geheiratet, Monate vor den Nürnberger Rassegesetzen. Das war sicherlich im Sinne der nationalsozialistischen Logik kein karrierefördernder Akt. Anderschs von ihm geschätzter Schwager Fritz Albert, Vorstandsmitglied der Leonarwerke in Hamburg, der ihn im April 1937 als Werbeleiter nach Hamburg geholt und damit aus der ungeliebten Tätigkeit im völkisch-nationalistischen Lehmann‘s Verlag befreit hatte, starb am 7. Mai 1938 (offenbar nach einem Herzanfall). Und vermutlich, so Andersch in seinem Theaterstück und Hörspiel „Biologie und Tennis“ (1950),46 weil der Beauftragte des Vierjahresplans Hermann Göring der Firma nur dann einen Großauftrag zur Herstellung von Filmmaterial für die Luftwaffe hatte erteilen wollen, wenn deren Technischer Direktor, ein „Mischling 1. Grades“, also Fritz Albert, zurücktreten würde. Angelikas Mutter, Anderschs Schwiegermutter Ida Hamburger, die Andersch ebenfalls schätzte, war am 2. Februar 1942 in München im so genannten Judenlager in der Knorrstraße interniert und ist dann im Juni nach Theresienstadt deportiert worden. (Ende August 1944 wurde sie offiziell für tot erklärt.) „Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten“, dieser Satz Richard von Weizsäckers aus seiner Rede am 8. Mai 1985 traf auch, vermute ich, für Alfred Andersch zu. Neueste Studien darüber, was die Deutschen vom Holocaust wussten – etwa Bernward Dörners Die Deutschen und
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Vgl. Römer, Felix: „Alfred Andersch abgehört. Kriegsgefangene „Anti-Nazis“ im amerikanischen Vernehmungslager Fort Hunt“. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 4 (2010), S. 563–598. GW VII/7–63.
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der Holocaust (2007) –, stützen die Aussage, dass eben fast jeder, der es wissen wollte und der nicht bewusst wegsah, auch wissen konnte. Was wusste Andersch nun vom Schicksal der so genannten ‚Halbjuden‘? In der Biografie habe ich, bezogen auf den Zeitpunkt der Scheidung, den 6. März 1943, darauf hingewiesen, daß auf der dritten Konferenz über die ‚Endlösung der Judenfrage‘ am 27. Oktober 1942 in Berlin der Plan zur Zwangstrennung aller ‚Mischlinge‘ und das Programm ihrer Sterilisierung beraten wurde, ohne dann freilich Gesetz zu werden.47
Damit wollte ich auf die mögliche Gefährdung von Angelika hinweisen. Hat Andersch nun von dieser Bedrohung etwas wissen können? Wurde in der NS-Presse über diese 3. Konferenz berichtet? Johannes Tuchel sagt in seinem Essay „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“ nichts darüber, ob es Studien zur Öffentlichkeit der 3. Konferenz gibt.48 Wie wir wissen, war das Verhalten der NS-Behörden gegenüber „jüdischen Mischlingen“ uneinheitlich. Die „Mischlinge“ waren nicht derselben Verfolgung ausgesetzt.49 Die meisten überlebten. „Entscheidungen über weitere Verfolgungsmaßnahmen gegen ‚Mischlinge‘“, so führt Tuchel deshalb zu Recht aus, versandeten [...] im Dickicht der Diskussionen der oberen Verwaltungsspitze des nationalsozialistischen Staates. Weitere Terrormaßnahmen gegen diese Gruppe [...] erfolgten – wie viele andere Maßnahmen der NS-Politik – weder widerspruchsfrei noch plausibel. Sie verschärften sich erst wieder im Herbst 1944.50
Angelika Andersch wurde weder deportiert noch musste sie 1944 wie zahlreiche so genannte ‚Halbjuden‘ Zwangsarbeit leisten. Natürlich: Es war und ist kein Ruhmesblatt, wenn Andersch, um sich einen Vorteil zu verschaffen, erklärt hat, wie ich es in der Biografie 1990 anhand der Kriegsgefangenenakte dokumentiert habe,51 dass er mit einer ‚Halbjüdin‘ verheiratet sei, obwohl er längst geschieden war. Als der Prisoner of War im Camp Ruston seine Aufzeichnungen und Tagebücher zurückhaben will, schreibt er am 8. Oktober 1944, um seinem Wunsch Nachdruck zu verleihen, dass seine Frau ein „Mischling jüdischer Abstammung“ – „a mongrel of jewish descent“ – sei.52
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Reinhardt: Andersch, S. 84. Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt – in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Anette Korolnik-Andersch. München 2008, S. 30–41. Vgl. auch Bajohr, Frank u. Michael Wildt: Volksgemeinschaft. Frankfurt a. M. 2009. Und: Tent, James F.: Im Schatten des Holocaust. Schicksale deutsch-jüdischer ‚Mischlinge‘ im Dritten Reich. Köln u.a. 2007. Tent schätzt die Zahl der „jüdischen Mischlinge“, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland lebten, auf 72.000. Tuchel: Alfred Andersch, S. 39. Vgl. Reinhardt: Andersch, S. 111. Ebd.
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Andersch hatte das – wie das Felix Römer gerade anhand der Vernehmungs- und Abhörprotokelle im „Verhörlager“ Fort Hunt bei Washington dargestellt hat – auch schon Wochen zuvor in Fort Hunt beim ersten Kriegsgefangenen-Screening angegeben. Zutreffend sagte er dem amerikanischen Vernehmungsoffizier am 16. September 1944, dass er im Frühjahr 1941 aus der Wehrmacht als mit einer ‚Halbjüdin‘ Verheirateter entlassen worden sei. Falsch dagegen ist dabei die Präsensform dieser Aussage, wie Felix Römer hervorhebt: „because he’s married to a halfjewess.“53 Und unter der entsprechenden Rubrik ist auch vermerkt „... is married“. Also noch mit der ‚Halbjüdin‘ verheiratet. Andersch schummelt hier. Und nicht nur hier, sondern hin und wieder. Das ist, weil von unterschiedlichem Gewicht, nach meiner Ansicht jeweils von Fall zu Fall zu bewerten. Wenn Andersch in Fort Hunt dem amerikanischen Verhöroffizier erklärt, dass er als Leiter einer sozialdemokratischen Jugendgruppe („Youth-Group of Soz-Demokrat“ – Römer überträgt in: „sozialdemokratische Gewerkschaft“) im KZ Dachau interniert worden sei, dann ist diese kleine Zwecklüge sicher verzeihlich. Erstens anzuführen, dass er dem Kommunistischen Jugendverband angehört habe, also Kommunist gewesen sei, wäre angesichts der amerikanischen Hysterie bei den schweren Reizworten „Kommunist“ und „Kommunismus“ vermutlich nicht ohne Folgen geblieben. Zweitens war Andersch mittlerweile ein überzeugter Anhänger Roosevelts, der US-amerikanischen, sozialdemokratischen Version der Verbindung von sozialer Gerechtigkeit und Freiheit, und er war zweifellos Antibolschewist, Gegner der stalinistischen Sowjetunion. Verstehen sollte man dabei ohne Beckmesserei auch, dass manche biografischen Irrtümer, die sich irgendwann festgesetzt haben, dann gleichsam für immer wiederholt werden. So die Version, Andersch habe im Frühjahr 1941 die Mitteilungsblätter der Wehrmacht durchgesehen und sei dabei auf die Verfügung gestoßen, dass „ehemalige KZ-Insassen mit sofortiger Wirkung aus der Wehrmacht zu entlassen“54 seien. Diese Version hat Andersch ja noch mit seinen eigenen Worten in einem „Zeitgenossen“-Gespräch mit Paul Assall und Klaus Figge in seinem Todesjahr 1979 geäußert. (Ich hatte sie mir natürlich nicht, wie Johannes Tuchel meinte, als „Legende“ aus den Fingern gesaugt, sondern ich war dabei Andersch gefolgt.) Der von Jörg Döring/Rolf Seubert sowie Marcel Korolnik/Annette Korolnik-Andersch publizierte Aktenfund – „Entlassen“ aus der Wehrmacht „am 12. 3. 41 laut Verfügung Jüdischer Mischling“ – stellte klar,
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Römer: „Andersch abgehört“, S. 567. Reinhardt: Andersch, S. 73.
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dass Andersch nicht aus der Wehrmacht entlassen wurde, weil er ehemaliger KZ-Häftling gewesen ist, sondern weil er mit einer so genannten ‚Halbjüdin‘ verheiratet war.55 Am 8. April 1940 hatte das Oberkommando des Heeres in einem Erlass bestimmt – so Tuchel –, dass fünfzigprozentige „jüdische Mischlinge“ oder Männer, die mit Jüdinnen oder fünfzigprozentigen „jüdischen Mischlingen“ verheiratet waren, der Ersatzreserve oder Landwehr zuzuteilen waren. Am 2. Dezember 1940 publizierte dann das Oberkommando des Heeres in seinem Heeres-Verordnungsblatt einen Erlass des Reichsinnenministeriums, wonach alle Wehrmachtsangehörigen den „Nachweis deutschblütiger Abstammung“, den so genannten „Arier-Nachweis“, zu erbringen hatten. „Jüdisch Versippte“ oder alle Angehörigen von Juden oder „jüdischen Mischlingen“ waren andernfalls aus der Wehrmacht zu entlassen. Am 12. März 1941 konnte Andersch daraufhin ins Zivilleben zurückkehren – wie 25.000 weitere „jüdisch versippte“ Wehrmachtsangehörige. Die Entlassungsmeldung im „Erkennungsmarkenverzeichnis“ lautet – wie erwähnt – „am 12.3.41 lt. Verfügung Jüd. Mischling entlassen.“56 Mit Verlaub, der Vorwurf von Jörg Döring und Rolf Seubert, Andersch habe in diesem Falle Vorteile aus seiner Ehe mit einer ‚Halbjüdin‘ gezogen, obwohl das Verhältnis zu Angelika bereits endgültig zerrüttet gewesen sei, ist nicht gerechtfertigt. In diesem Falle. Betrachtet allein vom zeitlichen Ablauf her. Denn erst im Sommer 1940 hatten sich Angelika Andersch und die damals schwangere Malerin und Kunsterzieherin Gisela Groneuer bei einem Urlaub in Dahme kennengelernt und angefreundet. Martin Andersch, Alfreds jüngerer, in Dahme ebenfalls anwesender Bruder, hatte sich dabei in Gisela Groneuer verliebt und dem Bruder Alfred von ihr vorgeschwärmt. Im Herbst erst hat daraufhin Andersch Gisela Groneuer besucht, und damit begann ihre Liebesbeziehung. Eine Ehe zu dritt stand im Raum. Erst über ein Jahr später, Ende 1942, vollzogen Angelika und Alfred in Hamburg ihre endgültige Trennung. Andersch hat also im Frühjahr 1941, als er aus der Wehrmacht ausschied, und noch mit Angelika verheiratet war, nicht zu seinem Vorteil „geschummelt“. Später schon. Warum verfuhr er so? Zu bedenken sind die Umstände. Diktatur und Krieg, wo alle Maßstäbe verrückt sind, haben gewiss ihre eigenen Überlebensgesetze. Als erstes bleibt in ihnen oft die Wahrheit auf der Strecke. Erzwungen und dann irgendwie habitualisiert durch so wid-
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Vgl. Döring, Jörg u. Rolf Seubert: „‚Entlassen aus der Wehrmacht: 12.03.1941. Grund: ‚Jüdischer Mischling‘ - laut Verfügung‘. Ein unbekanntes Dokument im Kontext der Andersch-Sebald-Debatte“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 151 (2008), S. 171–184. Ebd., S. 171ff. u. Tuchel: „Alfred Andersch“, S. 36.
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rige Umstände wie das Erlebnis der Verarmung der eigenen Familie und die damit verbundene sozialen Deklassierung, schließlich durch die schlimmste aller Lebenskatastrophen, durch den Krieg, also durch unmittelbare Lebensbedrohung? Irgendwann rückt man sich die Dinge so zurecht, wie es opportun ist. Als Irrtum einer Gruppe maßgeblicher Autoren nach 1945 erwies sich auch die Behauptung, 1945 sei eine „Stunde Null“ gewesen. Im ‚Dritten Reich‘ habe man kaum geschrieben und nichts publiziert. Andersch selbst hatte erst 1976 im „Seesack“ zugegeben, dass er bereits 1944 in der Kölnischen Zeitung publiziert hatte.57 Als Fritz J. Raddatz im Oktober 1979 in einem ZEIT-Dossier erklärte, 1945 sei in der deutschen Literatur kein Nullpunkt gewesen, sondern Autoren wie Eich, Koeppen und Huchel hätten schon im Krieg geschrieben,58 und in diesem Zusammenhang Irrtümer in Anderschs Essay „Deutsche Literatur in der Entscheidung“ korrigiert hat – Anderschs Irrtum, jede gute im ‚Dritten Reich‘ erschienene Dichtung sei „Gegnerschaft gegen das 3. Reich“ gewesen –, war Andersch wie befreit. „Ich stimme vollständig zu“59, schrieb er. (Wobei Andersch die Verstrickung seiner Freunde Eich und Koeppen bis zu diesem Zeitpunkt wohl unbekannt blieb.) Andersch gab indes – das war wenige Monate vor seinem Tod – zu bedenken: „Zu den Irrtümern von Schriftstellern muß allerdings bemerkt werden, daß auch Schriftsteller Wesen sind, die sich entwickeln.“60 Eben. Andersch hat sich ‚entwickelt‘, das heißt auch Irrtümer korrigiert. Irrtümer Anderschs treten auch in den schon erwähnten amerikanischen Verhörprotokollen zu Tage. So irrte sich Andersch im September 1944 in einer Denkschrift für die US-Behörde über die aktuelle Situation im damaligen Deutschland. Er schrieb darin, dass gewiss 80 Prozent der „freien und geistigen Berufe oppositionell eingestellt seien“ zum NS-Regime – Ärzte, Juristen, „die studierende Jugend“. Das Gegenteil war der Fall. Oder wenn Andersch schon hier – irrtümlich – meinte, fast alle Schriftsteller von Rang seien „zum Kristallisationspunkt irgendeiner Art von Widerstand geworden“ und gar Erwin Guido Kolbenheyer und Ernst Jünger dazuzählt. Oder schrieb: „Der künstlerische Nachwuchs steht geschlossen gegen Hitler.“61 Ebenso irrte Andersch, wenn er später im deutschen Ruf zum Beispiel die „Treue“ und „Tapferkeit“ der Frontsoldaten, und damit auch die Jüngersche Todesbereitschaft im Schützengraben,
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GW V/433. Raddatz, Fritz J.: „Wir werden weiterdichten, wenn alles in Scherben fällt...“. In: Die Zeit vom 12. Oktober 1979. Reinhardt: Andersch, S. 625. Ebd., S. 626. Vgl. Römer: „Andersch abgehört“, S. 588.
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heroisierte.62 Willi Winkler hat nicht unrecht, wenn er im erwähnten Artikel in der Süddeutschen Zeitung aus Erich Kubys Gutachten für die Amerikaner aus dem Jahr 1946 über den Ruf den Satz zitiert: Er „ist in Gefahr, das Kriegserlebnis zu pflegen statt es zu überwinden.“63 Ja, leider. Ungestüm und in übersteigertem Selbst- und Sendungsbewusstsein forderte Andersch damals für sich und die angeblich NS-unbelastete Frontgeneration das Recht ein, so schnell wie möglich das neue demokratische Deutschland allein, ohne viel fremde Hilfe aufzubauen. Dass die meisten noch lange nicht in der Demokratie angekommen waren – und Ernst Jünger zum Beispiel später nie – übersah er. Andererseits ist bei der Lektüre der Verhörprotokolle auch erkennbar, wie sehr Andersch sich bewusst war, wessen nach der Nazidiktatur das Nachkriegsdeutschland bedurfte: nämlich des, so heißt es in der amerikanischen Denkschrift, „Hereinströmens westlicher Kulturtendenzen“ und damit eben überhaupt einer fundamentalen „Umorientierung“, in der auf der Grundlage einer „Dezentralisierung des Reiches“, also des Föderalismus, von „Recht“ und „Freiheit“, von Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Menschenrechten die Rede ist,64 also davon, dass sie Grundbegriffe und Selbstverständlichkeiten des Zusammenlebens werden. (Worauf der Anderschkenner Volker Wehdeking, der den Spuren Anderschs in Amerika als Erster nachgegangen ist, hingewiesen hat.65 Leider sind ihm hier keine der ehrgeizigen jungen Andersch-Germanisten gefolgt.) Sackgassen werden beschritten, wenn dem Autor Andersch bei seiner Literarisierung von Autobiografie überkritisch Daumenschrauben angelegt werden. Das Abhör-Tonband von Fort Hunt gibt zum Beispiel ein Gespräch über die Rhetorik der NS-Führer wieder. Einer der Kriegsgefangenen – der Dolmetscher Gerhard Schild, mit dem Andersch sich anfreundete – wunderte sich darüber, dass Reichsführer SS Heinrich Himmler seine „brutalen“ „Inhalte“ „ganz ruhig und sachlich und auch in einwandfreiem Deutsch“ geäußert habe. Daraufhin antwortete Andersch, Verständnis herstellend, laut Protokoll: „Ja, der kommt von einer ganz gebildeten Familie. Beamte. Sein Vater war ein ganz netter alter Herr mit Spitzbart.“66 In der Erzählung „Vater eines Mörders“ von 1980 habe Andersch dagegen, folgert Felix Römer nun, „alle ‚netten‘ Züge des alten Himmler wegretuschiert“ und ersetzt durch Adjektive wie „unerbittlich“,
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GW VIII/25–28. Winkler: „Der schäbige Winkelzug“. Vgl. Römer: „Andersch abgehört“, S. 580–589. Wehdeking, Volker: Alfred Andersch. Stuttgart 1983. Und ders.: Anfänge westdeutscher Nachkriegsliteratur. Aachen 1989. Vgl. Römer: „Andersch abgehört“, S. 585.
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„tückisch“, „bösartig.“67 Da ist, mit Verlaub, nichts in der Absicht „wegretuschiert“ worden, um Gebhard Himmler, Anderschs Oberstudiendirektor im Münchner Wittelsbacher Gymnasium, besonders schlecht aussehen zu lassen. Auch Willi Winkler kopiert dieses Missverständnis, indem er befindet: In „Vater eines Mörders“ beschreibe Andersch einen „Kleinstadttyrannen, der gar nicht anders konnte, als den späteren Reichsführer SS zu zeugen.“ Gebhard Himmler „mutiere“ in der Erzählung „zu einem gebildeten Sadisten, der den jungen Andersch vorführt und dann durchfallen lässt. Das entsprach zwar nicht den Tatsachen, doch gewann der Schriftsteller wieder einmal die moralische Oberhand.“68 Also, bitte. Andersch macht vielmehr Gebrauch von seiner dichterischen Freiheit. Den Zusammenprall von Pauker und Pennäler hat Andersch ja nicht als dokumentarische Rekonstruktion einer tatsächlich erlebten GriechischStunde angelegt, wie auch Anderschs ehemaliger Banknachbar Otto Gritschneder fälschlich vermutete. Ob der Rex nett oder bösartig ist, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Denn im Zentrum dieser psychologisch glaubwürdig erzählten Schulgeschichte von den Ängsten und vom Versagen eines schlechten Schülers und eines Schulgottes steht die komplexe und eben zum ständigen Nachdenken ermunternde Frage: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts? Die Frage ist geeignet, einen in Verzweiflung zu stürzen.“69 Um Umwandlung von Mitschuld in Schuldfreiheit geht es auch nicht in dem Roman Winterspelt, sondern um den Versuch einer Korrektur der Geschichte – hier des Krieges. Das wird in dem komplexen und jetzt wieder aktuellen Roman durchgespielt als „Möglichkeit“. Bestätigt wird das vorangestellte Faulkner-Wort: „Das Vergangene ist nie tot; es ist nicht einmal vergangen.“70 Wie wahr das ist, zeigt in der Bundesrepublik die Entwicklung nach Anderschs Tod im Jahre 1980 vom „Nie wieder Krieg“ über die von Rot-Grün in Gang gebrachte Enttabuisierung des Militärischen bis zum „Wieder Krieg“. Krieg, staatlicherseits sanktionierter Massenmord: ist da wirklich nichts vor? Zum Beispiel der Gedanke und die ehrenwerte Anstrengung: So kann es doch wirklich nicht gehen. Oder doch wirklich schon wieder: Dulce et decorum est pro patria mori? Pro patria mori auch für „Handelswege und Rohstoffquellen“, wie im Widerspruch zu Verfassung und Grundgesetz zuerst Bundespräsident Köhler und nach dessen daraufhin erfolgtem Rücktritt windschlüpfrig Ex-Verteidigungsminister Guttenberg erneut – diesmal folgenlos – verlauten ließ?
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Ebd., S. 572. Winkler: „Der schäbige Winkelzug“. GW V/299. GW III/9.
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Wo Krieg wieder zur Option geworden ist, wird zurückgegriffen auf den alten Haudegen, die Kampfmaschine Ernst Jünger, den Rambo von gestern. Auch in Marbachs Literaturmuseum der Moderne. Auf die Frage in der Rhein-Neckar-Zeitung vom 5. November 2010, ob Jüngers Faszination für Krieg und massenhaftem Tod im Krieg denn überhaupt aktuell und modern genannt werden könne, antwortet der Editor von Jüngers Kriegstagebüchern Helmuth Kiesel seltsam blasiert: „Todesfaszination oder Faszination durch potentiell tödliche Gefahren würde ich als Thema nicht unterschätzen. Niemand würde sich dazu öffentlich bekennen. Ich nehme aber an, daß diese Faszination in der Gesellschaft weiter vorhanden ist und dann auch ihre literarische Reflexion braucht.“71 Also, so der Germanist Kiesel: Krieg als Faszination für den Tod ist schon wieder „vorhanden“, deshalb ist Jüngers ausführliche Beschreibung der Todesfaszination, Kiesels Seminar-Deutsch lautet: „literarische Reflexion“, wieder aktuell. Die Gesellschaft „brauche“ sie. Braucht sie sie wirklich? Ist solcher akademischer Opportunismus wirklich kein intellektueller Verrat? Der kernige Gottfried Benn im Brief an Oelze über Jüngers Strahlungen: „charakterlich unbedeutend [...] nirgends Haltung [...] Verwölbung und Blähung“.72 Oder mit Alfred Andersch, einem, im Unterschied zu Ernst Jünger, wirklichen Autor der Moderne, sei immer wieder die Frage gestellt: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ Das ist im Sinne Brechts die Aufforderung, Fragen zu stellen und über sie immer wieder nachzudenken.
Nachtrag Ein Missverständnis der Lektüre von Andersch-Texten besteht, wenn ein autobiografischer, aber doch zu wesentlichen Teilen auch fiktionaler Text wie Die Kirschen der Freiheit (1952) „wie ein Geschichtsbuch“ (so der Historiker Rolf Seubert) gelesen wird. Zwar ist es erforderlich, die beschriebenen „Fakten“ mit denen zu vergleichen, die in einschlägigen Geschichtsbüchern überliefert sind, damit aber ist keineswegs alles gesagt. Mitzulesen sind auch der metaphorische Subtext, die Intention des Autors, seine Auseinandersetzung wie in diesem Falle mit totalitärer Ideologie und das auf Sartre zurückgehende existenzphilosophische Selbstfindungsvokabular sowie die übergreifende Erzählperspektive der Jahre
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Rhein-Neckar-Zeitung vom 5. November 2010. Gottfried Benn an F.W. Oelze, Brief vom 7. Januar 1948. In: Gottfried Benn – Ernst Jünger. Briefwechsel 1949–1956. Hg., komm. und mit einem Nachwort von Holger Hof. Stuttgart 2006, S. 143.
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1951/52, einer Zeit, in der Andersch sich zur Wehr setzt gegen die Wiederbewaffnung. Dieser Subtext ist ein wesentlicher Bestandteil des ‚Arrangements‘ der Authentizität der Kirschen der Freiheit, ihrer Wahrheit. Die Haltung des Erzählers, der Sinn der Worte, das legitime ‚Verfahren‘ der Verdichtung und Assoziation bleiben andernfalls unverstanden. Grotesk ist es, wenn dem Andersch der Nachkriegsjahre unterstellt wird, er habe sich in der Dachaupassage der Kirschen der „Stereotypen aus der antisemitischen Vorratskammer“73 bedient. Das Gegenteil ist der Fall. Volker Breidecker wiederholt auch Seuberts unbegründete Behauptung, es habe sich kein „Beleg“ dafür gefunden, dass Andersch „Spitzenfunktionär im Jugendverband der KPD gewesen“ sei „sowie für die angeblich dreimonatige Inhaftierung in Dachau.“74 Zeugenaussagen, die ich zugänglich gemacht habe und die das Gegenteil beweisen, wurden ignoriert – Aussagen unter anderem der damaligen Mitglieder von Anderschs KJVGruppe München-Nordwest Adelheid Ließmann und Otto Kohlhofer sowie des KPD-Funktionärs und späteren Publizisten Artur Müller, der erklärte: „Er lag“ – im KZ Dachau – „ein Bett über mir, ich also im Parterre, er im ersten Stock“.75
Literatur Andersch, Alfred: „einmal wirklich leben“. Ein Tagebuch in Briefen an Hedwig Andersch 1943–1975. Hg. v. Winfried Stephan. Zürich 1986. Anderson, Mark M.: „Wo die Schrecken der Kindheit verborgen sind. W.G. Sebalds Dilemma der zwei Väter. Biografische Skizzen zu einem Portrait des Dichters als junger Mann“. In: Literaturen 7/8 (2006), S. 32–39. Bajohr, Frank u. Michael Wildt: Volksgemeinschaft. Frankfurt / M. 2009. Breidecker, Volker: „Hinsehen und Wegschauen. W.G. Sebald und Alfred Andersch. Eine Frankfurter Tagung über den Opportunismus in der Literatur“. In: Süddeutsche Zeitung vom 23. November 2010. Conze, Eckart u.a.: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München 2010. Döring, Jörg u. Rolf Seubert: „‚Entlassen aus der Wehrmacht: 12.03.1941. Grund: ‚Jüdischer Mischling‘– laut Verfügung‘. Ein unbekanntes Dokument im Kontext der Andersch-SebaldDebatte“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 151 (2008), S. 171–184. Dunker, Axel: „Einführung: Alfred Anderschs essayistische Schriften“. In: Andersch, Alfred: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe. Bd. VIII. Hg. v. Dieter Lamping. Zürich 2004, S. 453–464.
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Breidecker, Volker: „Hinsehen und Wegschauen. W.G. Sebald und Alfred Andersch. Eine Frankfurter Tagung über den Opportunismus in der Literatur“. In: Süddeutsche Zeitung vom 23. November 2010. Ebd. Vgl. Reinhardt: Andersch, S. 45.
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Hanuschek, Sven: „‚Nicht alles in den Schüttelbecher tun und braune Soße drüber‘. Hier spricht die Tochter: Anette Korolnik-Andersch und ihr Mann Marcel Korolnik forschen über Andersch im Nationalsozialismus – ein Interview.“ In: Frankfurter Rundschau vom 27./28. September 2008. Histor, Manfred: Willy Brandts vergessene Opfer. Geschichte und Statistik der politisch motivierten Berufsverbote in Westdeutschland 1971–1988. Freiburg 1999. Hof, Holger (Hg.): Gottfried Benn – Ernst Jünger. Briefwechsel 1949–1956. Stuttgart 2006. Lamping, Dieter: „Die Darstellung von Juden in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Das Beispiel Alfred Andersch“. In: Argonautenschiff: Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin u. Mainz e.V. 6 (1997), S. 224–237. Mather, Ed: „‚Vielleicht ist unter allen Masken, aus denen man wählen kann, das Ich die beste‘. Über die Entstehung einer Legende auf der Grundlage einer Autobiografie: Alfred Anderschs Kirschen der Freiheit“. In: Neophilologus 84 (2000), S. 443–455. Raddatz, Fritz J.: „Wir werden weiterdichten, wenn alles in Scherben fällt...“. In: Die Zeit vom 12. Oktober 1979. Reinhardt, Stephan: Alfred Andersch. Eine Biographie. Zürich 1990. Römer, Felix: „Alfred Andersch abgehört. Kriegsgefangene „Anti-Nazis“ im amerikanischen Vernehmungslager Fort Hunt“. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 4 (2010), S. 563–598. Sebald, W.G.: „Between the devil and the deep blue sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden in der Vorsehung“. In: Lettre International 20 (1993), S. 80–84. – Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt / M. 1994. Tent, James F.: Im Schatten des Holocaust. Schicksale deutsch-jüdischer ‚Mischlinge‘ im Dritten Reich. Köln u.a. 2007. Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt – in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Anette Korolnik-Andersch. München 2008, S. 30–41. Wehdeking, Volker: Alfred Andersch. Stuttgart 1983. – Anfänge westdeutscher Nachkriegsliteratur. Aachen 1989. Williams, Rhys W.: „‚Geschichte berichtet, wie es gewesen. Erzählung spielt eine Möglichkeit durch‘. Alfred Andersch and the Jewish Experience“. In: Jews in German Literature since 1945: German-Jewish Literature? Hg. v. Pól O’Dochartaigh. Atlanta, Amsterdam 2000, S. 477–489. Winkler, Willi: „Der schäbige Winkelzug des großen Moralisten. W.G. Sebald stellte den Schriftsteller Alfred Andersch einst als Opportunisten dar. Nun gibt es Belege dafür, dass er mit seiner Kritik recht hatte.“ In: Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 2010.
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Andersch und Sebald: die Dekonstruktion einer Dekonstruktion In seinem vor kurzem erschienenen, faszinierenden Artikel1 über Alfred Andersch im amerikanischen Vernehmungslager Fort Hunt liefert Felix Römer zusätzliche Beweise dafür, dass Anderschs Berichte über sein Verhalten im Nationalsozialismus nicht immer der Wahrheit entsprachen – was unter den ungewöhnlichen Umständen wohl verständlich ist. So übertreibt Andersch etwa bei der Länge seiner Dachauer Haft und verwandelt seine kommunistische Tätigkeit in eine sozialdemokratische. In der Besprechung von Römers Aufsatz in der Süddeutschen Zeitung am 18. Oktober 2010 legte Willi Winkler weniger Nachdruck auf die neu entdeckten Protokolle selbst als auf die Behauptung, dass Römer hier einen eindeutigen Beweis für die Triftigkeit von Sebalds Andersch-Kritik beibringe. Der polemische Titel von Winklers Besprechung, ‚Der schäbige Winkelzug des großen Moralisten’, geht auf ein Sebald-Zitat zurück. Auch nach 20 Jahren bleibt Sebald anscheinend der moralische Maßstab, an dem Andersch zu messen ist. In meinem Beitrag werde ich die Sebald-Andersch-Kontroverse noch einmal aufgreifen, Sebalds Argumentation genauer überprüfen und über seine mögliche Motivation reflektieren. Es besteht kein Zweifel, dass W.G. Sebalds unbeherrschter Angriff dem literarischen Ruf Alfred Anderschs großen Schaden zufügte. In einem gewissen Sinn war Andersch Opfer eines unglücklichen Umstandes. Als Sebalds Aufsatz2 1993 in der Zeitschrift Lettre erschien, war Sebald relativ unbekannt. Er hatte bis kurz vorher erst zwei literarische Werke veröffentlicht: Nach der Natur (1988) und Schwindel. Gefühle (1990), beide im Eichborn Verlag Frankfurt. Diese Werke blieben ohne große Resonanz. 1992 erschienen Die Ausgewanderten im selben Verlag. Bis 1993, als der
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Römer, Felix: „Alfred Andersch abgehört. Kriegsgefangene ‚Anti-Nazis‘ im amerikanischen Vernehmungslager Fort Hunt.“ In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58 (2010), S. 563–598. Besonders interessant sind Anderschs Gedanken über den deutschen Widerstand, die mit dem späteren Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung konform gehen. Sebald, W.G.: „Between the devil and the deep blue sea. Das Verschwinden in der Vorsehung. Alfred Andersch“. In: Lettre International 20 (1993), S. 80ff. Für die Antwort Stephan Reinhardts siehe Lettre International 21 (1993), S. 90.
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Andersch-Aufsatz veröffentlicht wurde, war noch kein Werk im FischerVerlag erschienen, geschweige denn als Taschenbuch. Als jedoch der Andersch-Aufsatz in Sebalds Luftkrieg und Literatur (1999) aufgenommen wurde, und noch wichtiger, als im Jahre 2001 die Taschenbuchausgabe dieser Veröffentlichung erschien, hatte Sebald große Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, und die kritische Resonanz war enorm. Das Erscheinen von Austerlitz 2001 war eine literarische Sensation und führte zu einem Autorenkult, der sich nach Sebalds frühem Tod im Dezember 2001 nur noch vermehrte. Die Tatsache, dass Sebald trotz seiner allseits bewunderten Sensibilität für das jüdische Schicksal vom Exil und Holocaust und trotz seines oft gelobten Feingefühls Andersch mit solch unverhohlener Aggression und Vehemenz angriff, legte den Schluss nah, dass Andersch als Schriftsteller und als Person eine solche Diffamierung in der Tat verdiente. Stephan Reinhardt schrieb seinerseits von Sebalds „Selbstgerechtigkeit, Unfairneß und Ressentiment“3, ließ aber die Frage offen, warum sich Sebald zu einem Angriff von solcher Unbändigkeit gezwungen fühlte. Nur einmal vorher hatte Sebald solche Wut und Entrüstung gezeigt: in seiner Magisterarbeit, die als Carl Sternheim: Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära (1969) erschien, identifizierte der Fünfundzwanzigjährige Sternheims „mißlungene Assimilation“ und behauptete, dass Sternheim die eigene jüdische Herkunft am besten verleugnen könne, indem er Züge von Antisemitismus vorzeige. Kurz gefasst, für Sebald war Sternheim nicht jüdisch genug. Schon am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere sah sich Sebald in jüdischen Angelegenheiten als besondere Autorität. Rezeptionsästhetische Interpretationen neigen dazu, mehr Licht auf den Rezipierenden als auf den Gegenstand der Rezeption zu werfen, und Sebalds Andersch-Interpretation bildet keine Ausnahme. Es liegt nicht auf der Hand, warum Sebald beschloss, den Andersch-Aufsatz noch einmal in den Band Luftkrieg und Literatur aufzunehmen. Vielleicht spielten verlagspolitische Überlegungen eine Rolle: die Kontroverse der Lettre-Veröffentlichung sorgte für Umsatz, und der relativ kurze Aufsatz Luftkrieg und Literatur war vielleicht ohne den zusätzlichen Andersch-Aufsatz für eine selbstständige Publikation von zu geringem Umfang. Was auch der Grund gewesen sein mag, die Nebeneinanderstellung der beiden Aufsätze bietet eine neue Möglichkeit, den Angriff auf Andersch zu kontextualisieren. Der Aufsatz Luftkrieg und Literatur thematisiert ein kollektives Versagen auf Seiten der deutschen Bevölkerung, den Luftkrieg und die Zerstörung der deutschen Städte innerlich zu verarbeiten. Diese Unterlassung ist Sebalds Ansicht nach Bestandteil eines tiefer liegenden typisch deutschen Unbehagens: „Trotz der angestrengten Bemühung um die sogenannte
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Ebd.
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Bewältigung der Vergangenheit scheint es mir, als seien wir Deutsche heute ein auffallend geschichtsblindes und traditionsloses Volk. Ein passioniertes Interesse an unseren früheren Lebensformen und den Spezifika der eigenen Zivilisation, wie es etwa in der Kultur Großbritanniens überall spürbar ist, kennen wir nicht.“4 Ob es wirklich so etwas gibt wie einen speziell britischen Sinn für Geschichte, sei fürs erste dahingestellt, aber Sebald mit seinem leidenschaftlichen Interesse für englische Landhäuser und für das wunderschöne Pfarrhaus, in dem er selber wohnte, scheint davon überzeugt zu sein. Anderschs „Adjustierung des Lebenslaufs durch diskrete Auslassungen und andere Korrekturen“ (LL, 7) verkörpert für Sebald die „Unfähigkeit einer ganzen Generation deutscher Autoren, das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis“ (LL, 7). Implizit in dieser exklusiven Theorie ist die Überzeugung Sebalds, dass er persönlich durch seine jahrelange Erfahrung vom britischen Leben „ein passioniertes Interesse an früheren Lebensformen und den Spezifika der eigenen Zivilisation“ entwickelt habe, ein Interesse, das deutschen Autoren vorenthalten bleibe. Er gehöre also zu den wenigen, die sowohl die brutalen Wirklichkeiten des Bombenkriegs furchtlos ins Auge fassen, als auch die Unfähigkeit einer ganzen Generation von deutschen Schriftstellern diagnostizieren können. Hier soll Andersch der Unbescheidene sein!? Sebalds Angriff auf Andersch entpuppt sich als weniger zentral für seine Kritik als man auf den ersten Blick denkt. Er ist bloß eine Begleiterscheinung, ‚collateral damage‘ sozusagen, in Sebalds Bombardierung einer ganzen Generation von deutschen Schriftstellern insbesondere (und der Deutschen im allgemeinen), weil sie den erforderlichen Sinn für Geschichte nicht vorweisen können. Der Aufsatz Luftkrieg und Literatur ist ein wichtiges Dokument, da er sowohl Sebalds kritische Methodologie verkörpert, als auch implizit und ex negativo ein Modell für Sebalds eigenes schöpferisches Werk bietet. Sebalds Ausgangspunkt ist, dass das schiere Ausmaß der von den Alliierten angezettelten Zerstörung eine ganze Generation von Deutschen so traumatisierte, „daß sie kaum ein Auge zu haben schien für die allerorten sichtbaren Schrecken der Zeit“ (LL, 17). Er identifiziert „eine individuelle und kollektive Amnesie“ (LL, 17), „das über die äußere und innere Zerstörung verhängte Tabu“ (LL, 18), „einen perfekt funktionierenden Mechanismus der Verdrängung“ (LL, 19), „eine unausgesprochene Tabuisierung“ (LL, 41). Sebalds Argumentation ist nicht besonders konsequent: er verwischt die Unterschiede zwischen der Unmöglichkeit der Überlebenden, den Schock des Erlebten zu artikulieren (Trauma) und der Weige-
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Sebald: Luftkrieg und Literatur, S. 6. (= LL, 6). Zitate aus Austerlitz beziehen sich auf Sebald, W.G.: Austerlitz. Frankfurt / M. 2003 (= A).
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rung von Schriftstellern, den Bombenkrieg literarisch zu thematisieren (Tabu). Es ist bemerkenswert, dass Sebalds literarische Werke gleichermaßen den Unterschied zwischen dem Erlebnis des Leidens und der Fähigkeit, das Leiden literarisch zum Ausdruck zu bringen, verwischen. Kein deutscher Autor mit Ausnahme von Nossack, insistiert Sebald, beschreibt nüchtern und detailliert die Folgen dieses verheerenden Luftkriegs. Nossack wird von Sebald deswegen gelobt, weil sein Bericht über die Zerstörung Hamburgs „Konkretes zu Papier bringt“ (LL, 37), weil er „das, was er tatsächlich gesehen hatte, in möglichst unverbrämter Form“ (LL, 57) niederschrieb. Die Tatsache, dass Nossack die Zerstörung mythisiert, entpolitisiert und enthistorisiert, wird von Sebald nicht kommentiert, vielleicht weil seine eigenen Beschreibungen des Kriegs und des Holocaust ähnliche Tendenzen aufweisen. Paradoxerweise attackiert Sebald Kasacks Die Stadt hinter dem Strom, Peter de Mendelsohns unveröffentlichten Roman Die Kathedrale, sowie Arno Schmidts Aus dem Leben eines Fauns, gerade weil sie die brutalen Fakten entweder mythologisieren (de Mendelsohn und Kasack), oder in unpassender Sprache wiedergeben (Schmidt). Erst 1977 mit Alexander Kluges Bericht über die Bombardierung von Halberstadt wird das Thema Bombenkrieg für Sebald adäquat behandelt, nicht zuletzt weil Kluge im Sebaldschen Sinn aus authentischen zeitgenössischen Quellen schöpft und in seinem Text authentisches Bildmaterial verwendet, nämlich ein Kinoplakat für den Film Heimkehr, das Sebald in seinem Aufsatz ohne Quellenangabe wiedergibt.5 Kluge demonstriert darüber hinaus, dass der damalige Entwicklungsstand der Rüstungsindustrie die Verwendung solchen Zerstörungspotentials unvermeidlich machte, eine Ansicht, die Sebald teilt und die mit seinen eigenen pessimistischen Zerstörungstheorien im Einklang steht. Sebald verachtete die Nachkriegsgeneration von Schriftstellern, wie aus einem Gespräch mit Sigrid Löffler deutlich hervorgeht: [Es] hat mich immer gewundert, mit welcher Perfektion diese Generation imstande war, den Holocaust aus ihrem Gedächtnis zu eliminieren. Das stimmt auch für die Autoren der Nachkriegsliteratur. Schriftsteller wie Böll oder Andersch waren ja auch Zeugen, haben sich in ihren Büchern aber nie richtig darauf eingelassen.6
Was hier zählt, ist nicht die Frage, ob Böll oder Andersch den Bombenkrieg oder den Holocaust in ihren Werken erwähnen, sondern wie sie diese Ereignisse literarisch behandeln. Wenn sie diese Themen überhaupt nicht erwähnen, dann sind sie schuldig; wenn sie sie trotzdem erwähnen,
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Vgl. Kluge, Alexander: Neue Geschichten. Hefte 1–18: Unheimlichkeit der Zeit. Frankfurt / M. 1977, S. 34; Sebald: LL, S. 68. Löffler, Sigrid: „‚Wildes Denken‘. Gespräch mit W.G. Sebald.“ In: W.G. Sebald. Hg. v. Franz Loquai. Eggingen 1997, S. 135–144, hier: S. 135.
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ohne aber auf authentische zeitgenössische Quellen zu rekurrieren oder sie mit dokumentarischer oder forensischer Präzision zu behandeln, sind sie schuldig; wenn sie die Themen auch präzise und nüchtern beschreiben, sie aber nicht mit den in der Industrialisierung innewohnenden Zerstörungsprozessen verbinden, dann demonstrieren sie eine schuldhafte Amnesie oder sind Opfer eines herrschenden Tabus. Man könnte argumentieren, dass die ganze Kategorie der ‚Trümmerliteratur‘, wie sie der frühe Böll oder Wolfdietrich Schnurre verkörpern, oder der Krieg, wie er etwa in Arno Schmidts Leviathan dargestellt wird, sogar die Erwähnung des Holocaust in Anderschs Efraim Sebalds pauschales Urteil wenigstens in Frage stellen würden. Er würde jedoch wahrscheinlich triumphierend entgegnen, dass diese Autoren die Themen nicht ‚richtig‘ behandelten. Interessanterweise geht Sebald auf den kulturpolitischen Kontext im Nachkriegsdeutschland nicht ein: den Alliierten in den westlichen Zonen war es sicherlich wenig willkommen, wenn die Deutschen sich zu intensiv mit dem Luftkrieg beschäftigten.7 Luftkrieg und Literatur liefert so viele Beispiele, wie die Bombardierung falsch dargestellt wird, dass Sebald fast seine eigene These unterminiert, dass das Thema tabuisiert war. Im dritten Teil seines Aufsatzes betont er, dass er seine Kindheit und Jugend in Wertach „in einer von den unmittelbaren Auswirkungen der so genannten Kampfhandlungen weitgehend verschonten Gegend“ (LL, 76) verbrachte, und auch, dass er bei Kriegsende erst ein Jahr alt war. Erst seine spätere Lektüre und seine Europareisen erinnern ihn daran, dass seine Geburt und früheste Kindheit mit dem Bombenkrieg und dem Holocaust zeitlich zusammenfielen. 1952 zog seine Familie nach Sonthofen um, wo er Trümmer von Bombenangriffen vorfand, bei denen etwa einhundert zivile Opfer, unter ihnen eine Nonne namens Mater Sebalda, starben. Auch die Landschaft um Norwich bietet Verbindungen mit dem Luftkrieg: viele Flugfelder befanden sich in Norfolk, und bei einem Angriff auf Norwich stürzte ein Dornier der Luftwaffe „auf einen Acker unweit von meinem Haus“ (LL, 83). „Eines der vier Besatzungsmitglieder, die dabei ums Leben kamen, ein Oberleutnant Bollert hatte den selben Geburtstag wie ich und war vom gleichen Jahrgang wie mein Vater“ (LL, 84). Diese Erinnerungsstrategie ist offensichtlich: in der Phantasie beansprucht Sebald die Erfahrung von anderen, identifiziert sich zugleich mit Opfern und Tätern des Bombenkriegs. Während die schuldhafte Mehrheit der Deutschen sich bemühte, ihre Erinnerungen an die Vergangenheit zu verdrängen, bemühte sich Sebald, sich mit
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Siehe Wilms, Wilfried: „Taboo and Repression in W.G. Sebald’s On the Natural History of Destruction“. In: W.G. Sebald – A Critical Companion. Hg. v. J.J. Long u. Anne Whitehead. Edinburgh 2004, S. 175–189.
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einem Kriegserlebnis zu identifizieren, für das er eigentlich viel zu jung war. Für einen Autor, der das Authentische über alles preist, ist dieses Verfahren zumindest problematisch. Sebalds Aufsatz schließt mit einigen Bemerkungen zur Resonanz der Züricher Vorlesungen, auf denen der Aufsatz basiert. Die hohe Zahl der von Lesern eingesandten Kommentare zum Thema Luftkrieg scheint seine Verdrängungsthese zu widerlegen. Anstatt seine These zu modifizieren, kritisiert Sebald die vom Publikum eingeschickten Berichte aus stilistischen Gründen (sie sind weder realistisch noch forensisch) oder schreibt ihnen dubiose politische Motive zu. Alle Gegenargumente zur Verdrängungsthese werden ignoriert. Der Germanist Hans Dieter Schäfer, so erfahren wir, hatte vorgehabt, einen autobiografischen Text über seine Erlebnisse im Bombenkrieg zu verfassen; die Tatsache, dass dieser Text nicht vollendet wurde, bietet für Sebald einen weiteren Beweis, dass die Erinnerung entweder verdrängt oder als zu überwältigend befunden wurde, um artikuliert zu werden. Die Erwähnung Schäfers bietet Sebald eine Gelegenheit, dessen wissenschaftliche Aufsätze zum Mythos ‚Stunde Null‘ zu loben, gleichzeitig aber auch die absurde Behauptung aufrechtzuerhalten, dass Schäfers Studie Das gespaltene Bewußtsein8 „von der etablierten Germanistik kaum aufgenommen worden ist“ (LL, 96). In Wirklichkeit jedoch ist Schäfers Buch eine unerlässliche Lektüre für alle, die sich mit der deutschen Nachkriegsliteratur beschäftigen. Sebald darf den wahren Stand der Dinge nicht zugeben, da ein solches Zugeständnis seine eigene Verschwörungstheorie in Frage stellen würde, dass die ganze deutsche Germanistik eine unheilvolle Rolle in der Verdrängung unbequemer Fakten über Nachkriegsautoren spielt. Die Implikation hier ist, dass Sebald zu den ganz wenigen gehörte, die den Mut hatten, der nackten Wahrheit ins Auge zu sehen. Sebalds Selbststilisierung als furchtloser Kritiker einer Nachkriegsgeneration von Schriftstellern erklärt seinen Angriff auf Andersch, aber nicht den Grund, warum unter dieser ganzen Generation von Autoren, die die Wirklichkeit ihrer Erlebnisse im Nationalsozialismus verdrängten oder verleugneten, Andersch derjenige war, den die volle Wucht der Sebaldschen Kritik traf. Obwohl Stephan Reinhardt sofort energisch auf Sebalds Andersch-Aufsatz reagierte, lohnt es sich, den Aufsatz im Kontext von Sebalds eigenen inzwischen erschienenen literarischen Werken noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Sebald prangert Anderschs Eitelkeit und mangelnde Bescheidenheit an, obgleich die Belege (die Briefe an die Mutter und Hans Werner Richters eher zynische Ansichten in Im
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Schäfer, Hans Dieter: Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945. München 1981.
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Etablissement der Schmetterlinge9) ziemlich unbedeutend sind. Schriftsteller zeichnen sich im allgemeinen kaum durch ihre Bescheidenheit aus, und Sebalds Selbststilisierung als einzigartig in seiner furchtlosen Kritik der Nachkriegsgeneration von Schriftstellern ist nicht gerade zurückhaltend. Wenn Andersch in den Briefen an die Mutter seine Erfolge hervorhebt, dann spielt sicherlich die Tatsache eine Rolle, dass er ohne Abitur die Schule verlassen musste. Richters Urteil ist sowieso unzuverlässig, weil sein Buch darauf angelegt ist, in jedem Autor der Gruppe 47 eine schwerwiegende Charakterschwäche zu identifizieren. Was Sebald an Andersch irritiert, ist nicht seine Eitelkeit an sich, sondern die Tatsache, dass dieser Ehrgeiz „in auffälligem Widerspruch steht zur Idee des privaten und anonymen Heroismus, den er als innerer Emigrant mit Vorliebe in seinen Büchern propagiert“ (LL, 114). Die rätselhafte Anklage gegen Andersch lautet wie folgt: er erfinde Hauptfiguren, die andere Charaktereigenschaften zeigen als er selbst, Figuren, die die eigenen Charakterschwächen kompensieren. Es folgt in dieser kuriosen Logik, dass Sebald sich zufrieden gegeben hätte, wenn Andersch bloß ehrgeizige, mit der eigenen Person übereinstimmende Helden geschaffen hätte. Auch wenn wir uns bereit erklären zuzugeben, dass Andersch tatsächlich ehrgeizig war, befinden wir uns mit einer höchst fragwürdigen Romantheorie konfrontiert, nämlich, dass ein Text so genau wie möglich durch die Hauptfigur die Charaktereigenschaften des Autors widerspiegeln müsse. Während Literaturtheoretiker einer solchen reduktiven (auto)biografischen Interpretation äußerst skeptisch gegenüberstehen würden, entspricht dieser theoretische Ansatz ziemlich genau Sebalds eigener literarischer Praxis. Eine Romanfigur namens ‚Sebald‘, dessen Lebenslauf erstaunliche Ähnlichkeiten (ein Germanistikdozent, der in Norwich lebt) mit Sebalds eigener Biografie aufweist, und der noch dazu die melancholischen Charaktereigenschaften des Autors teilt, taucht im Text auf und berichtet über die eigenen Erlebnisse und Meinungen, sowie von denen anderer Figuren, denen er im Laufe des Textes begegnet. Andersch wird an einem für Sebald spezifischen Maßstab gemessen, und es nimmt nicht wunder, dass er diese Probe nicht besteht. Sebalds Andersch-Aufsatz beschreibt die unterschiedliche Rezeption, die Anderschs Romane erhielten, interpretiert diese Romane als „Symptome einer tieferliegenden malaise“ (LL, 118) und beschuldigt die Germanistik „über die doch recht augenfällige Kompromittiertheit Anderschs und über die Auswirkungen solcher Kompromittiertheit auf die Literatur“ (LL, 118) nicht nachgedacht zu haben. Wiederum sieht man die Tendenz
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Richter, Hans Werner: Im Etablissement der Schmetterlinge. 21 Portraits aus der Gruppe 47. Berlin 2004, S. 28–44.
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Sebalds, seine Urteile zu übertreiben (er ignoriert diejenigen Kritiker, die tatsächlich Anderschs ‚Kompromittiertheit‘ ins Auge gefasst haben) und die Literatur autobiografisch zu interpretieren. Sebalds Skizze von Anderschs Leben im Nationalsozialismus zielt darauf ab, die Kompromisse zu betonen. Jedesmal wird die schlimmste Interpretation zugelassen. Sebald notiert zum Beispiel, dass Andersch in der Verlagsbuchhandlung J.F. Lehmanns arbeitete, die vor allem völkische Politik, Rassenkunde und Rassenhygiene vertrat. Er stellt Anderschs Wahl, in dieser Buchhandlung zu arbeiten, als Zeichen seiner moralischen Kompromittiertheit dar. Was Sebald nicht erwähnt, ist die Tatsache, dass es Andersch nach seiner glücklichlicherweise sehr kurzen Haft in Dachau und ohne Abitur sehr schwerfiel, überhaupt Arbeit zu finden. Nirgendwo erwähnt Sebald, dass Andersch die Entlassung aus Dachau sowie die Stellung bei J.F. Lehmanns den rechtsextremen Beziehungen des verstorbenen Vaters verdankte. Nie erwähnt Sebald Alfred Andersch senior, Mitbegründer der Deutschen Arbeiter-Partei, deren Mitglied Nr. 555 Adolf Hitler war. Offensichtlich versucht Sebald, die rechtsradikalen Beziehungen der Familie herunterzuspielen, um Anderschs späte Anpassung an den Nationalsozialismus als verwerflicher erscheinen zu lassen. Es trifft zu, dass sich Andersch in den späten 30er Jahren an die herrschenden Verhältnisse anpasste, wie er ganz offen in den Kirschen der Freiheit zugibt. Aber Sebalds Behauptung, dass Andersch – in Anbetracht seiner Liebe zur Natur – doch eher in einer Gärtnerei als bei Lehmann eine Anstellung hätte finden können, ist eine billige Bemerkung, die einen komplexen und schwierigen Prozess der Angleichung trivialisiert. Der französische Historiker Philippe Burrin erforscht in seiner Studie La France à l’heure allemande. 1940–1944 verschiedene Verhaltensmuster in Frankreich unter der deutschen Besatzung. Für Burrin war die collaboration ein Pol in einem Kontinuum der Angleichung, dessen Gegenpol der Widerstand war. Die große Mehrheit der Franzosen und Französinnen befand sich irgendwo in diesem Kontinuum, wobei ihre genaue Position durch ihre spezifischen Umstände in persönlicher, politischer, sozialer oder wirtschaftlicher Hinsicht bestimmt war. Ihre Position änderte sich auch mit der Zeit, ihr Verhalten hing von historischen Ereignissen und Alltagserlebnissen ab. Für Burrin: Le passé immédiat se reconstruisait insensiblement, de sorte que, au bout du chemin, il était naturel de penser qu’il y avait eu des choix évidents et contraignants dès le départ.10 [Die unmittelbare Vergangenheit wurde unbewusst so rekonstruiert, dass es am Ende des Prozesses natürlich so aussah, als hätte man von Anfang an eine klare und verbindliche Wahl treffen können. Übers. aus dem Frz. ins Dt.: Rhys W. Williams]
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Burrin, Philippe: La France à l’heure allemande. 1940–1944. Paris 1995, S. 10.
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Ein ähnliches Spektrum der Angleichung, die sich auf einer Skala befindet, die von begeistertem Engagement für den Nationalsozialismus bis zu aktivem Widerstand führt, lässt sich in Deutschland unter der Diktatur feststellen, und auch hier ändert sich die Position mit der Zeit. Was man besonders erfrischend im Falle Anderschs findet, ist seine Bereitschaft, die sich verändernden Konstellationen der Angleichung offen zuzugeben und die anderen von ihm nicht ergriffenen Möglichkeiten in seinen Texten durchzuspielen. Sebald, dessen Vater nicht Mitbegründer der DAP war, der nicht wegen seiner kommunistischen Tätigkeit in Dachau interniert war, der nicht nach den Nürnberger Gesetzen mit einer ‚Halbjüdin‘ verheiratet war, der nicht an der italienischen Front eingesetzt war und der nicht Kriegsgefangener war, hat es leicht, moralische Urteile zu fällen. Sebald hat selbstverständlich recht, wenn er die Widersprüche und Ungenauigkeiten in Anderschs Berichten hervorhebt. Anderschs Desertion an der italienischen Front war ein durchaus verständlicher Akt der Selbsterhaltung und weder ein Beispiel des Widerstands noch ein verspäteter Wunsch ins Exil zu gehen, obgleich Andersch sein Überlaufen gelegentlich als beides darstellt.11 Anderschs Opportunismus, der in den häufigen Adjustierungen seines Lebenslaufs zum Vorschein kommt, ist verständlich, aber nicht leicht zu rechtfertigen. In seinem Antrag an die Reichsschrifttumskammer am 16. Februar 1943 betont er seine militärische Karriere und verschweigt seine kommunistische Jugend, seine Haft in Dachau und seine Ehe mit einer ‚Halbjüdin‘; in seinem Brief an die amerikanischen Behörden in Camp Ruston am 8. Oktober 1944 dagegen betont und übertreibt er die Dachauer Haft und die Auswirkungen seiner Ehe. Dank des detaillierten Berichtes von Johannes Tuchel über Andersch im Nationalsozialismus wissen wir, dass er die Ehe mit einer ‚Halbjüdin‘ ausnützte, um seine Entlassung aus der Wehrmacht 1941 zu bewerkstelligen, und dass die Scheidung am 6. März 1943 eine unmittelbare Wiedereinberufung bedeutete. Im Gegensatz zu Sebalds moralisierender Schmähschrift kommt Tuchels sorgfältig recherchierter, umsichtiger Aufsatz zu dem Schluss, dass Andersch zumindest manche Fakten verändert hat, um sich selbst positiver darzustellen, anderes hat er weggelassen oder geschönt. Aber auch darin unterscheidet sich Alfred Andersch nicht von vielen anderen Deutschen nach 1945, und auch nicht von vielen Schriftstellern, die in postdiktatorischen Systemen ihr Verhalten unter den Bedingungen der Diktatur dargestellt oder reflektiert haben.12
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Interessanterweise wird Sebalds Entscheidung, in England zu arbeiten, manchmal irrtümlich als Exil bezeichnet. Siehe Finke, Susanne: „W.G. Sebald – der fünfte Ausgewanderte“. In: Loquai (Hg.): W.G. Sebald, S. 214–227. 12 Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Annette Korolnik-Andersch. München 2008, S. 30–41, hier S. 40f.
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Sebald setzt sich vor allem mit Anderschs Darstellung jüdischer Figuren in den Romanen kritisch auseinander. Dabei kommt immer wider zum Vorschein, dass er die Literatur als „ein Stück umgeschriebene Lebensgeschichte“ (LL, 133) betrachtet. Über Sansibar notiert er selbstbewusst: „Das zentrale Paar (Gregor und Judith) in der Figurenkonstellation des Texts entspricht zweifellos dem realen Paar Alfred Andersch und Angelika Albert“ (LL, 133). Was Die Rote angeht, ist er entsetzt, dass „Auschwitz zitiert wird als eine Art Hintergrundstaffage“ (LL, 139), und es ist nicht verwunderlich, dass er Efraim einer besonders kritischen Analyse unterzieht. In der fragwürdigen Annahme, dass Andersch durch die Romanfigur Keir Horne seinen eigenen Verrat an einer ‚halbjüdischen‘ Tochter darstellen will, ist Sebald entsetzt, dass „zwischen der Erzählfigur Keir Horne und dem Autor Alfred Andersch es [...] keinerlei identifikatorische Verbindung (gibt)“ (LL, 140). Es fällt Sebald einfach nicht ein, dass Anderschs literarische Strategie eine andere sein könnte, oder dass Schriftsteller Romanfiguren erfinden könnten, mit denen sie sich nicht identifizieren. Vor allem aber ärgert sich Sebald, dass Efraims Aufzeichnungen in deutscher Sprache verfasst sind, obwohl Efraims Alltagssprache Englisch ist. Sebald entdeckt keine Belege dafür, dass Efraims Wiederentdeckung der Muttersprache, „das schwierige und schmerzhafte archäologische Unternehmen“ (so Sebald), in der Sprache des Romans zum Ausdruck kommt. Letztendlich, was jüdische Angelegenheiten betrifft, notiert Sebald, dass Andersch „den Basler Experten für Judentum Dr. Ernst Ludwig Ehrlich um bezahlte Durchsicht der jüdischen Romanteile“ bat. Daß solcher Mühewaltung zum Trotz jüdische Leser, und nicht nur ReichRanicki, sondern auch Anderschs langjähriger Bekannter Edmund Wolf in London, von einem Juden in Efraim nichts entdecken konnten, nimmt mich ebensowenig wunder wie die von Reinhardt übermittelte Nachricht, daß Andersch eingeschnappt gewesen ist, als Edmund Wolf in diesem Sinne an ihn schrieb. (LL, 143)
Sebald stellt frohlockend fest, dass das Jüdische an Efraim unüberzeugend wirkt. Mit seinem Roman Efraim besetzte Andersch das Thema vom jüdischen Exil in England, das Sebalds Hauptanliegen werden sollte. Andersch hätte nicht im entfernsten daran denken können, dass er einem Schriftsteller einer späteren Generation deshalb im Wege stehen sollte. Vielleicht erklärt diese Tatsache die Vehemenz und Einseitigkeit von Sebalds Andersch-Aufsatz. Die thematischen Ähnlichkeiten, wie man sie vor allem in den Ausgewanderten und Austerlitz vorfindet, deuten darauf hin, dass Sebald sozusagen einen Konkurrenten auszuschalten und für sich selber einen literarischen Raum zu schaffen versuchte. Sebalds literarische Kriterien sind sehr spezifisch: Er verlangt Authentizität und Identifikation
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(deren Abwesenheit er bei Andersch bemängelt). Sebald deutet zu Recht auf einige problematische Elemente in Anderschs Behandlung des Themenkomplexes hin, scheint aber die eigene Problematik nicht bemerkt zu haben. Seine ständige Suche nach Authentizität führt ihn dazu, das Leben von anderen für seine literarische Zwecke auszubeuten und eine Art ‚Identitätsraub‘ zu verüben: in den Ausgewanderten, zum Beispiel, benutzt Sebald als Vorlage für einen der vier Emigranten, den Maler Max Aurach, zum Teil den Londoner Künstler Frank Auerbach und reproduziert in der deutschen Ausgabe Abbildungen von einigen Gemälden Auerbachs. Als Auerbach darauf aufmerksam gemacht wurde, verweigerte er seine Erlaubnis, die Abbildungen in der englischen Ausgabe zu verwenden. Sebald musste den Namen der Figur von Max Aurach in Max Ferber verändern. Daraufhin erklärte Sebald dem Guardian „I withdraw if I get any sense of the person’s discomfort.“13 Interessanterweise wird der Prozess der Identifikation durch die Verwendung des Vornamens Max (den Sebald für sich selbst in Anspruch nahm) vollendet. Ohne Auerbachs Einwände wäre Sebald wohl nie auf die Idee gekommen, dass jemand an der Verwendung seiner Lebensgeschichte für literarische Zwecke Anstoß nehmen könne. Ähnliche Beispiele tauchen in Austerlitz auf. Denselben Prinzipien der Identifikation und der Authentizität nach ist der Ich-Erzähler als Max Sebald zu identifizieren, der als Germanistikdozent in East Anglia arbeitet. Sebald begegnet Austerlitz, der ihm seine Lebensgeschichte erzählt und auch Berichte von anderen Romanfiguren an den Erzähler weitergibt. Wer auch die Information liefert, es wird alles in die charakteristische Sprache und in den Tonfall Sebalds übersetzt, eine Stimme, die Thomas Bernhard und Robert Walser viel verdankt. Bezeichnenderweise konzentrierte sich Sebalds wissenschaftliche Arbeit auch auf die Literatur Österreichs und der Schweiz; die bundesdeutsche Literatur interessierte ihn weniger. Vielleicht handelt es sich hier um ein weiteres Tabu, das aber kommentarlos bleibt. Gerade weil die erzählerische Stimme immer die gleiche ist, signalisiert Sebald den jeweiligen Berichterstatter durch interpolierte Hinweise im Text: „sagte mir Gerald, sagte Austerlitz“ (A, 117), „sagte Ashman, sagte Austerlitz“ (A, 156), „sagte Gerald, sagte Austerlitz“ (A, 168), „so erinnerte sich Věra, sagte Austerlitz“ (A, 245), „sagte Věra, berichtete Maximilian“ (A, 247), „sagte Věra, sagte Austerlitz“ (A, 249). Die Romanfigur Austerlitz basiert auf zwei Vorlagen, zum einen auf einem Sebald bekannten Kunsthistoriker am Courtauld Institute in London mit einem leidenschaftlichen Interesse (wie Sebald) an englischen Landhäusern; zum anderen auf Susi Bechhöfer, die zusammen mit ihrer Zwillingsschwester kurz vor Kriegsausbruch mit einem Kindertransport nach England ver-
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Jaggi, Maya: „Recovered memories“. In: The Guardian vom 22. September 2001.
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schickt wurde, die wie Austerlitz an der Liverpool Street Station ankam, und die wie Austerlitz in einem walisischen Pfarrhaus als Adoptivkind lebte. Von Susi Bechhöfers autobiografischem Bericht14 macht Sebald reichlichen Gebrauch, wie üblich ohne Quellenangabe. Dieser Umstand erklärt die sonst mysteriösen Hinweise auf einen „unsichtbare[n] Zwillingsbruder“ (A, 84). Susi Bechhöfer und Austerlitz entdecken beide erst bei staatlichen Schulprüfungen, dass sie Adoptivkinder sind. Sebalds Bereitschaft, aus Susi Bechhöfers zutiefst beunruhigender Lebensgeschichte für seine Zwecke Kapital zu schlagen, ist zumindest moralisch fragwürdig. Während er Andersch dafür kritisiert, dass er Efraims linguistische Unsicherheiten unzureichend thematisiert, kompensiert er in Austerlitz, indem er Dafydd Elias (Austerlitz) als walisischsprechend darstellt. Sebalds Bemühungen, das Walisische an Austerlitz mitzuteilen, ist kaum überzeugender als die von ihm so heftig kritisierten Bemühungen Anderschs, das Jüdische an Efraim darzulegen.15 Efraim und Austerlitz sind nicht unähnliche Romane. Beide handeln von einer Suche: Efraim besucht Berlin, um das Schicksal von Keirs Tochter Esther aufzuklären, während Austerlitz dem Schicksal seiner Eltern in Prag und dann Paris nachgeht. Beide Romane versuchen unter anderem, deutschen Lesern die Geheimnisse des englischen Alltagslebens aufzudecken, Geheimnisse, die für beide Autoren im Kreuzworträtsel verkörpert sind. Efraim öffnet mit Keir Hornes Frage an Efraim über eine „proposition to view the ruins of Rome“ (eine allzu leichte Frage für den gewieften Löser); Austerlitz besucht ein Antiquariat in Bloomsbury und hört zufällig eine Radiosendung über Susi Bechhöfer, als die Besitzerin, die den allzu demonstrativen Namen Penelope Peacefull trägt, gerade dabei ist, im Telegraph das Kreuzworträtsel zu lösen. Hier haben wir vielleicht einen sehr indirekten Hinweis darauf, dass Sebald in Austerlitz das Thema von Efraim übernimmt und alle von ihm bei Andersch konstatierten Unzulänglichkeiten stillschweigend korrigiert. Was Sebald vor allem vom Roman verlangt, ist Authentizität, ein Prinzip, das ihm erlaubt, teils explizit, teils durch Anspielungen, die Memoiren und Schriften von anderen zu verwerten (Jean Améry und Susi Bechhöfer, aber auch Kafka, Sartre und Balzac, um nur einige Namen zu nennen). Als Austerlitz’ Mutter Agáta von den Boten der Kultusgemeinde den Befehl bekam, sich auf den Abtransport vorzubereiten, trugen diese Boten „mit verschiedenen Falten, Taschen, Knopfleisten und einem Gürtel
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Josephs, Jeremy u. Susi Bechhöfer: Rosa’s Child. The True Story of One Woman’s Quest for a Lost Mother and a Vanished Past. London 1996. Sebald verwendet das Wort ‚parech‘ (A, 100) richtig ‚Parch‘ (‚Reverend‘), die normale Anredeform eines nonkonformistischen (= freikirchlichen protestantischen) Pfarrers. Es stimmt auch nicht, dass nonkonformistische Pfarrer einberufen wurden (A, 75).
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versehene Jacken, die, ohne daß man sich darüber klar wurde, wozu sie dienen sollten, besonders zweckmäßig erschienen“ (A, 258). Der Leser erkennt sofort die Anspielung auf Kafkas Prozess. Sebalds Werke wimmeln geradezu von Anspielungen auf bekannte (und manchmal obskure) Texte und Bilder, und von Beschreibungen und Fotografien bekannter und unbekannter Gebäude. Angeblich soll Sebald das Internet verabscheut haben, aber seine literarische Strategie scheint paradoxerweise für das Internet wie geschaffen, wie die informative, von Christian Wirth betreute Website illustriert.16 Sebald betrachtet Zerstörung (von der Bombenkrieg und Holocaust bloß die neuesten Erscheinungsformen sind) als festen Bestandteil des Industrialisierungsprozesses. Die Architektur und die Logistik des KZSystems brachte zweifellos eine Industrialisierung des Todes zustande, aber das Gegenargument, das nämlich jeder Prozess der Industrialisierung etwas vom KZ an sich hat, führt Sebald auf gefährliches Terrain. Auf den letzten Seiten des Romans besucht Austerlitz Paris. Er vergleicht die alte Nationalbibliothek, mit ihren gemütlichen Lampen und ihrem leichten Zugang zu Büchern und anderen Lesern, mit der neuen Bibliothèque Mitterand, die ein „in seiner ganzen äußeren Dimensionierung und inneren Konstitution menschenabweisendes und den Bedürfnissen jedes wahren Lesers von vornherein kompromißlos entgegengesetztes Gebäude“ (A, 392) ist. Die Bibliothèque Mitterand wird für Austerlitz (und Sebald) zum Symbol für „die offizielle Manifestation des immer dringender sich anmeldenden Bedürfnisses, mit all dem ein Ende zu machen, was noch ein Leben habe an der Vergangenheit“ (A, 404). Die Tatsache, dass die neue Bibliothek auf einem Grundstück gebaut ist, auf dem früher ein großes Lager stand, in dem die Deutschen das gesamte aus den Wohnungen der Pariser Juden geholte Beutegut zusammenbrachten, verdeutlicht die Verbindung. Die Industrialisierung des Todes im KZ und die Industrialisierung des Wissens in der neuen Bibliothek werden, wenn nicht gerade gleichgesetzt, so doch miteinander verbunden. Mancher Leser mag die Arbeitsbedingungen in der Bibliothek Mitterand verstörend finden, aber die Holocaust-Assoziationen sind völlig fehl am Platz. Die Informationsrevolution irritiert Sebald so sehr, dass er jeden Blick für die Proportionen verliert. Sebald korrigiert, wie er meint, die Unzulänglichkeiten, die er bei Andersch vorfindet, ersetzt sie aber mit Ansichten, die genauso fragwürdig sind. Ich hoffe, in meinen Ausführungen gezeigt zu haben, dass Sebalds Andersch-Bild eigenartig, ja eigenwillig ist und auf einer Auffassung von Literatur beruht, die vielen Autoren, nicht nur Andersch, völlig fremd ist. Andersch war sich im Klaren über die Fehler, Kompromisse, Anpassungen und Auslassungen in seinem Leben im Nationalsozialismus. Sein Werk
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Vgl. http://www.wgsebald.de/.
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spielt, wie er selber zugibt, andere Möglichkeiten durch. Bei der Lektüre seiner Texte entsteht eine Spannung: Einerseits erkennt man das offene und nüchterne Eingeständnis der eigenen Fehler an, andererseits kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er eine schönere Version dieser Vergangenheit erdichtet. Diejenigen Leser (und vielleicht gehörte Sebald dazu), die Andersch als moralisches Gewissen idealisierten, reagierten auf spätere Enthüllungen mit Schock, Entrüstung und Ärger. Wenn sie aber die Texte sorgfältig und kritisch gelesen hätten, hätten sie sich ihre Enttäuschung erspart, denn die Spannungen, die heiklen Stellen sind schon in den Texten vorhanden. Wenn man an die Literatur die höchsten moralischen Ansprüche stellt, und wenn man diese Erwartungen auf jede Einzelheit im Privatleben des Schriftstellers erweitert, wird man unvermeidlich der Enttäuschung und Desillusionierung ausgesetzt. Sebald, so scheint es, ist immer noch der moralische Maßstab, an dem Andersch gemessen wird, auch wenn seine eigene literarische und moralische Position nicht unproblematisch ist. Vielleicht müssen wir weitere Enthüllungen über Sebald abwarten, um ein faires Urteil über Andersch fällen zu können.
Literatur Burrin, Philippe: La France à l’heure allemande. 1940–1944. Paris 1995. Finke, Susanne: „W.G. Sebald – der fünfte Ausgewanderte“. In: W.G. Sebald. Hg. v. Franz Loquai. Eggingen 1997, S. 214–227. Jaggi, Maya: „Recovered memories“. In: The Guardian vom 22. September 2001. Josephs, Jeremy u. Susi Bechhöfer: Rosa’s Child. The True Story of One Woman’s Quest for a Lost Mother and a Vanished Past. London 1996. Kluge, Alexander: Neue Geschichten. Hefte 1–18: Unheimlichkeit der Zeit. Frankfurt / M. 1977. Löffler, Sigrid: „‚Wildes Denken‘. Gespräch mit W.G. Sebald.“ In: W.G. Sebald. Hg v. Franz Loquai. Eggingen 1997, S. 135–144. Reinhardt, Stephan: „Zu Alfred Andersch. Antwort auf W.G. Sebald“. In: Lettre International 21 (1993), S. 90. Richter, Hans Werner: Im Etablissement der Schmetterlinge. 21 Portraits aus der Gruppe 47. Berlin 2004. Römer, Felix: „Alfred Andersch abgehört. Kriegsgefangene ‚Anti-Nazis‘ im amerikanischen Vernehmungslager Fort Hunt“. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58 (2010), S. 563–598. Schäfer, Hans Dieter: Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933– 1945. München 1981. Sebald, W.G.: „Between the devil and the deep blue sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden in der Vorsehung“. In: Lettre International 20 (1993), S. 80ff. – Luftkrieg und Literatur. Frankfurt / M. 2001. – Austerlitz. Frankfurt / M. 2003. Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus“. In: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt in Texten, Bildern, Dokumenten. Hg. v. Marcel Korolnik u. Annette Korolnik-Andersch. München 2008, S. 30–41. Wilms, Wilfried: „Taboo and Repression in W.G. Sebald’s On the Natural History of Destruction“. In: W.G. Sebald – A Critical Companion. Hg. v. J.J. Long u. Anne Whitehead. Edinburgh 2004, S. 175–189.
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In weiter Ferne, so nah. W.G. Sebalds Stilkritik an Alfred Andersch Eine so unscheinbare wie kuriose Folge seines Essays über Alfred Andersch findet sich in Sebalds Nachlass: Auf der Rückseite von Druckfahnen des Essays hat sich Sebald, in dessen Weltanschauung es Zufälle nicht gibt, vorbereitende Notizen zur Theresienstadt-Passage des 2001 veröffentlichten Romans Austerlitz gemacht.1 Für die These, dass Austerlitz in seiner Konzeption dem von Sebald heftig kritisierten Andersch-Roman Efraim so nah wie kein anderer Sebald-Text kommt,2 existiert damit ein handgreiflicher Beleg – man muss diese Blätter nur umdrehen. Als Sinnbild für Sebalds Umgang mit Andersch eignen sich die Notizzettel aber noch in weit größerem Umfang. Sie veranschaulichen die Präsenz, die der Auseinandersetzung mit Andersch in Sebalds literarischer Werkstatt auch Jahre nach der 1993 erfolgten Erstpublikation des Essays zukommt, wenn der Essay buchstäblich als Arbeitsgrundlage des eigenen literarischen Schreibens fungiert. Denn so ambivalent wie das Papierrecycling ist auch Sebalds Verhältnis zu Anderschs Poetik: Einerseits scheint für ihn der größte Nutzen von Anderschs Büchern in der Verwendung als Schmierpapier zu liegen. Andererseits platziert sich Sebald damit genau auf der Gegenseite von Andersch bzw. von den im Essay kritisierten Aspekten, entwirft sein eigenes Schreiben also in zwar negativer, aber gleichwohl enger Verbindung zu Andersch. Dass er ausgerechnet Notizen zum Konzentrationslager auf der Rückseite jenes Textes festhält, in dem er Andersch einen misslungenen literarischen Umgang mit dem Holocaust vorwirft,3 kann auch als poetologisches Mantra verstanden werden: Sebald
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Die Notizen sind vermutlich 1999 entstanden und liegen im Deutschen Literaturarchiv Marbach in der Materialsammlung zu Austerlitz (Mediennummer HS002277561, Mappe 15). Ulrich Simon weist auf diesen Zusammenhang hin, ohne ihm ausführlicher nachzugehen (vgl. Simon, Ulrich: „Der Provokateur als Literaturhistoriker. Anmerkungen zu Literaturbegriff und Argumentationsverfahren in W.G. Sebalds essayistischen Schriften“. In: Sebald. Lektüren. Hg. v. Marcel Atze u. Franz Loquai. Eggingen 2005, S. 78–104, hier: S. 91). Vgl. dazu auch den Beitrag von Rhys W. Williams in diesem Band. Sebald benutzt sechs Blätter der Druckfahne, beginnend genau dort, wo der Essay von Anderschs Biografie zu seinen Romanen übergeht (vgl. AA 133–140). Die Notizen
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erkennt die Nähe des eigenen Schreibens zu Anderschs Texten durchaus an, will aber aus Anderschs ‚Fehlern‘ lernen. In diesem Sinn ist der Andersch-Essay, so lautet die Grundthese der folgenden Ausführungen, wegweisend auch für Sebalds eigene literarische Unternehmungen. Die Auseinandersetzung mit Andersch dient Sebald als Schulung in Stil und Erzähltechnik; zugleich bietet sie ihm die Gelegenheit zu einem impliziten poetologischen Selbst- als Gegenentwurf. Für problematisch hält Sebald in seinem Essay nicht nur Anderschs Deutungen der eigenen Biografie, die bis heute im Zentrum der so genannten Andersch-Sebald-Debatte stehen,4 sondern ausdrücklich und unabhängig davon auch Anderschs literarische Texte. Das Urteil ist im zweiten Fall so verheerend wie im ersten: Auch als Kompositeur und Stilist habe Andersch versagt. In dem Roman Die Rote etwa seien die Liebesszenen ebenso zum „konfusen Wunschtraum eines Voyeurs“ geraten wie „Auschwitz zitiert wird als eine Art Hintergrundstaffage“ – „das vollendet die Obszönität dieses hoffnungslos mißratenen Stücks Literatur.“ (AA 139). Andersch, der nach eigenem Anspruch „Thomas Mann nicht nur erreichen, sondern auch überflügeln“5 wollte, komme in den meisten seiner Texte nicht über eine „erzählerische Primitivität“ (AA 142) hinaus, ja er gleite mit seinem „Geschwafel“ (AA 138) stilistisch ab „in die Niederungen eines Bastei-Heftchens“ (AA 140).
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beziehen sich auf den NS-Propagandafilm über Theresienstadt, der in Austerlitz ausführlich verhandelt wird (vgl. A 349–361). Fast alle anderen der umfangreichen Vorarbeiten zu Austerlitz finden sich auf liniertem oder unbedrucktem Papier. – Sebalds Werke werden mit folgenden Siglen zitiert: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen (1992). 9. Aufl. Frankfurt / M. 2002 (DA); „Der Schriftsteller Alfred Andersch“ (1993). In: Sebald, W.G.: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. 3. Aufl. Frankfurt / M. 2002, S. 111– 147 (AA); Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt (1995). 6. Aufl. Frankfurt / M. 2002 (RS); „Luftkrieg und Literatur. Züricher Vorlesungen“ (1997). In: Sebald, W.G.: Luftkrieg und Literatur, S. 5–110 (LuL); Austerlitz (2001), Frankfurt / M. 2003 (A). Das gilt sowohl für die Debatte in den Feuilletons als auch in der Literaturwissenschaft. Eine differenzierte Übersicht und Bewertung zu Letzterer liefert zuerst Markus Joch, dann Alexander Ritter (Joch, Markus: „Streitkultur Germanistik. Die Andersch-Sebald-Debatte als Beispiel“. In: Germanistik in und für Europa. Texte des Münchener Germanistentages 2004. Hg. v. Konrad Ehlich. Bielefeld 2006, S. 263–275; Ritter, Alexander: „Eine Skandalinszenierung ohne Skandalfolge. Zur Kontroverse um Alfred Andersch in den neunziger Jahren“. In: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Hg. v. Stefan Neuhaus u. Johann Holzner. Göttingen 2007, S. 469–479. Hinter das von Jochs und Ritters Metakommentaren vorgegebene Niveau fallen spätere Debattenbeiträge deutlich zurück, so u.a. Durzak, Manfred: „Sebald – der unduldsame Kritiker. Zu seinen literarischen Polemiken gegen Sternheim und Andersch“. In: W.G. Sebald. Schreiben ex patria/Expatriate Writing. Hg. v. Gerhard Fischer. Amsterdam 2009, S. 435–445. Auf Sebalds Stilkritik geht keiner der genannten Texte näher ein. Diesen Anspruch Anderschs, den er „in einem größeren Kreis von Mitarbeitern und Freunden“ getroffen habe, übermittelt Hans Werner Richter, der Organisator der Gruppe 47, in einem Porträt von Andersch, das Sebald zitiert (AA 115).
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Wenn ein Literaturwissenschaftler, der Sebald trotz seiner Erfolge als Schriftsteller bis zuletzt geblieben ist, solche zur Beleidigung tendierenden Urteile veröffentlicht, gefährdet er den eigenen Ruf mindestens ebenso wie den des Gescholtenen.6 Dass Sebald dieses Risiko bewusst eingegangen ist, hat verschiedene Gründe. Einer wird im Andersch-Essay explizit genannt: Sebald bekennt sich zu einer sowohl in ästhetischer als auch moralischer Hinsicht wertenden Literaturwissenschaft. Enttäuscht zeigt er sich von dem in der „Branche üblichen Eiertanz“ (AA 118), der auch um Anderschs Werk veranstaltet worden sei. Zwar habe man viel über Andersch geschrieben, niemals aber nachgedacht über „die doch recht augenfällige Kompromittiertheit Anderschs und über die Auswirkungen solcher Kompromittiertheit auf die Literatur“ (AA 118). Wie in fast allen seiner Essays fordert Sebald eine Verschränkung von Werk und Autor ein, die zu dieser Zeit in der Forschung für in theoretischer Hinsicht naiv gehalten wird.7 Sebald vermutet hinter den Aussparungen von Wertung und Biografie weniger eine wissenstheoretische Entscheidung, etwa im Sinne von Max Webers Plädoyer für eine wertfreie Wissenschaft,8 als vielmehr einen Selbstschutzmechanismus der im Nationalsozialismus wurzelnden Nachkriegsgermanistik. Die Polemik gegen Andersch ist somit auch als Provokation der wissenschaftlichen community zu lesen und insofern kein Einzelfall: Sebalds heftige Kritiken an Sternheim, Döblin und anderen sind immer auch an deren professionelle Exegeten adressiert. Ein zweiter Grund für die Vehemenz von Sebalds Verriss des Schriftstellers Andersch geht aus Sebalds Stilkritik nur implizit hervor. Sebald greift Andersch, so lautet meine These, immer auf den Feldern mit besonderer Emphase an, auf denen sich Sebald selbst als literarischer Autor bewegt. Damit soll Sebald keine grundsätzliche Tendenz zur Kollegen-
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So hat sich Lothar Baier bei der Lektüre des Essays gefragt, ob ihm Andersch „mehr zu denken geben soll oder der Germanist W.G. Sebald, dessen Räsonnement ich bei meinerseits ausbleibender Fundamentalerregung bald nicht mehr zu folgen vermag“ (Baier, Lothar: „Literaturpfaffen. Tote Dichter vor dem moralischen Exekutionskommando“. In: Freibeuter 57 (1993), S. 42–70, hier: S. 61). Dazu wie überhaupt zu Sebalds Lust an der literaturwissenschaftlichen Provokation vgl. Simon: „Der Provokateur als Literaturhistoriker“, insb. S. 80–94. Mit Sebalds Strategie, im Fall Andersch Autor und Text zur Deckung zu bringen, befasst sich auch Joch: „Streitkultur Germanistik“, S. 269ff. Weber erteilt der Erwartung, in den Sozial- oder Kulturwissenschaften eine „normative Ethik“ gewinnen zu können, eine klare Absage, redet damit aber keinem Werterelativismus das Wort: „Denn weder bedeutet ‚alles verstehen‘ auch ‚alles verzeihen‘, noch führt überhaupt vom bloßen Verstehen des fremden Standpunktes an sich ein Weg zu dessen Billigung“ (Weber, Max: „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der Sozialwissenschaften“. In: ders.: Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik. Hg. v. Johannes Winckelmann. 6. Aufl. Stuttgart 1992, S. 263–310, hier: S. 267f.). Ausführlich geht Weber dabei auch auf die Problematik ästhetischer Werturteile in der Kunstwissenschaft ein (vgl. ebd., S. 286–292).
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schelte oder zur literarisch-intellektuellen Revierverteidigung unterstellt werden, schließlich bekennt er sich offen zu Vorbildern wie Peter Weiss, Thomas Bernhard oder Alexander Kluge. Vielmehr deutet die Kritik auf eine prekäre Ambivalenz in Sebalds Verhältnis zu Andersch hin: Anderschs Texte verhandeln einerseits genau jene Fragen, die Sebald für die dringlichsten auch seines eigenen Schreibens hält, liefern andererseits aber fast durchweg die in Sebalds Augen falschen Antworten. Insofern ist Andersch für Sebald nicht einfach ein schlechter Schriftsteller, sondern durchaus ein negativer Lehrmeister: An Andersch lernt und vergewissert sich Sebald, welche Irrwege er unbedingt vermeiden will. In diesem Sinn kommt dem Negativbeispiel eine erhebliche Produktivität für Sebalds Werk zu. Anhaltspunkte dafür existieren, wie die Wiederverwendung der Druckfahnen bereits angedeutet hat, auch außerhalb und lange nach der Niederschrift des Essays. Als er 2001 im Spiegel-Interview zu Austerlitz gefragt wird, ob ein deutscher nicht-jüdischer Autor überhaupt jüdische Biografien für seine Texte benutzen dürfe, bringt Sebald acht Jahre nach der Erstpublikation des Essays wiederum Andersch ins Spiel: „Das Paradebeispiel“ für eine Literatur, die „über weite Strecken aus Peinlichkeiten besteht, [...] ist für mich Alfred Anderschs Roman ‚Efraim‘. Da versuchte ein Autor, eine Art von – sei es ästhetischem, sei es realem – Kapital aus diesem Thema zu schlagen.“9 So hartnäckig Sebald also Andersch kritisiert, so offensichtlich ist auch hier, dass Sebald, dessen Buch über das halb fiktionale, halb authentische Leben des jüdischen Kunsthistorikers Jacques Austerlitz sein kommerziell erfolgreichstes werden sollte, sich in der gleichen ästhetischen Gefahrenzone verortet: „Man geht selbst dann noch auf Eis, wenn man mit den Überlebenden ausführlich spricht, sich erzählen lässt“,10 lautet der nun auf sein eigenes Schreiben bezogene Folgesatz. Sebalds literarischer Ehrgeiz besteht darin, die ethisch-ästhetischen Probleme, an denen schon Andersch laborierte, besser zu lösen – entweder durch andere Darstellungstechniken, wie im Fall des Holocaust, oder durch einen Darstellungsverzicht, etwa bei Liebesszenen, die bei Andersch „auf eine äußerst unangenehme Art lasziv“ (AA 138) seien: Dass sich in Sebalds komplettem Werk keine einzige auch nur annähernd erotische Passage findet, hat der Autor
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Sebald, W.G.: „‚Ich fürchte das Melodramatische‘. Gespräch mit Martin Doerry und Volker Hage“. In: Der Spiegel vom 12. März 2001, S. 228–234, hier: S. 232. Zum Status und den Erzählstrategien von Sebalds Interviews vgl. Hoffmann, Torsten: „Das Interview als Kunstwerk. Plädoyer für die Analyse von Schriftstellerinterviews am Beispiel W.G. Sebalds“. In: Weimarer Beiträge 55 (2009), S. 276–292. Sebald: „Ich fürchte das Melodramatische“, S. 232.
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in Interviews damit begründet, keine solche schreiben zu können.11 Anders machen oder weglassen, so lautet das produktionsästhetische Credo, mit dem Sebald auf Anderschs Werk reagiert.12 In den folgenden Ausführungen, die sich zunächst der Erzähltechnik von Holocausttexten und dann Sebalds allgemeiner Sprach- und Stilkritik an Andersch widmen, soll gezeigt werden, inwiefern Sebald in den technischen und stilistischen Aspekten seiner Andersch-Kritik indirekt auch eine eigene, affirmative Poetik entfaltet und mit welchen Strategien er in seinen literarischen Texten versucht, die ‚Fehler‘ von Andersch zu vermeiden. Was also, so kann in Bezug auf den Titel dieses Bandes gefragt werden, sind die Folgen der Andersch-Kritik für Sebalds literarisches Werk?
Distanzierte Empathie: Die Perspektivierung des Holocaust An Anderschs literarischem Umgang mit dem Holocaust missfällt Sebald Verschiedenes. In Bezug auf Die Rote hält er es für obszön, dass zum einen ein „allwissender Autor [...] unsichtbar mitmischt in der Szene, die er zu
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Symptomatisch dafür ist die Verbindung von Sebalds Vorwurf, dass Andersch „das unsägliche Wort Busen“ (AA 139) in einer Liebesszene verwende, mit dem ganz andersartigen Einsatz des Wortes in Die Ringe des Saturn: Der Erzähler zitiert dort aus einem 1826 erschienenen Lehrbuch des Seidenbaus für Deutschland, das mit dem Aberglauben aufräume, dass die Würmer der Seidenraupe „am besten in Mistbeeten oder im Busen junger Mädchen ausgebrütet würden“ (RS 344) – keine besonders erotische Vorstellung. Die einzige Szene des Buchs, die zumindest über ein gewisses erotisches Potenzial verfügt, wird zunächst als Schockerfahrung inszeniert und dann zu einer in ihrer Übertreibung und abstrusen Bildlichkeit zugleich komischen und morbiden Imagination genutzt: Als der Blick des Erzählers unfreiwillig auf ein Liebespaar am Strand fällt, erinnert ihn der Anblick des auf der Frau liegenden Mannes in der ersten „eine Ewigkeit währenden Schrecksekunde“ an einen „gerade Gehenkten“, dann evoziert er die beiden als ein „von weit draußen hereingetriebenes, vielgliedriges, doppelköpfiges Seeungeheuer, letztes Exemplar einer monströsen Art, das mit flach den Nüstern entströmendem Atem seinem Ende entgegendämmert“ (RS 88). Schon Hugo Dittberner hat darauf hingewiesen, „wie erhellend es ist, wenn man Sebalds Werke [...] als Antwort nicht nur auf die Werke seines Kanons, sondern auch auf jene seiner Generationsgenossen liest [...]. Dann nimmt man das Mutwillige, das Übertrumpfende wahr – und die Leistung seiner Literatur.“ (Dittberner, Hugo: „Der Ausführlichste oder: ein starker Hauch Patina. W.G Sebalds Schreiben“. In: Text+Kritik, H. 158 (2003): W.G. Sebald, S. 6–14, hier: S. 8). Dittberner erwähnt in diesem Kontext auch den „unerbittliche[n] Andersch-Essay“ (ebd., S. 9), geht aber nicht näher auf ihn ein. Dagegen rechnet Lothar Baier Anderschs ‚Fehler‘ mit den „ins Auge springenden sprachlichen Entgleisungen“ in Sebalds Texten auf, um daran anschließend die so grundsätzliche wie wenig überzeugende Ansicht zu vertreten, dass Andersch nur kritisieren dürfe, wer ihm schriftstellerisch überlegen sei: Sebald sei niemand, „der sich aufgrund eindrucksvoller eigener Leistungen das Recht herausnehmen darf, andere wegen Nichterreichen höheren ästhetischen Niveaus herrisch abzukanzeln“ (Baier: „Literaturpfaffen“, S. 62).
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seiner eigenen Gratifikation veranstaltet“, und dass zum anderen „Auschwitz [...] als eine Art Hintergrundstaffage“ (AA 139) benutzt werde. Sebald lehnt die beiläufige ästhetische Instrumentalisierung des Ortes und der Chiffre Auschwitz ebenso ab,13 wie – so legt die Engführung von Erzählhaltung und Auschwitz nahe – zur Holocaust-Darstellung keine ‚allwissende‘ Perspektive passe. Er verlängert damit in den Roman hinein eine Kritik, die er vorher bereits im Blick auf Anderschs politische Essays äußert: Von einer „verdrehten Geistesverfassung“ spricht Sebald dort nicht nur im Blick auf den Inhalt, sondern auch auf den Modus der Präsentation, wenn er hervorhebt, dass Andersch die fragwürdige These von der „kollektiven Unschuld der Wehrmacht“ am Holocaust „mit ungeniertem Schneid“ (AA 131) vorbringe. Nicht nur finde sich im Sprachgebrauch von Anderschs Essays unfreiwillig ein „wahres Glossarium und Register der faschistischen Sprache“ (AA 131) wieder, irritierend sei auch die rhetorische Souveränität und Ungebrochenheit, in welcher der aus den Aufzeichnungen des fiktiven deutsch-jüdischen Journalisten George Efraim bestehende Roman Efraim verfasst sei: „Von irgendwelchen Sprachskrupeln des Protagonisten oder des Autors fehlt im Text jegliche Spur“ (AA 142). Den sprachlichen Gestus der Selbstgewissheit und Allwissenheit konsequent zu vermeiden, ist eines der Grundprinzipien in Sebalds Holocaust-Texten Die Ausgewanderten und Austerlitz. Die Andersch vorgeworfenen Erzähltechniken markieren dabei genau jenen Gegenpol, von dem Sebald sich so weit wie möglich zu entfernen versucht. Statt auf die Übersicht und umfassende Einsicht der Nullfokalisierung zu setzen, die in Die Rote dominiert, wird in Sebalds Texten der Perspektivismus des Gesagten ostentativ hervorgehoben: Selbst die eher nebensächliche Kuriosität, dass man schon im Frühsommer 1933 in Deutschland Bonbons kaufen konnte, in die ein Hakenkreuz eingegossen war, vermittelt der intern fokalisierte Erzähler in Austerlitz über eine dreistufige Zeugenkette, die von 1933 bis in die Erzählgegenwart führt und die aus einer Reihung jener für Sebalds Sound charakteristischen (und an Bernhard erinnernden) inquitFormeln besteht: „Maximilian erzählte gelegentlich [davon], erinnerte sich Věra, sagte Austerlitz“ (A 245).
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Ohne Andersch zu nennen, kritisiert Sebald im Interview „die bekannte ‚AuschwitzIndustrie‘ in der Literatur [ab 1960], wo in jeder noch so windigen Erzählung unbedingt der Begriff Auschwitz vorkommen musste“ (Sebald, W.G.: „Menschen auf der anderen Seite. Im Gespräch mit Sven Boedecker“. In: Rheinische Post vom 9. Oktober 1993). Dass in Sebalds Texten meines Wissens das Wort ‚Auschwitz‘ nicht vorkommt, ist insofern symptomatisch, als sie sich nicht ins Zentrum des Massenmords begeben, sondern den Holocaust sozusagen an seinen Rändern erzählen, zumeist indem sie das auch Jahrzehnte später nicht nachlassende Leid von Emigranten fokussieren.
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Vom Holocaust wird bei Sebald stets vermittelt über zwischengeschaltete Erzählerfiguren berichtet – mithin nie im objektiven, sondern stets im subjektiven Gestus. Paradoxerweise führt diese Form des Subjektivismus aufgrund ihrer formalen Umständlichkeit zu einer eher distanzierten Rezeptionshaltung. Eine der wenigen Stellen in Sebalds Werk, an denen der Erzähler doch einmal auf diese Distanzierungsstrategien verzichtet und sich ganz unmittelbar in das Leben einer seiner Figuren hineinversetzt, bricht dann auch nach wenigen Sätzen mit der Einsicht ab, dass ihn solche „Versuche der Vergegenwärtigung“ seinen Personen nicht näher, dafür aber zu „gewissen Ausuferungen des Gefühls“ brächten, „wie sie mir unzulässig erscheinen“ (DA 45). Sebalds Holocaustdarstellung insistiert aus ethischen Gründen auf der Distanz, die zwischen dem Erzähler (und den Lesern) auf der einen Seite und den Biografien der meist jüdischen Opfer auf der anderen besteht. Zurückgeführt werden kann das von Sebald im Interview als „periskopisch“ bezeichnete Erzählverfahren „um ein, zwei Ecken herum“14 zudem auf einen erkenntnistheoretischen Skeptizismus, der in allen Werken Sebalds zum Ausdruck kommt und der regelmäßig kombiniert wird mit grundsätzlichen Zweifeln an der Belastbarkeit von Sprache. Die bei Andersch vermissten ‚Sprachskrupel‘ schreibt sich der Erzähler des im Jahr vor dem Andersch-Essay veröffentlichten Prosabands Die Ausgewanderten ausdrücklich selbst zu: „Es war ein äußerst mühevolles, oft stunden- und tagelang nicht vom Fleck kommendes und nicht selten sogar rückläufiges Unternehmen“, berichtet er über seine Niederschrift der Lebensgeschichte des jüdischen Emigranten Max Aurach, bei dem ich fortwährend geplagt wurde von einem immer nachhaltiger sich bemerkbar machenden und mehr und mehr mich lähmenden Skrupulantismus. Dieser Skrupulantismus bezog sich sowohl auf den Gegenstand meiner Erzählung, dem ich, wie ich es auch anstellte, nicht gerecht zu werden glaubte, als auch auf die Fragwürdigkeit der Schriftstellerei überhaupt. (DA 344f.)
Dialektische Konstellationen wie die, dass die scheinbare Weiterentwicklung eines Projekts in Wahrheit einen Rückschritt darstelle, gehören in stilistischer wie inhaltlicher Hinsicht zu Sebalds Lieblingsmotiven. Zum Ausdruck kommt darin nicht nur, wie Ben Hutchinson in seiner überzeugenden Studie zur bis in die Syntax nachweisbaren ‚dialektischen Imagination‘ bei Sebald gezeigt hat, eine allgemeine „Fortschrittskritik“,15 sondern eine anthropologisch verankerte Aporie. Wenn man, wie eigentlich alle Erzähler und Figuren in Sebalds Texten, davon ausgeht, „daß wir die Unwägbarkeiten, die in Wahrheit unsere Laufbahn bestimmen, nie
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Sebald: „Ich fürchte das Melodramatische“, S. 233. Hutchinson, Ben: W.G. Sebald – Die dialektische Imagination. Berlin, New York 2009, S. 5.
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werden begreifen können“ (RS 217), dann führt jeder Erkenntnisfortschritt zwangsläufig zur zunehmenden Einsicht in die Unbegreiflichkeit des eigenen wie des kollektiven Lebens. „Aber je größer die Mühe, die ich über Monate hinweg an dieses Vorhaben wandte“, berichtet Austerlitz über die eng an seine ihm selber rätselhafte Biografie geknüpften wissenschaftlichen Recherchen, „desto kläglicher dünkten mich die Ergebnisse“ (A 179); auch er gerät daraufhin in eine an Hofmannsthals Chandos-Brief erinnernde Sprachkrise, die seiner Meinung nach „dem Persönlichkeitsverfall voraufgeht“ (A 182). Die Souveränität des auktorialen Erzählgestus meidet Sebald also nicht nur aus ethischen, sondern auch aus epistemologischen Gründen. Es ist für ihn nicht ausgemacht, ob man durch das Nachdenken, Erinnern oder „Schreiben klüger oder verrückter wird“ (RS 217). Gerade solche Passagen, in denen auf die Gefahr des moralischen und/oder ästhetischen Scheiterns mit einem explizierten Problembewusstsein reagiert wird, deuten trotz aller Kritik an Andersch auch an, dass sich Sebalds Distanzierungsenergie gegenüber Andersch zumindest partiell aus einem Nähegefühl speist. So peinlich Sebald Anderschs „Sehnsucht nach Erfolg und Öffentlichkeit“ (AA 114) ist, so schwierig scheint auch ihm selbst gelegentlich die Entscheidung zu fallen, „ob man weiterschreibt aus Gewohnheit oder aus Geltungssucht“ (RS 217). Und so entschieden er Anderschs Erzähler als einen „Voyeur“ (AA 139) verurteilt, so bleibt ihm während der Arbeit an seinem Essay Luftkrieg und Literatur doch nicht verborgen, dass jede Beschäftigung mit den „wahren Schreckensszenen des Untergangs [...] etwas Illegitimes, beinahe Voyeuristisches [an sich habe], dem auch diese Notizen nicht ganz entgehen können“ (LuL 104). Wo sich Anderschs ‚Fehler‘ nicht vollständig vermeiden lassen, wird in Sebalds Texten auf eine kritische Selbstreflexion gesetzt – auch das kann als ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem negativen Vorbild Andersch verstanden werden. Besonders nah kommen sich Anderschs und Sebalds Texte in konzeptioneller Hinsicht dort, wo eine jüdische Figur im Zentrum steht, die nach dem Verbleib von Holocaust-Opfern recherchiert. Die oben erwähnten Andersch-Spuren im Material und im Interview zu Austerlitz erklären sich auch damit, dass die diesem Text zugrunde liegende Konstellation so stark wie kein anderes Werk von Sebald an Anderschs 1967 veröffentlichten Roman Efraim erinnert. Bereits im Andersch-Essay kritisiert Sebald die auf den jüdischen Reporter George Efraim fixierte Fokalisierung des Textes: Er hält es schon grundsätzlich für bedenklich, sich als nicht-jüdischer Autor eines jüdischen Ich-Erzählers zu bedienen. Völlig unangemessen erscheint ihm diese Erzählhaltung im Fall von Andersch, da dieser sich 1943 im nationalsozialistischen Deutschland von seiner
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jüdischen Frau und der gemeinsamen Tochter getrennt habe, die dadurch einer enormen Gefahr ausgesetzt gewesen seien; identifizieren müssen hätte sich Andersch stattdessen mit der Romanfigur Keir Horne, der den Tod seiner 1938 in Berlin verschwundenen Tochter hätte verhindern können: Die Geschichte von der verlorenen [...] Tochter ist in der Textanlage sozusagen um eine Ecke verschoben und dargestellt in einer Weise, die es, so paradox das klingen mag, dem Autor erlaubt, davon abzusehen, daß er mit ihr an das Trauma seines eigenen moralischen Versagens rührt. Zwischen der Erzählerfigur und Keir Horne und dem Autor Andersch gibt es nämlich keinerlei identifikatorische Verbindung. Weit davon entfernt, sein alter ego zu erkennen in Keir Horne, [...] wählt er George Efraim zu seinem Stellvertreter. Genauer gesagt, er versetzt sich in ihn hinein und breitet sich rücksichtslos in ihm aus, bis es, wie der Leser allmählich realisiert, einen George Efraim gar nicht mehr gibt, sondern bloß noch einen Autor, der sich an die Stelle des Opfers manövriert hat. (AA 140f.)
Auch in Sebalds literarischen Texten liegen die Sympathien des Erzählers auf der Seite der oft jüdischen Opfer; auch Sebald arbeitet, wie schon die zahlreichen inquit-Formeln dem Leser immer wieder in Erinnerung rufen, mit einem (allerdings anders akzentuierten) ‚um-eine-Ecke-verschobenen‘ Erzählen. Nicht zuletzt sein „Paradebeispiel“ Efraim scheint ihn allerdings gelehrt zu haben, zu den in seinen Texten entfalteten Opferbiografien gleichzeitig Empathie zu entwickeln und Distanz zu halten. Wie das funktionieren kann, zeigt das Ende von Die Ausgewanderten, der letzten literarischen Arbeit vor der Veröffentlichung des Andersch-Essays. Um den jüdischen Emigranten Max Aurach zu besuchen, befindet sich der Erzähler Anfang der 1990er Jahre in Manchester, das über eine Assoziationskette mit dem Ghetto Litzmannstadt verbunden wird, „das 1940 eingerichtet worden war in der polnischen Industriemetropole Łódź, die einmal polski Manczester geheißen hat“ (DA 352). Im Hotel erinnert sich der Erzähler plötzlich an Fotografien aus dem Ghetto Litzmannstadt, die er im Vorjahr in einer Frankfurter Ausstellung gesehen hat. Der Text endet mit der Beschreibung eines Fotos, die sozusagen als Negativ der an Andersch verurteilen Perspektivtechnik gelesen werden kann. Dass sich in Sebalds Buch, in dem Dutzende Fotografien abgebildet sind, ausgerechnet dieses so prominent platzierte wie leicht zu recherchierende Bild nicht findet,16 hebt den Wert der Bildbeschreibung besonders hervor: Entscheidend ist an dieser Stelle nicht die Beglaubigung des Erzählten durch das Bild, sondern die Erzählstrategie selbst.
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Die Ausstellung fand im Jüdischen Museum Frankfurt statt; das Foto findet sich in: Loewy, Hanno u. Gerhard Schoenberner: Unser einziger Weg ist Arbeit. Das Getto in Łódź 1940–1944. Wien 1990, S. 119.
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Hinter einem lotrechten Webrahmen sitzen drei junge, vielleicht zwanzigjährige Frauen. Der Teppich, an dem sie knüpfen, hat ein unregelmäßig geometrisches Muster, das mich auch in seinen Farben erinnert an das Muster unseres Wohnzimmersofas zu Hause. Wer die jungen Frauen sind, das weiß ich nicht. Wegen des Gegenlichts, das einfällt durch das Fenster im Hintergrund, kann ich ihre Augen genau nicht erkennen, aber ich spüre, daß sie alle drei herschauen zu mir, denn ich stehe ja an der Stelle, an der Genewin, der Rechnungsführer, mit seinem Fotoapparat gestanden hat. Die mittlere der drei jungen Frauen hat hellblondes Haar und gleicht irgendwie einer Braut. Die Weberin zu ihrer Linken hält den Kopf ein wenig seitwärts geneigt, während die auf der rechten Seite so unverwandt und unerbittlich mich ansieht, daß ich es nicht lange auszuhalten vermag. Ich überlege, wie die drei wohl geheißen haben – Roza, Lusia und Lea oder Nona, Decuma und Morta, die Töchter der Nacht, mit Spindel und Faden und Schere. (DA 355)
Zwar setzt die Bildbeschreibung betont sachlich ein, bringt den Erzähler dann aber schon im zweiten Satz gleich doppelt ins Spiel: Zum einen durch die dem Schwarzweißfoto zugeschriebene Farbigkeit, die den Eindruck erzeugt, dass hier die Beschreibung eines authentischen Bildes und die in der Erinnerung an das Bild immer lebendiger werdende Bildimagination des Erzählers verschwimmen. Zum anderen durch das Wohnzimmersofa „zu Hause“, das die Lage der Zwangsarbeiterinnen mit dem privaten Komfort des Erzählers kontrastiert und zudem die eigene Familie als potenzielle Abnehmer und damit Profiteure der Ghettobetriebe in Szene setzt. Wenn Sebald an Efraim so scharf kritisiert, dass sich dort der Autor über seinen Erzähler „an die Stelle des Opfers manövriert hat“, kann das auch mit der genau umgekehrten Selbstverortung des Erzählers in den letzten Sätzen des kurz zuvor abgeschlossenen eigenen Textes erklärt werden: Ausdrücklich hebt Sebalds autobiografisch angelegter Erzähler hervor, dass er sich als Bildbetrachter „an der Stelle“ des NaziFunktionärs befindet, weil er die Szene aus dem Blickwinkel des Fotografen betrachtet. Darüber wie über die Sofa-Assoziation zeigt der Erzähler sich mit der Täterseite verstrickt – um vor diesem Hintergrund dann doch diskret die Perspektive zu wechseln und sich auf die Seite der Opfer zu versetzen. Denn in der anschließenden Beschreibung der drei Frauen wird bezeichnenderweise nicht vom Standpunkt des Bildbetrachters weitererzählt, sondern die Blickrichtung der Frauen übernommen.17 Ein Blick auf das historische Foto zeigt, dass die auf die mittlere Frau bezogene Angabe „die Weberin zu ihrer Linken“ tatsächlich aus der Perspektive der
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Obwohl sie in ihrem Aufsatz das Foto der drei Weberinnen abdruckt, wird dieser Perspektivwechsel von Carol Jacobs übersehen, die zweimal darauf insistiert, dass „der Erzähler an der Stelle von Genewein“ platziert sei (Jacobs, Carol: „Was heißt zählen? W.G. Sebalds Die Ausgewanderten“. In: Verschiebebahnhöfe der Erinnerung. Zum Werk W.G. Sebalds. Hg. v. Sigurd Martin u. Ingo Wintermeyer. Würzburg 2007, S. 49–67, hier: S. 65).
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Frau getroffen wird, während für den Bildbetrachter die Frau „auf der rechten Seite“ links sitzt. Fast unmerklich ist dieser wichtige Perspektivwechsel vonstatten gegangen, der die unmittelbar anschließende Umkehr der Subjekt-ObjektPositionen vorbereitet (die auch in der zentralen Fotopassage in Austerlitz zur Anwendung kommt):18 Aus dem souveränen Bildbetrachter ist der verunsicherte Betrachtete geworden, der nun seinerseits von den abgebildeten Frauen so intensiv angeschaut wird, „daß ich es nicht lange auszuhalten vermag“.19 Mit diesem letzten Schwenk wird der Fokus sofort wieder von den drei Frauen ab- und dem Wahrnehmungshorizont des Erzählers zugewendet – genau solche filigranen Wechselbewegungen zwischen dem Fokus der Täter, dem Fokus der Opfer und dem Fokus eines um Verständnis ringenden Beobachters sind charakteristisch für die Perspektivtechnik in Sebalds Werken. Sinn ergibt das in ethischer wie in ästhetischer Hinsicht: Es wird eine wohlfeile Identifikation mit den NaziOpfern vermieden und zugleich dem über weite Strecken handlungsarmen Erzählen eine perspektivische Dynamik verliehen. Identifizieren soll sich der Leser weder mit der Leidensrealität der Opfer noch mit den bisweilen recht sonderbaren Rechercheberichten des Erzählers – das Entscheidende spielt sich vielmehr zwischen diesen beiden Zeit- und Erzählschichten ab. Sebalds Texte wollen vor allem anderen die Möglichkeit bezeugen, dass man noch Jahrzehnte nach dem Holocaust mit dessen Opfern in eine Interaktion treten kann, die sich als wechselseitig zumindest imaginieren lässt. Insofern kann der Blickwechsel in der abschließenden Bildbeschreibung auch als eine selbstreflexive Miniatur verstanden werden, die als poetologisches Sinnbild nicht zuletzt deshalb taugt, weil das Weben der Frauen etymologisch an das Wort ‚Text‘ gebunden ist (lat. textus bedeutet ‚Gewebe‘) und weil das Textilmotiv als metanarratives Symbol „von altersher einen der produktivsten Motivkomplexe“20 darstellt, wie sich
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Vgl. Hoffmann, Torsten u. Uwe Rose: „‚quasi jenseits der Zeit‘. Zur Poetik der Fotografie bei W.G. Sebald“. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 125 (2006), S. 580–608, hier: S. 599ff. Der Erzähler beschreibt damit einen jener magischen Momente, für die sich Sebald bereits zuvor in seinen Essays interessiert hat: „Der metaphysische Augen- und Überblick entspringt einer profunden Faszination, in welcher sich eine Zeitlang unser Verhältnis zur Welt verkehrt. Im Schauen spüren wir, wie die Dinge uns ansehn, verstehen, daß wir nicht da sind, um das Universum zu durchdringen, sondern um von ihm durchdrungen zu sein“ (Sebald, W.G.: „In einer wildfremden Gegend – Zu Gerhard Roths Romanwerk Landläufiger Tod“. In: ders: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur. 3. Aufl. Frankfurt / M. 2004, S. 145–161, hier: S. 158). Greber, Erika: „Gewebe/Faden“. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. v. Günter Butzer u. Joachim Jacob. Stuttgart, Weimar 2008, S. 126–128, hier: S. 128.
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auch am Beispiel von Die Ringe des Saturn belegen lässt.21 Sebalds Erzählung ist somit auch auf dieser Ebene durch eine bewusst kalkulierte Gleichzeitigkeit von Distanz und Nähe geprägt: Einerseits hebt der Erzähler ausdrücklich hervor, dass er nicht weiß, wer die Frauen sind, ja dass er nicht einmal ihre Namen kennt, andererseits spiegelt er sein Handwerk und damit sich selbst in ihrem Weben. In fast allen Werken Sebalds findet zwischen dem Erzähler und seinen Figuren eine ständige Annäherungsbewegung statt,22 die jedoch immer wieder knapp vor dem Punkt aufgehalten und zurückgewiesen wird, an dem jene ‚rücksichtslose Ausbreitung‘ der Erzählerperspektive in die Figuren hinein erreicht wäre, die Sebald an Anderschs Efraim bemängelt. Ob das in allen Texten Sebalds allerdings gleichermaßen gelingt, ist fraglich. Ohne auf den Andersch-Essay einzugehen, hat Thomas Wirtz in seiner so kundigen wie differenzierten Werkanalyse die weitgehende Deckungsgleichheit von Erzähler und Figur in Austerlitz problematisiert, weil sie die „Freiheit der Verfremdung“ zerstöre: „Soviel Empathie ist von lähmender Schwärze“.23 Schließt man sich diesem Urteil an, tritt umso deutlicher hervor, inwiefern Sebald (der mit Austerlitz nur bedingt zufrieden gewesen sein soll) im Schreiben über Andersch die Probleme seiner eigenen Poetik mit verhandelt.
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Im letzten Kapitel von Die Ringe des Saturn wird der Konnex von Weben und Schreiben wieder aufgenommen und nun auch explizit benannt. Im unausgesprochenen Anschluss an Die Ausgewanderten erinnern die Webstühle des 18. Jahrhunderts den Erzähler „an Foltergestelle oder Käfige“, bevor es nach der Abbildung eines webenden Mannes heißt: „Daß darum besonders die Weber und die mit ihnen in manchem vergleichbaren Gelehrten und sonstigen Schreiber [...] zur Melancholie und zu allen aus ihr entspringenden Übeln neigten, das versteht sich bei einer Arbeit, die einen zwingt zu beständigem krummem Sitzen, zu andauernd scharfem Nachdenken und zu endlosem Überrechnen weitläufiger künstlicher Muster. Man macht sich, glaube ich, nicht leicht einen Begriff davon, in welche Ausweglosigkeiten und Abgründe das ewige, auch am so genannten Feierabend nicht aufhörende Nachsinnen, das bis in die Träume hineindringende Gefühl, den falschen Faden erwischt zu haben, einen bisweilen treiben kann.“ (RS 334f.). Die hier den Webern und Schriftstellern zugeschriebene Melancholie stellt zudem eines der Leitmotive des Textes dar und bindet die Weber zusätzlich an den sich als Melancholiker inszenierenden, wie immer bei Sebald stark autobiografisch ausgerichteten Erzähler. „Obwohl der Erzähler immer wieder versucht, draußen zu bleiben“, lautet ein Selbstkommentar Sebalds zu Die Ausgewanderten, „sind Kräfte im Spiel, die ihn hineinziehen“ (Sebald, W.G.: „Bei den armen Seelen. Gespräch mit Burkhard Baltzer“. In: Saarbrücker Zeitung vom 16. März 1993, S. 10). Wirtz, Thomas: „Schwarze Zuckerwatte. Anmerkungen zu W.G. Sebald“. In: Merkur 55 (2001), S. 530–534, hier: S. 534.
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Überfrachtung vermeiden: Mythos, Pathos, Kitsch Einen zweiten Schwerpunkt von Sebalds kompositorisch-stilistischer Kritik an Anderschs Texten stellen Überfrachtungsphänomene dar. Da Sebald diesen Aspekt in seinen 1997 gehaltenen Züricher Poetikvorlesungen Luftkrieg und Literatur weiter ausbaut, beziehe ich sie in die folgenden Überlegungen mit ein (diese Verbindung wird von Sebald selbst nahe gelegt, da er den Andersch-Essay als Anhang der Vorlesungen ein zweites Mal veröffentlicht).24 Produktiv in Bezug auf Sebalds eigenes literarisches Schreiben ist dabei vor allem das Spannungsverhältnis zwischen dem von Sebald eingeforderten nüchtern-dokumentarischen Gestus von Katastrophenliteratur und der poetologischen Einsicht (die er in etwa parallel zur Arbeit am Andersch-Essay formuliert): „Realismus, dem ich ja sehr verhaftet bin einerseits, reicht nicht aus, man muss ihn immer an bestimmten Punkten übertreten“.25 Wie aber macht man das richtig? Einfacher auf den Begriff zu bringen sind die Momente, in denen es falsch läuft. Sebald verleiht ihnen im Andersch-Essay und in den Vorlesungen das Label ‚Kitsch‘. Berufen kann er sich mit diesem literaturwissenschaftlich schwer zu verifizierenden Urteil26 im Fall von Andersch auf Literaturkritiker wie Marcel Reich-Ranicki, der Die Rote, so paraphrasiert Sebald, als ein „ungustiöses Gemisch von Lüge und Kitsch“ (AA 116) verworfen habe.
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Schon der Andersch-Essay zielt nach Alexander Ritters Ansicht „pauschal auf das angeblich literarisch-moralische Versagen der deutschen Nachkriegsliteratur“ und enthält insofern in nuce das Programm der Vorlesungen (Ritter: „Eine Skandalinszenierung ohne Skandalfolge“, S. 474). „Beispielhaft“, so schreibt Sebald dann auch in einer Vorbemerkung zur Verbindung der beiden Essays, erscheine ihm der Fall Andersch „für die Unfähigkeit einer ganzen Generation deutscher Autoren, das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis“ (LuL 7). Eine besonders enge Korrespondenz zwischen beiden Abhandlungen besteht in einer radikalen Stilkritik. So wie Anderschs Nachkriegsessays sich nach Sebalds Meinung in stilistischer Hinsicht „so gut wie ausnahmslos herschreiben aus der Zeit vor 1945“ (AA 131), lautet die diesbezügliche Kernthese der Vorlesungen, dass „die von der inneren Emigration angeblich kultivierte Geheimsprache weitgehend identisch war mit dem Code der faschistischen Gedankenwelt“ (LuL 56). So in einem bisher unveröffentlichten Radiointerview mit Ralph Schock vom 16. Juli 1993 im Saarländischen Rundfunk. Von einem „bis in die Gegenwart nicht eindeutig zu fixierende[n] Terminus“ spricht Sikander Singh in seinem Forschungsüberblick von 2007 (Singh, Sikander: „Kitsch“. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3. Aufl. Hg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender u. Burkhard Moennighoff. Stuttgart, Weimar 2007, S. 384). Verstanden werde unter dem Begriff oft „eine typisierende Figurenzeichnung, ein unproblematisch-eskapistisches Handlungsschema, gesteigerte Emotionalität und die Tendenz zur Harmonisierung, die dem Rezipienten eine eindimensionale Identifikation ermöglicht“ (ebd.). Sebalds Andersch-Kritik liefert Beispiele für jeden dieser Punkte.
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Viermal findet sich das Wort im Andersch-Essay,27 bevor Sebald einen „gegen jeden literarischen Anstand verstoßenden Kitsch“ (LuL 62) in den Vorlesungen auch bei anderen Nachkriegsautoren bemängelt, ja zu einem stilistischen Signum der Nachkriegsliteratur erklärt. Hermann Kasacks Roman Die Stadt hinter dem Strom etwa setze sich „unter Aufbietung von viel symbolistischem Brimborium [...] über die unerhörte Realität der kollektiven Katastrophe“ hinweg und selbst in Hans Erich Nossacks autobiografischem Bericht Der Untergang, den Sebald ansonsten als eines von wenigen tauglichen Zeugnissen des Bombenkriegs gelten lässt, breche bisweilen eine „Rhetorik der Schicksalhaftigkeit“ durch, nähmen, wie Sebald kritisiert, „die Dinge zuletzt eine märchenhaft-allegorische Wendung“ (LuL 56f.). Macht Sebald aber nicht nur ungefähr, sondern genau das, wenn er Die Ausgewanderten nach der Beschreibung des Litzmannstädter Fotos mit jenem oben zitierten Satz enden lässt, der die drei Weberinnen mit Nona, Decuma und Morta, also mit den drei Schicksalsgöttinnen der römischen Mythologie assoziiert? Bezeichnenderweise hat Heinrich Detering in seiner insgesamt begeisterten Rezension von Sebalds Buch dessen „erhaben und düster suggestiv“ daherkommenden Schluss mit einem Argument infrage gestellt, das sich ohne aufzufallen wörtlich in die Luftkriegs-Vorlesungen integrieren ließe: „warum diese Überhöhung, warum das mythische Schicksalsbild dort, wo die karge und gänzlich trostlose Wirklichkeit besser für sich spräche? Vielleicht, weil es sonst nicht zum Aushalten wäre.“28 Misst man Deterings ihn selbst nicht ganz befriedigende Antwort an den von Sebald im Andersch-Essay und den Vorlesungen angelegten ethisch-ästhetischen Maßstäben, ist damit die Kritik nicht zu entkräften. Zwar erkennt Sebald einerseits an, dass die Aus- und Überblendung des Unerträglichen das „probateste und natürlichste Mittel zur Bewahrung des sogenannten gesunden Menschenverstands“ (LuL 49) darstellt und insofern individual-psychologisch nachzuvollziehen sei, erwartet andererseits von der Literatur aber eine unverstellte Auseinandersetzung mit den „realen Schrecken der Zeit“ (LuL 56). Vorläufig festgehalten werden kann also: Auch in seiner Kritik an einer zum Kitsch tendierenden „Mythisierung“ (LuL 55) des Leidens überschneiden sich auf schillernde Weise die Kreise, in denen sich der Essayist Sebald und der Schriftsteller Sebald bewegen.
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Vgl. AA 116, 117, 138 und 139; LuL 62 und 63. Detering, Heinrich: „Große Literatur für kleine Zeiten. Ein Meisterwerk: W.G. Sebalds Die Ausgewanderten“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. November 1992, Beilage, S. 2.
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Ohne abschließend beurteilen zu wollen, ob Sebalds essayistische Steinwürfe nicht zuallererst die Glaswände der eigenen ästhetischen Praxis demolieren, lässt sich meiner Ansicht nach zeigen, inwiefern sich Sebald dieser Gefahr zumindest bewusst gewesen ist und sie zu vermeiden versucht hat. Er scheint es sich zum Prinzip gemacht zu haben, dass mythische Überhöhungen die realistische Beschreibung des Unglücks nicht ersetzen, sondern allenfalls ergänzen dürfen. So läuft die Bildbeschreibung am Ende von Die Ausgewanderten zwar auf die Nennung der drei Göttinnen zu, wird aber vorbereitet von einer längeren und völlig mythosfernen Reflexion über die im Ghetto Litzmannstadt aufgenommenen Fotografien. Im Unterschied dazu richtet sich die Kritik an Kasacks Roman darauf, etwa die Bomberflotten über der Stadt nicht auch, sondern ausschließlich als „transreale Gegebenheiten“ (LuL 55) zu präsentieren. Für völlig deplatziert hält Sebald zudem eine über den Mythos betriebene „Sinngebung des Sinnlosen“ (LuL 55), die er bei Kasack dort ausmacht, wo dessen Figur Meister Magus den millionenfachen Tod damit begründet, dass die Toten „rechtzeitig als Saat, als apokryphe Neugeburt in einem bisher verschlossenen Lebensraum auferstehen“29 sollten. Die Evokation des Mythos bei Sebald, die motivisch dadurch plausibilisiert ist, dass die drei Schicksalsgöttinnen in vielen Darstellungen den Lebensfaden des Menschen nicht nur spinnen und abschneiden, sondern auch verweben, erfüllt dagegen eine völlig andere Funktion. Denn der Text lässt keinen Zweifel daran, dass den drei webenden Zwangsarbeiterinnen die Macht ihrer mythischen Parallelfiguren völlig abgeht, ja mehr noch: Auf das Schicksal ihres eigenen Lebens, von der Macht über andere Leben ganz zu schweigen, haben diese Frauen im Judenghetto Litzmannstadt, das oft als Zwischenstation in die Vernichtungslager diente, bedeutend weniger Einfluss als etwa der Fotograf, von dem bei Sebald berichtet wird, dass er als Buchhalter die finanziellen Gewinne des Ghettos verwaltete. Die reale Situation, in der die drei Frauen sich befunden haben, wird durch die Anspielung auf den Mythos weder beschönigt noch nachträglich mit Sinn versehen. Vielmehr verleiht der letzte Satz des Textes den Frauen in einer symbolischen Geste jene Gewalt zurück, über die sie im Ghetto gerade nicht verfügten. Diese ausdrücklich als ein nachträgliches Gedankenspiel markierte Umkehrung der realen Machtverhältnisse setzt den oben beschriebenen Subjekt-Objekt-Tausch fort: Zwar kann Sebalds Erzähler nichts daran ändern, dass die Frauen unter der ständigen Blickgewalt des Wachpersonals standen und „einzig für den Sekundenbruchteil des Fotografierens“ (DA 354) aufschauen durften, schreibt ihnen auf der
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So das Zitat aus Kasacks Die Stadt hinter dem Strom (LuL 56).
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späteren Zeitebene der Fotobetrachtung aber die in der Realität abhanden gekommene Macht zu, wenn er ihren Blick „nicht lange auszuhalten vermag“.30 Entscheidend für Sebalds Umgang mit dem Mythos ist darüber hinaus der Modus, in dem das Mythische in den Abschlusssatz von Die Ausgewanderten eingebunden ist: „Ich überlege, wie die drei wohl geheißen haben – Roza, Lusia und Lea oder Nona, Decuma und Morta, die Töchter der Nacht, mit Spindel und Faden und Schere.“ Die Überblendung der drei historischen mit den drei mythischen Personen wird genau genommen gar nicht vollzogen, sondern als eine Möglichkeit neben anderen erwogen – auch deshalb sind den Namen der Parzen als Alternative drei andere Namen vorangestellt (freilich deutet die alle sechs Namen umfassende a-Assonanz am Namensende einen Willen zum artifiziellen Sprechen an und bewirkt damit auf andere Weise eine gewisse Ästhetisierung).31 Indem der Erzähler die mythische Überhöhung der Figuren nicht einfach behauptet, sondern explizit als Gegenstand eigener Überlegungen ausweist, legt er den Konstruktionsprozess und -charakter des Vorgangs offen. Nicht zuletzt soll durch solche selbstreflexiven Passagen jene „erzählerische Primitivität“ (AA 142) vermieden werden, die Sebald Andersch vorwirft. Man könnte die drei Frauen mythisch überhöhen – mehr sagt der Abschlusssatz nicht. So wie der Erzähler wechselweise aus der Perspektive des nazistischen Fotografen, aus jener der drei Weberinnen und dann vor allem aus seiner zeitlich distanzierten eigenen berichtet, als so fakultativ kennzeichnet er auch diesen Mythisierungsprozess.
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Deshalb ist es nur fast richtig, wenn Thomas Wirtz (ohne dabei auf diese Stelle Bezug zu nehmen) allen Erzählern Sebalds unterstellt, dass sie sich „in den Schicksalsfaden der Toten“ eindrehen (Wirtz: „Schwarze Zuckerwatte“, S. 531). Auch an zahlreichen anderen Stellen des Textes wird in Namensreihen mit lautlichen Wiederholungen, insbesondere mit Alliterationen gearbeitet: Dr. Selwyns Pferde heißen „Herschel, Humphrey und Hippolytus“ (DA 11), die von ihm angebotenen Äpfel „Beauty of Bath“ (DA 14) und sein Freund „Edward Ellis“ (DA 21), Paul Bereyters Freundin ist „Helen Hollaender“ (DA 71), der Protagonist der dritten Erzählung heißt Ambros Adelwarth, bevor der Erzähler in der vierten Geschichte das Schild einer Anwaltskanzlei „mit den legendär mich anmutenden Namen Glickmann, Grundwald und Gottgetreu“ (DA 232) hervorhebt und einen Mann „namens Lionel Lynch-Lewis“ (DA 283) erwähnt. Aurachs Mutter, aus dessen Aufzeichnungen der Erzähler lange Passagen wiedergibt, heißt „Luisa Lanzberg“ (DA 289), ihr Vater „Lazarus Lanzberg“ (DA 311); die Reihe ist fortsetzbar. Lesen kann man diese Literarisierung als verdeckten Hinweis auf die Fiktionalität auch jener Passagen, die auf den ersten Blick durch die Namensnennung eine Beglaubigung und Überprüfbarkeit des Erzählten suggerieren. In einem Brief an Anthea Bell, die zu dieser Zeit an der Übersetzung von Austerlitz ins Englische arbeitet, schreibt Sebald am 1. Dezember 1999, es komme bei der Übersetzung etwa der Namen von Nachtfaltern nicht immer auf Exaktheit an, vielmehr sei es „More important to select names which are suitably poetic/evocative & go well together“ (DLA Marbach, Mediennummer HS005106147). Für den Hinweis auf die Briefstelle danke ich Marcella Märtel.
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Dieser am Ende von Die Ausgewanderten zum Einsatz gebrachte Modus der Unentschiedenheit tritt in Sebalds Texten vornehmlich dort auf, wo die Grenzen zur Metaphysik oder zum Pathos überschritten werden. Im ersten Fall gilt es, jenen „metaphysischen Schwindel“ (LuL 56) zu vermeiden, den Sebald Nossack vorwirft, im zweiten Fall soll der Übergang vom Pathetischen zum Kitschigen verhindert werden, den er bei Andersch konstatiert. Bezeichnend für Letzteres ist der Gebrauch des ‚Pathos‘-Begriffs im Andersch-Essay: Während Sebald mehrfach so ungeniert wie pauschal vom „venezianischen Kitsch des Alfred Andersch“ (AA 139) schreibt, kritisiert er nur an einer Stelle eine „Verfallenheit an das leere, zirkuläre Pathos“ (AA 131). Nicht zufällig deutet die durch zwei Adjektive adjustierte Verwendungsweise an, dass Sebald Pathos nicht grundsätzlich ablehnt, sondern allein dessen „leere, zirkuläre“, mithin falsche Form. Denn versteht man unter Pathos eine poetologische Kategorie, die dazu dient, „überwältigende Erfahrungen von Krankheit, Schmerz, Leid und Tod ästhetisch zu integrieren“,32 dann ist Sebald einer der Pathos-Dichter seiner Zeit.33 Aus dem im 20. Jahrhundert sich zunehmend durchsetzenden semantischen Bündnis mit „Kitsch und Trivialität“34 will Sebald das Pathos offensichtlich heraushalten – auch in dieser Hinsicht ist ihm Andersch eine produktive Warnung. Dem an Anderschs Adresse gerichteten Kitschvorwurf sind Sebalds eigene Prosatexte, insbesondere Austerlitz, trotzdem nicht entgangen. In ihrer Austerlitz-Rezension schreibt etwa Iris Radisch in der Zeit: Der Glaube an die wahlweise tiefere oder höhere Zeitlosigkeit und Verwandtschaft weit auseinander liegender Geschehnisse ist der schwarze Kitsch, aus dem diese Andenkensammlung kommt. Dass ihr Grundton die Melancholie und ihr Generalschlüssel die Katastrophe ist, mag sich für eine derartige Kollektion ziemen. Doch der weit über das bloße Erzählen hinausschießende Anspruch, mittels einer besonderen Kombinatorik realer Versatzstücke die Vergangenheit zu befreien, ist schierer Aberglaube.35
Solche Reaktionen belegen, wie nah Sebalds eigene Poetik Andersch noch oder gerade in den Bereichen kommt, in denen sie dessen Texte am radikalsten kritisiert. In Interviews hat Sebald die Frage nach der Kitschgefahr seiner
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Zumbusch, Cornelia: „Probleme mit dem Pathos. Zur Einleitung“. In: Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Hg. v. Cornelia Zumbusch. Berlin 2010, S. 7–24, hier: S. 13. Vermutlich liegt es an den recht heterogenen und oft pejorativen Vorstellungen, die heute mit dem Begriff ‚Pathos‘ verbunden werden, dass Sebald trotzdem eine „jedes Pathos vermeidende Erzählweise“ attestiert worden ist (so in einer Rezension von Campo Santo vom 5. Oktober 2003 im Deutschlandradio; URL: http://www.dradio.de/dlf/Sendungen/ buechermarkt/180856 (Stand: 24. Januar 2011). Zumbusch: „Probleme mit dem Pathos“, S. 11. Radisch, Iris: „Der Waschbär der falschen Welt. W.G. Sebald sammelt Andenken und rettet die Vergangenheit vorm Vergehen“. In: Die Zeit vom 5. April 2001, S. 55–56, hier: S. 56.
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eigenen Texte dann auch keineswegs pauschal zurückgewiesen, sondern Problembewusstsein signalisiert: „Das ist ein unheimlich enger Pfad, auf dem man sich da bewegt.“36 Die Schutzvorkehrungen, die er ergriffen hat, um eine Gleichsetzung mit Andersch und Urteile wie die von Radisch zu verhindern, lassen sich auch dann noch erkennen, wenn sie sich im Fall einiger Kritiker als nicht ausreichend erwiesen haben. Dazu ein für die Weltanschauung des Protagonisten und den Stil des Buchs einschlägiger Satz aus Austerlitz, neben den Radisch in ihrem Exemplar vermutlich ‚schwarzer Kitsch‘ geschrieben hat: Es scheint mir nicht, sagte Austerlitz, daß wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume, zwischen denen die Lebendigen und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und hergehen können, und je länger ich es bedenke, desto mehr kommt mir vor, daß wir, die wir uns noch am Leben befinden, in den Augen der Toten irreale und nur manchmal, unter bestimmten Lichtverhältnissen und atmosphärischen Bedingungen sichtbar werdende Wesen sind. (A 269)
Fast alle Rezensionen erwähnen die Länge und den mit jeder Verschachtelung steigenden Distanzierungseffekt von Sebalds oft an die Literatur des 19. Jahrhunderts erinnernden Sätzen. Die spezifische Soundqualität dieser Prosa, die auf viele Leser eine „sogartige Faszination“ ausübt, beruht insbesondere (und wie in einem Musikstück) auf der „unaufhörlichen, auf Fortsetzung angelegten Variation von Grundmustern.“37 Entscheidend ist dabei die enge Verzahnung von Stil und Inhalt, auf die in der Sebald-Forschung bisher nur in Ansätzen eingegangen worden ist.38 Ein besonders prägnantes inhaltlich-stilistisches Motiv findet regelmäßig dort Verwendung, wo Sebalds Erzähler oder Protagonisten ihre historischen Recherchen für allgemeine Reflexionen über die Erinnerungs- und Erkenntnismöglichkeiten des Menschen oder über den Konstruktionscharakter der
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Sebald, W.G.: „Katastrophe mit Zuschauer. Im Gespräch mit Andrea Köhler“. In: Neue Zürcher Zeitung vom 22. November 1997, S. 52. Weiter führt Sebald aus: „Wann es gelingt und wann nicht, das kann man nur am einzelnen Text versuchen zu verstehen.“ Als einen solchen – auch von poetologischem Eigeninteresse motivierten – Verstehensversuch lese ich den Andersch-Essay. Bülow, Ulrich von: „Sebalds Korsika-Projekt“. In: Wandernde Schatten. W.G. Sebalds Unterwelt. Hg. v. dems., Heike Gfrereis u. Ellen Strittmacher. Marbacher Katalog 62. Marbach 2008, S. 211–224, hier: S. 213. Vgl. Hutchinson: Die dialektische Imagination, S. 13ff. Die neuere Stilforschung weist ausdrücklich darauf hin, dass der Stil „gewisse charakteristische Merkmale sowohl des Inhalts als auch der Form bzw. des Gesagten, des Exemplifizierten und des Ausgedrückten“ umfasst (Werle, Dirk: „Stil, Denkstil und Stilisierung der Stile. Vorschläge zur Bestimmung und Verwendung eines Begriffs in der Wissenschaftsgeschichte der Geistes- und Kulturwissenschaften“. In: Stil, Schule, Disziplin. Hg. v. Lutz Dannenberg, Wolfgang Höppner u. Ralf Klausnitzer. Frankfurt / M. 2005, S. 3–30, hier: S. 9).
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Zeit unterbrechen, kurz: wo ihre Menschen- und Weltbilder in besonderer Verdichtung formuliert werden. Zur Metaphysik tendieren Sebalds Personen dabei in dem ganz wörtlichen Sinn, dass gerade ihre sensibelsten und intensivsten Erkenntnismomente ihnen immer wieder den Gedanken nahe legen, die Wirklichkeit bewege sich in Wahrheit auf „gegen die Gesetze der Physik verstoßende[n] Bahnen“ (A 198). Da diese Erkenntnishöhepunkte außerdem fast durchgängig von Leiderfahrungen ausgelöst werden oder zu ihnen führen (bei Jacques Austerlitz haben sie mit dem frühen und lange verdrängten Verlust der Eltern zu tun), verstärken sich die metaphysischen und pathetischen Aufschwünge in Sebalds Werk gegenseitig. Die Fallhöhe steigt, Kitschgefahr entsteht. Einfach gestrichen werden können solche Passagen ohne erhebliche Verluste nicht, eröffnen doch gerade sie die tiefsten und aufschlussreichsten Einblicke in die Innenwelt des Textpersonals. Um Kitsch dennoch zu vermeiden, wird bei Sebald mit einer dialektischen Figur gearbeitet: Je näher man dem persönlichsten und damit in gewisser Hinsicht ‚wahrsten‘ Denken der Personen kommt, desto intensiver werden sprachliche Relativierungs- und Distanzierungsstrategien zum Einsatz gebracht. Im Fall des zitierten Satzes wird damit bereits in den ersten Worten begonnen: „Es scheint mir nicht“. Die vom Verb ‚scheinen‘ bezeichnete ontologische Unsicherheit bewirkt im Zusammenspiel mit der ungewöhnlichen Negation gleich eine doppelte Irritation des Lesers: Soll durch die Negation die Scheinhaftigkeit des Behaupteten negiert oder verstärkt werden? Und worauf bezieht sich diese Modalisierung des Noch-nicht-Gesagten überhaupt? Mit der direkt folgenden Sprechernennung („sagte Austerlitz“) zögert der Erzähler die vom Leser erwartete inhaltliche Botschaft weiter hinaus und ruft gleichzeitig in Erinnerung, dass wir keinesfalls über einen direkten, sondern stets durch ihn vermittelten Einblick in Jacques Austerlitz’ Gedankenwelt verfügen. Der anschließende Unbegreiflichkeitstopos (Austerlitz bezweifelt, „daß wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht“) gehört zum festen Repertoire der in Sebalds Texten vertretenen Anthropologie und stellt den Wahrheitsgehalt des Immernoch-nicht-Gesagten zusätzlich in Frage. Bevor die Substanz des Gedankens zum Ausdruck gebracht werden kann, modifiziert Austerlitz seine sich ankündigende Aussage ein weiteres Mal, indem er den Prozess, der ihn zu seiner Erkenntnis gebracht hat, zugleich als recht nebulös und nicht intendiert („ist es mir“ – als ginge es um eine Übelkeit) sowie als noch unabgeschlossen („immer mehr“) darstellt. Der anschließende Konjunktiv („als gäbe“), der sich in dieser Form und an ähnlichen Stellen dutzendfach in Sebalds Werk findet,39 relativiert das Folgende noch einmal grundsätzlich.
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Matthias Zucchi weist in seiner positivistischen und dadurch nur begrenzt aufschlussreichen Studie zu Sebalds Stil darauf hin, dass dort häufig Konjunktiv I und II verbunden werden und
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Mit diesem enormen Aufwand an inhaltlichen und sprachlichen Absicherungsmaßnahmen wird die Erkenntnisunsicherheit gerade dort besonders hervorgehoben, wo Sebalds Personal den Gipfel seiner Einsichten erreichen. Letztlich bleibt offen, ob die Figuren glauben, ob sein autobiografischer Erzähler, ja ob Sebald selbst wirklich der Meinung ist, dass die Zeit eine Fiktion ist, oder ob sie mit diesem Gedanken bloß spielen. Erzeugt wird damit ein ontologischer Schwebezustand, in den Sebald auch seine essayistischen Äußerungen zu den Möglichkeiten eines Grenzverkehrs zwischen der Welt der Lebenden und der Toten versetzt.40 So beharrlich seine Texte zu einer Metaphysik der Erinnerung tendieren, so entschieden verweigern sie den letzten Schritt in die metaphysische Gewissheit. Sebalds auch in Interviews formulierte Angst, mit seinen Texten ins „Melodramatische“41 oder Kitschige abzustürzen, hat in dieser labilen Konstruktion einen ihrer Gründe – um jeden Preis sollen jene „Peinlichkeiten“ (AA 139) vermieden werden, die er Andersch vorwirft. Dem gleichen Zweck dienen in Sebalds Texten auch andere Strategien, etwa das zahlreich vertretene ‚Sei-es-weil-...-sei-es-weil‘-Muster, Fragesätze,42 die leitmotivische Verwendung des Wortes ‚vielleicht‘43 oder der Übergang ins Englische, in dem emotionale Großereignisse einen nüchterneren Klang erhalten: „Aber ich habe es nie fertiggebracht“, zitiert der Erzähler Dr. Henry Selwyn, „etwas zu verkaufen, except perhaps, at one point, my soul“ (DA 34).44
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dadurch ein „Mischkonjunktiv“ entstehe, der „das Gesamtkonzept zwar fiktionaler und somit irrealer, aber doch stark auf authentischen, realen Ereignissen und Biographien aufgebauter Texte mitträgt“ (Zucchi, Matthias: „Zur Kunstsprache W.G. Sebalds“. In: Verschiebebahnhöfe der Erinnerung. Zum Werk W.G. Sebalds. Hg. v. Sigurd Martin u. Ingo Wintermeyer. Würzburg 2007, S. 163–181, hier: S. 170). Vgl. dazu Hoffmann u. Rose: „Zur Poetik der Fotografie“, S. 606f. Vgl. Sebald: „Ich fürchte das Melodramatische“, S. 233. Bezeichnenderweise verwendet er auch dieses Wort in Bezug auf die Nachkriegsliteratur, wenn er Peter de Mendelssohn in den Vorlesungen eine „fatale Neigung zum Melodramatischen“ (LuL 60) vorwirft. Ein besonders einschlägiges, mit dem Konjunktiv kombiniertes Beispiel: „Und wäre es nicht denkbar, fuhr Austerlitz fort, daß wir auch in der Vergangenheit [...] Verabredungen haben und dort Orte und Personen aufsuchen müssen, die quasi jenseits der Zeit, in einem Zusammenhang stehen mit uns?“ (A 367; eine ganze Fragenkette in einem ähnlichen Kontext enthält RS 217f.). Allein in der relativ kurzen ersten Erzählung des Bandes Die Ausgewanderten findet sich das Wort fünfmal (vgl. DA 10, 24, 28, 34, 36), zumeist in Kombination mit dem für den gesamten Text zentralen Erinnerungskomplex, etwa: „Wie ich mich erinnere oder wie ich mir vielleicht jetzt nur einbilde“ (DA 36). So wie schon Jean Paul als angemessenen literarischen Umgang mit dem Wunderbaren empfiehlt, die Existenz von Wundern nicht zu behaupten, sondern Menschen vorzuführen, die an Wunder glauben (und deren Realität damit offen zu lassen), wird die Überzeugungskraft des Metaphysischen auch bei Sebald fast immer an die unzuverlässige
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Die „schweren Dinge so zu schreiben, daß sie ihr Gewicht verlieren“,45 lautet ein poetologisches Credo Sebalds, das in Die Ringe des Saturn auf den Begriff der „Levitation“ (RS 30) gebracht wird. Ben Hutchinson hat 2006 vorgeführt, dass dieser freie Schwebezustand in Sebalds bis dahin fast einhellig für schwermütig gehaltenem Werk „sowohl ein Thema als auch eine Technik, sowohl ein Motiv als auch ein Ziel des Schreibens ist“.46 Dies gelte insbesondere für die späteren Texte ab Die Ringe des Saturn.47 Nicht erwähnt hat Hutchinson in seiner belegreichen Studie, dass dieses Programm bereits im Andersch-Essay erwähnt wird – werkbiografisch also genau in dem Moment, den Hutchinson fokussiert. Sebald zitiert aus Anderschs Roman Sansibar oder der letzte Grund ausführlich die Szene, in der Gregor während eines um die Hafenstadt Tarasovka am Schwarzen Meer abgehaltenen Manövers der Roten Armee plötzlich fasziniert ist vom Anblick des – Zitat Andersch – „golden schmelzenden Meeres“, von dem (so heißt es direkt danach noch einmal bei Andersch) „goldenen Schmelzfluß des Schwarzen Meeres“. Der Kommentar Sebalds lautet: Es wäre töricht abzustreiten, daß dergleichen Epiphanien in der Literatur gültig gestaltet worden sind. Aber es ist eine Sache, wenn die Worte tatsächlich abheben von der Erde, und eine andere, wenn sie, wie in der hier zitierten Stelle, mit ausgesuchten Adjektiven, Farbnuancen, Talmiglanz und sonstigem billigen Zierrat aufs geschmackloseste überfrachtet sind. (AA 135)
Nicht die stilistischen Intentionen Anderschs verwirft Sebald, sondern deren missratene Umsetzung. Wie nahe der kritisierende dem kritisierten Autor dabei kommt, deutet eine Parallelstelle in Die Ringe des Saturn an, in welcher der Erzähler die langen „Satzgebilde“ des barocken englischen Schriftstellers Thomas Browne beschreibt, die „Prozessionen oder Trauerzügen gleichen“, und die er sich unverkennbar zum Vorbild genommen hat (wie die Reflexionen über Thomas Browne auch sonst kaum verdeckte Selbstkommentare darstellen):48
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Perspektive einer Figur gebunden – zur Not im letzten Moment: „Es sei an solchen unwirklichen Erscheinungen, sagte Alphonso, am Aufblitzen des Irrealen in der realen Welt, an bestimmten Lichteffekten in der vor uns ausgebreiteten Landschaft oder im Auge einer geliebten Person, daß unsere tiefsten Gefühle sich entzündeten oder jedenfalls das, was wir dafür hielten“ (A 139); vgl. Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik“, in: ders.: Sämtliche Werke. Abt. I. Bd. 5. Hg. v. Norbert Miller. Frankfurt / M. 1996, S. 7–514, hier: S. 45. Sebald, W.G.: „Die schwere Leichtigkeit. Im Gespräch mit Sven Siedenberg“. In: Süddeutsche Zeitung vom 29. März 1996, S. 15. Hutchinson, Ben: „Die Leichtigkeit der Schwermut. W.G. Sebalds ‚Kunst der Levitation‘“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 457–477, hier: S. 459. Vgl. ebd., S. 460. Dass sich Sebalds Erzähler „in Gestalt seiner Kommentare zu Browne selbst beschreibt“ und Brownes Schriften „zu Modellen seines eigenen Schreibens“ macht, zeigt Claudia Albes: „Die Erkundung der Leere. Anmerkungen zu W.G. Sebalds ‚englischer Wallfahrt‘ Die Ringe des Saturn“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), S. 279–305, hier: S. 295.
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Zwar gelingt es ihm [= Browne] nicht immer [...], von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation. (RS 30)
Nur graduell unterscheidet sich der gepriesene Browne vom verworfenen Andersch: Auch der Könner scheitert bisweilen an seinen Ambitionen, die bezeichnenderweise bei Andersch, Browne und Sebald die gleichen zu sein scheinen. An kaum einer anderen Stelle des Andersch-Essays zeigen sich die poetologischen Überschneidungen zwischen beiden Autoren so deutlich. Wie produktiv die Beschäftigung mit Andersch für Sebald gewesen ist, lässt sich dabei bis in die Metaphorik hinein verfolgen: Nicht nur das ‚Abheben-von-der-Erde‘ übernimmt der Roman aus dem Essay, sondern auch die fortgesetzte Bildlichkeit der Luftfracht: Während Anderschs Sprache „aufs geschmackloseste überfrachtet“ ist, gerät der Brownesche Satz „mitsamt seiner Fracht“ ins Schweben. Nicht die Fracht, sondern erst deren zum Superlativ gesteigerte Geschmacklosigkeit erscheint in Sebalds Bildersprache als der entscheidende Grund dafür, dass Anderschs Texte der Schwerkraft trotz aller Bemühungen nicht entkommen. Die rhetorische Zuspitzung der Kritik lässt sich vor diesem Hintergrund auch als eine von leichter Panik durchsetzte Distanzierungsstrategie des einen Autors lesen, der sich nicht grundlos in der Nähe des anderen Autors wähnt, von dem er sich fernhalten will. Das Negativ der eigenen Poetik stellt die von Sebald nicht wahllos herangezogene Sansibar-Passage auch deshalb dar, weil es sich bei MeeresDarstellungen und Meeres-Metaphern um die in Sebalds Werken häufigste Naturerscheinung handelt. Andersch imaginiert das Meer in der von Sebald zitierten Passage als Kontrahenten der im Manöver anrückenden Panzer, „gegen die Tarasovka den goldenen Schild seines Meeres erhob“ (AA 135). Abgesehen davon, dass das Meer bei Andersch auf engem Raum gleich dreimal recht stereotyp als ‚golden‘ bezeichnet wird, stößt sich Sebald daran, dass hier die Natur ebenso wie die Technik einbezogen werde in eine „Ästhetisierung der Gewalt und des Krieges“ (AA 137). Sebalds Urteil ist einerseits plausibel, da Andersch das Meer metaphorisch in einen bewaffneten Konflikt integriert, übergeht aber andererseits den Umstand, dass die Natur innerhalb des Kriegsspiels immerhin als Gegner des martialischen Menschen fungiert. In Sebalds eigenen Naturdarstellungen wird das Verhältnis von Meer und Mensch nur minimal anders justiert: Auch dort verweigert sich das Meer den Sinnbildungsbemühungen des Menschen, allerdings ohne dass es dabei metaphorisch in menschliche Aktivitäten eingebunden wird. Während Anderschs Gregor das Meer als eine mit der Zivilisation korrespondierende, in ihrer ‚Schildhaftigkeit‘ anthropomorphe Natur erfährt und
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insofern eine grundsätzliche Nähe zur Natur verspürt, speist sich die von Sebalds Figuren empfundene Anziehungskraft des Meeres gerade aus dessen Menschenferne.49 In Die Ausgewanderten wird das Meer ganz im Gegensatz zu der bei Andersch beschriebenen Strahlkraft als „Rand der Finsternis“ evoziert, an dem nicht nur den Onkel Kasimir ein allgemeines Distanzgefühl überkommt: „I often come out here, sagte der Onkel Kasimir, it makes me feel that I am a long way away, though I never quite know from where“ (DA 129). Bezeichnenderweise schenkt der Erzähler in Die Ringe des Saturn der Angellust der ostenglischen Strandfischer keinen rechten Glauben, sondern vermutet, dass sie sich „einfach aufhalten wollen an einem Ort, an dem sie die Welt hinter sich haben und voraus nichts als Leere“ (RS 69). Und noch dort, wo in Sebalds Texten das Meer als Bildspender für menschliche Erfahrungen genutzt wird, steht es auf der Seite des Menschenfremden und Lebensfeindlichen: „Sie sehe jetzt“, heißt es über den Lebensrückblick der despotischen chinesischen Kaiserin Tz’u-hsi, wie die Geschichte aus nichts bestehe als aus dem Unglück und den Anfechtungen, die über uns hereinbrechen, Welle um Welle wie über das Ufer des Meeres, so daß wir, sagte sie, im Verlauf all unserer Erdentage auch nicht einen Augenblick erleben, der wirklich frei ist von Angst. (RS 185)50
Wiederum rückt Sebald mit der Meer-Passage also genau jene Aspekte aus Anderschs Werk in den Fokus der Kritik, die sich mit seinen eigenen literarischen Verfahren überschneiden. Der Text über Andersch stellt dabei nicht nur, wie es immer wieder allgemein über Sebalds Essays heißt, einfach eine Ausweitung seines literarischen Kosmos dar. Vielmehr dient Sebald dieser Essay unausgesprochen zur Begründung und Profilierung der eigenen Poetik. Seine bisweilen mikroskopischen Analysen von Anderschs Texten sind kritisch auch im etymologischen Wortsinn:51 Sie trennen und unterscheiden die beiden Personalstile gerade dort, wo sie sich auf den ersten Blick gleichen.
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In der Terminologie von Martin Seels Naturästhetik gesagt: Anderschs Figur erlebt das Meer als einen (hier negativ) korrespondierenden Ort, als Gestaltung einer „ausdruckhaften, vielfach mit Bedeutung besetzten Formation“; Sebalds Erzähler inszeniert es dagegen als einen Raum der erhabenen Kontemplation, für den gilt: „Der Bestürzung über die BedeutungsLeere entspricht ein Jubel über die Bedeutungs-Freiheit. In der erhabenen Irritation sind wir so frei, die Welt [...] außerhalb unserer zweckgerichteten und deutungsbeladenen Sicht der Dinge zu sehen“ (Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt / M. 1996, S. 90, 59). Zu solchen Überblendungen von Innen- und Außenwelt, insbesondere im Kontext von Leiderfahrungen, nutzt Sebald das Meer regelmäßig seit Schwindel. Gefühle., wo der Erzähler u.a. schreibt: „Ich nahm ein paar Tabletten und schlief ein, als die Schmerzen hinter meiner Stirn sich zurückzuziehen begannen wie nach der Flut die dunkle Feuchtigkeit aus dem langsam heller werdenden Sand“ (Sebald, W.G.: Schwindel. Gefühle. 4. Aufl. Frankfurt / M. 2002, S. 107). Das Adjektiv ‚kritisch‘ ist etymologisch verbunden mit den Semantiken von „scheiden, trennen, entscheiden“ (Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold. 23. Aufl. Berlin u. New York 1999, S. 488).
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In weiter Ferne, so nah Wenn Sebald Anderschs Stilblüten und Erzählstrategien kritisiert, enthüllt er ex negativo auch das Gerüst der eigenen Poetik. Je näher Anderschs vermeintliches Scheitern den Prinzipien seiner eigenen literarischen Projekte kommt, umso unversöhnlicher klingt Sebalds Urteil. Wer darin ein bloßes, von einer allgemeinen anxiety of influence motiviertes Scheingefecht vermutet, greift entschieden zu kurz. Denn der Blick in Sebalds Texte hat gezeigt, dass er sich bei aller nie explizit geäußerten Nähe zu Andersch in einer bisweilen zum Manierismus neigenden Weise darum bemüht, Anderschs Fehler nicht zu begehen, mithin andere Antworten auf die gleichen Fragen zu finden. In diesem Sinn ist Andersch ein Lehrmeister Sebalds, der es als negatives Beispiel mit der Produktivkraft der erklärten Vorbilder Stifter, Bernhard oder Handke aufnehmen kann. Wie so oft, findet sich auch dieses poetologische Modell in Sebalds Werk bereits vorformuliert. In einem bislang unveröffentlichten Gespräch über Karl Kraus, das er 1977 mit dem Regisseur Franz Reichert in Norwich geführt hat, kommt Sebald darauf zu sprechen, dass ihm immer wieder aufgefallen sei, wie Karl Kraus sich eigentlich assimiliert an das, was er für negativ hält, wie er mimetisch die Sprache beschreibt und so fast eins wird mit dem, was er hasst, und aus dieser Identifikation sozusagen seine Energie bezieht, was eine ausgesprochen seltsame Sache ist. Ist das nicht das, was man an ihm als etwas fast Dämonisches sehen könnte?52
Reicherts Antwort ist nichts hinzuzufügen: „Ja, was Sie da gesagt haben, das unterschreibe ich sehr, und ich finde es sehr gut von Ihnen formuliert.“53
Literatur Albes, Claudia: „Die Erkundung der Leere. Anmerkungen zu W.G. Sebalds ‚englischer Wallfahrt‘ Die Ringe des Saturn“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), S. 279–305. Baier, Lothar: „Literaturpfaffen. Tote Dichter vor dem moralischen Exekutionskommando“. In: Freibeuter 57 (1993), S. 42–70. Bülow, Ulrich von: „Sebalds Korsika-Projekt“. In: Wandernde Schatten. W.G. Sebalds Unterwelt. Hg. v. Ulrich v. Bülow, Heike Gfrereis u. Ellen Strittmacher. Marbacher Katalog 62. Marbach 2008, S. 211–224.
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Eine Videoaufzeichnung des Gesprächs befindet sich in der Bibliothek der University of East Anglia, Norwich; für die Einsicht in das Video danke ich Sarah Elsegood. Für Anregungen danke ich Markus Joch sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Sebald-Seminars an der Goethe-Universität Frankfurt im Wintersemester 2010/11.
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Torsten Hoffmann
– Schwindel. Gefühle. [1990] 4. Aufl. Frankfurt / M. 2002. Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt / M. 1996. Simon, Ulrich: „Der Provokateur als Literaturhistoriker. Anmerkungen zu Literaturbegriff und Argumentationsverfahren in W.G. Sebalds essayistischen Schriften“. In: Sebald. Lektüren. Hg. v. Marcel Atze u. Franz Loquai. Eggingen 2005, S. 78–104. Singh, Sikander: „Kitsch“. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3. Aufl. Hg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender u. Burkhard Moennighoff. Stuttgart, Weimar 2007, S. 384. Weber, Max: „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der Sozialwissenschaften“. In: ders.: Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik. Hg. v. Johannes Winckelmann. 6. Aufl. Stuttgart 1992, S. 263–310. Werle, Dirk: „Stil, Denkstil und Stilisierung der Stile. Vorschläge zur Bestimmung und Verwendung eines Begriffs in der Wissenschaftsgeschichte der Geistes- und Kulturwissenschaften“. In: Stil, Schule, Disziplin. Hg. v. Lutz Dannenberg, Wolfgang Höppner u. Ralf Klausnitzer. Frankfurt / M. 2005, S. 3–30. Wirtz, Thomas: „Schwarze Zuckerwatte. Anmerkungen zu W.G. Sebald“. In: Merkur 55 (2001), S. 530–534. Zucchi, Matthias: „Zur Kunstsprache W.G. Sebalds“. In: Verschiebebahnhöfe der Erinnerung. Zum Werk W.G. Sebalds. Hg. v. Sigurd Martin u. Ingo Wintermeyer. Würzburg 2007, S. 163–181. Zumbusch, Cornelia: „Probleme mit dem Pathos. Zur Einleitung“. In: Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Hg. v. ders. Berlin 2010, S. 7–24.
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Andersch, Klüger, Sebald: Moral und Literaturgeschichte nach dem Holocaust – Moral im Diskurs Die Schriftsteller dienen, wo immer sie schreiben, der Verminderung des Bösen im Menschen. Wolfgang Weyrauch1
Durch eine Veröffentlichung W.G. Sebalds (1944–2001) im Jahre 1993 wurde die so genannte ‚Andersch-Kontroverse‘ ausgelöst, die eine Diskussion über Biografie und Werk Alfred Anderschs (1914–1980) nach sich zog.2 In ihrem Kern führt diese Kontroverse über den Autor und sein Werk hinaus und erweist sich auch für eine Analyse der „Streitkultur Germanistik“ als aufschlussreich.3 Bis heute erregt die Auseinandersetzung die Gemüter; noch einmal verstärkt, seit in den vergangenen Jahren weitere Details zum Verhalten Anderschs während des Nationalsozialismus bekannt wurden.4 Gleichzeitig sind in der Kontroverse Fragen grundlegender literaturwissenschaftlicher Analysekriterien und -verfahren berührt. Zwei zentrale Kritikpunkte Sebalds, die hier noch einmal aufgegriffen werden, verdeutlichen dies. Zum einen ging es in seinem Essay um den Zusammenhang zwischen Biografie und Kunstwerk, den er besonders hervorhebt. So kritisiert Sebald etwa den Versuch der inneren Emigration, der er Andersch zurechnet, „das moralische Defizit“ des
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Weyrauch, Wolfgang: „Nachwort“. In: Tausend Gramm. Ein deutsches Bekenntnis in dreißig Geschichten aus dem Jahr 1949. Mit einer Einleitung von Charles Schüddekopf. Hg. v. Wolfgang Weyrauch. Reinbek bei Hamburg 1989, S. 175–183, hier S. 176. Zur Debatte vgl. Ritter, Alexander: „Eine Skandalinszenierung ohne Skandalfolge. Zur Kontroverse um Alfred Andersch in den neunziger Jahren“. In: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Hg. v. Johann Holzner u. Stefan Neuhaus. Göttingen 2007, S. 469–479. Dazu der Aufsatz von Markus Joch: „Streitkultur Germanistik. Die Andersch-SebaldDebatte als Beispiel“. In: Germanistik [in und für] Europa. Faszination – Wissen. Texte des Münchener Germanistentages 2004. Im Auftrag des Vorstands des Deutschen Germanistenverbandes. Hg. v. Konrad Ehlich, Bielefeld 2006, S. 263–275. Döring, Jörg u. Rolf Seubert: „‚Entlassen aus der Wehrmacht: 12.03.1941. Grund: ‚Jüdischer Mischling – laut Verfügung‘. Ein unbekanntes Dokument im Kontext der Andersch-Sebald-Debatte“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 51 (2008), S. 171–184.
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eigenen Verhaltens „durch einen symbolischen Widerstand in der Kunst auszugleichen.“5 Dabei reagierte er auch auf das Andersch schon früh zugesprochene Verdienst einer „Ästhetik des Widerstands“ ante Peter Weiss, die er ihm moralisch und ästhetisch absprach. Zum anderen attackierte Sebald die germanistische Wissenschaft, die im Gegensatz zur Tageskritik an den Texten Anderschs kaum etwas auszusetzen gehabt habe und um die Frage, ob es sich bei den Mängeln in Anderschs Texten „nur um gelegentliche stilistische Entgleisungen“ oder aber um „Symptome einer tieferliegenden malaise“ handelte, „den für ihre Branche charakteristischen Eiertanz aufgeführt“ hätte.6 An späterer Stelle ist auch vom „Neutralisierungsgeschäft der Germanistik“ die Rede.7 In der Kritik des germanistischen Außenseiters standen also neben dem Gesamtwerk des Autors Andersch und dessen Biografie auch die Germanistik als Disziplin und ihr Umgang mit dem Nationalsozialismus und dessen Folgen. Nach einigen unmittelbaren Reaktionen auf diese Provokation erschien 1994 ein germanistischer Sammelband zum 80. Geburtstag Anderschs, dessen Beiträge zum Teil auf die Debatte Bezug nahmen. Neben einem Aufsatz des Andersch-Biografen Stephan Reinhardt enthält der Band u.a. auch einen Aufsatz Irene Heidelberger-Leonards,8 in dem sie Anderschs Werk einer Revision unterzog. Dieser Aufsatz verbindet auf beeindruckende Weise eine grundsätzliche Empathie mit dem Autor und einen überzeugenden Versuch konsequenter Relektüre vor dem Hintergrund der neuen Erkenntnisse zur Biografie. In einem späteren Aufsatz verschärft sie ihre Kritik an Andersch.9 Rhys W. Williams deutet kurz darauf die Texte Anderschs vorsichtig als ein Durchspielen verschiedener, dem Autor während des NS offenstehender Möglichkeiten, die ihm jedoch damals nicht zur Verfügung standen.10 Dagegen bekräftigt Klaus Briegleb in seiner Streitschrift zum Antisemitismus der Gruppe 47 aus dem Jahre 2003 Sebalds Kritik.11
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Sebald, W.G.: „Der Schriftsteller Alfred Andersch“. In: ders.: Luftkrieg und Literatur. S. 121– 160, hier S. 158. Ebd., S. 129. Ebd., S. 144. Heidelberger-Leonard, Irene: „Erschriebener Widerstand? Fragen an Alfred Anderschs Werk und Leben“. In: Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. [Kolloquium zum achtzigsten Geburtstag des Autors in der Werner-Reimers-Stiftung, Bad Homburg v.d.H.] Hg. v. Irene Heidelberger-Leonard u. Volker Wehdeking. Opladen 1994, S. 51–61. Heidelberger-Leonard, Irene: „Zur Dramaturgie einer Abwesenheit – Alfred Andersch und die Gruppe 47“. In: Bestandsaufnahme. Studien zur Gruppe 47. Hg. v. Stephan Braese. Berlin 1999, S. 87–101. Williams, Rhys W.: „‚Geschichte berichtet, wie es gewesen. Erzählung spielt eine Möglichkeit durch.‘ Alfred Andersch and the Jewish Experience“. In: Jews in German Literature since 1945: German-Jewish Literature?. Hg. v. Pól O’Dochartaigh. Amsterdam, Atlanta 2000, S. 477–489. Briegleb, Klaus: Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: „Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“ Berlin u.a. 2003.
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Eine völlige Zurückweisung erfahren Sebalds Vorwürfe dagegen in der kommentierten Andersch-Ausgabe Gesammelte Werke durch den Herausgeber Dieter Lamping im Jahre 2004, der sich auch gegen Brieglebs Zustimmung richtet. Lamping konstatiert, dass Sebald „[d]ie umfassendste und schärfste Kritik“ an Andersch vorgebracht habe und dass sich bis heute „fast alle Gegner Anderschs“ auf sie berufen würden.12 Er unterstellt, Sebald hätte einen „moralische[n] Prozeß“ gegen Andersch geführt, der „auf starken, durchweg einseitigen Interpretationen“ beruhe, „die von heftiger Abneigung gegen den Autor und sein Werk geleitet“ seien.13 Für die Argumentation von Sebald sei eine „Mischung aus Biographismus und moralischem Rigorismus“ kennzeichnend.14 Schließlich weist Lamping alle Versuche, in Texten Anderschs „Spuren eines versteckten Antisemitismus“ zu entdecken mit Verweis auf Italo Michele Battafarano als haltlos zurück, wobei er auch Ruth Klüger elementare Lesefehler und ein methodisch problematisches Vorgehen attestiert.15 Klüger hatte bereits 1985 drei Erzähltexte Anderschs kritisch im Hinblick auf die darin entworfenen „Judenbilder“ untersucht, ohne dass ihr zunächst auf Englisch und 1986 auf Deutsch erschienener Aufsatz eine nennenswerte Debatte nach sich gezogen hätte.16 Markus Joch unternimmt 2006 den meines Wissens ersten Versuch, auf der Grundlage von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann auch die normativen Voraussetzungen von Sebalds Kritikern zu analysieren. Dabei entdeckt er bei Wissenschaftlern mit durchaus divergierender Forschungspraxis eine Konvergenz im „Anti-Biographismus“, deren Positionierung er als Distinktionsgewinn beschreibt.17 Für die Zeit seit 2008 schließlich, als der Materialienband Sansibar ist überall und ein Aufsatz von Jörg Döring und Rolf Seubert neue Erkenntnisse zu Andersch im NS sowie damit einhergehend eine Wiederaufnahme der Diskussion brachten, wäre bis zum Erscheinen dieses Bandes etwa noch der Aufsatz von Manfred
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Lamping, Dieter: „Kommentar“. In: Andersch, Alfred: Gesammelte Werke in zehn Bänden, Bd. 1. Hg. v. Dieter Lamping. Zürich 2004, S. 453. Ebd., S. 456. Ebd., S. 457. Ebd. Lamping bezieht sich auf Italo Michele Battafarano: „Kitsch und Selbstsucht – und auch noch Spuren von Antisemitismus? Marginalia zu Alfred Andersch: eine Forschungskontroverse Sebald, Heidelberger-Leonard und Weigel betreffend“. In: Morgen-Glantz 4 (1994), S. 241–257. Klüger, Ruth: „Gibt es ein Judenproblem in der deutschen Nachkriegsliteratur?“. In: dies.: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 1994, S. 9–38. Der deutschen Fassung von 1986 war eine englische Fassung 1985 vorausgegangen. Joch: „Streitkultur Germanistik“, S. 266–269.
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Durzak zu Sebald als unduldsamem Kritiker anzuführen.18 Darin steht ebenfalls nicht mehr die Kritik an Andersch im Vordergrund, sondern Sebalds Polemik gerät zum Ausgangspunkt einer kritischen Überprüfung seiner Motive und eigenen ästhetischen Position.19 Von Anfang an gehörte die moralische Bewertung der jeweils kritisierten Argumentation oder Darstellung zur Kontroverse.20 „Moral“ als konstitutiver Bestandteil von Debatten verweist zwar nicht immer unmittelbar auf ein festes Set geteilter Wertvorstellungen, ist aber immer mit einem Wahrheitsanspruch verbunden. Das zeigt sich etwa in dem MoralVorwurf, den Lamping gegenüber Sebald erhebt und den Letzterer schon gegenüber Andersch vorgebracht hatte. Während im einen Falle ein „moralisches Defizit“ beklagt wird, das als Ursache für eine Deformierung des literarischen Werks von Andersch insgesamt angenommen wird und somit dessen Wahrhaftigkeit infrage stellt, bemängelt der andere „moralischen Rigorismus“, durch den die wahre Erkenntnis des ästhetischen Kunstwerks verfehlt werde. Zumindest Letzteres verweist auf die wohl gängige Praxis, postulierte „Gegner“ – von denen Lamping explizit spricht – in einer Kontroverse moralisch zu diskreditieren, wofür im Zweifel der Moral-Vorwurf selbst als probates Mittel eingesetzt wird. Bei Sebald geht es um einen hermeneutischen Verdacht, der von einem Fehlverhalten des Autors ausgehend auch seine Ästhetik zu beurteilen unternimmt. Sebalds Kritiker dagegen beziehen sich häufig auf eine „Geschmacksnorm“ der Kunst, generell als ein von moralischen Ansprüchen und von Wahrheitsfragen entlastetes Feld erscheint: „Vom Code der Wissenschaft – wahr / falsch – wie auch von dem der Moral – gut / böse entlastet, ist Kunst definiert durch die Funktion, die sie und kein anderes Teilsystem zur gesellschaftlichen Kommunikation beisteuern kann.“21 Im Gegensatz dazu besteht Sebald jedoch auf der Gültigkeit beider „Codes“ und protestiert gegen die Entlastung von Moral und Wahrheit im Hinblick auf Literatur.
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Korolnik, Marcel u. Annette Korolnik-Andersch (Hg.): Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt – In Texten, Bildern, Dokumenten. München 2008; Döring u. Seubert: „Entlassen aus der Wehrmacht“. Durzak, Manfred: „Sebald – der unduldsame Kritiker. Zu seinen literarischen Polemiken gegen Sternheim und Andersch“. In: Sebald, W.G.: Schreiben ex patria / Expatriate Writing. Hg. v. Gerhard Fischer. Amsterdam u. New York, 2009, S. 435–445. Durzak setzt Sebalds Sternheim-Buch Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära (1969) mit dem Andersch-Aufsatz in einen Zusammenhang und kommt zu dem Schluss: „In beiden Fällen wird die historische Lebenswirklichkeit der Autoren moralistisch so mit ihren literarischen Werken vermengt, dass die Aburteilung des literarischen Werks zugleich zum Anathema des Lebenswegs und umgekehrt wird.“ Ebd., S. 439. Bereits im Titel von Lothar Baiers Intervention in die Debatte 1993/94 ist der MoralVorwurf effektheischend platziert: Baier, Lothar: „Literaturpfaffen. Tote Dichter vor dem moralischen Exekutionskommando“. In: Freibeuter 57 (1993), S. 21–70. Joch: „Streitkultur Germanistik“, S. 268.
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Philologisch interessant ist dieser Befund auch deshalb, weil das Feld so genannter deutscher Vergangenheitsbewältigung offenkundig in besonderer Weise unterschiedliche moralische Empfindungen und deren diskursive Äußerung zu mobilisieren vermag. Vor diesem Hintergrund erscheinen auch neuere Ansätze einer Moralgeschichte von Interesse, die den Nationalsozialismus selbst als ein Moralsystem begreifen. Dessen Moral verpflichtete seine Mitglieder freilich nicht auf universelle, für alle Menschen gültige Werte, sondern auf eine partikulare Moral, die ausschließlich der ‚Volksgemeinschaft‘ zukam. Raphael Gross geht davon aus, dass die im Nationalsozialismus ausgeprägten moralischen Gefühle „in Deutschland nach 1945 sowohl den Umgang mit den Juden als auch die Vorstellungen über das Judentum und das ‚Jüdische‘“ bestimmten, ja sogar, dass diese Gefühle „bis heute die regelmäßig auftretenden Konflikte um die NS-Vergangenheit“ prägen.22 Die These kreist um die Frage nach Kontinuitäten und Transformationen der deutschen Gesellschaft und verweist darauf, dass der Übergang vom Nationalsozialismus hin zu den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften mit weitreichenden mentalen Prozessen einherging, die auf dem Gebiet der Moral offenbar lange wenig beachtet wurden. Am Verhältnis zu den Juden wurde vor allem in der Bundesrepublik nach dem Holocaust eine neue Staatsräson entwickelt, wozu auch die deutsche Nachkriegsliteratur beitrug. In deren „Judenbildern“ findet sich reichlich Anschauungsmaterial für das ästhetische Erproben veränderter Einstellungen, die aber vielfach alte Stereotype transportieren. So lassen sich an der Gestaltung jüdischer Figuren in den Texten nichtjüdischer deutscher Nachkriegsautorinnen und -autoren Fragen mentalitätsgeschichtlicher Art und Fragen nach den Veränderungen deutscher Erinnerungskultur analysieren. Neben Andersch haben etwa Heinrich Böll, Günter Grass, Hans Werner Richter, Luise Rinser, Albrecht Goes oder Wolfgang Weyrauch in ihren Texten Jüdinnen und Juden auftreten lassen, die im Kontext der Darstellung des Nationalsozialismus verschiedene Funktionen erfüllen.23 Vor allem am Beispiel von drei Texten Wolfgang Weyrauchs, die zwischen 1947 und 1958 veröffentlicht wurden, habe ich an anderem Ort gezeigt, dass in der deutschen Nachkriegsliteratur ‚das Jüdische‘ als eine Projektionsfläche
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Gross, Raphael: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. Frankfurt / M. 2010, S. 10. Vgl. dazu Hahn, Hans-Joachim: „‚Die, von denen man erzählt hat, dass sie die kleinen Kinder schlachten.‘ Deutsche Leiderfahrung und Bilder von Juden in der deutschen Kultur nach 1945. Zu einigen Texten Wolfgang Weyrauchs“. In: A Nation of Victims? Representations of German Wartime Suffering from 1945 to the Present. Hg. v. Helmut Schmitz. Amsterdam, New York, S. 51–70; Hahn, Hans-Joachim: „Lektüreschwierigkeiten mit dem ‚Judenproblem‘ in der deutschen Nachkriegsliteratur“. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Hg. v. Klaus-Michael Bogdal u.a. Stuttgart 2007, S. 131–146.
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erscheint, die zwar weder im Anti- noch im Philosemitismus ganz aufgeht, sich aber aus beiden Tendenzen speist. Im Hinblick auf die ästhetische Verarbeitung des NS dienen viele dieser Projektionsgestalten von Jüdinnen und Juden zur Rechtfertigung der Darstellung eigener Opferwahrnehmung.24 Die Protagonisten einer neuen deutschen Literatur nach 1945 legitimierten sich moralisch durch ihre Distanz zum Nationalsozialismus. Ihre literarischen Figuren stehen daher überwiegend im Zusammenhang mit dem verständlichen Wunsch nach einer neuen Moral. Die Forderung nach einem engen Zusammenhang zwischen Literatur, Wirklichkeit und Moral entsprach der zeitgenössischen Programmatik, wie sie sich exemplarisch in einem zentralen Gründungsmanifest dieser neuen Literatur, dem Nachwort Weyrauchs zur Anthologie Tausend Gramm (1949), ausgedrückt findet: Die hier versammelten Geschichten besäßen „eine echte Affinität mit der Wirklichkeit, mit der Moral und Unmoral ihres Gefälles.“25 Idealistisch schrieb Weyrauch den Schriftstellern per se zu, „der Verminderung des Bösen im Menschen“ zu dienen.26 Fraglos gehörte die Darstellung von Jüdinnen und Juden in Texten aus dieser Zeit in vielen Fällen zum positiven Entwurf moralisch integrer, nichtjüdischer deutscher Autorenrollen. Es kann daher in Bezug auf Andersch die Frage gestellt werden, welche Funktionen seine Darstellung von Jüdinnen und Juden erfüllt, ob sie sich verändert und wie sich Konstanz oder Wandlungsfähigkeit des Judenbildes zu den literarischen Selbstreflexionen des Autors vor dem Hintergrund kollektiver Lernprozesse verhalten. Die Interventionen von Klüger und Sebald erinnern mit ihrem Beharren auf einem Wahrheitsanspruch der Literatur auch an die Frage nach dem Selbstverständnis der deutschen Nachkriegsliteratur. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, im Anknüpfen an beide kritischen Einreden und in Auseinandersetzung mit anderen Positionen aus der Kontroverse und der Forschungsliteratur die Frage nach Anderschs Judenbildern mit der nach ästhetischer Wahrheit zu verbinden. Im ersten Teil streife ich die erneute Diskussion um Die Kirschen der Freiheit, um eine frühe vergangenheitspolitische Position Anderschs zu rekonstruieren. Daran anschließend zeige ich ausgehend von Klügers Kritik an Anderschs Judenbilder deren zentrale Bedeutung sowohl für ihre als auch für Sebalds Kritik. Anhand einer kritischen Überprüfung bisheriger Efraim-Lektüren geht es mir in einem dritten Teil darum, eine Veränderung in Anderschs Reflexion über den Nationalsozialismus anzudeuten, die zwar eine gewisse Pluralisierung der Funktion seiner Judenbilder und so
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Vgl. Hahn: „‚Die, von denen man erzählt hat, dass sie die kleinen Kinder schlachten‘“, S. 56. Weyrauch: „Nachwort“, S. 182. Ebd., S. 176.
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eine veränderte Sicht auf die Vergangenheit aufweist, aber als Gesamtkonstruktion an der problematischen Erzählerfigur scheitert. Ein kurzes Fazit dient der Frage nach möglichen Schlussfolgerungen aus der Andersch-Kontroverse.
Historische Wirklichkeit, ästhetische Reflexion und ihre Bewertung Stephan Reinhardt veröffentlichte 1990 seine Andersch-Biografie, der Sebald die biografischen Informationen über Andersch entnahm. Reinhardt war es auch, der als Erster auf Sebalds Vorwürfe antwortete. In seiner Entgegnung wird interessanterweise weder die biografische Engführung von Werk und Autor – wodurch z.B. der Roman Sansibar oder der letzte Grund (1957) als „Wunschbiographie“ erscheint – noch die Bewertung des Verhaltens von Andersch während des NS als eines Changierens zwischen „Kompromissbreitschaft und Opposition“ infrage gestellt. Reinhardts Zurückweisung der Sebaldschen Kritik bezieht sich auf dessen Kernthese, Anderschs gesamte literarische Nachkriegsproduktion habe einer „Transsubstantiation von Schuld bzw. Mitschuld in Schuldfreiheit“27 gedient. Diesen Satz hat Sebald in der späteren Buchveröffentlichung seines Essays gestrichen. Dem stellt Reinhardt die Frage entgegen, ob nicht der innere Beweggrund für diese Literatur vielmehr gewesen sei, „sich die Schuld, mitverstrickt gewesen zu sein in die Spielregeln der NS-Diktatur, bewußt zu machen und dadurch einer möglichen Wiederkehr der Vergangenheit den Boden zu entziehen?“28. Reinhardt liefert eine längere Erklärung dafür, wie diese Literatur zu verstehen sei: Literatur wird, auf dem Hintergrund so bitterer privater und so katastrophaler Erfahrungen wie der des Holocaust, für Andersch zu einer Form des ‚Kampfes gegen das Schicksal‘. Sie birgt die Chance, wenigstens in der Vorstellung, in der Fiktion auszubrechen aus unerträglichen Verhältnissen, sich zu befreien von Irrtümern, Schuld zu benennen und damit vielleicht erträglicher zu machen. Literatur birgt die Möglichkeit, zur Wirklichkeit das Mögliche hinzuzuerfinden, Alternativen durchzuspielen, Geschichte und schuldhaft erfahrene Lebensgeschichte zu korrigieren. In diesem Sinne ist manches von Andersch gleichsam umgeschriebene Lebensgeschichte.29
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Sebald, W.G.: „Between the devil and the deep blue sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden in der Vorsehung“. In: Lettre International 20 (1993), S. 80–84, hier: S. 80. Reinhardt, Stephan: „Ästhetik als Widerstand – Andersch als Bürger und engagierter Schriftsteller“. In: Alfred Andersch. Hg. v. Irene Heidelberger-Leonard u. Volker Wehdeking. Opladen 1994, S. 32–41, hier S. 35. Ebd.
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Unmissverständlich bezieht Reinhardt in seiner Beschreibung von Literatur als Möglichkeitsraum die Biografie des Autors und seine Literatur aufeinander, sogar die Bearbeitung eigener Schuld wird dabei angesprochen. Nicht die These eines Zusammenhangs zwischen den biografischen Bedingungen und der von Andersch produzierten Literatur steht also in dieser Entgegnung auf den Kritiker Sebald zur Diskussion, sondern deren Bewertung und die Unterstellung einer Kompromittierung des Gesamtwerks. Dabei geht es um den größeren Kontext der westdeutschen Erinnerungskultur, für die Andersch eine ähnlich prominente Rolle wie Heinrich Böll spielt – er gilt sogar als „unbestrittene Schlüsselfigur der Nachkriegsszene“ gilt.30 Kaum bezweifelt werden dürfte wohl, dass Andersch diese herausgehobene Position im literarischen Feld Anfang der 1950er Jahre vor allem mit Hilfe eines symbolischen und moralischen Kapitals erreichte, das ihm auf Grund seines „autobiografischen Berichts“ Kirschen der Freiheit (1952) zugesprochen wurde. Darin ist es die Darstellung seiner kurzen Haft in Dachau sowie seiner Desertion 1944 aus der Wehrmacht, die ihn zumindest moralisch in die Nähe von Widerstand rücken. Insbesondere durch den Erfolg von Sansibar wenige Jahre später hat Andersch den Diskurs der „Vergangenheitsbewältigung“ nicht nur früh schon beeinflusst, sondern tut dies in gewissem Maße noch immer. Inzwischen sind durch die Forschungen von Johannes Tuchel, Jörg Döring, Rolf Seubert und Felix Römer neue Quellen gefunden worden, so dass eine ganze Reihe an Transformationen von den historischen Ereignissen bzw. von deren dokumentierten Spuren in Anderschs Bericht Kirschen der Freiheit analysiert werden konnte. Darauf braucht hier nicht im Einzelnen eingegangen zu werden. Angeführt werden sollen nur zwei kurze Stellen aus dem Bericht über die Haft in Dachau. Andersch bedient sich im Zusammenhang mit einem Transport kommunistischer Häftlinge, den er entgegen der historischen Fakten als ausschließlich jüdisch wahrnahm, eines antijüdischen Stereotyps. Es heißt dort: „Die Juden würden nicht lange bleiben, dachten wir. Es waren lauter Kaufleute und Ärzte und Rechtsanwälte, Bourgeoisie. [...] Sie waren still und hatten gute Anzüge an.“31 Außerdem kommentiert der Erzähler seine Bemerkung, das Glück gehabt zu haben nie geschlagen worden zu sein, mit dem eingeklammerten Satz: „Hoffentlich verläßt es mich nicht in
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Heidelberger-Leonard, Irene u. Volker Wehdeking: „Vorwort“. In: Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Hg. v. Irene Heidelberger-Leonard. S. 7–10, hier S. 7. Andersch, Alfred: Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht. [1952] Zürich 2006, S. 33. Helmut Böttiger, der diese Passage in einem jüngst in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Artikel ausführlich wiedergibt, „spürt“ darin dagegen „die Fassungslosigkeit, mit der ein junger, gläubiger Kommunist wahrnimmt, dass die Juden von den Nazis weitaus grausamer behandelt werden als die Kommunisten.“ Vgl. Böttiger, Helmut: „Beschreibungsimpotenz. Die Gruppe 47, Alfred Andersch & Co: Über einige Klischees der jüngeren Literaturgeschichtsschreibung“. In: Süddeutsche Zeitung vom 14. Februar 2011, S. 14.
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den Lagern, welche die Zukunft für mich, für uns, bereithält.“32 Beides, die ausgrenzende Wahrnehmung von vermeintlichen Juden als Bourgeoisie sowie die Vorstellung einer in der Zukunft drohenden Gefahr neuer Lager, sind Topoi, die vor allem Aufschluss geben über eine einseitige Selbstwahrnehmung als Opfer, die jedoch wenig Raum lässt für die Anerkennung des Holocaust. Im Hinblick auf die Ungereimtheiten hinsichtlich der Haftdauer, Anderschs Funktion im kommunistischen Jugendverband etc. ist weniger die Faktenlage umstritten als deren Bewertung. Tuchel etwa kommt zu dem Schluss, dass sich Andersch wie viele seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen in seinen Äußerungen und Veröffentlichungen nach 1945 „neu erschaffen“ habe. Aus der Analyse der überlieferten Quellen sei ersichtlich, dass Andersch manche Tatsachen verändert habe, um sich selbst positiver darzustellen. Aber auch darin unterscheide sich Andersch ebenso wenig von vielen anderen Deutschen nach 1945 wie auch von vielen anderen Schriftstellern, die nachträglich ihr Verhalten unter den Bedingungen einer Diktatur dargestellt oder reflektiert hätten.33 Das konformistische Argument, Andersch unterscheide sich in dieser Hinsicht nicht von vielen anderen, lässt allerdings offen, wie ein jeweils konkretes Verhalten bzw. eine bestimmte Darstellung im Einzelnen zu bewerten sei.34 Bewertungen von Handlungen sowie von Darstellungen beziehen sich im gegebenen Kontext der Kontroverse immer sowohl auf die geteilten Grundannahmen einer Fachdisziplin, die historisch begründet und daher veränderlich sind, als auch auf implizite Annahmen über „korrektes“ Verhalten im Rahmen als allgemein unterstellter Werte und Normen. Insofern liegt auf der Hand, dass bestimmte literarische Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus nicht einfach dauerhaft als besonders gelungene, besonders interessante oder auch besonders wahrhaftige Texte angesehen werden. Es muss nicht eigens in Erinnerung gerufen werden, dass sich auch das Wissenschaftsverständnis der Germanistik, ohnehin nur als plurales denkbar, seit 1945 ebenso grundlegend gewandelt hat wie die kulturelle und öffentliche Erinnerung an den Nationalsozialismus. Daher verweist die AnderschDebatte auch auf einen fachdisziplinären Konflikt innerhalb der Literaturwissenschaft.
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Andersch: Die Kirschen der Freiheit, S. 34. Tuchel, Johannes: „Alfred Andersch im Nationalsozialismus.“ In: Korolnik, Marcel u. Annette Korolnik-Andersch: Sansibar ist überall. Alfred Andersch. Seine Welt – in Texten, Bildern, Dokumenten. München 2008, S. 30–41, hier: S. 40f. Auch Böttiger bemüht eine ähnlich konformistische Vorstellung, wenn er sich angesichts des in Deutschland in den fünfziger Jahren weit verbreiteten und von ihm explizit angeführten Antisemitismus fragt, warum man sich überhaupt mit diesem Aspekt im Hinblick auf die Gruppe 47 beschäftigen sollte: „Angesichts dessen, wie es um die deutsche Gesellschaft allgemein in den fünfziger Jahren bestellt war, ist eine Konzentration auf diesen Aspekt bei der Gruppe 47 fast absurd.“ Warum das allerdings so sein sollte, bleibt offen. Vgl. Böttiger, „Beschreibungsimpotenz“.
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Die Frage, ob es eine Abbildungsproblematik im Hinblick auf eine historische Wirklichkeit wie der des Nationalsozialismus überhaupt gebe, hängt zunächst einmal davon ab, ob Literatur – zumindest auch – als Medium von Wirklichkeitserkenntnis verstanden wird, in dem gesellschaftliche Fragestellungen verhandelt werden. Der Annahme zuzustimmen heißt freilich nicht, die spezifisch literarischen Darstellungsmittel außer Acht zu lassen. Vielmehr wird lediglich davon ausgegangen, dass bei einer Bewertung ästhetischer Konstruktionen eben auch die gesellschaftlich-politische Dimension ebenso wie die eigene „Standortgebundenheit“ (Karl Mannheim) der Interpreten eine Rolle spielen. Im Zusammenhang mit einer „Rückkehr des Autors“, die seit etwa zehn Jahren diskutiert wird, scheinen in jüngster Zeit Forschungsperspektiven, die sich mit dem Verhältnis von Fakt und Fiktion, Wirklichkeit, Authentizität und Realismus beschäftigen, mit gutem Grund wieder an Interesse zu gewinnen.35 Andersch selbst vertritt in der 1948 veröffentlichten Programmschrift Deutsche Literatur in der Entscheidung eine Literaturauffassung, in der Politik und Stil unmittelbar aufeinander und auf die Frage nach dem Umgang mit dem Nationalsozialismus bezogen werden. Seine Schrift will zeigen, „welch enger Zusammenhang zwischen der literarischen Form, dem künstlerischen Gehalt der Literatur, und dem Phänomen des deutschen Irrtums besteht.“36 Insofern geht es Andersch ganz direkt um die Reflexions- und Erkenntnismöglichkeit von Literatur im Hinblick auf den Nationalsozialismus. Symptomatisch ist dabei sicherlich, dass ähnlich wie 1946 Friedrich Meinecke von der „deutschen Katastrophe“ sprach, bei Andersch die verharmlosende Wendung des „deutschen Irrtums“ erscheint. Dezidiert unterstreicht er die Beziehung zwischen „Stil“, worunter er „die künstlerische Gesamthaltung eines Autors“ versteht, und „Integrität“. So sei die „literarkritische Wertung“ eng mit der politischen verbunden.37 Genau an diesen Zusammenhang erinnern Klüger und Sebald.
„Judenbilder“ als Problem In ihrem Essay „Gibt es ein Judenproblem in der deutschen Nachkriegsliteratur?“ hat Ruth Klüger drei der Romane von Alfred Andersch im Hinblick auf die Darstellung von Juden untersucht und anhand dieser Be-
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Vgl. etwa die von Eckhard Schumacher organisierte Vortragsreihe in Greifswald im Wintersemester 2010/2011, die unter den genannten Begriffen firmiert. Andersch, Alfred: Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation. Karlsruhe [1947] 1948, S. 29. Ebd.
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funde die rhetorische Frage ihres Essays positiv beantwortet.38 An Sansibar, Die Rote und Efraim entwickelt sie die für ihren Essay zentrale Figur der „Wiedergutmachungsphantasie.“ Andersch schreibt sie dabei nicht ohne Grund zu, sich unter den westdeutschen Nachkriegsautoren wohl am ausführlichsten mit dem „Judenproblem“ beschäftigt zu haben.39 Bei dem „Phänomen“ der „Wiedergutmachungsphantasie“ gebe die reale, historische Verfolgung der Juden zwar den Hintergrund sowie die „Grundgegebenheit“ der Texte ab, im Vordergrund spiele sich jedoch das Gegenteil davon ab. Klügers Kritik richtet sich dabei gegen eine Darstellung, die die historische Ausnahme – dass Juden von nichtjüdischen Deutschen während des Nationalsozialismus gut behandelt wurden – zur selbstverständlichen Norm erhebt. Genau darauf trifft sie nun in den ersten drei Romanen Anderschs und insbesondere in Sansibar. Wenn Fantasie sich aber als Realismus gebe, werde daraus per definitionem Kitsch; eine „Überhöhung von Wirklichkeit“ müsste den Lesern und Leserinnen verdeutlicht werden, wofür Klüger hier aber augenscheinlich keine Hinweise findet.40 Ihr Einspruch gegen Anderschs literarisches Verfahren unterstellt dabei sowohl einen bestimmten Realismusbegriff, der von einer Korrelation zwischen Text und historischer Wirklichkeit ausgeht, dem Andersch entgegen dem Anschein und, wie zu ergänzen ist, auch entgegen seinem eigenen Anspruch, nicht entsprach. Andersch selbst postulierte bezüglich seiner literarischen Texte und Hörspiele einen auffälligen Wahrheitsanspruch. So insistierte er in der Selbstanzeige zu seinem 1950 entstandenen Hörspiel Biologie und Tennis darauf, die „Wahrheit des Geschilderten“ sei authentisch.41 In den Kirschen ist es der Satz: Dieses Buch will nichts als die Wahrheit sagen, eine ganz private und subjektive Wahrheit. Aber ich bin überzeugt, daß jede private und subjektive Wahrheit, wenn sie nur wirklich wahr ist, zur Erkenntnis der objektiven Wahrheit beiträgt.42
Auch in Die Rote gibt es ein Wahrheitspostulat, das als ein von Claudio Monteverdi übernommenes Motto dem Roman vorangestellt ist: „Der moderne Komponist schreibt seine Werke, indem er sie auf der Wahrheit aufbaut.“43 Es war also Andersch selbst, dem Wahrhaftigkeit für seine litera-
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Klüger, Ruth: „Gibt es ein Judenproblem in der deutschen Nachkriegsliteratur?“ In: dies.: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 1994, S. 9–38. Der deutschen Fassung von 1986 war eine englische Fassung 1985 vorausgegangen. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Zit. nach Heidelberger-Leonard: „Erschriebener Widerstand?“, S. 54. Heidelberger-Leonhard sieht in dem Stück „ein Vorspiel“ zum späteren Roman Efraim: Andersch sei der erste nichtjüdische „BRD-Schriftsteller“, der es auf sich genommen habe, „das Problem des Antisemitismus aus jüdischer Perspektive zu imaginieren, eine Perspektive, zu der er siebzehn Jahre später in seinem Roman Efraim zurückkehren wird“ (Ebd.). Andersch: Kirschen, S. 54. Andersch, Alfred: Die Rote. Roman. Buchgemeinschaftsausgabe, Gütersloh u.a. o.J., S. 5.
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rische Produktion als Qualitätsmaßstab galt. Andersch und Klüger scheinen in ihren Vorstellungen von den Kriterien realistischer Literatur durchaus nah beieinander, denn beide erheben die Reflexion von Wirklichkeit zu einem Merkmal realistischen Schreibens. Vor dem Hintergrund ihres Verständnisses von Realismus sieht Klüger das zentrale Problem an den drei von ihr untersuchten Texten Anderschs und insbesondere an Sansibar darin, dass sie eine „Quasi-Wirklichkeit“ entstehen ließen, „die das tatsächlich Geschehene in Richtung eines Rehabilitationsversuchs der deutschen Bevölkerung von damals verschiebt.“44 An anderer Stelle spricht sie von Entlastung der Deutschen und verbindet so ihren Realismusbegriff mit einer wirkungsästhetischen Annahme. Zwischen diesen Darstellungen und „der jüdischen Erinnerung“ an die Jahre der Verfolgung gäbe es kaum Überschneidungen.45 Klüger verweist damit auf eine auffällige Wahrnehmungsdifferenz, die zwischen Darstellungen jüdischer und nichtjüdischer Autorinnen und Autoren hinsichtlich des Holocaust in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur besteht, die gedächtnistheoretisch mit der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Erinnerungsgemeinschaften beschrieben werden kann, die aber auch auf bestimmte (Macht-)Konstellationen im Erinnerungsdiskurs – konkrete „Erinnerungspolitiken“ (Norbert Frei) – aufmerksam macht.46 Karolin Machtans zählt zu den wichtigsten theoretischen Annahmen Klügers, dass sie die Deutung historischer Ereignisse als abhängig vom kulturellen Kontext, vom historischen Zeitpunkt sowie vom persönlichen Hintergrund erachtet und von daher auf der Kenntlichmachung der eigenen Position besteht.47 Während ihre Kritik an den jüdischen Gestalten in Sansibar und Die Rote meines Erachtens kaum zu bestreiten ist und das Nötige dazu verschiedentlich, u.a. von Heidelberger-Leonard bereits geschrieben wurde,48 lohnt sich jedoch ein erneuter Blick auf Efraim. Obwohl Sebald sich nicht auf die Thesen von Klüger stützt, verschärft er im Grunde ihre Argumentation, indem er anhand der biografischen Konstellation und des konkreten Verhaltens von Andersch gegenüber seiner nach Nazikategorien „halb-jüdischen“ Frau Angelika Albert, von der er sich im März 1943 scheiden ließ, konkrete lebensgeschichtliche Gründe für das Misslingen der ästhetischen Darstellung verantwortlich
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Klüger: „Judenproblem“, S. 16. Ebd. Dazu grundlegend Braese, Stephan u.a. (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Frankfurt / M. 1998. Die Herausgeber des Sammelbandes vertreten die These vom „objektiven Gegenüber“ von jüdischer und nichtjüdischer Erinnerung an den Holocaust. Siehe auch vom Verf.: Repräsentationen des Holocaust. Zur westdeutschen Erinnerungskultur seit 1979. Heidelberg 2005. Machtans, Karolin: Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt: Saul Friedländer und Ruth Klüger. Mit einem Vorwort von Alon Confino. Tübingen 2009, S. 2. Heidelberger-Leonard: „Erschriebener Widerstand?“, S. 56f.
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macht. Im Kern geht es auch bei Sebald um die Judenbilder in Anderschs Texten. Seine Kritik an Andersch steht zudem in einem Verhältnis zu seinen eigenen literarischen Versuchen, Nationalsozialismus und Holocaust zu reflektieren. Im selben Jahr, in dem seine Andersch-Polemik erscheint, antwortet Sebald im Gespräch mit Marco Poltronieri auf die Frage, was das Charakteristische und Neue seiner Schilderungen der psychischen Spätfolgen des Holocaust sei, es sei ein Fehler für die Literatur anzunehmen, „diese Judenproblematik gehöre in eine eigene Schuhschachtel hinein, und der Rest der Welt hat nichts damit zu tun.“49 Die Schicksale der Gestalten in seinen Die Ausgewanderten (1992) will Sebald als solche verstanden wissen, die in keine der beiden „Schuhschachteln“ deutsch oder jüdisch hineinpassen. Gleichzeitig stellt er infrage, ob ein deutscher – nichtjüdischer – Schriftsteller überhaupt über Juden schreiben könne.50 In seiner Andersch-Polemik gelingt es ihm zumindest, auf einige offenkundige Schwierigkeiten einer dafür notwendigen Perspektivenübernahme hinzuweisen. Wohl auch gegen Andersch gerichtet, plädiert er im Interview für eine Darstellung von Übergängen: „Was bisher kaum gemacht worden ist in der Literatur, das sind diese Übergänge. Daß es Leute gibt, die in beide Lager gehört haben. Es ging mir darum, die Gradationen dieser Verhältnisse zwischen Deutschen und Juden auszuloten.“51 Sebald bestreitet die freie Verfügbarkeit des Holocaust als Stoff und reklamiert die Übergänge zwischen verschiedenen Gedächtnissen als ein Desiderat in der deutschen Literatur nach 1945. Das ist ein normativer Anspruch, der ebenso aufschlussreich erscheint für seine eigene Literatur wie in Bezug auf die Vorwürfe gegenüber Andersch. Eine lohnende Untersuchung wäre es daher, Sebalds Andersch-Kritik im Zusammenhang seiner eigenen Ästhetik sowie seiner jüngst bekannt gewordenen Polemik gegen Jurek Becker und dessen Darstellung des Holocaust zu untersuchen.52
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Poltronieri, Marco: „Gespräch mit W.G. Sebald: Wie kriegen die Deutschen das auf die Reihe?“ In: Far from Home: W. G. Sebald. Fußnoten zur Literatur. Hg. v. Franz Loquai. H. 31. Bamberg 1995, S. 35–40, hier S. 39. „Als deutscher Schriftsteller kann man nicht dahergehen und sagen, jetzt schreibe ich mal über die Juden“ (Ebd.). Ebd. Helmut Schmitz hat Sebalds Vorstellung vom Luftkrieg mit einem dem Holocaust ähnlichen, negativen Gründungsmythos verglichen, der in Sprache gar nicht adäquat beschrieben und erfasst werden könne. Vgl. Schmitz, Helmut: „Catastrophic History, Trauma and Mourning in W.G. Sebald and Jörg Friedrich“. In: Beyond Political Correctness. Remapping German Sensibilities for the 21. Century. Hg. v. Christine Anton u. Frank Philipp. Amsterdam 2010 (German Monitor 72), S. 27–49, hier S. 42.
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Efraim-Lektüren Da es nun feststeht, daß dieses Buch ausgeht wie das Hornberger Schießen53
Der 1967 erschienene Efraim-Roman ist der einzige von Anderschs Texten, der eine Reflexion über die versuchte Vernichtung der europäischen Juden unternimmt. Andersch hat dafür umfangreiche Recherchen angestellt und auch den Frankfurter Auschwitzprozess besucht. Dem Herausgeber der Gesammelten Werke gilt er als „kompliziertester Roman“ des Autors.54 Die Geschichte des vor dem Hintergrund der Kuba-Krise von Rom nach Berlin in seine Vaterstadt entsandten Journalisten und deutsch-jüdischen Emigranten George Efraim, der sich der Schriftstellerei zuwendet und nebenbei für seinen Chefredakteur Keir Horne nach dessen in Nazideutschland zurückgelassener und verschollener Tochter Esther nachforschen soll, ist in der für Andersch ungewöhnlichen Ich-Form geschrieben. Der zweifellos „vielschichtige, erzählperspektivisch gebrochene, in den Stadtpanoramen und der Figurenvielfalt eher ‚englische‘ Gesellschaftsroman in der Nähe von Henry James‘ psychologischen Prioritäten“, wie Volker Wehdeking schreibt, wurde nicht nur von Jean Améry hoch gelobt, mit dem Andersch im Austausch stand, sondern ebenso von Marcel Reich-Ranicki verrissen.55 Wie alle Romane Anderschs nach Sansibar stieß auch Efraim in der Tageskritik auf ein geteiltes Echo. Wehdeking hält jedoch fest, dass sich Amérys Urteil durchgesetzt habe und Efraim heute als einer der bedeutenden Erzählentwürfe der sechziger Jahre gelte, „gerade auch wegen der Nähe zur neuerlich problematisierten Erzählerrolle durch den Strukturalismus und zum weniger subjektiven Textbegriff der Postmoderne“.56 Sebald hingegen bestreitet auch die Bedeutung von Efraim. So sei die Geschichte von der verlorenen und von ihrem Vater verratenen Tochter so konstruiert, dass sie es dem Autor erlaube, „davon abzusehen, daß er mit ihr an das Trauma seines eigenen moralischen Versagens rührt“.57 Der zentrale Vorwurf lautet, der Autor habe sich über den fiktiven George Efraim „an die Stelle des Opfers manövriert“, in das er sich nicht nur hineinversetzt sondern auch noch
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Andersch: Efraim. Roman. Zürich 1976, S. 332. Vgl. Dieter Lampings Kommentar in: Alfred Andersch, Gesammelte Werke Bd. 2, Efraim. Roman. Zürich 2004, S. 436–442, hier S. 436. Wehdeking, Volker: „Alfred Anderschs Leben und Werk aus der Sicht der neunziger Jahre: Eine Problemskizze“. In: ders. u. Irene Heidelberger-Leonard: Alfred Andersch. S. 13–31, hier S. 28. Ebd. Sebald: Andersch, S. 153.
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rücksichtslos in ihm ausgebreitet habe.58 Zwei textanalytische Argumente führt Sebald an: 1.) Die Verwendung der deutschen Sprache, die sich der Emigrant Efraim eigentlich in einem „schmerzhafte[n] archäologische[n] Unternehmen“ hätte wiederaneignen müssen, gelinge der fiktiven Gestalt mühelos, die sich sicher auf den Höhen des zeitgenössischen Jargons bewege: „Vor irgendwelchen Sprachskrupeln des Protagonisten oder des Autors fehlt im Text jegliche Spur.“59 2.) Die Schlüsselszene des Romans, in der Efraim unvermittelt einem Partygast mit der Faust unter das Kinn schlägt, weil dieser den Ausdruck „bis zur Vergasung“ gebraucht habe, nehme der Figur Efraim ebenso wie dem Autor Andersch jede Glaubwürdigkeit: „Der Gewalttätigkeitsausbruch Efraims, intendiert als der Reflex legitimer moralischer Entrüstung, ist in Wahrheit der Beleg dafür, daß Andersch unwillkürlich in die Seele seines jüdischen Protagonisten einen deutschen Landser hineinprojiziert, der dem Juden nun vormacht, wie man mit seinesgleichen am besten verfährt.“60 Allerdings bezieht die zweite These ihre Wirkung eher aus der Überblendung von Autor und Figur als aus einer genauen Lektüre der Passage. Tatsächlich erscheinen nämlich weder Efraim als Sympathieträger noch die Unterstellung einer legitimen moralischen Entrüstung im Textzusammenhang plausibel. Auf die Stelle wird noch einmal zurückzukommen sein. Für die von Sebald beobachtete Überblendung von Landser und Emigrant gibt es hingegen zahllose Beispiele.61 Klüger gesteht dem Roman immerhin zu, dass er „sich mit einer zumindest oberflächlichen Gewissenhaftigkeit die Auseinandersetzung mit dem Holocaust zur Aufgabe macht.“62 Allerdings käme im Roman überhaupt nur ein einziger Mensch vor, der einen anderen verraten habe, und das sei ausgerechnet einer, der auf der Seite der Alliierten gegen die Deutschen gekämpft hatte: Keir Horne. Vor allem aber wirft Klüger dem Autor die Zufalls-Philosophie seines Protagonisten vor, dem jede Erklärung für Auschwitz verdächtig vorkommt. Sie schreibt: „Es wird immer deutlicher, warum hier eine jüdische Stimme zu sprechen hat: Andersch nimmt die Autorität des Opfers in Anspruch für die Feststellung, daß es keine feststellbare Ursache für Auschwitz gab.“63 Allerdings berücksichtigt
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Ebd. Ebd., S. 154. Ebd., S. 155f. Eines der auffälligsten Beispiele ist Efraims Vergleich seines Abschieds vom Journalismus mit dem Desertieren. Vgl. Andersch: Efraim, S. 54. Ähnlich sein Nachdenken über die Stimmung innerhalb der Berliner Bevölkerung angesichts der Kuba-Krise, die er mit der „Moral einer Truppe“ assoziiert (Ebd., S. 55.). Klüger: „Judenproblem“, S. 18. Ebd., S. 22.
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Klüger dabei weder, dass noch nicht einmal Efraim selbst von seiner Zufallstheorie überzeugt ist, noch dass es zentrale Gegenstimmen gibt. Die Zufallstheorie als Erklärung für Auschwitz lässt der Roman gerade nicht gelten. Klaus Briegleb hat gezeigt, wie in der Mitte des Romans der „Widerspruch des literarischen Arrangements gegen die Wirklichkeit des Zufalls inszeniert“ wird.64 Es ist der Musiker Werner Hornbostel, der Efraim nicht verdächtig erscheint und ihm vehement widerspricht: ‚Sie müssen verrückt sein!‘ fuhr er mich an. ‚Erst schlagen Sie einen Menschen, weil er gedankenlos von Vergasung redet, und dann kommen Sie mit einer Theorie, mit der Sie den erhaben Gleichgültigen spielen können! Wissen Sie nicht, daß es nur in Deutschland geschehen konnte, nirgends sonst, und genau zu dem Zeitpunkt, an dem es geschah? Es ist gewollt worden, verstehen Sie: gewollt!‘65
Briegleb reklamierte in seiner Interpretation Anderschs Roman für eine andere Form der Literaturgeschichtsschreibung, in der in der Fiktion das ausgebliebene deutsch-jüdische Gespräch nach dem Holocaust reflektiert werde. In seiner Diktion: „Dem gesuchten Kind, der Kindlichkeit des Protests gegen ‚Auschwitz‘ ist Efraim als Ewiger Jude beigesellt. Sein Begehren trifft sich mit einem kindlichen Anfang nicht im Text, bleibt in Bewegung verschlossen wie das Gespräch.“66 Diese Lektüreerfahrung hat Briegleb in seine Streitschrift gegen die Gruppe 47 in Verstärkung von Sebalds Vorwürfen dann jedoch nicht mehr aufgenommen. Zu fragwürdig war ihm offenbar inzwischen die moralische Position Anderschs geworden. Heidelberger-Leonard, die Klügers Kritik an Sansibar und insbesondere an Die Rote folgt, sieht Andersch jedoch vor derartigen Entgleisungen in Efraim gefeit. Ihr äußerst wohlwollendes Urteil lautet, keines seiner Bücher zeige deutlicher, wie sehr diese als Prozesse gelesen werden könnten, „die er gegen sich selbst führt.“67 Gegen Sebald wendet sie ein, dass jede „Wunschbiographie“, als die sie die Romane von Andersch deutet, im gleichen Maße auch eine Selbstkritik enthalte.68 Ihre zentrale These zum Roman besagt, der Roman postuliere, „daß die Suche nach einem kausalen ‚Verstehen‘ zu den dringlichsten Aufgaben unserer Geschichte gehört, auch wenn die Singularität des Ereignisses die bisherige Ursachenforschung ad absurdum führt.“69 Für Heidelberger-Leonard markiert Efraim daher eine bedeutende erinne-
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Briegleb, Klaus: Unmittelbar zur Epoche des NS-Faschismus. Arbeiten zur politischen Philologie 1978–1988. Frankfurt / M. 1989, S. 185–190, hier: S. 188. Andersch: Efraim, S. 172. Briegleb: Unmittelbar, S. 189f. Heidelberger-Leonard: „Erschriebener Widerstand“, S. 59. Ebd., S. 56f. Ebd., S. 58.
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rungspolitische Zäsur in Anderschs Werk. Wo bisher alle vorangegangenen Werke deutschen Widerstand präsentierten, wo ebenso mit plausiblen Erklärungen wie gar mit erfolgreichen Lösungen aufgewartet wurde, zeige Andersch hier die „Aporie Auschwitz“ ohne jede Apologie.70 Zu einer Würdigung des Romans gelangt auch Ernestine Schlant, die dennoch von der Erzählerfigur schreibt, sie bleibe „ein Konstrukt ohne persönliche Dynamik [...], ein Subjekt, das über die Ereignisse in seinem Leben spricht, als gehörten sie zu einem Objekt.“71 Ohne die u.a. von Klüger formulierten Einwände zu entkräften, schlägt sie einen Blickwechsel von der Erzählerfigur hin zur verschwundenen Esther vor. In einer solchen Perspektive spreche der Roman „die Verbrechen gegen die stummen, abwesenden Kinder an.“ Durch Anderschs Aufgreifen von zwei protokollierten Zeugenaussagen aus dem Auschwitzprozess vermittle er „ein Bild des Entsetzlichen, das seine Bemühungen und Absichten transzendiert, ein Buch über einen ‚deutsch-jüdischen Intellektuellen‘ zu schreiben.“72 Tatsächlich stand die Figur eines verschwundenen jüdischen Kindes von Anfang an im Zentrum der Romankonstruktion, wie Anderschs Notizblätter zum Efraim-Roman im Marbacher Andersch-Nachlass veranschaulichen.73 In einer Visualisierung der Romanstruktur erscheint Esther, hier noch ohne Namen, in einem großen Dreieck sogar als eine von vier Hauptfiguren. Im Zentrum der Zeichnung steht in einem Kreis: „Plot – Kann die Nachricht über das Kind beschafft werden?“74 Aus einer weiteren Notiz, auf einer Karteikarte festgehalten, ist ersichtlich, dass Andersch Esther zu Judith aus Sansibar in ein Verhältnis setzt. In der hier festgehaltenen Frage „Aber E. ist jünger als Judith? Oder?“, zeigt sich die Nichtidentität der beiden Figuren ebenso wie das für Andersch durchaus typische Wiederaufgreifen und Verändern von Elementen aus früheren Texten erkennbar wird.75 In der Figur der Esther, deren „Nachricht“ vom Roman eben nicht übermittelt wird, gelingt Andersch insofern eine Überwindung, zumindest eine Vermeidung der Klischeefigur der Judith, als ihr keine klischeehaften „jüdischen“ Attribute zugeschrieben werden und sie stellvertretend an die Vernichtung erinnert.
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Ebd. Schlant, Ernestine: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. Dt. v. Holger Fliessbach. München 2001, S. 214. Schlant widmet in ihrer Studie auch Sebalds Die Ausgewanderten eine ausführliche und äußerst wohlwollende Lektüre. Das Buch sei eines des „Gedenkens und der Trauer, und die Niederschrift dieses Buches (die in dem Buch selbst thematisiert wird) kann als Trauerarbeit, als Akt der Sühne und als Rückerstattung der Individualität betrachtet werden.“ Ebd., S. 278–290, hier: S. 289. German Monitor 72, S. 218. Vgl. den Beitrag von Herweg, Nikola: „Efraim: Abwertung oder Aufwertung Sansibars?“ In: Korolnik u. Korolnik-Andersch (Hg.): Sansibar ist überall, S. 150–159. Ebd., S. 150. Ebd., S. 159.
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Anders verhält es sich jedoch mit der Figur des jüdischen Erzählers. Zu Recht hat Matthias Uecker „Anderschs verdinglichende Kritik an seinem Protagonisten“ als das eigentliche Problem des Romans benannt und dessen Erzählkonstruktion genauer untersucht.76 Uecker hält zwar eine biografische Lesart in der Nachfolge von Sebald für naheliegend und sogar für unumgänglich, „das Verhältnis von Erzähler und Autor zu untersuchen,“ vermeidet aber durch ein Ernstnehmen der Figurenrede die nachweislich falsche Identifizierung von Autormeinung und Erzählerposition.77 Problematisch an der Figur von Efraim sei vor allem, „daß er von seinem Autor als Opfer-Typus konstruiert wurde, dessen Meinungen und Erklärungen mehr über ihn selbst aussagen als über die Welt, in der er lebt.“ Nicht die „mangelnde Distanz des realen Autors Andersch zu seinem fiktionalen Autor-Erzähler Efraim“ mache das Problematische aus, „sondern die Zurichtung des Protagonisten zum ‚Fall‘ eines sich selbst entblößenden jüdischen Überlebenden, der seine Beschädigungen zwar ausstellt, nicht aber selbst erkennen oder gar verstehen darf.“78 Uecker differenziert damit die Gründe für ein Unbehagen mit der Figur des Efraim. Wenn Andersch Efraim gerade nicht als Sprachrohr der eigenen Reflexionen über Auschwitz angelegt hat, sondern ihn vielmehr als eine Art „nichtjüdischen Juden“ (Isaac Deutscher) inszeniert, der sich fortwährend gegenüber unbescholtenen nichtjüdischen Deutschen ins Unrecht setzt, beschädigt das das Eingedenken.79 Es ist dafür noch nicht einmal notwendig, die im Roman verhandelte Schuldproblematik auf die Biografie des Autors zu beziehen, wie es Sebald aus durchaus nachvollziehbaren Gründen macht. Die Figur des Efraim, der eher „an einen philosemitischen Landser“ erinnert als an einen Juden, irritiert unabhängig vom biografischen Komplex als unglaubwürdiges und negatives Judenbild.80 Tatsächlich haben sich bestimmte stereotype Topoi des Autors Andersch offensichtlich
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Uecker, Matthias: „‚Das Verhältnis dieser Leute zu uns hat ja auch wirklich etwas Obszönes angenommen.‘ Juden und Deutsche in Alfred Anderschs Roman Efraim“. In: Jews in German Literature since 1945. Hg. v. O’Dochartaigh. S. 491–505, hier S. 502. Ebd., S. 499. Ebd., S. 501. Nahezu alle nichtjüdischen Deutschen, denen Efraim begegnet, verhalten sich ihm gegenüber korrekt und haben sich auch während des NS nichts zu Schulden kommen lassen. Beispielhaft der Journalist John, von dem Efraim mitteilt, er habe „unter seinem Regime relativ anständig überwintert, keine Schweinereien geschrieben, ich habe mich informiert“. Vgl. Andersch: Efraim, S. 82. Trotzdem vergleicht Efraim ihn mit Goebbels; ebd., S. 83. Einzige Ausnahme ist der Hinweis auf einen „Städte und Morde planenden Professor“, mit dem Andersch auf das damals aktuelle Verfahren gegen den Professor Leibbrand anspielt, der in Frankreich italienische Soldaten erschießen ließ und wegen Befehlsnotstands freigesprochen wurde (Ebd., S. 42f.). Joch: „Streitkultur Germanistik“, S. 275.
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erhalten, die Efraim nicht nur inkonsistent erscheinen lassen, sondern obendrein als Aussagen eines Juden merkwürdig verschoben wirken. Zum Beispiel charakterisiert Efraim einen Juden, den er in Berlin trifft, mit der Zuschreibung: „er paßte nicht ganz in das trübe Büro, etwas Morgenländisches war um ihn“.81 Solche antijüdischen Orientalismen aus dem 19. Jahrhundert haben das Ende des Nationalsozialismus offenbar unbeschadet überdauert. Dass Andersch seinen Erzähler obendrein mit den Attributen Maske, Täuschung und Demaskierung identifiziert, kann vor dem Hintergrund der Landserfantasien des Efraim auch kaum als reflektierte Ausstellung antisemitischer Topoi gedeutet werden.82 Aufschlussreich sind schließlich auch die Moral-Reflexionen des Erzählers, denen in der Forschung, abgesehen von Sebald, bislang wenig Aufmerksamkeit zukam. In der Passage zum Freispruch eines NS-Täters aufgrund von Befehlsnotstand erfahren wir, dass sich Efraim befriedigt zeigt über die Empörung der Leserbriefschreiber. Gleichzeitig berichtet er, dass sich seine eigene „moralische Entrüstung“ gegenüber dem Freigesprochenen bricht und zwar an einer eigentümlichen Verschränkung: Zum einen stellt sich der Erzähler vor, die zwanzig italienischen Arbeitssoldaten, die erschossen worden waren, „entlang dem Visier eines verborgen in Stellung gebrachten MGs“ zu beobachten, während er gleichzeitig mitteilt, „hinter dem MG meiner Vorstellungskraft im Restaurant Schultheiß sitzend imstande“ zu sein, „mit großem Genuß Stücke gepökelten Schweinefleisches auf der Zunge zu spüren, zu kauen und zu verschlucken.“83 Nachdrücklich schränkt der Erzähler hier seine moralische Urteilsfähigkeit ein, wenn er sie durch seinen eigenen Essensgenuss beeinträchtigt sieht und es sich zudem ausgerechnet noch um Schweinefleisch handelt, das bekanntlich kein koscheres Essen darstellt. Was bedeutet es, wenn sich der Erzähler hier selbst als moralisch ambivalent inszeniert? Im Gespräch mit Anna Krystek bringt Efraim an anderer Stelle hervor, dass es nur eines einfachen moralischen Bewusstseins bedürfe, um gewisse Wörter – die Formel „bis zur Vergasung“ – zu vermeiden. Am Ende des Abschnitts zerstört Anna jedoch seine Illusion, er habe durch seinen Faustschlag einen Mann zum Nachdenken über den Gebrauch dieser Formel gebracht, was sie mit „Unsinn!“ quittiert.84 Stattdessen hält sie ihm vor, es gebe jetzt einen Antisemiten mehr.85 Auch wenn keine der beiden Wahrnehmungen dem Autor zugeordnet werden kann, bleibt erneut die Infragestellung der moralischen Position des Erzählers. So muss die von
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Andersch: Efraim, S. 58. Zu Masken und Demaskierung siehe u.a. ebd., S. 350. Ebd., S. 42f. Ebd., S. 153f. Ebd., S. 154.
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Klüger zugestandene „Gewissenhaftigkeit“ in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust offensichtlich mit den Überbleibseln stereotyper Wahrnehmung von Juden zusammengedacht werden, die ihren schillerndsten Ausdruck in der Erzählerfigur besitzt.
Lehren aus der Kontroverse? Im Falle von Andersch kommt Klüger und Sebald, trotz ihrer partiellen Fehllektüren, das Verdienst zu, gegen eine Selbstzufriedenheit im Blick auf vermeintliche Errungenschaften der deutschen Nachkriegsliteratur an elementare Fragen von historischer Wahrheit und Standortgebundenheit erinnert zu haben. Vor allem haben ihre Interventionen auf Asymmetrien der Erinnerung aufmerksam gemacht, die die Literaturgeschichtsschreibung berücksichtigen sollte. So bestätigt die Relektüre von Efraim trotz Anderschs anerkennenswerten Recherchen das Fortbestehen antijüdischer Stereotype. Dass dies nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen ist, sei ausdrücklich betont. Trotz der Transformationen seiner vergangenheitspolitischen Position hat sich gleichwohl hinsichtlich von Nationalsozialismus und Holocaust eine bestimmte Perspektivierung auch noch in Efraim erhalten, die insbesondere in Anderschs Judenbildern einen Ausdruck findet. Dem Roman eignet gleichzeitig jedoch die Qualität, als Reflexion früherer Texte und Positionen konzipiert zu sein. Mit der abwesenden Esther in Efraim etwa befragt der Autor, bewusst oder unbewusst, die Klischee-Figur der Judith aus Sansibar. Die Auseinandersetzung um die Pluralität von Gedächtnissen und angemessenes Erinnern, die auch die germanistische Literaturwissenschaft betrifft, schließt selbstverständlich Streit und Empörung mit ein. Die Brisanz der „Andersch-Kontroverse“ liegt wohl darin, dass Sebalds Philippika durch die moralisierende Verbindung von Anderschs Biografie während des Nationalsozialismus mit dessen Darstellung von Juden in seinen ersten drei Romanen die Germanistik aufforderte, insgesamt über die deutsche Nachkriegsliteratur sowie deren Einordnung und Bewertung neu nachzudenken. Dass ein solcher Angriff auch auf Empörung und Zurückweisung stieß und stößt, hat die Debatte gezeigt. Zusätzlich mag die polemische Zuspitzung Sebalds erleichtert haben, auch die richtigen Einsichten als ungerechtfertigt abzuweisen. Das Problem von Anderschs Judenbildern ebenso wie die Retuschen seiner Biografie fordern weiterhin zur Reflexion heraus, für die das Nachdenken über eigene emotionale Reaktionen und moralische Bewertungen von Literatur keine unwesentliche Grundlage bilden. Wege, die bleibenden Irritationen der „Andersch-Kontroverse“ philologisch frucht-
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bar zu machen, könnten daher darin liegen, die literaturästhetischen Voraussetzungen von Autor und Kritik und deren erinnerungspolitische Implikationen stärker in die Analyse der Texte einzubeziehen, während generell die Frage nach den Voraussetzungen für literaturwissenschaftliche und ästhetische Werturteile mehr Berücksichtigung finden sollte. Denn auch die idealisierte Vorstellung von einer „distanzierten“ oder „neutralen“ Beschäftigung mit Alfred Andersch und der Gruppe 47 ist keineswegs so voraussetzungslos wie sie erscheint.86
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Böttiger schrieb zum Umgang mit Andersch und der Gruppe 47: „Die Zeit der Gruppe 47 ist mittlerweile so weit entrückt, dass man sich eigentlich neutral und distanziert mit diesem Phänomen beschäftigen könnte“ und zeigt sich verwundert über die von diesem „Phänomen“ noch immer erregten Emotionen (Böttiger: „Beschreibungsimpotenz“).
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Autoren JÖRG DÖRING, Dr. phil., Professor für Neuere deutsche Philologie, Medien- und Kulturwissenschaft an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Literatur und ‚Drittes Reich‘, Nachkriegsliteratur, Gegenwartsliteratur, Edition/Editionswissenschaft, Medienkulturwissenschaft, Kulturhermeneutik, Mediengeographie. Letzte Veröffentlichungen: „Urbane Semiologie im Feuilleton. Stadtlektüren bei Siegfried Kracauer“. In: Reading the City. Developing Urban Hermeneutics. Hg. v. Dieter Hassenpflug u. Bernhard Stratmann. Weimar 2011, S. 181–197; „Filmischer Raum und Montage in Jean Renoirs La Règle du Jeu“. In: Anderes als Kunst. Ästhetik und Techniken der Kommunikation. Hg. v. Jörgen Schäfer u. Thomas Kamphusmann. München 2010, S. 51–81; „Mit Günter Eich im ‚Viehwagen‘. Die Träume der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft“. In: Günter Eichs Metamorphosen. Hg. v. Carsten Dutt u. Dirk von Petersdorff. Heidelberg 2009, S. 141–161. HANS-JOACHIM HAHN, Dr. phil, Lehrbeauftragter an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Forschungsschwerpunkte: deutsche Nachkriegsliteratur, jüdische Europadiskurse zwischen Aufklärung, Haskala und dem 20. Jahrhundert, Narrative der Assimilation, aktuelle deutsch-jüdische Literatur, Text-Bild-Verhältnisse – Comics als Erinnerungsmedium sowie Theorien des Realismus. Ausgewählte Veröffentlichungen: „‚Die, von denen man erzählt hat, dass sie die kleinen Kinder schlachten.‘ Deutsche Leiderfahrung und Bilder von Juden in der deutschen Kultur nach 1945. Zu einigen Texten Wolfgang Weyrauchs“. In: A Nation of Victims? Representations of German Wartime Suffering from 1945 to the Present. Hg. v. Helmut Schmitz. Amsterdam, New York 2007, S. 51– 70; „Lektüreschwierigkeiten mit dem ‚Judenproblem‘ in der deutschen Nachkriegsliteratur“. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Hg. v. Klaus-Michael Bogdal u.a. Stuttgart 2007, S. 131–146; Repräsentationen des Holocaust. Zur westdeutschen Erinnerungskultur seit 1979. Heidelberg 2005; (Hg.) Gerhart Hauptmann und ‚die Juden‘. Konstellationen und Konstruktionen in Leben und Werk. Wrocław, Görlitz 2005; „Leerstellen in der deutschen Gedenkkultur. Die Streitschriften von Klaus Briegleb und W.G. Sebald“. In: German Life & Letters 57 (2004), S. 357–371.
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Autoren
TORSTEN HOFFMANN, Dr. phil., Juniorprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt / M. Bücher und Aufsätze zur Literatur des 18.–21. Jahrhunderts, darunter Veröffentlichungen zu Sebalds Poetik der Fotografie und seinen Interviews. Herausgeber des im Herbst 2011 im S. Fischer Verlag erscheinenden Bandes W.G. Sebald: Auf ungeheuer dünnem Eis. Gespräche 1971–2001. MARKUS JOCH, Dr. phil., Wiss. Mitarbeiter am Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt / M., lehrte bis 2009 an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Stanford University. Forschungsschwerpunkte: Postkolonialismus, Feld- und Systemtheorie der Literatur, Cultural Studies. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Habilitationsthema, den Wendemanövern in der deutschen Literatur nach 1945 und 1989, darunter „Streitkultur Germanistik. Die Andersch-Sebald-Debatte als Beispiel“. In: Germanistik [in und für] Europa. Faszination – Wissen. Texte des Münchener Germanistentages 2004. Hg. v. Konrad Ehlich. Bielefeld 2006, S. 263–275; „‚Es geht nicht um Christa Wolf‘? Die Logik des deutschdeutschen Literaturstreits“. In: NachBilder der Wende. Hg. v. Inge Stephan, Alexandra Tacke. Köln u.a. 2008, S. 17–31. „Jurek Beckers Amanda herzlos im Literarischen Quartett“. In: Rhetorik der Erinnerung. Gedächtnis und Literatur in der ,geschlossenen‘ Gesellschaft des Real-Sozialismus. Hg. v. Carsten Gansel. Göttingen 2009, S. 363–388. STEPHAN REINHARDT, freier Autor in Heidelberg. Veröffentlichungen: über Robert Musil; (Hg.) Lesebuch Weimarer Republik: Deutsche Schriftsteller und ihr Staat von 1918 bis 1933. Berlin 1982; Alfred Andersch. Eine Biographie. Zürich 1990; zuletzt: Verrat der Intellektuellen? Schleifspuren durch die Republik. Münster 2008. ALEXANDER RITTER, Dr. phil. habil., Privatdozent am Institut für Germanistik II – Neuere Deutsche Literatur und Medienkultur (Universität Hamburg, 1989–99). Studienleiter am Landesinstitut Schleswig-Holstein für Praxis und Theorie der Schule (IPTS Kiel, 1981–99). Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18., 19. und 20. Jahrhunderts, Erzähltheorie, Literaturbewertung, Regionalliteratur, Literaturgeschichtsschreibung, Lesegesellschaften, Verlagsgeschichte, Reisebericht, Germanistik und NSZeit, deutsch-amerikanische Literaturbeziehungen, niederdeutsche Literatur, literarische Medikalkritik, interkulturelle Funktion von Literatur, deutschsprachige Literatur des Auslands. Buchveröffentlichungen u.a.:
Autoren
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Deutsche Minderheitenliteraturen. Regionalliterarische und interkulturelle Perspektiven der Kritik. München 2001; Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 2003; (Hg.) Charles Sealsfield im Schweizer Exil 1831–1864. Republikanisches Refugium und internationale Literatenkarriere. Wien 2008; (Hg.) Eduard Castle: Charles Sealsfield. Briefe und Aktenstücke. Sämtliche Werke. Bd. 29. Mit einem Bericht zum Stand der Korrespondenzforschung. Hildesheim 2010; (Hg.) Amerika im europäischen Roman um 1850. Varianten transatlantischer Erfahrung. Wien 2011.
FELIX RÖMER, Dr. phil., Wiss. Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Mainz. Veröffentlichungen: Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42. Paderborn u.a. 2008; Aufsätze zur Geschichte von Wehrmacht und Nationalsozialismus; arbeitet derzeit im Rahmen des Mainzer Fritz-Thyssen-Projekts „Referenzrahmen des Krieges“ an einer Studie über die Mentalitätsgeschichte der Wehrmacht. ROLF SEUBERT, Dr. phil., bis 2006 akademischer Oberrat im Fachbereich Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Berufspädagogik an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Historische Bildungsforschung, Sozialgeschichte der Berufsbildung, Pädagogik und Nationalsozialismus, Medien im ‚Dritten Reich‘. Veröffentlichungen u.a.: Berufserziehung und Nationalsozialismus. Das berufspädagogische Erbe und seine Betreuer, Weinheim und Basel 1977; „Fassbinder und der ‚Reiche Jude‘. Zur Geschichte und Virulenz eines Vorurteils“. In: Medium 1 (1986), S. 17–23; „Junge Adler. Technikbegeisterung und Wehrhaftmachung der Jugend im NS-Spielfilm“, in: Krieg und Militär im deutschen Film. Beiträge zur Militärgeschichte. Bd. 59. Hg. i. A. d. Militärgeschichtlichen Forschungsamts v. Bernhard Chiari, Matthias Rogg u. Wolfgang Schmidt. München 2003, S. 371–400; (zus. m. Jörg Döring): „‚Entlassen aus der Wehrmacht: 12.03.1941. Grund: ‚Jüdischer Mischling‘ – laut Verfügung‘. Ein unbekanntes Dokument in Kontext der Andersch-Sebald-Debatte“. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 151 (2008). Jg. 38, S. 171–184. JOHANNES TUCHEL, Jg. 1957, Dr. phil., Leiter der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, apl. Prof. am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin, z. Zt. Lehre am Touro College Berlin, zahlreiche Veröffentlichungen zu Widerstand und Verfolgung im Nationalsozialismus.
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Autoren
RHYS W. WILLIAMS, Dr. phil., Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Swansea (GB), seit 2008 emeritiert. Forschungsschwerpunkte: Expressionismus, Literatur und ‚Drittes Reich‘, Nachkriegsliteratur, Gegenwartsliteratur. Letzte Veröffentlichungen: „Frau Wernicke kann’s Maul nicht halten“. In: Berlin im Kopf – Arbeit am Berlin-Mythos. Exil und Innere Emigration 1933 bis 1945. Hg. v. Hermann Haarmann. Berlin 2008, S. 122–136; „‚Ich bin kein Emigrant, ich bin kein Dissident‘: Sarah Kirsch und die DDR“. In: Deutsch-Deutsches Literaturexil. Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR in der Bundesrepublik. Hg. v. Walter Schmitz u. Jörg Bernig. Dresden 2009, S. 385–400.